201601_Umschlag_außen.indd 1 Verschenken Sie dieVerschenken Sie »Blätter«! Übliche: das Schenken sich Sie

Blätter 1’16 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Frankreich: Das Ende Welt Kipppunkt am der Republik? der Ulrich Menzel Ulrich Ulrike Guérot Ulrike internationale deutsche und Blätter für Politik Josiane Meier Josiane Nacht der Die Abschaffung Christoph Fleischmann Papst grüne Der Arjun Appadurai das Strebenund nach Hoffnung Die globale Flucht Fehr Helmut Osteuropa: Gesellschaft Geschlossene Hauke Brunkhorst Für eine Repolitisierung Europas Brock Lothar Völkerrecht! zum Zurück 1’16 08.12.15 12:33 www.ng-fh.de • www.dietz-verlag.de Bestellen Sie ein kostenloses Probeheft! Autorinnen und Autoren dieses Heftes Anzeige Elmar Altvater, geb. 1938 in Kamen, Ulrike Guérot, geb. 1964 in Greven- Dr. oec. publ., Prof. em. für Politische broich, Dr. phil., Publizistin, Gründe- Ökonomie an der Freien Universität rin und Direktorin des „European De- Berlin. mocracy Lab“ Berlin.

Tatjana Ansbach, geb. 1948 in Ber- Rudolf Hickel, geb. 1942 in Nürnberg, lin, Dr. habil, Juristin, zuletzt tätig Dr. rer. pol., Professor em. für Finanz- als Rechtsanwältin mit Schwerpunkt wissenschaft an der Universität Bre- Ausländer- und Asylrecht. men, Mitherausgeber der „Blätter“.

Arjun Appadurai, geb. 1949 in Bom- Jochen Hippler, geb. 1955, Dr. rer. bai/Indien, Ph.D., Ethnologe und God- pol., Politikwissenschaftler, Privatdo- dard Professor of Media, Culture, and zent und wiss. Mitarbeiter am Institut Communication an der New York Uni- für Entwicklung und Frieden der Uni- versity. versität Duisburg-Essen.

Ulrike Baureithel, geb. 1957 in Frei- Stefanie Janczyk, geb. 1973 in Wolfs- burg, Literaturwissenschaftlerin, freie burg, Dr. phil., Politikwissenschaftle- Journalistin, Mitbegründerin der Wo- rin, Leiterin des Ressorts Allgemeine chenzeitung „Der Freitag“. Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beim Vorstand der IG Metall. Christian Bommarius, geb. 1959 in Frankfurt a.M., Jurist und Journalist, Thomas Kistner, geb. 1958 in Karlsru- Kommentator der „Berliner Zeitung“ he, Redakteur für Sportpolitik bei der und der „Frankfurter Rundschau“. „Süddeutschen Zeitung“, Verfasser des Buches „Fifa-Mafia“. Tobias Boos, geb. 1985 in Siegen, Poli- tikwissenschaftler, Universitätsassis- Martin Kutscha, geb. 1948 in Bremen, tent und Doktorand am Institut für Dr. iur., Professor i.R. für Staats- und Politikwissenschaft an der Universität Verwaltungsrecht an der Hochschu- Wien. le für Wirtschaft und Recht in Berlin, Vorstandsmitglied der Humanisti- Lothar Brock, geb. 1939 in Lauenburg/ schen Union. Pommern, Dr. phil., Professor em., Projektleiter des Bereichs „Herrschaft Ulrich Menzel, geb. 1947 in Düs- und gesellschaftlicher Frieden“ in der seldorf, Dr. phil., Professor em. am Hessischen Stiftung Friedens- und Institut für Sozialwissenschaften der Konfliktforschung (HSFK). TU Braunschweig.

Hauke Brunkhorst, geb. 1945 in Mar- Josiane Meier, geb. 1979 in Chur/ International Quartly Edition – ne/Holstein, Dr. phil., Professor für So- Schweiz, Dipl.-Ing., wissenschaftliche »Best of NG/FH« alle 3 Monate ziologie an der Universität Flensburg. Mitarbeiterin am Institut für Stadt- in englischer Übersetzung und Regionalplanung der TU Berlin. Helmut Fehr, geb. 1945 in Wollrode/ Hessen, Dr. phil., Professor für Euro- Antje Schrupp, geb 1964 in Weilburg, päische Regionalforschung an der An- Politikwissenschaftlerin, freie Publi- drássy Universität Budapest/Ungarn. zistin und Übersetzerin.

Christoph Fleischmann, geb. 1971 in Hilden/Rheinland, ev. Theologe, freier Journalist u.a. für den ARD- Rundfunk.

... weil Politik im Kopf anfängt! Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage der Initiative »Adopt a Revolution«. Wir bitten um freundliche Beachtung.

201601_Umschlag_innen.indd 1 08.12.15 12:35 Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 61. Jahrgang Heft 1/2016

Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

Blätter_201601.indb 1 09.12.15 11:02 INHALT KOMMENTARE UND BERICHTE 1’16 5 Krieg gegen den IS: Niederlage mit Ansage Jochen Hippler

9 Argentinien oder Vorwärts in die Vergangenheit Tobias Boos

13 Die Flüchtlingsfrage: Der Sozialstaat in der Pflicht Tatjana Ansbach und Martin Kutscha

17 Integration durch gute Arbeit Stefanie Janczyk

21 Sterbehilfe: Der Druck zum »Freitod« Ulrike Baureithel

25 DFB und FIFA: Der verkaufte Fußball REDAKTION Thomas Kistner Anne Britt Arps Daniel Leisegang DEBATTE Albrecht von Lucke Annett Mängel 29 Die Angst als Gesetzgeber Steffen Vogel Christian Bommarius

BESTELLSERVICE MEDIENKRITIK Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] 46 Woran erkennt man die Bösen? ANZEIGEN Antje Schrupp Tel: 030 / 3088 - 3646 E-Mail: [email protected] BUCH DES MONATS

WEBSITE 121 Reichtum macht arm www.blaetter.de Rudolf Hickel

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Blätter_201601.indb 2 09.12.15 11:02 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

35 Welt am Kipppunkt Die neue Unregierbarkeit und der Vormarsch der Anarchie Ulrich Menzel

47 Zurück zum Völkerrecht! Friedensarchitekturen in kriegerischer Zeit Lothar Brock

59 Das Ende der Republik? Frankreich zwischen Terror und Front National Ulrike Guérot

69 Krise und Kritik: Für eine Repolitisierung Europas Hauke Brunkhorst

77 In geschlossener Gesellschaft Ostmitteleuropa und die Rückkehr des Autoritären Helmut Fehr

84 Zerstörung und Flucht Von der Hierarchie der Märkte zur Migrationskrise in Europa Elmar Altvater

95 Streben nach Hoffnung Das Narrativ der Flucht und die Ideologie des Nationalstaats Arjun Appadurai EXTRAS

104 Der grüne Papst 33 Kurzgefasst und der Irrweg des käuflichen Glücks 124 Dokumente Christoph Fleischmann 125 Chronik des Monats November 2015 112 Schmutziges Licht: 128 Zurückgeblättert Die Abschaffung der Nacht 128 Impressum und Josiane Meier Autoren

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Blätter_201601.indb 3 09.12.15 11:02 NEU IM BWV Anzeige Friedrich Wolff (Hrsg.) Friedrich Wolff (Hrsg.) DAS POLITBÜRO Das Politbüro der DDR DER DDR VOR GERICHT vor Gericht Friedrich Wolff ist der wissenschaftliche Notar eines deutschen Ordnungsdramas, in dem er zugleich ak- tiver Dramaturg war. Als Strafverteidiger und Rechts- anwalt mehrerer Mitglieder des SED-Politbüros saß er während deren 15-jähriger Strafverfolgung stets in der ersten Reihe. Mit diesem Werk hat er das juristi- sche Drama für die Nachwelt festgehalten.

BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG Die Dokumentensammlung gewährt Einblicke in die Gerichtsverfahren, in denen Spitzenfunktionäre der DDR für ihre Politik verantwortlich gemacht wurden. Im ersten Abschnitt wird die rechtliche Verfolgung von Erich Honecker, Erich Mielke, Willi Stoph, Hermann Axen und Werner Krolikowski in der DDR aufgerollt. Der zweite Abschnitt versammelt Dokumente aus den Gerichtsverfahren in der Bundesrepublik: Neben zahlreichen Unterlagen aus den Prozessen gegen Honecker, Krolikowski und Axen enthält er auch Dokumente aus Verfahren gegen u. a. Heinz Keßler, Fritz Streletz, Harry Tisch, Günter Schabowski, Egon Krenz und Hans Albrecht. 2016, 1116 S., 104 s/w Abb., geb. m. SU, 149,– €, 978-3-8305-3570-6

Michael-Lysander Fremuth MICHAEL-LYSANDER FREMUTH Menschenrechte Grundlagen und Dokumente Der Band bietet Studierenden, Schüler_innen, Refe- rendar_innen, Praktiker_innen aus Justiz, Wirtschaft und Verwaltung, Journalist_innen sowie interessierten Bürger_innen einen umfassenden Überblick über die Menschenrechte komplexen Strukturen des Menschenrechtsschutzes GRUNDLAGEN UND DOKUMENTE und erleichtert den Zugang zu menschenrechtlichen Dokumenten und letzlich zum mitunter kontrovers geführten Menschenrechtsdiskurs. BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG Im ersten Teil wird das erforderliche Grundwissen vermittelt, indem das Konzept der Menschenrechte definiert und klassifiziert sowie Bedeutung, Begründung und Geschichte dargestellt werden. Im zweiten Teil des Bandes wird eine annotierte Auswahl der wichtigsten internationalen und regionalen Menschenrechtsdokumente abgedruckt – darunter ei- nige erstmals in deutscher Sprache. 2015, 800 S., 9 farb. Abb., 6 s/w Abb., 2 Tab., 29,80 €, 978-3-8305-3599-7

BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG Markgrafenstraße 12–14 • 10969 Berlin Tel. 030 / 841770-0 • Fax 030 / 841770-21 E-Mail: [email protected] • Internet: http://www.bwv-verlag.de

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Blätter_201601.indb 4 09.12.15 11:02 KOMMENTARE UND BERICHTE

Jochen Hippler Krieg gegen den IS: Niederlage mit Ansage

Deutschland zieht wieder in den Krieg ausgeht. Sollen deutsche Soldaten also – und kann ihn wieder nicht gewin- nun, wie vom beschlossen, nen. Eilig vollzog die Bundesregierung den Terrorismus unterbinden oder, nach den Terrorangriffen von Paris wie von Frankreich proklamiert, Krieg den Schulterschluss mit den franzö- gegen den IS führen? sischen Amtskollegen. Die hatten Denn in der Praxis bedeutet das et- noch in der Schreckensnacht des 13. was gänzlich anderes. Die Verminde- November einen Waffengang gegen rung terroristischer Akte oder die völ- den sogenannten Islamischen Staat lige Zerschlagung des IS erfordern angekündigt. Diesem wird sich nun sehr unterschiedliche Mittel und Tak- auch die Bundeswehr anschließen. tiken. Diese unklare Zielsetzung erin- Denn genau drei Wochen nach den nert unangenehm an den Afghanistan- Attentaten stimmte der Bundestag mit einsatz: Auch bei ihm ist stets offenge- großer Mehrheit für einen Einsatz mi- blieben, ob er der Terrorbekämpfung, litärischer Kräfte zur „Verhütung und dem Staatsaufbau, der Demokratisie- Unterbindung terroristischer Handlun- rung, der Errichtung von Infrastruktur gen durch die Terrororganisation IS“, – Schulen, Krankenhäuser und Stra- und zwar auch unter „Anwendung mi- ßen – oder anderen Zielen dienen soll. litärischer Gewalt durch deutsche Ein- Doch wenn der Bundestag die Mittel satzkräfte“.1 Doch was eine Demons- seiner Politik nicht anhand seiner Ziele tration von Entschlossenheit und Stär- bestimmt, werden sich die beschlosse- ke sein soll, führt in die Irre. Deutsch- nen Mittel (sprich: das Militär) irgend- land droht jene Fehler zu wiederholen, wann notgedrungen ihre Ziele selbst die seit Jahren im Krieg gegen den Ter- suchen. Carl von Clausewitz würde ror begangen werden. sich im Grabe umdrehen. Noch gravierender ist, dass die Bun- deswehr nun vor zwei Aufgaben steht, Eindämmen oder zerschlagen? die sie beide nicht erfüllen kann. Laut Beschluss sollen die militärischen Mit- Das beginnt mit dem unklaren Man- tel „eine weitere Ausbreitung des Ter- dat: Im Parlamentsbeschluss heißt es, rors eindämmen und IS wirksam be- die Bundeswehr solle die Politik Frank- kämpfen“. Doch der Terrorismus ist reichs und anderer gegen den IS unter- ein hausgemachter, europäischer und stützen. Das wirft inhaltliche Fragen kann daher nicht von der Bundeswehr auf: Präsident François Hollande hat bekämpft werden. Und gegen den IS mehrfach die „völlige Zerschlagung“ werden Soldaten allein nicht die Ent- des IS zum Ziel seiner Politik erklärt scheidung bringen. Dennoch wird die- – was offensichtlich über die „Verhü- ses erstaunlich realitätsferne Argu- tung und Unterbindung terroristischer ment immer wieder bemüht. Handlungen“ durch den IS weit hin- Dabei lässt sich die Terrorgefahr in Europa mit Luftangriffen gegen den IS 1 Deutscher Bundestag, Drucksache 18/6866. nicht verringern. Denn eines verbin-

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det die Anschläge in Paris vom Januar sierte Subkultur gewaltbereiter Extre- und November 2015, aber auch die in misten bildet, können externe Grup- Madrid 2004, London 2005 und Brüs- pen wie der IS dies ausnutzen. Eine sel 2014: Sie wurden nicht von Auslän- wirksame Terrorismusbekämpfung dern geplant und ausgeführt, die aus und Prävention muss deshalb genau dem Nahen oder Mittleren Osten – et- hier ansetzen. Die Luftangriffe in Sy- wa aus Syrien oder dem Irak – einge- rien tragen dazu nichts bei, sie sind für sickert waren. Vielmehr wurden die die Terrorbekämpfung in Europa weit- Täter in Europa geboren, sie wuchsen gehend irrelevant. Viel eher wirken sie hier auf und gingen hier zur Schule. kontraproduktiv: Die hausgemachte Sie sympathisierten zwar mit Al Qaida terroristische Szene wird durch sie we- oder dem IS, hatten sich aber in ihren der bekämpft noch geschwächt, son- europäischen Heimatländern radikali- dern im Zweifelsfall sogar zusätzlich siert. Einige von ihnen schlossen sich motiviert und radikalisiert. für einige Wochen und Monate dem IS in Syrien oder im Irak an – jedoch erst nachdem sie eine Selbstradikali- Sehnsucht nach Heldentum sierung durchlaufen hatten. Auch das Internet war nicht die Ursache dieser Gegen diese Szene hilft nur eine Kom- fatalen Entwicklung, sondern bloß ein bination polizeilicher und geheim- Beschleunigungsfaktor, der nur wir- dienstlicher Maßnahmen einerseits, ken konnte, weil die späteren Täter und massiver sozialpolitischer Pro- dies so wollten. gramme andererseits, die marginali- sierten jungen Männern eine positi- ve Lebensperspektive eröffnen. Eine Hausgemachte Terroristen solche Politik dürfte nicht allein auf muslimische Bevölkerungsgruppen Bei fast allen Attentätern handelte es zielen, sondern sollte alle abgehäng- sich also um hausgemachte Terroris- ten Milieus einbeziehen, unabhängig ten, die aus den europäischen Gesell- von ihrer ethnischen, kulturellen oder schaften hervorgingen. In den aller- religiösen Herkunft. Denn salafistisch meisten Fällen waren es Loser, junge inspirierte Gewalt bildet in Europa nur Männer zwischen 20 und 30, die sich eine Spielart des Rechtsextremismus: zu Recht als gescheitert empfanden: Es handelt sich um junge Männer, die Kleinkriminelle, Drogen- oder Alko- aus kulturellen Gründen nicht von der holabhängige, Menschen mit niedri- „weißen Rasse“ oder dem „Deutsch- gem Bildungsstand oder abgebroche- tum“ schwadronieren können und sich nen Ausbildungen, die bereits Gewalt- deshalb einer dschihadistischen Ab- karrieren hinter sich hatten, bevor sie grenzungs- und Rechtfertigungsideo- sich politisierten und radikalisierten. logie verschreiben. Generell jedoch Solche Leute schließen sich gewalt- finden sich der Männlichkeitskult, tätigen, dschihadistischen Gruppen die Feindschaft gegenüber „den an- nicht aus theologischen Erwägungen deren“ und die Gewaltverherrlichung an, sondern weil sie sich überzeugen sowie die Frauenfeindlichkeit, der wollen, nicht bedeutungslos und ge- Führerkult und die Sehnsucht nach scheitert zu sein. Sie möchten „stark“, „Heldentum“ bei einem Teil der ge- „männlich“, „heldenhaft“ sein, und sellschaftlich Marginalisierten und ihre Gewaltphantasien entspringen bei Personen mit aussichtslosen oder eher Hollywood-Filmen und Video- gebrochenen Biographien – und all spielen als dem Koran. das verbindet salafistische und natio- Nur wenn sich in den europäischen nalistische Rechtsradikale. Daher nut- Gesellschaften eine derart radikali- zen Argumente, Wertediskussionen

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Blätter_201601.indb 6 09.12.15 11:02 Kommentare und Berichte 7

und Aufklärung hier nur begrenzt. ligen Offizieren und Geheimdienst- Schließlich haben die Betroffenen lern der säkular-nationalistischen Dik- nicht primär philosophische Probleme, tatur Saddam Husseins geführt wird. sondern mangelndes Selbstwertgefühl Gemeinsam kämpfen sie für einen von aufgrund von real oder vermeintlich ihnen beherrschten Staat. Dabei stüt- fehlenden Lebensperspektiven. zen sie sich erheblich auf ausländi- Die europäischen Gesellschaften sche Freiwillige, vor allem aus Nord- stehen also vor einer riesigen, langfris- afrika und Europa. Die europäischen tigen gesellschaftliche Reformaufga- Dschihadisten dienen dabei einerseits be. Da hilft kein Ausweichen, indem als Helfer und Kanonenfutter in Syrien man anderswo gewalttätige Gruppen und dem Irak. Sie sollen andererseits bombardiert. Kurz- und mittelfristig den westlichen Ländern Schläge ver- werden allerdings selbst weitreichen- setzen, wenn diese politisch und mili- de Reformen wenig fruchten, weil be- tärisch das regionale Machtprojekt at- reits radikalisierte Personen so nicht tackieren. mehr erreicht werden können – und Sein Emporkommen verdankt der IS weil solch ambitionierte Programme einem politischen Vakuum im Irak und längere Zeit brauchen, bis sie die er- in Syrien, das leicht zu füllen war. Sei- hoffte Wirkung entfalten.2 Deshalb ne Vorgängerorganisation hatte sich in muss zumindest zwischenzeitlich die den 1990er Jahren zunächst in Jorda- Arbeit der Sicherheitskräfte optimiert nien unter dem Namen Al Tawhid ge- werden, um rechte und salafistische bildet und danach im Westen Afgha- Gewalttäter an Terrorakten zu hindern. nistans Zuflucht gefunden. Erst ab 2003 wuchs die Organisation, als sich für sie im Irak durch die US-Besatzung Der IS als politisches Problem günstige politische Rahmenbedingun- gen ergaben. Einige Jahre lang spielte Ebenso wichtig wie der Kampf gegen die Gruppe unter verschiedenen Na- den Terrorismus in Europa ist jener men (ab 2004 „Al Qaida im Irak“, da- gegen den IS im Nahen und Mittleren nach „Islamischer Staat im Irak“) eine Osten. Allerdings handelt es sich um wichtige Rolle beim Aufstand großer eine grundlegend andere Aufgabe. Teile der arabisch-sunnitischen Be- Wer den IS niederwerfen will, muss völkerung gegen die US-Truppen und dessen Geschichte und insbesondere die neue irakische Regierung. Ihr ers- die Gründe seines Siegeszuges be- ter Aufschwung wurzelte in der weit rücksichtigen. Andernfalls kann keine verbreiteten Wahrnehmung der Sun- Strategie erfolgreich und nachhaltig niten, nach dem Sturz Saddam Hus- sein. Denn der kometenhafte Aufstieg seins politisch marginalisiert zu wer- des IS lag nicht an seiner – zuerst recht den – und er endete 2007/2008. Seiner- begrenzten – militärischen Kraft, son- zeit empfanden die Sunniten den Isla- dern an der Schwäche und Illegitimi- mischen Staat im Irak zunehmend als tät der Regime in Syrien und dem Irak. noch schlimmer und repressiver denn Er bezieht seine Stärke daraus, dass die schiitisch und kurdisch dominier- er vielen arabischen Sunniten als das te Regierung oder die US-Armee. Sie kleinere Übel zu den eigenen Regie- machten daher gewaltsam Jagd auf die rungen gilt. Dschihadisten und wandten sich säku- Der IS ist eine politisch-militäri- laren Parteien zu. Der Islamische Staat sche Organisation, die neben religiö- im Irak wurde in der Folge zwar nicht sen Extremisten vor allem von ehema- ausgelöscht, aber er war dezimiert und politisch fast bedeutungslos. Das Ge- 2 Vgl. Jochen Müller, Mit Aufklärung gegen Sa- waltniveau im Irak sank um mehr als lafismus, in: „Blätter“, 6/2012, S. 21-24. 95 Prozent.

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Diese hoffnungsvolle Phase endete, als Das kann nicht bedeuten, die Gewalt- der damalige Ministerpräsident Nuri exzesse des IS zu ignorieren. Seine al Maliki nach der verlorenen Wahl Zerschlagung ist unbestritten eine von 2010 die Re-Konfessionalisierung entscheidende außen- und sicherheits- des Irak betrieb und eine scharfe anti- politische Aufgabe. Allerdings ist es sunnitische Politik einleitete. Es dau- aussichtsreicher, den IS überflüssig erte nicht lange, bis die arabischen werden zu lassen, als ihn militärisch Sunniten erneut in den Widerstand ge- auslöschen zu wollen – er ist primär ein trieben wurden – und dabei genau jene politisches Problem, das aus schwa- Dschihadisten wieder benötigten und cher und illegitimer Staatlichkeit ent- unterstützten, die sie kurz zuvor noch springt. Militärische Mittel können liquidiert hatten. dabei taktische Vorteile bringen, sind Als dann 2011 in Syrien der Bür- aber strategisch unzureichend. gerkrieg ausbrach, baute die Gruppe Denn als die Vorgängerorganisa- auch dort bewaffnete Einheiten auf, tion des IS im Irak 2007/2008 fast aus- die bald zu den stärksten Milizen wur- gelöscht wurde, lag dies nicht an der den. Das führte zum Bruch mit Al Qai- militärischen Übermacht der USA mit da, die die rivalisierende Al-Nusra- ihren bis zu 170 000 Soldaten. Viel- Front unterstützt. Schließlich wurde mehr hatte sich der Islamische Staat das Kalifat proklamiert und die Orga- im Irak seiner eigenen sozialen Basis nisation in Islamischer Staat umbe- entfremdet, und die arabischen Sunni- nannt. Als im Frühsommer 2014 dann ten machten Jagd auf die sunnitischen dreieinhalbtausend eher leicht bewaff- Dschihadisten. Ohne diese Abwen- nete IS-Kämpfer aus Syrien in den Irak dung ihrer möglichen Unterstützer wä- einmarschierten, eroberten sie dort in- ren selbst die USA mit ihrer überwälti- nerhalb weniger Wochen einen gro- genden militärischen Präsenz im Land, ßen Teil des Nordwestens, weil die fast die auch Bodentruppen einschloss, an zwanzigfach überlegenen irakischen der Aufgabe gescheitert. Soldaten kaum Widerstand leisteten, Daher sollten uns die Erfahrungen sondern desertierten. Dadurch wurde in Afghanistan, dem Irak und Libyen der IS militärisch und finanziell massiv zur Vorsicht mahnen. In allen diesen gestärkt – und avancierte erst damit zu Ländern hat der Einsatz überlegener einem zentralen Akteur in der Region. militärischer Macht – bis zur militäri- schen Besetzung – eben nicht zu einer Befriedung beigetragen. Im Gegenteil: Militärische Pyrrhussiege Er hat sie erst zu Brutstätten des inter- nationalen Terrorismus gemacht. Da- Der Aufstieg des IS hat also primär bei konnten die militärischen Ziele der politische Gründe. Das heißt: Militä- Interventionen in jedem Fall relativ rische Gewalt kann vielleicht Zeit ge- schnell erreicht werden: der Sturz der winnen und das Vordringen des IS ver- Taliban, Saddam Husseins und Muam- langsamen, aber das Problem des poli- mar al Gaddafis. Aber diese Erfolge er- tischen Vakuums nicht lösen. Solange wiesen sich als taktische Pyrrhussie- dieses besteht, werden Luftangriffe ge, die zu strategischen Niederlagen und selbst Bodentruppen die Ausdeh- führten. nung des IS zwar begrenzen, ihn aber Diese Fehler jetzt zu wiederho- nicht besiegen können. Auch nach len ist nicht nur aussichtslos, sondern dem Abwurf von über 20 000 Bomben höchst gefährlich. Eine Neuauflage ist er nicht geschlagen, und der Abwurf von George W. Bushs „Krieg gegen den von weiteren wird dies nicht grundle- Terror“ spielt bloß dem Terrorismus in gend ändern. die Hände.

