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S Sparkasse sparkasse-.de Neuwied Leutesdorfer Heft Nr. 13 Impressum

„Wir Leutesdorfer“ – Leutesdorfer Heft Nr. 13 Herausgegeben vom Verkehrs- und Verschönerungsverein e.V., 56599 Leutesdorf Mitarbeit und Projektorganisation: Arbeitskreis Kultur im VVV Konzept, Redaktion, Texte, Fotos: Harald Stoffels, SMC Koeln Gestaltung: Harald Stoffels, Jahrgang 1955, wuchs in Hans Klein, Köln Leutesdorf am Rhein auf. Er war als Soziologe, Journalist und Medienberater u.a. in Frankfurt Schlussredaktion: am Main, Hamburg, München und Köln tätig. Michaela Grahl, SMC Koeln Sein erster Wohnsitz ist seit Juli 2017 wieder Druck: Leutesdorf. Die „SMC Koeln – Stoffels Grahl mohrmedien GmbH, Media Consulting“ (www.smc-koeln.de) hat ihren Sitz weiterhin in Köln. Kostenbeitrag: € 3,50 „Lebendige und zeitgemäße Porträts“

Das erste „Leutesdorfer Heft“ erschien Stoffels bei der Umsetzung seiner Idee im Jahr 1988. Es befasste sich mit den unterstützte: Von Leutesdorf und seinen Leutesdorfer Nachbarschaften, die heute Bewohnern lebendige und zeitgemäße wie damals etwas Besonderes in unserer Porträts zu erstellen, die in eine Foto- Dorfgemeinschaft darstellen. In den und Textausstellung zum Ortsjubiläum weiteren „Leutesdorfer Heften“ wurden umgesetzt werden sollten. besondere Themen behandelt, be- Diese Ausstellung wird im Leutesdorfer stimmte Zeitabschnitte beschrieben und Gemeindezentrum vom 19. Mai bis zum besondere Erzählungen und Geschichten 3. Juni 2018 gezeigt. Die Inhalte der veröffentlicht. Ausstellung sind in diesem Leutesdorfer Nach dem zuletzt gefeierten Geburts- Heft Nr. 13 dokumentiert. Volker Berg, Heddy Roos, Hubert Bü- tag unseres Ortes, dem 1125-jährigen Wir danken Harald Stoffels für seine scher und Erich Schneider (von links) Jubiläum im Jahre 1993, wurden die Mühe und seinen Einsatz, die diese vom Arbeitskreis Kultur im Geschehnisse im „Leutesdorfer Heft“ Nr. Ausstellung und ihre Zusammenfassung Verkehrs- und Verschönerungsverein 5 festgehalten. im Leutesdorfer Heft im Jubiläumsjahr Leutesdorf e.V. In diesem Jahr feiert unsere Heimatge- ermöglichte. meinde wieder einen runden Geburts- tag, sie wird 1150 Jahre alt. Die erste Leutesdorf, im Mai 2018 nachweisbare Erwähnung Leutesdorfs findet sich in der Schenkungsurkunde Arbeitskreis Kultur im vom 1. Juli 868, in der König Ludwig der Verkehrs- und Verschönerungsverein Deutsche den Fronhof in Leutesdorf am Leutesdorf e.V Rhein dem Nonnenkloster Herford stifte- te. Damals hieß der Ort „Liutwinesthorp“. Mit Blick auf dieses besondere Jubiläum gründete sich auf Initiative des Arbeits- kreises Kultur im Verkehrs- und Verschö- nerungsverein Leutesdorf die Projekt- gruppe „Wir Leutesdorfer“, die Harald

1 „Aktueller Blick auf die Ortskultur“

Vor einem halben Jahrhundert war herberge war für mich ein Meilenstein auf Skizze vom Selbstbild des Orts. Leutesdorf ein fröhlicher Weinort. In dem Weg in eine lebendige Zukunft. Den Zu danken habe ich allen Projektbe- jeder Gasse ein Lädchen, wo man sich Event „Tafeln am Strom“ fand ich toll, teiligten für ihre Zeit, ihre Geduld und beim Einkauf stundenlang gut gelaunt und der Kunst- und Kulturweg imponier- ihr Vertrauen. Ich hoffe, ich bin den unterhielt. Am Rhein erzählten weinselige te mir besonders. Erwartungen wenigstens ansatzweise Originale lustige Schwänke aus ihrem Als Erich Schneider am Abend des Win- gerecht geworden. Entschuldigen muss Leben. Jeder hatte ganz viel freie Zeit, zerfestsamstags 2016 auf mich zutrat ich mich schon jetzt für alle Fehler, die und die Preise lagen lächerlich niedrig. und um einen Beitrag zum Ortsjubiläum in den Texten zweifellos enthalten sind Deshalb war in den zahllosen Kneipen 2018 bat, sagte ich deshalb ohne Zögern und für die niemand anders als der Autor auch immer was los… zu. Ich fand, dass dies eine gute Ge- verantwortlich ist. Insbesondere bitte Die Swinging Sixties, Leutesdorf-Style: legenheit sein könnte, die aktuelle – in ich all jene um Vergebung, die sich als so vergnüglich, wie ein nicht enden meinen Augen überwiegend positive – Probanden gemeldet hatten, aber aus wollender Heinz-Ehrhardt-Film! Nostalgi- Ortskultur ein wenig zu beleuchten. Mit Zeitgründen nicht mehr berücksichtigt sche Erzählungen dieser Art hörte ich oft, Blick auf einige der vielen lebenszuge- werden konnten. als ich 40 Jahre nach dem Abitur wieder wandten und tatkräftigen Menschen, die Mein größter Dank aber gilt dem Arbeits- ein Haus in meinem Heimatort bezog. das Leutesdorf von heute ausmachen kreis Kultur im Verkehrs- und Verschöne- Und wie sahen diese Zeitgenossen ihre und jenes von morgen prägen werden. rungsverein Leutesdorf e.V. und inner- Gegenwart? Die Läden geschlossen, die Frauen und Männer, Alte und Junge: Das halb dessen wiederum ganz besonders Kneipen verschwunden, alle witzigen Projekt „Wir Leutesdorfer“ war geboren. Erich Schneider und Heddy Roos - für Typen tot – Tristesse pur. Im Ergebnis liegen nun 35 Fotos und ihre nicht hoch genug einzuschätzende Meine Wahrnehmung als „Rückkehrer“ 30 journalistische Texte vor, die von Unterstützung bei der Organisation und war deutlich anders. Ich sah ein lebendi- meinen Begegnungen mit Leutesdorfern Umsetzung des Projekts. „Wir Leutes- ges Gemeinwesen vor mir, mit vielen in- zwischen 14 und 87 Jahren in der Zeit dorfer“ wäre ohne sie niemals möglich teressanten Charakteren, jung und alt. 30 von März 2017 bis April 2018 Zeugnis gewesen. Vereine und 14 Nachbarschaften verzeich- ablegen. Daraus mag sich jeder Betrach- nete der Internetauftritt www.leutesdorf- ter und Leser sein ganz persönliches Leutesdorf, im Mai 2018 rhein.de. Für eine 1.800-Seelen-Gemeinde! Bild von Leutesdorf „erpuzzeln“. Voraus- Wo gab es das sonst noch? Die Jugend- geschickt habe ich eine soziologische Harald Stoffels

2 Zeugen eines lebendigen Gemeinwesens: Vertre- ter Leutesdorfer Vereine beim Stiftungsfest des Katholischen Junggesellenvereins im August 2017

3 „Bleib offen – sei nicht stur!“ Leutesdorfer Deutungsmuster. Eine soziologische Skizze

Neben der Absicht, mit journalistischen könnte, habe ich mir von „Wir Leutesdor- eine interessante Geschichte im Zusam- Texten und Reportagefotos einen „bunten fer“ erhofft. Ich wurde nicht enttäuscht. menhang mit Leutesdorf aufweisen. Eine Strauß“ aktueller Porträts von Leutesdor- grundsätzlich positive Einstellung dem Ort ferinnen und Leutesdorfern zu erstellen, Vorab einige Bemerkungen zum Projekt- gegenüber war gewünscht – konstruktive hatte das Projekt „Wir Leutesdorfer“ von design. Um zu wirklich belastbaren Aus- Kritik und „Verbesserungsvorschläge“ Anfang an noch ein zweites Ziel. Seit je- sagen über das Besondere an Leutesdorf waren aber ausdrücklich zugelassen und her habe ich mich gefragt, was das wirk- kommen zu können, wurde „Wir Leu- wurden auch abgefragt. Für das Samp- lich Spezifische an meinem Heimatort tesdorfer“ als empirisch-soziologisches le als Ganzes war Vielfalt der wichtigste sein könnte, denn dass Leutesdorf und Forschungsvorhaben konzipiert. Ohne zu Parameter: Es sollten alte, mittelalte und seinen Bewohnern etwas im positiven sehr ins Detail zu gehen: Alle Interviews junge Menschen dabei sein, Frauen und Sinn Besonderes innewohnt, ist für viele mit insgesamt 35 Probanden wurden in Männer, Selbständige und abhängig Be- Einheimische und Außenstehende klar. Audiodateien fixiert, um sie einer späte- schäftigte, Alteingesessene und in der „Die Leutesdorfer sind ein besonderes ren wissenschaftlichen Auswertung zu- ersten Generation Zugezogene. Völkchen“, heißt es oft. Doch dieses Au- gänglich zu machen. Für die Zwecke die- Das Sample wurde im Verlauf des Pro- ßergewöhnliche erschließt sich nicht der ser kurzfristig erstellten soziologischen jekts kumulativ entwickelt. Das heißt, unmittelbaren Erfahrung, denn attraktive Skizze konnte nur eine kursorische Aus- die jeweils folgenden Probanden wurden Orte in Flusslandschaften gibt es viele wertung mit stark abgekürztem Analyse- auch immer danach bestimmt, welche und nette Menschen auch anderswo. Der verfahren durchgeführt werden: wissen- Fragen sich aus den bis dato geführten Leutesdorf-Liebhaber wird nun sogleich schaftlich gesehen eine Vorbereitung für Interviews neu ergeben hatten und wel- mit einer langen Liste unvergleichlicher die spätere Analyse, wenig mehr als ein che Typen aufgrund der sich entwickeln- Vorteile des Ortes auftrumpfen. Doch ich Entwurf begründeter Hypothesen. den Fragestellungen noch von Interesse hatte immer auch den Eindruck, dass es Bei den Überlegungen, welche Personen sein konnten. Die letztlich 35 Probanden noch etwas Zusätzliches, schwer Fassba- zur Teilnahme am Projekt angefragt wer- wurden auch dem Generationenmodell res gibt, das den Leutesdorfer und seine den sollten, standen mehrere Parameter Karl Mannheims und neuerer Ansätze Heimat von anderen abhebt, zumindest im Fokus. Die jeweilige Person sollte ei- Träger der Weindorf-Kultur in Leutesdorf: im Selbstbild – sozusagen ein „Leutes- nen Wohnsitz in Leutesdorf haben – mög- Die Gruppe „Weinsteigwinzer“ bei der dorf-Gefühl“. Einige Hinweise darauf, was lichst schon längere Zeit – sowie eine großen Leutesdorfer Weinprobe im dieses Besondere und Schöne denn sein interessante Persönlichkeit und / oder Frühjahr 2017 im Saal des Leyscher Hofs

4 5 der Jugendsoziologie folgend festgelegt, eine, Gruppen und spezifische Personen gleichfalls von Oevermann entwickelten also mit Blick auf inhaltlich bestimmte vom Verkehrsverein Leutesdorf brieflich Theoriekonstrukt des Sozialen Deutungs- Altersgruppen, denen eine gemeinsame eingeladen worden waren (Auswahl: Ar- musters belassen. Beides habe ich kunst- Generationserfahrung wenigstens als Hy- beitskreis Kultur und der Autor). Bei und gerecht oder mit mehr oder minder stark pothese unterstellt wird. So entstammen unmittelbar nach der Veranstaltung er- abgekürzten Verfahren schon häufiger bei sieben Probanden der Kriegskindergene- klärten sich gleich mehrere Personen zur Interviewanalysen in Deutschland und ration (Jahrgänge 1930-43), sieben der Teilnahme bereit. Andere wurden im Ver- auch bei der Analyse von Interviews mit Wirtschaftswundergeneration (1944-54), lauf der folgenden 15 Monate angespro- Angehörigen fremder Ethnien (u.a. Tuareg sieben der Generation X (1955-1964), vier chen. Die Namen möglicher Probanden und Dogon), die ich 2009 in Mali durchge- der Generation Golf (1965-1975), vier der wurden in der Regel vorab im Arbeitskreis führt habe, erfolgreich erprobt. Generation MTV (1980-1990) und sechs Kultur diskutiert. Die letzte Entscheidung, der jüngeren Generation, die noch ohne eine Person anzusprechen oder nicht, traf Das Konzept „Deutungsmuster“ Markenbegriff ist. immer der Autor. Die Organisation der Das Übergewicht älterer Probanden er- Termine übernahm in der Mehrzahl der Unter einem Deutungsmuster versteht gab sich aus den Parametern „interes- Fälle der Arbeitskreis Kultur. man nach Oevermann, sehr holzschnittar- sante Persönlichkeit / interessante Ge- Bei der Auswahl des theoretischen Hin- tig beschrieben, eine kollektive Sichtwei- schichte“: Eine längere, schon in weiten tergrunds und der Entwicklung interes- se der Realität, die den Mitgliedern einer Teilen abgeschlossene Lebenszeit bietet santer Perspektiven auf das Interview- bestimmten Lebenswelt eigen ist und in aller Regel einen größeren Fundus inte- material habe ich einschlägige Literatur mit der sie sich von anderen Lebenswel- ressanter Erlebnisse und Einschätzungen gesichtet, insbesondere aus der Stadt- ten abgrenzen. Das Deutungsmuster ist als eine Biografie von vielleicht 25 Jahren. und Siedlungssoziologie (Martina Löw, dann typisch für diese Lebenswelt und Die Geschlechterverteilung bestand aus Bernd Hamm, Robert Park) sowie auch zeigt dauerhaft praktische Wirkung im 22 männlichen und 13 weiblichen Pro- Ansätze aus anderen Disziplinen als der Alltag. Es ist also viel bedeutsamer als banden. Das Übergewicht von männli- Soziologie – zum Beispiel der Humangeo- zum Beispiel eine isolierte Meinung. Deu- chen gegenüber weiblichen Interviewten grafie – und neuere an die Allgemeinheit tungsmuster wirken auch als „Sozialer ergab sich aus spezifischen Fragestellun- gerichtete Analysen dörflichen Lebens Klebstoff“ – das heißt, sie halten Grup- gen und aus der geringeren Zahl von Mel- (empfehlenswert die Broschüre „Land pen zusammen, einerseits sozialpsycho- dungen potenzieller Teilnehmerinnen - es und Ländlichkeit“ der Bundeszentrale für logisch gesehen emotional, andererseits war inhaltlich vorab nicht so gewollt. politische Bildung in Bonn). Ich habe es aber auch als rationale Begründungszu- Die Auswahl der ersten Probanden ge- letztlich – zumindest für die erste Sichtung Erfolgsmodell kleine Schule: Schulleiterin schah nach einer Info-Veranstaltung über des Materials – bei der mir seit langem Bettina Kliesrath (Mitte) und Kolleginnen mit das Projekt in der Jugendherberge Leu- vertrauten Methode der Objektiven Her- Schülerinnen und Schülern der Grundschule tesdorf am 1. Februar 2017, zu der Ver- meneutik (Ulrich Oevermann) und dem Leutesdorf im Frühjahr 2017

6 7 sammenhänge. Kurz gesagt: Gelingt es, anderswo“ können als typische Zitate auch bedeuten könnte, unter äußerem ein für Leutesdorf spezifisches Deutungs- gelten. Was Offenheit genau bedeutet, Druck gegen falsche Alternativen ganz muster erfahrungswissenschaftlich gültig wird vom Leutesdorfer gern als das Ge- rational eine unpopuläre Position zu be- zu rekonstruieren, so ist dies eine starke genteil von „Sturheit“ beschrieben. Ein haupten, mag auch das einzelne Indivi- Aussage über die Besonderheit, ein Leu- sturer Mensch ist für den Leutesdorfer duum in Leutesdorf so sehen. Im Leutes- tesdorfer zu sein und darüber, was es an „nicht flexibel“, kann sich bei der Nut- dorf-typischen Deutungsmuster ist diese Einstellungen braucht, um sich heute als zung lebensgeschichtlicher Alternativen Option aber nicht enthalten, glaubt man „echter“ Leutesdorfer selbst sehen und nicht hinreichend „bewegen“. Der Sture den Inhalten aus der vorliegenden Befra- nach außen darstellen zu können. nervt den Offenen, und das auch des- gung. Im Leutesdorfer Deutungsmuster Für die Zwecke dieser Skizze war es noch halb, weil jeder Offene sehen kann, dass geht es meiner Einschätzung nach mehr nicht möglich, das Material in ausreichen- der Sture anderen Menschen genauso um große Geschmeidigkeit und Wachheit dem Maß kunstgerecht sequenzanaly- im Weg steht, wie auch sich selbst – also angesichts des vermuteten stetigen Wan- tisch auszuwerten, wie es die Objektive nicht nur den Interessen der Offenen zu- dels in der Welt. Hermeneutik klassisch verlangt. Dennoch widerhandelt, sondern irrational auch Genauer betrachtet bedeutet Offenheit zeichnen sich bereits jetzt Ergebnisse ab, partikular gegen die eigenen Interessen also für den Leutesdorfer, das Leben die zumindest als erste umfänglich be- agiert. So jedenfalls wird es nach erster als Füllhorn von Alternativen zu begrei- gründete Hypothesen gelten können. Analyse im Leutesdorfer Deutungsmuster fen, die sich ständig wandeln und für die gesehen. Das Gebot der Offenheit be- man stets ein waches Auge haben muss, Offenheit und Sturheit steht im Leutesdorfer Deutungsmuster da auch immer wieder Neues hinzutritt. ausdrücklich nicht nur für den Fall einer Sich allzu sehr festzulegen, ist in dieser Eine inhaltliche Dynamik eines Leutes- Erfahrungskrise, wenn gewissermaßen Deutung wohl ein Fehler, bedeutet aber dorfer Deutungsmusters stellt sich in unter äußerem Zwang eine neue Lösung mindestens ein lebenspraktisches Risi- meinen Augen bereits jetzt überdeutlich für ein bedrängendes Problem gefunden ko. Gleichzeitig wird Offenheit aber auch dar: Der Begriff „Offenheit“ ist für die werden muss. Nein, es ist viel mehr um- als Verpflichtung begriffen, die mit dem Selbsteinschätzung als typischer Leu- gekehrt als generelle Routine-Einstellung modernen Wirtschaften zusammenhängt. tesdorfer zentral – und seine Beziehung im Alltag gemeint. Wobei dieses „Gebot Wer zum Beispiel nicht offen genug ist, zum Gegenbegriff „Sturheit“. Der Leutes- der Offenheit“ in den vorliegenden Inter- um frühzeitig die Zeichen der Zeit zu er- dorfer begreift sich als „offener Mensch“ views auch immer etwas Zweckgerichte- kennen und neue Alternativen zu schwin- und sieht das auch als typisch an für die tes hatte – um romantisches Schwärmen denden Geschäften zu finden, der macht Welt seines Wohnorts. In beinahe jedem geht es hier offenbar nicht, sondern da- schlicht Pleite, wie der selbständige Leu- Interview ist diese Selbsteinschätzung rum, praktische Ziele zu erreichen (die tesdorfer Metzgermeister Karl Schuma- thematisch. „Wir sind hier sehr offen“ ihrerseits aber auch eine romantische cher lakonisch erklärt: „Du darfst eben oder „Die Menschen sind hier offener als Prägung besitzen können). Dass Sturheit nicht stur sein.“

8 Die Amtfrauen und Amtmänner der Leutesdorfer Nachbarschaften Anfang 2018 (von links): Gerhard Selt (Oberm Zoll), Norbert Dinter (Heiligkreuz), Erich Vonhögen (Pflänzergasse), Doris Maur (Kleine Kirchstraße), Peter Bongard (St. Laurentius I), Anton Schumacher (Obere Pützgasse), Harald Breuer (Große und Kleine Fischgasse), Helga Büscher (Obere Mark), Marion Schröder (St. Barbara), Ursula Kamp (St. Mi- chael), Friedel Strubel (St. Marien), Michael Schausen (Hochkreuz), Peter Meffert (Ahle Zenn). Es fehlt Christian Grünwald (St. Laurentius II).

