Homosexualität

Homosexualität

APuZAus Politik und Zeitgeschichte 15–16/2010 · 12. April 2010 Homosexualität Volkmar Sigusch Homosexuelle zwischen Verfolgung und Emanzipation Benno Gammerl Eine Regenbogengeschichte Melanie Caroline Steffens Diskriminierung von Homo- und Bisexuellen Tatjana Eggeling Homosexualität und Fußball – ein Widerspruch? Bernd Simon Respekt und Zumutung Hans-Joachim Mengel Homosexualität und internationaler Menschenrechtsschutz Michael Bochow AIDS-Prävention: Erfolgsgeschichte mit offenem Ausgang Editorial Zwischen fünf und zehn Prozent der Weltbevölkerung sind homosexuell. Nach aller wissenschaftlichen Erkenntnis ist Ho- mosexualität ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal. Welt- weit unterliegen Lesben und Schwule jedoch bis heute vielfäl- tigen Formen häufig religiös verbrämter Diskriminierung, die von Benachteiligungen etwa im Familien- und Steuerrecht bis zur noch in sieben Staaten geltenden Todes strafe reichen. In Deutschland ist die letzte Fassung des berüchtigten „Homo- sexuellenparagrafen“ 175 aus der Kaiserzeit, der in seiner von den Nationalsozialisten verschärften Variante in der alten Bun- desrepublik noch bis 1969 galt, erst 1994 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen worden. Heute gibt es Bestrebungen, das Diskrimi- nierungsverbot aufgrund sexueller Identität im Grundrechteka- talog des Grundgesetzes zu verankern. In den vergangenen Jahren ist eine gesellschaftliche Ent- tabuisierung des Themas Homosexualität zu verzeichnen. Of- fen homosexuell lebende Menschen in höchsten politischen Äm- tern oder in der Kultur sind kaum mehr eine Schlagzeile wert. Schwule und Lesben organisieren sich und vertreten ihre Inte- ressen in der Zivilgesellschaft und gegenüber der Politik. Zu- mindest in den Großstädten gibt es immer mehr „Regenbogen- familien“. Die nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz mögliche, amtliche Registrierung kommt dem Wunsch vieler Homosexu- eller nach „Normalität“ und Rechtssicherheit entgegen. Aber auch in Deutschland wird Lesben und Schwulen als gesellschaft- licher Minderheit nicht selten mit Angst oder gar Hass begeg- net. Ein Coming Out ist, abhängig vom gesellschaftlichen und beruflichen Status sowie vom persönlichen Umfeld, meist noch immer mit einem nicht unerheblichen Risiko verbunden. Hans-Georg Golz Volkmar Sigusch die Frauenliebe einer Martina Navrátilová mit der einer Simone de Beauvoir oder einer Susan Sontag. Immer wird die differente Per- Homosexuelle sonalität des Begehrens zugunsten eines ver- ramschenden Vorurteils beseitigt. zwischen Verfolgung Ähnlich problematisch ist es, gleichge- schlechtliches Verhalten und Verlangen aus und Emanzipation differenten Kulturen oder weit auseinander liegenden Epochen gleichzusetzen. Frauen werden von Frauen und Männer von Män- Essay nern seit Jahrtausenden begehrt. Wie die- ses Begehren jedoch erlebt und eingeordnet wird, bestimmt die jeweilige Kultur oder er über Homosexualität nachdenkt, hat Epoche. Folglich ist zum Beispiel die Dif- Wes auch heute noch vor allem mit Vor- ferenz zwischen dem antiken mannmännli- urteilen zu tun. Die einen sind neuerdings chen Eros, der zur platonischen Staatskunst positiv, die anderen aufstieg, und unserer gegenwärtigen Homo- Volkmar Sigusch seit Jahrhunderten ne- sexualität enorm. Vom Begehren des Sokra- Dr. med. habil., geb. 1940; gativ. Positive Vorur- tes führt kein gerader Weg zu dem von Pjotr Professor und Direktor em., teile hören sich so an: Tschaikowski, Ludwig Wittgenstein, Hein- Institut für Sexualwissenschaft Schwule sind gebilde- rich von Brentano, Michael Kühnen oder im Klinikum der Universität ter und sensibler, ver- Hape Kerkeling. Frankfurt/M., Neue Mainzer dienen besser, ziehen Straße 84, 60311 Frankfurt/M. sich erlesener an, sind [email protected] weltweit vernetzt. Les- Geschichte der Verfolgung ben sind selbstbewuss- ter, emotional stärker, sexuell versierter, für Konzentrieren wir uns auf unsere Kultur, er- Leitungspositionen geeigneter. Negative Vor- kennen wir, dass die Geschichte der Homo- urteile klingen so: Schwule sind weibisch sexuellen bei uns eine der Verachtung und („Tunten“), schrill, feige, unsportlich, machen Verfolgung – und erst seit kurzem auch eine schmutzigen Sex, sind als Verantwortungs- der Emanzipation ist. Im Jahr 538 verbot ein und Geheimnisträger ungeeignet. Lesben Edikt des Kaisers Justinian, genannt „No- wissen gar nicht, wie richtiger Sex gemacht vella 77“, neben Gotteslästerung auch mann- wird, sind bissig, uncharmant, pseudomänn- männlichen „Verkehr“, weil beide Hungers- lich, wollen überall das Sagen haben („Kampf- nöte, Erdbeben und Pest hervorriefen. Später, lesben“). Im Grunde sind alle Homosexuellen seit dem Mittelalter, wurde mannmännli- Gesellschaftsparasiten, weil sie keine Kinder cher „Verkehr“ bei uns mit dem Tod bestraft. in die Welt