Reformpädagogik“

Reformpädagogik“

1 1. Eine andere Sicht auf „Reformpädagogik“ Anlass für diese Vorlesung waren die im Vorfeld zur Hundertjahrfeier der Odenwaldschule bekannt gewordenen Fälle von sexueller Gewalt und die im Anschluss daran geführte öffentliche Diskussion über die deutsche Reformpädagogik. 1999 wurde in einem Artikel der „Frankfurter Rundschau“ erstmalig bekannt, dass der 1985 ausgeschiedene und unlängst verstorbene Schulleiter Gerold Becker, der seit 1969 an der Odenwaldschule tätig war, einer der Haupttäter gewesen ist. Anders als vor elf Jahren konnte nicht mehr mit Abwiegeln oder Vertuschung reagiert werden. Es waren die Opfer, die auf die Schulleitung Druck ausübten und dann selbst an die Öffentlichkeit gingen. Über Wochen und Monate wurden immer neue Fälle bekannt, die dabei sichtbar gewordenen Dimensionen waren und sind unfassbar. Weil die Odenwaldschule seit ihrem Bestehen als Vorzeigeschule der Reformpädagogik angesehen wurde, geriet diese unmittelbar selbst in Verdacht. Dieser Verdacht ist heftig diskutiert worden, aber oft nur in einer ideologischen Pro- und Contra- Stellung, die wenig konkret wurde. Man dürfe, hiess es, wegen dieser schlimmen Vorfälle nicht die gesamte Reformpädagogik diskreditieren, aber wenn Missbrauchsfälle über Jahrzehnte an dieser Schule vorgekommen sind und sie für die deutsche Reformpädagogik stehen soll, dann wirft das unmittelbar Fragen auf, die mit der gesamten Richtung der Erziehung zu tun haben. Man kann sich nicht von der Vorzeigeschule trennen und dann mit der Reformpädagogik so weitermachen wie bisher. Aber war es wirklich eine „Vorzeigeschule“ oder ein Musterinstitut, und was genau sollte darunter verstanden werden? Der Verdacht ist in der Welt, dass die glänzende Fassade blinde Flecken haben könnte. Glanz verleiht der Reformpädagogik die moralische Abstraktion. Je konkreter die Praxis betrachtet wird, desto mehr zeigen sich die Risse und Widersprüche. Hinter dem Idealbild der „humanistischen“ und „freiheitlichen“ Pädagogik standen fehlbare Personen, die den Versuchungen der Macht ausgesetzt waren, Feindschaften aufgebaut haben, persönliche Verwerfungen aushalten mussten und gelernt haben, den Schein zu wahren. Sie übten gegenüber den Schülern mehr oder weniger offen Herrschaft aus, mussten untereinander Intrigen überstehen und gekränkte Eitelkeiten aushalten, während sie gleichzeitig die höchsten Ideale der Menschheit vertreten haben. Man darf die Personen der Reformpädagogik nicht von dem erschliessen, was sie geschrieben, sondern von dem, was sie getan oder nicht getan haben, also von ihrem Praxisfeld her. Forschungen, die sich mit den dunklen Seiten der Reformpädagogik befassen, liegen bislang kaum vor. • Mit „dunklen Seiten“ sind nicht nur Fälle von sexuellen Übergriffen gemeint, sondern alle Formen von Gewalt, also Übergriffe ebenso wie Erpressungen, Bedrohungen und Willkür etwa durch ungerechtfertigte Etikettierungen. • Es geht um die Strafpraxis bis hin zur körperlichen Züchtigung, um die erpresserische Ausnützung der Autoritätsstellung, aber auch um verbale Stigmatisierung, emotionale Abhängigkeit, die Instrumentalisierung von Schülern oder deren gezielte Demütigung. 2 • Es geht damit um versteckte oder offene Techniken der Herrschaft, die man nicht erwartet, wenn von „Reformpädagogik“ die Rede ist, die ja die Überzeugungen der „richtigen“ Erziehung bestimmen soll. In der Rhetorik soll das Verhältnis zu den Kindern einfühlsam, partnerschaftlich und verständnisvoll sein, aber Egalität kann es in einem erzieherischen Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen nicht geben, jede Empathie verteilt sich ungleich und das Verstehen hängt stark vom Verhalten ab. Auf der anderen Seite kann mit den Adjektiven der „richtigen“ Erziehung die Realität auch versteckt werden. Was „humanistische“ Pädagogik genannt wird, beschreibt die Selbstsicht und nicht die Praxis, die in Schulen und Internaten immer auch mit Herrschaft zu tun hat. Die Frage ist nur, in welchen Formen Macht ausgeübt und wie sie von Gewalt abgegrenzt wird. Zu den dunklen Seiten gehören aber auch die politischen Optionen eines Grossteils der deutschen Reformpädagogik vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Die „völkische“ Ausrichtung war von Anfang an gegeben, unterlegt mit rassistischen Elementen und durchsetzt mit chauvinistischen Positionen im Krieg. Für viele Autoren war der Weg in den Nationalsozialismus vorgezeichnet, den früh auch anti-semitische Züge gekennzeichnet haben. Es gibt rühmliche Ausnahmen einer freiheitlich-demokratischen Pädagogik in Deutschland, aber die haben bislang nicht wirklich das Bild bestimmt. Eine ganze Generation begann mit Jugendbewegung und Lebensreform, und viele von denen, die an beides glaubten, endeten im Dritten Reich. Was auch kaum thematisiert wurde, ist die wirtschaftliche Seite. Die