Parallele Gruppenrechtssysteme im „jüdischen und demokratischen“ Staat Israel Kodifizierung pala stinensischer und ju discher Gruppen in ausgewa hl- ten Aspekten des israelischen Rechtssystems Lidia Averbukh Vollständiger Abdruck der an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universi- tät der Bundeswehr München zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. Phil) genehmigten Dissertation. Gutachter: 1. Univ.-Prof. Dr. Stephan Stetter 2. Univ.-Prof. Dr. Johannes Becke Die Dissertation wurde am 24.09.2020 bei der Universtität der Bundeswehr München einge- reicht und durch die Fakultät für Sozialwissenschaften am 21.04.2021 angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 31.5.2021 statt. Zusammenfassung Das politische System Israels ist durch den Anspruch gekennzeichnet, zwei Staatsprinzipien, nämlich „jüdisch und demokratisch“, in sich vereinen zu wollen. Deren Verhältnis zueinander ist Gegenstand permanenter politischer Auseinandersetzung. In Bezug auf die rechtliche Organisation der israelischen Bevölkerung zeigt sich das Verspre- chen des Staates „jüdisch und demokratisch“ zu sein, als ein immanenter Widerspruch, verlangt es doch einen partikularen Fokus auf jüdische Staatsbürger und universale Rechtsbehandlung von allen Israelis zugleich. Die Fragen, denen in der Dissertation nachgegangen wird, lauten, wie sich die beiden Prinzipien „jüdisch und demokratisch“ rechtlich manifestieren und wie sich, die darin enthaltenen partikularen und universalen Zugänge zu einander verhalten. Auf der Grundlage von Rechtsdokumenten zu zentralen Themenbereichen wie Einwanderung, Einbürgerung, Bildung, Sprache und dem Verhältnis von Staat und Religion wird die Kodifizie- rung von Gruppen bzw. Individuen im israelischen Rechtssystem analysiert. Es geht darum, die starke Differenzierung zwischen Gruppen (v.a. jüdische Israelis auf der einen Seite und nicht- jüdische Israelis auf der anderen Seite, was vor allem arabische/palästinensischen Israelis be- deutet) mit Blick auf die Aufrechterhaltung dieser Gruppenunterschiede systematisch zu un- tersuchen. Die Arbeit verortet sich im Forschungsfeld der Israel-Studien. Als theoretisches Ge- rüst dient insbesondere die Theorie des liberalen Multikulturalismus von Will Kymlicka. Das Ergebnis der Dissertation ist die Erkenntnis, dass innerhalb des israelischen Rechtssystems hinsichtlich der Verwaltung der Bevölkerung, zwei eigenständige Gruppenrechtssysteme be- stehen. Durch diese werden zwei voneinander unabhängige Rechtsstränge etabliert, welche die Bevölkerung zu zwei Gruppen formen, die rechtlich unterschiedlich adressiert werden. Die jü- dischen Staatsbürger treten im israelischen Recht als eine zusammenhängende Gruppe mit gleichen Merkmalen und einem klaren politischen Willen auf, während nicht-jüdische Staat- bürger rechtlich zu losen Einzelnen ohne gemeinsame Merkmale und Geschichte individuali- siert oder in eine Vielzahl unpolitischer religiöser Denominationen unterteilt werden. Die bei- den Gruppenrechtssysteme verlaufen parallel zu einander ohne rechtlich mit einander zu kon- kurrieren. Betrachtet man das politische Gesamtsystem, wir ersichtlich, dass das Staatsprinzip „jüdisch“ vor dem „demokratischen“ Staatsprinzip Vorrang hat. Auch der universale Zugang allen Israelis gegenüber kann angesichts des starken Partikularismus zugunsten der jüdischen Gruppe, lediglich prozedural sein. Abstract Israel's political system is characterized by its claim to unite two state principles, namely "Jew- ish and democratic”. Their relationship to one another is the subject of permanent political debate. With regard to the legal organization of the Israeli population, the state's promise to be "Jew- ish and democratic" appears to be an immanent contradiction, since it demands a particular focus on Jewish citizens and universal legal treatment of all Israelis at the same time. The questions addressed in the dissertation are how the two principles of "Jewish and demo- cratic" are manifested in law and how the particular and universal approaches contained therein relate to each other. On the basis of legal documents on central topics such as immigration, naturalization, educa- tion, language and the relationship between state and religion, the codification of groups or individuals in the Israeli legal system is analysed. The aim is to systematically examine the strong differentiation between groups (mainly Jewish Israelis on the one hand and non-Jew- ish Israelis on the other, which means mainly Arab/Palestinian Israelis) with regard to the maintenance of these group differences. The work is situated in the research field of Israel studies. Will Kymlicka's theory of liberal multiculturalism serves as the theoretical framework. The result of the dissertation is the finding that within the Israeli legal system, with