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Tobias Boos Argentinien oder Vorwärts in die Vergangenheit

Der Wind in Lateinamerika hat sich ners trugen wesentlich zur Stabilisie- spürbar gedreht. Gleich mehrere Pau- rung der Linkswende auf dem Subkon- kenschläge läuteten das Ende einer tinent bei. Epoche ein. In Venezuela mussten die Doch seit dem Sommer entglitt der regierenden Sozialisten bei der Parla- linksperonistischen Regierungskoali- mentswahl am 6. Dezember 2015 eine tion FPV zunehmend die Macht. Der herbe Niederlage einstecken. Präsi- Niedergang vollzog sich in drei Schrit- dent Nicolás Maduro sieht sich jetzt ten: Bereits bei den internen Vorwah- einem konservativ dominierten Parla- len im August schnitt Daniel Scioli un- ment gegenüber. Er ist damit ebenso erwartet schlecht ab. Dennoch ging er angezählt wie seine brasilianische als klarer Favorit in die erste Runde der Kollegin Dilma Rousseff. Das kurz Präsidentschaftswahlen am 25. Okto- zuvor gegen sie angestrengte Amts- ber. Dann aber gelang es Mauricio Ma- enthebungsverfahren hat zwar wenig cri von der bürgerlichen Wahlallianz Aussicht auf Erfolg, zeigt aber, wie Cambiemos, das Rennen überraschend dramatisch ihr Rückhalt geschwunden spannend zu machen: Er erzielte über ist.1 Das Ende des progressiven Zyklus 34 Prozent und blieb damit nur kurz liegt in der Luft.2 hinter Scioli, der knapp 37 Prozent er- Den Anfang vom Ende markierten rang. Damit hatte sich der konservati- jedoch die Präsidentschaftwahlen in ve Bürgermeister von Buenos Aires mit Argentinien vom 22. November. Folge- einem Schlag zum Favoriten für die richtig rief der konservative Bewerber Stichwahl gemausert. Mauricio Macri noch am Abend seines Wahlsieges eine neue Epoche aus. Er hatte sich bei der Stichwahl mit rund Scioli, der geduldete Kandidat 51 Prozent knapp gegen Daniel Scioli von der regierenden Frente para la Vic- Eine merkwürdige Stimmung machte toria (Front für den Sieg, FPV) durch- sich in den folgenden Tagen und Wo- gesetzt – und damit eine Ära beendet: chen in den Straßen von Buenos Aires In den vergangenen zwölf Jahren hat- breit: Konfrontiert mit einer möglichen te das Ehepaar Kirchner die argentini- Präsidentschaft Macris, begannen zahl- sche Politik geprägt und dabei einen reiche Stadtteilaktivisten sowie Intel- gemäßigten Linkskurs gefahren. Cris- lektuelle und Studierende, Wahlkampf tina Fernández de Kirchner übernahm für Scioli zu machen. Viele von ihnen das Amt 2007 von ihrem Mann Néstor waren dessen Kandidatur zuvor kri- und wurde 2011 erneut gewählt. Die tisch begegnet: Scioli, Unternehmer insgesamt drei Amtszeiten der Kirch- und ehemaliger Gouverneur der Pro- vinz Buenos Aires, repräsentiert den 1 Vgl. Sarah Lempp, Brasilien: Rousseff unter rechten Flügel der FPV. Doch auch die- Beschuss, in: „Blätter“, 9/2015, S. 25-28. se Unterstützung im Endspurt konn- 2 Vgl. Maristella Svampa, Argentinien schwenkt nach rechts, in: „Neues Deutschland“, te keine Trendwende einleiten. Scioli 23.10.2015. verlor, und Mauricio Macri trat am

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10. Dezember sein Amt als neuer Präsi- ber auch in elf Provinzen gewählt so- dent Argentiniens an. wie ein Drittel der Kongressabgeord- Wie konnte es dazu kommen? Daniel neten erneuert. Dabei verlor die FPV Scioli hatte im Wahlkampf vor einer die wichtige Provinz Buenos Aires an unlösbaren Aufgabe gestanden: Er die Cambiemos-Kandidatin María Eu- sollte glaubhaft die Kontinuität eines genía Vidal, die sich überraschend politischen Projektes vermitteln, das gegen den Frente-Bewerber Aníbal er weder persönlich noch programma- Fernández durchsetzen konnte. Die tisch verkörpert. Scioli war innerhalb Provinz, historische Bastion des Pero- des Kirchnerismus immer eher ein Ge- nismus und dessen Machtbasis unter duldeter gewesen, auf den man wegen Führung der dort ansässigen Vorstadt- der strategischen Bedeutung der von barone der peronistischen Partei, stellt ihm regierten Provinz Buenos Aires 37 Prozent der Wahlberechtigten und nicht verzichten wollte. wird nun erstmals seit der Rückkehr Überdies wusste man im Regie- zur Demokratie 1983 nicht mehr von rungslager, dass es nach dem Urnen- einem peronistischen Gouverneur re- gang kein schlichtes „weiter so“ ge- giert. Zudem gewann Cambiemos in ben konnte. 2015 hatte die Regierung allen großen Städten des Landes (Bue- vor allem versucht, bis zu den Präsi- nos Aires, Córdoba, Rosario). Bei der dentschaftswahlen über die Runden zu Stichwahl zum Präsidentenamt stimm- kommen. Dafür rief sie immer wieder ten in der Stadt Córdoba sogar fast 75 die Errungenschaften der letzten zwölf Prozent für Mauricio Macri. Jahre ins Gedächtnis. Gleichzeitig schob sie die Lösung gewichtiger Pro- bleme auf die lange Bank. Dazu zäh- Die neue Rechte Argentiniens len insbesondere die hohen Inflations- raten, das stagnierende Wirtschafts- Dieser hatte in den Vormonaten mit wachstum, ein Energieversorgungsde- Cambiemos – einer Wahlallianz zwi- fizit und die zunehmend sichtbaren so- schen seiner die Hauptstadt regieren- zial-ökologischen Folgen des extrakti- den Propuesta Republicana (PRO) und vistischen Entwicklungsmodells.3 einem Flügel der Unión Cívica Radical Sciolis Wahlkampf geriet somit zu (UCR) – einen furiosen Wahlkampf hin- einem hoffnungslosen Unterfangen. gelegt. Schon der Name Cambiemos Er musste sich von seinem Kontrahen- („verändern wir!“) zeigt, wie gut Ma- ten Mauricio Macri abheben, obwohl cri die Stimmung in Teilen der argen- er ihm persönlich und programmatisch tinischen Bevölkerung wahltaktisch relativ ähnlich ist. Obendrein sollte er zu interpretieren wusste. Viele Bürger diesen Drahtseilakt vollbringen, ohne sind erschöpft von der Regierungsstra- dabei in jenen konfrontativen Politik- tegie einer permanenten Politisierung. stil zu verfallen, der die letzte Amts- Auch existiert unter den Argentiniern zeit Cristina Fernández de Kirchners ein Bewusstsein dafür, dass das kirch- geprägt hatte und den ihr viele unent- neristische Modell an seine Grenzen schlossene Wähler vorwarfen. gestoßen ist. Die Analyse der Wahlergebnisse Gleichzeitig verpassten Macri und zeigt aber auch, dass sich die Nieder- seine Mitstreiter der neuen Rechten lage des Kirchnerismus nicht allein auf einen humanen Anstrich. Dadurch die Auswahl des Spitzenkandidaten wurden sie nicht mit der neoliberalen zurückführen lässt. Denn außer einem Politik der 1990er Jahre in Verbindung neuen Präsidenten wurde am 25. Okto- gebracht, die zum wirtschaftlichen Zu- sammenbruch 2001 geführt hatte. So 3 Vgl. Tobias Boos, Argentinien: Das Ende des versprach Macri beispielsweise, das Kirchnerismus?, in: „Blätter“, 4/2015, S. 24-28. Kindergeld, ein Vorzeigeprojekt des

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Kirchnerismus, weiterzuführen. Und Nach sieben Jahren PRO-Regierung die designierte Vizepräsidentin Gab- blinkt die Stadt im Parteigelb, und die riela Michetti verkündete öffentlich, Porteños genannten Einwohner finden sie habe sich mit ihrem Votum gegen Gefallen an den renovierten Parks und die gleichgeschlechtliche Ehe geirrt. Plätzen. Bereits im Wahlkampf hatte Macris PRO ist ein organischer Aus- Macri das bedeutendste Infrastruk- druck der rechten Mitte Argentiniens, turprogramm der Geschichte Argenti- der es mit dieser relativ jungen Forma- niens angekündigt. tion erstmals gelang, eine eigene Par- Wie das wirtschaftspolitisch ausse- tei zu etablieren. Ihre Führungsriege hen soll, blieb aber unklar. Hier hielt besteht größtenteils aus der Unterneh- sich Cambiemos mit Aussagen be- merelite des Landes, die neben ihren wusst zurück. Viele ihrer ökonomi- ökonomischen Interessen vor allem tra- schen Referenten verschwanden in den ditionelle und konservative Werte vo- letzten Monaten des Wahlkampfs von rantreiben will. Dabei bedient sie sich der Bildfläche, um in der Bevölkerung einer modernen und dynamischen Ma- bloß keine Erinnerungen an die Ver- nagement- und Unternehmensrhetorik: armungs- und Exklusionsprozesse der Sie präsentiert Politik als Projekt; der 1990er zu wecken. Staat soll die Aktivitäten der unterneh- Neuer Haushalts- und Finanzmi- merischen Individuen ermöglichen. Bei nister ist jedoch der ehemalige Zen- ihren Veranstaltungen regnet es regel- tralbankpräsident Alfonso Prat Gay, mäßig bunte Luftballons, während der ein marktliberaler Hardliner, der die Parteichef ein Tänzchen auf der Bühne Kirchner-Regierung jüngst mit einer gibt. So verwandelte sich Macri, der rei- autoritären Monarchie verglich. Er che Unternehmer, in Mauricio, den net- plädiert für die absolute Unabhängig- ten Nachbarn von nebenan, der keine keit der Zentralbank und hat ange- Politik macht, sondern die öffentlichen kündigt, die bestehenden Devisen- Belange mit seinem Expertenteam beschränkungen sofort nach Amtsan- neutral und ganz ideologiefrei managt. tritt des neuen Präsidenten auf einen Da war der Vorwurf an seinen Kontra- Schlag aufheben zu wollen. Die Folgen henten Scioli nur konsequent, dieser einer solchen Schockpolitik lassen sich würde gute Ideen für Politik missbrau- nur erahnen: Im Januar 2014 verzichte- chen. Macris Botschaft hingegen laute- te die Zentralbank kurzzeitig auf eine te: Dialog statt politische Auseinander- Intervention am Devisenmarkt. Prompt setzung, Verwaltung statt Politik. Pro- stieg der Wechselkurs binnen zweier grammatische Aussagen suchte man Tage rasant an und führte zur größten bei ihm vergebens. Abwertung des Pesos seit den Krisen- jahren. Zudem wird die neue Regierung Wirtschaftsliberalismus den Rechtsstreit mit den sogenannten im Schafspelz Geierfonds neu ausverhandeln, um Ar- gentinien wieder Zugang zu den inter- Anhaltspunkte dafür, welche Politik nationalen Finanzmärkten zu ermögli- Argentinien künftig zu erwarten hat, chen.4 Welche rechtlichen Folgen das bietet jedoch der Blick auf die zwei für die Abkommen mit den anderen Amtszeiten Macris als Bürgermeister Gläubigern haben wird und ob es das von Buenos Aires: Auch als Präsident Land in eine neue Rekordverschuldung dürfte er die Strategie einer im öffent- stürzt, lässt sich derzeit schwer voraus- lichen Raum präsenten Politik verfol- sagen. Ohne Zweifel steht die argenti- gen und viele im Straßenbild sichtba- re Infrastrukturprojekte initiieren. In 4 Vgl. Michael R. Krätke, Argentinien unter Buenos Aires hat das gut funktioniert: Geiern, in: „Blätter“, 8/2014, S. 17-20.

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nische Wirtschaft gehörig unter Druck, schosse gegen Angestellte und Patien- und auch eine andere Regierung hät- ten der geschichtsträchtigen psychiat- te auf deren drängende Probleme ant- rischen Klinik José Tiburcio Borda ein- worten müssen. Der künftige Präsident setzte, als diese sich gegen den Abriss und sein Regierungsteam scheinen von Patientenwerkstätten wehrten. aber gewillt, die Last der notwendigen Anpassungspolitik größtenteils auf die Arbeiterklasse und die ärmsten Teile Regierung per Dekret der Bevölkerung abzuwälzen. Auch im Gesundheits- und Bil- Auch in der Außenpolitik wird Ar- dungsbereich wird es größere Um- gentinien einen anderen Kurs ein- strukturierungen geben. Diese dürften schlagen. Die Zeiten der Allianz mit still, aber trotzdem bestimmt vorange- den Regierungen von Bolivien, Ecua- trieben werden. In Buenos Aires hatte dor und Venezuela dürften sich dem Macri keine Kürzungen von jetzt auf Ende zuneigen. Stattdessen will Macri gleich vorgenommen, sondern Budgets die Verbindungen zu den USA stärken und Förderungen sukzessive in den und das 2005 gekippte amerikanische privaten Bildungs- und Gesundheits- Freihandelsabkommen wiederbele- sektor umgeleitet. Die universitäre Bil- ben. Den größten Widersacher dieses dung Argentiniens etwa ist, anders als Abkommens, Venezuela, möchte der in vielen lateinamerikanischen Nach- neue Präsident hingegen aus dem Staa- barländern, öffentlich und kostenlos. tenbündnis Mercosur ausschließen Doch im Wahlkampf kritisierte Macri lassen. Dazu setzt er auf eine Klausel, die Neueröffnung öffentlicher Univer- die eigentlich nur greifen soll, wenn sitäten in den letzten Jahren des Kirch- die demokratische Ordnung in einem nerismus. Er selbst ist der erste Präsi- Land bedroht ist. dent Argentiniens, der auf einer Privat- Viele dieser Vorhaben wird der neue universität ausgebildet wurde, der Uni- Präsident per Dekret durchsetzen müs- versidad Católica Argentina. sen, da die FPV trotz Verlusten immer Macri wird eine Politik für die städ- noch über zahlreiche Abgeordnete und tische Mittelklasse betreiben und zu- Senatoren im Kongress verfügt. Auch gleich ärmere Bevölkerungsteile kri- bleibt abzuwarten, wie sich die dem minalisieren. So hat der neue Präsi- Kirchnerismus zugehörigen Provinz- dent bereits gemeinsam mit der künfti- gouverneure verhalten werden. gen Gouverneurin der Provinz Buenos Offen bleibt vorerst, was Basisorga- Aires verkündet, er wolle den Sicher- nisationen, soziale Bewegungen und heitsnotstand ausrufen, um die Dro- Gewerkschaften der bevorstehenden genkriminalität zu bekämpfen. Jedoch Kehrtwende entgegensetzen können. trägt der korrupte und schlecht ausge- Die kirchneristischen Organisationen bildete Polizeiapparat selbst eher zur werden unter Beweis stellen müssen, steigenden Kriminalität bei. Die er- dass sie auch abseits der staatlichen In- wartbare Militarisierung der Sicher- stitutionen existieren können. Dabei heitspolitik lässt auf lange Sicht vor al- wird sich zeigen, wie weit es mit der lem die weitere Marginalisierung der viel gepriesenen Aktivierung und Poli- Bewohner ärmerer Gebiete befürch- tisierung der Jugend her ist. ten. Gegen unliebsame Proteste und Davon hängt auch ab, ob der freud- Straßenblockaden will Macri mit der sche Versprecher der neuen Gouver- ganzen Härte des Gesetzes vorgehen neurin der Provinz Buenos Aires am lassen. Wahlabend Realität wird. Sie verhas- Was das heißt, konnte man etwa im pelte sich in ihrer Dankesrede und ver- Jahr 2013 beobachten, als die Haupt- kündete: „Heute haben wir Zukunft stadtpolizei Tränengas und Gummige- gegen Vergangenheit getauscht.“

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Tatjana Ansbach und Martin Kutscha Die Flüchtlingsfrage: Der Sozialstaat in der Pflicht

Beim Umgang mit Flüchtlingen ist hängte.4 Daher, konstatiert die Soziolo- Deutschland tief gespalten: Auf der gin Cornelia Koppetsch, konkurrieren einen Seite engagieren sich zahlreiche die Menschen „nicht allein um bezahl- Menschen freiwillig und leisten den baren Wohnraum oder Jobs, sondern Ankommenden vor Ort spontan Hil- auch um staatliche Zuwendungen.“ fe. Dies ist umso notwendiger, als die Und da diese immer mehr gekappt eigentlich zuständigen Behörden vor werden, würden die Neuankömmlin- allem in personeller Hinsicht überfor- ge als unwillkommene „Nebenbuh- dert sind. Hier rächt sich der jahrelang ler“ empfunden.5 Schon nutzen die betriebene Abbau sozialstaatlicher sogenannten Wirtschaftsweisen und Infrastrukturen, unter dem nicht nur die „F die Gunst der Stunde, um ange- Flüchtlinge leiden, sondern alle Men- sichts der Flüchtlinge die Abkehr vom schen, die auf öffentliche Leistungen Mindestlohn und die Deregulierung angewiesen sind. So begrüßenswert des Arbeitsmarktes zu fordern.6 daher der Einsatz ehrenamtlicher Hel- Unter diesen Bedingungen bekom- fer für die Flüchtlinge auch ist – er darf men offen fremdenfeindliche Kräf- nicht zur Entlassung des Staates aus te ungeahnten Zulauf. Die Terrorak- gesetzlichen Aufgaben der Daseins- te in Paris werden von rechten Politi- vorsorge missbraucht werden. Das kern schamlos ausgenutzt, um rassisti- Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes sche Einstellungen zu schüren und vor erlaubt keine Rückkehr zu Prinzipi- einer angeblichen Bedrohung unserer en mittelalterlicher Caritas.1 Schon Gesellschaft durch den Islam zu war- Johann Heinrich Pestalozzi geißelte nen. CSU-Chef Horst Seehofer, aber die Wohltätigkeit als „Ersäufung des auch Bundesinnenminister Thomas de Rechts im Mistloch der Gnade“.2 Maizière und der SPD-Fraktionsvor- Gleichzeitig wächst bei vielen Ein- sitzende reagie- heimischen das Unbehagen über die ren auf diese Stimmungsmache mit der zahlreichen „Fremden“ mit ihrer ande- Forderung nach Obergrenzen bei der ren Kultur und Religion.3 Auch treffen Aufnahme von Flüchtlingen oder nach die Neuankommenden nicht mehr auf Kontingenten. Vor allem im linken einen funktionierenden Sozialstaat, Spektrum stößt dies auf entschiede- sondern auf eine fragmentierte Ge- nen Widerspruch. Initiativen wie das sellschaft: Sie ist in Reich und Arm ge- „Netzwerk konkrete Solidarität“ for- spalten, es gibt mittlerweile zahlreiche dern gar die Öffnung der Grenzen und prekär Beschäftigte und sozial Abge- die freie Wahl des Aufenthaltsortes für alle Menschen auf der Welt.7 1 Vgl. Martin Kutscha, Erinnerung an den So- zialstaat, in: „Blätter“ 3/2006, S. 355 ff. 4 Vgl. Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft 2 Vgl. Thomas Gebauer, Jenseits der Hilfe: Von des Sozialstaates, Wiesbaden 32006, S. 301 ff. der Wohltätigkeit zur Solidarität, in: „Blätter“ 5 Vgl. „Berliner Zeitung“, 13.8.2015. 4/2014, S. 78. 6 Vgl. „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 3 Vgl. Albrecht von Lucke, Merkel unter Druck. 12.11.2015; vgl. auch den Artikel von Stefanie Der Ruck nach rechts, in: „Blätter“ 11/2015, Janczyk in dieser Ausgabe. S. 5-8. 7 Vgl. https://nksnet.wordpress.com.

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Blätter_201601.indb 13 09.12.15 11:02 14 Kommentare und Berichte

Wie aber lassen sich rationale Kriterien aktuell insbesondere Flüchtlinge aus für den Umgang mit der manifesten Syrien oder aus Afghanistan wie auch Herausforderung gewinnen, jenseits vom Westbalkan. des bloßen Bauchgefühls und unrea- Obendrein erlitt das Grundrecht auf listischer Wunschvorstellungen, jen- Asyl 1993 eine regelrechte Amputa- seits aber auch von gnadenloser Ab- tion. Nach dem damals neu geschaffe- schottung Deutschlands? Eine wichtige nen Art. 16a Abs. 2 und 3 des Grund- Orientierungshilfe kann in dieser Situa- gesetzes gilt das Asylrecht grundsätz- tion ein Blick auf die menschenrechtli- lich nicht für Personen aus anderen chen Standards für die – ja keineswegs EU-Mitgliedsländern sowie aus sol- neue – Flüchtlingsfrage leisten. chen Staaten, die vom deutschen Ge- setzgeber zu „sicheren Herkunftsstaa- ten“ erklärt wurden. Neben Ghana Obergrenzen gegen geltendes Recht und Senegal sind dies seit Herbst 2015 auch Albanien, Kosovo und Montene- „Jedermann steht es frei, jedes Land gro, künftig nach dem Schulterschluss einschließlich seines eigenen zu ver- von Kanzlerin mit Prä- lassen“ – diese Gewährleistung enthält sident Recep Tayyip Erdogan mögli- unter anderem Art. 12 Abs. 2 des soge- cherweise auch die Türkei. Diese „Re- nannten UNO-Zivilpaktes von 1966, gelvermutung“ der Sicherheit in den den zahlreiche Staaten unterzeichnet betreffenden Herkunftsstaaten kann haben. Diesem Menschenrecht auf allerdings vom Flüchtling widerlegt Ausreise steht indessen kein allgemei- werden, indem er „Tatsachen vorträgt, nes Recht der Menschen auf Einreise die die Annahme begründen, dass er in ein Land ihrer Wahl gegenüber. Nur entgegen dieser Vermutung politisch EU-Bürgern gestattet das Unionsrecht verfolgt wird“ (Art. 16a Abs. 3 Satz 2 Freizügigkeit zwischen den Mitglied- Grundgesetz). Das dürfte zum Beispiel staaten.8 bei rassistischer Verfolgung von Ro- Allerdings gewährt Art. 16a des ma in manchen osteuropäischen Staa- Grundgesetzes „politisch Verfolgte(n)“ ten gegeben sein. Für die Flüchtlinge das Asylrecht. Der Tatbestand der poli- ist die Widerlegung der „Regelvermu- tischen Verfolgung wird im Licht der tung“ allerdings nicht leicht, da sie zu- Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. meist kaum Beweise für ihre Verfol- Juli 1951 weit verstanden. Danach steht gung vorlegen können. Der Erfolg ihres das Asylrecht jedem zu, der wegen sei- Antrags hängt deshalb weitgehend ner Rasse, Religion, Nationalität, Zuge- von der Einschätzung ihrer Glaubwür- hörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder digkeit durch den jeweiligen Beamten wegen seiner politischen Überzeugung des Bundesamtes für Migration und Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr Flüchtlinge ab. Dass diese Prüfung in für Leib und Leben oder Beschränkun- der Praxis ergebnisoffen durchgeführt gen seiner persönlichen Freiheit aus- wird, darf bezweifelt werden. Insge- gesetzt ist oder solche Verfolgung be- samt ist das geltende Konzept „sicherer gründet befürchtet. Diese Kriterien Herkunftstaaten“ jedenfalls überaus müssen allerdings in der Person des je- kritikwürdig. weiligen Antragstellers selbst erfüllt Flüchtlinge aus Kriegs- oder Bürger- sein. Das bedeutet: Menschen, die vor kriegsgebieten wie Syrien und Afgha- Hunger oder Bürgerkrieg in ihren Hei- nistan genießen allerdings auch dann matstaaten fliehen, gelten nicht schon menschenrechtlichen Schutz, wenn per se als asylberechtigt. Dies betrifft ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Ihrer Abschiebung stehen nämlich die so- 8 Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise genannten Refoulement-Verbote der der Europäischen Union. UNO-Folterkonvention sowie die Art.

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Blätter_201601.indb 14 09.12.15 11:02 Kommentare und Berichte 15

2 und 3 der Europäischen Menschen- drücklich klar: „Migrationspolitische rechtskonvention entgegen, wenn ih- Erwägungen, die Leistungen an Asyl- nen im Verfolgerstaat Tod, Folter oder bewerber und Flüchtlinge niedrig zu eine andere unmenschliche Behand- halten, um Anreize für Wanderungs- lung drohen – in diesen Fällen ge- bewegungen durch ein im internatio- währt das deutsche Asylrecht „subsi- nalen Vergleich eventuell hohes Leis- diären Schutz“ nach Paragraf 4 Asyl- tungsniveau zu vermeiden, können gesetz. Auch darüber hinaus enthält von vornherein kein Absenken des dieses eine Reihe von Tatbeständen, Leistungsstandards unter das physi- die eine Abschiebung verbieten, so sche und soziokulturelle Existenzmi- – unter bestimmten Voraussetzungen – nimum rechtfertigen. […] Die in Art. 1 bei schwerer Krankheit oder fehlenden Abs. 1 GG garantierte Menschenwür- Identitätsnachweisen. Die Festlegung de ist migrationspolitisch nicht zu re- einer numerischen Obergrenze für die lativieren.“9 Das Gericht erstreckt den Aufnahme von Flüchtlingen ließe sich verfassungsrechtlichen Anspruch auf mit dem geltenden Recht jedenfalls Gewährleistung eines menschenwür- nicht vereinbaren. digen Existenzminimums im Übrigen nicht nur auf die physische Existenz. Es verweist darauf, dass das Existenzmi- Menschenrechte gelten für alle nimum „auch die Sicherung der Mög- lichkeit zur Pflege zwischenmensch- Zwar ist der Status von Menschen aus licher Beziehungen und ein Mindest- anderen Staaten, die nicht als Asylbe- maß an Teilhabe am gesellschaftli- rechtigte anerkannt sind, nach unse- chen, kulturellen und politischen Le- rem Aufenthaltsrecht prekär und mit ben umfasst, denn der Mensch als Per- erheblichen Einschränkungen verbun- son existiert notwendig in sozialen Be- den. Doch auch in ihrem Fall müssen zügen.“10 die menschenrechtlichen Bindungen der deutschen Staatsgewalt greifen: Die meisten der im Grundgesetz nor- Der Schutz der Familie mierten Grundrechte gelten nicht nur für deutsche Staatsangehörige, Unter die existenznotwendigen so- sondern für alle Menschen, die sich zialen Bezüge des Menschen fallen in der Bundesrepublik aufhalten, un- in erster Linie die familiären Zusam- abhängig von ihrem asylrechtlichen menhänge. Diese sind völkerrechtlich Status. So erfordert insbesondere die beispielsweise durch Art. 8 der Euro- Unantastbarkeit der Menschenwürde päischen Menschenrechtskonvention bestimmte Standards bei staatlichen und verfassungsrechtlich durch Art. 6 Leistungen: In Massenunterkünften Abs. 1 Grundgesetz geschützt. In die- etwa ist ein Schutz der Privatsphäre ser Hinsicht wird die Verteilung von unmöglich, weshalb eine solche Unter- ankommenden Flüchtlingen auf die bringung nur für eine kurze Über- Bundesländer vor allem dann zum gangszeit statthaft ist. Problem, wenn Familienmitglieder ge- Mehr noch: Nach der Rechtspre- trennt einreisen, etwa weil sie sich auf chung des Bundesverfassungsgerichts der Flucht verloren haben. Denn damit ergibt sich aus der Menschenwürdega- Ehegatten in den Genuss einer Fami- rantie auch ein Anspruch auf Gewäh- lienzusammenführung kommen kön- rung des Existenzminimums, selbst nen, muss die Ehe standesamtlich ge- bei einer kurzen Aufenthaltsdauer oder -perspektive. In seinem Urteil 9 BVerfG, Az. 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, Randnum- mer 121, www.bverfg.de. vom 18. Juli 2012 zum Asylbewerber- 10 BVerfG, Urteil vom 09.02.2010, Az. 1 BvL 1/09, leistungsgesetz stellt das Gericht aus- Randnummer 135.