setzen, welche die „Normalen“ Bis 1794 regelte Artikel 116 des Preußischen unter Strapazen großziehen müssen. Landrechts die Todesstrafe. In England wur- de sie offiziell 1861 abgeschafft. Die Wirklichkeit ist natürlich vielfälti- ger. Tatsächlich gibt es unter Homosexuellen Damit war sie aber nicht aus der Welt. Die alle Entwicklungen und Charaktere: Genies Nationalsozialisten verschärften nicht nur und Kleinstgeister, Anständige und Lumpen, den Strafrechtsparagrafen gegen mannmänn- Menschenfreunde und Menschenschinder. lichen Verkehr, sie brachten im 20. Jahrhun- Damit ist gesagt, dass es im Grunde unver- dert auch homosexuelle Männer, gezeich- antwortlich ist, Menschen allein nach ihrer net durch den „Rosa Winkel“, zu Tausenden überdies immer mehr oder weniger flüssigen in Konzentrationslagern um. ❙1 Alle homo- sexuellen Orientierung in einen Topf zu wer- fen: das Begehren eines Thomas Mann mit ❙1 Vgl. Günter Grau, Lexikon zur Homosexuellen- dem des SA-Führers Ernst Röhm, die Män- verfolgung 1933 bis 1945, Münster u. a. (i. E.); zur Zeit nerliebe eines James Dean oder Anthony Per- danach vgl. z. B. Dieter Schiefelbein, Wiederbeginn der juristischen Verfolgung homosexueller Männer kins mit der des Ökonomen John Maynard in der Bundesrepublik Deutschland. Die Homose- Keynes, des FBI-Chefs J. Edgar Hoover oder xuellen-Prozesse in Frankfurt am Main 1950/51, in: des Kolonialisten Cecil Rhodes oder auch Zeitschrift für Sexualforschung, 5 (1992) 1, S. 59–73. APuZ 15–16/2010 3 sexuellen Männer und Frauen lebten in der ihrem Titel die Entdeckung eines „Homo- NS-Zeit in Angst und Schrecken – wie heu- Gens“ verkünden, das es schon aus Gründen te immer noch in vielen außereuropäischen der Komplexität nicht geben kann. Denn es Ländern, von denen etliche, zum Beispiel der ist ein Unding, ein psycho-sozial Zusammen- Iran, Jemen, Mauretanien und Sudan, die To- gesetztes und kulturell-gesellschaftlich Ver- desstrafe verhängen, mit mehr als zehn Jah- mitteltes wie die geschlechtliche oder sexuelle ren Haft drohen wie zum Beispiel Kenia, Identität auf eine körperliche „Ursache“ zu- Uganda, Burundi, Indien und Pakistan oder rückzuführen. Apropos: Als „Ursache“ der in diesen Tagen drastische Verschärfungen Homosexualität sind zahllose Umstände an- bis hin zur Todesstrafe planen wie Uganda, geführt worden, zum Beispiel eine Hormon- oft unter dem gezielten Einfluss US-amerika- störung vor der Geburt, ein weiblicher Kör- nischer evangelikaler Christen. Im Dezem- perbau, eine zu starke Bindung an die Mutter, ber 2008 stimmten nur 66 von 192 Ländern eine Verführung in den Jugendjahren oder, in der UN-Generalversammlung für eine Er- wie in den 1990er Jahren behauptet, ein „Ho- klärung gegen die Diskriminierung Homose- mo-Gen“. Alle Annahmen konnten durch die xueller. Der Vatikan soll dafür gesorgt haben, Forschung nicht bewiesen werden. dass nicht mehr Länder zustimmten. Vermögen aller Menschen Vergebliche Suche nach der „Ursache“ Offenbar haben nach wie vor Menschen ein Aus dem mit dem Tode bedrohten Verhalten Problem damit, homosexuelles Verhalten und Verlangen konstruierten in unserer Kul- und Verlangen als ein Vermögen anzusehen, tur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das der Gattung Mensch insgesamt zu eigen vor allem Psychiater eine Art Geisteskrank- ist. Als wir 1980 als Deutsche Gesellschaft heit, genannt „conträre Sexualempfindung“. für Sexualforschung für einen „Aufruf zur Damit begannen die Versuche, Homosexuel- Entkriminalisierung der Homosexualität“ ❙3 les mit mehr oder weniger drastischen Mitteln Unterschriften sammelten, weil die politi- der Medizin und auch der Psychologie „aus- sche Chance bestand, den „Homosexuellen- zutreiben“. Neben tiefenpsychologischen und Paragrafen“ 175 aus dem Strafgesetzbuch zu verhaltenstherapeutischen Prozeduren samt streichen, ging einigen Angesprochenen wie Elektroschocks waren das operative Eingrif- Walter Dirks und Eugen Kogon die „anthro- fe, die entweder den Hormonhaushalt oder pologische“ Gleichstellung von Hetero- und die Hirnfunktionen beeinflussen sollten. Der Homosexualität zu weit. Der letzte Absatz letzte Grauen erregende Höhepunkt waren in unseres Aufrufs, den sie nicht akzeptieren den 1970er Jahren Hirnoperationen, die soge- konnten, lautet: „Für uns ist Homosexuali- nannte Psychochirurgen vornahmen. ❙2 Erst tät nichts Minderes, Kriminelles, Infektiöses, nach heftigen Protesten der kritischen Sexu- das verpönt und verfolgt gehört. Für uns ist alwissenschaft wurden diese Menschenexpe- Homosexualität nichts, dessen man sich zu rimente hierzulande eingestellt. schämen hätte. Anthropologisch betrachtet, verweist der Begriff ‚Homosexualität‘ zual- Alle Versuche, das homosexuelle Begehren lererst auf einen menschlichen Sachverhalt: zu beseitigen, sind gescheitert, psychothera- darauf,

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