Die Kriegsverluste der Musiksammlungen deutscher Bibliotheken 1942–1945 Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich vorgelegt von Nicola Schneider aus Frankfurt am Main Angenommen im Frühjahrssemester 2010 auf Antrag von Herrn Prof. Dr. Laurenz Lütteken und Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Hinrichsen Zürich, 2013 Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 1. Einleitung 7 Der Forschungsgegenstand 7 Begrenzung und Abgrenzung des Themas 7 Der Forschungsstand 8 Quellenlage und Methode 9 Absicht und Ziel der Arbeit 10 2. Musikalienverluste in früheren Epochen 14 Antike 15 Mittelalter 16 Renaissance und Reformation 17 Dreissigjähriger Krieg 19 Absolutismus und Spätbarock 20 Von der Französischen Revolution bis zum Spanischen Bürgerkrieg 24 3. Bestandsschutz in deutschen öffentlichen Bibliotheken im Zweiten Weltkrieg 28 Der institutionelle Rahmen 28 Der gesetzliche Rahmen 29 Bestandsschutz und Auslagerung 31 Werksicherung statt Bestandsschutz: Photographische Methoden 33 4. Die deutschen Musiksammlungen im Zweiten Weltkrieg: Ein Überblick 35 5. Drei Fallbeispiele: Die Musiksammlungen der Landesbibliotheken in Karlsruhe, Darmstadt und Dresden 46 5.1. Karlsruhe – Badische Landesbibliothek 46 Die badischen Hofbibliotheken und der Krieg 46 Die Musiksammlung der badischen Hof- und Landesbibliothek 46 Quellenlage 48 Die Musiksammlung während des Krieges: Infrastruktur, Personal, Schutzmassnahmen 51 Die Bombardierung am 3. September 1942 54 Bergungsmassnahmen nach der Zerstörung 56 Die Verluste 57 Die Verluste der Musiksammlung 58 Fazit 59 5.2. Darmstadt – Hessische Landesbibliothek 61 Darmstädter Musiksammlungen in früherer Zeit 61 Die Musiksammlung der Hessischen Landesbibliothek vor 1944 62 Quellenlage 64 Die Musiksammlung während des Krieges: Infrastruktur, Personal, Schutzmassnahmen 66 1. Phase: Vom Kriegsausbruch bis zu Reinhard Finks Amtsantritt im Juli 1942 68 2. Phase: Die Ära Fink bis zur ersten grossen Bombardierung am 23. September 1943 69 3. Phase: Vom Brand des Glockenbaus am 23. September 1943 bis zur Zerstörung der Bibliothek am 11. September 1944 72 Die Verluste 74 Die Verluste der Musiksammlung 76 Fazit 79 5.3. Dresden – Sächsische Landesbibliothek 81 Dresden zwischen Kunst und Krieg 81 Die Musikabteilung der Sächsischen Landesbibliothek vor dem Krieg 82 Quellenlage 84 Die Sächsische Landesbibliothek während des Krieges: Infrastruktur, Personal, Schutzmassnahmen 85 1. Phase: Sicherstellung im Haus von September 1939 bis August 1942 89 2. Phase: Bergungen ausserhalb der Stadt vom Frühjahr 1942 bis zum Dezember 1944 91 3. Phase: Verlagerungen nach Westen von Januar bis April 1945 96 Die Zerstörung 96 Die „Weesenstein-Affäre“ 98 Verluste und Schäden 100 Verluste und Schäden der Musikabteilung 101 Fazit 103 6. Schlussbetrachtungen 105 7. Anhänge 107 7.1. Die Richtlinien von 1939 107 7.2. Die Richtlinien von 1942 109 8. Bibliographie 115 9. Curriculum vitae 141 Vorwort „[...] denn meistens belehrt erst der Verlust uns über den Werth der Dinge.“1 Mit diesem Aphorismus beschreibt Arthur Schopenhauer ein Phänomen der Wahrnehmung, das erfahrungsgemäss nur im unmittelbaren Moment des Verlierens zustande kommt. Die kürzlich durch menschliches Versagen verursachten Kulturkatastrophen in Deutschland – der Brand der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek und der Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln – haben eine hohe Welle des Entsetzens und der Hilfsbereitschaft ausgelöst, doch die Tatsache, dass jenes Land durch den Zweiten Weltkrieg bereits ein reichliches Drittel seines kulturellen Erbes eingebüsst hat, scheint nicht ins allgemeine Bewusstsein eingegangen oder bereits aus ihm verdrängt worden zu sein. Verluste in der historischen Überlieferung traten schon immer zwangsläufig unter dem Rad der Geschichte ein, doch selten oder nie in solch massivem Ausmass und in einer solch kurzen Zeitspanne, wie es im Zweiten Weltkrieg geschehen ist. Dass sich aus dieser Sondersituation für die Kulturwissenschaften ganz anders gelagerte methodologische Prämissen ergeben, dürfte nicht abzustreiten sein. Die vorliegende Arbeit2 möchte nicht nur zur Achtung vor dem Wert der noch erhaltenen Dinge aufrufen, eine Bilanz des Vernichteten ziehen und zur Rekonstruktion anregen, sondern ebenso darauf hinweisen, wie fragil die materiellen Grundlagen unserer Kultur sind und was es bedeutet, wenn sie dem ästhetischen Genuss und der wissenschaftlichen Forschung auf immer entzogen sind. 1 Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Kap. V: Paränesen und Maximen, Abschn. 14, zitiert nach Schopenhauer 2011, S.189. 2 Diese Dissertation wurde in der ersten Phase vom DAAD, in der zweiten vom Forschungskredit der Universität Zürich gefördert. 