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Blätter_201601.indb 15 09.12.15 11:02 16 Kommentare und Berichte

schlossen und beurkundet sein. Aber Wir schaffen das – in vielen Ländern wird zuallererst, nur mit Sozialstaat teilweise gar ausschließlich, religiös oder nach den Sitten des jeweiligen Es genügt jedoch nicht, bloß die recht- Volkes geheiratet, etwa in Syrien und lichen Voraussetzungen der Aufnahme Israel. Sehr häufig reisen Flüchtlinge zu diskutieren. Wesentlich ist, die Inte- auch ohne Papiere ein und können ihre gration der Flüchtlinge voranzutreiben: Ehe deshalb nicht nachweisen. Ohne- Für die Arbeitsmarktintegration etwa hin haben Anträge auf Umverteilung muss die sogenannte Vorrangrege- für die Familienzusammenführung lung endlich abgeschafft werden, nach zumeist nur dann eine Chance, wenn der Asylbewerber nur arbeiten dürfen, es um Ehepartner oder um Eltern und wenn Deutsche und sogenannte bevor- ihre minderjährigen Kinder geht. Da- rechtigte Ausländer nicht zur Verfü- zu kommt eine weitere Hürde: Voraus- gung stehen. Nötig sind dazu überdies setzung für die Familienzusammen- Deutschkurse und Fördermaßnahmen führung ist, dass der Zuziehende ohne für geringer Qualifizierte. Die Integ- Sozialleistungen leben kann. ration von Kindern und Jugendlichen Jedoch müsste ein solcher Antrag wiederum braucht besser ausgestatte- nicht abgelehnt werden, wenn es nur te Schulen. Solange es Klassen gibt, in um die gerechte Lastenverteilung zwi- denen fast nur ausländische Kinder ler- schen den Bundesländern ginge. Viel- nen, und für Kindergärten und Schulen mehr sollen wohl keine Anreize für nicht wesentlich mehr Mittel zur Verfü- eine Flucht nach Deutschland geschaf- gung stehen, wird es Probleme mit der fen werden. Die rigiden Regeln, mit zweiten Generation von Einwanderern denen die Entscheidungsfreiheit der geben. Die Integration am Wohnort Flüchtlinge bei der Gestaltung ihrer fa- schließlich erfordert, dass Flüchtlinge miliären Beziehungen eingeschränkt nicht isoliert am Rand oder außerhalb wird, funktionieren wiederum als Mit- von Ortschaften untergebracht wer- tel der Abschreckung, also als Instru- den, sondern inmitten der Städte. An- ment der Migrationspolitik. gesichts der bereits bestehenden Woh- Ähnlich problematisch wäre die nungsnot sind daher massive staatliche Einrichtung abgeschotteter „Aufnah- Investitionen in den sozialen Woh- mezentren“, da den ankommenden nungsbau nötig. Kurzum, der Sozial- Flüchtlingen dort eine Verletzung der staat muss für alle, auch für Deutsche, Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. wieder ein Wort mit konkretem Inhalt 4 Grundgesetz droht. Ihr zufolge muss werden – anderenfalls wird die auslän- jeder Mensch die Möglichkeit haben, derfeindliche Stimmung wachsen und gegen Entscheidungen der „öffentli- werden die rechten Kräfte gestärkt. chen Gewalt“ gerichtlichen Rechts- Der Staat muss überdies seiner Schutz- schutz in Anspruch zu nehmen und pflicht für das Recht auf Leben und sich dabei rechtskundiger Hilfe zu be- körperliche Unversehrtheit entschie- dienen. Nach dem Urteil des BVerfG dener nachkommen und entschlos- zum Flughafenverfahren vom 14. Mai sener gegen rechte Gewalt vorgehen. 1996 müssen die zuständigen Behör- Aber ist er dazu auch bereit? Die Ver- den Vorkehrungen dafür treffen, dass tuschungsmanöver in der NSU-Affäre „die Erlangung gerichtlichen Rechts- und die mangelnde Aufklärung der schutzes nicht durch die obwaltenden zahlreichen Anschläge auf Flüchtlings- Umstände unzumutbar erschwert oder unterkünfte nähren jedenfalls Zweifel gar vereitelt wird.“11 daran. Das bedeutet: Ja, „wir schaffen das“ – aber nur, wenn das Verfassungs- 11 Entscheidungen des Bundesverfassungsge- versprechen des sozialen Rechtsstaates richts Bd. 94, S. 166, Leitsatz 4. wieder mit Leben gefüllt wird.

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Blätter_201601.indb 16 09.12.15 11:02 Kommentare und Berichte 17

Stefanie Janczyk Integration durch gute Arbeit

Viele der Flüchtlinge, die derzeit gert werden. Praktika sollten zumin- Deutschland erreichen, werden für dest bis zu einer Dauer von zwölf Mo- längere Zeit oder sogar für immer hier naten vom Mindestlohn ausgenommen bleiben. Für deren gesellschaftliche werden.“3 Unverhohlen wird hier die Teilhabe ist eine aktive Integrations- Absenkung von Standards gefordert politik erforderlich, das gilt insbeson- – und zwar nicht nur für Flüchtlinge, dere auch für den Arbeitsmarkt. sondern allgemein. Das Ergebnis wäre Aktuell prognostiziert das Institut vor allem eines: Erhöhte Lohnkonkur- für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung renz vor allem im „unteren“ ohnehin (IAB), dass im Jahr 2016 insgesamt wei- stark von Prekarität geprägten Bereich tere 380 000 potentielle Erwerbsperso- des Arbeitsmarktes – mit fatalen Aus- nen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung wirkungen für die Flüchtlinge selbst, stehen werden. Zudem wird mit einem aber auch für all jene, die hierzulande zusätzlichen Anstieg der Arbeitslosig- schon jetzt nur mit Mühe und Not ihren keit um 130 000 Personen gerechnet.1 Lebensunterhalt verdienen können. Viele der neuen Flüchtlinge sind sehr Das Gegenmodell hierzu lautet, Si- jung: Über 50 Prozent sind jünger als cherheit und Perspektiven für alle zu 25 Jahre; 70 Prozent unter 30 Jahren. schaffen: für Flüchtlinge, Beschäftig- Die berufliche Qualifikation wird ins- te und Arbeitslose. Soll dies gelingen, gesamt geringer als bei anderen Aus- ist die Verbesserung der Arbeitsmarkt- ländergruppen eingeschätzt.2 perspektiven von Flüchtlingen ein Somit gewinnt die Frage einer er- wichtiger Schritt. Denn derzeit haben folgreichen Arbeitsmarktintegration sie nur einen eingeschränkten Zugang von Flüchtlingen brisante Bedeutung. zum Arbeitsmarkt, zudem sind die Re- Entsprechend ist die Debatte bereits gelungen überaus komplex.4 in vollem Gang. Dabei wird von man- chen die Einführung niedrigerer Ein- stiegslöhne oder gar die Absenkung Wer darf überhaupt arbeiten? des Mindestlohns ins Spiel gebracht. So formuliert der Sachverständigen- In der öffentlichen Debatte wird der rat zur Begutachtung der gesamtwirt- Begriff „Flüchtling“ zumeist als Sam- schaftlichen Entwicklung: „Arbeitsu- melbegriff für Personen verwendet, chende anerkannte Flüchtlinge sollten die unter sehr unterschiedlichen auf- von Beginn an als langzeitarbeitslos enthaltsrechtlichen Bedingungen in betrachtet werden, und die Ausnahme Deutschland leben. Ihr aufenthalts- vom Mindestlohn für Langzeitarbeits- rechtlicher Status aber entscheidet lose in einer neuen Beschäftigung soll- über den Zugang zum Arbeitsmarkt. te von sechs auf zwölf Monate verlän- So steht anerkannten Flüchtlingen –

3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der 1 Vgl. IAB, Flüchtlingseffekte auf das Erwerbs- gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Kurz- personenpotential, Aktueller Bericht 17/2015. fassung des Jahresgutachtens 2015/16, S. 2. 2 Vgl. IAB, Flüchtlinge und andere Mi- 4 Vgl. auch: Stefanie Janczyk, Flüchtlinge und granten am deutschen Arbeitsmarkt: Der Arbeitsmarkt: Prekarität verhindern – Pers- Stand im September 2015. Aktueller Bericht pektiven und Sicherheit für alle schaffen, in: 14/2015, S. 4. „Soziale Sicherheit“, 11/2015, S. 394-399.

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Blätter_201601.indb 17 09.12.15 11:02 18 Kommentare und Berichte

etwa Asylberechtigten oder Flüchtlin- zeit insbesondere Flüchtlinge aus so- gen mit internationalem Schutzstatus genannten sicheren Herkunftsländern – ein gleichrangiger Arbeitsmarktzu- als Personen mit geringer Bleibepers- gang wie Inländern zu. Asylbewerber pektive.5 Zudem sind sie nun verpflich- und Geduldete benötigen dagegen tet, bis zur Entscheidung über ihren eine Arbeitserlaubnis, und es bestehen Antrag und im Falle einer Ablehnung weitere Hürden. Mit dem jüngst be- bis zu ihrer Abschiebung in einer Erst- schlossenen Asylpaket ist zudem die aufnahmeeinrichtung zu verbleiben. Unterscheidung in Asylbewerber und Da allgemein jedoch gilt, dass wäh- Geduldete mit „guter“ oder „geringer“ rend der Zeit in einer Erstaufnahme- Bleibeperspektive tief in die Gesetzes- einrichtung keiner Erwerbstätigkeit regelungen eingeschrieben worden, nachgegangen werden darf, bedeutet mit weitreichenden Folgen auch für dies faktisch ein dauerhaftes Arbeits- den Arbeitsmarktzugang. verbot für Flüchtlinge aus vermeintlich So dürfen Asylbewerber aus einem sicheren Herkunftsstaaten. sogenannten sicheren Herkunftsland, Viele der Betroffenen werden jedoch die nach dem 31. August 2015 einen womöglich länger oder dauerhaft hier Asylantrag gestellt haben, während leben, weil beispielsweise Abschiebe- des Asylverfahrens keine Beschäfti- hemmnisse bestehen. Mit der Neure- gung ausüben. Zugleich gelten der- gelung wird ihnen die Perspektive auf ein eigenständiges Leben verwehrt. Sie sind gezwungen, untätig in den oft- mals trostlosen Einrichtungen die Zeit zu verbringen und mit äußerst knapp

Anzeige bemessenen finanziellen Mitteln aus- zukommen. Besonders frustrierend ist dies für junge Erwachsene. Für andere Asylbewerber und Geduldete besteht eine sogenannte Wartefrist, in der sie keine Beschäftigung aufnehmen dür- fen. Zwar wurde diese Ende 2014 auf drei Monate verkürzt. Doch seit dem jüngsten Asylpaket sind Asylbewer- ber unabhängig von ihrem Herkunfts- land verpflichtet, nun bis zu sechs statt drei Monate in einer Erstaufnahmeein- richtung zu verbringen. Alle, die davon tatsächlich betroffen sind, unterlie- gen somit einem verlängerten Arbeits- Die Prämie für jedes verbot. neue »Blätter«-Abo! Wenn Asylberechtigte und Gedul- dete dann vom Grundsatz her arbeiten dürfen, besteht für sie ein nachrangi- Alberto Acosta . Elmar Altvater . Maude Barlow ger Arbeitsmarktzugang: Sie müssen Ulrich Brand . Jayati Ghosh . David Harvey Tim Jackson . Naomi Klein . Serge Latouche 5 Die Einstufung von Staaten als „sicher“ ist sehr umstritten. Als „sichere“ Herkunfts- Vandana Shiva . Harald Welzer . u.v.a. länder gelten derzeit Mitgliedstaaten der EU sowie Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Mehr auf www.blaetter.de Senegal, Serbien. Vgl. auch: Kirsten Schöne- feld und Stine Klapper, Mazedonien oder die 336 Seiten . 18 Euro . ISBN 978-3980492591 Legende vom sicheren Drittstaat, in: „Blätter“, 11/2014, S. 25-28.

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Blätter_201601.indb 18 09.12.15 11:02 Kommentare und Berichte 19

für eine konkrete Beschäftigung eine Duldung generell sind mit großen Un- Erlaubnis bei der Ausländerbehörde sicherheiten behaftet – für potentiel- beantragen. Im Rahmen ihrer Ermes- le Auszubildende wie auch Arbeitge- sensentscheidung muss die Ausländer- ber. Denn die Duldung ist kein Aufent- behörde die Bundesagentur für Arbeit haltstitel, die geduldete Person bleibt (BA) um Zustimmung anfragen; die BA ausreisepflichtig. Aus diesem Grund wiederum führt unter anderem eine kommt ein Ausbildungsverhältnis häu- Vorrangprüfung durch, in der kontrol- fig nicht zustande. Dringend erforder- liert wird, ob es deutsche oder andere lich ist daher eine Regelung, die von „bevorrechtigte“ Personen für die zu Anfang an einen Aufenthaltstitel für vergebende Stelle gibt. die gesamte Ausbildungszeit vorsieht, In jüngerer Zeit sind allerdings die der zudem nach erfolgreichem Ab- Ausnahmen ausgeweitet worden, in schluss für eine Weile fortbesteht, da- denen die Prüfung entfällt: So ist et- mit ausgebildete Flüchtlinge die Chan- wa bei bestimmten hochqualifizier- ce haben, im Anschluss einen Arbeits- ten Asylbewerbern und Geduldeten platz zu finden. in einem „Mangelberuf“ – das sind je- ne Berufe, in den ein Fachkräfteman- gel besteht, beispielsweise Naturwis- Lohndumping und Ausbeutung senschaftler und Ingenieure – keine verhindern Vorrangprüfung erforderlich. Dies gilt ebenfalls für die meisten Formen von Schlechte Arbeitsbedingungen, Lohn- Praktika sowie betriebliche Ausbil- dumping oder gar Ausbeutung sind für dung; gänzlich entfällt die Vorrang- viele Flüchtlinge Realität. Um hier vor- prüfung nach 15 Monaten Aufenthalt. zubeugen, obliegen der BA neben der In der jüngeren Vergangenheit ist Vorrangprüfung auch die Prüfung der somit durchaus ein Abbau von Hürden Beschäftigungsbedingungen. Sie soll erfolgt. Mit der jüngsten Ausweitung dem individuellen Schutz der Flücht- der Verweildauer in einer Erstaufnah- linge dienen und dazu beitragen, Ver- meeinrichtung und der damit verbun- werfungen am Arbeitsmarkt zu unter- denen Verlängerung des Arbeitsver- binden. Damit dies auch gelingt, muss bots wird dies jedoch konterkariert. sie aber auch konsequent angewendet Auch mit Blick auf die berufliche werden und entsprechendes Personal Ausbildung agiert die Politik halbher- zur Verfügung stehen. Gleiches gilt zig. Asylbewerber können ab dem vier- mit Blick auf den Zoll, der ebenfalls ten Monat und Geduldete sofort eine für Prüfung bestimmter Standards am Ausbildung aufnehmen, sofern sie nicht Arbeitsmarkt zuständig ist, etwa die aus sicheren Herkunftsländern kom- Einhaltung des Mindestlohns. Bisher men. Notwendig ist aber auch hier eine lässt die Bundesregierung einen Aus- Erlaubnis der Ausländerbehörde für bau diesbezüglicher Aktivitäten je- den konkreten Ausbildungsplatz. Zu- doch vermissen. dem kann seit August 2015 einem ab- Stattdessen hat die Politik mit dem gelehnten Asylbewerber, der nicht aus Asylpaket das Leiharbeitsverbot für einem sicheren Herkunftsland kommt Asylbewerber und Geduldete gelo- und der vor Vollendung des 21. Lebens- ckert: Bislang durften diese in den ers- jahres eine Ausbildung beginnt, für die ten vier Jahren ihres Aufenthalts nicht Zeit der Ausbildung eine Duldung er- als Leiharbeiter beschäftigt werden, teilt werden. Diese gilt für ein Jahr und nun ist dies bereits nach 15 Monaten soll bei fortdauernder Ausbildung ver- und in den „Mangelberufen“ schon längert werden. früher möglich. Diese Lockerung ist Doch diese lediglich etappenwei- mit Skepsis zu betrachten, denn Leih- se Verlängerung sowie der Status der arbeit hat sich bisher zumeist nicht

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Blätter_201601.indb 19 09.12.15 11:02 20 Kommentare und Berichte

als Sprungbrett in sichere und gute marktperspektiven von Flüchtlingen Arbeit erwiesen. Vielmehr bedeutet zugleich auch Ansätze erforderlich, sie für viele eine dauerhafte Beschäf- die auf eine verbesserte und wirksame tigung zu schlechteren Arbeits- und Unterstützung hier lebender Arbeitslo- Entlohnungsbedingungen als Stamm- ser und von Arbeitslosigkeit Bedrohter beschäftigte. Entsprechend birgt die zielen. Lockerung in erster Linie die Gefahr, Das gilt insbesondere für junge dass sich den Flüchtlingen zwar ein Menschen, Langzeitarbeitslose, Ge- erster Arbeitseinstieg, aber langfris- ringqualifizierte, Berufsrückkehrerin- tig keine Aufstiegsperspektive bietet nen und andere Gruppen, die bisher und dass letztlich insgesamt atypische nicht von der Arbeitsmarktlage pro- Beschäftigung sowie die Spaltung am fitieren konnten. Elemente einer sol- Arbeitsmarkt weiter zunehmen. chen Doppelstrategie wären, für Asyl- Der unsichere Aufenthaltsstatus und bewerber und Geduldete einen An- die Hürden am Arbeitsmarkt erschwe- spruch auf Integrationskurse zu schaf- ren Asylbewerbern und Geduldeten fen und arbeitsmarktpolitische Instru- nicht nur die Aufnahme einer Beschäf- mente – vor allem im Bereich der Aus- tigung, sie machen sie auch anfällig bildungsförderung – weiter zu öffnen. für prekäre Beschäftigungsverhältnis- Darüber hinaus müssen zusätzliche se. Eine Verbesserung ihrer Arbeits- Finanzmittel für eine breite Qualifi- marktmöglichkeiten kann dazu bei- zierungsinitiative zur Verfügung ste- tragen, hier Abhilfe zu schaffen. Erfah- hen, die gleichermaßen Flüchtlinge so- rungen zeigen, dass die Arbeitsmarkt- wie Geringqualifizierte und Arbeits- integration von Flüchtlingen – selbst lose einbezieht, die hier geboren sind von anerkannten – Zeit braucht. Un- oder schon länger hier leben. Auf die- zureichende Deutschkenntnisse, eine se Weise kann verhindert werden, dass schwierige Kompetenzfeststellung, hiesige Arbeitslose bzw. Beschäftigte lange Verfahren bis zur Anerkennung und Flüchtlinge gegeneinander aus- von Schul-, Ausbildungs- oder Studien- gespielt werden. Zugleich kann so dem abschlüssen, Qualifizierungsbedarfe Entstehen von Ressentiments vorge- und anderes spielen hier eine Rolle. beugt werden. Dem stehen das politische Ziel einer Letztlich ist somit eine solidarische frühzeitigen Integration und auch der Neuordnung am Arbeitsmarkt im Inte- Wunsch vieler Flüchtlinge, schnellst- resse aller gefordert: Um Verdrängun- möglich Geld zu verdienen, entgegen.6 gen und den Abbau bestehender Stan- Soll es hier nicht zu einer schnellen In- dards zu verhindern, ist eine Regulie- tegration in „egal welchen Job“ kom- rung des Arbeitsmarktes notwendig, men, sondern sollen Wege in Beschäfti- die Lohndumping und die Ausweitung gung mit Perspektive eröffnet werden, prekärer Beschäftigung insgesamt ver- sind integrierte Ansätze notwendig, die hindert. Ebenso bedarf es wirksamer Sprachförderung, Qualifizierung und Kontrollen am Arbeitsmarkt durch die Beschäftigung intelligent miteinander zuständigen Institutionen. Und nicht verbinden. zuletzt braucht es klare Signale für Um Perspektiven und Sicherheit am (Langzeit-)Arbeitslose. So können die Arbeitsmarkt für alle zu sichern, sind Schwächsten geschützt und Perspek- neben einer Verbesserung der Arbeits- tiven und Sicherheit am Arbeitsmarkt für alle geschaffen werden. Vor allem 6 Vgl. Volker Daumann et al., Early Interven- aber können wir nur so die immensen tion – Modellprojekt zur frühzeitigen Arbeits- Herausforderungen bewältigen, vor marktintegration von Asylbewerberinnen und denen unsere Einwanderungs- und Asylbewerbern. Ergebnisse der qualitativen Begleitforschung, IAB-Forschungsbericht damit unsere Arbeitsgesellschaft der- 3/2015. zeit stehen.

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Ulrike Baureithel Sterbehilfe: Der Druck zum »Freitod«

Die Alarmmeldungen aus deutschen ten Jahren auch eine intensive Debatte Pflegeheimen werden dringlicher: um Sterbehilfe statt, die mit dem jüngs- schlechte Ausstattung, viel zu dünne ten Beschluss des Bundestages nicht Personaldecke, Vernachlässigung bis beendet sein wird: Weder Mediziner zur Katastrophe. Kürzlich ging der Fall noch die Gesellschaft hätten das Recht, eines Berliner Heims durch die Pres- so der Münchener Palliativmediziner se, in dem eine einzige Hilfskraft an und prominenter Unterstützer der Ster- einem Sonntagmorgen alleine für 21 behilfe, Gian Domenico Borasio, Ster- Patienten zuständig war und in ihrer benskranke zu bevormunden und dar- Verzweiflung die Feuerwehr rief.1 über zu entscheiden, wie sie zu sterben Nachdem die Beschwerden von An- hätten.3 gehörigen nichts gefruchtet haben, er- mittelt nun das LKA. Dabei lag die betroffene Pflegerin Gewissensentscheidung noch unter dem, was Pflegekräfte in im Parlament den Nachtschichten stemmen müssen: Da ist eine Betreuungskraft für durch- So sahen es auch nicht wenige Ab- schnittlich 51,6 Bewohner verantwort- geordnete, die nach dem ersten ge- lich, wie eine Untersuchung der Uni- scheiterten Anlauf im Jahre 2006 En- versität Witten/Herdecke kürzlich er- de November noch einmal über die gab. Ein Viertel der Beschäftigten kann in Deutschland bislang ungeregelte in dieser Zeit noch nicht einmal eine ärztliche Suizidbeihilfe zu entschei- Pause machen, fast alle klagen über „zu den hatten. Vier interfraktionelle Ent- wenig Zeit“ für die Bewohner.2 würfe lagen hierfür vor: vom gene- Diese Zustände suggerieren, dass al- rellen Verbot von Sterbehilfe um die te Menschen ein nicht mehr rentabler CDU-Abgeordneten Kostenfaktor für die Gesellschaft sind. und Thomas Dörflinger bis hin zur Oft genug sind sie zu schwach, um sich Zulassung von Sterbehilfevereinen, gegen eine solche Behandlung zu weh- solange diese keine Gewinnabsich- ren. Kein Wunder, dass viele sich vor- ten verfolgten, wie es die Gruppe um zeitig Gedanken darüber machen, wie Renate Künast (Grüne) und sie ihr Lebensende verbringen wollen, (Linke) forderte.4 Für eine gewerblich ob lebensverlängernde Maßnahmen organisierte Sterbehilfe, wie sie der beansprucht werden oder nicht. Ob damit in Verruf und auch unter Straf- hierfür Patientenverfügungen wirklich verdacht geratene ehemalige Hambur- weiterhelfen, ist längst nicht so eindeu- ger Justizsenator Roger Kusch betreibt, tig zu bejahen. Ebenfalls mit der Absicht, die Patien- 3 Vgl. zuletzt Gian Domenico Borasio, Selbstbe- tenrechte zu stärken, fand in den letz- stimmt sterben, München 2015. 4 Neben dem im Folgenden ausgeführten Ent- wurf von Brand/Griese machten sich Peter 1 Vgl. „Tagesspiegel“, 21.11.2015. Hintze (CDU) und (SPD) für 2 Jörg große Schlarmann und Christel Biens- die Stärkung des ärztlichen Standesrechts tein, Die Nacht in deutschen Pflegeheimen. stark und beabsichtigten, die Regelung der Ergebnisbericht unter www.uni-wh.de/nacht- Sterbehilfe den ärztlichen Berufsorganisatio- wachenstudie. nen zu überantworten.

