Jörg Wollenberg „Goethe in Dachau“. Das Konzentrationslager als Lernort zur Selbstbehauptung in Grenzsituationen Beitrag zur 27. Konferenz des Arbeitskreises zur Aufarbeitung historischer Quellen der Erwachsenenbildung – Deutschland – Österreich – Schweiz - vom 20. bis 23. November 2007 im Wissensturm Linz/Österreich Musikalischer Einstieg: Aus der Mauthausen Trilogie von Mikis Theodorakis (CD 2000 Verlag ‚pläne’88840). In Erinnerung an die Befreiung am 7. Mai 1945, 1995 uraufgeführt im KZ Mauthausen; Nr. 1: Das Hohelied („Ihr Mädchen aus Auschwitz, Ihr Mädchen aus Dachau, Habt ihr meine Liebste nicht gesehn?“, gesungen von Elinoar Moav Veniadis, Auszug aus dem Stück von 3.33 Minuten). Dazu Folie 1: Programm des Osterkonzerts im KZ Sachsenhausen im Block 28 am 26. April 1943 mit Beteiligung des tschechischen Streichquartetts unter Leitung von Bohumir Cervinka (vgl. Kuna,1998, S.260). Das nicht weit von Linz entfernte, kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ eingerichtete KZ Mauthausen erlangte mit seinen rund 40 Außenlagern in der ersten Kriegshälfte mit der Lagerstufe III die politische Funktion eines Tötungslagers, in dem mehr als die Hälfte der über 200.000 Häftlinge aus Europa und den USA zwischen 1938 und 1945 ums Leben kamen. Mehrere tausend Häftlinge wurden ab Sommer 1941 im Rahmen der Aktion 14 f 13 in die am Rande von Linz gelegene Tötungsanstalt Hartheim gebracht und mittels Giftgas erstickt.1 Selbst nach der Umwandlung in ein Zwangsarbeitslager für die Rüstungsindustrie verzeichnete die Lagerleitung Todesraten ab 1942 von 30 bis 40 Prozent. Im Gegensatz zu den anderen großen Konzentrationslagern und Ghettos im „Deutschen Reich“ blieben die individuellen Überlebensstrategien der Häftlinge in Mauthausen auch deshalb eingeschränkt, weil sie kaum auf kulturelle Freizeitaktivitäten zurückgreifen konnten. Auch unterblieb die Zustellung von Lebensmittelpaketen und die Verteilung von Kleidungsstücken, die aus Beständen der Judenvernichtung stammten. 1 Florian Freund/Bertrand Perz, Mauthausen – Stammlager, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 4, Flossenbürg-Mauthausen- Ravensbrück, München 2006, S.293-346. Seite: 2/31 Im Folgenden wollen wir an künstlerische und literarische Ausdrucksformen in deutschen Konzentrationslagern aus der Sicht der Häftlinge erinnern, die zur eigenen Lebensbehauptung und zur Lebensermutigung der Leidensgenossen beitrugen. Und für einige der Überlebenden entwickelten sich aus der Artikulation von Kunst und Kultur feste Formen des Widerstands im Lager. Ihnen gelang es, durch legale, halblegale und illegale Veranstaltungen Ansätze einer moralisch-philosophischen Kraft aufzubauen und die nicht ganz ohnmächtige Gegenmacht des Überlebens - unter der Kontrolle der absoluten Macht der NS-Gewaltherrschaft – zu stabilisieren.2 „Goethe in Dachau“, das Tagebuch von Nico Rost, gab den Anlass zu dieser Erinnerung an das weniger bekannte Kapitel der Geschichte des Konzentrationslagers als Lernort zur Selbstbehauptung in Grenzsituationen. KZ Dachau, Lagerbücherei 2 Vgl. dazu u.a. die Schilderung von Wilhelm Girnus, Damals vor vielen Jahren, in: Sowjetliteratur 10/1972, S. 135ff., und Harry Naujoks, Mein Leben im KZ Sachsenhausen, Köln 1987, S.282-314, zur Weihnachtsfeier von Häftlingen in Sachsenhausen 1940 und 1941 nach dem Massenmord an tausenden von sowjetischen Kriegsgefangenen und der Exekution von holländischen Geiseln und jüdischen Häftlingen in Sachsenhausen, u.a. im Block 4 mit dem Bremer Edgar Bennert und Erich Klan und Egon Nickel aus Lübeck oder im Block 65 mit dem Cevinka-Quartett aus der CSR und dem Spanienkämpfer Ebergard Schmidt, die den russischen Trauermarsch “Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin“ spielten und eine Tolstoi-Lesung anschlossen. 2 Seite: 3/31 Nico Rost, vom 10. Juni 1944 bis zum30. April 1945 im KZ Dachau als Häftling, veröffentlichte am 1. August 1946 seine „an Hand von zahlreichen, an Ort und Stelle, auf den verschiedenartigsten Papieren und Zetteln gemachten Tagebuchaufzeichnungen“ unter dem Titel „Goethe in Dachau“.3 Der aus den Niederlanden stammende Schriftsteller Rost (1896-1967) hatte als Pfleger im Häftlingskrankenbau Dachau alle Torturen überstanden. Für ihn bedeutete die Beschäftigung mit deutscher Literatur Überlebenshilfe. Sie trug zur geistigen Selbstbehauptung bei. Kultur und Bildung erweisen sich gerade in Grenzsituationen als „Ausdrucksformen der Aufrechterhaltung des Mensch-Seins unter unmenschlichen Bedingungen“.4 „’Die alte Erde steht noch, und der Himmel wölbt sich noch über mir!’ Ein alter Ausspruch Goethes…So lange es noch ist, wie Goethe sagt, ist nichts verloren“. So beginnen seine Tagebuchaufzeichnungen. Und sie halten am 11. Februar 1945 angesichts des Flecktyphus im Lager fest: „Konstatiere stets aufs neue, wie gut es ist, so viel wie möglich zu lesen und zu schreiben. Wer vom Essen spricht, bekommt stets größeren Hunger. Und die am meisten vom Tode sprachen, starben zuerst. Vitamin L (Literatur) und Z (Zukunft) scheinen mir die beste Zusatzverpflegung“ (S. 223). Der Büchermensch, Übersetzer und Autor Rost überlebte so die KZ-Haft und konnte nach 1945 weiter als Kulturvermittler zwischen Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden wirken. 3 Nico Rost, Goethe in Dachau. Literatur und Wirklichkeit, 1946, Vorbemerkung. Die erste deutsche Ausgabe, übersetzt von Edith Rost-Blumberg, erschien 1948 im Verlag Volk und Welt, Berlin-Ost, mit einer Einleitung von Anna Seghers. Neuaufgelegt mit einem Nachwort von Wilfried F. Schöler in München 2001. 4 Lutz Niethammer, Häftlinge und Häftlingsgruppen im Lager. In: Ulrich Herbert u.a. (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Bd. 2, Göttingen 1998, 1058. 3 Seite: 4/31 Einer der Pioniere der deutsch-französischen Zusammenarbeit und Förderer der deutsch- österreichischen Erwachsenenbildung, der 1918 in München geborene Professor für deutsche Geschichte und Politik an der Sorbonne, Joseph Rovan, berichtet in seinen „Geschichten aus Dachau“ über ähnliche Erfahrungen, die er zum gleichen Zeitpunkt als Häftlingsschreiber in der politischen Abteilung von Dachau festhielt.5 So gelang es u.a., den Roman seines Freundes, des in Dachau zu Tode gequälten Schriftstellers Francois Vernet (Vous ne mouriez nullement), der erst nach dessen Verhaftung erschienen war, in der Effektenkammer unter dem Gepäck eines Franzosen aufzutreiben, diesen heimlich in die Lagerbibliothek zu integrieren und dem Autor im Krankenblock von Dachau vorzulegen, dem bis zu seinem Tode (am 24. März 1945 im Typhusblock) die Leidenschaft für Literatur, Theater und Musik nicht verließ.6 Auch der aus Nürnberg stammende Karl Röder, nach 1945 enger kulturpolitischer Mitarbeiter von Viktor Matejka in Wien, beschreibt in seinen Erinnerungen über die zehn Jahre Haft in Dachau und Flossenbürg (von 1934 bis zum 10.11.1944) den Prozess der „geistigen Selbstbehauptung“ im Umgang mit Büchern und in den monatelangen Diskussionen darüber.7 Dazu gehörte unter anderen das Buch des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker »Zum Weltbild der Physik«: „Ich war damals 26 Jahre alt und vier Jahre im Lager. Schon damals hatte ich mich an Diskussionen beteiligt. In diese stürzte ich mich mit der größten Begeisterung. Sie gingen auf prinzipielle Fragen ein, deren Bedeutung für unser Lagerleben außer Zweifel stand. […] Wir haben damals viel gelernt und nicht nur Einblicke in eine fremde Welt gewonnen. […] Wir lebten auf, das Lager verlor viel von seinen Schrecken: gemessen an der Unendlichkeit wird das Endliche unendlich klein. Deshalb gab es immer wieder Diskussionen. […] Manch einer hat im Lager die Grundsteine zu einem Weltbild gelegt, die sich später als brauchbar und ausbaubar erwiesen. Ich jedenfalls habe erst dort die Kraft des Denkens entdeckt. Der wichtigste Teil meiner geistigen Entwicklung hat sich im Lager vollzogen.“8 (Dazu Folie 2) Während der in der Buchbinderei arbeitende Österreicher Bruno Furch die Gedichte von Lamartine und Baudelaires „Fleur du Mal“ übersetzte, übertrug Röder die Novellen 5 Joseph Rovan, Geschichten aus Dachau, München 1992 (Paris 1987). 6 Rovan, 1992, S.152-157 7 Karl Röder, Nachtwache. 10 Jahre KZ Dachau und Flossenbürg, Wien-Graz-Köln 1985, S. 278-315. 8 Röder, Nachtwache, a.a.O., S. 279 f. Röder zitiert lediglich den Buchtitel, nicht aber den Autor, der als ältester Sohn des vor dem Nürnberger Militärtribunal als Kriegsverbrecher verurteilten NS-Staatssekretärs im Auswärtigen Amt mit seinem Lehrer Werner Heisenberg an der Atombombe bastelte und 1957 zum „Kampf gegen den Atomtod“ aufrief. 4 Seite: 5/31 Maupassants ins Deutsche, nachdem sie zuvor die französischsprachigen Originale aus der Lagerbücherei entliehen hatten. Und Nico Rost berichtet von einer Begegnung mit dem Kapo der Bibliothek, „dass sich eine der Polinnen aus dem Lagerbordell Dantes Hölle ausleihen wollte! ‚Am liebsten eine Ausgabe mit recht vielen Bildern’, hatte sie gesagt. Sie glaubte nämlich, dieses Buch sei eine genaue Beschreibung der Hölle, und da sie fürchtet, dereinst einmal hineinzukommen, wollte sie gern jetzt schon wissen, was ihr dort bevorsteht!“9 Rost’s eigener Fluchtversuch aus dem Schrecken der Lagerwirklichkeit in das Reich der Phantasie endete immer wieder bei Goethe und bei dem von den Idealen der Französischen Revolution geprägten deutschen Jakobiner Friedrich Hölderlin (mit Hyperions Lobpreisung des antiken Griechenland, S.102). Das Modell Dachau als internationaler
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