Der ‚Charakter‘ des deutschen Feindes Eine Analyse der britischen Propaganda und Psychologischen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg D i s s e r t a t i o n zur Erlangung des akademischen Grades Doctor philosophiae (Dr. phil.) eingereicht an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin von Firas Amr Der Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz Der Dekan der Philosophischen Fakultät I Prof. Dr. Michael Seadle Datum der Disputation: 23. 06. 2015 Gutachter/innen Erstgutachterin: Prof. Dr. Christiane Eisenberg Zweitgutachter: Prof. Dr. Jörg Baberowski Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 1. Deutsche und Briten vor dem Krieg 1.1 Die traditionelle Deutschlandwahrnehmung der Briten 24 1.2 Das deutsch-britische Verhältnis 1933-1938 31 1.3 Die Organisation der Propaganda 40 1.4 Die Methoden der Weißen und Schwarzen Propaganda 47 2. Propaganda im „Sitzkrieg“ 2.1 Die Einschätzung des Feindes zu Kriegsbeginn 51 2.2 Erfolge und Misserfolge der britischen Maßnahmen 68 2.3 Die BBC und die Feindpropaganda 74 2.4 Propaganda für Christen 80 3. Das Feindbild nach den ersten Kriegshandlungen 3.1 Die Stimmung im Deutschen Reich und die Auswirkungen auf die Propaganda 87 3.2 Der Westfeldzug und die Auswirkungen auf die Propaganda 91 3.3 Zersetzungsversuche 98 3.4 Das Feindbild NS-Prominenz 108 4. Die Anpassung des Feindbildes 4.1 Das Jahr 1941 im Spiegel der Kriegsereignisse 121 4.2 Die Schwarze Propaganda 135 4.3 Vansittartism, Extremisten und moderate Formen der Feindwahrnehmung 140 4.4 Lokal- und regionalspezifische Propaganda für das Deutsche Reich 151 5. Die Anpassung des Feindbildes an die schlechte Frontlage des Gegners 5.1 Propaganda und Psychologische Kriegsführung 1942/43 162 5.2 Ideologischer Krieg und Konsolidierungspropaganda 190 5.3 Soldaten und Kriegsgefangene in der Feindbildanalyse 210 5.4 Propaganda für einzelne gesellschaftliche Gruppen 216 6. Die Briten zwischen militärischem Sieg und propagandistischer Niederlage 6.1 Die Wahrnehmung Hitlers und Görings 227 6.2 Invasion in Europa? 233 6.3 Zersetzungsversuche bei der Waffen-SS und Wehrmachts-Offizieren 248 6.4 Die Operation ‚Overlord‘ und ihre Auswirkung auf den Propagandakrieg 254 7. Ergebnisse 279 Abkürzungen 287 Archivalien 288 Literatur 295 Einleitung Die Beziehungen zwischen Briten und Deutschen unterlagen starken Schwankungen. Insbesondere vor und nach den Weltkriegen traten Klischees und Vorurteile hervor, die auch in die Propaganda integriert wurden. Diese Bilder und Wahrnehmungsweisen haben die damaligen Kriege in manchen britischen Boulevardblättern überlebt, und werden bei politischen Auseinandersetzungen oder Fußballspielen wiederbelebt. Diese Zeitungsartikel, die nicht davor Halt machten, den deutschen Papst in Verbindung mit dem Dritten Reich darzustellen („From Hitler Youth to Papa Ratzi“1), und welche regelmäßig zu deutsch- britischen Fußball-Spielen die alten Ressentiments über die vermeintlichen ‚Nazis‘ aus der Schublade holten („Blitz the Fritz“2), führten zur Idee dieser Dissertation. Dem Verfasser stellt sich die Frage, wie und ob die Wahrnehmung der Deutschen durch die britische Propaganda beeinflusst wurde, wie diese sie darstellte und inwieweit dieses Bild hasserfüllt, abwägend oder sogar positiv gewesen sein könnte. Daher möchte ich untersuchen, wie die Perzeption des „deutschen Wesens“ in Propaganda und Psychologischer Kriegsführung in den Jahren 1939-1945 zustande kam und ob sie zu Erfolgen führte. Deswegen möchte ich untersuchen, wie die Wahrnehmung des Gegners zu Maßnahmen innerhalb der Propaganda und Psychologischer Kriegsführung führten, die sich gezielt mit dem deutschen ‚Wesen‘ auseinandersetzten. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Schlachtordnung des Krieges durch moderne Technik bestimmt. Es standen sich schon seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr ausschließlich zwei Heere auf dem Schlachtfeld gegenüber, die in einer lokal begrenzten Schlacht an einem einzigen Tag über Sieg und Niederlage entschieden. Die Verluste innerhalb der Zivilbevölkerung hatten sich im Ersten Weltkrieg dennoch in Grenzen gehalten. Demgegenüber sorgten die moderneren Flugzeuge des Zweiten Weltkriegs dafür, dass der Krieg die heimische Bevölkerung in einem Maße traf, welches beinahe als apokalyptisch bezeichnet werden könnte. Politisch entstand wiederum auf deutschem Boden eine Ideologie, die die bis dahin geltenden moralischen Werte und vor allem die Gesetze des Krieges in eklatantem Maße missachtete. Die Verbrechen des NS-Regimes innerhalb des Deutschen Reiches und die Kriegsverbrechen an der Front führten zu einer negativen Weiterentwicklung der Deutschland-Wahrnehmung im Königreich, die durch die propagandistischen Maßnahmen so intensiv gefördert wurde, dass die deutsche Mentalität bis zum heutigen Tag mit den Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs in Verbindung gebracht wird. Ferner führte die ‚Totalisierung‘ des Krieges zu neuen Herausforderungen bei der propagandistischen Beeinflussung der eigenen und gegnerischen Bevölkerung. Die körperliche Bedrohung der 1 The Sun, 20. 