9 Ein vor mehreren Jahrzehnten nach Leu- gen präsentiert sich als Person spontan Dichotomie Offenheit / Sturheit auch als tesdorf zugezogener Brite, der zur Ge- und unverblümt. Beschreibung des sozialen Wandels zum neration X gehört, stellt die Leutesdorfer Damit ist gleichzeitig die andere Seite Guten hin thematisiert. Die Nachkriegs- Offenheit folgendermaßen dar: „Die Leute des Leutesdorfer Offenheitsgebotes an- zeit war in diesen Schilderungen eine in meinem Umfeld sind sehr weltoffen. gedeutet: Man empfängt nicht nur quasi überaus konservative Ära, speziell in Leu- Alles andere als eine geschlossene Ge- parasitär Handlungsalternativen von an- tesdorf, wo „Bürgermeister, Pfarrer, Apo- sellschaft. Die Leute gucken nach Außen, deren – man „sendet“ auch selbst Ein- theker und Reichsbauernführer den Ton nicht nach Innen. Der Rhein wirkt symbo- schätzungen und Handlungsoptionen an angaben“, wie sich ein über 80-jähriger lisch.“ den Gesprächspartner. Und zwar direkt gebürtiger Leutesdorfer erinnert: „Die wa- Eine bedeutende lebensweltliche Abgren- und deutlich. Zwei aus Bochum stam- ren nicht flexibel, sondern stur, total kon- zung der Leutesdorfer Offenheit besteht mende Probanden (Wirtschaftswunder- servativ.“ Ein Proband aus der Generation gegenüber dem Westerwald (es werden generation und Generation X) haben spe- X erinnert an den früheren Schimpfnamen mehrere Orte genannt, von der Wirt- ziell dieses Merkmal als Wesensgleichheit „Leutesdorfer Kloben“ – grober Klotz –, schaftswundergeneration und der Ge- des Leutesdorfers mit dem Ruhrgebiets- als die Leutedorfer noch „manchmal stur neration X zum Beispiel das nur wenige bewohner identifiziert: „Hier wird Tache- genannt“ wurden. Heute und in Zukunft Kilometer von Leutesdorf gelegene Dorf les geredet. Man sagt offen und ehrlich bestimme dagegen Offenheit den Ort, Hüllenberg auf der Westerwaldhöhe, aber seine Meinung. So wie bei uns. Man urteilt wiederum der Proband aus der es geht heute wohl eher um eine Zuschrei- geht auf die Straße und wird gleich an- Kriegskindergeneration, „weil die jungen bung der Lebensart in der Landschaft gequatscht. Ganz locker, das gefällt uns.“ Leuten mehr rauskommen und über den Westerwald, weniger um die Abgren- Die Abgrenzung Leutesdorfs von den Tellerrand sehen.“ In dieser Variante er- zung von einem konkreten Ort). Selbst benachbarten Orten am Rhein - Rhein- hält Offenheit zusätzlich als Bedingung eine junge Probandin unter 20 Jahren brohl, , Andernach - spielt der Möglichkeit die Verpflichtung, we- berichtet vom Erlebnis einer Kirmesfeier im Leutesdorfer Deutungsmuster der Ge- nigstens zeitweise den Ort zu verlassen in einem Westerwaldort, wo die einheimi- genwart jedoch keine Rolle, obwohl sie – um außerhalb nach guten Alternativen schen Jugendlichen „eher in Grüppchen gelegentlich scherzhaft inszeniert wird. des Handelns zu fahnden. eng zusammenstehen. Vielleicht sind die Die Späße über die anderen Gemeinden Mehrere der befragten Probanden aus da oben wirklich etwas verschlossener“. am Rhein berühren das hiesige aktuelle der Kriegskindergeneration kamen in den Oder davon, dass die Mutter eines Freun- Deutungsmuster im Kern nicht. 50er Jahren aus Westerwalddörfern nach des aus dem Westerwald kommentierte: Das Prinzip Offenheit als wichtiges Merk- Leutesdorf – und blieben. Sie berichten „Man merkt, dass Du unten vom Rhein mal Leutesdorfer Wesens in der Gegen- Das Leutesdorfer Landschafts-Ensemble, kommst. Du bist so offen.“ Der Wester- wart spielt auch in den Erzählungen von vom Andernacher Krahnenberg aus wälder ist also (in dieser Deutung) eher Mitgliedern der Kriegskindergeneration gesehen, hier in einer Aufnahme vom verschlossen – der Leutesdorfer hinge- eine herausgehobene Rolle. Hier wird die 21. Mai 2015 gegen 14.00 Uhr

10 11 einhellig von anfänglichen Problemen 40 Jahre jünger aus der „Generation MTV“ wird als Dorf und Land. Für Max Weber bei der am Ende doch gelungenen Inte- –, wie sie gelegentlich die Rheinpromena- etwa ist in seiner „Typologie der Städte“ gration, schreiben die Schwierigkeiten de durchstreifen. Ist eine junge Familie als ebenjene Siedlungsform, da, wo Märk- aber weniger den damals konservativen noch nicht integrierte Neu-Leutesdorferin te, Handel und Wandel herrschen, der Strukturen in Leutesdorf als ihrer eigenen identifiziert, wird Mann, Frau und Kind typische Ort auch des kommunikativen, „Sturheit“ zu: „Ich bin zur Zurückhaltung ein spezifiziertes Schnupper-Angebot für weltoffenen Austauschs – nicht das Dorf. erzogen worden und konnte mit dieser Leutesdorfer Vereine und Gruppen offe- Genauso wie der Philosoph Karl Popper rheinischen Ausgelassenheit nichts an- riert. Dies führt offenbar häufig zum - Er ein Musterbeispiel seiner „Offenen Ge- fangen. Erst als ich über meinen Schatten folg: Die neuen Mitbürger finden auf diese sellschaft“ wohl kaum in einem Dorf am gesprungen und in den Karnevalsverein Weise persönliche Kontakte und oft auch Mittelrhein gesucht hätte. eingetreten bin, war ich akzeptiert und dauerhaften Anschluss. „Danach müssen Dem dörflichen Denken schreibt man alles wurde gut“, ist ein typisches Zitat. sie natürlich selbst was tun“, unterstreicht stattdessen eher gemeinschaftsorientier- Auch ein gebürtiger Süditaliener – eben- eine Probandin die dem Leutesdorfer In- te und defensiv-bewahrende Denkweisen falls im Herkunftsmilieu zur Zurückerhal- tegrationssystem innewohnende Hand- „nach Innen“ zu. Der typische Landbe- tung erzogen, wie er berichtet – benennt lungsverpflichtung des Noch-Fremden. wohner in der traditionalen Welt begab das „Gebot Nummer eins“ für ein aner- Ihre Botschaft lautet ausbuchstabiert: sich nur für ganz bestimmte Gelegenhei- kanntes Leben in Leutesdorf: „Du darfst Fremder, wenn Du nach Leutesdorf ten in die Welt außerhalb seines Dorfs. nicht stur sein. Meine erste Vereinsmit- kommst, findest Du offene Türen vor. Wir Und nur für diese benötigte er einen gliedschaft in Leutesdorf war die im Kar- helfen Dir dabei, die passende Tür zu fin- entsprechenden geistigen Orientierungs- nevalsverein ‚Mir hale Pohl‘“. den und hindurch zu gehen. Aber gehen rahmen. Etwa wenn der Handwerker sich musst Du schon selbst. Danach musst während der Lehr- und Wanderjahre in Offenheit und Integration Du Dich regelmäßig als guter Leutesdor- der Fremde zwangsläufig mit den vorge- fer beweisen – dann wirst Du sehr schnell fundenen gesellschaftlichen und gemein- Zum Prinzip Offenheit – also dem stän- Teil unserer Gemeinschaft. Doch wenn Du schaftlichen Alternativen befassen muss- digen Ausschau halten nach besseren nicht bereit bist, selbst aktiv zu werden, te. Im Alltag des Produzenten bäuerlicher Handlungsalternativen bei gleichzeitigen bleibst Du außen vor. Produkte war eine gewisse Offenheit als Kommunikationsangeboten an andere – Strategie nur zeitweise nützlich, wenn auf gehört in Leutesdorf offenbar auch die Dörfliches und städtisches Denken dem Markt in der Stadt mit Fremden zu proaktive Suche nach neuem, geeigneten handeln war. „Das Dorf vor 200 Jahren Personal für die Dorfgemeinschaft. So Nun ist das „Prinzip Offenheit“ eine war wirtschaftlich weitgehend selbstän- berichten unabhängig voneinander zwei pragmatisch-optimistisch in die Zukunft dig“, schreibt der Humangeograf Gerhard weibliche Probanden – die eine aus der gerichtete Sicht der Welt, die klassi- Henkel („Geschichte und Gegenwart des Kriegskindergeneration, die andere über scherweise mehr der Stadt zugerechnet Dorfs“). „Das Wirtschaftsleben auf dem

12 Land war in der Regel ganz auf das eige- besonders stark ausgeprägte Kamerad- mand auf einer Autobahnraststätte häus- ne Dorf bezogen. Praktisch alle arbeiten- schaft und Geselligkeit schätzen und in lich ein und tritt für längere Zeit mit den den Dorfbewohner hatten ihren Arbeits- der Regel auch schnell und freudig aufge- dort arbeitenden Menschen in Kontakt. platz im eigenen Dorf“. Auch wenn sich nommen werden. Dies sehen die beiden Und gerade vor einigen Dörfern am Mit- nach den Revolutionskriegen und den in- Vereine als Erfolg bzw. als Bereicherung telrhein wurde in Reisebeschreibungen dustriellen Umwälzungen im 19. Jahrhun- des Vereins - in eher traditional orientier- der Aufklärung bis hin zu ersten Baede- dert das Leben auf dem Dorf allmählich ten Dörfern würde die lässige Aufnahme kern im 19ten Jahrhundert ausdrücklich änderte, hielten sich traditional geprägte vieler Fremder wohl eher kritisch betrach- gewarnt – wegen „Nepp“, wie man heute wirtschaftliche und damit auch kommu- tet. Warum ist das in Leutesdorf anders? sagen würde. Dass mit dem Floß Reisen- nikative Alltagspraktiken doch noch recht „Das ist typisch Rhein: Ganz viele Leute de intensiv mit Leutesdorfern in Kontakt lange. Gerade die alten Strategien der aus unterschiedlichen Orten kommen zu- getreten wären, um ihnen die städtische Selbstversorgung auf dem Dorf waren sammen“, war eine typische Antwort ei- Denkweise zu vermitteln, ist also we- noch bis in die vergangene Nachkriegs- nes Probanden aus der Generation Golf: nig wahrscheinlich. Kontakte zwischen zeit zu beobachten, wie auch die Be- „Das war schon bei den Flößern so. Viele Flößern und „Festländern“ mag es eher fragung von Probanden aus der Kriegs- Leute, die sich zusammenraufen.“ in einer Stadt wie Köln gegeben haben. kindergeneration bei „Wir Leutesdorfer“ Mit „Flößern“ ist der Verweis auf den Damit liegt die Vermutung nahe, dass der zeigte. Das Prinzip genereller Offenheit Rhein als Verkehrsweg gemeint. In ver- Proband zwischen Leutesdorf und einer als Deutungsmuster, mit dem sozusagen gangenen Jahrhunderten wurden riesi- Stadt wie Köln gewisse Ähnlichkeiten der soziale Wandel als Alltagswahrneh- ge Holzmengen in Form von bis zu 300 sieht, was wiederum auf die städtischen mung für die dörfliche Gemeinschaft auf Meter langen Flößen über den Rhein bis Züge des Leutesdorfer Deutungsmuster Dauerbetrieb gestellt wird, ist als Denk- zur Nordsee geschafft. An Bord waren oft verweist. weise im traditionalen Modell absurd. über tausend Menschen. In Leutesdorf Der Ursprung des urbanen Denkens in Teil einer Dorfgemeinschaft sein, voller oder auf der anderen Rheinseite im Dorf Leutesdorf liegt wohl eher im Rheintouris- Stolz auf diesen Status – aber denken wie Namedy wurde von den Flößern manch- mus begründet, der hier Ende des 19ten ein Städter: Wie also geht das zusam- mal Station gemacht. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt men? An der „Verkehrsweg-Argumentation“ ist erlebte. Zeugnis legt davon zum Beispiel Dieser Gegensatz wurde auch manchen im Rahmen dieser Darstellung meines Er- der aufwendige Umbau von Gebäude und Probanden anscheinend unbewusst klar, achtens zweierlei interessant. Zum einen Rheingarten des Leyscher Hofs im Jahr als sie von den Vorteilen der „offenen ist sie offenkundig weit hergeholt. Das 1904 ab. Im Unterschied zum zielgerich- Denkweise“ in Leutesdorf schwärmten. Wesen von Verkehrswegen besteht gera- teten Reiseverkehr geht es beim Touris- So drängen immer mehr Auswärtige in die de darin, dass man möglichst schnell von mus um das Verharren an einem fremden Leutesdorfer Vereine S.V. Grün-Weiss und A nach B reist – und sie dann rasch wie- Ort zum Zweck der Erholung. Das heißt, Musikverein Blau-Weiss, da sie die dort der verlässt. So richtet sich ja auch nie- am betreffenden Ort entwickeln sich für

13 die Einheimischen neue Geschäftschan- Nicht nur, dass der Tourismus als Motor fer Wein – herstellt, womit eine bestimmte cen. Wenn aber mit Gästen aus der bür- sozialen Wandels in Leutesdorf aus dem Form von einheimischer Kultur (Weindorf) gerlich-urbanen Fremde – zum Beispiel Blick geraten ist, fällt auf. Auch dass das untrennbar verbunden ist, werden die aus Köln oder anderen Städten an Rhein für Leutesdorf klassische Subjekt dieses Veranstaltungen intuitiv von den Leutes- und Ruhr – im Dorf viel Geld zu verdienen Wandels nicht genannt wird – die Winzer- dorfern kaum noch gesehen (wenn man ist, muss der lokale Geschäftsmann sich schaft. sehr direkt danach fragt zum Teil schon). wohl oder übel kommunikativ an diese Dass bis in die 70er Jahre des 20sten Es stellt sich natürlich die Frage, warum „anschmiegen“. Das kann für das dörf- Jahrhunderts hinein die wichtigste Be- das so ist. Nach Ansicht mehrerer älterer liche Denken auf Dauer nicht folgenlos deutung von Leutesdorf in seiner Identität Probanden reichen vereinzelte jährliche bleiben: Sturheit adé. als Weinort bestand, dürfte rückblickend Events nicht aus, um die kulturelle Identi- Übrigens konnte ich einen ähnlichen so- außer Zweifel stehen. Die zahlreichen tät von Leutesdorf als Weindorf zu erhal- zialen Wandel auf der ostfriesischen Insel Weinbaubetriebe, ihre Besitzer und Be- ten. Diese Kultur müsse im Alltag sichtbar Langeoog beobachten, über Jahre hin- schäftigten waren im jahreszeitlichen sein, in Form gastronomischer Betriebe weg das regelmäßige Ferienziel meiner Wandel in den Weinbergen und im Dor- von gehobener Qualität. „Leutesdorf wur- Familie. Dort sind die Inselbewohner offen falltag regelmäßig sichtbar. Das im Sep- de früher von den Winzern beherrscht. und redefreundlich – obwohl ihr regional- tember stattfindende Winzerfest war noch Andere hatten nichts zu sagen. Man ist typischer Identitätsentwurf als Ostfriese vor der Kirmes der wichtigste jährliche dann nicht mit der Zeit gegangen. Man „eigentlich“ genauso Zurückhaltung vor- „Event“. Doch für die meisten Probanden hat hier nicht dafür gesorgt, dass den sieht wie jener der Ostfriesen auf dem nur in der „Wir Leutesdorfer“-Befragung – vor Menschen etwas Gehobenes dargeboten wenige Kilometer entfernten Festland. allem die jüngeren – spielte die Winzer- wurde“, ist ein typisches Zitat. Gleichzei- Doch die Langeooger verdienen schon schaft nur noch eine sehr nachgeordnete tig wird von diesen Probanden betont, seit fast 150 Jahren ihren Lebensunter- Rolle. Veranstaltungen der Gruppe Wein- dass ihrer Meinung nach die Identität von halt mit der Beherbergung und Bewirtung steigwinzer wie der „Emmausgang“, das Leutesdorf als Weindorf für die weitere von Gästen aus Städten – und sind des- „Kulinarische Weinerlebnis“ und „Tafeln wirtschaftliche Bedeutung des Orts sehr halb zum Plaudern objektiv gezwungen. am Strom“ oder das traditionelle Winzer- wichtig sei. Als positive Gegenbeispiele Was sie auch selbst gern bestätigen: mit fest im September werden als Anlass zum zu Leutesdorf werden die Ahr und andere staubtrockenem Humor, versteht sich. Feiern mit Einheimischen und Auswär- Anbaugebiete genannt. Vorsichtige Hoff- tigen sehr gern wahrgenommen. Doch nungen setzen dieselben Probanden in Weinbau und Winzerschaft sehen die meisten Probanden die Ver- den neuen Gutsausschank des Weinguts anstaltungen eher als Feier-Events des Selt in der Allergasse. An der irrigen Argumentation „Der Ver- Orts. Als Leistung einer spezialisierten Die meisten Probanden setzen große kehrsweg macht uns offen“ ist für mich Berufsgruppe, die ein einzigartiges, qua- Hoffnungen in die 2015 eröffnete neue noch ein anderer Aspekt interessant. litativ hochwertiges Produkt – Leutesdor- Jugendherberge, die von Probanden aller

14 Generationen begrüßt wird. „Die bringt aus gesehen erster Vorort der Stadt Neu- meistens schön“, sagte ein Teenager und wieder mehr Leben ins Dorf“, ist dazu wied) wird in dieser Zuschreibung ausge- meinte damit Mitschüler, die zu Besuch ein typisches Zitat: Man freut sich also spart. nach Leutesdorf kommen. auf neues Personal, um das „Prinzip Of- Immer wieder werden gerade die Rhein- fenheit“ gewinnbringend anwenden zu anlagen als etwas Besonderes heraus- Leutesdorfer Assets II: Sozialisations- können. Manche hoffen darauf, dass sich gehoben, von mehreren Probanden chancen, räumliche Nähe, Verkehrslage durch die Jugendherberge neue Geschäf- ausdrücklich auch als wichtiger ökono- te im Dorf ansiedeln, andere sind dies- mischer Wert des Ortes, der auf keinen Vor allem von jüngeren Frauen sowie von bezüglich eher skeptisch. In irgendeiner Fall durch Hochwasserschutzbauten in Probanden der Generation MTV wurden Weise gestört durch die Jugendherberge seiner heutigen Wirkung beeinträchtigt immer wieder die enormen Vorteile be- sah sich keiner der Probanden. werden dürfte. Die Weinberge bzw. die tont, die Leutesdorf ihrer Meinung nach Wirtschaftswege durch die Weinberge als idyllisch-ländlicher Ort für die Sozia- Leutesdorfer Assets I: Landschaft hindurch werden von den meisten Pro- lisation von Kindern bietet. Die Begeiste- banden primär als Ort und Mittel der Er- rung war derart groß und ungebrochen, Für nahezu alle Probanden ist das Leutes- holung gesehen – und weniger in ihrer dass es mir zeitweise so vorkam, Astrid dorfer „Landschafts-Ensemble“ von sehr landwirtschaftlich-technischen Bedeutung Lindgrens traumhafte Bullerbü-Welt aus großer Bedeutung. „Wir leben, wo andere für die Winzer thematisiert. der Zeit des beginnenden 20sten Jahr- Leute Urlaub machen“, ist ein zentraler Insgesamt ist das Verhältnis des Leutes- hunderts in Schweden wäre 100 Jahre Satz, der (meist mit gewissem Stolz) so dorfers zur ihn umgebenden Kulturland- später in Leutesdorf am Mittelrhein neu oft genannt wird, dass man ihn als wich- schaft heute mehrheitlich das eines Fla- erstanden. Dass viele Kinder regelmä- tigen Inhalt des Leutesdorfer Deutungs- neurs, der mit ästhetischem Wohlgefallen ßig davon berichten, wie schön es sei, musters und als zentral für die Ortskultur auf eine Umgebung schaut, die ihm als in den Rheinanlagen von Leutesdorf zu der Gegenwart betrachten kann. Gemeint Bürger seiner Meinung nach gewisser- spielen oder im Auenwäldchen „Am Se- ist in der Regel der Drei- bzw. Vierklang maßen zusteht bzw. auf deren Erhalt zur jes“, hat auch die hiesige Grundschul- Rhein und Rheinanlagen (manchmal ge- Nutzung für persönliche Erholungszwe- lehrerin bestätigt. Es soll in Leutesdorf meinsam, manchmal als zwei getrenn- cke er ein Anrecht besitzt. Dazu gehört unter anderem deshalb weniger überge- te Elemente gesehen), Weinberge und auch, dass der Leutesdorfer „seine“ wichtige Kinder geben als anderswo. Ein Berg (vordere Westerwaldhöhe). Mit Berg Landschaft gern Gästen präsentiert und anderer Aspekt scheint mir nach Aussa- meint der Leutesdorfer die oberhalb des sie gemeinsam mit ihnen genussorientiert ge mehrerer Probanden die gelungene Orts befindliche kulturell geprägte Land- nutzt. Dies sehen auch bereits die jüngs- Ausgestaltung der ineinandergreifenden schaftsformation, abzüglich benachbar- ten Probanden so, zumindest die weibli- Institutionen Kindergarten – Grundschule ter menschlicher Siedlungen – das nahe chen: „Manche Jungen nennen Leutes- – Pfadfinder – Junggesellenverein zu sein, gelegene Dorf Hüllenberg (von Leutesdorf dorf ein Kaff, aber die Mädchen finden es die jeweils unterschiedliche Sozialisati-