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Blätter_201601.indb 21 09.12.15 11:02 22 Kommentare und Berichte

wollte keiner der Abgeordneten in die stützen, aus der Strafverfolgung aus- Bresche springen. Dass sich am Ende genommen. Mediziner, die in Einzel- der gemäßigte Antrag aus der großen fällen bei der Selbsttötung assistieren, Mitte des Parlaments unter der Feder- betonten die Initiatoren dieses Ent- führung von Michael Brand (CDU) wurfs, geraten ebenso wenig in Ver- und (SPD) durchsetzte, dacht. Aber gerade hier gibt es gewis- war nicht so erstaunlich, hatte doch se Unschärfen, die mit dem Begriff der in der letzten Etappenstrecke neben Geschäftsmäßigkeit zu tun haben. Gesundheitsminister Hermann Gröhe Denn juristisch bedeutet „geschäfts- (CDU) und den Fraktionsvorsitzenden mäßig“ nicht, wie im Alltagsgebrauch der Großen Koalition und der Grünen üblich, eine gewerbliche Tätigkeit, ausnahmsweise auch die Kanzlerin ihr sondern der Begriff fokussiert auf die Gewicht dafür in die Waagschale ge- Wiederholung einer Tat. Die Initiatoren worfen. Für diese Einflussnahme ern- des beschlossenen Antrags, Brand und teten sie reichlich Kritik, ging es doch Griese, wollen damit vor allem Ster- um eine im Parlament nicht gerade üb- behilfevereinen das Handwerk legen, liche „Gewissensentscheidung“, die die mittels Mitgliedsgebühren ein Ge- vom Fraktionszwang befreite. Über- schäft mit dem Sterben machen. Das raschender war vielmehr, dass der ärztliche Entscheidungsrecht, einem Entwurf bereits in der ersten Abstim- sterbenskranken Patienten in seiner mungsrunde eine Mehrheit von 309 finalen Lebensphase beizustehen, sei Stimmen erhielt.5 Damit erledigte sich dadurch nicht berührt. Einzig etwa für auch eine in letzter Minute eingefädel- Palliativmediziner, die sich vor allem te Absprache derjenigen, die die Ster- auf direkte Sterbehilfe spezialisierten, behilfe auf keinen Fall im Strafrecht könnte es schwierig werden. verankert sehen und gemeinsam dafür Die Sterbehilfebefürworter sehen sorgen wollten, dass alles beim Alten das anders und geißeln, dass Ärzte bleibt. unter „Generalverdacht“ gestellt wür- den. Durch den Begriff „geschäftsmä- ßige Suizidbeihilfe“, sagte Renate Kü- Geschäftsmäßige Suizidhilfe nast in der Bundestagsdebatte, hin- ist verboten ge über jedem Krebsarzt oder Pallia- tivmediziner „das Damoklesschwert Geschäftsmäßige Suizidhilfe, so soll eines Strafverfahrens“. Ärzte, so die es nun im Gesetz stehen, wird künftig Kritik, handelten immer „geschäfts- unter Strafe gestellt: „Wer in der Ab- mäßig“. Der gesundheitspolitische Ex- sicht, die Selbsttötung eines anderen perte der SPD, Karl Lauterbach, gab zu zu fördern“, heißt es in der verklausu- bedenken, dass schon die ärztliche Be- lierten Juristensprache, „diesen hierzu ratung „nicht mehr ergebnisoffen“ ver- geschäftsmäßig die Gelegenheit ge- laufen könne, weil sich ein Arzt damit währt, verschafft oder vermittelt, wird automatisch in Verdacht brächte. mit Freiheitsstraße bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“ Nicht unter Strafe steht die Beihilfe zum Suizid, Gehört »mein Ende« wirklich mir? wenn sie nicht auf Dauer und Wieder- holung angelegt ist. Über dieser auf Begriffsklärung be- Damit sind Menschen, stellt der Text mühten Überzeugungsarbeit ging in klar, die Angehörige oder Vertraute bei dieser letzten entscheidenden Bun- der Durchführung eines Suizids unter- destagsdebatte, die ganz sicher nicht als „Sternstunde“ in die Parlaments- 5 In der zweiten entscheidenden Abstimmung waren es sogar 360 Jastimmen, 233 Neinstim- geschichte eingehen wird, der eigent- men und neun Enthaltungen. liche Kern der Sterbehilfediskussion

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Blätter_201601.indb 22 09.12.15 11:02 Kommentare und Berichte 23

verloren. Können Patienten im Na- geschätzt 2,8 Prozent, mit steigender men des Selbstbestimmungsrechts Tendenz. Ähnlich in Belgien, wo gera- Dritten, insbesondere Ärzten, die qua de über die Sterbehilfe für Kinder dis- Profession der Lebenserhaltung ver- kutiert wird: Dort haben sich die An- pflichtet sind, zumuten, ihnen bei der träge von 3,4 Prozent im Jahre 2007 auf Selbsttötung zu assistieren? Gehört 5,9 Prozent (2013) erhöht und der An- „mein Ende“ wirklich mir, wie Mat- teil der Gewährungen ist von 55,4 auf thias Birkwald von der Linkspartei in 76,7 Prozent gestiegen. Als „Suizidpro- der Bundestagsaussprache im Juli em- phylaxe“, wie manche Sterbehilfebe- phatisch vortrug, in Analogie zu einer fürworter ins Feld führen, lässt sich die alten Forderung der Frauenbewegung gesetzliche Liberalisierung also gerade („Mein Bauch gehört mir“)? Welche nicht lesen. Folgen hätte die geregelte Freigabe In einem aufschlussreichen Inter- der Sterbehilfe in Deutschland gehabt view beleuchtete der niederländische angesichts der Entwicklungen in den Medizinethiker Theo Boer, ehemals europäischen Nachbarländern? Und Mitglied der Kontrollkommission sei- was folgt aus dem Votum der Abgeord- nes Landes, die Senkung der Hemm- neten, die am Tag zuvor noch ein neues schwellen durch die „Enttabuisierung Palliativgesetz durchs Parlament ge- des gesteuerten Sterbens“.7 Hatten bracht hatten, als wollten sie ein Lip- sich anfangs fast ausschließlich Aids- penbekenntnis abgeben? Patienten oder Krebskranke um Sui- zidbeihilfe bemüht, ist ihr Anteil in- zwischen auf 75 Prozent gesunken, Niederlande und Belgien: dafür sind Demenzkranke, psychisch Die lebensmüden Nachbarn Kranke und Menschen, die mit ihren Altersbeschwerden nicht klarkommen, Unser Nachbarland, die Niederlande, in den Kreis gerückt. Der Druck, so aber auch Belgien sind aufschlussrei- Boer, der aus der Umgebung kom- che Beispiele dafür, welche Auswir- me, werde oftmals von den Patienten kungen erweiterte Suizidhilfeangebo- internalisiert. Seitdem das subjektiv te nicht nur auf die Inanspruchnahme, empfundene Leidenskriterium gesetz- sondern auch auf das Verhältnis zwi- lich verankert worden ist, kann sich schen Arzt und Patient haben. Eine die Kommission dem Suizidbegehren im August 2015 veröffentlichte Studie meist gar nicht mehr entziehen. Für stellte fest, dass in den beiden Ländern viele Niederländer sei es inzwischen mit den weltweit liberalsten Sterbehil- unverständlich, wenn sich ein Arzt feregelungen – Ärzte dürfen dort tödli- ihrem Ansinnen verweigert, sie sehen che Medikamente anbieten und selbst in der Suizidbeihilfe ein ihnen zuste- verabreichen – im letzten Jahrzehnt hendes Recht. Einerseits nobilitiert das eine alarmierende Ausweitung der ärztliche Monopol auf Tötung die Me- Suizidindikation zu verzeichnen ist. diziner, andererseits sind sie nun die Dort sind es nicht mehr nur todkranke Erfüllungsgehilfen ihrer Patienten. Patienten mit aussichtsloser Prognose, Die Vorstellung eines aus dem die aus dem Leben gehen wollen, son- Selbstbestimmungsrecht abgeleiteten dern auch immer mehr „Lebensmüde“, Rechts auf Beihilfe beim Sterben, die die einen Antrag bei der zuständigen auch die Debatte im Deutschen Bun- Kommission stellen.6 Inzwischen liegt destag bestimmte, ist selbst schon frag- der Anteil von Sterbehilfe an allen würdig. Gibt es überhaupt eine Art Todesfällen in den Niederladen bei Eigentum am eigenen Tod, fragt die

7 Vgl. „Die Hemmschwellen zur Selbsttötung 6 Studie in JAMA Internal Medicine (2015; doi: sind gesunken“, in: „Frankfurter Allgemeine 10.1001/jamainternmed.2015.39). Zeitung“, 28.10.2015.

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Blätter_201601.indb 23 09.12.15 11:02 24 Kommentare und Berichte

Soziologin Stefanie Graefe, oder ist die 200 Mio. Euro, die der Gesundheitsmi- autonome Verfügung darüber nicht nister im Rahmen des Palliativgesetzes schon Ausdruck der „planerischen nun bereitstellt, ist das wohl kaum zu Vernunft“ des Homo oeconomicus, der bewerkstelligen. sich den betriebswirtschaftlichen For- Eine kürzlich erschienene Bertels- derungen der Gesundheitsversorgung mann-Studie weist auf die eklatante beugt?8 Und ist diese Form der Selbst- Versorgungslücke hin.9 Danach wün- inszenierung des eigenen Sterbens – schen sich drei Viertel aller Deutschen etwa in der Art des Schriftstellers Wolf- den Tod in vertrauter Umgebung, aber gang Herrndorf – so die Überlegung vergönnt ist das nur 20 Prozent. Kaum von Katrin Göring-Eckardt in der Bun- einer will, wen wundert es, im Pflege- destagsaussprache im Juli, nicht die heim sterben, aber dieses Schicksal er- Apotheose des sich selbst optimieren- eilt durchschnittlich 31 Prozent aller den Menschen, der auch noch sein En- Bundesbürger, Berlin hält mit fast der de „in den Griff“ bekommen will? Hälfte aller Sterbenden dabei sogar den traurigen Rekord. Die Republik, gab der gesundheitspolitische Spre- Mit Sterbehilfe der inhumanen cher der Grünen, Harald Weinberg, in Gesellschaft entkommen? der Bundestagsdebatte zu bedenken, sei von einer flächendeckenden Ver- Die Furcht, künftig in einer Republik zu sorgung weit entfernt; 522 000 Men- leben, in der der Einzelne sich auch auf schen hätten Palliativversorgung nö- dem Markt der Todesarten bedienen tig, aber nur maximal 100 000 käme sie kann, schien bei vielen Abgeordneten auch zugute. durch. Die Forderung nach Sterbehilfe Angst ist der Motor, der auch das Ge- dürfe nicht der letzte Ausweg für je- schäft der Sterbehilfe am Laufen hält. ne sein, die argwöhnen, in einem un- Die Geschäftemacher sitzen schon in menschlichen, vom Ökonomisierungs- den Startlöchern, um zu verhindern, druck gebeutelten Gesundheitssystem dass der neue Paragraph 217 – der unter die Räder zu kommen. Vielleicht einstmals übrigens „Kindstötung“ re- war gerade dieses Schreckgespenst gelte und vor dem berüchtigten Para- der Anlass, jedwede Art von geschäfts- graph 218 steht – rechtswirksam wird. mäßiger Verfügung über den Tod unter Der deutsche Ableger der Schweizer Strafe stellen zu wollen. Nicht zuletzt Sterbehilfeorganisation Dignitas hat deshalb, damit wir wenigstens nicht im bereits Verfassungsbeschwerde ange- Sterben ins Antlitz einer Gesellschaft kündigt. Sie fürchtet, dass schon ihre blicken müssen, die, wo es um nicht Beratungstätigkeit unter den Strafbe- länger Leistungsfähige geht, durchaus stand der Vermittlung von Sterbehilfe auch inhumane Züge aufweist. fällt. Insofern ist der Entscheidung der Die Auseinandersetzung wird also Abgeordneten, Sterbehilfevereine zu weitergehen. Und an der Neigung der verbieten, auch ein gewisses Wegdu- Waage wird sich ablesen lassen, wie cken eingeschrieben – zumindest so ernst es der Gesellschaft damit ist, die lange, wie nicht gleichzeitig Rahmen- nicht mehr Nützlichen an ihrem Le- bedingungen geschaffen werden, die bensende gut zu versorgen. ein zuwendungsorientiertes würdi- ges Sterben in palliativmedizinischen Versorgungsnetzen, die diesen Namen verdienen, ermöglichen. Doch mit den

8 Stefanie Graefe, Autonomie am Lebensende. 9 Vgl. Bertelsmann-Studie „Palliativversor- Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte gung“, Spotlight Gesundheit 10/2015, www. um Sterbehilfe, Frankfurt a.M. 2008. bertelsmann-stiftung.de.

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Blätter_201601.indb 24 09.12.15 11:02 Kommentare und Berichte 25

Thomas Kistner DFB und FIFA: Der verkaufte Fußball

Die Korruptionsdebatte im Weltfuß- als Trottel der Nation. Er sei vom rea- ball hat Mitte Oktober auch Deutsch- len Alltag abgekapselt gewesen – ja, land erreicht. Seither hängt die Frage, und erst mit Ende fünfzig erwachsen ob das Sommermärchen aus dem Jahr geworden, erzählt der Mann, der den 2006 weiter als solches bezeichnet wer- Deutschen seit Dekaden als Fußball- den darf, nur noch vom Standpunkt des kaiser und Lichtgestalt gilt. Erst da ha- Betrachters ab. Zwar hat das Turnier an be er angefangen, seine persönlichen sich, bei dem die Nation zur offenbar Dinge selbst zu regeln. Zuvor habe er eigenen Verwunderung in eine weltof- stets und alles unterschrieben, was fene, entspannte Gastgeberrolle fand, ihm seine Helfer so vorlegten. Mögli- wenig zu tun hat mit den fragwürdi- cherweise auch allerlei dubiose Verträ- gen Zahlungsvorgängen rund um die ge, und vielleicht auch einen Schuld- deutsche WM-Bewerbung und -Orga- schein, auf dem er sich persönlich für nisation. Andererseits fällt es schwer, die Zahlung von zehn Mio. Schweizer das eine vom anderen zu trennen, wes- Franken für das deutsche WM-Orga- halb die angemessene Antwort eher nisationskomitee (WM-OK) verbürgt so lautet: Es liegt ein Schatten auf dem haben soll. nationalen Freudenfest. Wie groß er ist, Zehn Mio. Schweizer Franken: Die wie bedeutend, das wird sich erst im wollen die deutschen WM-Organisato- Laufe der Ermittlungen weisen, die ja ren 2002 an die Fifa überwiesen haben, im Lande und auch außerhalb geführt wobei der damalige Adidas-Eigentü- werden. mer Robert Louis-Dreyfus als Darle- Als gesichert erscheint aber: Die hensgeber fungiert haben soll. Die- einstigen Helden der deutschen Fuß- se Zahlung hätten Vertreter des Fifa- ballführung, von Franz Beckenbauer Finanzkomitees um Sepp Blatter gefor- über Horst R. Schmidt, lange Jahre die dert, erzählen Beckenbauer, Niersbach Seele des Deutschen Fußball-Bundes und Co. Als eine Art Vorauszahlung (DFB), bis Wolfgang Niersbach, den die dafür, dass der Weltverband dem WM- Affäre schon das DFB-Präsidentenamt Ausrichter Deutschland statt der vorge- gekostet hat – diese Helden haben viel sehenen 150 Mio. Schweizer Franken zu verbergen. Dass sie Sinn und Zweck Organisationskosten-Zuschuss gleich einer Zahlung von 6,7 Mio. Euro, die 100 Mio. mehr bezahlte, nämlich 250 sie raffiniert verkleidet am damali- Mio. Franken. Klingt schon diese Sto- gen Aufsichtsgremium vorbei in die ry grotesk, wird sie getoppt von der Be- Schweiz expediert hatten, heute nicht hauptung, Beckenbauer habe erst er- erklären können, ist absurd. wogen, die zehn Mio. aus seinem Pri- vatvermögen vorzustrecken. Drei Jahre später, Anno 2005, habe Der Kaiser als tumber Tor Louis-Dreyfus sein Darlehen zurück- verlangt, und das sei dann über die Das wirkt so unglaubwürdig wie Be- 6,7-Mio.-Zahlung des WM-OK begli- ckenbauers Versuch, sich in Print- und chen worden. So lautet sie bisher, die Funkmedien als eine Art ewig Heran- Sommer-Märchengeschichte der in die wachsender zu verkaufen – oder sogar: Bredouille geratenen deutschen Funk-

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Blätter_201601.indb 25 09.12.15 11:02 26 Kommentare und Berichte

tionäre. Weil die 6,7 Mio. für andere 2000, eine Ausnahme für Deutschland Dinge eingesetzt worden sind als für gemacht haben könnten. Dass also den damals fingierten Verwendungs- Leute, die in ihrem eigenen Fifa-Berei- zweck – ein WM-Kulturprogramm der cherungssystem zu Multimillionären Fifa –, ermittelt nun die Staatsanwalt- wurden, plötzlich innegehalten ha- schaft. Der DFB befürchtet, das Aben- ben sollen und den Deutschen die WM teuer könne ihn die Gemeinnützigkeit 2006 auf dem Silbertablett überreich- für das Jahr 2006 und damit bis zu 25 ten. Weil die Deutschen so – ja, warum Mio. Euro kosten; am Ende drohen Ver- eigentlich hätten sie das tun sollen? urteilungen und Regressforderungen. Weil man die armen Deutschen nicht Abgesehen davon, dass man den all- ausplündern wollte? Weil man unbe- zeit geschäftstüchtigen Beckenbauer dingt in ein Land gehen wollte, das und seine knallharten Businessbera- vergleichsweise über Transparenz und ter gar nicht als altruistische Vereini- eine gewisse Finanzkontrolle verfügt? gung kannte: Die Story vom ahnungs- Oder, noch ein wunderbares Märchen, losen Kaiser verfängt nicht. Sie wirkt weil Beckenbauer hingebungsvoll Golf wie eine von Juristen aufgesetzte Stra- gespielt hat bei seinen Reklamereisen tegie, um möglichen Regressforderun- als Chef der deutschen Werbekam- gen aus dem Wege zu gehen. Es ist ja, pagne rund um den Globus? Wer das falls es am Ende um die Bewertung glaubt, darf auch glauben, dass die Er- eines möglichen Millionenschadens de eine Scheibe ist. für den DFB geht, ein großer Unter- schied, ob einer fahrlässig gehandelt hat oder mit Vorsatz, sei er auch nur be- Im Sumpf der Vetternwirtschaft dingt. Und wenn in einem Millionen- Geschacher eine bestimmte Strategie Bei den Menschen in diesem fußball- als juristisch nutzbringend erscheint, verrückten Land muss die Erkenntnis dann schluckt wohl mancher die Kröte erst ihre volle Wucht entfalten, dass und präsentiert sich der Öffentlichkeit deutsche Fußballfunktionäre eben kein gezielt als tumber Tor. Jota besser sind als ihre durchtriebe- nen Sportskameraden aus anderen Teilen der Welt. Industriesparte Profifußball Dabei war jetzt ein idealer Zeitpunkt gekommen: Jetzt hätte sie anbrechen Wahr ist allerdings auch: Zum Erfolg in können, die größte Zeit des deutschen der Industriesparte Profifußball führen Fußballs. Der DFB, der größte unter oft nur noch krumme Deals. Sie sind den Nationalverbänden der Welt mit nahezu unvermeidlich in der diskreten seinen gut sieben Millionen organi- Wirtschaftswelt des Sports, der auto- sierten Mitgliedern, er hätte in das nom ist und sich selbst kontrollieren ethische Vakuum stoßen können, das darf. Und der bezahlte Fußball hat in über der beliebtesten Sportart des Pla- der öffentlichen Wahrnehmung wie in neten klafft. Denn seit die amerikani- der gesellschaftlichen Bedeutung re- schen Justizbehörden ein umfassendes ligiöse Höhen erreicht. Heute stehen Ermittlungsverfahren gegen hohe Ver- alle WM-Vergaben seit dem Turnier in treter der globalen Fußballfamilie los- Frankreich 1998 unter massivem Kor- getreten und dies mit spektakulären ruptionsverdacht, auf allen Kontinen- Verhaftungen im Züricher Nobelhotel ten wird ermittelt. Aus dieser Perspek- Baur au Lac im Mai und im Dezember tive verbietet einem schon der gesunde 2015 der Weltöffentlichkeit präsentiert Menschenverstand die Hoffnung, dass hatten, versinkt ein Fifa-Patron nach die korrupten Vorständler im Weltver- dem anderen im Sumpf der Vettern- band Fifa ausgerechnet damals, im Juli wirtschaft. Das Ganze gipfelte in Sus-

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Blätter_201601.indb 26 09.12.15 11:02 Kommentare und Berichte 27

pendierungen für Fifa-Präsident Sepp neue Fifa-Boss, wird das Thema Bri- Blatter und seinen Amtskollegen an sanz erlangen. der Spitze der Europäischen Fußball- Der Weltfußball bräuchte nun se- union (Uefa), Michel Platini. Die Ethik- riöse Führung. Es bräuchte ordnende kommission der Fifa machte den bei- Kräfte in einem Sport, mit dem Milliar- den den Prozess, nachdem bei Ermitt- den umgesetzt werden, dem es aber lungen der Berner Bundesanwaltschaft auch immer wieder gelingt, die Men- eine Zahlung von zwei Mio. Schweizer schen zusammenzuführen. Hier hät- Franken aufgeflogen war, die Blatters ten die Deutschen gefragt sein kön- Fifa im Februar 2011 an Platini geleistet nen, die ja nicht nur mit der aktuel- hatte. In die Ecke gedrängt, bezeich- len Weltmeistergeneration ausgestat- neten die beiden den Millionentrans- tet sind, sondern auch mit jeder Menge fer als Nachzahlung für eine Berater- Kickerlegenden – und bis vor kurzem tätigkeit, die Platini von 1998 bis Ende mit einer Lichtgestalt. Der DFB hätte 2001 in der Fifa ausgeübt hatte. Doch jetzt Zukunftspläne präsentieren kön- das Geld war nie in den Fifa-Büchern nen und Personen, die sie umsetzen. vermerkt worden, überdies war Plati- Er hätte Allianzen mit den verbliebe- ni nur Wochen nach der Zahlung in die nen Anständigen schmieden müssen, Rolle des engagierten Wahlkampfhel- vielleicht gibt es die ja noch in dieser fers für Blatter geschlüpft, der sich da- Sumpflandschaft. Hätte, könnte, wäre. mals eines mächtigen Thron-Heraus- forderers erwehren musste, des Kata- rers Mohamed Bin Hammam. Der gute Freund Jack Warner Nun gehen die beiden mächtigsten Fußballfunktionäre in einem der trü- Stattdessen rudert der DFB im eigenen ben Geldflüsse unter, die das Funda- Sumpf, und im Weltfußball sind die ment der Fifa unterspült haben. Und nächsten Skandale bereits abzusehen. während die Ermittlungen gerade erst Etwa, wenn Jack Warner in die USA Fahrt aufnehmen – allein elf Terrabyte ausgeliefert worden ist. Der Funk- polizeilich beschlagnahmter Daten aus tionär von der Karibikinsel Trinidad dem Züricher Fifa-Hauptquartier war- und Tobago ist eine der schillernds- ten auf Auswertung – driften Fifa und ten Skandalnudeln des Weltverban- Uefa führungslos dahin. Schwer belas- des, er hat sich so ziemlich alles in sei- tet sind auch viele potentielle Nachfol- ne weiten Taschen gestopft, was das ger für Blatter und Platini, Funktionä- Fifa-Portfolio zu bieten hat: Fernseh- re aus Asien, Afrika und Europa. Kom- und Marketingrechte, Ticketverkäufe plett im Netz der US-Justiz hängt das und WM-Vergaben. Weshalb es nicht Spitzenpersonal der Erdteilverbände verwundert, dass dieser Jack Warner Nord- und Südamerikas. Und wenn am auch in der Sommermärchen-Affäre 26. Februar 2016 bei einem Fifa-Son- als ein möglicher Adressat der myste- derkongress ein neuer Präsident ge- riösen Zahlungen von deutscher Sei- wählt wird, dürfte das Amt auf einen te gilt. Und ja: Auch der im Mark kor- gewissen Scheich Salman al Khalifa rupte Warner ist einer von denen, die aus dem Fußball-Zwergstaat Bahrain Deutschlands WM-Betreiber zu ihren hinauslaufen. Salman ist Mitglied der besten Freunden zählten. Vier Tage vor dortigen Königsfamilie; Menschen- der WM-Vergabe hatte Beckenbauer rechtsorganisationen legen dar, er ha- mit Warner einen Vertrag unterzeich- be 2011 mitgewirkt bei der blutigen net, der nicht in Kraft getreten sein soll, Niederschlagung der demokratischen dem karibischen Fifa-Granden aber Proteste im Land, bei der auch Sportler neben Freundschaftsspielen und Ent- inhaftiert und gefoltert wurden – was wicklungshilfen auch persönlich WM- der Scheich bestreitet. Ist er erst der Tickets zugesichert haben soll. WM-

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Blätter_201601.indb 27 09.12.15 11:02 28 Kommentare und Berichte

Tickets sind bares Geld. Für die Inte- Kopf und Kragen für krumme Deals zu rimsführung des DFB, Rainer Koch riskieren? Oder gab es ein Druckmit- und Reinhard Rauball, stellt diese Ver- tel, das Blatter damals gegen sie be- einbarung eine korrupte Verabredung saß – eines, das mit der WM-Vergabe dar. Hatte Bewerberchef Beckenbauer 2006 zu tun hat? Immer wieder hat er kurz vor der WM-Vergabe nichts Wich- solche Drohungen ausgestoßen, hat an tigeres zu tun, als sich um den Breiten- die seltsamen Umstände dieser Wahl sport auf Tobago zu kümmern? erinnert. Er selbst war damals ja kein Deutschland-Wähler, er war mit Südaf- rika im Bunde, das am Ende mit 11:12 Blatters Giftschrank Stimmen unterlag. Ihn schert es nicht, dass er kaum einen loyaleren Verband Das Mysterium um den Verbleib der als den DFB hatte und keinen treueren zehn Mio. Franken, die die deutschen Sponsor als Adidas. Organisatoren 2002 an das Fifa- Finanzkomitee gezahlt haben wollen – es erklärt zumindest, warum Deutsch- Mafiöse Abgründe lands Funktionäre bis in den Unter- gang auf Kuschelkurs blieben mit dem Deshalb ist sie an einigen Stellen schon fallenden Fifa-Patron Sepp Blatter und heute neu zu schreiben, die Historie Konsorten: Sie haben all die Zeit vor des Sommermärchens. Diese Aufgabe Enthüllungen gezittert. ist Staatsanwälten in Frankfurt und Sie wussten, dass im Bauch des ha- der Schweiz vorbehalten. Sie fahnden varierenden Tankers Fifa allerlei Tor- nach jenem „Fehler“ der Deutschen, pedos liegen und genug Spezialisten den Beckenbauer bereits öffentlich unterwegs sind, die sie scharfmachen eingestanden hat. Solange die Millio- können. Allen voran Blatter, dem ins- nenfrage ungeklärt ist, bleibt der deut- besondere Beckenbauer bis zuletzt sche Sport erkennbar beschränkt in Girlanden band, und von dem wohl seiner Handlungsfähigkeit. Die Affäre auch künftig noch die größte Gefahr lähmt fast alle Aktivitäten – das war ausgeht: die Enttarnung der wahren zuletzt bei der Abstimmung in Ham- Fifa-Korruptionsgeschichte. Sie lagert burg über eine Olympiabewerbung im Giftschrank dieses alten Mannes, 2024 zu spüren. der bald für immer aus dem Fußball Die Menschen ahnen, dass es in der verbannt wird und dann nichts mehr Scheinwelt des Sports mafiöse Ab- zu verlieren hat. gründe gibt. Sie wollen insbesondere Und dann ist da noch Theo Zwanzi- mit diesen Funktionären nichts zu tun ger, der von den anderen Mitwissern haben, schon gar nicht Geschäfte mit seit 2012 Auskunft begehrt hatte, ob ihnen machen. die 6,7 Mio. Euro im Jahr 2005 aus dem Es wäre aber absurd, so zu tun, als WM-Organisationskomitee in eine hätte nur der Fußball ein Strukturpro- schwarze Kasse geflossen sind. Jetzt blem. Auch die olympische Welt pflegt ist wohl nur noch zu klären, in welche. die Selbstkontrolle, geheime Voten, Dass sie aber in Blatters Dickicht ver- stille Deals, Knebelverträge. In die- borgen war, wird immer deutlicher. sen Welten kandidieren die Deutschen Die renommiertesten Fußballsachwal- noch um ein weiteres Großereignis, ter des Landes haben sich offenkundig auch das soll 2024 stattfinden: die Fuß- in den Dienst einer liederlichen Sache ball-EM. gestellt. Aber das ist jetzt schon ein Problem: Alles muss ans Licht. War es wirk- Wie will man seriös Zustimmung sam- lich nur die Hoffnung auf Zuschüsse, meln – wenn man fast keine Autorität die die reichen Deutschen dazu trieb, mehr hat?

