Gösta Neuwirth (*1937)

Gösta Neuwirth (*1937)

© Lothar Knessl GÖSTA NEUWIRTH (*1937) Streichquartett 1976 1 Satz I 3:13 2 Satz II 4:36 3 Satz III 4:56 4 Satz IV 4:19 Sieben Stücke für Streichquartett (2008) für Ernst Steinkellner 5 d’accord 1:15 6 pensif 1:22 7 le fils de la fadeur 1:15 8 à trois 1:31 9 objet en ombre 1:06 1 0 un rêve solutréen 0:55 11 l’oubli bouilli 1:28 1 2 L’oubli bouilli (2008) 30:29 TT: 56:25 1 - 4 Annette Bik violin • Gunde Jäch-Micko violin, viola Dimitrios Polisoidis viola • Andreas Lindenbaum violoncello 5 - 11 Sophie Schafleitner violin • Gunde Jäch-Micko violin Dimitrios Polisoidis viola • Andreas Lindenbaum violoncello 5 - 12 Donatienne Michel-Dansac voice Klangforum Wien • Etienne Siebens conductor 5 - 12 Erste Bank Kompositionsauftrag 2 Klangforum Wien Klangforum Wien Vera Fischer Flöte Markus Deuter Oboe Bernhard Zachhuber, Olivier Vivarès Klarinette Gerald Preinfalk Saxophon Edurne Santos Fagott Christoph Walder Horn Anders Nyqvist Trompete Andreas Eberle Posaune Annette Bik, Sophie Schafleitner Violine Dimitrios Polisoidis, Andrew Jezek Viola Benedikt Leitner, Andreas Lindenbaum Violoncello Alexandra Dienz Kontrabass Nathalie Cornevin Harfe Krassimir Sterev Akkordeon Florian Müller Klavier, Keyboards Hsin-Huei Huang Klavier Adam Weisman, Berndt Thurner Schlagwerk Peter Böhm, Florian Bogner Klangregie und Spatialisation 3 Gösta Neuwirths Kopfwelten fehlenden Teile eins und drei lieferte. Lothar Knessl Bildlos sachliche Auskünfte zum Werk bleiben außerhalb der Schublade des Einführungszwan- L’oubli bouilli - Vanish… Ein Titel, der die Frage ges. TEIL I also, zehn Minuten: Primär linear dis- aufwirft: Wohin führen „gekochtes Vergessen und poniertes Gebilde, überwiegend dicht gewebt, Verschwinden“? Sollte sich Vergessen prozessual hie und da solistisch. Kontinuierlicher Fluss mit konserviert haben, verschwindet es so leicht nicht. wenigem Anhalten. Der erste Blick in die Partitur Dem Sinn nach ambivalente Metapher, Blick- (transponierend notiert) fällt auf ein Notenbild, das winkel und Einstellung entscheiden. Und ein kryp- transkribierter Mensuralnotation ähnelt. Konstruk- tischer Anhang über das zwingende Entweder- tionsprinzipien der Musik des 15. Jahrhunderts in Oder. Träumt Gösta Neuwirth (geboren 1937 in solche der Gegenwart umgewandelt. Taktstriche Wien) Werkgeburten? Nicht auszuschließen. Ge- nur zur Orientierungshilfe. Gösta wollte schon heimnis aber muss bleiben. Zugang zur jüdischen immer eine Musik, worin es keinen Puls gibt, und Mystik hinterlässt Spuren. Warum ein Satz, ein keine erkennbaren Schwerpunkte den Fluss von Takt so und nicht anders geschrieben ist, soll Ereignissen gliedern. Nicht technische Virtuosität verborgen bleiben. Eigenes nicht preiszugeben, ist gefordert, sondern das Einhalten der Zeitorga- war ihm schon seit seiner Kindheit (1939 bis 1953 nisation. Besetzung des Ensemblestücks ohne in Ried/Oberösterreich) unabdingbar. Im großen Gesangsstimme: Flöte, Oboe, zwei Klarinetten, Raum genügt der diskrete kleine Winkel. Der Tür Saxophon, Fagott, Horn, Trompete, Posaune, zu seinem Arbeitszimmer kehrt er den Rücken. Auf Klavier, Celesta, Harfe, Akkordeon, zwei Schlag- dem Tischchen liegt die Partitur des Triptychons werker, je zwei Violinen, Violen, Violoncelli, Kon- in Reinschrift, präzis ausgewogen, als sei sie ge- trabass. 