15 onsaufgaben übernehmen – offenbar in gestiegen ist. Gelegentlich werden aber gen bzw. vorteilhafte Optionen für die der Regel erfolgreich. Bis in die Genera- auch Ausfahrten zur spezialisierten Gas- Zukunft der eigenen Zeugungsfamilie, tion Golf hinein blicken die jüngeren Leu- tronomie in Neuwied (z.B. eine Sport Bar, die Genussmöglichkeit des Landschaft- tesdorfer Probanden auf eine anschei- überwiegend junge Männer) und Koblenz Ensembles usw. wurden genannt. Bei- nend gelungene Kindheit und Jugend (z.B. Clubs, überwiegend junge Frauen) spielhaftes Zitat eines Probanden der zurück, die sie auch die eigenen Kinder unternommen. Generation Golf: „Ich hänge an der Hei- genießen lassen wollen. Selbst die jüngs- Als besonders positiv wird auch immer mat, am Rhein. Aber ich kann hier auch ten Probanden im Teenageralter äußerten wieder die zentrale Verkehrslage von Leu- meine Ziele als Unternehmer erreichen.“ den Wunsch, im Dorf ansässig zu bleiben tesdorf genannt – also die räumliche Nähe Dass durch das Leben auf dem Dorf auch oder aber den Plan, im Anschluss an ein zu Mittel- und Großstädten wie Neuwied, manchmal die Privatheit bedroht sein Studium in einer möglicherweise weit ent- Koblenz, Bonn und Köln (sieben bis maxi- könnte, wurde von keinem Probanden als fernten Stadt zur Familiengründung nach mal 75 Kilometer entfernt) sowie die Mög- gravierendes Problem in der Gegenwart Leutesdorf zurück zu kehren. lichkeit, vier Flughäfen vergleichsweise betrachtet. Die meisten Probanden – vor allem jene bequem erreichen zu können (Köln/Bonn, unter 40 – schätzen die räumliche Nähe Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hahn). Vereine, politische Gruppen und damit die gegebenenfalls schnelle Alle nach diesem Begriff befragten Pro- Verfügbarkeit von Nachbarn und Freun- banden sahen Leutesdorf als ihre „Hei- Manchmal wird in Leutesdorf geklagt, den in einem Dorf. Die fußläufige Nähe mat“. Manche brachten den Begriff auch das Interesse am Vereinsleben nähme von Freunden und des gastronomischen von sich aus auf. Der Begriff Heimat ab. Genau betrachtet, stimmt das nicht. Angebots ist für den heutigen Leutesdor- schien bei manchen stärker, bei anderen Das Interesse an den Vereinen hat sich fer ein wichtiger Wert. Dies hängt u.a. mit schwächer emotional besetzt. Keiner der lediglich verändert. Mit rund 30 Vereinen der Möglichkeit zusammen, auf bequeme Probanden verwendete den Begriff irrati- bei nur 1.800 Einwohnern steht Leutes- Weise gelegentlich gemeinsam alkoholi- onal oder romantisch überhöht mit Blick dorf bezogen auf Vereinsmitgliedschaf- sche Getränke genießen zu können, also auf eine mystifizierte Gemeinschaft, wie ten immer noch überdurchschnittlich gut ohne Zeitverlust durch eine Anfahrt zur dies von Helmuth Plessner in „Grenzen da. Beispielsweise der Sportverein S.V. Gastronomie und ohne eine Fahrtmög- der Gemeinschaft“ kritisch beschrieben Grün-Weiss Leutesdorf, der Musikverein lichkeit organisieren zu müssen, damit wird. Man führte im Zusammenhang mit Blau-Weiss Leutesdorf und auch der Kir- man selbst entspannt Alkohol genießen Heimat eher die persönlichen Vorteile chenchor Cäcilia verzeichnen gegenüber kann. Dies mag ein Grund dafür sein, auf, die sich mit dem Leben in Leutesdorf anderen Orten am Rhein weit überdurch- dass nach Aussage mehrerer kompeten- oder in manchen Fällen auch generell mit schnittliche Mitgliederzahlen, sowohl bei ter Probanden in den vergangenen Jah- dem Dorfleben ergäben. Mitmenschliche den passiven wie bei den aktiven Mitglie- ren das Interesse junger Leutesdorfer an Kontakte in räumlicher Nähe (Freunde, dern. Gewandelt haben sich stattdessen der einheimischen Gastronomie wieder Nachbarn), schöne Kindheitserinnerun- vielfach die Ansprüche an den jeweiligen

16 Verein und das Maß der Treue zum Verein. kollektives Ausschau halten nach poten- SPD das verminderte Interesse der Mit- War früher die Mitgliedschaft in einem der ziellen Heiratspartnerinnen übernimmt. bürger, im Ort politisch aktiv zu sein, klassischen Vereine auf viele Jahre qua- Der Junggesellenverein ist also im Grun- was vor allem bei den Bürgern unter 30 si Ehrensache, wird die Mitgliedschaft de ein Verein alten Stils, bei dem der in auffällt. Tatsächlich zeigte bei den „Wir heute eher als prinzipiell zeitlich begrenzt einer Satzung formulierte Zweck mehr Leutesdorfer“-Interviews niemand aus gesehen. Dem korrespondiert das ver- oder weniger nur vorgeschoben ist und dieser Altersgruppe politisches Gestal- minderte Interesse an Ämtern im Verein. es eigentlich um Geselligkeit und ganz tungsinteresse am Ort. Das Thema wurde Waren früher in vielen Fällen auf Dauer andere alltagspraktische Dinge im Dorf von keinem der jüngeren Probanden aktiv gestellte Geselligkeit und Kontaktpflege geht. Gleichzeitig verzeichnet gerade angesprochen. Auf entsprechende Fra- im Dorf die wichtigsten Gründe für die dieser „altmodische“ Junggesellenverein gen hin wurde sofort Ablehnung gezeigt, Mitgliedschaft im Verein – und der Ver- nach einer Zeit der Krise seit einigen Jah- manchmal überaus deutlich: „Nein, das einszweck blieb meist deutlich nachge- ren wieder erheblichen Zulauf. Neueste ist nicht meine Stärke.“ Das Thema wurde ordnet – so steht heute das Interesse am Entwicklung: In einer feministischen Aus- bei den Interviews dann nicht weiter de- Vereinszweck häufig an erster Stelle. Mit legung des Leutesdorfer Mottos „Bleib battiert. Die Abneigung gegenüber politi- anderen Worten: Getreu dem Leutesdor- offen – sei nicht stur!“ hat eine resolute schem Engagement als solchem schien fer Motto „Bleib offen – sei nicht stur!“ ist Gruppe junger Leutesdorfer Frauen den aber affektiv weit stärker ausgeprägt zu die Vereinsführung heute mehr denn je KJV quasi geentert, indem sie für sich sein als zum Beispiel eine Ablehnungs- in der Pflicht, den Vereinszweck für ihre die Rolle sogenannter „Ehrendamen“ im haltung gegenüber bestimmten regelmä- (wechselnden) Mitglieder immer wieder Verein reklamierte. Erstmals in der neu- ßiger Vereinsaktivitäten. neu, interessant und zeitgemäß umzuge- eren Geschichte des KJV herrscht nun stalten. Wer das nicht leisten kann, dem vereinsintern ein mehr oder minder ernst- Gastronomie laufen die Mitglieder weg – gern auch in hafter argumentativer Kampf um das den Nachbarort, wo sich vielleicht ein für Satzungsthema „Brauchtum“ – man ist In Leutesdorf existieren derzeit zehn gas- das persönliche Interesse besser geeig- pro Vollmitgliedschaft der Ehrendamen tronomische Betriebe (inklusive Imbiss neter, leistungsfähigerer Verein befindet. (Modernisierung des Vereins - Offenheit) und Ausflugslokale, ohne Straußwirt- Eine interessante Ausnahme stellt der oder dagegen (Festhalten am traditionel- schaften und privat bewirtschaftete Ver- Katholische Junggesellenverein Leutes- len Brauchtum – Sturheit? Oder lässt sich einsheime gerechnet) mit unterschied- dorf (KJV) dar, der traditionsgemäß den das als Offenheit „verkaufen“). Ein wei- lichen, zum Teil nur saisonalen oder sehr vagen Vereinszweck Brauchtum- terer Beleg für die reale Wirkung der für unregelmäßigen Öffnungszeiten. Die drei und Heimatpflege verfolgt, der Sache Leutesdorf bedeutsamen Deutungsmus- Merkmale des klassischen Gasthofs – nach aber für junge Männer die Soziali- ter-Dynamik Offenheit gegen Sturheit. Steh-Theke, Gastraum, Saal bzw. Hinter- sationsaufgabe der Adoleszenzkrisenbe- Beklagt wird von Leutesdorfer Kom- zimmer – besitzt nur noch ein Betrieb, der wältigung über gemeinsames Feiern und munalpolitikern der Parteien CDU und Kurtriersche Hof des Erich Vonhögen. Der

17 Kurtriersche Hof ist deshalb das Stamm- die Lärm-Belästigung durch die Bahn. diskutierte Halbstundentakt nach Ko- lokal praktisch aller Leutesdorfer Vereine Mit einigem Abstand folgt Kritik am Au- blenz bzw. Köln ist für die Probanden und Gruppen. Da absehbar ist, dass der toverkehr auf der B42, wobei dabei die mehrheitlich nicht von großem Interesse. 1960 geborene Wirt in wenigen Jahren in Unfallgefährdung mehr betont wird als Bei den Gesprächen über die geringen den Ruhestand tritt und kein Nachfolger der Lärm. Von einer ernsthaften Lärmbe- Einkaufsmöglichkeiten im Ort überrasch- in Sicht ist, wird diese Alleinstellung des lästigung durch die Schifffahrt sprach nie- te, dass ein Supermarkt zwar begrüßt Kurtrierschen Hofs von praktisch allen er- mand. Insgesamt wurde der Verkehrslärm würde, aber mehrheitlich nicht mit Nach- wachsenen Probanden – auch den jünge- eher als schicksalhaft angesehen, etwas druck gefordert wird. Gewünscht würde ren um die 20 – als prekär und potenziell womit man sich abfinden muss, was an- eher ein Bäcker, was aber von der Mehr- krisenauslösend gesehen. Existiert der gesichts der Vorteile des Dorfes zu ver- heit als unrealistisch betrachtet wird, da Kurtriersche Hof einmal nicht mehr und kraften sei. Versuche mit der Ansiedlung von Bäcke- gibt es bis dahin keine Alternative eines Das in der Kommunalpolitik stark disku- reien im Ort in den vergangenen Jahren geeigneten klassischen Gasthofs im Ort, tierte Thema Hochwasserschutz bewegte offenbar mehrfach gescheitert sind. so ist dies eine ernsthafte Bedrohung der keinen der Probanden, auch nicht jene, Der freitägliche Markt im Ort wurde von Dorfgemeinschaft – diese Einschätzung die Immobilien direkt am Rhein besit- den dazu befragten Probanden mehrheit- war quasi unabgesprochener Konsens zen, zum Teil seit Jahrzehnten. Wenn es lich als nicht bedarfsgerecht und zeitlich aller erwachsenen Probanden. Tatsäch- um Hochwasserschutz ging, dann nur in ungünstig gelegen beurteilt und im Grun- lich würde dann die bis dato wichtigste der negativen Weise, dass die Probanden de abgelehnt. Institution für die öffentliche Kommunika- Schutzmaßnahmen wie die Höherlegung Was den wirklichen Bedürfnissen und tion im Ort wegfallen, mit möglicherweise der Rheinstraße oder Bauten auf der Wünschen der Bevölkerung in den Augen desaströsen Folgen für die Ortskultur, wie Rheinwiese durchweg ablehnten. Keiner der meisten Probanden – jungen wie al- sie aus anderen Orten bekannt sind. Lö- der Probanden sah Veränderungen an ten – tatsächlich entspräche, wäre eine sungsmodelle hatten die Probanden nicht der Rheinwiese positiv. Generell wurde Art größerer Kiosk, wie er zum Beispiel in zu bieten. Einmal wurde die Möglichkeit dies als Gefährdung des herausragenden Köln in den Veedeln üblich ist. Als Ange- der Gründung einer dörflichen Genossen- Leutesdorfer Landschafts-Ensembles ge- bot gewünscht wären Lebensmittel und schaft, mit der gemeinschaftlich ein Gast- sehen. Gegenstände des Alltags, gern zu etwas hof betrieben werden könnte (Beispiel Beim Thema Infrastruktur ging es den höheren Preisen als in den entfernt gele- eines Dorfes im Oberbergischen) erörtert. jüngeren Probanden vor allem um besse- genen Supermärkten in oder re Busverbindungen nach Neuwied. Die Neuwied. Also nicht als Alternative, son- Kritik und Wünsche älteren Probanden halten die Verkehrs- dern als Ergänzung zum regelmäßigen möglichkeiten – Bus, Bahn, vier Flughä- Supermarkteinkauf außerhalb des Dorfs: Im Mittelpunkt der Kritik am Ort steht ein- fen – für ausreichend (Kurzstrecke) bis „Damit ich nicht jedes Mal Kilometer weit deutig der Verkehrslärm, dabei vor allem sehr gut (Mittel- und Langstrecken). Der fahren muss, wenn ich mal was beim

18 Einkaufen vergessen habe“, wie sich ein „eher verschlossene“ Denken: historisch tional-dörflichen Deutungsmuster kaum Mitglied der Generation MTV ausdrückte. verortet in der Vergangenheit des Dorfs, vorstellbar ist. Man sieht die eigentüm- Aber auch für Teenager und die Gäste der geografisch am ehesten im Westerwald. liche Identitätsfigur von leidenschaftlich Jugendherberge wäre dies wohl ein pas- Der Leutesdorfer liebt sein Dorf nach dem begeisterten Dorfbewohnern vor sich, sendes Geschäft. Motto „Wir leben da, wo andere Urlaub denen die Zuschreibung als Bewohner ei- Einen Arzt für Allgemeinmedizin im Dorf machen.“ Es geht dabei also mindestens nes speziellen Dorfs – Leutesdorf – unbe- anzusiedeln wird von den Probanden zu einem großen Teil um den Freizeitwert dingt wichtig ist. Ihre Wertorientierungen nicht ausdrücklich gefordert, da „jeder ja des Orts, wobei Rhein und „unversehr- und Begründungsstrategien sind aber sowieso schon seinen Hausarzt hat“, wie te“ Rheinanlagen die größte Bedeutung strukturell nicht die von Dorfbewohnern, ein Proband betonte. Falls im Zuge des haben. Die starke affektive Bindung des sondern die von weltoffenen Städtern. Umbaus der Löwenburg zu Wohnungen echten Leutesdorfers an seinen Wohn- Die wahrscheinliche Herkunft dieses sich dort ein Arzt ansiedeln würde, würde ort beruht auf Vorteilen des Dorfs aus ungewöhnlichen Deutungsmusters aus dies aber begrüßt. seiner Sicht, die er sachlich auflistet. dem Leutesdorfer Tourismusgeschäft Dazu gehören neben dem Landschafts- des 20sten Jahrhunderts ist den Einhei- Leutesdorfer Deutungsmuster: Erstes Ensemble auch immer Geselligkeit und mischen kollektiv gesehen nicht klar. Das Fazit nach Sichtung von 30 Interviews soziale Nähe. Die Kultur als Weindorf heutige Leutesdorfer Deutungsmuster als wirkt nachrangig – zum Beispiel als gele- Ausdruck lebendiger, moderner Dorfkul- In der aktuellen Selbsteinschätzung sieht gentliche, willkommene Inszenierung für tur scheint mir durchaus zukunftsfähig, sich der Leutesdorfer als offener, kom- öffentliches Feiern. (Wobei natürlich vie- solange die derzeitigen Institutionen der munikationsfreudiger Mensch, der stets le Einheimische als Individuen durchaus Dorfkultur Bestand haben. Das hängt nach positiven Handlungsalternativen gesteigertes Interesse an der Weinkultur wohl unter anderem auch davon ab, ob Ausschau hält, gern neue Menschen ken- haben – nur ist das gewissermaßen ihre eine klassische Gaststätte als Ort der nenlernt und integrationswillige Fremde Privatsache und gehört nicht zum zent- zwanglosen öffentlichen Kommunikation, schätzt. Er wendet sich gegen Sturheit, ralen Bestand dessen, was kollektiv als die Leutesdorfer nach dem Leitsatz „Bleib also gegen unbewegliches Denken und „typisch für Leutesdorfer“ gesehen wird.) offen – sei nicht stur!“ so lieben, auch in mangelnde Flexibilität. Kurz gesagt folgt Irrationale Heimat- oder Gemeinschaft- Zukunft vorhanden sein wird. der Leutesdorfer dem Motto „Bleib offen stümelei ist dem aktuellen Leutesdorfer – sei nicht stur!“ In dieser Geisteshaltung Deutungsmuster fremd. Insgesamt erin- sieht eine starke Mehrheit der Einheimi- nert das Leutesdorfer Deutungsmuster in Köln, im Mai 2018 schen das positiv Besondere, Typische seiner Offenheit und klassischen Libera- Harald Stoffels am „echten“ Leutesdorfer. Gegenmo- lität so stark an die Geisteshaltung eines dell zu dieser Haltung ist für den echten modernen, bürgerlichen Großstädters, Leutesdorfer von Heute das „sture“ und dass ein größerer Gegensatz zum tradi-

19 „Zwei Pfund Fisch für eine Flasche Wein – das war die Währung“ Hans Will (*1935)

Die Vitrine im Wohnzimmer ist vollgestellt fachsten Mitteln gelernt. Dazu baute man dann ging es auf der linken Flussseite zu- mit Dutzenden von Angler-Pokalen, und eine sogenannte Fischbank: ein aus Holz rück, bis sie bei Namedy den Rhein erneut nebenan blubbert eine Pumpe im Aqua- grob gezimmerter Steg, auf dem ein rund querten. Hans Will: „Ich musste rudern, rium: Fische sind die Leidenschaft des zehn Meter langes Stämmchen montiert und Vater fischte mit einer Trötsch. Das Mannes, der passenderweise auch in der wurde. Am äußeren Ende dieses einfachen war eine kleinere Version des Hebenetzes Großen Fischgasse wohnt. „Ich war 37 Krans hing ein 24 Quadratmeter großes der Fischbank, eine Stange mit einem Jahre beim ASV 1972 Segendorf aktiv, Netz, das man in den Rhein sinken ließ. Zwei-Quadratmeter-Netz.“ sonntags meistens als Sportangler auf Nach zehn bis 15 Minuten zog man das Nach einer solchen Vier-Stunden-Fahrt war Tour“, berichtet Hans Will und lacht: „In Netz wieder heraus – und hatte Makrelen, für den kleinen Hans die Arbeit nicht zu Weißenthurm habe ich mal in nur drei Rotaugen, Brassen, Barben oder Nasen Ende: „Ich ging mit einem Handnetz voller Stunden 40 Pfund Fisch aus dem Rhein gefangen: „Mal zwei, manchmal auch 20!“ Fische durch Leutesdorf und handelte mit gezogen. Da war praktisch jeder Wurf mit Hans Will: „Wir setzten die Fischbank den Leuten, die ja alle kaum was zu essen der Rute ein Treffer!“ zuerst ans Kurstück, wo früher der Leu- hatten. Aber selbstgemachten Wein! Zwei Dann erzählt er vom Ursprung seiner tesdorfer Badestrand war, später an den Pfund Fisch kosteten eine Flasche Wein, Freude am Fischen. Hans Will stammt aus Rittweg vor der Kleinen Fischgasse. Vor das war Pi mal Daumen die Währung. einer alteingesessenen Leutesdorfer Hand- allem den Stamm mit dem vollen Netz Gegen den Wein konnte Mutter Tabak oder werkerfamilie. Vater und Großvater waren hochzuziehen, war sehr schwere Arbeit. Mehl eintauschen – so kamen wir durch!“ Stuckateure, was später auch Hans wurde. Weil ich mich dabei geschickter als meine Anfang der 50er Jahre war es mit dem In seiner Kindheit saßen noch drei Brüder Brüder anstellte, obwohl ich erst elf oder Fischbank- und Nachen-Fischen vorbei. und drei Schwestern mit ihm am Tisch. zwölf Jahre alt war, musste immer ich mei- Hans Will: „Durch den wieder zunehmen- „Als mein Vater ein Jahr nach dem Krieg nen Vater begleiten. Dazu holte er mich oft den Schiffsverkehr wurden die Wellenbe- aus der Gefangenschaft zurückkehrte, um drei Uhr früh aus dem Bett. Die Schule wegungen zu stark. Mit der Wirtschaft ging konnte er mit dem Lohn als Handwerker fiel dann aus.“ es ja langsam bergauf und ich war in der allein die hungrigen Mäuler nicht stopfen. Oder es ging mit dem Nachen raus auf den Lehre. Aber die Begeisterung für‘s Fischen Er musste sich was einfallen lassen.“ Rhein, kurz vor Sonnenaufgang, manch- ist mir lebenslang geblieben.“ Karl Will griff auf eine Familientradition zu- mal mitten in der Nacht. Vater und Sohn Hans Will am Leutesdorfer Rittweg, wo in rück. Vor dem Krieg hatten Wills von einem ruderten erst stromaufwärts Richtung Fahr, den Jahren nach dem Krieg die Fischbank Andernacher das Fischen im Rhein mit ein- überquerten den Fluss bei Andernach, seines Vaters stand

20 21 „Durch die Jugendherberge kommt wieder mehr Leben ins Dorf“ Antonia Boden, Julia Hardt, Magdalena Hilberth (alle *2002)