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Blätter_201601.indb 28 09.12.15 11:02 DEBATTE

Die Angst als Gesetzgeber

Außenpolitisch erfolgte auf die Terrorangriffe von Paris die Ausrufung des Kriegszustands (vgl. den Beitrag von Albrecht von Lucke in: »Blätter«, 12/2015), innenpolitisch dagegen die Forderung nach neuen Gesetzen. Das aber ist, wie Christian Bommarius feststellt, Ausdruck einer Ent- wicklung, die über den Kampf gegen den Terror weit hinausgeht.

Kaum war die Terrornacht von Paris ertappt. Ermittlungen des Bundes- beendet, da erging auch in Deutsch- justizministeriums ergaben, dass sie land, als hätte man die Uhr danach sich im Leistungssport aufgetan habe, stellen können, ein Ruf nach härterer den dort besonders verbreiteten Fair- Bestrafung und schärferen Gesetzen. nessgedanken zu verschlingen drohe Die traditionelle Klage – über die Flut und – nur mit Hilfe des Strafrechts der Gesetze und die Regelungswut des wirksam geschlossen werde könne. Gesetzgebers – ist längst verstummt, So kam es zum Entwurf eines Geset- heute wird ein neues Lied gesungen: zes zur Bekämpfung von Doping im Genug ist nicht genug. Sport. Er verdient nicht nur Beach- Die Strafe, heißt es, sei der Seis- tung, weil er dem Ultima-Ratio-Prin- mograph der Gesellschaft. So hat zip die Anerkennung verweigert, er sie schon 1867 der Jurist Rudolf von führt auch ein bis dahin unbekann- Ihering beschrieben: „Auf dem gan- tes Rechtsgut ein, das sich zwar nicht zen Gebiete des Rechts gibt es kei- genau bestimmen, aber durch seine nen Begriff, der an culturhistorischer Ubiquität für die Zukunft zahllose Bedeutung sich nur von ferne mit dem weitere Strafrechtsnovellen erwarten der Strafe messen könnte, kein anderer lässt: die Moral, vulgo Fairness. ist so wie er das getreue Spiegelbild der Die erklärte Absicht des Bundes- zeitlichen Denk- und Empfindungs- justizministeriums, mit dem geplanten weise eines Volks, der Höhenmesser Gesetz dem Fairness-Gedanken im seiner Gesittung, kein anderer macht Leistungssport auf die Sprünge zu hel- so wie er alle Phasen der sittlichen fen, wirft jedoch die Frage auf, warum Entwicklung eines Volkes mit durch, in den Schutz nur der Leistungs-, weich und biegsam wie Wachs, in dem nicht aber der Amateursport einbezo- jeder Eindruck sich ausprägt.“ gen wird, und warum nur der Sport: Doch mit einem irrte Ihering, näm- Unlauterer Wettbewerb entsteht im lich mit der Annahme, „die Geschichte Berufsleben Tag für Tag millionenfach der Strafe sei ein fortwährendes durch leistungssteigernde und damit Absterben derselben.“ Das Gegenteil die Karriere befördernde Substanzen, ist der Fall – und zwar keineswegs nur und auch der bisher strafrechtlich auf dem Feld der Terrorbekämpfung. nicht sanktionierte Vorteil, den sich Unlängst wurde erneut eine straf- Prüflinge in Examensarbeiten mit der bare Schutzlücke auf frischer Tat Einnahme von Speed oder Tranquili-

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Blätter_201601.indb 29 09.12.15 11:02 30 Christian Bommarius

zern verschaffen, müsste – wenn man dings nicht nur einen dramatischen nur konsequent ist – als Schutzlücke Mangel an Phantasie, vor allem ver- erkannt und mit einer Strafrechtsre- rät sie den neuen Gesetzgeber – und form geschlossen werden. seinen heimlichen Auftraggeber, die Angst. Nein, die Angst geht nicht um in » Die Angst geht nicht um in Deutsch- Deutschland, sie hat sich längst schon land, sie hat sich längst schon fest- festgesetzt. Sie sitzt in den Gesetzen, gesetzt. « die als Strafrechtsreformen oder als Strafprozessrechtsreformen die Parla- mente passieren, sie sitzt in den Köp- Der Gesetzentwurf zur Bekämpfung fen nicht nur der Politiker, ebenso gut von Doping im Sport ist nur das jüngs- der Bevölkerung, die tagtäglich Zei- te Produkt eines neuen Gesetzgebers. tungen, Radio, Fernsehen und das Zwar ist er von niemandem berufen Internet alarmieren, die Angst sei und durch nichts legitimiert. Doch Wi- noch nicht groß genug, größer als die derstand gegen seine angemaßte Rol- Angst seien allemal die Gefahren, die le als allmächtiger Nomos ist kaum zu schneller wüchsen als die Angst. erkennen. Im Gegenteil, jedes der von Um Beweise sind die Alarmeure ihm unentwegt produzierten Gesetze nicht verlegen: Gäbe es keine Gefah- wird in der Bevölkerung, in den Partei- ren, gäbe es dann Gesetze zur en und Medien willkommen geheißen. Bekämpfung der Gefahren? Wäre die Kaum steht es im Bundesgesetzblatt, Gefahr nicht kriminell, warum sollte wird das nächste verlangt. der Gesetzgeber sie dann als Krimi- Und der neue Gesetzgeber lässt sich nalität bekämpfen? Und was belegt nur selten lange bitten. Allerdings dramatischer die Zunahme der Krimi- steht das gewaltige Spektrum seines nalität als die Zunahme der Gesetze zu Programms in seltsamem Kontrast zum ihrer Bekämpfung? uniformen Etikett, mit dem er fast jedes Tatsächlich kann man dem neuen der von ihm produzierten Gesetze ver- Gesetzgeber mangelnden Bekämp- sieht: Eine gesellschaftliche Gruppe, fungseifer nicht zum Vorwurf machen. der er seine Aufmerksamkeit schenkt, Es genügt ein kursorischer Blick auf ein gesellschaftspolitisches Problem, seine Produktpalette der vergangenen dem er sich widmet, kommt als „Ju- Jahre: Gesetz zur Bekämpfung der Kor- gend“, „Wirtschaft“, „Ausländer“, „Um- ruption, Gesetz zur Bekämpfung von welt“, „Volksgesundheit“, „Kapitalmarkt“ Sexualdelikten und anderer gefähr- oder „Sport“ in das Gesetzgebungs- licher Straftaten, Gesetz zur Verbesse- verfahren hinein – und als Jugend- rung der Bekämpfung der organisierten kriminalität, Wirtschaftskriminalität, Kriminalität, Gesetz zur Bekämpfung Ausländerkriminalität, Umweltkrimi- der illegalen Beschäftigung im gewerb- nalität, Drogenkriminalität, Finanz- lichen Güterkraftverkehr, Gesetz zur kriminalität oder Dopingkriminalität Finanzierung der Terrorismusbekämp- wieder heraus. fung, Gesetz zur Bekämpfung von Das Bedürfnis des neuen Gesetzge- Steuerverkürzungen bei der Umsatz- bers, auf jede gesellschaftspolitische steuer (Steuerverkürzungsbekämp- Frage eine strafrechtliche Antwort zu fungsgesetz), Gesetz zur Erleichterung geben, seine Überzeugung, den Gefah- der Bekämpfung von illegaler Beschäf- ren der Technik, den Verwerfungen tigung und Schwarzarbeit, Gesetz der modernen Gesellschaft und den zur Bekämpfung des internationalen Risiken der Wirtschaft sei mit der Terrorismus, Gesetz zur Bekämp- gesetzlichen Zuweisung von Schuld fung gefährlicher Hunde, Gesetz zur und Sühne beizukommen, verrät aller- Bekämpfung von Zwangsheirat, Gesetz

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Blätter_201601.indb 30 09.12.15 11:02 Die Angst als Gesetzgeber 31

zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs mit verschiedenen Abwehrriten zu im Geschäftsverkehr ... Leibe. Der neue Gesetzgeber begnügt Der martialische Ton, den der neue sich mit dem Strafrecht und dämoni- Gesetzgeber im Kampf gegen das Ver- siert die Risiken und deren Nebenwir- brechen anschlägt, entspricht seiner kungen als Verbrechen. Entschlossenheit, jedes Verhalten Er bedient sich dazu der negativen zu kriminalisieren, das er als gesell- Halluzination. Wenn die unbestreit- schaftlich unerwünscht betrachtet, baren und unbestreitbar wachsenden und mit Verfolgung und Bestrafung Probleme vieler Jugendlicher, einen nicht nur dem Täter zu drohen, son- erträglichen Platz in der Gesellschaft dern bereits dem potentiellen Täter, zu finden, vor allem als Jugendkrimi- dessen Verbrechen darin besteht, es nalität in den Blick geraten, dann lässt nur noch nicht begangen zu haben. sich willkommenerweise die Wahr- Der Unterschied zwischen kriminel- nehmung der drängenden Armuts-, lem und noch nicht kriminellem Ver- Bildungs- und Erziehungsprobleme halten verkürzt sich nach diesem Ver- vermeiden, die immer mehr und ständnis von Gesellschaftspolitik auf immer jüngere Jugendliche zu spü- das Auffinden von Schutz-, genauer: ren bekommen, deren Behandlung Strafbarkeitslücken. Sie mit neuen aber mehr Zeit, mehr Geld und mehr oder verschärften Straftatbeständen Zuwendung verlangt als alle Jugend- zu schließen, ist dann die vornehmste gerichtsverfahren. Aufgabe des Gesetzgebers. Auch die Kriminalisierung uner- wünschter Folgen der globalisierten Wirtschaft, etwa der Bedrohung durch » Der neue Gesetzgeber begnügt sich unregulierte Finanzströme, ändert mit dem Strafrecht und dämonisiert zwar nichts an den Folgen, mindert die Risiken und deren Nebenwirkun- auch nicht die Bedrohung, lenkt aber gen als Verbrechen. « den Blick ausgerechnet auf jenen Akteur, der auf diesem Feld eigent- lich kaum eine Rolle mehr spielt – auf Den Preis seiner Erhebung zum bevor- den „persönlich Verantwortlichen“. zugten Instrument staatlichen Han- Kurzum: In dem Maße, in dem das delns bezahlt das Strafrecht mit dem Gefühl der Unbeherrschbarkeit der Verlust der Exklusivität, die es vormals technischen, sozialen und politischen als Ultima Ratio genoss. Einerseits er- Risiken die Gesellschaft beherrscht, hält es sie zurück, wenn der Gesetzge- wächst ihr Bedarf an Verbrechen. Es ber als rechtliche Sicherungen ohne- darf nicht sein, dass die Gefahr kei- hin fast ausschließlich strafrechtliche nen Ort hat, kein Gesicht und keinen Sicherungen in Betracht zieht und Namen. Die Bedrohung wird inakzep- damit auf die Wahl zwischen dem ers- tabel, wenn sie nicht zu greifen ist; sie ten und letzten Mittel verzichtet. An- wird unerträglich, wenn sie sich nicht dererseits bezahlt das Strafrecht nun beschreiben und fixieren lässt. mit dem Verlust seiner Legitimität, die Gewiss, die neue Komplexität ist es ausschließlich aus seiner Ultima- schön und gut, aber wer übernimmt Ratio-Funktion gewonnen hatte. die Verantwortung? Der neue Gesetz- Der Glaube, die Gefahren der Risi- geber beteuert, seine Gesetze dienten kogesellschaft ließen sich durch ihre der Gefahrenabwehr. Aber die Gefah- Kriminalisierung bezwingen, verrät ren werden nicht dadurch beherrsch- weniger Realitätssinn als die Hoff- barer, noch werden sie dadurch nung, das Böse mit dem Blick zu töten. geringer, dass sie der Gesetzgeber zu Die Alten hielten wenigstens auf Diffe- Verbrechen erklärt. Gefährlicher als renzierung und rückten den Dämonen das Verbrechen ist die Angst vor dem

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Blätter_201601.indb 31 09.12.15 11:02 32 Christian Bommarius

Verbrechen, aber gefährlicher als die vor allem darin, sie nicht zu verlie- Angst wäre das Eingeständnis, dass ren. Die wirksame Kontrolle, die ihm das Verbrechen als Palliativ, als unent- bleibt, gilt der Angst der Bevölkerung, wegt verabreichtes Beruhigungsmit- dem Volksempfinden. Gesund, sagt tel, uns längst unentbehrlich ist. Wir der neue Gesetzgeber, ist die Angst sind süchtig nach dem Verbrechen, es vor dem Verbrechen, denn hätte das ist der Schuss, den wir uns täglich set- Volk keine Angst vor dem Verbrechen, zen, denn wir ahnen – wenn die Wir- würde es erst recht krank vor Angst – kung nachlässt, wenn die Angst vor vor der Gefahr. der Gefahr des Verbrechens nachlässt, Deshalb irrte Ihering, der die bleibt uns nichts als die Gefahr. moderne Risikogesellschaft noch Das ist die Geschäftsgrundlage, auf nicht kannte, als er das Verbrechen der der neue Gesetzgeber seine Arbeit auf dem absterbenden Ast vermutete. verrichtet. Seine Instrumente sind Aber das macht seine Beschreibung Gesetze, mit denen er in Permanenz der Strafe als „Spiegelbild“ der Gesell- Verbrechen produziert, und Gesetze, schaft nicht falsch. Im Gegenteil: In die er in Permanenz zur Bekämpfung der „neuen Lust auf Strafe“ (Win- der Verbrechen produziert. Der neue fried Hassemer) entdecken wir unser Gesetzgeber, das ist der panische Kon- Erschrecken über die Unkontrollier- trolleur, der die Kontrolle nie besessen barkeit der Welt – und unseren hilflo- oder längst verloren hat. Wo er sie noch sen Versuch, die wahren Gefahren zu besitzt, besteht ihre Wahrnehmung bannen.

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Blätter_201601.indb 32 09.12.15 11:02 KURZGEFASST

Ulrich Menzel: Welt am Kipppunkt. Die neue Unregierbarkeit und der Vormarsch der Anarchie, S. 35-45

Ukrainekrieg, Griechenlandkrise, ,,Islamischer Staat’’ – die Liste unheil- voller Schlagzeilen des Jahres 2015 ließe sich leicht fortsetzen. Der Politik- wissenschaftler Ulrich Menzel analysiert die fatale Lage – von der Neu- orientierung der USA über Chinas Passivität und Russlands Rückkehr auf die Weltbühne bis hin zur globalen Flucht. Europa und speziell Deutsch- land stünden vor der Wahl: Renationalisierung oder globale Solidarität.

Lothar Brock: Zurück zum Völkerrecht! Friedensarchitekturen in kriegerischer Zeit, S. 47-58

Versinkt die Welt im Krieg? Steht gar der dritte Weltkrieg kurz bevor, wie uns Scharfmacher weismachen wollen? Und was hat uns die Friedensbewe- gung noch zu sagen? Der Friedens- und Konfliktforscher Lothar Brock klärt auf über die historische Entwicklung – vom „Recht zum Krieg“ zum frie- densstiftenden Völkerrecht. Gegen die nationalegoistische Blockadepolitik komme es darauf an, die internationalen Systeme weiterzuentwickeln.

Ulrike Guérot: Das Ende der Republik? Frankreich zwischen Terror und Front National, S. 59-67

Unmittelbar nach den Anschlägen von Paris rief François Hollande den Krieg gegen den Terror aus; doch die rhetorische Überbietung von rechts ließ nicht lange auf sich warten. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot zeichnet das Bild einer gespaltenen Republik, der schon lange jeder Zusam- menhalt fehlt. Gegen die eigentliche Gefahr – den Front National – versu- che der Präsident durch äußere Stärke den inneren Zerfall zu verdecken.

Hauke Brunkhorst: Krise und Kritik: Für eine Repolitisierung Europas, S. 69-76

Unter den zahlreichen Krisen Europas ist die der parlamentarischen Demo- kratie – vollends ausgebrochen spätestens mit der Erpressung der grie- chischen Regierung – vielleicht die bedrohlichste. Der Soziologe Hauke Brunkhorst analysiert den Strukturwandel der demokratischen Öffentlich- keit vor dem Hintergrund der Ideologie des Ordoliberalismus: Das Recht sei heute nur noch ein Immunsystem der Marktwirtschaft – und Alternativen dazu keimten nur im griechischen Referendum oder der neuen portugiesi- schen Regierung.

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Blätter_201601.indb 33 09.12.15 11:02 34 Kurzgefasst

Helmut Fehr: In geschlossener Gesellschaft. Ostmitteleuropa und die Rückkehr des Autoritären, S. 77-83

Ungarn-, Polen-, Tschechentum: Die ostmitteleuropäischen Potentaten begegnen der globalen Flucht mit ethnischem Wir-Gefühl. Der Politologe Helmut Fehr entlarvt den Opportunismus der „falschen Realisten“. Deren Inszenierung von Politik als Kampf bedeute die Absage an die Demokratie.

Elmar Altvater: Zerstörung und Flucht. Von der Hierarchie der Märkte zur Migrationskrise in Europa, S. 84-94

Die Globalisierung hat die Kontinente untrennbar verbunden. Gleichzei- tig ist die ganze Menschheit mit der Umweltzerstörung und deren sozia- len Folgen konfrontiert. Der Politikwissenschaftler Elmar Altvater sieht die tieferen Ursachen dafür in den entbetteten Märkten und deren fataler Hierarchie. Dagegen gebe es nur eine Alternative: die Transformation des Kapitalismus.

Arjun Appadurai: Streben nach Hoffnung. Das Narrativ der Flucht und die Ideologie des Nationalstaats, S. 95-103

Der Nationalstaat wird durch die Flucht herausgefordert und fordert selbst die Flüchtlinge heraus. Der Ethnologe Arjun Appadurai beschreibt, wie die Migranten auf ein Denken stoßen, in dem für ihre Hoffnungen kaum Raum ist. Dagegen gelte es, Flucht- in Aufstiegsgeschichten zu verwandeln.

Christoph Fleischmann: Der grüne Papst und der Irrweg des käuflichen Glücks, S. 104-111

„Der Mensch ist nun mal egoistisch“: Diesem seit der Renaissance vorherr- schenden Paradigma widerspricht Papst Franziskus. Der Theologe Chris- toph Fleischmann radikalisiert dessen Kritik. Sein Fazit: Wenn wir über das Menschenbild reden, dann bitte auch über die ökonomischen Interessen.

Josiane Meier: Schmutziges Licht: Die Abschaffung der Nacht, S. 112-120

Mit der Silvesternacht 2015 endet das Internationale Jahr des Lichts. Doch was sehen wir, wenn wir unseren Blick zum Nachthimmel heben? Josiane Meier analysiert die Geschichte der künstlichen Beleuchtung und warnt vor den gesundheitlichen Folgen für Menschen, Tiere und Pflanzen.

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Blätter_201601.indb 34 09.12.15 11:02 Welt am Kipppunkt Die neue Unregierbarkeit und der Vormarsch der Anarchie

Von Ulrich Menzel

ie Welt wird unregierbar. Dieser seit etlichen Jahren zu konstatierende DTrend ist im Verlauf des Jahres 2015 besonders manifest geworden. Die Stichworte lauten locker geordnet: EU- und Griechenlandkrise, Krieg in der Ukraine als Restauration des sowjetischen Einflussbereichs und die Rückkehr des Rüstungswettlaufs, Scheitern der militärischen Interventio- nen in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Syrien, Staatszerfall im Komplex Irak-Syrien, Vormarsch terroristischer Organisationen wie IS oder Boko Haram – und schließlich massive Armuts- und Kriegsflucht, die erstmals in großem Stil Europa erreicht (inklusive massenhafter Schleusung als neues Geschäftsfeld des organisierten Verbrechens). Kurzum: Ein Problem ver- drängt das andere in der öffentlichen Aufmerksamkeit, ohne dass auch nur eines gelöst ist. (Allenfalls der DFB oder VW sind in der Lage, wenigstens tageweise die Schlagzeilen in anderer Form zu dominieren.) Sicher ist heute nur, dass alle diese Themen auch 2016 weiter auf der poli- tischen Agenda stehen werden – mit der Konsequenz, dass die bestehenden Institutionen überfordert sind. Besonders in Europa wird sich der Trend zur nationalen Selbsthilfe statt des Vertrauens in die EU-Institutionen verstärken und Deutschland in die ungewollte Rolle des Eurohegemons drängen. Unregierbarkeit droht damit zu einem Dauerzustand zu werden – im Nahen und Mittleren Osten, in Subsahara-Afrika, im Andenbereich Latein- amerikas, tendenziell sogar an der Peripherie der ehemaligen Sowjetunion im Kaukasus, in der Ukraine, in Zentralasien. Verantwortlich für das düstere Szenario sind jedoch keine kurzfristigen (und damit schnell korrigierbaren) Ereignisse, sondern langfristige Trends, die keinen linearen, sondern einen exponentiellen Verlauf nehmen, bis sogenannte Kipppunkte erreicht werden. Damit ist gemeint, dass ab einem gewissen Punkt die ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und administrativen Systeme nicht mehr in der Lage sind, die Folgen der Trends zu bewältigen, und folgerichtig kollabieren. Die entsprechende Meta- pher lautet „Hockeyschlägereffekt“. Das Bild liefert ein waagerecht gehal- tener Eishockeyschläger, um dessen Stiel das lange Zeit kaum wahrnehm-

* Der Autor hat im Mai 2015 „Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt“ (Berlin, Suhrkamp) nach mehr als zehnjähriger Entstehungszeit veröffentlicht.

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Blätter_201601.indb 35 09.12.15 11:02 36 Ulrich Menzel

bare lineare Wachstum oszilliert, bis der Trend bei Erreichen der Kelle in ein exponentielles Wachstum umschlägt, um sich an deren Ende auf hohem Niveau bei abgeschwächtem Wachstum zu stabilisieren.1 Doch ist der syste- mische Kipppunkt schon vorher erreicht.

Nachholende und vorauseilende Entwicklung

Eine wesentliche Ursache für die neue Unregierbarkeit besteht paradoxer- weise darin, dass in großen Teilen der Welt „nachholende Entwicklung“ stattfindet und in den alten Industrieländern „vorauseilende Entwicklung“ unvermindert fortschreitet. Das bedeutet Wirtschaftswachstum, bessere Ernährung und medizinische Versorgung mit der Konsequenz von Bevöl- kerungswachstum bei steigender Lebenserwartung und höherem Pro-Kopf- Einkommen. Innerhalb einer Generation hat sich so die Weltbevölkerung auf mehr als 7 Mrd. Menschen verdoppelt, ein welthistorisch einmaliger Vor- gang und eindrucksvoller Beleg des „Hockeyschläger-Effekts“. Alles zusammen führt zu exponentiellem Verbrauch und ebensolcher Belastung von Böden, Rohstoffen, Energie, Wasser, Luft – mit massiven Kon- sequenzen für den Klimawandel, dem die ariden und semiariden Gebiete vom Nahen Osten bis nach Zentralasien, aber auch in Kalifornien und den Great Plains besonders unterworfen sind. Bei Letzteren handelt es sich um die Kornkammer der Welt, die auch die weltweite Armenspeisung bedient. Daraus resultieren innergesellschaftliche Verteilungskonflikte um knapper werdende Ressourcen wie neue Formen des Kolonialismus, die sich etwa im chinesischen Landgrabbing in Afrika äußern. Aus diesem komplexen Zusammenhang rührt eine der tieferen Ursachen für den fortschreitenden Staatszerfall und die großen Wanderungsbewegungen. Während der Bedarf nach Weltordnung wächst, schwindet zugleich die Fähigkeit, diesen Bedarf zu bedienen. Grundsätzlich gibt es vier Modelle, wie mit der wieder zunehmenden Anarchie der Staatenwelt (auch innerhalb einst- mals scheinbar festgefügter Staaten) angesichts des nicht vorhandenen Welt- staats, der mit einem globalen Gewaltmonopol ausgestattet ist, umgegangen werden kann: Selbsthilfe, Kooperation, Hegemonie und Imperialismus.

Selbsthilfe, Kooperation, Hegemonie und Imperialismus

Der realistischen Schule entspricht das Selbsthilfeprinzip. Jeder Staat ver- sucht, so gut er kann, seine Interessen nach außen aus eigener Kraft wahrzu- nehmen. Dazu benötigt er Macht und wirtschaftliche Ressourcen. Für große Staaten ist dies eher möglich als für kleine, zumal jene die Option des Iso- lationismus besitzen. Dem idealistischen Denken entspricht die Kooperation der Staaten durch Verträge, internationale Organisationen, das Völkerrecht

1 Vgl. dazu Michael Mann, The Hockeystick and the Climate War: Dispatches from the Frontline, New York 2012.

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Blätter_201601.indb 36 09.12.15 11:02 Welt am Kipppunkt 37

und normengeleitetes Handeln, das auf gemeinsamen Werten beruht. Das Recht soll die Macht ersetzen. Die EU ist dafür das prominenteste und welt- weit erfolgreichste Beispiel. Wenn man allerdings nicht die Anarchie, sondern die Hierarchie der Staa- tenwelt als deren wesentliches Kennzeichen ansieht, bieten sich das hege- moniale und das imperiale Modell an, bei denen die großen Mächte anstelle des nicht vorhandenen Weltstaats für Ordnung sorgen. Der (benevolente) Hegemon stützt sich auf seine überragende Leistungs- fähigkeit und die Akzeptanz der Gefolgschaft. Er sorgt für Weltordnung durch die Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter, in deren Genuss die Gefolgschaft nahezu kostenlos gelangt. Nur der Hegemon bzw. dessen Steuerzahler kommen für die Bereitstellung auf, alle anderen sind Freerider bzw. Cheaprider, wenn sie Beiträge weit unterhalb ihrer Leistungsfähigkeit erbringen. Damit konzentriert sich die Frage, wie internationale Ordnung zustande kommt, darauf, wer, wie und in wessen Interesse internationale öffentliche Güter wie zum Beispiel (militärische) Sicherheit und (wirtschaftli- che) Stabilität bereitstellt. Nach 1945 haben die USA die Rolle des Hegemons über die westliche Welt eingenommen – und seit 1990 über die gesamte. Das Imperium nimmt seine Ordnungsfunktion dagegen durch Herrschaft wahr. Es liefert sogenannte Clubgüter für die Unterworfenen und akqui- riert dafür deren Ressourcen. Internationale Clubgüter haben eine regio- nale Reichweite (Beispiel militärischer Schutz), da sie nur von denjenigen in Anspruch genommen werden können, die zum „Club“ des Imperiums gehö- ren. Da sie zu den Finanzierungskosten herangezogen werden, sind sie auch keine Free- bzw. Cheaprider. Die Sowjetunion gehörte zwischen 1945 und 1990 zum imperialen Typ. Das dritte Modell beruht demnach auf Freiwillig- keit der Gefolgschaft gegenüber dem Hegemon, das vierte auf Zwang, den das Imperium auf die Beherrschten ausübt.