22 Spieler – kein Zufall. Das hebräische stochen, im Hinblick auf die Individualitäten der Alphabet: 22 Buchstaben, die Zahl ein Gleichnis Musiker des Klangforum Wien geschrieben. der Vollkommenheit. Anregende Hintergrundge- Weit zurück in die Grazer Jahre reicht die Vor- danken. Eine Fundamentalkonstellation der Inter- geschichte. 1974/75 wünschte sich Jane Gartner, valle markiert den Beginn. Sie löst sich in Linien- die in Wien lebende amerikanische Sängerin al- bündel auf, verursacht durch die Disposition ihrer ter Musik von Gösta ein Stück für Tonband und Zeitwerte. Die Gewebedichte fluktuiert, ebenso Gesang. Er komponierte es, Ansatz für „Vanish“. das Tempo. So bleibt das Gerüst abstrakter Sogleich jedoch setzte sich im Kopf eine drei- Sekundeinheiten unmerkbar. Vertikal Simultanes, teilige Erweiterung formal fest. Umstände halber vielstimmig zwölftönige Akkordcluster ohne blieb dies latent rumorender Wunsch. Stillstand. Oktaven und Klangverdoppelung, sind gliedernde Bis dann 2007 der an den Preis der Erste Bank Ausnahme. Das Fließen entleert sich, staut sich in gekoppelte Auftrag für ein Ensemblestück den starken Akzenten, aber das Stehen wird wieder entscheidenden Impuls zum Vollenden der beiden aufgelöst. Eine genaue Tonhöhendefinition sollte 4 man erst gar nicht versuchen, weil vieles auf Ver- ter der Bläserschicht. Und sollten an Stellen hoher wischen, sfumato, ausgerichtet ist. Das bedingt Transparenz reine Intervalle erkennbar sein, ver- essentielle Fragen: Was ist die aktuelle Wahr- hindern dies Ankoppelungen der jeweils anderen nehmung, wenn der exakt definierte Einzelton im Instrumentengruppe. Gewebe der Unbestimmtheiten wieder diffus wird? Zurück zu den nicht verschwundenen Wurzeln. Erstens werden Unbestimmtheiten durch genau- „Vanish“, nun TEIL II, die andere Klangsphäre. este Notation realisiert – ein Phänomen der seriell Konzept und Material sind gemischt erdacht. Eine praedeterminierten Musik -, die vielen gleichzeitig komplett fixierte Tonbandschicht, zehn Minuten, ablaufenden Fäden erzeugen hier mangels gleich- und simultan dazu, vollständig ebenfalls zehn zeitiger Akzente Unbestimmtheiten. Zweitens sind Minuten, die Schicht der Singstimme, hoher So- einige Abschnitte „sans mesure“ notiert. Gleich- pran. Beide Schichten dürfen unterbrochen, aber sam lose in einen Zeitrahmen gestellte, gestisch nicht umgereiht werden. Die Sängerin kann auch differierende Einzelereignisse. Neuwirth sagt dazu allein singen, muss die Tonbandmusik aber ganz Figurentheater, die Formulierung verrät seine the- aufbrauchen. Im Extremfall dauert das Stück aterpraktischen Erfahrungen aus früherer Zeit. zwanzig Minuten. Eine Form der Unbestimmtheit, Serielle Systeme, eigenen kompositorischen gelenkte Aleatorik. Kein Einzelfall im Schaffen Vorstellungen angepasst, unterfüttern die Ge- Göstas. Der Vokallinie ist eine fragmentarische samtstruktur. Durch den Einsatz ständig wech- Textmontage des Komponisten beigesellt. Im Stu- selnder Allintervallreihen regiert bei den Tonhöhen dio der Grazer Musikhochschule entstanden die das Prinzip der Nichtwiederholung. Eine Conditio elektronischen