679 Zwölftes Kapitel Roma città aperta 1 Die Legende Roma citta aperta gilt bis in die Gegenwart als Auftakt und pars pro toto des italienischen Neorealismus. Im Lexikon des Internationalen Films heißt es 1995 zu Rom, offene Stadt: „Der Film wurde noch während des Krieges konzipiert und beruft sich auf historisch belegte Begebenheiten. Rossellini inszenierte mit persönlichem, spontanem Engagement in dokumentarischem Stil. Ein Zeugnis der Zeitgeschichte - und ein Meilenstein der Filmgeschichte, der den ‘italienischen Neorealismus’ weltweit berühmt machte“.1 Dabei handelt es sich nicht um ein singuläres Urteil. Vielmehr steht es stellvertretend für eine Vielzahl sinngemäßer Einschätzungen: „E fu indubbiamente merito di Rossellini, forse al di là delle sue stesse intenzioni, di aver iniziato con Roma città aperta, emblematicamente, il cammino del nuovo cinema italiano, di aver aperto la strada a quel neorealismo che sarebbe stato, di lì a poco, quasi il sinonimo della produzione nazionale, una etichetta critica da applicare sui nuovi prodotti“.2 „In spite of the many precursors film historians have cited as antecedents of Italian neorealism during the fascist period, and especially during the early 1940s, the birth of Italian neorealism is historically and emotionally linked forever [sic] with the astounding international success of Rossellini’s portrayal of life in Nazi-occupied Rome between the fall of the fascist regime in September 1943 and its liberation in June of the following year“.3 „Im Mittelpunkt steht die wahre Geschichte des Pfarrers Don Giuseppe Morosini, der wegen seiner aktiven Beteiligung an der Partisanenbewegung von den Nazis erschossen wurde. Dieser Erzählstrang entwickelt sich parallel zu Geschichten anderer Partisanen, wie in einem figurenreichen Fresko, das die historische und geistige Grundlage der Resistenza rekonstruiert. Die Authentizität, die durch die quasidokumentarischen Bilder entstand und durch ihre Aussagekraft die filmische Fiktion annulierte, machte Rom - offene Stadt zum Wegbereiter des neorealistischen Kinos. Der Einsatz von Laiendarstellern - von den beiden Varieté-Stars Anna Magnani und Aldo Fabrizi abgesehen - wurde zu einem entscheidenden Merkmal der Ästhetik des Neorealismus“.4 Um an Elemente anzuknüpfen, aus welchen sich eine um Roma città aperta rankende Legende konstituiert, liefert jener Lexikoneintrag bereits reichlich Material. Die Hervorhebung eines dokumentarischen Stils und die Darstellung Roberto Rossellinis als 1 Lexikon des Internationalen Films 1995, 4663. 2 Rondolino 1989, 74. 3 Bondanella 1993, 45. 4 Buovolo 1999, 591. 680 genialem, spontan Regie führenden Autor des Films ist teils missverständlich, teils unhaltbar. Wenn die - innerhalb eines Lexikons gewiss notwendig verknappte - Interpretation auf den angeblich dokumentarischen Stil eines zum Autor erhobenen Regisseurs zugespitzt wird, minimiert sich zwangsläufig die Funktion und der Stellenwert von Sujet und Drehbuch, Schauspielern, Schauspielerinnen und Stabmitgliedern für die Inszenierung. Das Sujet von Alberto Consiglio La disfatta di Satana bildet die Grundlage des von Sergio Amidei verfassten Drehbuchs, an das sich, verglichen mit dem Film, der Regisseur Roberto Rossellini weitgehend gehalten hat. In dieser Hinsicht weicht Roma città aperta nicht von der herkömmlichen Art und Weise ab, wie zeitgenössische Spielfilme realisiert werden. Falsche Assoziationen ruft zudem das Attribut „dokumentarisch“ in Verbindung mit dem Substantiv „Stil“ hervor, sofern hierdurch der Eindruck entsteht, Laiendarsteller agierten spontan an natürlichen Schauplätzen, wie es in einer radikalisierten Variante der Vorspann von La nave bianca ankündigt: „Tutti i personaggi sono presi nel loro ambiente e nella loro realtà di vita“. Roberto Rossellini hat der Legendenbildung selbst Vorschub geleistet. Georges Sadoul vertraut er 1946 an, bis auf zwei Ausnahmen teils unbekannte Schauspieler, teils Laien verpflichtet zu haben. Zwei bekanntere Schauspieler seien quer zu ihrem bisherigen Rollenfach besetzt worden: „Je vais vous faire une confidence: si j’ai pris dans mes films des personnages qui avaient déjà joué la comédie, c’est qu’il s’agissait le plus souvent d’acteurs sans renommée et sans métier. J’ai fait deux exceptions toutefois dans Rome ville ouverte: Le rôle du prêtre est tenu par Aldo Fabrizi, un acteur comique, spécialiste des monologues. Il a admirablement tenu un rôle très tragique. J’ai fait aussi débuter dans ce film Anna Magnani, une actrice de music-hall, qui avait eu des petits rôles dans des opérettes, mais qui n’avait jamais eu, au cinéma, d’autre emplois que ceux de la figuration intelligente“.5 Demgegenüber konstatiert Peter Bondanella 1993: „The entire cast of the film had extensive experience in the entertainment world“.6 Als Beispiele verweist er neben Anna Magnanis und Aldo Fabrizis vorausgehenden Auftritten im Film und avanspettacolo auf den Tänzer Harry Feist, den Filmregisseur Marcello Pagliero sowie Schauspieler Nando Bruno und Eduardo Passarelli. Über Maria Michi hingegen teilt er nur mit, sie sei eine Platzanweiserin in einem römischen Kino und die Geliebte des Drehbuchautoren Sergio Amidei gewesen. 