Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Clipped Differences. Geschlechterrepräsentationen im Musikvideo Beiträge zur Popularmusikforschung 31 Herausgegeben von Dietrich Helms und Thomas Phleps Editorial Board: Dr. Martin Cloonan (Glasgow) | Prof. Dr. Ekkehard Jost (Gießen) Prof. Dr. Rajko Mursˇicˇ (Ljubljana) | Prof. Dr. Winfried Pape (Gießen) Prof. Dr. Helmut Rösing (Hamburg) | Prof. Dr. Mechthild von Schoenebeck (Dortmund) | Prof. Dr. Alfred Smudits (Wien) Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Clipped Differences. Geschlechterrepräsentationen im Musikvideo This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2003 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Dietrich Helms, Thomas Phleps Satz: Ralf von Appen, Bremen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-146-9 INHALT Editorial 7 Bilderwelt der Klänge — Klangwelt der Bilder. Beobachtungen zur Konvergenz der Sinne Helmut Rösing 9 Kontextuelle Kontingenz: Musikclips im wissenschaftlichen Umgang Christoph Jacke 27 Chromatische Identität und Mainstream der Subkulturen. Eine audiovisuelle Annäherung an das Stilphänomen Madonna am Beispiel des Songs »Music« Heinz Geuen und Michael Rappe 41 Musikvideos im Alltag: Geschlechtsspezifische Darstellungsweisen Erika Funk-Hennigs 55 It's the real Queen Bee. Eine Analyse des Videoclips »No Matter What They Say« der Rapperin Lil' Kim Sonja Henscher 69 Repräsentationsräume: Kleine Utopien und weibliche Fluchten. Grotesken im HipHop-Clip Birgit Richard 81 In Bed with Madonna. Gedanken zur Analyse von Videoclips aus medientheoretischer Sicht Dietrich Helms 99 Gender im Musikvideo. Eine Bibliographie der Forschungsliteratur Carsten Heinke 119 Zu den Autoren 125 EDITORIAL Wahrnehmen heißt Ausschneiden: dem Chaos der Umwelt Konturen geben und diesen Konturen Bedeutung. Wir schnippeln jedoch nicht herum in einem Otto-Katalog der Realität, sondern schaffen uns aus Tonpapier eine eigene Welt, sehen, hören, fühlen nicht die Welt wie sie ist, sondern unsere ganz individuelle Sammlung von Ausschnitten. Und wie bei der Betrachtung eines Fotoalbums bin ich, der die Bilder gemacht hat, der Einzige, der weiß, was sie wirklich darstellen. Mit anderen kann ich mich nur über die Oberflä- che verständigen: »Das bin ich beim Stones Konzert« — doch was sagt das eigentlich meinem Gesprächspartner über meine Vergangenheit? Vielleicht war er ja auch schon einmal auf einem oder gar demselben Stones-Konzert. Dann meint er vielleicht sicher zu wissen, was ich meine — und doch meint er nur seine eigene Vergangenheit, seine eigene Sammlung von »clippings«. Die Disk ist rund und ein Song dauert drei Minuten. Drei Minuten etwas zu sagen, zu singen, zu sein. Da muss man schneiden, schnell und in groben Umrissen. Popkultur ist Clip Culture. Videoclips sind winzige Schnipsel der Welt — betrachtet man das, was sie darstellen: die gezeigten Dinge, die verbrauchte Zeit. Doch wie groß können diese »clippings« werden, wenn wir ihnen erlauben, zu uns zu sprechen: wenn sie plötzlich Kommunikation werden. Dann bekommen sie ein eigenes Leuchten und das künstliche Licht der Bildröhre wird zu einer eigenen Welt. Wer lediglich drei Minuten Zeit hat, kann nur die Bilder zeigen, die in jedem Album kleben, mit denen je- der sofort etwas anfangen kann: Scherenschnitte mit der Aufgabe an den Betrachter, aus der eigenen Erfahrung Farben und Linien einzufügen. Schließlich kennt der Zuschauer die Welt seiner Träume am besten (oder meint dies zumindest) und schließlich schneiden die Produzenten ja, um gut abzuschneiden — in den Charts und den Bilanzen. Das Schneiden macht den kleinen Unterschied riesig groß. Hier hat po- puläre Musik schon immer gern nach dem (Über-)Maß des inneren Auges ge- schnitten. Doch keine Popkultur hat die Differenzen bisher so grob verein- facht wie HipHop. Überdeutlich machen die Videos der Rapper, dass immer, wenn es um den kleinen Unterschied geht, tatsächlich die feinen (oder weniger feinen) Unterschiede gemeint sind. Es geht um Herrschaft — 7 EDITORIAL manchmal, aber selten auch um ›Frauschaft‹. Doch bereiten Videos wirk- lich, wie die Zeitschrift Neon (1.2003, 73) behauptet, »schon achtjährige Jungs darauf vor, was von ihnen erwartet wird, und was sie, im Gegenzug, von den Frauen erwarten dürfen«? Wenn es um Macht geht, wird die Frage wichtig, was das Medium macht. Was bedeuten Videoclips eigentlich? Wie versteht man sie und wie muss oder soll man sie verstehen? Bedeuten sie nur oder wirken sie auch? »Versauen« (Neon) die Bilder unsere Gedanken oder sind wir die Schelme, die Versautes dabei denken? Und noch eine Frage lauert im Hintergrund: Wie kann und wie sollte man mit dem Phänomen Videoclip wissenschaftlich umgehen? Wo setzt der Analytiker seine Schere an diesem so beschnittenen Medium an? Was gibt es noch zu differenzieren, wenn die Differenzen doch derart offensichtlich sind? Clipped differences auch hier? Die Beiträge dieses Bandes sind — mit Ausnahme des letzten — Schrift- fassungen von Vorträgen, die anlässlich der 13. Arbeitstagung des Arbeits- kreises Studium populärer Musik (ASPM) vom 11.