Antonia, Julia und Magdalena sind drei man mal neue Leute! Und vielleicht krie- Mädchen finden es schön hier.“ miteinander befreundete Teenager aus gen wir jetzt auch wieder einen Bäcker.“ Leutesdorf. Antonia und Julia besuchen Und was gefällt Euch hier am meisten? das Rhein-Wied-Gymnasium, Magdalena Magdalena: „Wir finden übrigens auch das Werner-Heisenberg-Gymnasium in alle gut, dass wir jetzt einen Dönerladen Antonia: „Die Natur. Wir gehen alle drei Neuwied. Antonia möchte später zur Po- im Dorf haben. Nach dem Treffen bei gern auf dem Berg wandern und an den lizei, so wie ihr Vater, die beiden anderen den Pfadfindern holen wir uns manchmal Rhein. Oder mit dem Fahrrad zum Was- haben vor, zu studieren. Zum Zeitpunkt einen Döner, gehen damit zum Rhein und serfall an der Hubertusburg. Schwimmen des Interviews waren Magdalena und essen da. Das ist schön.“ im toten Rheinarm vor der Hammerstei- Antonia 14 Jahre alt, Julia 15 Jahre. ner Insel. Da kommen wir gerade her.“ Was stört Euch an Leutesdorf? Wie findet Ihr die Jugendherberge? Julia: „Ich finde auch Großstädte ziem- Antonia: „Die Züge sind nervig. Manch- lich cool. Ich war schon in Paris und Julia: „Ich bin sofort hin, als die Ju- mal kommen Freunde, die sagen, das ist London, das fand ich klasse. Aber ich gendherberge aufgemacht hat. Da kann ja superlaut. Wie kannst Du hier schla- würde immer wieder regelmäßig nach man was kaufen, zum Beispiel Eis. Wo fen? Aber für mich geht’s.“ Leutesdorf zurück kommen.“ gibt’s das sonst in Leutesdorf? Und die Räume, wo man sich aufhalten kann, der Magdalena: „Wir gehen alle drei nach Magdalena: „Genau. Studieren in der große Hof, der Kicker, alles ganz cool.“ Neuwied aufs Gymnasium. Dahin sind Großstadt. Aber dann wieder zurück- die Busverbindungen schlecht. Man kommen.“ Magdalena: „Ich finde es schön, dass die muss nach der Schule manchmal ewig Jugendherberge da ist. Dadurch kommt warten.“ wieder mehr Leben ins Dorf. Bis auf das Winzerfest ist es sonst doch eher ruhig Julia: „Viele Jungs, die von auswärts hier. “ kommen, zum Beispiel aus Heimbach, rümpfen in Leutesdorf die Nase. Und Die drei Freundinnen Antonia Boden, Antonia: „Und im Sommer kommen jetzt sagen: Das ist doch so ein Kaff! Was Magdalena Hilberth und Julia Hardt (von Schulklassen auf Klassenfahrt. Da sieht soll man hier machen? Aber die meisten links) in der Jugendherberge Leutesdorf

22 23 „Für Kosmopoliten ist Leutesdorf ideal“ Dr. Martin Street (*1955)

Er ist ein freundlicher, stiller, zurückhalten- stätte Monrepos (Neuwied), die heute zum Phänomen Nachbarschaft St. Barbara“ er- der Mann. Ruhig trinkt er seine Apfel- Römisch-Germanischen Zentralmuseum zählt. „Gleich im ersten Jahr hatte ich das schorle im Stammlokal „Kurtrierscher Mainz gehört. Hochwasser kniehoch im Haus. Da hab Hof“. Doch in den dunklen Augen blitzt Martin Street werden viele bedeutende ich erst richtig gemerkt, wo ich hingezogen der Schalk. Martin Street, geboren im Funde zugerechnet, die in großen Museen war. Als ich das Wasser langsam kommen nordenglischen Oldham bei Manchester, zu sehen sind. Zum Beispiel die legendäre sah, war ich ziemlich verzweifelt. Doch da hat immer Spaß an einem trockenen, 10.000 Jahre alte Schamanenmaske aus standen plötzlich alle Nachbarn vor meiner britischen Joke. Was kaum jemand in Bedburg-Königshoven: ein Hirschschädel Tür – und lachten. Sie sagten: ‚Jetzt Leutesdorf weiß: Unter Fachkollegen ist mit noch vollständig erhaltenem Geweih. trinken wir erst mal einen Hefeschnaps, der bescheiden auftretende, weißhaarige „An einem Freitagnachmittag im Winter und dann räumen wir Deine Sachen in den Mitbürger eine internationale Berühmtheit. wollte ich gerade Feierabend machen. ersten Stock.‘ Gesagt, getan, und danach Dr. Martin Street ist Archäologe. Sein Da sah ich eine Ecke des Geweihs aus nahmen wir gut gelaunt im ersten Stock Spezialgebiet: Ur- und Frühgeschichte der der Erde ragen. Ich fluchte, denn das ein paar Bier und sahen dem Rhein beim Menschheit. Mit dem Rheinland kam er bedeutete noch mehrere Stunden Arbeit Steigen zu.“ schon während des Studiums in Birming- – Ausgraben um jeden Preis. Die Gefahr, Längst ist der Brite Martin Street, der ham in Berührung: 1974, bei Ausgrabun- dass jemand übers Wochenende den Fund 2016 auch die deutsche Staatsangehö- gen im Erfttal. 1976 war er bei der letzten hätte stehlen oder zerstören können, war rigkeit angenommen hat, ein begeisterter Ausgrabungskampagne in der Fundstelle viel zu groß. Ich grub und grub, Stunde um Bewohner von Leutesdorf: „Das Leben Gönnersdorf (heute Stadtteil von Neu- Stunde. Was ich fand, war wissenschaft- auf dem Dorf, hier im Herzen von Europa, wied) dabei: „Damals kam ich das erste lich gesehen wie ein Lottogewinn.“ ist überaus angenehm. Ich habe Freunde, Mal nach Leutesdorf. Denn die Lohntüten 1987 suchte Martin Street eine Wohnung. kann aber auch für mich sein. In der Nähe wurden immer donnerstags im Restaurant In einer Leutesdorfer Kneipe gab man ihm gibt es mehrere Flughäfen und andere tolle ‚Zur Traube‘ ausgeteilt.“ den entscheidenden Tipp: ein leerste- Verkehrsverbindungen, wenn ich interna- Ab 1980 war Martin Street Grabungs- hendes Haus in der historischen Großen tional unterwegs sein muss. Für mich als techniker auf bedeutenden Fundstätten Pützgasse. Erst wohnte er dort sieben Kosmopoliten ist das ideal. Ich gehe hier in Andernach, im Neuwieder Becken und Jahre lang zur Miete „auf Probe“, und nie mehr weg.“ am Niederrhein. Seit 1985 ist er Wissen- dann erwarb er das Haus. Er lacht, als er Der Archäologe Dr. Martin Street vor seinem schaftlicher Mitarbeiter in der Forschungs- von seiner ersten Begegnung „mit dem Haus in der Großen Pützgasse

24 25 „Ich tue gern etwas für andere Menschen“ Mara Winkens (*1997)

„Ich liebe diesen Ort!“, ruft die Päda- – mit ihrem Vater als Bacchus. Und im und Wanderungen am Rhein oder auf gogik-Studentin Mara Winkens: „Ich November 2017 wurde sie zur Wein- dem Berg. glaube, ich bleibe hier, bis ich 80 bin!“ prinzessin für den gesamten Mittelrhein Bei der Freiwilligen Feuerwehr in Leutes- Die attraktive junge Frau hat offensicht- gewählt. Was bedeutet, dass jetzt dorf ist Mara schon seit dem neunten Le- lich ein Genuss-Verhältnis zu Leutesdorf. mehrere Dutzend Termine auf Weinfesten bensjahr. Man trifft sich alle zwei Wochen Wenn Mara von der Heimat erzählt, anstehen. „Super!“, sagt Mara und ihre am Dienstag: „Die Übungen sind wirklich scheinen über ihrem Kopf rote Ausrufe- dunklen Augen strahlen: „Darauf freue spannend. Es geht um richtiges Feuer, zeichen zu schweben. „Der weite Blick ich mich wirklich!“ um Hilfe bei Unfällen auf der Straße vom Berg aus, die Natur, der Rhein – das Die Tochter einer Krankenschwester, die oder auf dem Rhein. Da gibt’s immer gibt mir so ein wohliges Gefühl. Das ent- aus der Eifel nach Leutesdorf kam, hat viel Action!“ Außerdem gehört Mara als spannt wahnsinnig! Das ist mir doch viel einfach Freude an ehrenamtlichem Enga- „Ehrendame“ zum Katholischen Jungge- lieber, als in der Großstadt zu leben!“ gement. „Ich bin ein Mensch, der immer sellenverein Leutesdorf. Mara berichtet von ihrer schönen gern etwas für andere tut“, sagt sie mit Nur aus einem Bereich hält auch Mara Kindheit und dass sie ähnliche Erleb- entwaffnender Offenheit. Ein Blick auf die Winkens sich heraus, so wie viele ihrer nisse auch einmal den eigenen Kindern Liste ihrer Mitgliedschaften und Ämter Generation: „Mitglied in einer politischen ermöglichen will. Dafür wünscht sie sich zeigt, dass daran wirklich kein Zweifel Gruppe? Nein, darin sehe ich nicht „eine völlig normale Familie in Leutes- sein kann. meine Stärke. Das lasse ich lieber Leute dorf – ganz klischeehaft.“ Auch wenn sie Neben der Aufgabe, den Mittelrhein machen, die Ahnung davon haben.“ durchaus ein paar Nachteile sieht, „dass als Weinprinzessin zu repräsentieren, einen in so einem kleinen Ort jeder kennt. ist Mara auch 1. Vorsitzende der sehr Wenn Du hier im Badeanzug einen Döner beliebten Pfadfinderschaft St. Georg kaufen gehst, weiß es am nächsten Tag (rund 35 aktive Mitglieder in Leutes- das ganze Dorf. Aber das Positive über- dorf). Das bedeutet Mitwirkung bei wiegt doch deutlich.“ Aktivitäten wie Pfingstlager und Klei- Die ideale Botschafterin für Dorf und Re- dersammlung, an Fronleichnam oder gion, denkt man gleich. Das sahen wohl am Winzerfest. Und einmal die Woche Action im Treppenhaus der alten Schule in auch andere so. In der Saison 2016/2017 findet die Gruppenstunde mit den Leutesdorf: Mara Winkens bei einer Übung war Mara Weinkönigin von Leutesdorf Jüngeren statt, oft geht es zu Spielen der Freiwilligen Feuerwehr

26 27 „Ich bin der Sohn der Urgroßnichte von Friedrich Engels“ Christoph Schreyögg (*1947)

Christoph Schreyögg ist ein Mann gesehen war damit meine Mutter die und Gärtnerei geerbt. Damit begann voller Geschichten. Über das Anwesen Urgroßnichte von Friedrich.“ die neuere Geschichte der Marienburg Barockschloss Marienburg, wo er wohnt. Für Leutesdorf ist diese Verwandt- als Sitz eines Guts für Landwirtschaft, Über seine weitverzweigte Familie, der schaftsbeziehung von Bedeutung, weil Obst- und Gartenbau, in die auch die die Marienburg seit demnächst 150 Marie Engels‘ Ehemann Emil Blank im Leutesdorfer Familien Adams und Jahren gehört. Und damit natürlich auch Jahr 1869 die Marienburg kaufte. Das Christen (letztere ursprünglich aus der über sich selbst. „Ich bin ein Nachfahre 1754 fertiggestellte Schloss ist über die Schweiz) involviert waren. Später wurde des Revolutionärs Friedrich Engels“, weibliche Linie nun in der fünften Gene- das Haupthaus des Schlosses zu sieben erklärt der Leutesdorfer dem verblüfften ration in der Familie. Es besitzt übrigens Mietwohnungen umgebaut. Zuhörer. Und, ja, schaut man genau hin, für Leutesdorf weit über das Barock Christoph Schreyögg, Sohn eines Berufs- dann kann man es sehen: Christoph hinausgehende Bedeutung, weil auf ih- soldaten und Malers und einer Fotografin, Schreyögg im Halbprofil erinnert an den rem Gelände vorher die Burg Leutesdorf war viele Jahre in der Leutesdorfer Ju- Kampfgefährten von Karl Marx auf dem stand, mit der möglicherweise schon gendarbeit und für die SPD im Gemeinde- berühmten Dreier-Plakat gemeinsam mit im frühen Mittelalter die Geschichte von rat aktiv: „Leutesdorfer zu sein, bedeutet Lenin. Leutesdorf begann. für mich, zu einer Gemeinschaft zu Der gelernte Gärtner und Erzieher Mit den Vorfahren von Christoph Schrey- gehören und deshalb gewisse Verantwor- Schreyögg ist immer für einen guten ögg kam für die Marienburg eine Schar tungen zu übernehmen – sich politisch Scherz zu haben: „Keine Angst, ich bin illustrer Persönlichkeiten ins Spiel. Der zu engagieren zum Beispiel. Auch meine ganz harmlos, allerdings schon seit der legendäre Fabrikant Carl Vorwerk gehört Mutter und Großmutter waren immer sehr Jugend Sozialdemokrat. Was einen für dazu und die Familie des Lokomotivbau- sozial eingestellt. Für die Zukunft wün- viele Leutesdorfer bereits verdächtig ers Wever aus Barmen. Aber auch eine sche ich mir, dass die Gemeinde mehr macht – die sind so schwarz, die werfen ganze Reihe von Künstlern, so wie Chris- dafür tut, damit ein Supermarkt in den noch im dunkelsten Keller Schatten!“ tophs Großvater, der Bildhauer Georg Ort kommt. Man könnte zum Beispiel ein Doch die Geschichte mit Engels stimmt. Schreyögg, der das Koblenzer Barbara- geeignetes Grundstück übernehmen, das Schreyöggs Ururgroßmutter Marie war Denkmal schuf. der Eigentümer verkommen lässt. Oder die Tochter eines vermögenden Baum- Georgs Ehefrau Marie – Christophs wäre das kommunistisch?“ wollfabrikanten aus Barmen – und Fried- Großmutter – hatte von ihrem Vater Carl Christoph Schreyögg auf der Rheinkrippe rich Engels ihr Bruder. „Genealogisch Vorwerk die Begeisterung für Botanik vor der Marienburg in Leutesdorf

28 29 „Ich bin ein kleiner Patriot“ Norbert Dinter (*1959) und Gianluca Mellone (*1988)

Norbert Dinter wurde in Leutesdorf die Wanderungen. Am Wochenende war man heute besser nicht mehr spricht. geboren und ist Schreinermeister mit in jeder Kneipe Ramba-Zamba.“ Vielleicht hat sich mal jemand geärgert, eigenem Betrieb. Seine Mutter ent- Gianluca: „Es gibt heute weniger Knei- aber am Ende wurde doch gelacht und stammt der Leutesdorfer Winzerfamilie pen, aber der Spaß – auch im Sportver- darüber hinweggesehen.“ Emmerich. Der Vater war Arbeiter und ein – ist derselbe. In den Junggesellen- Gianluca: „Das ist heute anders. Viele kam als Flüchtling aus Schlesien nach verein bin ich mit 15 Jahren eingetreten, rufen gleich die Polizei an, dann gibt’s Leutesdorf. Norbert war 1980 bis 1982 als erster meines Jahrgangs. Da waren großes Palaver, eine Anzeige, manchmal Vorsitzender des Katholischen Jungge- wir vielleicht 20 Jungs im KJV. Heute geht’s sogar vor Gericht. Und die ganze sellenvereins Leutesdorf. sind wir doppelt so viele, und seit drei Bürokratie: Um unsere Kirmes herum Gianluca Mellone wurde in Leutesdorf Jahren machen auch Mädchen als ‚Eh- nehme ich immer zwei Wochen Urlaub, geboren und ist Speditionskaufmann rendamen‘ mit. Das Interesse am Verein damit auch nichts schief geht. Für alles von Beruf. Seine Mutter entstammt einer nimmt wieder extrem zu. Allerdings geht braucht man heute eine Genehmigung, Leutesdorfer Handwerkerfamilie. Der Va- es heute vielen Jungs mehr um Feier- die Geld kostet. Da könnte die Verband- ter ist Anstreicher und Getränkehändler Events als um Heimat- und Brauch- gemeinde auch mal etwas großzügiger und kam als „Gastarbeiter“ aus Süditali- tumpflege. Das stört mich manchmal sein.“ en ins Rheinland. Gianluca ist seit 2013 ein bißchen. Wir machen jedes Jahr Norbert: „Leutesdorf? Ich bin und bleibe Vorsitzender des Katholischen Jungge- zwei große Fahrten: zur Cannstatter Leutesdorfer. Ich möchte nirgendwo sellenvereins Leutesdorf. Wasen nach Stuttgart und zum Jungge- anders leben als hier.“ Norbert: „Meine Zeit im Junggesellen- sellenfest nach Niederlützingen in der Gianluca: „Leutesdorf bedeutet für verein war nur kurz, weil ich schon mit vorderen Eifel. In Niederlützingen treten mich Heimat, Familie, Verbundenheit. 23 geheiratet habe. Aber es waren sehr wir in Vereinskleidung auf: weiße Hose, Sich wohl fühlen, zuhause fühlen. Der intensive Jahre, mit die schönste Zeit in weißes Hemd und Vereinswappen auf Freundeskreis. Die Menschen – und die meinem Leben. Immer Action, immer war der Brust.“ Landschaft. Ich bin ein kleiner Patriot.“ der Teufel los. Praktisch jeder unverhei- Norbert: „Wir haben es damals richtig ratete junge Mann aus Leutesdorf war krachen lassen. Da wurde zur Not auch damals im Verein. Wir hatten um die 100 mal im Eingang einer Sparkasse über- Gianluca Mellone (links) und Norbert Dinter Mitglieder, sind mit zwei Bussen zu den nachtet. Es gab jede Menge Streiche hinter der Theke der Leutesdorfer Gaststätte Festen gefahren. Und dann all die Partys, und auch ein paar Vorfälle, über die „Rheinecker Hof“

30 31 „Ich bewege jede Woche 85 Menschen aus allen Generationen“ Rita Wolf (*1934)

Du stehst in Leutesdorf an der Rhein- äußerlich geht sie locker für zehn bis 15 Dann endlich raus aus Frickhofen. Rita promenade. Ein knallroter Opel zieht Jahre jünger durch. Aber Rita ist auch packt der Ehrgeiz. Sie lernt Einzelhan- vorbei. Du fragst, wer denn die elegante ein As in Integration. Gern spaziert sie delskauffrau, arbeitet in Limburg, Bad Wagenlenkerin sei. „Na das ist Rita! Rita tagsüber am Rhein entlang, spricht junge Ems, schließlich im „Hotel Hubertus“ Wolf! Die kennt bei uns jedes Kind!“ Frauen mit Kindern an. „Wohnen Sie in im Neuwieder Stadtteil Heddesdorf. Rita Wolf ist der weibliche Fitness Guru Leutesdorf? Sind Sie neu? Kommen Sie Aus Kriegszeiten gibt es einen Kontakt von Leutesdorf. Aerobic, Rückenschule, doch mal bei mir vorbei. Bringen Sie Ihr zur Winzerfamilie Will in Leutesdorf. Da Cheerleader-Kurse: Rita Wolf aktua- Kind zur Gymnastik ruhig mit. Ich helfe in der Zehnthofstraße verbringt sie mit lisiert laufend ihr Programm. Belegt Ihnen, andere Mütter kennenzulernen.“ 18, 19 Jahren häufig ihren freien Tag. auch noch im neunten Lebensjahrzehnt Dabei wurde ihr das fröhlich lockere Natürlich fällt das hübsche, lebendige, Fortbildungskurse an der EWH Koblenz. Parlieren nicht in die Wiege gelegt. Sie tatkräftige Mädchen den jungen Männern Verarbeitet Anregungen von ihren Reisen stammt aus Frickhofen, einem abgele- in Leutesdorf auf. Hochzeit mit 22. in die USA, wo der Sohn als Ingenieur genen Dörfchen im Westerwald, wo die „Die ersten Jahre waren schwer. Als tätig ist. Menschen deutlich zurückhaltender sind Fremde wurde man misstrauisch beäugt. Rund 85 Menschen aus Leutesdorf als am Rhein. In Ritas Kindheit war auch Und mir fehlte die rheinische Lockerheit. und Umgebung bewegt Rita Wolf jeden mehr von Arbeit die Rede als von Feiern, Zum Beispiel Damenwahl an Karneval Montag, Mittwoch und Donnerstag. Mit Sport und Spaß. – das ging gar nicht. 1961 gab ich mir Fitness Stunden in der Grundschule. Der Vater blieb im Krieg, und Ritas Mut- einen Ruck und trat in den Möhnenverein Als Sohn und Tochter aus dem Gröbs- ter musste ihre Kinder allein durchbrin- ein. Schon ging’s – die Kontakte waren ten raus waren, fing sie an. Und ist nun gen. Die arbeiteten tagsüber beim Opa da! Es liegt an einem selber.“ schon seit gut 40 Jahren dabei. Was ist in der Landwirtschaft: „Hausaufgaben Und heute, Rita, wie geht’s Dir so? mit Aufhören, Rita, Ruhestand? „Gern, machen begann um neun Uhr abends.“ „Ich geh‘ auf die Menschen zu! Und fühl‘ aber noch ist kein Nachfolger in Sicht. Als die Mutter krank wird, führt Klein-Rita mich sauwohl in Leutesdorf!“ Und die Rückenschule mach‘ ich, bis ich den Haushalt: „Ich war eben das einzige umfalle.“ Mädchen von vier Geschwistern. Dafür Sport ist wichtig, das musst Du keinem wurde ich jeden Tag zwei Stunden von Rita Wolf beim Dorfturnier 2017, mit jungen erklären, der Rita Wolf kennt. Sie wirkt der Schule befreit.“ Cheerleadern des SV Grün-Weiß Leutesdorf, topfit, ihre Rede ist klar, und auch rein die sie ausbildet

32 33 „Die Zeiten waren hart, und wir hatten großen Spaß“ Winfried Breidbach (*1935)