Von der bipolaren zur unipolaren Konstellation

Die bipolare Konstellation bis 1990 bedeutete, dass die USA als Hegemon der westlichen Hemisphäre internationale öffentliche Güter bereitgestellt haben und die Sowjetunion als Imperium regionale Clubgüter für die Staaten des Warschauer Paktes und ggf. für weitere Länder des sozialistischen Lagers wie Kuba oder Vietnam. Auch Neutrale wie Österreich, die Schweiz oder Schweden standen als Freerider unter dem Nuklearschirm der USA. Die unipolare Konstellation nach 1990 – als Folge der Implosion der Sow- jetunion – hat dazu geführt, dass die Reichweite der von den USA bereitge- stellten öffentlichen Güter global geworden ist. Dazu gehören unter anderem die Garantie eines Welthandels- und Weltfinanzsystems mit dem US-Dollar als Weltgeld, die Funktion des letzten Kreditgebers, die Sicherung der Tan- kerrouten zum Persischen Golf, die Offerierung eines globalen Kommuni- kations-, Informations- und Orientierungssystems durch Internet und GPS. Schließlich ist seit den Anschlägen des 11. September 2001 noch die Rolle des

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Blätter_201601.indb 37 09.12.15 11:02 38 Ulrich Menzel

Weltpolizisten hinzugekommen, der mit seinen Drohnen und Geheimdiens- ten den „War on Terror“ führt. Am schwierigsten gestaltet sich die Verregelung der internationalen All- mendegüter (Hohe See, Luft, grenzüberschreitende Flusssysteme etc.), bei denen immer die „tragedy of the commons“ droht.2 Dies erklärt, warum Umweltabkommen, etwa zur Eindämmung des Klimawandels, so wenig Erfolg zeitigen. Natürlich erfolgt die Wahrnehmung der hegemonialen Rolle nicht nur aus globaler Gemeinwohlorientierung, sondern stets auch aus Eigeninteresse, lauert doch immer das hegemoniale Dilemma: Entweder ich mache es, oder es macht keiner. Der Versuch der neokonservativen Bush-Administration, nach 9/11 im Sinne des „Battleship America“ den Terrorismus bzw. dessen Unterstützer (Taliban) mit militärischen Mitteln zu bekämpfen und gleich- zeitig den gesamten Nahen und Mittleren Osten in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft zu transformieren, ist dennoch grandios gescheitert, obwohl die westlichen Cheaprider in Afghanistan und im Irak erhebliche finanzielle und militärische Beiträge geleistet haben. Zwar schien der „Arabische Frühling“ der Strategie ab 2011 für kurze Zeit recht zu geben, doch führte der Sturz der autoritären Regime nicht zu Demo- kratie und Marktwirtschaft nach westlichem Muster, sondern zu Reislami- sierung, Staatszerfall, Rentenorientierung, substaatlich-grenzüberschrei- tenden Kriegen und massenhafter Flucht, die wiederum die (noch) stabilen Staaten der Region (Türkei, Libanon, Jordanien) massiv unter Druck setzt.

America first: Obamas Rückzug

Seit dem Antritt der Obama-Administration mehren sich die Hinweise, dass die USA nicht mehr in der Lage bzw. nicht mehr bereit sind, die Rolle des Hegemons und damit auch des Weltpolizisten mit Zuständigkeit für alles und jedes wahrzunehmen. Maßgeblicher Grund: Durch den Verdrängungswett- bewerb der neuen Industrieländer in Asien, allen voran China (und dem- nächst Indien), wurde auf der Angebotsseite der öffentlichen Güter die wirt- schaftliche Leistungsfähigkeit der USA geschwächt. Die Rede ist bereits von einem zweiten American Decline, den Barack Obama und Hillary Clinton mit einem „pazifischen Jahrhundert“, der Hinwendung zu Asien bei fakti- scher Abwendung von Europa, zu begegnen suchen.3 Umgekehrt wächst aufgrund der skizzierten Trends mit ihren bedrohli- chen Kipppunkten die Nachfrage nach internationalen öffentlichen Gütern. Daraus resultiert die Forderung der USA nach Lastenteilung, die sich an die alten und neuen Freerider in Westeuropa, Ostasien und am Persischen Golf richtet. Grundsätzlich besteht für ein Land von der Größe der USA stets auch die Alternative des Isolationismus – zumal nach Erschließung des Frackings

2 Vgl. dazu Elinor Ostrom, Die Verfassung der Allmende, Tübingen 1999. 3 Hillary Clinton, Amerikas pazifisches Jahrhundert. Die Zukunft wird nicht in Afghanistan ent- schieden, sondern in Südostasien, in: „Internationale Politik“, 1-2/2012, S. 62-69.

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Blätter_201601.indb 38 09.12.15 11:02 Welt am Kipppunkt 39

als energetischer Wunderwaffe. Aus dem „Battleship America“ würde die „Fortress America“, aus „America as No. 1“ würde „America first“. Wer aber käme vor diesem Hintergrund zukünftig für eine Lastenteilung in Frage?

Chinesische Passivität

China, dessen Sozialprodukt etwa im Jahre 2030/35 das amerikanische übertreffen wird, ist zweifellos der erste Kandidat. Da aber China anders als Japan, das sich während des ersten American Decline in den 1980er Jah- ren als politischer und militärischer Juniorpartner bzw. Freerider der USA verstanden hat, eigene Großmachtambitionen zeigt, verweigert es auf allen Feldern eine Lastenteilung, die nicht in unmittelbarem chinesischem Inter- esse liegt – zumal die USA nicht bereit sind, die Rolle des Hegemons zu tei- len. Chinas internationale politische, militärische und wirtschaftliche Akti- vitäten beschränken sich auf solche Regionen und Politikfelder, in denen China eigene Interessen verfolgt. Dazu gehören Zentralasien („Neue Sei- denstraße“), der asymmetrische Handel mit Russland (Fertigwaren gegen Rohstoffe), Subsahara-Afrika (Landgrabbing zur Versorgung Chinas mit Nahrungsmitteln und agrarischen Rohstoffen) sowie das Rote Meer und der Persische Golf, um die Ölversorgung aus eigener Kraft zu gewährleisten. Dazu investiert China ganz gezielt in die Rohstoffsektoren geeigneter Län- der, betreibt Auswanderung, um deren Binnenwirtschaft zu durchdringen, unterhält gute Beziehungen zu sogenannten Schurkenstaaten, die unter dem Druck des Westens stehen, wird aktiv in neuen Internationalen Organisa- tionen ohne Beteiligung der USA, wie den BRICS, der Shanghai Coopera- tion Organisation oder diverser asiatischer Entwicklungsbanken und forciert eine Rüstung, die nicht mehr nur der Landesverteidigung dient, sondern die Seerouten in das Becken des Indischen Ozeans mit seinen Ausläufern sichern soll. Solange die geplante Indienststellung einer Trägerflotte noch ihre Zeit braucht, so lange ist der Bau von Flugplätzen auf künstlichen Inseln im Süd- chinesischen Meer eine wohlfeile Zwischenlösung – auch daher der erbit- terte Streit mit den Anrainerstaaten und den USA, die sich hier als Schutz- macht versteht. Die chinesische Redeweise vom „Peaceful Rise“ hat nur legitimatorischen Charakter, zumal das chinesische Modell, das wirtschaftliche Erfolge mit einem autoritären politischen System verbindet, auf wachsende Attraktivität stößt bei den Regierungen vieler afrikanischer und asiatischer Staaten als Alternative zum American Way of Life. Insofern verströmt China sogar Soft- power wie zu früheren Zeiten durch den Konfuzianismus. Theoretisch ausgedrückt ist China zwar bereit, Clubgüter für solche Staa- ten zu liefern, die zu seinem Einfluss- und Interessensbereich gehören wol- len, versteht sich aber global als Freerider der USA – stets unter Verweis darauf, dass man immer noch Entwicklungsland sei. Bei Klimaverhandlun- gen wird das Argument gerne bemüht. Dass China eine aktive Rolle bei der Bewältigung der Weltprobleme jenseits der Verfolgung eigener Interessen

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Blätter_201601.indb 39 09.12.15 11:02 40 Ulrich Menzel

spielen wird, ist in nächster Zeit nicht zu erwarten. Für den Europa umgeben- den Krisengürtel von der Ukraine über den Kaukasus bis zum Nahen Osten bedeuten der zweite American Decline und der Peaceful Rise nachlassendes Engagement der USA und auf absehbare Zeit Passivität von Seiten Chinas.

Russlands Rückkehr auf die Weltbühne

Ganz anders verhält es sich im Falle Russlands. Nach Überwindung der Transformationskrise der Jelzin-Ära, spätestens seit Beginn der zweiten Prä- sidentschaft Wladimir Putins, verfolgt es, gestützt auf seinen Rohstoffreich- tum, eine revisionistische Politik zur Rückgewinnung des alten sowjetischen Einflusses. Dazu werden gleichermaßen politische Mittel (Konfrontation in der UNO), wirtschaftliche Mittel (Konditionierung bei Gas- und Ölexpor- ten, Trassenverlauf von Pipelines) und militärische Mittel (Krim, Ukraine, Syrien) eingesetzt. Russlands internationales Engagement darf deshalb nicht im Sinne einer Lastenteilung mit den USA zur Ordnung der Welt verstanden werden, sondern als Versuch, alte Weltgeltung zurückzugewinnen. Insofern hat der russische Revisionismus eine prinzipiell antiwestliche Ten- denz. Siehe das Beispiel Syrien: Dort wird nicht vorrangig der IS bekämpft, sondern das Assad-Regime gestützt, um einen alevitischen Reststaat an der Küste zu behaupten, der wie der Osten der Ukraine oder der Norden des Kau- kasus unter russischer Kontrolle steht und einen russischen Marinestütz- punkt im Mittelmeer (wie auf der Krim) garantiert. Die Kaspische und nicht die Schwarzmeerflotte wurde eingesetzt, weil so der Luftraum über Iran und Irak und nicht über dem Nato-Land Türkei als Schießbahn dienen konnte. Der türkische Abschuss einer russischen Maschine hat die Voraussicht die- ser strategischen Überlegung im Nachhinein bestätigt. Zwecks Sicherung seiner eigenen regionalen Interessen – und nur des- halb – steht Russland im innerislamischen Großkonflikt auf der schiitischen Seite. Damit lädt Russland eine komplexe Gemengelage von Konflikten, die eigentlich separate Wurzeln haben, weiter auf, ohne sich um die Folgen für Dritte und Vierte (Flüchtlinge nach Europa) zu kümmern.

Schismen allerorten: Sunniten vs. Schiiten, Christentum vs. Islam

Die eine Wurzel ist das alte Schisma innerhalb des Islam zwischen Sunniten und Schiiten, das sich heute im Hegemonialkonflikt zwischen Saudi-Ara- bien im Verbund mit den Golfstaaten und dem Iran offenbart, deren beider Machtressource (neben der autoritär-konservativen Dogmatik) wie im Falle Russlands der Energiereichtum ist. In allen arabischen Ländern, die religiös gespalten sind (Irak, Syrien, Jemen, Libanon), unterstützt der Iran die schiitische Seite, um die „schiiti- sche Achse“ zu stärken – vom Iran über den Süden des Iraks, die alevitischen Teile Syriens bis zur Hisbollah im Libanon. Die Hamas gehört nicht dazu.

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Mittlerweile kontrollieren die Schiiten nicht nur Teheran, sondern auch Bag- dad und Damaskus. Die Ölstaaten der Arabischen Halbinsel intervenieren hingegen auf der sunnitischen Seite finanziell, durch Waffenlieferungen und neuerdings, wie im Falle des Jemen, auch direkt militärisch. Die Türkei spielt aufgrund der Kurdenfrage eine Sonderrolle nach dem Motto: Der Freund meines Feindes ist auch mein Feind. Wenn der IS die Kurden bedrängt, ist das im türkischen Interesse. Also unterbindet die Türkei nicht den grenzüberschreitenden Ölhandel – eine der finanziellen Grundlagen des IS. Wenn die Kurden einen weiteren Separatstaat in Syrien errichten, ist die Türkei alarmiert. Israel war eher besorgt über den Arabischen Frühling und bevorzugt im Zweifelsfalle den Status quo autoritärer politischer Systeme an seinen Grenzen. Die zweite Wurzel ist der bis auf die Kreuzzüge zurückreichende Konflikt zwischen Christentum und Islam. Dessen Grenze verläuft durch das Mittel- meer und quer durch Subsahara-Afrika. Er manifestiert sich in innerstaat- lichen Konflikten (zum Beispiel Nigeria) und im globalen Terrorismus, der seine radikal-islamistischen Kämpfer auch in den christlichen Ländern ein- schließlich Russlands und sogar in China rekrutiert. Der Realismus zeigt hier sein hässliches Gesicht, eröffnet sich doch die Chance zur Kooperation mit Russland und China. Der Westen wird nicht umhinkommen, sich mit den neuen (alten) autoritären Systemen wie in Ägypten und womöglich sogar mit Baschar al Assad als dem kleineren Übel zu arrangieren.

Staatszerfall und Terrorismus

Damit sind wir bei der dritten Wurzel, dem Zerfall vieler postkolonialer Staa- ten, die vielfach nur auf dem Papier bzw. in der Hauptstadt bestanden haben und nur die staatliche Symbolik zu inszenieren wussten, ohne öffentliche Güter für ihre Bevölkerung bereitzustellen. Hier hat der Ost-West-Konflikt stabilisierend gewirkt, weil beide Seiten ihre Klientel mit Waffen, Ausbildern, Entwicklungs- und Finanzhilfe überschüttet haben. Nach 1990 ist die östli- che Unterstützung weggefallen und die westliche reduziert bzw. mit politi- schen Auflagen versehen worden, um die sogenannten Schurkenstaaten zu guter Regierungsführung im Sinne der Bereitstellung öffentlicher Güter zu bewegen. In dieses Vakuum ist China bereits vorgestoßen, und Russland ist dabei, es China gleichzutun. Syrien wird nur der erste Schritt gewesen sein. Die vierte Wurzel der neuen Unregierbarkeit ist der Transformationspro- zess terroristischer Organisation, der sich weiter fortsetzen wird. Al Qaida war der Prototyp eines weltweit operierenden Netzwerkes, das lediglich Rückzugsräume und Ausbildungslager benötigte. Die neue Generation des Terrorismus (IS, Boko Haram, Al Nusra, Taliban) will dagegen regelrechte staatliche Strukturen aufbauen, in denen sie im wahrsten Sinne des Wortes das Gewaltmonopol behauptet. Nicht nur der Westen, die gesamte Welt ein- schließlich der islamischen, so sie nicht ihr Islamverständnis praktiziert, soll mit einem archaischen, antizivilisatorischen und die Bedürfnisse muslimi-

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scher Machos bedienenden Gesellschaftsmodell konfrontiert werden. Das macht den IS weltweit so attraktiv für die Unterprivilegierten und Perspek- tivlosen mit islamischen Wurzeln. Mit Organisationen wie dem IS sind auf mittlere Sicht Verhandlungen grundsätzlich ausgeschlossen. Da die USA nach den Erfahrungen in Afgha- nistan und im Irak den Einsatz von Bodentruppen scheuen, bleibt Mittel- mächten wie Frankreich nur die Kriegsführung aus der Luft, auch wenn die Logik der Abschreckung nicht funktioniert. Selbstmordattentäter lassen sich nicht abschrecken. Am Ende ist die Stützung der autoritär-diktatorischen Regime vom Schlage Assads das kleinere Übel, wie der Machiavellist Putin kühl kalkuliert. Der Westen hingegen gerät dadurch wie durch den Krieg aus der Luft, weil sich sogenannte Kollateralschäden – sprich Opfer unter den Zivilisten – nicht ver- meiden lassen, in einen fundamentalen Widerspruch zu seinen Werten und verliert so auch ein Stück kulturelle Hegemonie.

Wie weiter angesichts der globalen Fluchtbewegung?

Was bedeutet das alles für Europa? Eine Befriedung des Europa umgeben- den Krisengürtels ist kurzfristig nicht zu erwarten. Eher werden auch die bislang noch stabilen Inseln destabilisiert, werden sich die Krisenregionen nach Subsahara-Afrika und auf die armen Teile der Arabischen Halbinsel ausweiten. Jemen, Somalia, Eritrea, Südsudan werden so zum Fokus einer weiteren Krisenregion mit neuen Fluchtbewegungen. Europa wird, weil die USA zögern, China passiv bleibt und Russland zündelt, gezwungen sein, in weitaus stärkerem Maße als bisher für die öffentlichen Güter Sicherheit und Stabilität an seiner Peripherie aufzukommen – und zwar im eigenen Inter- esse, da die 2016 weiter anhaltenden Fluchtbewegungen nicht mehr hand- habbar sein werden, sobald der Kipppunkt erst erreicht ist. Die Zeiten des europäischen Freeridertums sind somit definitiv vorbei. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Fluchtbewegungen immer durch Push- und Pull-Faktoren bestimmt werden. Push-Faktoren sind die Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Dazu gehören Krieg, Staatszerfall, Verfol- gung aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen, Naturkatastro- phen, Klimawandel, Armut, Perspektivlosigkeit. Pull-Faktoren sind ausschlaggebend dafür, welche Zielgebiete die Flücht- linge anstreben. Dazu gehören deren Attraktivität aufgrund von Wohlstand, politischer Stabilität und Beschäftigungsmöglichkeiten, weil die öffentlichen Güter gewährleistet sind, von denen keiner ausgeschlossen wird und deren Konsum (noch) nicht zu Lasten eines anderen geht, aber auch die Akzeptanz im Sinne von Willkommenskultur – und schließlich vor allem, ob bereits Ver- wandte oder Bekannte vor Ort sind. Eine verstärkende Rolle spielen dabei die Medien (Fernsehen, Handy, Internet, soziale Netzwerke), die ein Bild vorgaukeln, das oft nicht der Realität entspricht. Diese ernüchternde Lehre musste Angela Merkel mit ihren Selfie-Fotos machen, die in Minutenschnelle

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über die sozialen Netzwerke verbreitet wurden: Entscheidend für die Erwar- tungshaltung, für Denken und Handeln von Flüchtlingen oder Armutsmig- ranten ist nicht das, was wirklich ist, sondern wie es wahrgenommen wird. Relevant sind ferner die Randbedingungen in den Erstaufnahme- und Transitländern. Ist es attraktiv, in den Flüchtlingslagern der Türkei, des Liba- nons oder Jordaniens für ungewisse Zeit auszuharren, um irgendwann in ein zerstörtes Land zurückzukehren? Lässt die Türkei Flüchtlinge weiter unge- hindert passieren oder animiert sie sogar zur Flucht? Das Land am Bosporus und am Eingang zur Balkan-Route besitzt damit ein hohes Druckpotential gegenüber der EU, um diese, etwa in der Beitrittsfrage, gefügig zu machen. Und schließlich: Gibt es Schleusernetzwerke, die den Transfer organisie- ren und phantastische Behauptungen über das, was die Flüchtlinge erwartet, ins Netz stellen? Wie hoch ist der Preis bzw. wie hoch steigt er, wenn die EU gegen Schleuser vorgeht?

Zerfällt die EU?

Fest steht, dass auch 2016 die EU nicht als ganze und gleichermaßen betrof- fen sein wird. Grob lassen sich vier Ländergruppen unterscheiden: die Län- der Nordwesteuropas mit Deutschland an der Spitze, die ob ihres Wohlstands zu den bevorzugten Fluchtzielen zählen; die Transitländer auf dem Balkan; die Erstaufnahmeländer Griechenland, Italien und Spanien sowie die kaum betroffenen Länder, weil sie fernab liegen, wie Irland oder Finnland, oder keine Attraktivität als Ziele bieten, wie Polen oder die baltischen Staaten. Nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Betroffenheit, auch aufgrund der unterschiedlichen Attraktivität macht die von Angela Merkel ange- strebte europäische Quotenregelung wenig Sinn, da sie von den Flüchtlin- gen aufgrund der Pull-Effekte unterlaufen wird. Sicher ist, dass nach der dämpfenden Winterpause die Migration im Frühjahr wieder ansteigen wird, weil alle Push- und Pullfaktoren weiter bestehen. Die Strategie, die Fluchtursachen zu bekämpfen, ist zwar im Prinzip rich- tig, könnte allerdings nur sehr langfristig Wirkung zeigen. Sie würde im Ergebnis bedeuten, das Entwicklungsgefälle zwischen Ost- und Westeuropa zu schließen, die Ursachen des Staatszerfalls zu beseitigen, das religiöse Schisma zu überwinden, den Klimawandel zu bremsen etc. etc. 50 Jahre Entwicklungszusammenarbeit haben all das genauso wenig geschafft wie diverse militärische Interventionen, ob humanitär oder sicherheitspolitisch begründet, ob von der UNO mandatiert oder nicht. Kurzfristig erwartbar ist eher, dass die Fluchtursachen sich weiter verstärken, wenn etwa die Ukraine kollabiert, wenn der Konflikt in der Türkei aufgeheizt wird, wenn Jordanien oder der Libanon destabilisiert werden, wenn die Taliban in Afghanistan vorrücken oder wenn die Krise am Horn von Afrika sich weiter vertieft. Deshalb wird Europa kurzfristig reagieren. Wenn man die Push-Faktoren nicht oder nur sehr langfristig beeinflussen kann, setzt man bei den Pull- Faktoren an, das heißt bei der Attraktivität der Zielländer. Eine wirksame

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gesamteuropäische Strategie ist aufgrund der heterogenen Betroffenheit in der Flüchtlingsfrage wenig wahrscheinlich, zumal das EU-Projekt ob der Kumulation diverser anderer Krisen (Griechenland, Ukraine, Verhältnis zu Russland, Finanzen) selbst in die Krise geraten ist. Nicht die Europäische Kommission, sondern der Rat bzw. dessen wichtige Mitgliedsländer handeln. Die Abkommen von Schengen und Dublin sind faktisch außer Kraft. Hier war der Kipppunkt schon längst erreicht.

Zwei Szenarien

Paradoxerweise birgt gerade die Krise Europas die Chance zu einem Kom- promiss in der Flüchtlingsfrage, da alle auf vielen Politikfeldern viel zu ver- lieren haben und beileibe nicht nur die Freizügigkeit des Schengen-Raums. Das Szenario eines echten Neustarts für Europa braucht jedoch Zeit, die im Moment fehlt. Kurzfristig denkbar sind zwei andere Szenarien. Entweder kehrt Europa zum realistischen Selbsthilfeprinzip zurück und jedes Mitgliedsland greift nach ungarischem Muster zu den Maßnahmen, die seiner individuellen Inte- ressenlage und seinen Kapazitäten entsprechen. Dies würde die Krise Euro- pas weiter verschärfen. Oder es kommt zu einer hegemonialen Lösung, bei der Deutschland als ungewollter und ungeliebter „Eurohegemon“ voranschreitet. In der benevo- lenten Variante heißt das, Deutschland übernimmt den größten Teil der Kos- ten – für Frontex, den Marineeinsatz im Mittelmeer, den Bau von Erstaufnah- melagern in Griechenland und Italien bzw. den Unterhalt der Lager in der Türkei und Jordanien, damit die Menschen dort bleiben. In der Finanz- und Griechenlandkrise wurde bereits so verfahren. Tatsächlich hat Deutschland bei einem Auseinanderfallen Europas am meisten zu verlieren. Also wird es auch bereit sein, den höchsten Preis für den Zusammenhalt zu zahlen.4 In der malevolenten Variante konzentriert sich Deutschland auf die Kon- trolle der eigenen Grenzen, reduziert die Attraktivität durch Reduzierung der Sozialleistungen, beschleunigt die Asylverfahren und intensiviert die Rückführung von Asylbewerbern. Dazu gehört auch ein deutsches (und kein europäisches) Einwanderungsgesetz. Dies setzt die Nachbarn unter Druck, ähnlich zu verfahren – mit einer Kaskadenwirkung bis in die Türkei, Libyen, Marokko, Subsahara-Afrika. Auch das ist Ausdruck von Hegemonie. Auch so steht die EU zur Disposition, weil weit mehr verschwindet als die Freizügig- keit im Schengen-Raum. Welches der beiden Szenarien verfolgt wird, hängt nicht zuletzt von den Wahlen des Jahres 2016 ab. Der Stern Angela Merkels scheint zu sinken. Die SPD-Innenminister in den Bundesländern mutieren zu klammheimlichen Seehofer-Verstehern. Das Thema Migration wird überall, vor allem in den

4 Eine Variante des benevolenten Modells besteht darin, dass sich die Länder Kerneuropas (die sechs Gründungsstaaten und Österreich) auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen und eine kern- europäische Lastenteilung vornehmen.

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besonders betroffenen Ländern, zum eigentlichen Wahlkampfthema wer- den – mit der Frontlinie Willkommenskultur/notwendige Zuwanderung aus demographischen Gründen vs. Ängste/Fremdenfeindlichkeit.

Europa als Einwanderungskontinent

Alles zusammen wird nicht verhindern, dass die Zahl der Illegalen in den wohlhabenden EU-Ländern drastisch ansteigt. In Frankreich werden sie „sans papiers“ genannt. Sie werden in den sozialen Brennpunkten an der Peripherie der Großstädte untertauchen, wo bereits überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationshintergrund leben und für jeden noch so mickrigen Tagelohn arbeiten (was wiederum eine harte Konkurrenz für die einheimischen ungelernten Arbeiter bedeuten wird), ohne in die Sozialsys- teme eingebunden zu sein und ohne Teilhabe an den öffentlichen Gütern. In den USA soll es geschätzte fünf Millionen Illegale geben. Diese Zahl könnte in Europa, so sich die Zuwanderung weiter fortsetzt, in wenigen Jahren erreicht sein. Um das zu vermeiden, wird sich Europa insgesamt als Einwanderungsre- gion verstehen müssen. Entweder wird jedes einzelne Land ein Einwande- rungsgesetz verabschieden, in dem die jährliche Zahl, die Herkunft, Qualifi- kation und Sprachkenntnisse der Migranten festgelegt werden auf der Suche nach den „gut ausgebildeten syrischen Ärzten“. Oder es kommt, was weniger wahrscheinlich, aber für den Zusammenhalt der EU sehr viel zuträglicher ist, zu einem gesamteuropäischen Einwanderungsgesetz. Neben der ungeheuren Herausforderung der Migration werden alle ande- ren Probleme, auch wenn sie weiter ungelöst sind wie der globale Terroris- mus, in den Hintergrund treten – mit einer Ausnahme. Falls Russland seine Politik zur Restauration des sowjetischen Einflussbereiches fortsetzt, indem es (so der Worst Case) die Kooperation mit dem Iran sucht, weiter in der Ukraine, in Weißrussland, im Kaukasus und womöglich im Baltikum interve- niert, also überall da, wo es beträchtliche, teilweise nicht gleichberechtigte russische Minderheiten gibt, dann wird das eine neue Runde des Rüstungs- wettlaufs in allen Nato-Staaten einläuten. Lastenteilung hieße dann nicht nur umfassende Zuständigkeit für die euro- päische Peripherie, sondern auch für die militärische Verteidigung.5 Hieraus würde ein massiver Verteilungskonflikt erwachsen – zwischen den Mitteln zur Bewältigung der Flüchtlingskrise, den Mitteln für die neue Aufrüstung und den Mitteln zur Überwindung der Finanz- und Griechenlandkrise. Das abstrakte Ziel des konsolidierten Haushalts, vulgo „schwarze Null“, bliebe dabei zweifellos auf der Strecke. Das allerdings wäre noch das kleinste Problem.