04. 2005. 2 The Sun, 24. 06. 1996. 1 Zivilbevölkerung durch den Bombenkrieg, die geistige Beeinflussung durch die Radiotechnik und nicht zuletzt die Weiterentwicklung der Psychologie als Wissenschaft erforderten neue Konzepte, welche die ‚Heimatfront‘ stärker berücksichtigen musste, als es je zuvor der Fall gewesen war. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg waren Methoden entwickelt worden, um die psychologischen Schwachpunkte des Feindes zu ermitteln. Doch waren diese Methoden noch nicht an die neuen Massenmedien wie z. B. dem Radio angepasst. Die neue Flugtechnik des Ersten Weltkriegs ermöglichte es, nicht nur Bomben, sondern auch Flugblätter über und hinter den feindlichen Linien abzuwerfen. Aber erst im Zweiten Weltkrieg sorgte die Weiterentwicklung der Flugzeug- und Radiotechnik dafür, dass die Propaganda nicht auf die Front beschränkt blieb und der feindlichen Zivilbevölkerung übermittelt werden konnte. Vor dem Hintergrund der Etablierung der Psychologie als Wissenschaft in den 20er und 30er Jahren3 erfolgte die Entwicklung der Psychologischen Kriegsführung. Unter Berücksichtigung dieser Umstände soll sich diese Dissertation u. a. auf folgende Fragestellung konzentrieren: 1. Wie schätzten die britischen Propagandisten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ein bzw. wo genau glaubten sie, Schwachpunkte im deutschen ‚Charakter‘ zu finden? 2. Führten die Einschätzung des Feindes und die Anpassung der Propaganda auf vermeintliche Charaktereigenschaften zu seiner effizienten Beeinflussung? 3. Unterlag das Feindbild im Verlauf der Kampfhandlungen positiven oder negativen Schwankungen, die mit Erfolgen oder Niederlagen an der Front zusammenhingen? 4. In welchen Punkten unterschied sich das Feindbild bzw. die Darstellung des Feindes bei den Briten in der Heimatpropaganda im Zweiten Weltkrieg konkret von demjenigen im Ersten Weltkrieg und dem 19. Jahrhundert? Um diese Fragen beantworten zu können, sollen die Feindanalysen mit Bezug auf Flugblätter, Radiosendungen und Psychologische Kriegsführung untersucht werden, die ein breites Publikum ansprachen.4 Zugleich soll ermittelt werden, ob sich die Feindbilder in der sogenannten ‚Schwarzen Propaganda‘ (verdeckte Propaganda) und Psychologischen Kriegsführung von den Feindbildern in der ‚Weißen Propaganda‘ (offiziell als Propaganda deklariert) unterschieden. Es soll ferner versucht werden, Erfolge und Misserfolge zu 3 Margaret Kertesz, The Enemy: British Images of the German People during the Second World War (Dissertation), Essex 1992, S. 41/42. Kertesz berichtet, dass erst aufgrund des Aufkommens des Nationalsozialismus die ersten Versuche stattfanden, die Deutschen historisch und psychologisch zu analysieren. 4 Bernhard Wittek, Der britische Ätherkrieg gegen das Dritte Reich, Münster 1962, S. 29. 2 identifizieren und zu gewichten. Mit diesen Forschungen beabsichtigt diese Dissertation, die Aspekte der Geschichte des Zweiten Weltkriegs detailliert anzugehen, die bisher von der Geschichtsschreibung vernachlässigt wurden. Untersucht wird der Gesamtzeitraum des Krieges 1939-1945, unter Berücksichtigung aller Bevölkerungsteile (Offiziere/Soldaten, Politiker und Zivilisten), und unter Berücksichtigung aller organisatorischen Einflüsse (Ministerien, Propagandaabteilungen, Einzelpersonen). Forschungsstand Die Untersuchung kann auf zahlreiche Studien über das deutsch-britische Verhältnis und die Propaganda in den Konflikten der beiden Völker zurückgreifen. Allerdings werden darin die hier interessierenden Fragen entweder gar nicht oder nur am Rande angesprochen. Was das britisch-deutsche Verhältnis angeht, behandelten viele Autoren die Prägung der Wahrnehmung des deutschen „Michel“5 in mehr oder weniger neutraler Sichtweise oder als „Hun“6 in der Propaganda des Ersten Weltkrieges (ähnlich wie im Deutschen Reich der Name „John Bull“ für den typischen Briten oder die Bezeichnung „Perfides Albion“ als Synonym für eine vermeintlich niederträchtige Außenpolitik des Königreiches verwendet wurde7). Die wichtigsten Beiträge zur historischen Wahrnehmung der Deutschen in Großbritannien bzw. in der Zeit vor den Weltkriegen sind die Werke von John Ramsden, Emer O´Sullivan und Paul Kennedy. Sie befassen sich mit der britischen Wahrnehmung der Deutschen seit dem 19. Jahrhundert und beschreiben den Vorlauf zur Entstehung der Feindbilder in Großbritannien im Ersten und im Zweiten Weltkrieg.8 Dabei sticht besonders das Werk von John Ramsden hervor, der einen Überblick über die Vorstellungen von den Deutschen seit dem 17. Jahrhundert gibt
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