Bunte Blumen wachsen auf mageren Weil sie gern in der Natur waren, gut kamen Zigtausende nach Leutesdorf, Wiesen: Wer mit Winfried Breitbach klettern konnten - und den Weinbau mit von überall her. Aus Andernach, aus der spricht, wird an diese alte Weisheit Methoden betrieben, die man im Dorf für Eifel, mit Sonderzügen von Köln und aus erinnert. „Der Win“, wie man ihn in Leu- „indianisch“ verrückt hielt. dem Ruhrgebiet. „Der Wein war günstig, tesdorf nennt (mit kurz gesprochenem „Wir hatten eine alte 200er Victoria, die Ansprüche waren niedrig, und im „n“) hat tausendundeine verrückte Story mit der mein Vater vor dem Krieg einen Rheingarten des Leyscher Hof brachte aus der Vergangenheit drauf. Doch die Brothandel aufgezogen hatte. Ich nahm mir die Nachbarin Samba Tanzen bei. meisten haben irgendwie auch mit Armut ein altes Heringsfass mit zwei Schulter- Alle wollten wenigstens ein paarmal im zu tun. riemen auf den Buckel und mein Bruder Jahr grenzenlosen Spaß!“ Da ist die Mär von dem Leutesdorfer das Spritzgerät. So sind wir mit dem Mo- Als es mit der Wirtschaft wieder aufwärts Winzersohn, der in der Weltwirtschafts- torrad zum Spritzen den Steilhang hoch ging, wurde Winfried Breitbach Wein- krise nach Amerika abhauen wollte. gedüst, bis es nicht mehr weiter ging. bauingenieur, baute an der Mosel eine Er verkaufte heimlich ein halbes Fuder Einen Traktor konnten wir uns damals Genossenschaft auf, führte in Leutesdorf Wein seines Vaters und setzte sich gen natürlich nicht leisten.“ ein Weinbaulabor und eine bedeutende Hamburg ab. Auf der Suche nach einer Es waren die Zeiten, als jeder irgend- Kellerei, wurde ein wohlhabender Mann. Schiffspassage über den Atlantik fand wie durchkommen musste. Auf den Und dann die Zeit als Vorsitzender des er jedoch nur die Reeperbahn. Ein paar Schwarzweißfotos aus jenen Tagen sucht Verkehrsvereins in den 70ern. Tage später war das vom Vater geklaute man an den Häusern vergeblich nach Aber das sind wieder tausend andere Reisegeld weg, und reumütig kehrte der einem Blumenbeet. Winfried Breitbach: Geschichten… junge Mann in die Heimat zurück. Fortan „Wer ein bißchen freie Fläche oder ein hieß er in Leutesdorf nur noch - „Der Feld hatte, zog Bohnen oder Kohl, alles, Hamburger“. was man essen konnte. Man hat herzlich Der Win, auch mit Anfang 80 noch ein wenig verdient damals. Ich bekam im eindrucksvoll stattlicher Mann, schüttet ersten Lehrjahr 25 Mark im Monat. Das sich aus vor Lachen, dass es dröhnt. reichte noch nicht mal für das Bahngeld Oder die Erzählung vom Anfang der 50er noch Koblenz, wo ich in der Genossen- Winfried Breidbrach am Rheinufer Jahre, als sein Bruder Hermann und er schaftskellerei die Winzerlehre machte.“ vor der „Zinn“ von 1618, die heute zur den Beinamen „Die Indianer“ bekamen. Doch zur Kirmes und zu den Weinfesten Jugendherberge gehört

34 35 „Viele Typen an einem Ort – typisch Rheinland“ Pascal Berger (*1974)

Es ist noch gar nicht lange her, da galten Mit über 50 aktiven Mitgliedern, von denen Beim Führungspersonal setzt der 1954 ge- Blasmusiker in manchen Regionen als rund 30 regelmäßig zur Probe erschei- gründete Verein jedenfalls auf Kontinuität. etwas provinziell. Wirklich anerkannt waren nen – davon inzwischen rund die Hälfte Bevor Pascal Berger übernahm, war 28 die Männer mit Tuba, Trompete und Horn Mädchen und Frauen –, ist Blau-Weiss Jahre lang sein Vater Hans der Chef. Und vor allem in Süddeutschland, Österreich Leutesdorf der wohl größte Musikverein Patricks Leben begann schon mit Blau- und in der Schweiz. Das hat sich völlig ver- am Rhein. Die Aktiven kommen auch aus Weiss: „Als ich auf die Welt kam, beging ändert, wie Pascal Berger, der Vorsitzende Nachbargemeinden und aus Dörfern im der Verein sein 20-jähriges Bestehen mit des Musikvereins Blau-Weiss Leutesdorf Westerwald und in der Eifel. Die spieleri- einem großen Fest, bei dem der englische e.V. erklärt. sche Qualität, das ständig modernisierte Schlagerstar Graham Bonney auftrat. Da- „Heute gehen die Zwölfjährigen mit ihrem Repertoire und die straffe Führung des bei feierte dann mein Vater meine Geburt!“ Blasinstrument stolz ins Gymnasium zum Vereins halten Außenstehende für wichtige Heute sind auch schon Pascals Sohn Luis Musikunterricht und spielen vor ihren Gründe, dass Blau-Weiss so beliebt und und Tochter Lara Jolie mit dabei – dann Freunden. Das Ansehen der Blasmusik- erfolgreich ist. stehen manchmal drei Berger-Generatio- vereine ist total gewachsen. Die Zeiten, Pascal Berger stellt mehr das soziale nen gemeinsam auf der Bühne! als Teenager nur als Rockmusiker mit Miteinander in den Vordergrund: „Wir sind Verantwortlich für den landauf landab be- Elektrogitarre Eindruck schinden konnten, wie eine Familie. Das ist nicht übertrieben.“ kannten Schlachtruf von Blau-Weiss, der sind vorbei!“ Und der Spaß steht für ihn genauso im sich schriftlich nur schwer vermitteln lässt, Aber alles hat auch eine Kehrseite, gibt Fokus. „Bei uns geht es locker zu und es ist übrigens Flügelhornist Leo Selt: ein der Druckereileiter vom Neuwieder wird viel gelacht. Eine Ostdeutsche, die waschechter Leutesdorfer mit zweigiebli- Heinrich-Haus zu: „Früher konnte man im jetzt in Hammerstein lebt, sagte mal zu mir, gem historischen Haus an der Rheinstraße. Blasmusikverein einfach so mitmachen. sie habe in ihrem ganzen Leben nicht so Bei Leo wurde 1977 die Fernsehreihe „MS Heute sind die Ansprüche beim Publikum viel gefeiert wie bei uns in zwei Jahren.“ Franziska“ gedreht – aber das ist wieder viel größer. Ein Anfänger muss zwei bis Jedenfalls gefällt Pascal Berger die Vielfalt eine andere Geschichte… drei Jahre üben, bis er öffentlich mitspie- im Verein: „Das ist typisch Rheinland. Jede len kann. Bei manchen Stücken gibt es Menge Leute aus unterschiedlichen Orten Blau-Weiss Leutesdorf: Der große Trom- 20 unterschiedliche Notenblätter für die kommen zusammen.“ Dazu passt, dass peter in der Mitte ist Pascal Berger, rechts Instrumente. Da muss jeder seine Stimme Pascals Frau nicht aus der Mittelrhein- von ihm mit Tuba sein Vater Hans, links mit hundertprozentig beherrschen.“ Region sondern aus Duisburg stammt. Perücke Flügelhornist Leo Selt

36 37 „Für Leutesdorf war ich damals der Exot“ Dieter Bartsch (*1945)

Vor neun Jahren war für Dieter Bartsch ße. Mal die Weinberge hoch zur Klopperei weg. 80 Meter lang, noch mehr Fracht. Schluss. Er hatte keinen Spaß mehr am mit den Jungs aus Hüllenberg und mal an Schrott nach Kehl, Draht nach Mülheim/ ewigen Rhein: Rotterdam – Basel, hin- und den Rhein.“ Im Sommer, sie waren acht, Ruhr - undsoweiter. zurück. Eineinhalb Millionen Kilometer war neun Jahre alt, sind sie am Leutesdorfer Die Firma boomt. Und Freizeit ist teuer er gebrettert in knapp 50 Jahren. Tagein, Kurstück ins Wasser. Rausgeschwommen – die Kosten des Schiffs machen keine tagaus kurz nach vier Uhr früh raus aus zur Fahrrinne, rangehangen ans Schiff und Pause. Leutesdorf sieht Dieter Bartsch nur der Koje. Ablegen um fünf, Feierabendbier mitgefahren bis oberhalb von Andernach. noch selten. Und wenn, dann in hoch- vielleicht gegen 20.00 Uhr - gern auch ein Zurücktreiben lassen nach Leutesdorf und konzentrierter Form. „Nachmittags fest bißchen später. „Irgendwann is‘ genug“, wieder von vorn. „Das war unsere Jugend, machen. Schnell einkaufen nach Neuwied. sagt Dieter Bartsch, „das spürst Du.“ knüppelhart!“, erzählt Dieter: „Ja, das kann Rein in die Kneipe oder aufs Winzerfest. Jetzt ist er im Ruhestand, „der letzte man heute schön romantisch erzählen. Spätestens morgens um sechs wieder Mohikaner“ unter den selbständigen Aber es sind auch viele ertrunken. Allein die Leinen eingeholt. Das war’s dann mit Partikulieren aus Leutesdorf: „Ich war der zwei, die ich gut kannte.“ Freizeit für zwei bis drei Wochen.“ Exot – das ist nun vorbei.“ Er hat es zu Mit gerade 15 Jahren ist er abgehauen Das war’s dann irgendwann auch mit Ehe etwas gebracht: Das Alter gesichert – und nach Duisburg, gegen den Willen des Nummer eins. Und seit auch „Tante Olga“ mehr als das. Er hat wieder geheiratet, Vaters. Er kam zurück mit dem Lehrver- nicht mehr da ist, der Tanzschuppen mit zum zweiten Mal, sieht topfit und glück- trag in der Hand. Der Vater gab nach. Drei den hübschesten Mädchen in Ruhrort, lich aus, wie er mit seiner Frau so dasitzt, Jahre Schulschiff bis zum Bootsmann. da wo einem die Wirtin mit dem Glasau- in schwarzem T-Shirt und Jeans auf der Schiffsführer mit 25, Großes Rheinpa- ge wirklich alles verzieh, macht auch die Lieblingsbank am Rhein. Es ist Frühling, tent. Drei Jahre später gründet er mit fünf Nacht im Hafen nur noch wenig Spaß. die Sonne kommt raus. Dieters Frau sagt, Kollegen eine Firma. Jeder leistet sich per Dieter Bartsch ist wieder zuhause. Er ge- dass er im Schlaf manchmal redet: „Wo ist Pachtkauf ein eigenes Schiff – gemeinsam nießt das Leben in seiner Nachbarschaft. der 30er Schlüssel?“ Die Maschine kaputt sind wir stark! Dieters MS Frankenwald ist Er möchte, dass Leutesdorf eine neue An- – Drama! Im Traum ist er dann wieder der praktisch neu. 100 Meter lang, 9,50 Meter legestelle baut. Damit mehr Ausflugsschif- Chef auf seinem Schiff. Er lächelt. Einmal breit, 2.000 Tonnen oder 102 Container fe Touristen bringen können. Der Rhein Schiffer, immer Schiffer. Irgendwie schon. Tragkraft. Ein tolles Schiff – ein stolzer lässt ihn nicht los, keine Chance. „Ich war als Junge ein bißchen wild“, sagt Partikulier. Und manchmal schiebt Dieter Dieter Bartsch auf der Krippe vor dem er und grinst. „Wir waren nur auf der Stra- Bartsch zusätzlich einen Leichter vorne Erstdorf in Leutesdorf

38 39 „Ich bin eine moderne, sehr selbständige Frau – und liebe das Dorfleben“ Johanna Schneider (*1996)

Freude am Dorfleben? Liebe zur Heimat? könnte. „Der KJV war ein reiner Männer- USA gezogen. Da wo alle Männer karier- Wer bei diesen Themen an verstaubte verein. Wir überzeugten den Vorstand, te Hemden und Cowboystiefel tragen.“ Kino-Schnulzen der 50er Jahre denkt junge Frauen als Ehrendamen zuzulas- Sie lacht: „Ich brauchte das, um meinen („Grün ist die Heide“, „Drei Mädels vom sen. Inzwischen sind wir schon 20, hel- American Highschool Traum auszuleben. Rhein“), der sollte mal die Studentin fen bei bestimmten Diensten und binden Übrigens kannte auch in Blackfoot Jeder Johanna Schneider befragen. den Kirmeskranz.“ jeden, und alles war so dörflich klein, „Ich fühle mich der Heimat verbunden. Der Sinn für Brauchtum liegt bei der dass ich die Freunde zu Fuß besuchen Das Dorfleben gefällt mir sehr“, sagt angehenden Sonderpädagogin in der Fa- konnte. Cool – ganz ähnlich wie in Leu- die hübsche junge Frau mit den strah- milie. Schon Großvater, Vater und Onkel tesdorf.“ lend blauen Augen gerade heraus. Und waren Bacchus in Leutesdorf. Johanna Klar will sie noch mal was anderes sehen warum? „Weil hier Jeder jeden kennt setzt die Tradition als Weinkönigin in der als die Heimat - die große Stadt erleben und Jeder für einen da ist, und weil das Saison 2017 / 2018 fort: „Jedes Mäd- zum Beispiel. Und wer weiß schon, immer so bleibt. Dieses Gefühl, zuhause chen träumt davon, einmal eine Krone zu wo in näherer Zukunft ihr Zuhause sein zu sein, von Schutz und Geborgenheit tragen. Und Leutesdorf als Weinkönigin wird? Aber für heute ist es Leutesdorf, mag ich besonders.“ zu vertreten, fällt mir wirklich leicht. Die sagt sie. Und spätestens, wenn es ans Die ältere von zwei Töchtern eines Weinberge, die Lage, die Rheinprome- Familie gründen geht, will sie wieder hier Medizintechnischen Kaufmanns und nade, die großartigen Veranstaltungen sein: „Weil Kinder es hier wunderschön einer Marketing Managerin schätzt den wie Tafeln am Strom und Winzerfest – ein haben.“ sozialen Zusammenhalt in Leutesdorf. Traum.“ Aber wenn wirklich Jeder Dich kennt und „Wie schön das ist, wird einem schon Johanna sagt, dass ihre Begeisterung für alles über Dich weiß - kann das nicht im Kindergarten vermittelt. Viele meiner Heimat und Tradition zu einem moder- auch manchmal nerven, Johanna? Freundschaften aus dieser Zeit halten bis nen Frauenbild hervorragend passt. „Ich „Es ist ja nicht ganz so“, antwortet Jo- heute.“ bin auf jeden Fall ein sehr selbständiger hanna und lächelt sehr fein. „Nicht Jeder Nach Kindergarten und Grundschule war Typ. Ich habe schon als Schülerin mein weiß alles. Die hohe Kunst der Diskretion Johanna bei den Pfadfindern Mitglied. eigenes Geld verdient und ehrenamtlich lernt man auf dem Dorf ganz nebenbei.“ Dort kam ihr mit zwei Freundinnen die Ferienfreizeiten geleitet. Und direkt nach Idee, dass dem Katholischen Jungge- der Realschule bin ich für ein Jahr in eine Johanna Schneider auf der Leutesdorfer sellenverein etwas Weiblichkeit gut tun Kleinstadt im ländlichen Nordwesten der Rheinwiese vor der Drosselgasse

40 41 „Jesocks passt nicht zu meiner Tapete“ Erich Vonhoegen (*1960)

Dieser Mann ist eine Rarität. Eines der sauber halten. Jesocks passt nicht zu mei- Und Jaki sagt zu seinem 18-jährigen Sohn: seltenen Exemplare aus der bedrohten Art ner Tapete.“ Was mit „Jesocks“ gemeint ist, „Junge, ich kann nicht mehr. Übernimm Du erstklassiger Gastwirte. lässt sich abstrakt schwer vermitteln. Man den Betrieb.“ Erich: „Als Leutesdorfer war Seit 35 Jahren führt Erich Vonhögen den muss es einmal erlebt haben, wie der Wirt mir klar: Ich gehe nach Hause.“ „Kurtrierschen Hof“. Das Stammlokal einen unpassenden Gast zum Gehen auf- Was dann folgt, all die Erfolge und Rück- praktisch aller Vereine und bedeutenden fordert, um zu verstehen, was Jesocks ist. schläge, das Beinahe-Aus nach den bei- Gruppen im Ort. Die Kommunikations- Erich Vonhögen stammt aus einer ural- den Jahrhundert-Hochwassern 1993 und zentrale von Leutesdorf, wenn man so ten Familie, deren Wurzeln sich vage bis 1995, die Dramen in der Familie, Krankheit, will. Junge und Alte, Männer und Frauen, zur Hugenottenverfolgung in Frankreich Tod und neues Glück, bietet genug Stoff Gewohnheitstrinker und Apfelsaftschlürfer zurückverfolgen lassen. Über Belgien und für ein dickes Buch. Hier nur soviel: Erich – jeder bespricht hier alles mit jedem, gern Holland gelangten die Vonhögens an den Vonhögen hat offensichtlich ganz viel Gu- auch flankiert von Currywurst, Schnitzel deutschen Niederrhein. Im Familien-Gen tes aus seiner Familie geerbt - unbändige und Fritten. Und hinter der Theke thront steckt eine große Begabung für Selbstän- Arbeitskraft und sicheren Geschäftssinn, mit versonnenem Lächeln Erich Vonhö- digkeit und erfolgreiches Unternehmertum. deftige Bodenständigkeit und beinharte gen – ein bisschen wie Captain Kirk im In Leutesdorf sind die Vonhögens seit Krisenfestigkeit. Kommandoraum der Enterprise. dem frühen 20sten Jahrhundert bekannt. Heute hat Erich Vonhögen seine beiden Jedem, den etwas persönlich bewegt, Erichs Vater Rudolf Jakob, genannt „Jaki“, Töchter versorgt, ist zum zweiten Mal gibt der Wirt gern einen guten Rat. Der ist begann als Winzer. Dann gründete er zu- glücklich verheiratet und ein gemachter meist verpackt in eine Lebensweisheit, sätzlich ein Fuhrunternehmen, dann einen Mann. Der „Kurtriersche Hof“ bleibt für die er von seinen Eltern – Vorbesitzer des Kohlenhandel noch dazu. In den 70er ganz Leutesdorf geöffnet, täglich au- „Kurtrierschen Hofs“ – geerbt hat. Zum Jahren wird Jaki auch noch Gastronom. ßer mittwochs, egal, ob es stürmt oder Beispiel: „Für Neid musst Du hart arbeiten. Sohn Erich schickt er nach der Realschule schneit, oder was sonst so in der Welt pas- Mitleid kriegst Du umsonst.“ Oder: „Kleide zur Winzerlehre an die Nahe: zum bekann- siert. Mit einer Ausnahme: Wenn der Rhein Dich in Sack und Asche. Tue recht und ten Schlossgut Diehl an Burg Layen. 1978 die Andernacher Pegelmarke 8 Meter zehn scheue niemand!“. Auch sein Erfolgsrezept schafft Erich den Abschluss als Jahrgangs- überschreitet, dann hat der Fluss die The- als Gastronom presst er in einige weni- bester. Hat Studienplatz und Stipendium ke im „Kurtrierischen Hof“ ganz für sich. ge Worte: „Du musst immer da sein und in der Tasche, Lob vom Chef und die kom- möglichst alles selbst tun. Und die Kneipe mende Karriere als Betriebsleiter im Blick. Ein Mann, eine Theke: Erich Vonhoegen

42 43 „Es fehlen Läden – aber unsere Dorfgemeinschaft funktioniert“ Esther Döring (*1980)