5 Die Trendwende in diese Richtung unter finanzieller Führung Deutschlands war 2015 bereits erkennbar.

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Blätter_201601.indb 45 09.12.15 11:02 MEDIENKRITIK

Ich kann „unsere“ Probleme mit der in den deutschen Medien erst ein- Versorgung von Flüchtlingen oder der mal nur verharmlosend geschrieben, Bedrohung durch den IS gerade nicht unter „Vermischtes“). Zumal es einen so wirklich in eine Relation bringen zu direkten Zusammenhang gibt: Wenn den sich zeitgleich abspielenden, aber die Medien über Wochen und Monate um so vieles dramatischeren Proble- randvoll sind von „Flüchtlingskrise“ men, die durch kapitalistische Raffgier und „IS-Terrorgefahr“, haben andere verursacht werden: speziell die Um- Themen nicht den Hauch einer Chan- weltkatastrophe am Rio Doce in Bra- ce, in unseren Wahrnehmungsbereich silien (mehrere Millionen Menschen vorzudringen. Dieser Monothema- haben keinen Zugang zu Trinkwasser, tismus, der die öffentlichen Debatten ihre Lebensgrundlagen sind zerstört) zunehmend kennzeichnet, hat objek- oder die Brandstiftungen in Indonesien tiv die Funktion einer Ablenkung von (500 000 Menschen mit Atemwegs- anderem. Unsere „Betroffenheit“ und erkrankungen, riesige Flächen Urwald „Besorgnis“ sind die Legitimation da- inklusive Tiere verbrannt). für, dass wir alles, was sonst auf der Welt passiert, einfach übersehen. Ich denke, das alles hat auch damit Woran erkennt zu tun, wie wir uns das Böse vorstel- len. Die IS-Kämpfer sehen ja schon man die Bösen? aus wie personifizierte Teufel, mit ihren schwarzen Kapuzen und ihrem martialischen Auftreten. Die Her- Dass gegen diese systematische Er- ren in Schlips und Anzug hingegen, zeugung von Elend und Leid etwas die Brandstiftungen anordnen, um unternommen wird, ist leider sehr viel mehr Anbaufläche für ihre Palmöl- unwahrscheinlicher, als dass der IS produktion zu bekommen, oder die irgendwann besiegt wird. Und genau bei der Giftentsorgung ihrer Erzmi- deshalb wäre es wichtig, dort „mitzu- nen schlampen, weil sie damit ihre leiden“ und zu überlegen, ob sich ir- Gewinnmargen erhöhen können gendetwas tun lässt. Zumindest könn- (40 Prozent Gewinn bei Samarco, dem ten wir diesen Ereignissen einen Teil für die Katastrophe verantwortlichen unserer Aufmerksamkeit widmen. Eisenerzkonzern in Brasilien), die se- Ich weiß, dass es unsinnig ist, exis- hen nicht aus wie Teufel. Die sehen tenzielle Probleme gegeneinander auf- so aus wie wir. Das sind respektierte zurechnen, weil jedes für sich absolut Mitglieder unserer „zivilisierten“ Ge- wichtig ist. Aber die Diskrepanz der sellschaft. Sie handeln nicht, wie der Kategorien, unter denen zurzeit Dinge IS, nach irgendwelchen abgedrehten als „wichtig“ und „unwichtig“ einsor- Glaubenssätzen, von denen jeder ver- tiert werden, ist für mich schwer aus- nünftige Mensch auf den ersten Blick zuhalten. Während meine Timelines sieht, dass sie Mumpitz sind. Sondern seit Wochen vor Flüchtlingen und IS sie handeln nach Maximen, die wir überquellen, haben mich Nachrichten im Prinzip für legitim halten und auf über die beiden Umweltkatastrophen denen auch ein Großteil unserer eige- nur mit Verzögerung erreicht (immer- nen Entscheidungen beruht. hin muss ich meinen Filterbubbles Das ist die Banalität des Bösen, von zugute halten, dass sie mich über- der Hannah Arendt schrieb. Aber haupt erreicht haben), und es dauerte es wäre halt so schön, wenn wir den lange, bis mir die Dimension dessen, Teufel an seinen Hörnern erkennen was dort geschieht, klar wurde (über könnten. die brasilianische Katastrophe wurde Antje Schrupp

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Blätter_201601.indb 46 09.12.15 11:02 Zurück zum Völkerrecht! Friedensarchitekturen in kriegerischer Zeit

Von Lothar Brock

as Nachdenken über den Frieden ist stets eingebunden in die Erfahrung D des Krieges. Heute ist es die „aus den Fugen geratene Welt“, das „globale Chaos“, es sind die mörderischen Exzesse der Gewalt in Irak und Syrien, aber auch in der Zentralafrikanischen Republik, im Südsudan oder in Nordnige- ria, es ist das Elend der Flüchtlinge, die erneute militärische Konfrontation zwischen Ost und West im Gefolge des Ukrainekonflikts und es ist das Säbel- rasseln Chinas im südchinesischen Meer, die unser Denken herausfordern. Wir leben in rauen Zeiten und müssen uns darauf einstellen, dass es so bald nicht besser werden wird. Das ist ein, wenn nicht der zentrale Grund für das Anschwellen der Flüchtlingsströme: Die Menschen verlieren die Hoff- nung, dass sich dort, wo sie bisher ausgeharrt haben, irgendetwas zum Bes- seren wenden wird. Also machen sie sich mit Hilfe eines rasch anwachsen- den Netzwerkes von Schleppern und Schleusern auf den Weg. Die Krisen und Konflikte, denen sie zu entkommen versuchen, kommen mit ihnen auch zu uns. Sie werden uns auf lange Sicht beschäftigen. Das Auswärtige Amt stellt sich bereits darauf ein. Es hat beschlossen, sich umzuorganisieren. Eine von drei Abteilungen soll sich fortan mit der Frage auseinandersetzen, wie mit den Krisen der Welt umgegangen werden soll und kann; denn die Krise, so der Außenminister, „wird in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren der Normalzustand sein“, nicht die Ausnahme. Müssen wir also davon ausgehen, dass der Friede in Zukunft das sein wird, was er in der Vergangenheit stets war: eine Zwischenkriegszeit, die mal kür- zer, mal länger dauert, aber nie lange genug, um die Menschen das Krieg- führen verlernen und schließlich sogar vergessen zu lassen? Steht der Friede in diesem Sinne auch weiterhin unter dem Vorbehalt des nächsten Krieges? Und ist die Vorbereitung auf den nächsten Krieg immer noch die beste Frie- densstrategie (sofern sie es je war)? „Si vis pacem, para bellum“ steht über dem Tor zum großen Arsenal in Venedig: „Wenn Du den Frieden willst, rüste zum Krieg“. Das ist eine Maxime, die der römische Staatsmann und Denker Cicero im Jahr 43 vor Christus im Kampf um die Erhaltung der römischen Republik ausgab. Diese Maxime hat Schule gemacht. Mit der Politik der nuklearen Abschreckung wurde sie ins Monströse gesteigert. Die nukleare Abschreckung als „Frie- densstrategie“ brachte die Menschheit mehrfach an den Rand der Selbstver-

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Blätter_201601.indb 47 09.12.15 11:02 48 Lothar Brock

nichtung, und sie hat nicht verhindert, dass – während die Waffen in der gro- ßen Konfrontation zwischen Ost und West schwiegen – viele kleine Kriege ausgetragen wurden, die gleichwohl katastrophale Folgen für die Betroffe- nen hatten. Einige dieser kleinen Kriege endeten mit dem Ost-West-Konflikt, andere gingen unbeeindruckt weiter, und wieder andere sind neu entbrannt. Heute jedoch rückt (nach einem kurzen Stimmungshoch in den 1990er Jahren) auch wieder der große Krieg ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Damit stellt sich die Frage, was aus den Friedensplänen der Aufklärung geworden ist. Oder anders gefragt: War Kant für die Katz?

Krieg für den Frieden

Das Nachdenken über den Frieden ist eingebunden in eine Geschichte des Krieges: Diese Beobachtung kann natürlich auch etwas hoffnungsfroher gelesen werden, nämlich so, dass die Idee des Friedens aller Kriegserfahrung standgehalten hat; und mehr noch – aber schon wieder bedenklich – dass die Mehrzahl der Kriege (zumindest in der Neuzeit) im Namen des Friedens, im Namen seiner Wiederherstellung oder Bewahrung, geführt wurde. Darin liegt auch das zentrale Problem: Die allgemeine Wertschätzung des Friedens ist offenbar kein Grund, auf den Krieg zu verzichten. Im Gegenteil: Sie kann sogar dazu dienen, Kriege zu rechtfertigen. Wenn der Friede das höchste Gut ist, darf man, ja muss man dann nicht vielleicht sogar mit Waffengewalt für ihn eintreten? Diese Frage führt uns zur Lehre vom gerechten Krieg, die seit den 1990er Jahren im Zusammenhang mit „humanitären Interventionen“ und dem „Krieg gegen den Terrorismus“ wieder starkes Interesse findet – besonders in der Version, die der Kirchenlehrer und Philosoph Augustinus Anfang des 5. Jahrhunderts im Kontext der Konstantinischen Neuordnung des römischen Reiches formuliert hat. Die Urchristen waren bekanntlich konsequente Pazi- fisten. Aber in dem Maße, in dem sie in die spätrömische Gesellschaft inte- griert wurden und auch in den Dienst des Staates traten, stellte sich die Frage, ob ihnen damit nicht auch eine direkte oder indirekte Beteiligung am Krieg erlaubt sei. Augustinus lieferte eine bis heute viel diskutierte Antwort. Er argumentierte, dass eine Kriegsbeteiligung der Christen dann zulässig sei, wenn der Krieg auf die Wiederherstellung oder Bewahrung des Friedens gerichtet sei und der christliche Soldat folglich im Krieg dem Frieden diene. Das war keineswegs nur zynisch. Zumindest theoretisch erhöhte die augusti- nische Verknüpfung von Krieg und Frieden die Anforderungen an die Recht- fertigung von Gewalt. Zugleich erweiterte sie aber auch das Spektrum mög- licher Rechtfertigungen des Krieges. Das ist das grundlegende Dilemma der Lehre vom gerechten Krieg. Dieses Dilemma versuchte Thomas von Aquin einige hundert Jahre später durch eine Ausdifferenzierung der Kriterien aufzulösen, unter denen Krieg erlaubt sein soll: das Vorliegen einer Rechtsverletzung, die Ausrichtung des Krieges auf die Wiederherstellung des Rechts, die Verhältnismäßigkeit der

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Blätter_201601.indb 48 09.12.15 11:02 Zurück zum Völkerrecht! 49

Mittel, eine rechtmäßige Befugnis zur Entscheidung über die Anwendung von Waffengewalt und die Aussicht auf Erfolg. Damit wurden die Anforde- rungen an die Rechtfertigung von Gewalt weiter erhöht, aber die Möglich- keit, die Lehre für die Rechtfertigung von Gewalt zu nutzen (statt für die beabsichtigte Begrenzung), blieb bestehen. Mit der Herausbildung des neuzeitlichen Staatensystems stellte sich die Frage, ob die Lehre vom gerechten Krieg nicht zu einem unauflösbaren Knäuel rivalisierender Gerechtigkeitsansprüche führen müsste, in dem es prinzipiell unmöglich wäre, die Zulässigkeit von Gewalt nach der Lehre vom gerechten Krieg zu beurteilen. Bei diesem Problem setzte dann das moderne Völkerrecht an. In der Ten- denz ersetzte es das moralische Abwägen über die Anwendung von Gewalt durch die Vorgabe rechtlicher Normen und Verfahren für die Anwendung von Gewalt. Allerdings trat das Völkerrecht zunächst nur in höchst beschei- dener Form in Erscheinung. Es kümmerte sich mehr um die Ausarbeitung des Rechts im Kriege (ius in bello) als um die Kritik des Rechts zum Kriege (ius ad bellum), das die Staaten für sich in Anspruch nahmen. Deshalb nannte Immanuel Kant die Väter des modernen Völkerrechts lauter „leidige Trös- ter“, die mit ihren Regeln für den Krieg nur immer neue Möglichkeiten seiner Rechtfertigung schüfen, so dass man sich wundern müsse, dass in diesem Zusammenhang überhaupt noch von „Recht“ gesprochen werde. Kant selbst forderte dagegen einen radikalen Perspektivwechsel: weg von der Freiheit der Staaten, über die Anwendung von Gewalt eigenmächtig zu entscheiden, hin zu einer internationalen Rechtsordnung, die ein friedliches Zusammen- leben aller ermöglichen würde.

Kants Lehre – auch nur leidiger Trost?

Kants Friedensplan setzte keineswegs einen neuen (guten) Menschen vor- aus. Der Königsberger war in diesem Punkt Realist. Sein Menschenbild entsprach dem von Thomas Hobbes.1 Trotzdem kommt er zu einem ganz anderen Ergebnis: Kant argumentiert, sein Friedensplan entspreche einem universellen Vernunftgebot. Selbst in einer Welt von Teufeln müsste der von ihm propagierte Weg eingeschlagen werden, sofern diese Teufel bereit wären, sich dem zu unterwerfen, was die Vernunft (also das wohlverstan- dene Eigeninteresse) gebiete. Weil aber das Vernünftige nicht immer als das Richtige erkannt und noch viel weniger befolgt werde, sei es von zentraler Bedeutung, dem Verhalten der Menschen wie der Staaten durch eine gute Verfassung auf die Sprünge zu helfen. Zu diesem Zweck propagierte Kant eine Demokratisierung der Staaten, die die Kriegslust ihrer Regierungen dämpfen würde; einen Staa- tenbund, der einer Vertrauensbildung unter den Staaten dienen würde und die Schaffung einer weltbürgerlichen Verfassung, die Freizügigkeit in

1 Vgl. das Interview mit Jürgen Habermas, in: „Blätter“, 1/2004, S. 27-45, hier S. 32.

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wechselseitigem Respekt für die Lebensinteressen des anderen ermögli- chen sollte. Der Sache nach sind die Grundvorstellungen Kants seit Mitte des 19. Jahrhunderts in erstaunlichem Umfang in die Entwicklung des Völker- rechts und die Institutionalisierung internationaler Zusammenarbeit einge- gangen. Mit Ausgang des 18. und quer durch das 19. Jahrhundert vollzogen sich nicht nur große politische Umbrüche, denen bis in die Gegenwart meh- rere Wellen der Demokratisierung folgten; es gab auch eine erste und zweite industrielle Revolution mit der Folge, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts zu einer enormen Verdichtung der internationalen wirtschaftlichen Verflechtung kam. Diese Entwicklung verlangte nach neuen Formen der Regelung von Kommunikation und Verkehr. Zu diesem Zweck wurden neu- artige Einrichtungen geschaffen: die ersten internationalen Organisationen wie der Weltpostverein, die Internationale Telegraphenunion oder das Han- delsbüro der Amerikanischen Republiken (die spätere Pan American Union). Diese Ansätze einer organisierten internationalen Zusammenarbeit waren in ihren Anfängen eher technisch ausgerichtet. Ende des 19. Jahrhunderts gewann aber auch Kants Idee einer politischen Verbindung zwischen den Staaten an Bedeutung. Der Grund hierfür war, dass die politische Spreng- kraft der gesellschaftlichen Umbrüche innerhalb der europäischen Staaten zum Teil nach außen abgeleitet wurde, und zwar in Form eines überborden- den Nationalismus, der die europäischen Staaten in einen verschärften Wett- lauf um Macht (in Gestalt der Aufrüstung) und um Ressourcen (in Gestalt des Kolonialismus) trieb. Es gab also beides: ein zunehmendes Bewusstsein für die Einheit der Welt, das sich in den ersten Weltausstellungen manifestierte, und zugleich eine wachsende Machtkonkurrenz unter den damaligen Welt- mächten, also den europäischen Staaten, in der sich die Gegenwart des Krie- ges in der Moderne manifestierte.2

Vom Kriegs- zum Friedensrecht

Unter dem Eindruck dieser brisanten Entwicklung begannen die Völker- rechtler zu Beginn des 19. Jahrhunderts, an der Umwandlung des Völ- kerrechts von einem Kriegs- zu einem Friedensrecht zu arbeiten. Diese Bemühungen fanden ihren ersten Ausdruck in den beiden Haager Friedens- konferenzen von 1898 und 1907 – rund hundert Jahre nach Kants Friedens- schrift. Auf diesen Friedenskonferenzen wurde das freie Recht zur Kriegs- führung, das die Staaten für sich beanspruchten, vorsichtig in Frage gestellt und mit einer allgemeinen Friedenspflicht konfrontiert. Die Völkerrechtler wurden so zu „sanften Agenten der Zivilisierung“.3 Wie der Ausbruch des Ersten Weltkrieges belegt, waren die völkerrechtlichen Zivilisierer nicht erfolgreich. Aber ihre Ideen wurden durch den Weltkrieg nicht ausgelöscht.

2 Vgl. Wolfgang Knöbel und Gunnar Schmidt (Hg.), Die Gegenwart des Krieges. Staatliche Gewalt in der Moderne, Frankfurt a.M. 2000. 3 Vgl. Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International law 1870-1960, Cambridge 2004.

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Im Gegenteil: Aus ihm ging die von Kant geforderte allgemeine Internatio- nale Organisation hervor, der Völkerbund. War damit der von Kant gefor- derte Paradigmenwechsel vollzogen? In konzeptioneller Hinsicht ja: Der Völkerbund sollte die Bündnispolitik, die dem alten Kriegssystem entsprach, durch kollektive Friedenssicherung ersetzen; die eigenmächtige Anwen- dung von Gewalt durch einzelne Staaten und Bündnisse sollte durch kollek- tiven Widerstand der übrigen Staaten verhindert oder eingedämmt werden. Im Briand-Kellog-Pakt von 1928 und dann vor allem in der Charta der Ver- einten Nationen vom 26. Juni 1945 wurde diese Idee verstärkt. Der Briand- Kellog-Pakt verbietet den Angriffskrieg; die Charta spricht ein allgemeines Gewaltverbot aus und verbindet die kollektive Friedenssicherung mit der friedlichen Streitbeilegung auf globaler und regionaler Ebene. In diesem Sinne kann man von der ansatzweisen Herausbildung einer Friedensarchitektur sprechen, die darauf ausgerichtet ist, das alte System imperialer Ordnungspolitik durch kollektives Handeln und eine organi- sierte Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, sozialem, ökologischem und kulturellem Gebiet zu ersetzen. Aufs Ganze betrachtet kann man also fest- halten, dass die Entwicklung des Völkerrechts ganz im Sinne Kants zu einer fortschreitenden Einschränkung der rechtlich zulässigen Anwendung von Gewalt geführt hat: von der Infragestellung des Rechts zum Kriege über die Etablierung einer allgemeinen Friedenspflicht bis zum allgemeinen Gewalt- verbot, wie es die UN-Charta in Art. 2/4 ausspricht. Ein Durchbruch zu der von Kant intendierten Friedensordnung wurde damit aber, wie wir täglich sehen, nicht erreicht: Der Friede als Norm hat zwar an Gewicht gewonnen, aber trotzdem werden Kriege geführt, wobei die rechtliche Einhegung der Gewalt durch die Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg sogar konzeptionell wieder in Frage gestellt wird. Damit droht der von Kant geforderte und in der bisherigen Völkerrechtsentwick- lung vollzogene Paradigmenwechsel sogar in sich zusammenzubrechen. Also doch: Kant für die Katz? War tatsächlich alles vergeblich? Oder gibt es historische Erfahrungen, die uns ermutigen, trotz allem an der Idee einer Weltfriedensordnung festzuhalten?

»Wenn Du den Frieden willst, dann schaffe Frieden«

Wie schon Günter Anders zehn Jahre zuvor, stellten Dieter und Eva Seng- haas dem kriegerischen „Si vis pacem, para bellum“ in den 1990er Jahren die Friedensmaxime „Si vis pacem, para pacem“ entgegen – „Wenn Du den Frieden willst, dann schaffe Frieden“. Mit anderen Worten: Betrachte den Krieg nicht als unausweichliches Schicksal des Menschen, mit dem man sich abfinden und auf das man sich einstellen muss; betrachte den Krieg vielmehr als ein Verhaltensmuster, das verändert und überwunden werden kann, und schaffe dafür die konkreten Voraussetzungen. Zu diesem Zweck warf Dieter Senghaas in den 90er Jahren zwei viel dis- kutierte Thesen in die Debatte über eine neue Weltordnung nach Ende des

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Blätter_201601.indb 51 09.12.15 11:02 52 Lothar Brock

Ost-West-Konflikts:4 Die erste These lautet im Anschluss an Norbert Elias, dass die Zivilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse nicht nur eine Idee ist, die in den Köpfen der Philosophen spukt, sondern dass sie sich in zahlreichen modernen Gesellschaften bereits vollzogen habe. Die zweite These lautet, dass die Zivilisierung zwischengesellschaftlicher Beziehungen keineswegs an kulturellen Differenzen oder Konflikten zwischen den unterschiedlichen Kulturen scheitern muss; denn der von Samuel Huntington diagnostizierte „Zusammenstoß der Kulturen“ sei in Wahrheit ein Zusammenstoß der jewei- ligen Kulturen mit sich selbst. Zur ersten These: Sie bezieht sich auf das von Dieter Senghaas entwi- ckelte „zivilisatorische Hexagon“. In diesem Hexagon werden sechs Anfor- derungen an ein friedliches Zusammenleben formuliert. Sie entspringen nicht einem akademischen Modelldenken, sondern sind aus der realhisto- rischen Entwicklung von Zivilisierungsprozessen (in Europa) abgeleitet. Die sechs Eckpunkte sind: ein funktionierendes Gewaltmonopol des Staates, die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und von demokratischer Parti- zipation, komplexe Lebenszusammenhänge, die eine Kontrolle der eigenen Affekte verlangen, die von allen geteilte Aussicht auf mehr soziale Gerech- tigkeit und die Fähigkeit zum Kompromiss als Kern einer friedensdienlichen Kultur des Umgangs mit Konflikten. Wo sich diese Verfahrensmuster und Fähigkeiten der Einzelnen und der Gruppen herausbilden, sind sie das Ergebnis langwieriger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Sie fallen also nicht vom Himmel, sondern sind hart erstritten und müssen immer wieder neu gefestigt werden. Zivilisierungspro- zesse verlaufen dementsprechend weder gradlinig noch unumkehrbar. Aber sie sind real, sie haben zu einer Befriedung jener Gesellschaften geführt, die wir heute zum globalen Westen, also zur OECD-Welt zählen, und sie haben auch das Verhältnis zwischen diesen Staaten nachhaltig befriedet (Demo- kratischer Friede).

»Gegenwart des Krieges« oder »Gegenwart des Friedens«?

Aber wie steht es mit dem Verhältnis der OECD-Welt zu den übrigen Staa- ten, die bisher keine dem Westen vergleichbaren Umbrüche erlebt haben? Hier kommt die zweite These ins Spiel. Dieter Senghaas verbindet seine Vorstellung von Zivilisierung mit einem makrotheoretischen Denkansatz, nämlich dem der Modernisierungstheorie. Zivilisierung hat es demnach mit dem Übergang von einer traditionalen zu einer modernen Gesellschaft zu tun. Modernisierung begünstigt folglich die Etablierung einer Ordnung, in der Konflikte ohne Rückgriff auf eigenmächtige Gewalt ausgetragen wer- den: der „Gegenwart des Krieges“ (Knöbl/Schmidt) steht so die „Gegenwart des Friedens“ gegenüber. Diese Sichtweise verbindet sich mit der Annahme,

4 Vgl. Dieter Senghaas, Frieden als Zivilisierungsprojekt, in: ders. (Hg.), Den Frieden denken. Si vis pacem, para pacem, Frankfurt a.M. 1995, S. 196-226; und ders., Zivilisierung wider Willen, Frank- furt a.M. 1998.

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dass nach und nach alle Staaten mit den Anforderungen einer modernen Gesellschaft konfrontiert werden. Das löst in all diesen Staaten innergesell- schaftliche Konflikte aus, bei denen die Herrschenden sich gern als Sach- walter der Kultur des jeweiligen Landes zu legitimieren versuchen. Ein aktu- elles Beispiel dafür bietet die kulturelle Abgrenzung Russlands gegenüber westlichen Werten, die von Putin bekanntlich als degoutant und dekadent geschmäht werden. Solche aggressiven Abgrenzungen sind aus demokratisierungstheoreti- scher Perspektive nicht Ausdruck unaufhebbarer kultureller Differenzen, sondern Teil der notwendigen Auseinandersetzung der jeweiligen Gesell- schaften mit den eigenen Kulturtraditionen. Diese Argumentation kann man heute auch sehr gut auf die Entwicklungen in der arabischen Welt oder in Afrika beziehen – und auf die Auseinandersetzung mit den Muslimen in der eigenen Gesellschaft. Die Aktualität dieser Thesen demonstrierte unlängst die „Süddeutsche Zeitung“ mit Blick auf die politischen Unruhen im heuti- gen Afrika: Dabei gehe es um einen „Aufstand Afrikas gegen sich selbst“, gegen seine Unfähigkeit, auch 50 Jahre nach der Entkolonisierung die eige- nen kolonialen Denkweisen und Verhaltensmuster zu überwinden.5 Hier liegt aber eine Rückfrage nahe: Ist es mehr als „leidiger Trost“, um mit Kant zu sprechen, wenn man feststellt, dass die Auseinandersetzungen im globalen Süden in erster Linie Auseinandersetzungen der betroffenen Gesellschaften mit sich selbst sind? Denn auch wenn dem so sein sollte, so haben diese Auseinandersetzungen doch erhebliche internationale oder sogar weltpolitische Folgen. In Europa haben die innergesellschaftlichen Kämpfe im Prozess der Modernisierung jedenfalls zu erheblichen Span- nungen zwischen den Staaten und schließlich sogar zu zwei Weltkriegen geführt. Ist mit der Feststellung, die Kulturen lägen mit sich selbst im Kon- flikt, in friedenspolitischer Hinsicht vielleicht weniger gewonnen, als diese Feststellung verspricht? Hier kommt eine zweite Frage ins Spiel: Sind die kulturell definierten Abgrenzungstendenzen in weiten Teilen des globalen Südens und in Russland nicht auch Ausdruck der Widersprüche, mit denen die Politik der liberalen Demokratien gegenüber diesen Staaten behaftet ist? Ich möchte hier nicht als Putin-Versteher argumentieren. Aber Putins Stra- tegie, die eigene Herrschaft unter anderem mit einer militanten kulturellen Abgrenzung gegenüber dem Westen zu stabilisieren, funktioniert offenbar auch deshalb so gut, weil der Westen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts schlechten Gebrauch von seiner hegemonialen Stellung gemacht hat. Statt an der Friedensarchitektur der Vereinten Nationen konsequent weiterzu- arbeiten, ist er zwischenzeitlich eher der Versuchung erlegen, sich auf eine Multilateralismus à la carte zurückzuziehen. Dieser Sachverhalt wurde in den vergangenen Jahren intensiv im Zusam- menhang mit dem Theorem des „demokratischen Friedens“ diskutiert. Es besagt, dass Demokratien untereinander keine Kriege führen. Dafür gibt es ganz unterschiedliche, sich immer auch auf Kant berufende Erklärungen.

