Held mit Serienformat Zur Figurendisposition von Special Agent Gibbs * in Donald P. Bellisarios Navy CIS NIKOLAS IMMER Kurt Davenport kicked off his shoes, and sat down on his couch to watch NCIS, his favorite television show. In fact, other than the other three CSI dramas currently airing, NCIS was the only show he ever watched with any regularity. He idolized Gibbs, Ducky made him laugh, and he was secretly in love with Abby. 1 Der amerikanische Kriminalautor Charles Henry Foertmeyer eröffnet mit dieser knappen Beschreibung der Figur Kurt Davenport das achte Kapitel seines Thrillers The Threef Project (2005). Die zitierte Passage ist zum einen als modernes Rezeptionszeugnis der in den USA ungemein beliebten Serie Navy CIS zu werten, deren Titel auf die amerikanische Ermittlungs- organisation ›Naval Criminal Investigative Service‹ verweist. Zum anderen wird hier das spezifische Rezeptionsverhältnis gegenüber den filmischen Serienhelden anhand einer literarischen Figur exemplarisch ausgestellt. In * Bei der Einzelanalyse der Serie beschränke ich mich im Folgenden auf die erste Staffel von Navy CIS . Zitate aus der deutschen Synchronfassung folgen der CBS-Veröffentlichung: NCIS. Die erste Season. USA 2006. Die Zitate werden unter Angabe der Seriennummer, des deutschen Episodentitels und des Time- codes (TC) nachgewiesen. 1 Charles Henry Foertmeyer: The Threef Project. Lincoln 2005, S. 60. 350 | NIKOLAS IMMER interner Fokalisierung erfährt der Leser zunächst von Davenports serien- spezifischer Vorliebe, die in Form eines qualitativen Vergleichs präsentiert wird. Denn im Gegensatz zu den CSI -Kriminalserien – womit CSI: Den Tätern auf der Spur (USA 2000 ff., Idee: Anthony E. Zuiker), CSI: Miami (2002–2012) und CSI: New York (2004 ff.) gemeint sind – ist Navy CIS die einzige Serie, die Davenport regelmäßig verfolgt. Die Ursache dafür scheint in einer besonderen ästhetischen Präsentationsleistung der Erfolgsserie zu liegen, die es dem Zuschauer ermöglicht, das vorgeführte Figurenensemble als quasi-familiäres Kollektiv zu erleben. Dabei erfüllen die einzelnen, bei Foertmeyer nur ausschnittweise aufgeführten Charaktere unterschiedliche Funktionen: Während Davenport Special Agent Leroy Jethro Gibbs be- wundert – und ihn auf diese Weise bereits implizit zu einem Helden stili- siert –, erheitert ihn die kauzige Art des Pathologen Dr. Donald ›Ducky‹ Mallard, wogegen er in die Forensikerin Abigail ›Abby‹ Sciuto sogar ver- liebt ist. Somit bietet die typisierte Figurenanlage der Serie ein breites Spektrum rezeptionsästhetischer Bezugsmöglichkeiten, die sich bis zum Modus der ästhetischen Identifikation steigern können. 2 Doch Navy CIS präsentiert nicht nur eine Ermittlerfamilie mit ausge- prägten Einzelcharakteren, sondern auch mehr oder minder schwere Ver- brechen, die sich im Milieu der United States Navy oder des United States Marine Corps ereignet haben. Da wiederholt auch Mordfälle zu lösen sind, müssen sich die Protagonisten immer wieder (lebens-)gefährlichen Situati- onen aussetzen und in diesen physische und psychische Stärke zeigen. Zwar sind sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche nicht in gleichem Maße körperlicher Bedrohung ausgesetzt, doch gibt die Serie im Verlauf ihrer inzwischen mehr als 200 Folgen jedem der Mitspieler die Möglichkeit, mehr als einmal als Held in Erscheinung zu treten. Dabei verlieren die Figuren allerdings nie ihre menschliche Seite und bleiben trotz ihrer spezifischen Einzelkompetenzen fehlbar. Der Erfolg der Serie dürfte nicht zuletzt darauf zurückgehen, dass darin keine universal begabten und moralisch lupenreinen Figuren, sondern ›menschenmögliche Helden‹ vor- geführt werden. 2 Vgl. Hans Robert Jauß: »Ästhetische Identifikation – Versuch über den literari- schen Helden [1974]«, in: ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Herme- neutik. Frankfurt a. M. 21997, S. 244-292. ZUR FIGURENDISPOSITION VON SPECIAL AGENT GIBBS | 351 Im Anschluss an eine knappe Gattungsdiskussion des Serienhelden (I) soll im Folgenden ein Überblick über die Anlage der Krimiserie Navy CIS gegeben werden (II). Mit Blick auf die Handlungsdominanz von Special Agent Gibbs ist zu fragen, ob und inwieweit er trotz offenkundiger Ableh- nung von ›Heldenallüren‹ als eine heroische Figur qualifiziert werden kann (III). Dabei ist sein Verhalten in Berufs- und Privatleben zu unterscheiden, da beide Bereiche bei ihm erheblich kontrastieren. Schließlich werden in einem Resümee (IV) zentrale Charakteristika dieser seriellen Heldenkon- figuration gebündelt. I. WIEDERHOLUNGSZWANG – SERIALITÄT UND SERIENHELD Die anfänglich geschilderte Beziehung Davenports zu den Lieblingsfiguren seiner bevorzugten Kriminalserie kann in unkritischer Perspektive zweifel- los positiv gewertet werden. Eine solche Einschätzung verdeckt allerdings die durchaus problematische Seite dieses Rezeptionsverhaltens, das Theo- dor W. Adorno bereits in seinem Aufsatz How to Look at Television (1954) mit einer Kritik am seriellen TV-Format verbunden hatte. Darin wendet er sich ausdrücklich gegen die Vermittlung trivialer Inhalte, gegen die scha- blonenhafte Präsentation serieller Figuren sowie gegen die stereotypen Darstellungskonventionen. 