„Die Infrastruktur ist schlecht. Läden zentrale Verkehrslage als echten Vorteil sagt Esther: „Die ist immer hilfsbereit, fehlen. Es gibt zu wenig Kneipen für den für Leutesdorf. „Das zieht viele Familien hilft wirklich gern. Mein Vorbild“. Ort. Auch eine Arztpraxis wäre gut. Und an. Gute Häuser sind hier schnell ver- Esther Döring ist die älteste von zwei es ist schon blöd, dass man extra drei, kauft.“ Neben der schönen Landschaft Töchtern eines Leutesdorfer Winzer vier Kilometer Auto fahren muss, wenn und den bedeutenden Freizeitmöglich- Ehepaars. Nach dem Fachabitur lernte man beim letzten Einkauf vergessen hat, keiten wertet Esther Döring das soziale sie Bauzeichnerin in Andernach. Das ein Brot mitzubringen.“ Kapital des Dorfs als seinen vielleicht anschließende Architekturstudium in Die Leutesdorferin Esther Döring weiß, bedeutendsten Asset: „Die Leutesdorfer Koblenz schloss sie 2006 mit einer Dip- wovon sie spricht - die Mutter von zwei sind offene Menschen. Man kommt hier lomarbeit über den Hamburger Spreeha- Kindern ist studierte Architektin mit sehr leicht ins Gespräch. Die Dorfge- fen ab. Neben der Familie – ihre Kinder Schwerpunkt Stadtplanung. Deshalb meinschaft funktioniert.“ sind zehn und sieben Jahre alt – arbeitet sieht Esther Döring auch realistisch klar, Sie berichtet an einem Beispiel, wie sie in der Firma ihres Ehemannes mit, dass wirklich alles stimmen muss, wenn Vergemeinschaftung auf Leutesdorfer Art der in Leutesdorf das Unternehmen für heute ein Ladengeschäft in Leutesdorf vor sich geht. „Ich habe ein junges Paar Energietechnik Plant Engineering GmbH Erfolg haben soll. mit Kind angesprochen, das neu war im betreibt. „Ein reiner Bäcker zum Beispiel rechnet Ort. Dem Mann habe ich gesagt, dass Ja, sie ist eine überzeugte Leutesdor- sich hier wohl nicht. Er müsste schon zu- er zum Fußballtraining der Alten Herren ferin: „Wenn man hier geboren ist, ist sätzlich ein Café mit Sitzplätzen und Ku- vom SV Grün-Weiß kommen soll, da, wo man hier verwurzelt und will bleiben. Die chen anbieten. Dafür braucht es natürlich auch mein Mann aktiv ist. Das hat der Weinberge, der Rhein – was willst Du unternehmerische Risikobereitschaft.“ junge Mann getan und sich damit integ- auch mehr? Doch warum ein Supermarkt in Leutes- riert. Sie habe ich in die Krabbelgruppe dorf nicht gewinnbringend zu betreiben der KFD mitgenommen. Da hat sie ande- sein sollte, versteht auch Esther Döring re junge Frauen mit Kind kennengelernt nicht – zumindest die Flächen wären da. – so läuft das bei uns. Nach der ‚Start- „Ich habe deshalb an eine der großen hilfe‘ muss die betreffende Person dann Ketten einmal einen Brief geschrieben.“ natürlich auch selbst was tun.“ Doch eine Antwort kam nie. Dass man aktiv auf andere Menschen Andererseits sieht die Stadtplanerin die zugeht, hat sie von ihrer Mutter gelernt,

44 Esther Döring mit ihrem Hund Marie im Auenwäldchen „Am Sejes“, das entlang des Rheins Leutesdorf mit dem Nachbarort Hammerstein verbindet

45 „Probleme der Bürger zu lösen, hat mir große Freude bereitet“ Erich Schneider (*1948)

Wenn es einen Titel „Mr. Leutesdorf“ folg geleistet hat, in Erich Schneiders ak- Mittelrheintal die erste ihrer Art. Heute gäbe, dann müsste man ihn Erich Schnei- tivste Zeit fallen Impulsgebung, Planung existiert rheinabwärts von Koblenz ein der verleihen. Auf Lebenszeit, versteht oder Umsetzung einer Reihe bedeutender flächendeckendes Netz aktiver Gruppen, sich. Denn der Sohn eines selbständigen Leutesdorfer Projekte. Darunter das und manches wurde schon erreicht. Raumausstatters hat über ein halbes Gemeindezentrum mit Dorfmuseum in der Ziel ist jedoch der Bau einer alternativen Jahrhundert aktive Vereinsmitglied- Oelbergstraße, die Jugendherberge am Trasse durch Westerwald und Taunus, die schaften und Kommunalpolitik auf dem Rhein und die Erneuerung des angren- das Mittelrheintal vom Güterverkehr ent- Buckel. Auch an der Schwelle zum achten zenden Kindergartens. Aber auch die lastet. Dafür machen die Leutesdorfer und Lebensjahrzehnt ist der hellwache, frühere Gründung des bis heute hoch agilen Ar- ihre Partnerinitiativen Einfluss im Bundes- Bankkaufmann in rund 20 Gruppen, Gre- beitskreises Kultur im Verkehrsverein vor tag geltend und finden sich regelmäßig zu mien und Initiativen engagiert. Niemand 36 Jahren war eine wichtige Wegmarke. Demonstrationen zusammen. „Man muss aus seiner Generation hat so viel für Für Erich Schneiders „Freude an der den Druck aufrecht erhalten!“, erklärt Leutesdorf gegeben wie er. Gestaltung des Dorflebens“ bilden solche CDU-Mann Schneider (Mitglied seit 1972) Ganz ohne Schmeichelei darf man sagen, Highlights aber nur die winzige Spitze kämpferisch. dass der frühere Bürgermeister von des Eisbergs der ehrenamtlichen Arbeit. Der Kampf gegen den Bahnlärm berührt Leutesdorf (1989 – 2009) ein bescheide- „Gerade als Bürgermeister gib es so auch sein Engagement für den Werterhalt ner Mann geblieben ist. Egal wie oft und unwahrscheinlich viele kleine Dinge. Die der Immobilien im Ort. „Das und insge- lange man ihn nach seinen persönlichen Menschen kommen mit den unterschied- samt der ständige Prozess der Dorferneu- Erfolgen fragt, man erhält doch nur ruhig lichsten Problemen und Problemchen zu erung ist für mich von großer Bedeutung. gesprochene Antworten dieser Art: „Man Dir. Das war für mich das eigentlich Wich- Dass die Häuser im Ortskern einen guten ist da so hineingerutscht.“ – „Man leistet tige – dass die Menschen merken, dass Eindruck machen, berührt das positive ja nichts allein. Wir waren eine tolle Clique sich solche Dinge erledigen lassen. Oder Lebensgefühl aller Bürger in Leutesdorf ungefähr Gleichaltriger auf gleicher Wel- manchmal eben auch nicht. Dann galt es genauso wie das unserer Gäste.“ lenlänge.“ – „Kommunalpolitik ist einfach zu erklären, warum nicht.“ eine großartige Sache. Man kann sich mit In der Gegenwart liegt Erich Schneider Kämpfer gegen den Bahnlärm: Josef Vogel, allem befassen, was einen interessiert. besonders die Leutesdorfer Initiative Traute Lorenz, Robert Dill, Erich Schneider, Nur das Geld markiert die Grenze.“ gegen den Bahnlärm am Herzen. Die wur- Sabine Emmerich (von links) auf der Wer auch immer wie viel für welchen Er- de 1996 gegründet und war im unteren Laurentiusbrücke

46 47 „Ich bin die netteste Wirtin vom Mittelrhein!“ Carla Maur (*1954)

Diese Frau ist eine starke Marke. Am tionsreichen Leutesdorfer Familie. Carlas Ob einer ihrer beiden Söhne einmal den Mittelrhein und weit darüber hinaus. Ihre Vorfahren waren Winzer, Ladenbesitzer, Betrieb übernimmt, oder wie die Nach- Erkennungszeichen sind vielen Tausend Postmeister im Ort. Ihre Eltern – der folge sonst aussehen könnte, ist für Rhein-Liebhabern bekannt: Energiegela- Vater Winzer, die Mutter Köchin – führten Carla heute kein Thema. „Der ‚Leyscher dene Ausstrahlung und herzlicher Charme, ab 1964 den Leyscher Hof: „Da war ich Hof‘ ist mein Leben. Ich mache mindes- verpackt in ein zünftiges Dirndl, zu dem noch keine zehn Jahre, als meine Mutter tens weiter, bis ich 75 bin. Frag mich sie stets knallrote Turnschuhe trägt. sagte, so, jetzt musst Du mithelfen. Eine dann noch mal!“ Carla Maur ist seit 1989 Chefin des Ley- Viertelstunde Geschirr abtrocknen am scher Hofs in Leutesdorf, der vor allem Tag – das war mein erster Job.“ mit seinem traumhaften romantischen Nach der Mittleren Reife lernte sie Ho- Rheingarten Menschen von überall her telkauffrau in Bad Godesberg und Köln. anzieht. Wer im Schatten der uralten Bei der berühmten Luxushotelgruppe Platanen, Kastanien und Ahornbäume Kempinski, die ihr nach der Gesellen- regionale Küche und Leutesdorfer Wein prüfung eine Stelle in Berlin anbot: „Das bestellt, erhält von Carla jede Menge war natürlich nicht drin. Ich musste in Geschichten als kostenlose Beigabe. den elterlichen Betrieb. In den ruhigen Zum Beispiel die über Dreharbeiten Wintermonaten durfte ich aber raus. Da mit Volksmusik-Star Heino, der bei ihr arbeitete ich in Bad Tölz, in der Rhön besonders ausgelassen gefeiert wurde. oder im Spessart, um zusätzliche Erfah- „Ich hatte 50 Komparsen aus Leutesdorf rungen zu sammeln.“ Carla Maur in ihrem Rheingarten (180 als Publikum organisiert. Und denen ser- Diese Eindrücke kamen Carla zugute, Sitzplätze) mit Blick auf Andernach. Das vierten wir dann richtigen Riesling. Statt als sie mit 34 Jahren den Leyscher Hof Gebäude des Gasthofs wurde im 17. Jahr- Apfelsaft, der nur wie Wein aussieht, wie übernahm. Sie setzte viele neue Ideen hundert von Adligen aus dem Geschlecht das sonst im Fernsehen üblich ist. Der in die Tat um. Das brachte ihr Publicity Von der Leyen errichtet. Es besitzt seit etwa 120 Jahren einen Saal, der für 250 Personen Riesling brachte die Leute dann auch in und Auszeichnungen ein – zum Beispiel Platz hat. Carla: „Den Saal vermiete ich den echte tolle Stimmung!“ die im Bundeswettbewerb „Historische Leutesdorfer Vereinen für ganz kleines Geld. Carla Maur ist die älteste von vier Wirtshäuser“ oder die als „Netteste Wir- Das ist mein Engagement für unser Schwestern und stammt aus einer tradi- tin vom Mittelrhein.“ Dorf – Ehrensache.“

48 49 „Leutesdorfer schätzen die leichte Muse“ Thomas Hohn (*1970) alias Tom Alaska

„Leutesdorf ist ein sehr musikalisches mit Udo-Jürgens-Klassikern wie „Sieb- ziehen. Das einzige, was mich stört, ist Dorf.“ Das sagt ein Mann, der es wirklich zehn Jahr, blondes Haar“ und „Grie- die Lage der Gastronomie im Ort. Als wissen muss. Thomas Hohn wurde wie chischer Wein“ hatte er 2010 in seinem Künstler arbeitet man oft bis spät und seine Eltern in Leutesdorf geboren, und Heimatort. „Auf Anhieb kamen 70 bis 80 geht dann gern noch mal aus auf ein er stammt aus einer hochmusikalischen Leute. Die hörten und guckten sich das Glas. Doch in Leutesdorf werden die Familie. Der Vater und ein Onkel zweiten ein paar Lieder lang an, dann klatschten Bürgersteige schon am frühen Abend Grades waren als Kirchenmusiker tätig, und sangen sie mit. Ein tolles Erlebnis!“ hochgeklappt.“ Organisten und Leiter von Chören. Er So fand Thomas Hohn allmählich den selbst bekam schon als Sechsjähriger Mut, den Ingenieurberuf an den Nagel Klavierunterricht, lernte später zusätzlich zu hängen und sich den Traum vom Trompete und Gesang. Leben als Profi-Musiker zu erfüllen. Seine besondere Art der Interpretation Und warum soll Leutesdorf so musika- kommt gut an. Rund 40 Auftritte jährlich lisch sein? absolviert Thomas heute als Tom Alaska, Tendenz steigend, überwiegend im „Das Weinlaunige prägt die Menschen heimatlichen Rheinland-Pfalz, aber auch hier, diese über viele Generationen in angrenzenden Bundesländern oder gewachsene Identität als Weindorf. Eine in Österreich. Er spielt Konzerte in der Kultur, die seit jeher mit Musik verbunden gehobenen Gastronomie, gelegentlich gewesen ist. Wobei man hier überwie- auch bei Firmen- und Familienfeiern und gend die leichte Muse schätzt. In Winnin- füllt auch schon mal Konzerthallen mit gen an der Mosel ist das ähnlich.“ über tausend Plätzen. „Ich kann davon Der Mann mit dem markanten Unter- leben. Das Einkommen ist niedriger als in lippenbärtchen und dem jungenhaften meinem alten Beruf, aber es gibt einfach Lächeln kam in den vergangenen Jahren nichts schöneres, als Musiker zu sein.“ viel herum. Als „Tom Alaska“ singt er Lie- Die Home Base bleibt weiterhin Leutes- Große Gefühle: Thomas Hohn alias Tom der von Udo Jürgens und begleitet sich dorf, wo auch sein Haus steht: „Es gibt Alaska am Flügel, bei einem Konzert im dabei am Klavier. Den allerersten Auftritt für mich keinen Grund, von hier wegzu- Werner-Heisenberg-Gymnasium in Neuwied

50 51 „Ich habe Lust daran, Verantwortung zu übernehmen“ Axel Schmitz (*1980)

„Bei uns gibt’s kein Geld zu verdienen. ich hab Lust daran, Verantwortung zu schnell zurecht. Und ihr habt’s hier auch Die Kameradschaft zählt. Das Entschei- übernehmen“. – „Ich will auch Vorbild einfach sehr schön‘ ‚Stimmt‘, antworte dende bei uns ist der Spaß!“ sein für andere, die nach mir kommen.“ ich dann.“ So charakterisiert Axel Schmitz seinen Axel lobt seine Freunde und Vorstands- Verein, den SV Grün-Weiß Leutesdorf kameraden: „Es gibt viele Leute in e.V. Der Mann mit der Huub-Stevens- meinem Hintergrund, die mich unter- Gedächtnis-Frisur ist kein Freund weit- stützen.“ Besser lässt sich der Kern schweifiger Reden oder blumiger Worte. erfolgreicher Vereinsarbeit nicht auf den Seine Aussagen kommen eindeutig, klar Punkt bringen. und direkt. Rund 280 Mitglieder, davon 40 bis Axel Schmitz, Beruf Großhandelskauf- 50 aktiv: Für einen Ort von der Größe mann, ist seit 1985 beim SV Grün-Weiß. Leutesdorfs ist der SV Grün-Weiß ein In der Mannschaft war Axel erst Torwart, echtes Pfund. Im Gegensatz zu vielen dann Stürmer, jetzt steht er wieder Vereinen in der Region, die in Spiel- zwischen den Pfosten. In der Hierarchie gemeinschaften mit anderen Orten des Vereins war er Jugendleiter, Bei- aufgehen mussten. Dagegen wollen sitzer, dann zweiter Mann im Vorstand. immer mehr Nicht-Leutesdorfer beim SV Seit November 2014 ist er als 1. Vor- Grün-Weiß kicken, obwohl der Verein sitzender das Gesicht von Grün-Weiß. traditionsgemäß in einer der unteren Was vor allem eines bedeutet - viel, viel Ligen auftritt. „Weil wir seit 2016 einen Arbeit, regelmäßig und verbindlich. Bis Naturrasenplatz haben. Das schönste, zu sechs Stunden die Woche, schätzt was es für einen Spieler gibt. Aber das Axel, gerechnet ohne die Trainingsein- ist es nicht nur, warum man beim SV heiten und die Spiele als Aktiver. Warum Grün-Weiß spielen will.“ tut man sich das an? Was ist es denn noch? „Mein Vater war auch schon im Vor- „‘Ihr seid hier offener als die Leute in Axel Schmitz (Vordergrund) mit Spielern stand aktiv“. – „Ehrenamt ist wichtig“. vielen anderen Dörfern‘, sagen viele, des SV Grün-Weiß auf dem Leutesdorfer – „Ich hab Spaß an Aufgaben“. – „Und ‚als Auswärtiger kommt man bei Euch Vereinsgelände

52 53 „Für unsere Stumm-Orgel gebe ich mein letztes Hemd“ Elvi Hubert (*1956)

„Frauen als Organisten waren früher finden doch für 50 Mark ein gebrauchtes am bedeutenden Bischöflichen Institut undenkbar. Die katholische Kirche war Instrument. Küster Helmut Wershofen ist für Kirchenmusik in Mainz. 2001 ist die eine reine Männerkirche – auch in Leu- ihr erster Lehrer. Musikpädagogin auch in Leutesdorf am tesdorf.“ Und dann die Kirche. „Wenn ich als Kind Ziel. Organist Rudolf Hohn geht in Rente, Die Leutesdorfer Organistin Elvi Hubert verschwunden war, saß ich immer in und sie bekommt endlich den Job ihrer erzählt, wie für sie alles begann. Die Lie- der Pfarrkirche. Ich fand das nur toll, da Träume, Küsterdienst inklusive. Was soll be zur Musik. Das Interesse an der Kir- drin zu sein.“ Als sie 13 Jahre alt ist und man in wenigen Worten sagen über die che. Der Kampf ums Orgel spielen. Und schon ziemlich gut am Klavier, verhindert Zeit seitdem? wie am Ende Frau gegen die verkrustete der Verwaltungsrat der Pfarrgemeinde Elvi Hubert hat großen Erfolg. Rund 45 Männerwelt siegt. (alles Männer), dass sie auf der Stumm- Mitglieder des Kirchenchors erscheinen Sie erinnert sich an ihr erstes Erlebnis mit Orgel üben darf – „das ist nix für Mäd- regelmäßig zur Probe, was für einen Musik. Sie ist drei Jahre alt. Der Leutes- chen“. Schließlich wird mit den Johan- Ort wie Leutesdorf rekordverdächtig ist dorfer Student Werner spielt nes-Missionaren in der Kreuzkirche, (heute sind eher „Projektchöre“ ange- Mundharmonika. In der Zehnhofstraße, denen damals ein Organist fehlt, dieser sagt). Sie führen anspruchsvolle Werke wo ihr Vater damals das Friseurgeschäft typisch rheinische Deal ausgehandelt: auf, Oratorien und Messen. Elvi Hubert hat. „Ich war fasziniert. Ich wollte auch „Du darfst bei uns üben. Dafür spielst Du gibt auch weltliche Konzerte. Tango in eine!“ Sie kriegt sie. „Weiße Rosen aus aber in der Frühmesse – jeden Sonntag!“ der Kirche um Mitternacht ist besonders Athen“ ist das erste Lied, das sie lernt. Das ist zwar nicht die berühmte Stumm- beliebt. Alle Einnahmen gehen in die (Bis heute baut sie manchmal Teile aus Orgel, aber besser als nix. Und ab geht’s Erhaltung der Stumm-Orgel. Manchmal dem Schlager in Improvisationen über mit „Segne Du Maria“ und „Lobe den schießt Elvi Hubert sogar noch privates Bach-Präludien ein, die sie auf der Leu- Herrn, den mächtigen König der Ehren“. Geld zu. tesdorfer Stumm-Orgel spielt). – „Kirchenmusik ist einfach mein Ding“, Sie sagt: „Auch wenn es manchmal Schwester Kiliana aus dem Kindergarten sagt sie noch heute und strahlt. Stress macht und vieles nicht gedankt erkennt ihre musikalische Begabung. Elvi Hubert ist zäh, bleibt dran, und wird – für unsere Stumm-Orgel gebe ich Das Kind muss gefördert werden!, sagt ganz allmählich ändern sich die Zeiten. mein letztes Hemd!“ Man glaubt es ihr. sie zu Elvis Vater. Die Eltern erschre- Mitte der 70er Jahre absolviert sie in cken: Gerade neu gebaut, woher soll Hamburg eine Ausbildung in Musikpä- das Geld für ein Klavier kommen? Und dagogik, 1987 macht sie ihr Examen

54 Elvi Hubert an der Orgel, die 1735 von Pfarrer Johann Georg Bock bei der Orgelbauerfamilie Stumm in Sulzbach im Hunsrück in Auftrag gegeben wurde. Sie hat einen besonders weichen Klang und ist für die Leutesdorfer Pfarrkirche auffallend groß. Daher hat sie wohl auch die damals bedeutende Summe von 2.000 Goldtalern gekostet. Die Leutesdorfer konnten diese Summe trotz zahlreicher Spenden nicht vollständig aufbringen, und Pfarrer Bock stürz- te sich aus Scham vom Kirchturm aus in den Tod. Als Elvi Hubert die Stumm-Orgel übernahm, hatte sie das Ziel, die offene Restschuld von umgerechnet 4.700 Euro beim Stumm-Orgelverein Rhaunen-Sulz- bach zu begleichen. Der Verein lehnte dankend ab, bat aber um ein Konzert von Elvi Hubert in Sulzbach, das auch stattfand – Tango inklusive.

