1 Freitag, 24.06.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jan Brachmann Außergewöhnlich, persönlich, tiefgründig David Geringas The Sound of Lithuania dreyer gaido 21099 Intimer Ton J. S. Bach The French Suites BWV 812-817 Richard Egarr, harpsichord HMU 907583.84 Hoch verdienstvoll George Butterworth Orchesterwerke und Lieder James Rutherford, Bariton BBC National Orchestra of Wales Kriss Russman BIS 2195 Erfrischend vielfältig Katia Tchemberdji Klaviermusik Katia Tchemberdji, Klavier SOMNI RECORDS 4907 Großes Hörvergnügen The Last Concert Berliner Philharmoniker Claudio Abbado BPHR 160081-1 Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“. Am Mikrophon ist heute Jan Brachmann und heißt Sie herzlich willkommen! Die folgenden 87 Minuten sind proppenvoll – und zwar mit folgenden Themen: So klingt Bach – die Französischen Suiten im Interpretationsvergleich mit Richard Egarr und Joseph Payne am Cembalo sowie Till Fellner am Klavier. So klingt England – Lieder und Orchesteridyllen von George Butterworth mit dem BBC National Orchestra of Wales. So klingen Haiku ohne Worte – Klaviermusik von Katia Tchemberdji. So klingt ein Elfenfest – Felix Mendelssohn Bartholdys Sommernachtstraum mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado. Aber zunächst: So klingt Litauen: Mikalojus Konstantinas Čiurlionis: Zwei Préludes VL 184 und 250 3’05 Zwei Préludes, 1901 und 1908 geschrieben von dem Komponisten und symbolistischen Maler Mikalojus Konstantinas Čiurlionis, der Gründerfigur einer eigenständigen Musik Litauens. Der Cellist David Geringas hat diese Klavierstücke arrangiert und zusammen mit dem Urenkel des Komponisten, Rokas Zubovas, aufgenommen. Von Litauen, dem südlichsten der drei baltischen Staaten, haben die meisten Deutschen heute nur einen unscharfen Begriff. Noch vor 100 Jahren, als Teile Litauens zum Deutschen Reich gehörten, war das anders. Hermann Sudermann hat die Landschaft an den Ufern der Memel, des Nemunas, wie der Fluss heute heißt, 1917 verführerisch beschrieben. Vielleicht ist es genau diese sommerliche Stille, die wir in der Musik von Čiurlionis gehört haben: „Von den Uferwiesen her”, so Sudermann, „riecht das Schnittgras – man kann den Thymian 2 unterscheiden und das Melissenkraut, auch den wilden Majoran und das Timotheegras – und was sonst noch starken Duft an sich hat. […] Außer den plumpsenden Fischchen, die nach den Mücken jagen, ist nicht viel zu hören”. Der Cellist David Geringas, Schüler des legendären Mstislaw Rostropowitsch, wurde in Litauens Hauptstadt Vilnius geboren. Am 29. Juli feiert er seinen 70. Geburtstag. Und er hat sich zu diesem Anlass ein besonderes Geschenk gemacht: zwei CDs mit Musik für Violoncello und Klavier unter dem Titel Sound of Lithuania – So klingt Litauen. Versammelt sind darauf Stücke aus fast 100 Jahren litauischer Musik, von Čiurlionis bis in die Spätzeit der sowjetischen Besatzung. Einige der Komponisten hat Geringas, der 1975 in die Bundesrepublik Deutschland emigrierte, noch persönlich kennengelernt. Darunter Balys Dvarionas, den er auf dessen Sterbebett 1972 im Krankenhaus besuchte. Geringas berichtet im Beiheft davon. Dvarionas hatte die offizielle Hymne der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik geschrieben, war aber in seinem Innern litauischer Patriot geblieben, der die russische Besatzung als Tragödie empfand. Von diesen Zwischentönen zu erzählen und sie hörbar zu machen – das gelingt David Geringas hier in beispielhafter Weise. Pezzo elegiaco – Am See heißt ein Stück, das Balys Dvarionas 1947 für Violine und Klavier geschrieben hatte. Auf dem Sterbebett wünschte er sich, Geringas möge das Stück auf dem Cello spielen. Der erfüllte dem Komponisten den Wunsch fast 20 Jahre nach dessen Tod bei seinem ersten Konzert im freien Litauen, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Hier wird Geringas begleitet von Justas Dvarionas, dem Enkel des Komponisten. Balys Dvarionas: Pezzo elegiaco – Am See 5’30 Die Elegie Am See, 1947 im sowjetisch besetzten Litauen komponiert von Balys Dvarionas, gespielt vom Cellisten David Geringas und dem Pianisten Justas Dvarionas, dem Enkel des Komponisten. David Geringas hat in Litauen viele Nachfahren litauischer Komponisten aufgespürt, die hier gemeinsam mit ihm musizieren. Auch das macht dieses Doppelalbum so persönlich: Alle, die hier beteiligt sind, wissen um die Geschichte des Landes, kennen den Alltag, in dem damals gelebt wurde, kennen aber auch Landschaft und Lieder, die diese Musik färben. Man hört hier keine Sentimentalität, weil sich die Opfer, die man für seine Gefühle der Sehnsucht und Heimatbindung bringen musste, durchgeschmerzt haben bis in die Erinnerung. Zu den schwersten Geschichten, die auf dieser CD erzählt werden, gehört jene der Emigration: der Schritt, alles zurücklassen zu müssen, Heimat, Familie, Freunde, Sprache. Auch David