Agathe Lasch (1879-1942?)

Agathe Lasch (1879-1942?)

Erschienen in: Barner, Wilfried/König, Christoph (Hrsg.): Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871-1933. - Göttingen: Wallstein, 2001. S. 203-211. (Marbacher Wissenschaftsgeschichte 3) Agathe Lasch (1879-1942?) U l r ik e H a s s -Z u m k e h r i. Zuschreibungen Dittmar/Schlobinski1 bezeichnen Agathe Lasch in der Widmung als »Frau, die unter widrigsten Umständen erste deutsche Linguistikprofessorin wurde; [...] Soziolinguistin, die mit der Sprachgeschichte des Berlinischen das Para- digma der Stadtsprachenforschung mitbegründete; [...] Jüdin, die patriotisch Germanistik betrieb und ihr Lebenswerk der deutschen Sprachgeschichte widmete.« Ihr Selbstbild äußerte sich offensichtlich nur im persönlichen Ge- spräch, von dem nachträglich weniges veröffentlicht wurde: Ich habe niemals einen Menschen leidenschaftlich geliebt. Die zwei Ab- strakta, die ich mit höchster Leidenschaft liebe, sind: Germanistik und Deutschland.2 [...] ich bin jüdisch, und vor allem bin ich deutsch [...]3 Agathe Lasch hat Standardwerke - Wörterbücher4 und Grammatiken5 - ge- schrieben, die bis heute zu den oft wenig beachteten Voraussetzungen litera- tur- wie sprachwissenschaftlicher Arbeit gehören. Die Person und ihre Lei- stung im Kontext der Zeit drohen dahinter und hinter den Gerüchten und Interpolationen zwischen Gerüchten zu verblassen, die zu ihrem Leben und vor allem zu ihrer tödlich endenden Deportation entstanden. Die mora- lischen Würdigungen, die Agathe Lasch postum erfahren hat, haben notwen- digerweise versucht, ein möglichst geschlossenes biografisches Bild dieser Wissenschaftlerin zu entwerfen. Aber die Lage der Quellen zur deutsch-jüdi- schen Wissenschaftsgeschichte - mehr als anderswo ist vernichtet, zerstreut, verschollen, und zwar um so mehr, je ungesicherter eine berufliche Existenz 1 Wandlungen einer Stadtsprache. Berlinisch in Vergangenheit und Gegenwart, hg. von Norbert Dittmar und Peter Schlobinski, Berlin 1988. 2 Claudine de l’Aigles, Agathe Lasch. Aus ihrem Leben, in: Jahrbuch des Vereins fü r niederdeutsche Sprachforschung 82, 1959, S. 1-5, hier S. 3. 3 Ebd., S. 5. 4 Agathe Lasch und Conrad Borchling, Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, 1928 ff. [Strecke A bis E von Lasch], Hamburgisches Wörterbuch. Aufgrund der Vorarbei- ten von Christoph Walther und Agathe Lasch, hg. von Jürgen Meier und Dieter Möhn, Neumünster 1985 ff. 5 Agathe Lasch, Mittelniederdeutsche Grammatik, Halle an der Saale 1914; 2. unver- änd. Aufl. 1974. 203 und je weniger institutionalisiert diese war - erlaubt keine geschlossenen Bil- der; sie ist als solche und nicht nur im 20. Jahrhundert spezifisch jüdisch. Um nicht erneut zu interpolieren, wird in meinem Beitrag der fragmentari- sche Charakter der Quellenlage durch starke Gliederung in Aspekte gespie- gelt, deren Zusammenhang nur fragend und durch Leser wie Leserinnen herzustellen ist. Was angesichts der Quellensituation historiografisch gebo- ten scheint, ist aus Umfangsgründen an dieser Stelle nicht zu leisten: die phi- lologische Mikroanalyse der erhaltenen Quellen, die sich nicht nur für das historisch feststellbare Geschehen h in ter den Quellen interessiert, sondern die Texte selbst als Instanzen wissenschaftlichen Handelns und als sozial wie kontextuell motivierte Akte liest. Z. B. ist an einem aktenkundigen Lebens- lauf nicht nur das Gerüst der Daten wissenschaftsgeschichtlich relevant, son- dern - und dies ist zumindest Philologen zugänglich - auch das, was da ge- sagt und nicht gesagt, akzentuiert und marginalisiert wird. Der nachfolgende Beitrag kann die Einlösung dieses Desiderats nur andeuten. 