5 1. Einleitung Der Forschungsgegenstand Beim Durchsehen von Werkverzeichnissen fällt immer wieder ins Auge, dass bestimmte dort aufgeführte Quellen beispielsweise als „Kriegsverlust“ oder als „verbrannt 1944“, als „seit 1945 verschollen“ oder etwa als „heute in Krakau“ gekennzeichnet sind. Es kommt auch vor, dass man in der Neuauflage der Musik in Geschichte und Gegenwart oder im New Grove dictionary of music and musicians in den Werkübersichten zum Schaffen einzelner Komponisten von Quellen erfährt, die sich dann, fragt man bei der genannten Bibliothek an, als Kriegsverluste herausstellen. Je mehr Werk- und Quellenverzeichnisse man durcharbeitet, um so mehr verdichtet sich der Eindruck, dass angesichts der hohen Zahl solcher Einträge doch vielleicht auch der entgegengesetzte Ansatz, und zwar eine Aufarbeitung der Kriegsverluste selbst, zu beschreiten wäre. Für die deutschen Musiksammlungen wurde bisher kein Versuch unternommen, deren Kriegsverluste systematisch und auf breiter Basis zu untersuchen, zu sehr hat sich die Musikwissenschaft seit 1945 mit der Sichtung und Erforschung des Erhaltenen beschäftigt, als dass sie sich – mit Ausnahme gewisser Spitzenstücke – des Verlorenen angenommen hätte, wie dies in der Kunstgeschichte schon seit langem der Fall ist. Die vorliegende Arbeit ist der erste Teil einer grossflächig angelegten Studie, welche die Geschichte der musikalischen Quellensammlungen deutscher Bibliotheken im Zweiten Weltkrieg anhand bisher unveröffentlichter Akten beschreibt, die Ursachen für die Quellenverluste darstellt und später einen Gesamtkatalog der feststellbaren Kriegsverluste an handschriftlichen und gedruckten Noten bis zum frühen 19. Jahrhundert auf der Grundlage historischer Inventare liefern wird. Begrenzung und Abgrenzung des Themas Der Begriff „Kriegsverlust“ kommt in Grimms Wörterbuch noch nicht vor. Er bürgert sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts ein, als man beginnt, mit ihm die in Kriegen Gefallenen, also die menschlichen Verluste in Kriegen, zu bezeichnen.1 Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1907 definiert in dieser semantischen Tradition Kriegsverluste als „die Menschenverluste in den Kriegen durch Waffen wie durch Krankheiten.“2 Diese Bedeutung behält der Begriff in der Folgezeit bei, wie besonders deutlich aus dem Titel von Mathias Vaertings Schrift Wie ersetzt Deutschland am schnellsten die Kriegsverluste durch gesunden Nachwuchs? aus dem Jahr 1916 hervorgeht.3 Nach 1918 findet man den Ausdruck häufig nicht nur im Zusammenhang mit Kriegstoten,4 sondern auch mit durch Kriegseinwirkung verursachten Verlusten an Privateigentum.5 Erst angesichts der schier unüberblickbaren Menge an Kunst- und Kulturgütern, die zwischen 1939 und 1945 vernichtet oder verschleppt wurden oder verschollen sind, wird der Ausdruck nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich auch für kulturelle Verluste gebraucht.6 Heute bezeichnet man mit dem Begriff fast nur noch die vorwiegend im Zweiten Weltkrieg eingetretenen Kulturgutverluste. Der Terminus „Kriegsverlust“ wird in der vorliegenden Arbeit in 1 Vgl. Berndt 1897. 2 11. Bd. Kimpolung bis Kyzikos, Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut, 1907 (Neuer Abdruck), S. 679, Art. „Kriegsverluste“. 3 Vaerting 1916. In dieser Bedeutung auch bei Bodard 1919. 4 So beispielsweise in dem Vorgang Verlegung des Zentralnachweiseamts für Kriegsverluste und Kriegsgräber, in: „Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung: Amtsblatt des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der Länder“, Jg. 2 (1936), Heft 8, S. 175. 5 Meyer 1921 und Wehner 1937. 6 Siehe Meier 1946, aber auch Züchner 1950. 7 dreierlei Bedeutung verwendet. Er kann folgende Verlustarten handschriftlicher oder gedruckter Quellen bezeichnen: 1. eine vernichtete (etwa durch Bombardierung o.ä. verbrannte, zerfetzte oder durch Wassereinwirkung zerstörte) Quelle 2. eine dem ursprünglichen Besitzer entzogene (als Kriegsbeute im Ausland befindliche), aber materiell noch existierende Quelle 3. eine verschollene Quelle (gegenwärtiger Aufbewahrungsort und Erhaltungszustand unbekannt) Was im Einzelfall gemeint ist, wird im Text deutlich gemacht. Zwischen Quellen im Sinne von Textzeugen und Werken, für die es Konkordanzen in Zweitquellen geben kann, wird strikt unterschieden. Die Bibliotheken werden grundsätzlich unter dem Namen zitiert, den sie zu dem Zeitpunkt führten, auf den sich die Berichterstattung bezieht. Das Phänomen verlorener oder zerstörter Kunst- und Bauwerke, Schriften und Quellen ist selbstredend wesentlich älter als seine semantische Verknüpfung mit dem Begriff „Kriegsverluste“ und wird auch in bestimmten Zweigen der Forschung seit längerem thematisiert. Verständlicherweise geht es in Disziplinen, die sich mit Objekten befassen, die aus weit zurückliegenden Epochen stammen, in denen eine schriftliche Fixierung
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