55 „Lass Dir was einfallen – und bleib immer flexibel!“ Karl Schumacher (*1948)

Dass viele Einzelhändler der Nachkriegs- Karl Schumacher, der als rheinland- Du als kleines Geschäft heute einzigartig jahrzehnte in den 70er und 80er Jahren pfälzischer Landessieger seines Jahr- sein musst, andere Dinge anbieten als aus den Dörfern verschwanden, interes- gangs schon mit 21 Jahren den Großen die Konkurrenz. Wildfleisch und Wurst- siert heute Historiker und Museumskura- Meisterbrief erwarb, holt weit aus. Was produkte aus Wild – damit haben wir toren. Man kann aber auch anders herum er berichtet, hat vielleicht noch mehr jetzt großen Erfolg.“ fragen: Welches Geschäft ist geblieben? mit beachtlichem Unternehmertalent zu Und 95 Prozent aller Schumacher-Waren Und was kann man aus dessen Erfolg für tun, als mit Schinken, Wurst und Fleisch. kommen aus eigener Produktion - frisch, die Gegenwart lernen? Seine Story zusammengefasst in drei nicht vorverpackt, anders als beim „Wenn Du überleben willst, musst Du Punkten: Discounter. Das zieht viele Fremde an, Dir was einfallen lassen – immer wieder Punkt 1. „Der große Wandel begann in die ihr Auto bei Schumachers stoppen. neu!“, erklärt Metzgermeister Karl Schu- den 70er Jahren, als in der Nähe die „Über die Häfte unseres Ladenverkaufs macher seine Antwort auf diese Frage. Er ersten Verbrauchermärkte auftauchten. geht an Auswärtige. Vom Geschäft im sagt es laut und mit Nachdruck: „Immer Mit deren Preisen und Lockangeboten Dorf kann keiner mehr leben!“ flexibel bleiben! Nicht stur sein!“ konnten kleine Geschäfte nicht mithal- Der Fremde kommt aus der Ferne zum Karl Schumacher ist der Seniorchef der ten.“ Also ist ein Strategiewechsel fällig Einkauf nach Leutesdorf – während Metzgerei Schumacher, Hauptstraße – ein zweites Standbein. Neben dem Ver- mancher Einheimische lieber zum Kilo- 79 in Leutesdorf. Gegründet 1906 von kaufsgeschäft bauen Schumachers einen meter weit entfernten Supermarkt fährt. Karls Großvater Hermann in der Großen Partyservice auf. „Von den Metzgereien, Warum? Fischgasse 18. Der übergibt 1931 an die bei dem Trend nicht mitmachten, ist „Keine Ahnung. Da muss man den Bür- seinen Sohn Arnold. 1970 nimmt Karl keine mehr da.“ ger fragen. Der Geschäftsmann gibt sich das Geschäft in die Hand. Und zieht 30 Punkt 2. „Außerdem haben wir uns zu- Mühe und bedauert das.“ Jahre später aus der beschaulich gewor- sätzlich als Großhandel aufgestellt, zum denen Fischgasse an die verkehrsstarke Beispiel für Küchen von Krankenhäusern Hauptstraße um. Seit 2015 ist Karls Sohn und Kantinen von Firmen.“ Dann wird Stefan am Ruder. Die Metzgerei lebt also dieses Geschäft wieder kleiner, weil viele weiter als Familienbetrieb – jetzt schon Kantinen schliessen. Im Verkaufsraum der Metzgerei: in der vierten Generation. Wie geht das, Punkt 3. „Wir haben uns dann noch ein- Ingrid Schumacher mit Sohn Stefan und heute, auf dem Dorf? mal verändert. Ich hatte begriffen, dass Ehemann Karl

56 57 „Wenn ich ins Rheintal sehe, geht mir das Herz auf“ Dr. Gregor Kubatta (*1969)

Gregor Kubatta sitzt lächelnd in seinem Logistik, Maschinenbau und Weinbau aus Ungarn, mit der er zwei Söhne hat, Büro mit Blick auf den Rhein. Umgeben tätig. In Deutschland und international im hier gut zurecht kommt. Er unterstützt von Akten, Zetteln und Gegenständen Geschäft, mit Firmen und Firmenbetei- mehrere Vereine im Ort und ist auch im unterschiedlichster Art. Nichts zu sehen ligungen in Italien, Österreich, England, Gemeinderat aktiv, um an der Zukunft von coolem Metropolen-Design in die- Südafrika, Kasachstan und auf den des Ortes mitzuwirken. Zum immer mal sem gemütlich unaufgeräumten Raum. Bahamas. wieder aktuellen Thema Hochwasser- Der promovierte Chemiker spricht gut Und dieses ganze komplizierte Ge- schutz sagt er: „Leutesdorf besitzt in der gelaunt über seine Geschäftsphiloso- flecht dirigiert Gregor Kubatta aus großen Rheinwiese einen bedeutenden phie. „Wenn ich Interesse an einem einem kleinen Büro in Leutesdorf, das Wert, der nicht gefährdet werden darf. Geschäft habe und eine Chance sehe, mit alten dunklen Möbeln gefüllt ist. Im Der Hochwasserschutz sollte sich des- Geld zu verdienen, dann ist mir das ein Hochparterre des über 100 Jahre alten halb auf die einzelnen Gebäude beziehen Investment wert. Das Investment kann sogenannten Bungert-Hauses, das er und nicht auf das Vorland.“ Geld sein oder meine Zeit oder beides. 2008 erwarb. Warum residiert er nicht in Kubattas neuestes spektakuläres Immo- Ja, ich habe mich immer als Unterneh- einer schicken Firmenetage – hoch über bilienprojekt ist die sogenannte Löwen- mer gefühlt.“ Frankfurt am Main oder Düsseldorf? burg in der Nachbarschaft seines Büros. Gregor Kubatta ist Leutesdorfer von „Leutesdorf ist für mich ein Stück Hei- Das frühere Kloster wird zu 21 Wohnun- Geburt. Die Mutter entstammt der Leu- mat. Ich kann auch von hier aus meine gen mit insgesamt 1.900 Quadratmeter tesdorfer Familie Zeitz, der Vater wurde Ziele verwirklichen - mit vier Flughäfen in Fläche umgebaut. „Das Interesse an in Oberschlesien geboren. Selbständig erreichbarer Umgebung. Und wenn ich den Wohnungen ist groß. Ich hoffe, ist Gregor Kubatta seit 1995. Die erste von Frankfurt kommend an der Auto- dass wir dadurch viele gute Leute nach Firma gründete er noch während des bahnabfahrt Bendorf das Rheintal vor mir Leutesdorf bringen, und dass der Ort Studiums, das er in Bonn, Tokio und an liegen sehe, dann geht mir das Herz auf.“ damit eine große Entwicklung nach vorn der kalifornischen Elite-Universität Stan- Der Unternehmer pausiert einen Atem- macht.“ ford absolvierte. zug lang: „Außerdem kann unser Ort die Kubattas heutige MAG GmbH befasst Gewerbesteuer wirklich brauchen.“ sich im Kern mit Bodensanierung und Kubatta liebt sein Heimatdorf, das ist Dr. Gregor Kubatta in der August-Bungert- der Entsorgung von Abfällen. Doch er deutlich zu spüren, und er freut sich, Allee vor der Löwenburg, die zu Wohnungen ist auch in den Bereichen Immobilien, dass auch seine Frau, die Juristin Beata umgebaut wird

58 59 „Du musst fleißig sein und auf die Menschen zugehen“ Damiano Mellone (*1961)

Sie waren arm und verließen die Heimat, es wenigstens ein bißchen mehr Geld, lernen. Du musst auf die Menschen zuge- um in der Ferne gut bezahlte Arbeit zu Krankenversicherung und einen Beitrag zur hen, an ihrem Leben teilnehmen, wenn Du finden. So zogen in den 60er und 70er Rente.“ Die Enge von Neviano bedrückt akzeptiert werden willst. Das war nicht im- Jahren Zehntausende Italiener auch an ihn: „Sonntag nachmittags Fußball gucken mer einfach für mich – in Neviano wurden den Rhein. Viele fanden dort ihr Glück und im Café war die einzige Unterhaltung. Und wir zur Zurückhaltung erzogen.“ blieben. Einer davon ist Damiano Mellone, die Bräuche waren streng.“ Die Liebe führt ihn nach Leutesdorf. Er hei- der aus Neviano kam – ein Dorf tief im Als er 17 ist, kommt sein älterer Bruder ratet mit 23, und vier Kinder kommen zur Süden, 1.825 Kilometer von Leutesdorf Silvio auf Urlaub ins Dorf. Der ist Schiffs- Welt. Er fühlt sich angekommen in einer entfernt. schweißer und die Rheinbrohler Werft neuen Heimat. „Der kleine Ort hat mir auf „Wir waren neun Geschwister, vier Jungs Hilgers hat ihn aus Livorno an den Rhein den ersten Blick sehr gut gefallen. Die Leu- und fünf Mädchen, ich genau in der Mitte“, geholt. Er sagt: „Pack Deine Sachen, te sind hier offener als anderswo, nicht so erinnert sich Damiano. „Wir lebten in Damiano. Bei uns gibt es auch für Dich stur. Mit 80 Prozent der Leute kannst Du einem Bahnwärterhäuschen, meine Mutter Arbeit, und das Leben ist besser als hier. gut reden.“ Gab es nie Ärger wegen seiner bediente die Schranke. Und Vater arbeitete Da fühlst Du Dich endlich frei!“ – „Klar, ich Herkunft? Hat er nie Schimpfworte wie bei der Gemeinde. Er konnte weder lesen komm‘ mit!“ „Spaghetti-Fresser“ oder „Itaker“ gehört? noch schreiben, weil er schon mit sechs Ein paar Wochen später, noch keine 18, „Als ich jung war, haben wir uns manchmal Jahren in die Landwirtschaft gemusst und ist Damiano am Ziel seiner Träume. Er geschlagen. Aber Hass war nie dabei. Du nie zur Schule gedurft hatte. Wir zogen Oli- kann kein Wort Deutsch und hat nur ein musst eben fleißig sein und brauchst ein ven und Wein, bauten Obst und Gemüse Bündel Lire als Startkapital. „Ich war ein wenig Humor. Ich bin im Großen und Gan- zur Selbstversorgung an.“ junger Kerl und dachte: Probier’s! Was soll zen immer sehr gut behandelt worden. Ich Die Mutter legt Wert auf Bildung. Sie weiß, schon schief gehen?“ Der Bruder hilft ihm. gehe nie mehr aus Leutesdorf weg!“ das ist für ihre Kinder die einzige Chance. Damiano findet Arbeit, mietet ein eigenes Damiano soll mit sechs Jahren auf ein Zimmer in Rheinbrohl, genießt die neue Damiano Mellone liebt die Natur, vor allem den wunderbaren Garten hinter seinem gutes Internat in der Stadt – doch das Freiheit. Das Leben beginnt! Haus, in den er sich manchmal zurückzieht. Heimweh zieht ihn zurück nach Neviano. Damiano sucht von Anfang an Kontakt zu Und er weiß, wo Steinpilze wachsen, die so Er macht den Hauptschulabschluss im jungen Deutschen, in der Disco und im groß sind wie eine Pizza. „Tief im Wald, gar Dorf und wird Anstreicher. Mit 16 wech- Fußballverein, in den er bald eintritt: „Ich nicht weit weg von Leutesdorf. Wo genau, selt Damiano in die Papierfabrik: „Da gab wollte so schnell wie möglich die Sprache verrate ich nur meinen allerbesten Freunden.“

60 61 „Leutesdorf war ein Wunschtraum für mich“ Werner Schönhofen (*1940)

Bücher und Broschüren, mehrere hun- Mit Leutesdorf kam Werner Schönhofen Wie sieht er die Zukunft von Leutesdorf? dert Artikel zur Geschichte der Region: das erste Mal in den 60er Jahren in „Die Dorfstruktur hat sich stark zum Der Leutesdorfer Heimatforscher Werner Kontakt, als er vor dem Studium der Pendlerort hin entwickelt. Ich denke, das Schönhofen ist so etwas wie das Ge- Erziehungswissenschaften in Koblenz geht weiter so. Ich persönlich beklage dächtnis mancher Orte am Mittelrhein. bei der Post in Andernach beschäftigt auch den Wegfall der Geschäfte nicht. Auch viele der Texte der „Leutesdorfer war. „Ich unternahm von Andernach Die Menschen haben sich bereits neu Hefte“ stammen von ihm. aus immer wieder Wanderungen in die orientiert. Was bleibt, ist die großartige Die zweite Leidenschaft des im Eifel- nähere Umgebung. An einem sonnigen Natur und die interessante Kultur. Man dorf Ulmen geborenen früheren Lehrers Sommernachmittag stieg ich auf den muss sich eben bewegen und mit der (u.a. 20 Jahre lang in Rheinbrohl) ist das Krahnenberg. Von dort hatte ich eine Zeit gehen!“ Wandern. Schon seit 1974 führt Werner beeindruckende Aussicht ins Rheintal. Schönhofen regelmäßig mittwochs und Besonders der Blick auf Leutesdorf gefiel samstags Gruppen durch Eifel, Hunsrück, mir so gut, dass ich meinte, dort unten Taunus und Rheingau, entlang an Rhein, ließe es sich sicherlich angenehm leben. Mosel, Lahn oder Sieg. (Termine in der Doch ich hielt das eher für Wunschden- örtlichen Presse). Rund 60 Wanderfreun- ken, einen Traum.“ de umfasst seine Gruppe im Kern. Die Einige Jahre später wurde der Traum meisten sind inzwischen jenseits der 70, Wirklichkeit. Die Liebe zur Winzertochter aber noch hervorragend in Form: „Wir Hiltrud Winkens brachte Werner Schön- gehen meist um die 20 Kilometer am Tag. hofen nach Leutesdorf: 1972 wurde Diese Streckenlänge bewältigen viele geheiratet, 1977 gebaut. Die Tochter ist Wandervereine kaum noch.“ heute Ärztin in Neuwied. „Ich bin relativ Beim Wandern erzählt Schönhofen von schnell heimisch geworden, weil ich in Geschichte, Kultur und Botanik, was eine Leutesdorfer Familie hinein kam. Die offenbar auch das Gemeinschaftsleben Verwandtschaft, das Umfeld – ich war „Er gefällt mir noch immer“: Diesen Blick der Gruppe beflügelt: „Aus unserer Grup- sofort integriert. Dann wurde ich im Ge- auf Leutesdorf vom Krahnenberg aus ge- pe heraus sind schon mehrere Paare meinderat und in der CDU aktiv und war noss Werner Schönhofen erstmals vor rund zusammen gekommen.“ damit schnell eingebunden im Ort.“ einem halben Jahrhundert.

62 63 „Mit dem ersten Winzerzug war ich mittendrin“ Bettina Kliesrath (*1969)

„Wir sind eine kleine Schule und sehen der Kinder auch mal in der Freizeit zu des Schulhauses haben die Eltern genau das als Stärke! Durch die kleinen treffen.“ ehrenamtlich geleistet.“ Klassenstärken können wir alle Kinder Nach dem Studium in Koblenz war Neben der musikalischen Ausbildung fördern, mehr beim einzelnen Kind Bettina Kliesrath als Referendarin, (alle Kinder lernen im 3. und 4. Schul- bewirken und insgesamt bessere Men- Lehrerin und Schulleiterin in mehre- jahr Flöte) ist für Bettina Kliesrath schenbildung leisten als in der Stadt!“ ren Orten in der Eifel, an der Mosel regelmäßiger Sport für die Bildung der Bettina Kliesraths Augen funkeln, und im Andernacher Ortsteil Namedy Kinder überaus wichtig. Dazu gehö- als sie diese Sätze sagt. Die Leiterin tätig, bevor sie im Sommer 2012 nach ren Leichtathletik, Fußball und andere der Grundschule Leutesdorf ist eine Leutesdorf kam. Nicht überall fiel der Spiele, und alle Kinder lernen Schwim- begeisterte Vollblut-Lehrerin – das wird Einstieg so leicht wie hier. „Manchmal men: „Wir fahren einmal pro Woche sofort klar! war es sehr schwer, an die Menschen in ein Schwimmbad in Feldkirchen. Geboren in Bendorf und aufgewachsen ranzukommen. Aber in Leutesdorf hatte Das zahlt die Verbandsgemeinde, was in Vallendar bei Koblenz, wo sie auch ich von Anfang an einen sehr positiven ich sehr großzügig finde. Auch das ist heute wieder wohnt, ginge Bettina Eindruck. Ich bin von Schülern, Eltern längst nicht überall so.“ Kliesrath auf den ersten Blick höchs- und Lehrern sehr offen aufgenommen tens als Teilzeit-Leutesdorferin durch. worden. Und mit dem ersten Winzerzug Doch genau betrachtet ist die begeis- war ich mittendrin. Man muss natürlich terte Musikerin (Geige, Bratsche) und auch selbst zeigen, dass man offen ist Sportlerin (Tanzen, Walken) eine der für Neues.“ prägendsten Persönlichkeiten im Ort. Voll des Lobes ist die Tochter eines So nimmt sie mit den rund 50 Kindern Kfz-Meisters und einer Yoga-Lehrerin der Schule regelmäßig am Winzerzug, über das Engagement der Eltern, die am Kinderkarneval, am St. Martinsum- hier „ansprechbarer sind als anderswo“ zug und anderen örtlichen Feiern teil. und den Einsatz des Schulelternbeira- „Aber ich gehe auch privat zu den tes, der sie und ihre fünf Kolleginnen Festen in Leutesdorf. Die Geselligkeit unterstützt. „Bei Wandertagen, Festen macht mir Freude und gehört für mich oder Bastelgruppen sind immer viele Bettina Kliesrath vor der Tafel ihrer Klasse in mit zum Beruf. Es ist gut, die Eltern dabei. Auch einen Teil der Renovierung der Grundschule Leutesdorf

64 65 „Wir müssen den Ort für junge Leute attraktiv machen!“ Werner Ockenfels (*1937)

Der Allerjüngste ist er schon lange nicht Leben war Ockenfels in Ehrenämtern für finde ich die neue Jugendherberge toll – mehr. Es beeindruckt aber nach wie vor Leutesdorf aktiv: Im Kirchenvorstand, in sie bringt so viel Leben ins Dorf!“ sein messerscharfer Verstand. Und die Vereinen, in der Nachbarschaft „Oberm Er schwärmt von der großartigen Rhein- gepflegte Erscheinung: Gut gekleidet, Zoll“, bei Führungen für Touristen. lage Leutesdorfs und von der Anzie- aufrechter Gang – ein Herr mit Haltung. Doch gleichzeitig fand Ockenfels schon hungskraft neuerer Feste wie „Tafeln am Und das nicht nur äußerlich. früh den Blick „von außen“ aufs Dorf. Strom“. Verkehrslärm und Hochwasser Zu allererst räumt Werner Ockenfels mit Als Stuckateur-Lehrling Anfang der 50er sind für ihn lösbare praktische Proble- dem Märchen auf, in Leutesdorf wäre Jahre war er oft unterwegs, dann als me, die die Entwicklung „nur ein wenig früher alles besser gewesen. „Das ist Meister, nach dem Studium schließlich bremsen“ und die man deshalb tatkräftig Quatsch. Der Bürgermeister, der Pas- als Bauingenieur im Höheren Dienst angehen muss. Und die Zukunft? tor, der Apotheker und dazu noch der der Post. Viel auf Achse, viel gesehen, „Man kann auf dem Dorf heute schon Ortsbauernführer, wie man in der Nazizeit gelernt, wie man „über den Tellerrand preiswerter und mit einem besseren sagte. Die gaben den Ton an, der Rest blickt“ - einer von seinen Lieblingsbe- Sicherheitsgefühl leben als in der Stadt. hatte nichts zu sagen. Das Denken griffen. Und viel mit seiner Maria bespro- Ich denke, dass das Leben auf dem Dorf und Leben war dermaßen konservativ.“ chen, die als Lehrerin in der Eifel, an der wieder aktiver wird - das ist für mich der Ockenfels schüttelt sich vor Ärger, als Ahr, in Neuwied und in Bad Hönningen kommende Trend!“ wäre erst gestern geschehen, wovon er war. berichtet. Dann folgen Zuschreibungen Deshalb fühlt Werner Ockenfels sich wie „Stur“, „Wenig tolerant“, „Wenig wohl in der heutigen Zeit, in der alles flexibel“. „viel beweglicher“ ist als früher. Eine Ockenfels kennt das „alte Leutesdorf“ so Menge habe sich zum Guten verändert, gut, wie kaum noch ein anderer Mann. Er „weil die Jugend heute mehr außerhalb ist ein Insider, tief verwurzelt in seinem lebt.“ Natürlich gäbe es auch die „Kehr- Werner Ockenfels führte Touristen auch Heimatort. Vater und Bruder waren seite des Offenen“, das gesunkene Inter- zum historischen Zolltor. „Die Leute waren Winzer, auch seine Frau Maria – Tochter esse an manchen Vereinen zum Beispiel: immer an menschlichen Geschichten mit eines Schiffsmanns – ist Leutesdorferin. „Aber das ist eben unsere Herausforde- aktuellem, praktischen Bezug interessiert. Mitte der 60er bauten die beiden am rung heute. Den Ort für junge Leute und Reine Fakten und Zahlen zur Ortsgeschich- Rhein in Leutesdorf ihr Heim. Das ganze Familien attraktiv zu machen. Deshalb te langweilen die Leute.“

66 67 „Man trinkt ein Glas Wein, kommt ins Gespräch – wunderbar“ Christina (*1957) und Jürgen (*1951) Winkelmann