Geringas hat 1975 gemeinsam mit seiner jungen Familie das Land verlassen. Das letzte Stück auf der Doppel-CD stammt von Vidmantas Bartulis. Es entstand 1981 und hat einen langen Titel: Einen Freund verabschiedend beim letzten Blick auf die verschneiten Bäume im Februar. Im Beiheft der CD erzählt David Geringas, worum es dabei geht: „Der Komponist sitzt zusammen mit seinem Freund, der nach Israel ausreisen wird, vor verschneiten Bäumen im Februar. Und sie wissen: Sie werden sich nie wieder begegnen. Das war die Tragödie, das war die Stimmung in jener Zeit. Bartulis zitiert das Lied Du bist die Ruh von Franz Schubert. Es taucht am Ende auf wie eine Offenbarung. Nach der ganzen Beschreibung des Nichts-Sagen-Könnens entlädt sich die Emotion im Zitat”, soweit Geringas. Es ist die Zeile „O fühl‟ es ganz”, die Bartulis von Schubert übernimmt; sie wird zum Ventil für die eigene Sprachlosigkeit, den „Gefühlsstau”, wie der Psychoanalytiker Hans- Joachim Maaz die mentale Gemengelage zur gleichen Zeit in der DDR beschrieb. Vidmantas Bartulis: Einen Freund verabschiedend beim letzten Blick auf die verschneiten Bäume im Februar; es spielen David Geringas, Violoncello, und Petras Geniušas, Klavier. Vidmantas Bartulis: Einen Freund verabschiedend … 4’50 3 Einen Freund verabschiedend beim letzten Blick auf die verschneiten Bäume im Februar – Vidmantas Bartulis schrieb dieses Stück 1981. Hier wurde es gespielt von David Geringas, Violoncello, und Petras Geniušas, Klavier. Es ist das Schluss-Stück auf dem Doppelalbum Sound of Lithaunia – So klingt Litauen, erschienen beim Label dreyer gaido. Eine ganz außergewöhnliche CD, die Pionierarbeit leistet in der Erschließung Litauens als Musikland, auf persönliche, tiefgründige Weise. Und nun – Johann Sebastian Bach, die Gavotte aus der Französischen Suite G-Dur, mit Richard Egarr am Cembalo: Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 5 G-Dur BWV 816, 1‘05 4. Satz, Richard Egarr Eines der lebensfrohesten Stücke europäischer Musik – die Gavotte aus der Französischen Suite Nr. 5. Der britische Cembalist Richard Egarr hat die sechs Suiten von Johann Sebastian Bach jetzt komplett auf zwei CDs für das Label harmonia mundi aufgenommen. Der Titel Französische Suiten ist dabei ähnlich wie bei den etwas früher entstandenen Englischen Suiten von der Nachwelt erfunden worden. Bach selbst hatte ihnen keinen Gemeinschaftstitel gegeben. Geschrieben hat er diese Sammlungen kunstvoller Tanzsätze offenbar für seine zweite Frau Anna Magdalena und für die wachsende Familie zum häuslichen Musizieren. Folglich ist ihr Charakter weniger auftrumpfend, weniger prunkvoll und virtuos als jener der Englischen Suiten oder der sechs Partiten für Cembalo. Aber genau diesen intimen Ton, das Nahe, Vertraute und Innige spürt Egarr in dieser Musik auf. Die Allemande aus der Suite in h-Moll haben Legionen von Klavierschülern so forsch spielen müssen, als würde der Hund zur Hasenjagd lospreschen. Aber eine Allemande ist ein langsamer Tanz. Egarr spielt ihn zauberisch fließend, mit zartem Silbersang, in den Wiederholungen durch neue Register abschattiert, im Tempo träumerisch fast, regelrecht schwebend. Das ist auf stille Weise überwältigend. Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 3 h-Moll BWV 814, 3’50 1. Satz, Richard Egarr In der Bach-Interpretation, auch auf dem Cembalo, hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm viel getan. Während Richard Egarr, wie eben gehört, bei der Allemande in h-Moll aus der dritten Französischen Suite, mit großer Taktfreiheit spielt, sich Temposchwankungen erlaubt wie bei einem romantischen Rubato, blieb Joseph Payne vor 24 Jahren auf dem Nachbau eines Ruckers-Cembalos so straff im Zeitmaß wie ein gut aufgezogenes Metronom. Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 3 h-Moll BWV 814, 1’25 1. Satz (Ausschnitt), Joseph Payne, BIS/BRILLIANT CLASSICS 99372/5 Bach streng im Takt gespielt, jedes Sechzehntel fast genau gleich lang, nach mathematischem Proportionsplan – das nannte man früher „Stilsicherheit”. Joseph Payne hat sie in dieser Aufnahme bewiesen. Aber die aufführungspraktische Forschung förderte längst zutage, dass die Spieler im 18. Jahrhundert sich um die inégalité der Notenwerte, deren Ungleichheit bemühten, ganz nach dem Vorbild des natürlichen Sprechens, wo wir auch nicht alle Silben gleich lang nehmen, nicht einmal beim Gedichtaufsagen. Das Menuett aus der Suite h-Moll wurde von unzähligen Pianisten und Cembalisten jahrzehntelang als Staccatostudie wie das Phonogramm einer Lochstreifenstanze gespielt. Bei Richard Egarr dagegen singt und schwingt es. Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 3 h-Moll BWV 814, 1’35 5. Satz (Ausschnitt), Richard Egarr 4 Anders als Richard Egarr, der auf dem modernen Nachbau eines historischen Cembalos von Joseph
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