Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago Herausgegeben von Sigm. Freud XXIV. BAND , 939 Heft 4 Am 23. September 1939 ist Sigmund Freud in London gestorben INTERNATIONAL PSYCHOANALYTIC UNIVERSITY DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN J Der Traum ein mögliches Leben Von Theodor Reik New York Der folgende Traum gibt Anlaß zur Diskussion einiger Probleme der Deutungs- technik in besonderen Fällen. Seine psychologische Würdigung führt darüber hinaus zu einer erneuerten Fragestellung, welche die Beziehung von Traum und Leben betrifft. Die Träumerin ist wegen verschiedener neurotischer Beschwerden in Analyse. Sie ist seit einem halben Jahr verheiratet und im vierten Monat der Schwangerschaft. Der Traumtext lautet: „Ich weiß nicht, wer der Vater meines Kindes ist. Manchmal denke ich, es ist Piet. Mutter aber sagt, es ist Jan. Ich bin sehr verzweifelt und weine viel. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und beschließe, Selbstmord zu begehen." Der manifeste Trauminhalt scheint zunächst nur an einem Punkt, der Tatsache der Schwangerschaft, mit der Realität verknüpft zu sein. Natürlich ist die junge Frau ihrem Manne, den sie zärtlich liebt, nicht untreu gewesen. Sie weiß natürlich, daß dieser Mann der Vater des Kindes, das sie erwartet, ist. Umso merkwürdiger ist es, daß sie nach dem Erwachen an den Traum wie an eine Wirklichkeit zurück- denkt. Es ist ihr einen Augenblick lang, als wisse sie wirklich nicht, wer der Vater ihres Kindes sei. Dieses Realitätsgefühl tritt sogleich in scharfen Gegensatz zu ihrer bewußten Kenntnis. Es bleibt aber, auf den Traum als Ganzes bezogen, während des Tages bestehen. Ihre Stimmung war in den letzten Wochen vor dem Traum besonders gut gewesen. Jetzt fühlte sie sich deprimiert. Sie hatte nach dem Erwachen aus dem Traum viel geweint. Sie weinte auch, während sie mir den Traum erzählte, und beklagte sich darüber, daß sie immer an ihn denken müsse. Vielleicht ist die Warnung davor, den Sinn des Traumes von seinem manifesten Text aus zu erraten, gerade in einem solchen Fall nicht überflüssig. Man würde auch durchaus fehlgehen mit der Annahme, daß die Dame heimlich wünsche, einen anderen Vater für ihr Kind zu haben. Sie hatte häufig erklärt, sie könne sich keinen anderen Vater für ihr Kind wünschen oder auch nur denken. Sie hatte seit langem gewünscht, gerade diesen Mann zu heiraten, und fühlt sich mit ihm glücklich. Umso sonderbarer das Wirklichkeitsgefühl im Traum, das noch lange nachhallt. Es zeigt an, daß ein Stück Wirklichkeit mit ihm verbunden sein muß. Welches? Ihre Einstellung zur Schwangerschaft ist wechselnd. Oft kann sie wie andere Frauen in dieser Zeit stundenlang selig von dem Kind wachträumen, 374 Theodor Reik während sie die Babywäsche strickt. Sie ist stolz darauf, daß sie ein Kind haben wird, und stellt sich oft vor, wie sie mit dem Wagen in den Park fahren wird, wo andere Frauen das Kind bewundern werden, und ähnliche Situationen. Dem steht ein unlustvolles Aufnehmen der ersten Kindesbewegungen und eine un- bestimmte, schwache Angst, die sich aber nicht auf die Gefahren der Geburt bezieht, gegenüber. Bis vor kurzem war die Stimmung depressiv. Sollte die Träumerin doch unbewußte Gedanken, die auf eine Untreue hinstreben, haben und einen anderen Mann als Vater für ihr Kind wünschen? Ich habe nichts finden können, was eine solche Auffassung, die sich ja auch nur auf die Traum- fassade beziehen könnte, bestätigen würde. Zum Traum weiß die Patientin keine Assoziationen beizubringen als jene Bemerkungen über seinen Wirklichkeitscharakter und ihre trübe Stimmung nachher. Was sie sonst in dieser Analysestunde sagt, bezieht sich auf ihren kör- perlichen Zustand. Es hat anscheinend keinen Zusammenhang mit dem Traum. Zu diesen Aussagen ist der Bericht über eine Bemerkung ihrer Schneiderin, die ein Umstandskleid für sie fertigstellt, zu rechnen. Die Näherin hatte gestern einen Vergleich zwischen der schlanken Gestalt des Mädchens und der Figur der schwangeren Frau angestellt. Als die Patientin sich abends auskleidete, hatte sie in den Spiegel gesehen und war über ihr Aussehen erschrocken. Ihr Gesicht habe ihr mißfallen, während sie sich früher besonders hübsch gefunden hatte. Sie habe sich selbst den ganzen Tag über nicht leiden können. Sollte hier die Traumanknüpfung, der Tagesrest versteckt liegen? Ich sehe vorläufig keine Verbindung. Die Traumaufklärung zeigt dann, daß die Bemerkung der Schnei- derin tatsächlich zu unbewußten Gedanken geführt hat, welche den Vergleich von jetzt und früher nach bestimmter Richtung fortsetzten. Was beginnen wir mit diesem Traum, zu dem sich keine Einfälle einstellen wollen und der doch so empfindlich in den Tag hinübergreift ? Sein verborgener Sinn ist nicht zu erraten, solange man nicht mehr von der Lebensgeschichte der Träumerin weiß. Die Kenntnis