regard to the administration of the population, two independent legal systems exist. Through these, two independent strands of law are established, which form the population into two groups that are legally addressed differently. Jewish citizens appear in Israeli law as a cohesive group with common characteristics and a clear political will, while non-Jewish citizens are legally individu- alized into loose individuals with no common characteristics or history, or divided into a variety of apolitical religious denominations. The two legal systems run parallel to each other without legally competing with each other. Looking at the overall political system, it is evident that the "Jewish" principle of the state takes precedence over the "democratic" principle of the state. And the universal access to all Israelis can only be procedural, given the strong particularism in favour of the Jewish group. Danksagung An dieser Stelle möchte ich den Menschen meinen großen Dank aussprechen, die mich bei der Anfertigung meiner Dissertation unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt Stephan Stetter für seine freundliche und ausgezeichnete Betreu- ung. Ich danke ihm ebenfalls für das aufrichtige Interesse an meinem Thema sowie seine hilf- reiche Anleitung dabei, dieses aufzubereiten. Ich danke Johannes Becke für die Zweitbetreuung und die Einbindung in das Forschungsgebiet der Israelstudien. Ebenfalls bedanke ich mich bei Michael Brenner, der mit einem Stipendium sowohl meinen ersten Forschungsaufenthalt in Israel ermöglicht hat, als auch meine Dissertation durch aufmerksame Kommentare bereichert hat. Ich bin sehr dankbar für die Infrastruktur, die mir von der Stiftung Wissenschaft und Politik zur Verfügung gestellt wurde. Die sich mir dadurch eröffneten empirischen Zugänge haben meine Arbeit maßgeblich beeinflusst. Innerhalb der SWP war es die Forschungsgruppe „Naher/Mitt- lerer Osten und Afrika“, die sowohl menschlich als auch fachlich beeindruckt und die mich gelehrt hat Israel im Kontext seiner Region wahrzunehmen. Die tagesaktuellen Diskussionen mit den Kollegen des Israel-Projekts erschufen ein inspirierendes Forschungsumfeld, wofür ich den Kollegen Peter Lintl, Gil Murciano und Stefan Wolfrum ausdrücklich danken möchte. Am meisten danke ich meinen Eltern. Seit meiner Entscheidung zu promovieren, haben sie mich jede Sekunde unterstützt. Zu guter Letzt danke ich Jonas für seine Korrekturen, als auch dafür, dass bei jedem gemeinsamen Urlaub die Dissertation mitreisen durfte. 3 4 Inhalt 1. Themensetzung und Fragestellung .............................................................................................................................................. 7 1.1. Analytischer Rahmen: Untersuchungsgegenstand, Territorium und Zeitfenster ........................................ 10 1.2. Forschungsdesign und Methodik ...................................................................................................................................... 19 2. Israels politisches System: Zwischen Ethnokratie und liberaler Demokratie........................................................ 25 2.1. Die Rechtslage zu „ju disch und demokratisch“ ........................................................................................................... 27 2.2. Israel, ein ju discher Staat ...................................................................................................................................................... 40 2.2.1. „Ju discher Staat“- religio ses Kriterium .................................................................................................................. 47 2.2.2. „Ju discher Staat“ - nationales Kriterium ................................................................................................................ 49 2.2.3. „Ju discher Staat“ - demographisches Kriterium ................................................................................................ 57 2.2.4. Zwischenfazit: das „ju dische“ Staatsprinzip ........................................................................................................ 74 2.3. „Ju disch und demokratisch“ aus der Perspektive der politischen Theorie .................................................... 77 2.3.1. Das demokratische Staatsprinzip: Prozedural vs. Substantiell ................................................................... 77 2.3.2. Liberale Demokratie – Das Vermo gen, Kontrolle u ber die Regierung auszuu ben .............................. 81 2.3.3. Ethnischer Nationalstaat – Nation als Abstammungsgemeinschaft ......................................................... 88 2.3.4. Republikanische Demokratie – Das Prinzip der Selbstregulation ............................................................
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