Schulgründungen der Reformpädagogik waren private Unternehmungen, die finanziert werden mussten und nicht allein vom pädagogischen Konzept oder dem guten Willen der Lehrkräfte leben konnten. Das aus heutiger Sicht unvorstellbar hohe Schulgeld machte aus diesen Gründungen Reichenschulen, die nur einer winzigen sozialen Schicht überhaupt offen standen. Die Schulen verursachten auch aufgrund ihres ambitionierten Konzepts hohe Kosten, die komplett auf die Kunden abgewälzt wurden. Und gewählt wurden die Schulen nicht aufgrund ihres Konzepts, sondern fast immer aus persönlichen Notlagen heraus. Entsprechend war die Nachfrage dieser Schulen von den Notlagen und so vom selektiven deutschen Gymnasium abhängig. Sexualität ist ein ziemlich verschwiegenes Thema in der vorliegenden Literatur. Das ist erstaunlich, weil die Reformpädagogik in ihrer historischen Entwicklung einhergeht mit der Etablierung der Sexualwissenschaft, Sigmund Freuds Beschreibung der sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, der frühen Homosexuellenbewegung und einem Diskurs über die antike Erotik, der sich unter dem Begriff des „pädagogischen Eros“ auf freundschaftlich-intime Beziehungen von erwachsenen Männern mit älteren Kindern und Jugendlichen ausgerichtet hat. Parallel dazu entstand auch die Sexualpädagogik, die in reformpädagogischen Texten an vielen Stellen auftaucht, aber bislang auch kaum untersucht worden ist. Das Thema wird auf auffällige Weise gemieden oder verdrängt. Wer die Sichtweise und den Zugriff auf die Quellen verändert, erhält ein anderes Bild der Reformpädagogik, • das sich aus direkten und indirekten Formen der Herrschaft, • ökonomischen Zwängen, • starken inneren Verwerfungen, • oft sehr zweifelhaften Personen, 3 • missionarischen Ansprüchen • und am Ende auch sexuellen Übergriffen zusammensetzt. Dieses Bild steht nicht für das Ganze der Reformpädagogik, aber es zeigt, dass Verklärungen nicht angebracht sind. Die historische Realität war um vieles profaner und niedriger, als die pädagogischen Konzepte und Selbststilisierungen ahnen lassen; die Praxis kannte Zwänge und Notlagen, aber auch Schwächen und menschliche Abgründe, die nicht mit dem zusammenpassen, was ständig als Ideal der „neuen Erziehung“ behauptet wurde. Diese „neue Erziehung“ ist nicht einfach das Werk von charismatischen Gründern, sondern wenn, dann die Folge von allmählich sich beschleunigenden und komplexen Prozessen des Wandels, in denen sich die Kultur der Erziehung verändert hat. Damit ist nicht gesagt, dass von der „Reformpädagogik“ nichts mehr übrig bleibt. • Der Begriff bezeichnet eine internationale Allianz von langgezogenen Schul- und Erziehungsreformen, die nicht vom deutschen Sonderfall her beurteilt werden kann. • Die wesentliche Linie ist das zunehmende Verständnis für die Entwicklung und das aktive Lernen von Kindern, die nicht länger „Objekt“ der Erziehung sein sollten. • Dieser Prozess der mentalen Umbildung hat keinen bestimmten Anfang, sondern besteht aus unterschiedlichen Teillinien, die von der Kinderkultur bis zum Curriculum der Schulen reichen (Oelkers 2010). Aber naiv darf die Reformpädagogik nicht betrachtet werden, egal, von wo aus man auf sie blickt. Sie war nie die grosse und einzigartige Erneuerung, als die sie immer wieder hingestellt wurde, und sie lässt sich auch nicht als die eine massgebende Tradition verstehen, zu der sie eine interessierte Geschichtsschreibung gemacht hat. Doch das war nur möglich, weil alles ausgeklammert wurde, was anstössig erscheinen konnte. Das grosse „Laboratorium“ der Zukunft waren Schulen wie die Landerziehungsheime nie. Sie haben das immer nur behauptet. Ein Schlüsseltext aus dem Jahre 1900 hat den programmatischen Titel Abbotsholme 1889-1899 or Ten Years‘ Work in an Educational Laboratory (Reddie 1900). Begründet wird die Wortwahl „Erziehungslabor“ im Vorwort des Buches wie folgt: „In the field of education … we need not a new Theory or another Book, but an actual Pedagogic Laboratory. More would be learned by living in such a place one day than could be gleaned by perusing a dozen learned works on Pedagogics - if, at least, we had learned to observe Things and Deeds, instead of merely devouring Descriptions of them“ (ebd., S. VII). Der Anspruch, ein „pädagogisches Labor“ zu sein, begleitete die Landerziehungsheime von Anfang an. In einem Labor werden Experimente gemacht, deren Ausgang im Blick auf die Hypothesen offen ist. Aber das „Feld der Erziehung“ ist moralisch codiert, negative Ergebnisse, die die moralischen Erwartungen verletzen, dürfen entweder gar nicht vorkommen oder müssen unmittelbar nach Auftreten korrigiert werden können. Ein auf Dauer negatives Resultat darf es nicht geben, was zugleich heisst, dass kein „pädagogisches Labor“ ergebnisoffen experimentieren kann. Die Versuchsanordnung

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