Klänge auf vorsintflutlichen Ge- sine qua non. Wahrscheinlich konsequenter als räten, was eine Technik mit „schmutziger“ Ästhe- der Teufel das Weihwasser, meidet Gösta die Wie- tik bedingte. Fünf Sekunden Aufnahme eines mit- derholung. Die einzige ihm anzulastende wäre die telhohen Klavierflageolett-Tones. Daraus mittels Furcht vor ihr. Generell gesagt: Einerseits Über- Schleife ein holperndes Glissando gemacht, nach polyphonie, die Unbestimmtheit erzeugt, ande- fünf Minuten ist es um einen Ganzton höher. Mini- rerseits „sans mesure“, wo ähnliches passiert. malistisch. Frage an sich selbst: Hört man das? Zusätzlich eine weitere: Bläser, Klavier, Akkordeon Jedenfalls gedehnte Erlebniszeit. Die völlig ande- sind auf 440 Hz gestimmt, die Streicher auf 432 Hz. ren zweiten fünf Minuten bieten viele kontrastreich Obendrein benützen beide Instrumentengruppen gefügte Ereignisse, Instrumentalklängen fast an- Vierteltöne. Unwägbares im Mikrointervallbereich, genähert. Im Resultat verkürzte Erlebniszeit. Eintrübung. Klare Tonhöhenbestimmung ist aus- TEIL III dokumentiert, wie I, Neuwirths ver- geklammert, statt dessen herrscht Tonhöhenge- gleichsweise rare Arbeitsweise: der nicht auf- misch. Allerdings sei Einzelnes gemäß intendierter geschriebene Entwurf muss im Gedächtnis Unterscheidbarkeit hervorgehoben. Außerdem vollständig sein – vorher komme ich nicht weiter verwischt die Streicherschicht das mensurale Git- – ausdenken, aber nicht aufschreiben –, ohne 5 Notizen und Vorformulierungen. Fühlt sich außer- späteren Zeitpunkt des Stücks auf die Anfangs- stande, Gedachtes gewissermaßen in Annähe- konstellation rückzuschließen. Vorbei sei vorbei, rungswerten festzulegen, sie zu redigieren. Kann meint er, vielleicht sogar vergessen. An der ferti- keine Rohfassung machen – ich beneide andere gen Partitur wird prinzipiell nichts mehr geändert. darum, aber das Karl Kraus’sche Verfahren, zeh- Natürlich braucht er eine ziemliche Zeit, um über nmal zu korrigieren, ist mit leider unzugänglich. so ein Projekt nachzudenken - - - ein Aquarium Ohne Teilpläne ist das im Kopf schon Gereifte von Vorstellungen, wochenlang schwimmen sie im möglichst zügig, direkt in das Endprodukt über- Kopf herum, bevor ich sie aufschreibe. zuführen. Das war kaum anders, als Gösta die ✶ Dissertation über die Harmonik in Schrekers „Fernem Klang“ schrieb, zur Verwunderung so Sitzt eingeengt umbaut von hohen Regalen. Sie mancher Wissenschaftler literarisch formuliert. tragen reiche Bücherlast. Gewichtiges Lebens- Teil III ist zwar instrumental gleich besetzt wie I, elixier. Der verstimmte (Mikrointervalle?) Blüthner aber anders gebaut, die klanglich eingebettete bleibt fürs Komponieren ungenützt. Gösta ist Singstimme (montierte Textfragmente) reichert Geiger, obwohl er seit Kindheitstagen Klavier die Schlussphase an. Zu Gruppen gebündelte, spielt, gut vermutlich. Spielen aus Partituren von einander nicht völlig getrennte, dennoch deut- schreckte ihn nicht. Aber Ausprobieren am Klavier lich wechselnde Abschnitte, unterschiedlich arti- beeinflusst die Bildung kompositorischer Kon- kulierte Segmente, Charaktere ohne thematische zepte, ist unter Umständen vorprägend.

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