3 Auch wenn die medialen Produkte der Kultur- industrie, wie es in der Dialektik der Aufklärung (1944) heißt, bestimmte »Serienqualitäten« aufweisen, um konkrete Adressatenschichten zielgenau erreichen zu können, sei es ihnen prinzipiell eingeschrieben, phantasiever- nichtend auf den Rezipienten zu wirken. 4 In der Radikalform folge aus dieser Entmündigung durch Amusement »eine Art von Fernsehsüchtigkeit […], bei der schließlich das Fernsehen […] durch seine bloße Existenz zum 3 Vgl. Theodor W. Adorno: »How to Look at Television«, in: The Quarterly of Film, Radio and Television 3 (1954), S. 23-25. 4 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophi- sche Fragmente. Frankfurt a. M. 1997, S. 131. Weiter heißt es: »Indem er [der Tonfilm] […] der Phantasie und dem Gedanken der Zuschauer keine Dimension mehr übrigläßt, […] schult er den ihm Ausgelieferten, ihn unmittelbar mit der Wirklichkeit zu identifizieren.« (Ebd., S. 134). 352 | NIKOLAS IMMER einzigen Bewußtseinsinhalt wird und durch die Fülle des Angebots die Menschen ablenkt von dem, was eigentlich ihre Sache wäre und was sie eigentlich angeht.«5 Auch bei Davenport scheint zumindest ein erstes Sta- dium der »Fernsehsüchtigkeit« erreicht: Er ist von einigen Figuren seiner favorisierten Serie Navy CIS derart fasziniert, dass eine regelmäßige ›Be- gegnung‹ mit ihnen erforderlich wird. Gegenüber dieser radikalen fernsehtheoretischen Position der Kriti- schen Theorie mutet es erstaunlich an, dass sich ein Begriff wie ›Qualitäts- serien‹ ( Quality Television Series ) hat durchsetzen können. 6 Wird jedoch Adornos ideologische Perspektivierung dieser Problemstellung zurückge- wiesen, lässt sich anstelle einer pauschalen Abwertung des seriellen TV- Formats ihr ästhetischer Eigenwert anerkennen. Insbesondere angesichts der Ende des 20. Jahrhunderts sprunghaften Zunahme von Serienprodukti- onen wird die Reduktion des Genres auf stereotype Darstellungskonzepte der Vielfalt, Komplexität und Originalität gegenwärtiger Serienformate nicht mehr gerecht. Um eine angemessene Bestimmung von Qualitätsserien leisten zu können, hat Robert J. Thompson in seiner einschlägigen Studie Television’s Second Golden Age (1996) zwölf Kriterien formuliert, die auch heute noch – wie Robert Blanchet gezeigt hat – weitgehende Gültigkeit be- anspruchen dürfen. 7 Prinzipiell ist die Theoriegeschichte des Seriellen im 20. Jahrhundert, wie Kristina Köhler zusammenfassend dargelegt hat, von einem antagoni- stischen Spannungsverhältnis gekennzeichnet: Auf der einen Seite verge- genwärtige das serielle Format die »redundante ›Wiederkehr des Immer- gleichen‹«, auf der anderen Seite das »Innovationspotenzial von Variation 5 Theodor W. Adorno: »Fernsehen und Bildung«, in: ders.: Erziehung zur Mün- digkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Hg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M. 1971, S. 50-69, hier S. 55. 6 Zum ›Qualitätsfernsehen‹ generell vgl. Janet McCabe und Kim Akass (Hg.): Quality TV. Contemporary American Television and Beyond. London 2007. 7 Vgl. Robert J. Thompson: Television’s Second Golden Age. From Hill Street Blues to ER . New York 1996, S. 13-16; Robert Blanchet: »Quality-TV. Eine kurze Einführung in die Geschichte und Ästhetik neuer amerikanischer Fernseh- serien«, in: Robert Blanchet u. a. (Hg.): Serielle Formen. Von den frühen Film- Serials zu aktuellen Quality-TV- und Online-Serien. Marburg 2011, S. 37-70, hier S. 44-68. ZUR FIGURENDISPOSITION VON SPECIAL AGENT GIBBS | 353 und Wiederholung«. 8 Festzuhalten bleibt in beiden Fällen das Erfordernis, eine einmal etablierte Grundkonstellation wiederholen zu müssen, um sichtbar zu machen, dass unterschiedliche Episoden trotz ihrer Diversität zu einer Serie gehören. Diese Identität innerhalb des seriellen Formats lässt sich vermittels unterschiedlicher Elemente herstellen: über die Statik der situativen Anlage, über die Entwicklungsähnlichkeit einzelner Episoden so- wie über die Verwendung typisierter Figuren als Handlungsträger. 9 In der Gegenwendung ließe sich auch sagen, dass die genannten Elemente bereits ein »klassisches ›Serial‹« konstituieren, wie dies Georg Mannsperger ex- emplarisch für die James-Bond -Reihe hervorgehoben hat.10 Muss demnach Adorno mit seinem Vorwurf der Stereotypie doch recht gegeben werden? Die Antwort lautet: Ja und Nein. Selbstverständlich kommt eine Serie nicht ohne den Umstand
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