einer bestimmten Lebensphase aber macht den Traum fast transparent für den Analytiker. Der Ausfall der zum Traum gehörenden Assoziationen wird in einem solchen Fall durch die Vertrautheit mit der Lebens- geschichte und der seelischen Situation des Träumers fast wettgemacht. Die Träumerin entstammt einer ausgezeichneten Familie und hatte sich früh schon besonders selbstständig benommen. Von überzärtlichen und schwachen Eltern erzogen, hatte das junge Mädchen jede Freiheit des Handelns genossen. In mißverständlicher Auffassung bestimmter pädagogischer Theorien hatten die Eltern jede Aufsicht gegenüber dem Mädchen schon zur Zeit der Pubertät aus- geschaltet. Sie hatten sich darauf verlassen, daß es sich im Verkehr mit jungen Männern selbstverständlich innerhalb jener Grenzen halten würde, die im Hause und im Gesellschaftskreise der Eltern als Gesetz galten. Auf Reisen, die das Mäd- Der Traum ein mögliches Leben 375 chen fast immer allein unternahm, trat sie sehr sicher auf und wurde fast immer als viel älter angesehen. In einem Kurorte lernte sie einen verheirateten Mann kennen, dessen Werbungen sie bald darauf nachgab. Es kam zu einer sexuellen Beziehung, die nur kurze Zeit bestand. Diesem Verhältnis folgten im Laufe der nächsten Jahre sexuelle Beziehungen zu drei anderen Männern, von denen der letzte mehr als doppelt so alt war als sie. Es ist Jan, der im Traum erscheint. („Mutter aber sagt, es ist Jan.") Piet, der andere im Traum erwähnte Mann, hatte sie immer wieder gedrängt, ihn zu heiraten. Sie hatte abgelehnt. Piet hatte auch mehrere Male gesagt, es werde ihm nichts anderes übrig bleiben, als sie schwanger zu machen. Dann werde sie ihn heiraten müssen. Ein Nachklang dieser Situation findet sich im manifesten Trauminhalt: „Manchmal glaube ich, es ist Piet." Diese Beziehungen liegen einige Jahre vor ihrer Heirat. Weder jene Männer noch sie selbst hatten jemals antikonzeptionelle Mittel beim Sexual- verkehr gebraucht. Als sie — viele Wochen vor dem Traum — diesen Teil ihrer Lebensgeschichte erzählte, antwortete sie auf meine Frage, ob sie damals die Möglichkeit einer Schwängerung erwogen hatte, entschieden verneinend: „Daran habe ich nie gedacht." In jeden dieser vier Männer hatte sie sich rasch verliebt, aber immer klar gewußt, daß sie keinen liebe. Niemals hatte sie gewünscht, einen von ihnen zu heiraten. Sicherlich, so sagte sie mit Nachdruck, hätte sie von keinem von ihnen ein Kind gewünscht, denn eine Frau wünsche sich nur ein Kind von dem Mann, den sie liebt. Jene Beziehungen, so behauptete sie manchmal, hätten sich wie im Halbschlaf abgespielt. Wegen ihrer Anmut früh von Bewerbern und Bewunderern umgeben, war sie Komplimenten leicht zu- gänglich gewesen. An keinen der Männer bestand eine stärkere Bindung. Sie •war auch in jedem Fall rasch von ihrer anfänglichen Verliebtheit zurückgekommen. Sexuell war sie immer frigid gewesen. Zu ihrem jetzigen Gatten hatte sie sogleich eine starke Neigung gefaßt, die sich später vertiefte. Er war, seit sie ihn kannte, der Gegenstand ihrer zärtlichen und sinnlichen Phantasien. Diese Züge der Lebensgeschichte der Patientin, die einen ausgeprägten Wahr- heitssinn hatte, waren mir bald nach Beginn der Analyse bekannt geworden und waren seither des öftern zur Sprache gekommen. Sie wurden in der Stunde, jn der der Traum berichtet wurde, von ihr nicht erwähnt. Ihre Kenntnis in Verbindung mit der wachsenden Einsicht in die Besonderheiten ihrer neurotischen Erkrankung befähigten mich, den Sinn des Traumes auch ohne hilfreiche Einfälle zu finden. Wir haben gehört, daß die junge Dame ihren Mann liebt und durchaus kein Kind von einem andern Mann wünscht. Der manifeste Trauminhalt steht also im Gegensatz zu ihrer jetzigen Situation, in der sie sich glücklich fühlt. Der Traum tritt mit dem Anspruch auf, wirklich zu sein, drängt sich in ihren Tag und bringt ihr eine viele Stunden dauernde Verdüsterung. Wir wissen ferner, 376 Theodor Reik daß sie sich in den Beziehungen zu jenen Männern niemals vor der Möglichkeit der Konzeption geschützt hat, ja nicht einmal daran „gedacht" hatte. Einer der Männer, Piet, hat oft davon gesprochen, sie schwanger zu machen. Hier eröffnet sich der Weg zum Verständnis des Traumes, Er zeigt diese Möglichkeit, nämlich daß sie schwanger ist, ohne verheiratet zu sein, und nicht weiß, der wer Vater des Kindes ist, als Wirklichkeit. Er zeigt ihre Verzweiflung und den Entschluß, Selbstmord zu begehen. Er stellt also eine vergangene, mögliche Situation als eine gegenwärtige-, real gewordene dar. Es hätte ja wirklich leicht so kommen können. Wir haben gehört, daß sie an eine solche Möglichkeit nie auch nur gedacht hat. Es scheint, daß der Traum diese unterbliebenen Gedanken und Sorgen nachholt. In ihm ist sie wirklich in diese schreckliche Lage gekommen:
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