„Ich habe mich auf den ersten Blick in haus von 1698 in der Rheinstraße 18. wir herkommen, ist genauso. In Bochum den Ort verliebt. Wenn wir hier ankom- Und weil es sich 2014 so ergab, das an- wird Tacheles geredet. Man sagt offen men, ist Urlaub.“ grenzende Haus zur Kleinen Fährgasse und ehrlich seine Meinung. Direkt und Christina Winkelmann lässt ihrer Begeis- hin noch dazu. Sie investierten sehr viel unverblümt.“ terung freien Lauf. Die Unternehmerin Liebe und Phantasie. Und schufen aus Er sagt: „Ja, genau. Man hat in Leutes- aus Bochum erzählt, wie sie 1992 zum diesem zweiten Objekt einen modern- dorf keine Probleme, sich zu akklimati- ersten Mal mit ihrem Mann nach Leutes- romantischen 90-Quadratmeter-Traum. sieren.“ dorf kam. Eine Freundin aus Köln, deren Heute sind beide alten Fischerhäuser Sie sagt: „Aber das Klima ist besser. Vier Mutter aus Andernach stammt, hatte Schmuckstücke der Rheinfront von bis fünf Grad wärmer als in Bochum. eine Weinprobe im Weingut Mohr in der Leutesdorf. Und den Leutesdorfer Kunstweg, über- Krautsgasse arrangiert. „Ich empfand Mancher Einheimische hat solche Häu- haupt das Kulturangebot finden wir toll! das Dorf als eine Oase der Ruhe. Und ser wegen der Hochwassergefährdung Nur ein paar mehr Kneipen mehr, so wie freute mich – wie gut, dass hier so wenig verschmäht. Christina und Jürgen Win- früher, das wäre gut!“ Beide lachen. Tourismus ist.“ kelmann zucken nur mit den Schultern Ja, die Winkelmanns passen hervorra- Auch ihrem Mann, dem Richter am Ver- und lächeln. „Das Wasser kommt selten. gend nach Leutesdorf. waltungsgericht Gelsenkirchen (heute im Und wenn, dann kommt’s rein und geht Ruhestand), gefiel es in Leutesdorf aus- auch wieder raus. Das haben wir von nehmend gut. Also kehrten die beiden den Leutesdorfern gelernt.“ jedes Jahr im August in ihren Lieblings- Außerdem, sagen beide, gäbe es ort zurück. Wohnten bei Carla Maur im überhaupt keinen schöneren Ort als „Leyscher Hof“, gingen zur Weinprobe ihre Terrasse. „Man trinkt ein Glas Wein, bei Mohr, brachten immer neue Freunde Leute flanieren vorbei, man kommt ins im Schlepptau mit. Sie hatten jede Men- Gespräch, wunderbar.“ Die Winkelmanns ge Spaß. Und blieben gern auch etwas sind kommunikative Leute. länger in Leutesdorf. Sie sagt: „Die Leutesdorfer sind of- Allmählich wuchs der Wunsch nach ei- fen. Man kommt aus dem Haus und nem eigenen Haus. 2007 war es soweit: wird angequatscht. Sehr locker, eben Winkelmanns kauften das alte Fischer- rheinländisch.“ – „Das Ruhrgebiet, wo

68 Christina und Jürgen Winkelmann auf der Terrasse des Fischerhauses an der Rheinstraße 18

69 „Wir vom Rhein haben eine besondere Art“ Nina Meickmann (*1999)

Die etwas nachdenklich wirkende, Das wurde ihr wohl in die Wiege gelegt. viele Freunde auch aus entfernten Ge- schlanke Frau blickt über die Streu- Der Vater arbeitet in einem Weingut in meinden gewonnen. „Da hört man dann obstwiese ins Tal. Wir stehen auf dem Hammerstein, und der Leutesdorfer manchmal, dass wir Rheinländer eine Leutesdorfer Kunst- und Kulturweg, für Winzer Peter Hohn ist ihr Onkel. Auch besondere Art haben. ‚Nina, Du bist so den Nina Meickmann eine besondere abgesehen vom Wein hängt Nina sehr anders als wir‘, hat mal die Mutter eines Schwäche hat. Genau hier, an der Skulp- an ihrem Heimatort. Sie liebt die Rhein- Freundes aus dem Westerwald zu mir tur „Wanderer“ der Bildhauerin Ruth promenade, die Landschaft, das Mit- gesagt, ‚Man merkt, dass Du vom Rhein Schwenker aus Hammerstein, ist Ninas menschliche in der Nachbarschaft. kommst. Du bist so offen!‘ Ja, vielleicht allerliebste Stelle. „Einfach mal den Blick Bei den „Naturfreunden Leutesdorf“ sind die da oben wirklich verschlosse- schweifen lassen. Über das Dorf und die ist Nina Mitglied, und gemeinsam mit ner.“ Andernacher Pforte hinweg in die Weite.“ Freundinnen seit ein paar Jahren als „Eh- Nein, für die Großstadt ist sie nicht, sagt Sie streicht ihrer Hündin Sheela über rendame“ im Junggesellenverein dabei. Nina, die noch bei ihren Eltern wohnt. den Kopf. „Hier kann ich gut meinen „Nicht alle Männer waren begeistert, als Ja, vielleicht demnächst mal eine kleine Gedanken nachhängen. Und nach dem auch wir Frauen in dem Verein mitma- Wohnung in Neuwied. Aber wenn es Arbeitstag zu mir selbst kommen.“ chen wollten.“ Sie lacht: „Manche Jungs an‘s Familie gründen geht, dann wäre Die junge Leutesdorferin Nina Meick- trinken wohl lieber allein!“ Inzwischen wohl Leutesdorf wieder ihre erste Wahl. mann macht eine Ausbildung zur Phy- haben die Jungs sich wohl daran ge- Reisen möchte sie auch, Irland sehen, siotherapeutin. Ihr Traumberuf, sagt sie, wöhnt, „dass auch wir Frauen Werbung „dann unbedingt mal nach London“. aber auch ein ganz schön anstrengender für das Dorf machen wollen – und über Und Ninas Blick schweift über den Job: „Das geht in Arme und Beine. Ich den Verein Leute aus anderen Dörfern Rhein, ganz weit weg in die Ferne. muss Gewicht zulegen, stärker werden, kennenlernen.“ Kraft in den Fingern entwickeln. Da ist Ihr liebstes Hobby aber ist Tanzen. Sie der Spaziergang mit dem Hund über den stand schon mit fünf Jahren als Mit- Kunstweg eine wunderbare Erholung.“ glied der Gardegruppe der Leutesdorfer Der Weg führt auch an Weinbergen Karnevalsgesellschaft „Mir hale Pohl“ auf entlang. Natürlich mag sie Leutesdorfer der Bühne. Heute gehört sie zur bekann- Nina Meickmann mit ihrer Hündin Wein, erzählt Nina, trinkt zum Beispiel ten Showtanzgruppe „Funky Diamonds“ Sheela auf dem Leutesdorfer Kunst- und gern Riesling mit ihren Eltern bei Tisch. aus Neuwied-Irlich. Und hat darüber Kulturweg

70 71 „Lieber im Rhein ertrunken, als im Westerwald erfroren“ Waldemar Manns (*1930)

Das Jahr 1955 begann mit heftigem Hoch- „Jahrhundert-Hochwasser“ nicht: „Man und ein Bier in der Gaststätte 30 Pfennig.“ wasser. Am 19. Januar stand der Rhein bis hat ja im Grunde nichts zu befürchten.“ Aber andererseits war auch der Verdienst zum Dorfplatz. Dann zog er sich langsam Waldemar Manns stammt aus Siershahn bei der Bahn furchtbar gering: „Zum Leben aus den Gassen zurück. Doch am 1. Feb- im Westerwald, einem Dorf nordwestlich zu wenig, zum Sterben zu viel.“ ruar war der ungebetene Gast wieder da. von Montabaur. Er war der Älteste von Obwohl seine Maria eine Leutesdorferin Es war der Tag, als Waldemar Manns seine vier Geschwistern und ging zur Bahn, wie war, fühlte sich der zur Zurückhaltung Maria zur Frau nahm. sein Vater vor ihm. 1952 wurde er nach erzogene Mann im Ort jahrelang noch als „Morgens fuhren wir noch ganz normal Leutesdorf versetzt. Waldemar Manns Fremder. Bis er Anfang der 60er Jahre dem zum Standesamt in Bad Hönningen. Als kann sich noch gut an das alte, längst Sportverein beitrat und in den Folgejahren wir zurückkamen, war die Rheinstraße zu. versunkene Leutesdorf erinnern, das er zahlreiche Ehrenämter übernahm. „Erst mit Mein Vater, der aus dem Westerwald an- damals vorfand. Es gefiel ihm, weil es „so der ersten Vereinsmitgliedschaft kam ich in gereist war und Hochwasser nicht kannte, urwüchsig“ war. Leutesdorf richtig an. Später trat ich auch reagierte entsetzt – ‚Junge, hier willst Du „Die Abwässer flossen noch direkt auf die der Schützenbruderschaft bei.“ Und wie hinziehen?‘“ Waldemar Manns lacht bei Straße. Da konnte man bei jeder Fami- sieht Waldemar Manns Leutesdorf heute? der Erinnerung. „Ich sagte, ‚Papa, lieber lie sehen, was mittags gekocht worden „Das Beschauliche von Früher ist nicht hier im Rhein ertrunken, als im Westerwald war. Die Straßen waren gepflastert, nicht mehr da. Aber den Wein, der mir mein Le- erfroren‘. Sein Gesicht daraufhin – das asphaltiert. Die B 42 war noch nicht ben lang gut getan hat, gibt es immer noch. vergesse ich nie!“ ausgebaut, viel schmaler als heute. Da Ich fühle mich in Leutesdorf weiter wohl!“ Waldemar Manns hat seit 1955 alle Hoch- hatten die Häuser an der Hauptstraße wasser in Leutesdorf „live“ erlebt. Beim noch Vorgärten, und an der ‚Traube‘ gab ersten Mal war der Rhein 50 Zentimeter es eine beliebte Außengastronomie. Auch hoch in der Wohnung. Das Haus, in dem er an die offene Bunenlandschaft ohne Wiese seit 1963 wohnt, steht direkt an der Rhein- vor den Gassen am Rhein kann sich heute Waldemar Manns auf seiner Terrasse beim straße und wurde in weiser Voraussicht kaum noch jemand erinnern. 18 Lokale Leutesdorfer Hochwasser am 26. Januar 2018. Der Mann, der 1967 Bacchus und 1993 erhöht gebaut. Was den Fluss nicht davon gab es im Ort, in jeder Gasse ein kleines Schützenkönig war, hält eine Erinnerung an abhielt, ihn im Dezember 1993 sogar im Geschäft. Alle konnten davon leben.“ die 1.100-Jahr-Feier 1968 in der Hand. Da ersten Stock zu besuchen. Besonders Natürlich waren die Preise viel niedriger als fuhr Waldemar Manns als Nonne im Winzer- beeindruckt hat Waldemar auch dieses heute: „Der Liter Wein kostete 50 Pfennig, zug mit – in jenen Tagen eine Sensation!

72 73 „Ich wollte immer mitmischen, mich einbringen“ Werner Heinz (*1962)

„Wenn ich aus Leutesdorf verbannt wür- „Der wirtschaftliche Erfolg hat uns in die bis zum Frühjahr 2018 war er zehn Jahre de? Wo ich dann hinwollte? Om Jottes erfreuliche Lage versetzt, dass wir in mo- Vorsitzender der örtlichen CDU. Warum Willen!“ Werner Heinz reisst die Augen derne Technik und Bühnenausstattung in- CDU? Es scheint wie eine Fügung des weit auf - als wäre er gerade dem Teufel vestieren konnten“, freut sich der gelernte Schicksals über Werner Heinz gekommen begegnet. Dann legt er eine Kunstpau- Bankkaufmann: „Und wir unterstützen zu sein: „Zuhause wurde über Politik se ein und kratzt sich am Hinterkopf: jedes Jahr ein soziales Projekt.“ nicht gesprochen, aber katholisch CDU „Höchstens auf die andere Rheinseite. Die Familie von Werner Heinz und seinen gewählt. Du bist da unterbewusst hinein- Nach Andernach. Denn das schönste an beiden älteren Brüdern stammt ursprüng- geführt worden. Man hat gar nicht an eine Andernach ist bekanntlich der Blick auf lich aus dem Westerwald. Der Vater kam andere Partei gedacht!“ Leutesdorf!“ aus an der Wied und wurde Um die Zukunft der Theatergruppe ist Werner Heinz weiß sehr genau, wie man als Schrankenwärter nach Leutesdorf dem humorvollen, engagierten Mann eine Pointe platziert. Schließlich steht er versetzt, die Mutter aus dem bei Neu- nicht bange, auch nicht um die der meis- seit fast 30 Jahren auf der Bühne – mit stadt liegenden Dörfchen Oberhoppen. ten Vereine im Ort. Sorgen macht sich der„Theatergruppe Leutesdorf“. Werner Theaterchef Heinz ist also Leutesdorfer Werner Heinz jedoch um das politische Heinz war schon am Anfang 1990 dabei. der ersten Generation – und einer der Leben in Leutesdorf: „Es muss uns gelin- Seit 2013 ist er Chef der Truppe, die jedes aktivsten Männer im öffentlichen Leben gen, wieder mehr junge Menschen für die Jahr einen neuen Schwank im Saal des des Orts: „Ich habe mich immer mit Kommunalpolitik zu begeistern, ganz egal „Leyscher Hof“ präsentiert. Leutesdorf identifiziert. Ich wollte immer zu welcher Partei wir gehören. Jüngere Werner Heinz: „Wir passen vorhandene mitmischen, mich einbringen.“ Leute binden sich heute sehr ungern, Stücke immer ein wenig an Leutesdorfer Er gehört zu mehreren Vereinen und zum vor allem, wenn es darum geht, sich auf Verhältnisse an. Und übertragen den Text legendären Stammtisch „Heiliges Kano- Dauer zu verpflichten und Verantwor- in das typische Leutesdorfer Platt, mit nenrohr“. Als gläubiger Katholik unter- tung zu übernehmen. Das ist die große seinen bis fast ins Unendliche gedehnten stützt er in der Kirchengemeinde Küsterin Herausforderung im öffentlichen Leben Vokalen. Zum Beispiel wird dann aus dem und Pfarrer. Vor allem aber ist Werner unserer Zeit.“ Satz ‚Wir gehen einkaufen‘ unser ‚Mer jon Heinz schon Jahrzehnte in der Kommu- Zwischen Lachen und Weinen tut oft Gelas- wat kaaaaaafe‘“. Rund 1.000 Zuschauer nalpolitik tätig. 1989 war er erstmals im senheit Not: Der Theatermann und Kom- sind bei sechs Aufführungen jährlich be- Gemeinderat, seit der vorigen Wahl ist er munalpolitiker Werner Heinz vor Leutesdorf geistert – man ist immer ausverkauft. Stellvertreter des Bürgermeisters. Und und der Andernacher Pforte

74 75 „Die Jugendherberge finden wir klasse“ Marietheres Willems, geb. Jansen (*1945) und Horst Willems (1941)

Sie stehen in ihrem wunderbaren Garten lärmenden Kindern und Jugendlichen Doch als die beiden jung waren, hieß es mit Blick auf den Rhein. Hinter sich das von nebenan? Tausende bevölkern im erst mal raus aus dem Nest - und rein wohl älteste Wohnhaus des Orts: belieb- Sommer die Rheinwiese vor Willems‘ in die Stadt! Sie lernte Uhrmacherin und ter Stopp vieler Führungen durch Leutes- Haus. er Gärtner. Die Großstadt Köln war ihre dorf. Nur einen Steinwurf entfernt steht Horst: „Das passt - die Jugendherberge erste Station. Dann machten sie sich das allerjüngste Gebäude von Rang – ein finden wir klasse! Wir haben da schon selbständig, eröffneten eine Gärtnerei farbiger Funktionsbau mit Flachdach. unsere Goldene Hochzeit gefeiert, in Neuwied. Anfang der 90er Jahre die Marietheres und Horst Willems leben Silvester, Geburtstag. Es war immer toll! Rückkehr. Viel hatte sich verändert im architektonisch gesehen mitten im Span- Die Kinder stören uns nicht.“ Dorf. Marietheres: „Es war erst mal nungsfeld von Tradition und Moderne. Marietheres: „Vor ein paar Jahren traf ich schwierig. Manche benahmen sich Ihr Wohnhaus ist ein denkmalgeschütz- manchmal keinen Menschen, wenn ich komisch.“ ter Bruchsteinbau mit sogenanntem durch den Ort ging. Da freue ich mich Diese Phase ist vorbei. Marietheres und Krüppelwalmdach. Es steht genau da, doch, dass jetzt die Fremden wieder Horst unterstützen mehrere einheimische wo die uralte, enge Allergasse auf die Leben nach Leutesdorf bringen.“ Vereine und fühlen sich im Leutesdorf einladende Rheinstraße trifft. Errichtet Beide: „Niemals gehen wir weg von von heute längst wieder wohl. wurde „Fensters Haus“ allem Anschein unserem herrlichen Rhein. An den Krach nach im Jahr 1516, von einem Bauherrn haben wir uns längst gewöhnt.“ aus Andernach. Das Wechselspiel von Tradition und Mo- Das Nachbargebäude ist knapp 500 Jah- derne – auch das Leben von Marietheres re jünger – die 2015 eröffnete „Jugend- und Horst lässt sich so charakterisieren. herberge Kloster Leutesdorf“. Äußerlich Beide kommen aus alten Leutesdor- in sachlichem Stil, aber klug ausgestattet fer Winzerfamilien. Horst entstammt für jede Menge Spaß: mit großzügigen Großvaterseits der Familie Hohn. Die Spielflächen und einladender Terrasse für Wurzeln von Marietheres reichen in die viele Besucher. Familie Fenster (vor dem 19. Jahrhundert Passt das zusammen? Und was sagt „Fister“) zurück, die in den vergangenen Marietheres und Horst Willems in ihrem man als Angehöriger der Ü70-Generation Jahrhunderten zweimal den Bürgermeis- Rheingarten. Links ist die Jugendherberge zu den vor Lebensfreude tobenden und ter stellte. Leutesdorf zu sehen.

76 77 „In Leutesdorf findest Du Freunde fürs Leben“ Daniel Zeus (*1989)

„In anderen Orten habe ich schon die kaufmann Daniel ist als Finanzberater im men würde, war für Daniel sofort klar, eine oder andere negative Erfahrung Außendienst viel unterwegs. Und auch als ihn Johanna Schneider darum bat. gemacht. Aber in Leutesdorf war meine privat oft auf Achse: „Reisen sind mein „Wir kennen uns aus dem Junggesel- Hautfarbe nie ein Thema. Nicht im Kin- Hobby.“ Ins europäische Ausland, aber lenverein und es ist mir eine Ehre! Vor dergarten, nicht in der Schule, auch nicht auch in die USA, nach Kanada, Thailand, allem am Winzerfest war es ein großes als Erwachsener. Niemals!“ Indien oder Hongkong: „Die Welt ist Erlebnis. Fast jeder Ort hat eine Kirmes, Der gebürtige Leutesdorfer Daniel Zeus groß, und es gibt viel zu tun!“ aber dass die Leute so ausflippen wie stammt aus einer Einwandererfamilie – Andererseits, sagt Daniel, „bin ich immer hier nach dem Winzerzug, ist doch eine davon legt seine olivfarbene Haut deut- wieder froh, wenn ich das Leutesdorfer ganz andere Stufe der Fröhlichkeit. Das lich Zeugnis ab. Beide Eltern stammen Ortsschild sehe. Es war gottseidank sage nicht nur ich – das sagen vor allem aus dem indischen Punjab. Vater Khan nie ein Thema, von hier weggehen zu meine Freunde von Außerhalb!“ kam 1977 nach Deutschland und wurde müssen. Ich bin hier verwurzelt, und die von einem Leutesdorfer Ehepaar ad- tolle Kindheit, die ich in Leutesdorf hatte, optiert. Die Mutter Jaheen folgte einige sollen auch meine Kinder einmal haben.“ Jahre später. Er schwärmt von den Vorzügen seines Ihr weiterer Lebensweg bildet ein Mus- „wunderschönen“ Heimatorts, von terbeispiel für gelungene Integration. Rheinpromenade und Weinbergen: „So Khan nahm von Anfang an aktiv am was hat niemand in der Umgebung, da Dorfleben teil, wurde Mitglied im Schüt- kann man lange suchen. Wir leben, wo zenverein und in der Nachbarschaft. andere Leute Urlaub machen.“ Immer Er verdiente als Fotograf, Händler und mehr jüngere Leute würden das genau- Gastronom den Lebensunterhalt für die so sehen und ihre Freizeit gern im Dorf Familie. Jaheen brachte zwei Töchter verbringen. „Leutesdorf ist gesellig, die und Sohn Daniel zur Welt. Alle drei Kin- Menschen sind hilfsbereit, man findet „Man hat einen heißen Fummel an und ein der leben heute in Leutesdorf oder in der hier Freunde fürs Leben. Und es ist fried- großes Glas in der Hand.“ Daniel Zeus über Nähe, sind in kaufmännischen Berufen licher, sicherer als in der Stadt, gerade seine „unkomplizierte Rolle“ als Bacchus oder in der Verwaltung tätig. auch für Frauen.“ und Begleiter von Weinkönigin Johanna Der gelernte Groß- und Außenhandels- Dass er die Rolle des Bacchus überneh- Schneider in der Saison 2017 / 2018

78 79 Neuigkeiten aus der „Toskana am Mittelrhein“ Achse 8 (*2016)

Leutesdorf am Rhein diente schon im 19ten Jahrhundert zahlreichen Malern und Musikern als Inspiration. Die Künst- ler feierten den Weinort als „Toskana am Mittelrhein“ - wegen des günstigen Klimas und der angenehmen Lebensum- stände. Auch in der Gegenwart zieht Leutesdorf immer wieder schöpferisch tätige Men- schen an. Dazu gehört auch die Gruppe „Achse 8“, die seit Frühjahr 2016 ein Atelier mit Künstlerwerkstatt in Leutes- Walter Jotzo im Innenhof der Achse-8 dorf unterhält. Zu Achse 8 gehören u.a. Zentrale in Leutesdorf die Leutesdorfer Therapeutin, Malerin und Bildhauerin Marianne Nalbach sowie der Maler, Grafiker und Soziologe Walter Jotzo (Frankfurt am Main und Leutesdorf). Die Zentrale von Achse 8 befindet in einem Haus mit der Hausnummer 8 in einer traditionsreichen Leutesdorfer Gas- se. Daraus ergab sich der Titel der ersten Gruppenausstellung: „ Achse 8: Aus der Gasse gesehen“, die vom 19ten bis zum 27ten August 2017 viel beachtet im Ge- Marianne Nalbach in ihrem meindezentrum Leutesdorf stattfand. Leutesdorfer Atelier Die Gruppe ist für weitere Mitglieder und Anregungen offen.

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