5 Georges Sadoul, Un grand réalisateur italien, L’Écran français, Nr. 72, 12. November 1946, 17. 6 Bondanella 1993, 49. 681 Gianni Rondolino weist 1989 in seiner Biografie zu Roberto Rossellini darauf hin, dass an der stetig steigenden Quantität von Sekundärliteratur zu Konzeption, Produktion und Rezeption von Roma città aperta zwei gegenläufige Tendenzen ablesbar sind - den Film sowohl zu mystifizieren als auch zu demystifizieren.7 Die Aussage Rondolinos lässt sich anhand von zwei markanten Gegenpositionen bestätigen: Ugo Pirros Celluloide, veröffentlicht 1983, stellt den Roman zum Film Roma città aperta dar. In der Neuauflage 1995 verheißt Angelo Guglielmi in seinem nachträglichen Vorwort: „l’importanza di Celluloide […] va ben al di là della sua indubbia qualità narrativa: rievocando infatti i vari momenti e episodi che caratterizzarono la lavorazione del film Roma città aperta ci fa assistere alla nascita del neorealismo nel cinema“.8 Adriano Aprà gibt 1994 unter dem Titel Roma città aperta eine illustrierte Sammlung von Aussagen einzelner Stabmitglieder, Schauspieler und Schauspielerinnen, Produktionsunterlagen sowie ausgewählte italienische, französische, amerikanische und deutsche Rezensionen heraus. In seinem Vorwort distanziert sich Aprà von Celluloide, da Pirro seine Quellen, vorrangig Aussagen Sergio Amideis, weder überprüft noch andere Zeitzeugen und Unterlagen berücksichtigt habe.9 Zum Ziel der Monografie heißt es: „In questo voluminetto di documentazione, mettendo l’uno accanto all’altro i vari ricordi e le varie versioni dei protagonisti e dei testimoni, nonché le recensioni dell’epoca (e solo quelle), non si pretende certo di distruggere la leggenda e di ricostruire la realtà, ma semplicemente di fornire gli elementi per poterlo fare“.10 Wenngleich der Anspruch vermessen wäre, eine im Verlauf von mehr als einem halben Jahrhundert ausgebildete, letztlich Eigenwert und kollektiven Bedürfnissen entgegenkommendeLegende gänzlich zerstören zu können, um so weniger, als sie den Nährboden für ästhetische Produktionen bildet11, soll dennoch die Demystifikation vorangetrieben werden. Die Fakten zu rekonstruieren, welche die Legende mitunter bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, dient dazu, bestehende Gewissheiten in Frage zu stellen, 7 Vgl. Rondolino 1989, 74. 8 Pirro 1995, VI. 9 „Pirro non si è troppo preoccupato di verificare ciò che veniva a sapere, e non è sempre del tutto vero che, con in The Man Who Shot Liberty Valance di John Ford, ‘quando la leggenda diventa realtà, bisogna stampare la leggenda’, Aprà 1994, 14. Rondolino (1989, 74) nennt Celluloide „un romanzo storico“. Meder (1993, 179) spricht von „Ugo Pirros weitgehend fiktivem Bericht Celluloide“. 10 Aprà 1994, 14. 11 Ugo Pirros Roman zum Film ist mittlerweile selbst verfilmt worden: Nach Pirros Vorlage dreht Carlo Lizzani 1995 Celluloide, vgl. die Rezension von Jean A.Gili; in: Positif, Nr. 425/426, Juli-August 1996, 144. 682 Wissenslücken dank Publikationen über Rossellini und Roma città aperta in den neunziger Jahren zu minimieren und kontroverse Ansichten unter Filmhistorikern teilweise zu klären und schließlich neue Fragestellungen zu entwickeln. Erstens geht es um den weiterhin kontroversen Stellenwert von Roma città aperta innerhalb des italienischen filmischen Neorealismus: Handelt es sich um dessen Ikone, Debüt und/oder Meisterwerk? Der eingangs zitierte Eintrag im Lexikon des Internationalen Films betonte die Außenwahrnehmung, insofern dieser Film den italienischen Neorealismus international bekannt gemacht habe. Folglich sind bei der Beantwortung der Fragen produktions- und rezeptionsästhetische Kriterien zu unterscheiden. Der für einen Mitte 1945 abgedrehten italienischen Spielfilm außergewöhnliche Verleih und Kinostart von Roma città aperta erst in den USA, am 25. Februar 1946 im New York, dann am 1. Dezember 1946 in Paris, gewinnt damit eine besondere Bedeutung, um die nun einsetzende Wahrnehmung als ein Initial- und Meisterwerk erklären zu können. Roma città aperta gelangt unter dem Titel Open City als erster italienischer Film aus der nationalen Produktion des Jahres 1945 in die amerikanischen Kinos und wird sowohl vom Publikum wie von den meisten Kritikern außerordentlich positiv aufgenommen. So empfiehlt Joseph Forster dem Kinogänger 1946, Open City so rasch wie möglich anzuschauen, denn „it is the classic of our generation.12
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