Antisemitismus in Der Migrationsgesellschaft Theoretische Überlegungen, Empirische Fallbeispiele, Pädagogische Praxis

Antisemitismus in Der Migrationsgesellschaft Theoretische Überlegungen, Empirische Fallbeispiele, Pädagogische Praxis

Nikolaus Hagen, Tobias Neuburger (Hg.) Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft Theoretische Überlegungen, Empirische Fallbeispiele, Pädagogische Praxis innsbruck university press innsbruck university press Nikolaus Hagen, Tobias Neuburger (Hg.) Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft Theoretische Überlegungen, Empirische Fallbeispiele, Pädagogische Praxis Nikolaus Hagen Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien Tobias Neuburger Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung des Forschungsschwerpunkts Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte sowie des Vizerektorats für Forschung gedruckt. Gefördertes Sonderprojekt der Österreichischen Hochschüler_Innenschaft. © innsbruck university press, 2020 Universität Innsbruck Alle Rechte vorbehalten. www.uibk.ac.at/iup ISBN 978-3-99106-015-4 Inhalt Vorwort .......................................................................................................................................... 7 Antisemitismus der Anderen? – Einleitende Überlegungen ................................................. 9 Nikolaus Hagen und Tobias Neuburger Das antisemitische Unbewusste. Zur politischen Psychologie des Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland ........................................................... 21 Wolfram Stender Dekonstruktion „jüdischer Souveränität“ als „ehrbarer Antisemitismus“. Judith Butler liest Hannah Arendt ........................................................................................... 41 Gerhard Scheit Antisemitismus – Ein blinder Fleck der intersektionalen Geschlechterforschung? ....... 51 Manuel Mayrl Israelfeindschaft und Antisemitismus bei Hamas, Al-Qaida und Islamischem Staat ....................................................................................................................... 65 Michel Wyss Grundlagen und Formen der Annäherung zwischen dem Islamismus und der radikalen „globalen Linken“ nach 9/11 ........................................................................... 87 Daniel Rickenbacher Universalisierte Opferschaft. Über den Erfolg des islamischen Antisemitismus in Europa ....................................................................................................... 109 Soma Mohammad Assad Antisemitismus unter Geflüchteten aus Syrien und dem Irak. Befunde einer qualitativen Erhebung .................................................................................... 121 Günther Jikeli Im „Namen der guten Sache“. Palästina-Solidarität, Antizionismus und Antisemitismus unter MuslimInnen im zeitgenössischen Frankreich ............................. 147 Alexandra Preitschopf Zum Umgang mit Antisemitismus und anderen Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Berufsschule ..................................... 161 Georg Lauss und Stefan Schmid-Heher Nach der Erziehung zur Mündigkeit. Anmerkungen zu Antisemitismus und Pädagogik .............................................................................................. 185 Michael Fischer Opfergemeinschaften und Verschwörungsphantasmen. Reflexionen über pädagogische Praxis in der postnazistischen Gesellschaft ....................................... 201 Enno Stünkel Autorinnen und Autoren ......................................................................................................... 221 Vorwort Nikolaus Hagen und Tobias Neuburger Dieser Band geht auf zwei Tagungen zurück, die im Oktober 2015 und im Oktober 2016 am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungs- schwerpunkts „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“ veranstaltet wurden.1 Die beiden Tagungen trugen den Titel „Antisemitismus in der Gegenwartsgesellschaft“. Eine Auswahl der damaligen Vorträge, die von den Autorinnen und Autoren erweitert und aktualisiert wurden, liegt nun ergänzt um weitere Beiträge in diesem Band vor. Wir danken den Vortragenden und Diskutanten der damaligen Veranstaltungen, ebenso wie allen, die wir für weitere Beiträge, für Korrekturen und für Reviews zu den einzelnen Texten gewinnen konnten, herzlich für ihren Beitrag zur Realisierung dieser Publikation. Ziel der beiden Tagungen war es, den „wissenschaftlichen Nachwuchs“ mit Forschenden der Universität Innsbruck und einer interessierten Öffentlichkeit ins Gespräch zu bringen und das, aus unserer Sicht, stark vernachlässigte Feld der gegenwartsbezogenen Antisemitismusforschung zu beleben und sichtbar zu machen. In diesem Sinne basiert der Band auch nicht auf einem spezifischen Forschungsprogramm, er zeigt vielmehr ein breites Spektrum an durchaus heterogenen Ansätzen auf. Die Drucklegung wurde ermöglicht durch Förderungen des