2. Biografische Daten Luise Agathe Lasch wurde am 4. Juli 1879 in Berlin geboren. Zu den Eltern enthält das curriculum vitae in den Heidelberger Promotionsakten6 wie der ■ Biographische Bogen< in den Personalakten der Universität Hamburg7 keine Angaben. Andere berichten, der Vater sei Kaufmann, Holzhändler8 oder Arzt9 gewesen; die Mutter stammte aus der Breslauer Familie Milch. Agathe Lasch sei als das dritte von fünf Geschwistern - eine Schwester wurde Künst- lerin - »aus kinderreichem, unvermögendem Elternhaus«10 gekommen. Zu schließen ist, dass die Familie dem liberalen Judentum angehörte. Nach dem Besuch der höheren Mädchenschule in Berlin besuchte Agathe Lasch das dortige Lehrerinnenseminar und legte 1898 die Lehrerinnen- und Turnlehrerinnenprüfung ab. Zwischen 1899 und 1901 liegt ein halbjähriger Studienaufenthalt in Frankreich. Dann geht sie als Lektorin/Gewerbelehre- rin an eine höhere Mädchenschule in Halle an der Saale und später an Fort- bildungs- und Gewerbeschulen. Im September 1906 machte sie am Augusta- Gymnasium in Berlin-Charlottenburg ihr Abitur. 6 Universitätsarchiv Heidelberg H-lV-757/3. 7 Staatsarchiv Hamburg, Hochschulwesen, Dozenten- und Personalakten I 96, Bd. 1. 8 Vgl. de l’Aigles (Anm. 2). 9 Vgl. Conrad Borchling, Agathe Lasch zum Gedächtnis, in: Niederdeutsche Mit- teilungen 2, 1946, S. 7-20. 10 Jürgen Meier, Agathe Lasch. Worte des Gedenkens zu ihrem 100. Geburtstag, in: Jahrbuch des Vereins fü r niederdeutsche Sprachforschung 103, 1980, S. 7-13, hier S. 8. 204 Das Studium nimmt sie im Sommersemester 1906 in Halle auf und hört zwei Semester bei Philipp Strauch und Otto Bremer. Ab dem Sommerseme- ster 1907 studiert sie in Heidelberg bei Wilhelm Braune, der ihr auch zu einem Stipendium verhilft. Trotz brieflicher Bitte lässt Gustav Roethe sie in seinen Lehrveranstaltungen 1908 in Berlin nicht zu. Sie promoviert 1909 bei Braune an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg in den Fächern Deutsche Philologie, Altnordisch, Altfranzösisch. Als Dissertation reicht sie die ersten 74 Seiten der 1910 gedruckten, 350-seitigen >Geschichte der Schriftsprache in Berlim ein" und macht gleichzeitig, im März 1910, das (badische) Staatsexamen pro facultate docendi. Ab Herbst 1910 wird Lasch Associate, ab 1913 Associate Professor in Teu- tonic Philology and German am Bryn Mawr College bei Philadelphia in Pennsylvania, U SA.11 12 131415 Der drohende Kriegseintritt der USA führt 1916 zu ih- rer Rückkehr nach Deutschland.'3 Im Herbst 1917 wird sie »wissenschaftliche Hilfsarbeiterin« von Conrad Borchling am Deutschen Seminar des Kolonial- instituts in Hamburg, wo sie eine Sammelstelle für das >Hamburgische Wörterbuch« einrichtet. 