-13. Oktober 2002 in der Akademie Remscheid zum Schwerpunktthema »Populäre Musik im Kontext der Video Culture« gehalten worden sind. Dem aufmerksamen Leser von Titeleien wird nicht entgangen sein, dass dieser 31. Band der Beiträge zur Popularmusikforschung sich in einigen Formalien von seinen Vorgängern unterscheidet. Auf eine ›difference‹ aber müssen wir besonders hinweisen: die www-Rubrik mit Daten, Fakten und Informationen rund um die Popular- musikforschung befindet sich jetzt im WWW. Wer mehr wissen will über an- stehende oder vergangene Tagungen, Neuerscheinungen und interessante Institutionen findet diese Informationen jetzt auf dem neusten Stand unter www.aspm-online.de in unserer Internetzeitschrift Samples. Dietrich Helms und Thomas Phleps Altenbeken und Kassel, im Juli 2003 8 BILDERWELT DER KLÄNGE — KLANGWELT DER BILDER. BEOBACHTUNGEN ZUR KONVERGENZ DER SINNE Helmut Rösing Schenkt man den Äußerungen so mancher Kulturkritiker Glauben, dann le- ben wir in einem »optischen Zeitalter«: In den letzten Dezennien sei eine Generation von Augenmenschen herangewachsen, für die der Umgang mit den audiovisuellen Medien zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags ge- hört (vgl. Pech 1969, Hausheer/Schönholzer 1994). Bei der Wahrnehmung würden generell die optischen gegenüber den nonverbal-akustischen Infor- mationen dominieren. Damit bewahrheite sich, was Rudolf Arnheim bereits in seiner 1932 erschienenen Schrift Film als Kunst argwöhnte: Filmmusik sei vor allem dann gut, wenn man sie nicht bemerke (zit. n. Arnheim 1974: 304), und was Siegfried Kracauer in seiner Theorie des Films — Die Erret- tung der äußeren Wirklichkeit (1964: 210) meinte, als er schrieb: »Das Me- dium Film, so scheint es, kann der Musik keine Hauptrolle gestatten und muß daher automatisch ihren Prioritätsanspruch zurückweisen.« Weiter noch geht der Vorwurf, Musik könne von der Mehrzahl der Kon- sumenten heutzutage ohnehin kaum unabhängig von den visuellen Botschaf- ten rezipiert werden, mit denen sie im Film oder Videoclip verknüpft seien. Die optische Brille habe sogar dort Bestand, wo die visuelle Botschaft — et- wa auf dem CD-Filmmusik-Sampler — ausbleibt; visuelle Zwangskonditionie- rung sei der Normalfall. Frank Zappa brachte das 1992 in einem ARD- Interview in Frankfurt am Main auf die griffige Formel: Für die Mehrheit der Bevölkerung sei Musik mittlerweile vor allem das, was über die Bildschirme flimmere. Wie bei allen derartigen Verallgemeinerungen ist Skepsis angebracht. Legt man den Musikkonsum der auditiven Medien — Tonkassette, CD, musik- bezogene Internetnutzung — als Indikator für die aktuellen Wahrnehmungs- gepflogenheiten zugrunde, so ließe sich mit dem gleichen Recht auch von einem akustischen Zeitalter sprechen: Das signalisiert die intensive Nutzung des Hörfunks als einem auditiven Medium par excellence z.B. ebenso wie die allerorten praktizierte Beschallung der Alltagswelt mit Lautsprecher- 9 HELMUT RÖSING musik — ganz unabhängig von der Frage, ob das nun der Wertigkeit von Musik eher zu- oder abträglich sei. Doch allem Anschein nach ist es gar nicht sinnvoll, derart streng zwi- schen auditiver und visueller Wahrnehmung zu trennen und die eine Wahr- nehmungsmodalität gegenüber der anderen derart auszuspielen, wie das z.B. Norbert Jürgen Schneider (1997) in seinem Filmhandbuch tut, indem er auf den »polaren Gegensatz« von Auge und Ohr abhebt. Schließlich haben wissenschaftliche Untersuchungen seit den Anfängen der Synästhesie- forschung im ausgehenden 19. Jahrhundert immer wieder deutlich werden lassen, dass menschliche Wahrnehmung generell auf der Komplementarität von Auge und Ohr beruht, d.h. intermodal angelegt ist (im Überblick: Rösing 1998a). Bilderwelten der Klänge und Klangwelten der Bilder sind das Ergeb- nis. Das sei im Folgenden etwas näher beleuchtet. Neurophysiologische und rezeptionspsychologische Hinweise zur Konvergenz der Sinne sollen die Grundlage für eine Theorie der audiovisuellen Musikwahrnehmung geben und erste Anhaltspunkte dafür, wie eine Filmmusik- oder Videoclip-Analyse beschaffen sein könnte, die nicht nur objektimmanent, sondern auch wahr- nehmungsorientiert ist. 1. Neurophysiologische und rezeptionspsychologische
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