Vizerektorats für Forschung der Universität Innsbruck und des Forschungsschwerpunkts „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“. Wien/Hannover, Juli 2020 1 (Neuer) Antisemitismus in der Gegenwartsgesellschaft, Universität Innsbruck, 19.10.2015, [https://www.uibk.ac.at/fsp-kultur/veranstaltungen/dokumente/einladung-neuer-antisemitismus-in-der- gegenwartsgesellschaft.pdf], eingesehen 14.7.2020; Antisemitismus in der Gegenwartsgesellschaft, Universität Innsbruck, 17.10.2016, [https://www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/newsletter/2-2016/images/el-antisemitismus-in-der- gegenwartsgesellschaft-2.pdf], eingesehen 14.7.2020. Antisemitismus der Anderen? – Einleitende Überlegungen Nikolaus Hagen und Tobias Neuburger Vor wenigen Jahren erschütterte eine tödliche Serie von Terroranschlägen Europa. Unter den Anschlagszielen befanden sich vor allem jüdische Einrichtungen (oder solche, die als „jüdisch“ wahrgenommen wurden), wie das Jüdische Museum Belgiens in Brüssel im Mai 2014,1 ein koscherer Supermarkt in Paris im Januar 2015 (zwei Tage nach dem Angriff auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo)2 und eine Synagoge in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen im Monat darauf.3 Viele der Täter, darunter der Attentäter von Brüssel, bekannten sich offen zur dschihadistischen Gruppe „Islamischer Staat“ oder waren von deren Ideologie inspiriert. So sehr diese Anschläge allerdings die Öffentlichkeit schockierten: antisemitische Gewalt ist in Europa alles andere als eine Neuheit. Doch gerade die unheimliche Kontinuität des Antisemitismus gerät im Zuge der Skandalisierung allzu häufig aus dem Blick und wird geradezu durch sie verstellt. Bereits in den 1970er-Jahren zielte der palästinensische Terrorismus4 – auch unter Beteiligung von Vertretern der europäischen Neuen Linken – auf jüdische und israelische Einrichtungen in Europa bzw. das, was die Terroristen für solche hielten. Besonders blutig war der Anschlag palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 in München, bei dem elf israelische Sportler und ein bayerischer Polizist starben.5 Niemals aufgeklärt wurde ein verheerender Brandanschlag, der sich zwei Jahre zuvor ebenfalls in München ereignet hatte: Am 13. Februar 1970 fielen sieben Shoah-Überlebende einem Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindezentrum zum Opfer. Ermittelt wurde zu Beginn sowohl in rechten Kreisen als auch im Umfeld palästinensischer Terrorgruppen, im Anschluss auch im Umfeld linksterroristischer Organisationen – eine Aufklärung von Tat und Täterschaft konnten 1 Gericht spricht Attentäter von Brüssel schuldig, in: Die Zeit, 7.3.2019, [https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-03/mehdi-nemmouche-anschlag-juedisches-museum- bruessel-gericht-schuldig], eingesehen 1.2.2020. 2 Michael Thaidigsmann, Fünf Jahre nach dem Albtraum, in: Jüdische Allgemeine, 9.1.2020, [https://www.juedische- allgemeine.de/juedische-welt/fuenf-jahre-nach-dem-albtraum/], eingesehen 1.2.2020. 3 Terror in Kopenhagen, in: Jüdische Allgemeine, 15.2.2015, [https://www.juedische-allgemeine.de/juedische- welt/terror-in-kopenhagen/], eingesehen 1.2.2020. 4 Siehe bspw. Thomas Riegler, Im Fadenkreuz: Österreich und der Nahostterrorismus 1973 bis 1985, Göttingen 2010; Ariel Merari/Shlomi Elad, The International Dimension of Palestinian Terrorism, New York 2019. 5 Eva Oberloskamp, Das Olympia-Attentat 1972. Politische Lernprozesse im Umgang mit dem transnationalen Terrorismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), Heft 3, S. 321–352. Nikolaus Hagen und Tobias Neuburger auch Nachermittlungen der Bundesanwaltschaft, die 2017 ohne Ergebnis eingestellt wurden, nicht herstellen.6 Die gewalttätige Spur des Antisemitismus nach 1945 lässt sich auch nach Österreich verfolgen: Am jüdischen Neujahrsfest im September 1973 nahmen palästinensische Terroristen drei jüdische Geiseln am niederösterreichischen Grenzbahnhof Marchegg. Die Geiselnahme endete unblutig, zeitigte aber den gewünschten Erfolg: die österreichische Bundesregierung ging auf die Forderung der Täter ein und schloss ein Transitzentrum für jüdische Auswanderer aus der Sowjetunion.7 Im August 1981 war der israelitische Stadttempel in der Wiener Seitenstettengasse Ziel eines Terroranschlags, verübt von zwei Palästinensern. Dabei kamen zwei Personen ums Leben und zahlreiche andere wurden schwer verletzt. Schon zwei Jahre zuvor war die Synagoge Ziel eines Sprengstoffattentats geworden.8 Am 27. Dezember 1985 wurden die Schalter der israelischen Fluglinie EL AL an den Flughäfen Wien und Rom die Ziele tödlicher Angriffe. Insgesamt ermordeten Terroristen dabei 19 Personen.9 Auch Neonazis und Rechtsextremisten verübten immer wieder verheerende Anschläge auf jüdische Einzelpersonen und Einrichtungen. Im Dezember 1980 wurden der Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin

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