1919 habilitiert sie sich an der neu gegründeten Uni- versität Hamburg, wird 1923 zum Professor ernannt, erhält 1926 ein plan- mäßiges Extraordinariat für Niederdeutsche Philologie und wird (seit?) Juni 1927 Mitdirektor des Germanischen Seminars.'4 Nachdem ihre Entlassung 1933 zunächst durch eine Petition schwedischer Hochschullehrer und eine Eingabe Hamburger Kollegen und Schüler Agathe Laschs verhindert wurde,'5 11 Agathe Lasch, Geschichte der Schrifisprache in Berlin bis zur Mitte des 16. Jahrhun- derts, Dortmund 1910, Nachdruck Saendig 1972. 12 Vgl. Myra Richards Jessen, Agathe Lasch. 1879-1942, in: Bryn Mawr Alumnae Bulletin, July 1947, S. 8 f. 13 Vgl. Bryn Mawr College Calendar, Pennsylvania, 1912-1916. Zur antideutschen Stimmung in den USA um 1917 vgl. Jeffrey Sammons, The Tragical History of German in the United States: Some Scenes from Past and Present, in: American Attitudes Toward Foreign Languages and Foreign Cultures, hg. von Edward Dudley und Peter Heller, Bonn 1983, S. 23-34. Dazu Agathe Laschs Lebenslauf in den Personalakten, datiert 1921, fortgesetzt 1926, Staatsarchiv Hamburg I 96, Bd. 1. 14 Vgl. Wolfgang Bachofer und Wolfgang Beck, Deutsche und niederdeutsche Phi- lologie. Das Germanische Seminar zwischen 1933 und 1945, in: Hochschulalltag im Dritten Reich. Die Hamburger Universität 1933-1945, hg. von Eckart Krause, Bd. 2, Hamburg 1991, S. 641-703. 15 In Agathe Laschs Personalakten im Staatsarchiv Hamburg (IV 596, Bl. 9-11) findet sich dazu nur ein Vorgang von August/September 1946, in dem Ernst Windier, 1927-28 studentische Hilfskraft am Mittelniederdeutschen Wörterbuch und spä- ter Mitglied der NSDAP, zum Zwecke seiner Rehabilitierung vom Hamburger Senat einen Nachweis erbittet, dass er 1933 oder 1934 eine »Eingabe« unterzeich- net habe, »deren Ziel es war, die Entlassung von Frau Professor Dr. Agathe Lasch 205 wird sie am 30.6.1934 zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Ostern 1937 kehrt sie nach Berlin zu den Schwestern zurück. Es folgen die Konfiszierung ihrer Bibliothek16 und die Einstellung der Pensionszahlung. Anfang 1939 er- hält sie einen Ruf an die Universität Dorpat (Estland), später auch einen Ruf nach Oslo; die Rufannahme wird beide Male von deutscher Seite ver- hindert.17 Im Dezember 1941 setzt sich Claudine de l’Aigles erfolglos für ver- besserte Lebensbedingungen Agathe Laschs ein.18 Am 12. August 1942 wird sie gemeinsam mit den Schwestern in Berlin festgenommen und drei Tage später ins »Reichsjudenghetto« Riga deportiert, wo sich ihre Spur verliert.'9 3. Wissenschaftliches Profil In Forschung und Lehre20 setzte Agathe Lasch ihre Schwerpunkte in Sprach- wissenschaft, speziell in Grammatik und Lexikografie des Mittelniederdeut- schen, aber auch anderer Sprachstufen bzw. Regionalsprachen (älteres, mitt- leres und jüngeres Hochdeutsch und Niederdeutsch, Gotisch, Altnordisch, Altsächsisch, Altfriesisch). Hier verfasst sie sprachhistorische Standardwerke: eine mittelniederdeutsche Grammatik, zwei Wörterbücher zum Mittelnieder- deutschen und zum Hamburgischen; beide Wörterbücher werden heute noch herausgegeben. Sie beteiligte sich somit aktiv an dem Versuch, die Phi- lologie des Mittelniederdeutschen, der Sprache der Hanse, im Fächerkanon zu etablieren. Dies war nicht zuletzt wegen der nur wenig literarischen,

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