5 Tobias Zick und Tim Neshitov, Aufstand gegen sich selbst, in: „Süddeutsche Zeitung“, 29.5.2015.

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Blätter_201601.indb 53 09.12.15 11:02 54 Lothar Brock

Entscheidend ist jedoch, dass Demokratien gegenüber Nicht-Demokratien gerade nicht unbedingt friedlicher sind als Nicht-Demokratien untereinan- der. Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung hat das in einem umfangreichen Forschungsprogramm untersucht. Sie kommt zum Ergeb- nis, dass Demokratien im Umgang mit Nicht-Demokratien sogar besonders aggressiv sein können, weil sie in ihnen einen von Kant so bezeichneten „ungerechten Feind“ sehen.6

Der ungerechte Feind

Was aber ist ein ungerechter Feind? Nach Kant ist das eine Regierung oder ein Machthaber, deren bzw. dessen „öffentlich […] geäußerter Wille einer Maxime folgt, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter Völkern möglich wäre, sondern der Naturzustand verewigt werden müsste“.7 Die Regierung George W. Bush war bekanntlich sehr rührig bei der Identifizierung solch ungerechter Feinde in Gestalt von sogenannten rogue states, also Schurkenstaaten. Und sie war nicht zimperlich im Umgang mit ihnen. Die Bush-Administration war dabei auch nicht zimperlich mit dem Völkerrecht. Putin hat zwar Unrecht, wenn er sich bei der Rechtfertigung der Annexion der Krim auf das westliche Verhal- ten im Kosovokonflikt beruft. Aber wenn der Westen sich heute über die rus- sische Völkerrechtspolitik beklagt, dann klingt das angesichts der eigenen Politik der vergangenen Jahre doch ein bisschen schlitzohrig. Fassen wir also bis hierhin zusammen: Die Geschichte zeigt eine Reihe erfolgreicher innergesellschaftlicher Zivilisierungsprozesse, die auch dem Frieden zwischen den Staaten dienen. Solchen Zivilisierungsprozessen stehen keine essentiellen, unaufhebbaren Kulturkonflikte entgegen. Der Kampf Afrikas oder der arabischen Welt ist aber ein Kampf mit gravierenden internationalen Folgen, auch deswegen, weil weder die afrikanische noch die arabische oder irgendeine andere Welt sich in der Vergangenheit isoliert vom Rest der Welt entwickelt hat. Der Kampf der Kulturen mit sich selbst ist daher immer zugleich ein Kampf mit jenen Deformationen, die sie in ihren Beziehungen mit den jeweils dominanten Gesellschaften erfahren haben. Dieser Kampf hat schließlich auch erheblichen Einfluss auf ihr internationa- les Umfeld, ja sogar – wie der UN-Sicherheitsrat mehrfach festgestellt hat –, für den internationalen Frieden. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich die Gefahr einer immer neuen Militarisierung der internationalen Politik. Überall in der Welt scheinen heute Abrisskolonnen unterwegs zu sein, die die Errungenschaften von Aufklärung und Modernisierung demolie- ren – und zwar nicht nur dort, wo der „Islamische Staat“ wütet, sondern weit

6 Anna Geis, Harald Müller, Wolfgang Wagner (Hg.), Schattenseiten des demokratischen Friedens. Zur Kritik einer liberalen Außen- und Sicherheitspolitik, Frankfurt a.M. 2007. 7 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, § 60, 1798, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werksausgabe Bd. VIII, Frankfurt a.M. 1977, S. 309-636, hier: S. 473; dazu Harald Müller, Kants Schurkenstaat. Der „ungerechte Feind“ und die Selbstermächtigung zum Kriege, in: Anna Geis (Hg.), Den Krieg über- denken, Baden-Baden 2006, S. 229-250.

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darüber hinaus: in Russland, in der Ukraine, in China, in Mexiko, wo in den vergangenen zehn Jahren 60 000 bis 80 000 Menschen im Drogenkrieg ums Leben gekommen sind. Auch in Europa erleben wir einen neuen Nationalismus und Chauvinismus – Hass auf die EU, Hass auch auf die Demokratie, Hass auf die anderen. Von Finnland bis Frankreich, von Norwegen bis Ungarn gewinnen rechtskonser- vative politische Parteien an Einfluss. Kurzum: Das Projekt Europa wankt. Und in den USA ist ein Rechtschauvinist wie Donald Trump politikfähig geworden. Er gilt unter Republikanern und ihnen nahe stehenden Menschen längst nicht mehr nur als politischer Unterhaltungskünstler, sondern als ernst zu nehmender Vertreter ihrer Interessen und Weltsichten. 64 Prozent der Republikaner billigen ihm laut einer Umfrage der „Washington Post“ vom Sommer diesen Jahres zu, qualifiziert für das Präsidentenamt zu sein. Dazu passt, dass nach all den Erfahrungen mit militärischen Eingriffen die Kolum- nistin der „Washington Post“, Anne Applebaum, zur europäischen Flücht- lingspolitik schreibt, das Problem liege nicht darin, wer wie viele Flüchtlinge aufnehmen müsse; das Problem sei vielmehr, dass die EU-Staaten sich bisher der Bildung einer europäischen Armee widersetzt hätten. Jetzt bekämen sie dafür die Quittung! Man liest, staunt und fragt sich: Welche Antwort würde eine europäische Armee auf die gegenwärtigen Flüchtlingsströme liefern? Die Antwort bleibt unserer Phantasie oder unseren Albträumen überlassen.

Keine Ordnung ohne Krieg?

Immanuel Kant hat bekanntlich drei Fragen formuliert, die sich jeder auf- geklärte Mensch stellen soll: Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen? Heute wissen wir nicht nur aus der europäischen Geschichte, dass die Zivilisierung des Umgangs mit Konflikten möglich ist. Neuerdings gibt es Studien, die noch weiter gehen. So vertritt Steven Pinker die These, dass die Anwendung von Gewalt im Laufe der Menschheitsgeschichte an Bedeu- tung für die Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse verliert.8 Ähnlich hat der Friedensforscher Nils Petter Gleditsch schon vor Jahren gestützt auf umfangreiches statistisches Material argumentiert.9 Beruht also die gegen- wärtige Aufregung über die aus den Fugen geratene Welt10 nur auf unserer Schwäche für sensationsgesättigte Unterhaltung? Keineswegs. Das Problem besteht darin, dass langfristige Trends wenig über die Wahrscheinlichkeit kurzfristiger Schwankungen im Prozess der übergreifenden Veränderung aussagen. Man darf die Geschichte des Völ- kerrechts durchaus, wie es hier geschehen ist, als Geschichte des Fortschritts vom Kriegs- zum Friedensrecht erzählen. Aber die entscheidenden Durch-

8 Vgl. Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt a. M. 2011. 9 Vgl. Nils Petter Gleditsch, The Decline of War – The Main Issues, in: „International Studies Review“, 3/2013, S. 397-399. 10 Vgl. Paul Schäfer (Hg.), In einer aus den Fugen geratenen Welt. Linke Außenpolitik: Eröffnung einer Debatte, Hamburg 2014.

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brüche in dieser Geschichte (das allgemeine Gewaltverbot und die Formulie- rung einer allgemeinen Friedenspflicht) sind das Produkt zweier Weltkriege! Dürfen wir also hoffen, so wäre in Bezug auf Kants dritte Frage zu erörtern, dass es gelingen wird, eine von Jürgen Habermas so genannte angemessen institutionalisierte Weltordnung ohne einen dritten großen Krieg zustande zu bringen? Nicht nur von hartgesottenen Realisten, auch in der Friedensforschung ist in jüngster Zeit vor einer Zuspitzung der Auseinandersetzungen mit China (wenn nicht Russland oder beiden) bis hin zu einem neuen großen Krieg gewarnt worden. Die Möglichkeit ist in der Tat nicht auszuschließen. Ent- scheidend ist jedoch, welche Schlussfolgerungen man daraus zieht. Die einen sagen, wir müssen uns auf eine solche Konfrontation einstellen und entsprechend aufrüsten und bestehende Bündnisstrukturen stärken. Die anderen fordern das Gegenteil: eine konsequente Wiederbelebung der Rüs- tungskontroll- und Abrüstungspolitik in Verbindung mit einem Ausbau der Vereinten Nationen. In der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung wurde ein neues Konzert der Mächte analog zum Wiener Mächtekonzert von 1815 vor- geschlagen.11 Dieses „Mächtekonzert für das 21. Jahrhundert“ soll nicht an die Stelle der UNO treten, sondern durch Konsultation, Vertrauensbildung und Entscheidungsvorbereitung zwischen weltpolitisch wichtigen Staaten die Funktionsfähigkeit des Sicherheitsrates als Entscheidungsgremium stär- ken und die Gefahr von Blockaden des Sicherheitsrates (infolge eines Vetos der Ständigen Mitglieder) abbauen. Ob das ein Schritt voran sein könnte, der die gegenwärtigen Blockaden im Sicherheitsrat umgeht, oder einen Schritt zurück darstellen würde, der auf eine weitere Marginalisierung des UN-Sys- tems hinausliefe, muss hier offen bleiben. Es scheint sich aber die Tendenz abzuzeichnen, die Bearbeitung globaler Probleme eher von den Handlungs- kapazitäten der Einzelstaaten her zu denken als von der Setzung globaler Standards, wie sie in den 1990er Jahren diskutiert wurden (good governance, Demokratie, Menschenrechte, Nachhaltigkeit). Der „bottom up“-Ansatz der Pariser Klimakonferenz bietet dafür reichlich Anschauungsmaterial.

Globale Architektur und regionaler Gerüstbau

In den 1990er Jahren wurde insbesondere eine Demokratisierung der Ver- einten Nationen diskutiert. Sie sollte über eine erneute Erweiterung des Sicherheitsrats und durch die Einrichtung einer Art parlamentarischer Ver- sammlung neben der jetzt bestehenden Generalversammlung erfolgen. Die Erweiterung des Sicherheitsrats sollte für eine bessere Repräsentation der Staatenwelt sorgen, die parlamentarische Versammlung (ähnlich wie das europäische Parlament) sollte dazu beitragen, das Regierungshandeln zu kontrollieren. Gegenwärtig hat eine solche große UN-Reform keine Kon-

11 Harald Müller u.a., Ein Mächtekonzert für das 21. Jahrhundert: Blaupause für eine von Großmäch- ten getragene multilaterale Sicherheitsinstitution, „HSFK-Report“, 1/2014, Frankfurt a. M. 2014.

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junktur. Mehr Bewegung gibt es bei weniger ambitionierten Möglichkeiten, internationale Kapazitäten der Konfliktbearbeitung auszubauen. So ist die regionale Ebene der Politik außerhalb Europas aufgewertet worden. Das trifft sowohl für Afrika als auch für Lateinamerika und Ostasien zu. Die Begrün- dung ist, dass regionale Einrichtungen dichter an den jeweiligen Problemen dran sind und die Verhältnisse vor Ort besser kennen. Das ist durchaus richtig. Aber wie sich heute in Europa insbesondere auf dem Gebiet der Flüchtlingspolitik zeigt, ist die Schaffung regionaler Orga- nisationen keine Patentlösung zur Förderung internationaler Konsensbil- dung und Handlungsfähigkeit. Außerdem kann regionale Politik durchaus zum Konflikt mit überregionalen Organisationen führen, die übergeordnete Interessen vertreten. Ein bedrückendes Beispiel hierfür ist die ablehnende Haltung der Afrikanischen Union (AU) gegenüber dem internationalen Strafgerichtshof. Zunächst wurde dieser von vielen afrikanischen Staaten unterstützt und auch angerufen. Als er aber anfing, auch Staatsoberhäupter für grobe Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen, drohte die AU, den Strafgerichtshof zu verlassen. Wenn sie es täte, wäre das das Ende des Gerichts. Wir benötigen also eine konsequente Rückbindung der regionalen Organisationen an die UN. Neben der regionalen Ebene ist seit Ende der 1990er Jahre auch die lokale Ebene der Konfliktbearbeitung stark aufgewertet worden. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass dort Kenntnisse und Fähigkeiten vorhanden sind, die früher als archaisch abgetan wurden, jetzt aber in verstärktem Maße als Handlungskompetenzen wahrgenommen und zum Beispiel in Friedensmis- sionen der Vereinten Nationen routinemäßig einbezogen werden. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit soll die lokale Ebene stärker bei Priori- tätensetzung, Politikformulierung und -umsetzung berücksichtigt werden. Aber auch hier gibt es natürlich Probleme. Zwischen der lokalen und der nationalen Handlungsebene bestehen vielfältige Spannungen. Das gilt besonders für die internationale Zusammenarbeit mit lokalen Zivilgesell- schaften. Eine solche Zusammenarbeit gilt in einer zunehmenden Zahl von Staaten als Einfallstor für Fremdbestimmung durch den liberalen Westen und die Unterminierung der nationalen Herrschaftsverhältnisse. Hierin manifestiert sich ein wachsendes Misstrauen gegenüber den liberalen Demo- kratien als einer Staatengruppe, die darauf aus ist, ihre eigenen Interessen und ordnungspolitischen Präferenzen den anderen als universelle Normen aufzunötigen. Das hat in der Tat sehr viel mit innerkulturellen Spannungen und Konflikten in den betroffenen Ländern zu tun. Aber es hat auch viel zu tun mit den Fehlern und Versäumnissen der liberalen Demokratien, die sich nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus als Sieger der Geschichte betrachteten und dann auch bald so aufführten. Fest steht immerhin: Es ist offensichtlich nicht die menschliche Natur als solche, es sind vielmehr die konkreten Fehler und Versäumnisse einer allzu selbstgefälligen Politik des globalen Westens, die in Wechselwirkung mit den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Umbrüchen im globalen Süden zum gegenwärtigen Debakel beigetragen haben. Wenn

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dem aber so ist, und wenn wir wissen, dass Zivilisierung dennoch grundsätz- lich möglich ist, dann dürfen wir auch hoffen, dass die katastrophalen Aus- schläge in der Zivilisierungsgeschichte (in Gestalt zweier Weltkriege, des Holocaust und zahlloser „kleiner“ Kriege) ihrerseits keiner Gesetzmäßigkeit unterliegen – etwa nach dem Muster, dass jede globale Machtverschiebung zum großen Krieg zwischen den aufsteigenden und den absteigenden Welt- mächten führt. Es gibt immer Spielraum für Politik. Wir können zwar nicht darauf bauen, dass es bei der Reform der UNO unter dem Druck anstehender Probleme (Terrorismus, Klimawandel, ökonomi- sche Umbrüche, Flüchtlinge) zu einem Durchbruch kommen wird, noch das andere Ideen von einer neuen Weltordnung aus einem Guss irgendwelche Chancen haben – Gott sei Dank auch nicht die des IS. Wir können aber dar- auf bauen, dass das System internationaler Organisationen und die vielfälti- gen Formate internationaler Verhandlungspolitik weiterentwickelt werden und dass die Komplexität des internationalen Verhandlungssystems weiter zunehmen wird. Das wird die Zahl der Krisen nicht verringern, aber mög- licherweise doch einen Umgang mit ihnen fördern, der den Weg zum Frieden nicht immer wieder blockiert.

Was sollen wir tun?

Ich beschränke mich auf drei Leitsprüche: Erstens, wir müssen lernen, unsere eigene – europäische – Geschichte so zu verstehen, dass sie nicht zum Hin- dernis für eine Verständigung mit den anderen wird, sondern uns zu solcher Verständigung befähigt. Dazu gehört zweitens, dass wir uns des eigenen Anteils an den Konflikten und Kriegen im globalen Süden bewusst werden, die wir heute als Bedrohung unserer eigenen Sicherheit und unseres Wohl- stands betrachten. Und schließlich drittens, wir müssen lernen, auch unter dieser Perspektive unsere eigenen Bedürfnisse, Präferenzen und Wahrneh- mungen mit den Lebensinteressen der anderen zu verbinden. All das klingt sehr einfach und ist doch ungemein anspruchsvoll. Es sollte uns helfen, die Ermahnung zu beherzigen, die Teddy Kollek in die folgenden Worte gefasst hat: „Es ist ein Fehler, nicht jedem kleinen Anzeichen von Frie- densmöglichkeiten mit großem Ernst nachzugehen.“ Solche Fehler können wir uns nicht mehr erlauben. Aber: Teddy Kollek war Bürgermeister in einer geteilten und in Teilen okkupierten Stadt. Die Realisierung der Friedens- möglichkeiten, die er ins Auge fassen konnte, blieb dem das Ganze umfas- senden Konflikt verhaftet.12 Nach Adorno bringt die Zivilisation immer auch Anti-Zivilisationen hervor, und wir wissen oft nicht, wo wir selbst mit unserer Suche nach Frieden verortet sind.

12 Zu diesem Einwand Eva Senghaas-Knobloch, Frieden von unten. Initiativen gegen Gewalt in Israel und Palästina, in: „Blätter“, 1/2015, S. 39-48.

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Blätter_201601.indb 58 09.12.15 11:02 Das Ende der Republik? Frankreich zwischen Terror und Front National

Von Ulrike Guérot

m 27. November 2015 wurde im Innenhof des Hôtel des Invalides, A einem Symbolort par excellence, nämlich der französischen Armee, in einer fast pompösen Trauerfeier der 130 Toten der Terroranschläge vom 13. November 2015 gedacht. Wie die Hauptstadt war ganz Frankreich in bleu-blanc-rouge getaucht, die Farben der Trikolore. Die Beflaggung galt der wehrhaften französischen Nation in ihrem republikanischen Sinn. Die Angehörigen zweier Opfer blieben der Trauerfeier bewusst fern. Sie protestierten damit gegen die nach den Anschlägen eingeleiteten, sehr weit- reichenden und restriktiven Sicherheitsmaßnahmen: Noch in der Nacht des 13. Novembers waren der Ausnahmezustand ausgerufen und das Versamm- lungsrecht beschnitten sowie Verhaftungen „auf Verdacht“ ermöglicht und Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Befehl erlaubt worden. Doch 90 Prozent der Franzosen akzeptieren laut einer Umfrage die von Präsident François Hollande ergriffenen Maßnahmen.1 Hollandes Umfragewerte, vor den Anschlägen in einem Dauertief, schnellten gut 20 Prozent in die Höhe.2 In seiner Trauerrede sprach Hollande nicht von Opfern, sondern von „Mär- tyrern“ und „Gefallenen“ – und griff damit bewusst auf eine sakral gefärbte Kriegssemantik zurück. Der Präsident hat den patriotischen Schulterschluss gewagt und gewonnen. Frankreich ist in Trauer geeint. Wie lange dies anhal- ten wird, ist allerdings die Frage. Denn die Regionalwahlen vom Dezember mit ihren immensen Zugewinnen für den rechten Front National (FN) waren nur ein Testlauf für die politische Stimmung. Frankreich bereitet sich längst auf die im Mai 2017 anstehenden Präsidentschaftswahlen vor, die ab jetzt die politische Landschaft strukturieren werden – und wahrscheinlich nicht zugunsten von Hollande. Vielmehr wird dem FN für 2017 ein weiterer Wahl- erfolg vorausgesagt, denn der Terror hat die seit langem bestehende Spal- tung der französischen Gesellschaft umso sichtbarer gemacht. Ziemlich genau zehn Jahre vor dieser Trauerfeier, im Oktober 2005, bezeichnete Nicolas Sarkozy, damals konservativer Innenminister unter Jacques Chirac, die jungen Migrantenkinder aus Nordafrika mit französi- schem Pass in einer Rede als „racaille“ – Gesindel. Stunden später brann-

1 Vgl. Frankreich ermittelt im Ausnahmezustand, www.zeit.de, 16.11.2015. 2 Damit liegt Hollande nach einem Dauertief seit 2012 wieder bei Sympathiewerten um die 50 Pro- zent. Vgl. Hollande bondit à 50% d’opinions positives, in: „Le Figaro“, 1.12.2015.

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Blätter_201601.indb 59 09.12.15 11:02 60 Ulrike Guérot

ten Hunderte von Autos in den Banlieues, massive Vorstadtunruhen folgten. Sarkozy wollte sich auf diese Weise für die Präsidentschaftswahlen 2008 als Nachfolger Chiracs innerhalb der Regierungspartei UMP positionieren. Seine Strategie zielte darauf, dem Front National, der seinerzeit einen unver- hofften Popularitätseinbruch erlitten hatte, Stimmen abzunehmen. Die UMP verschärfte seither also ihren populistischen Rechtsruck, um das französi- sche Kleinbürgertum der poujadistischen Tradition – die kleinen Händler und Kaufleute, vor allem auf dem Land – vom FN zurückzugewinnen. Ebenfalls im Jahr 2005 scheiterte das Referendum über den EU-Verfas- sungsvertrag. Die Europadebatte in Frankreich versiegte. Ab da hat Frank- reich Europa verloren und Europa Frankreich. In Frankreich gab es fortan nur noch Innenpolitik – und eine Politik des Überlebens in Europa, neben einem immer mächtiger werdenden Deutschland, das gerade einen nationa- len Schub durchlief: Durch ein fortan politisch führendes Deutschland kehrte sich die Asymmetrie des deutsch-französischen Tandems de facto um.3 Zwischen 2005 und 2015 liegen zehn Jahre verfehlter – oder gleich ganz fehlender – Integrationspolitik. Nach den Banlieue-Unruhen wurden zwar Maßnahmen versprochen, etwa die Renovierung der Vorstädte, aber nicht gehalten. Ganze Stadtbezirke wurden de facto zu No-go-Areas für Franzo- sen, selbst für die Polizei.4 In dieser Zeit sind einige Pariser Vororte, beispiels- weise St. Denis, vom Straßenbild her längst zu ausgelagerten Vororten von Riad geworden, inklusive Ganzkörper-Tschador selbst für 4jährige Mädchen. Treffend sprach daher Jürgen Habermas nach den jüngsten Anschlägen von „Entwurzelung“.5 Vier der Attentäter von Paris hatten einen französischen Pass. Sie waren nie in Syrien oder in einer der militärischen Ausbildungs- stätten des IS.

Der Reflex der militärischen Lösung

Kurzum: Frankreich hat selbst ein Terror-Problem, das es jetzt durch eine militärische Allianz beheben will, gemeinsam mit Deutschland, aber vor allem mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, der einer der Finan- ciers von Marine Le Pens FN ist.6 Die Kriegsrhetorik schwoll unmittelbar nach den Attentaten und hält bis heute an. Hollande sprach sofort vom Krieg, Sarkozy sogar vom „totalen Krieg“.7 Wo der konservative „Figaro“ erwartbar mit gleichsam martialischer Sprache aufwartet, übernehmen auch liberale und sogar linke Zeitungen wie „Le Monde“ und „Libération“ diesen Duktus.

3 Vgl. Irene Götz, Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989, Köln 2011. Zur „Umkehrung“ des Tandems vgl. Ulrike Guérot, 20 Jahre nach Helmut Kohl. Wo stehen die deutsch-französischen Beziehungen?, in: „Archiv für Christlich-Demokratische Politik“, 2013, S. 273-288. 4 Vgl. Fewzi Benhabib, St. Denis: Wie meine Stadt islamisch wurde, in: „Die Presse“, 18.11.2015. 5 Jürgen Habermas, Le Djihadisme et une forme moderne de réaction au déracinement, in: „Le Monde“, 21.11.2015. 6 Vgl. Putin-Vertrauter finanziert Front National, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 24.11.2014. 7 Übertroffen nur von Papst Franziskus – Frankreich ist trotz offiziellem Laizismus ein immer noch katholisches geprägtes Land –, der sich zu einer Bemerkung über einen „dritten Weltkrieg“ hinrei- ßen ließ.

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Blätter_201601.indb 60 09.12.15 11:02 Das Ende der Republik? 61

Ein Flugzeugträger wurde entsandt; französische Drohnen flogen sofort mili- tärische Angriffe auf Stützpunkte des IS. Der Nato-Bündnisfall wurde erwo- gen, aber mit Rücksicht auf Russland wieder verworfen. Unmittelbar danach wurde der europäische Verteidigungsfall nach Art. 42, Abs. 7 EUV ins Spiel gebracht, obwohl der EUV eine spezifische Solidaritätsklausel für den Fall eines nicht-staatlichen Terrorangriffes auf einen europäischen Mitgliedstaat bereithält, nämlich Artikel 222. Doch davon war in französischen wie deut- schen Zeitungen in den ersten Tagen nichts zu lesen.8 Erst zwei Wochen nach den Attentaten tauchten juristische Kurzgutachten auf, die Bedenken gegen die Anwendung von Art. 42 Abs. 7 erheben – der IS ist völkerrechtlich kein Staat, gegen den ein Krieg geführt werden könnte9 – als hätte man im französischen Außenministerium oder im Élysée-Palast kein Exemplar des EUV zur Hand. Die Interpretation des Terrorangriffs von Paris als Konflikt der internationalen Staatenwelt lenkt indes trefflich davon ab, was im französischen Landesinneren schlummert: tiefgreifende wirt- schaftliche, soziale und politische Probleme.

Hollande ohne Geld, Hollande ohne Macht

Hollande wird die Probleme kaum vor den Präsidentschaftswahlen lösen, ja nicht einmal abmildern können, da ihm ein entscheidender Hebel fehlt: Geld. Frankreich soll im Rahmen des europäischen Semesters bis 2016 wei- tere 3,6 Mrd. Euro einsparen. Die EU-Kommission hat Paris dafür bereits zwei Jahre Aufschub eingeräumt. Hollande verfügt also über keinen finan- ziellen Spielraum für Integrationspolitik, mehr Lehrer, Berufsausbildungs- programme, die Verschönerung von Vororten, soziale Maßnahmen und der- gleichen. Fraglich ist auch, ob er überhaupt Geld für die Kriegsführung hat. Doch unter dem Druck der allgemeinen Emotionen und des Terror-Risikos funktioniert die europäische Solidarität, auch die Bundesregierung zieht mit. Daher dürfte Brüssel bei der Überprüfung der Zahlen demnächst nicht so genau hinschauen. Mehrausgaben für soziale Maßnahmen wären hingegen wohl nicht durchsetzbar. Für Hollande ist die Flucht in die Außenpolitik und in eine militärische Strategie mithin die einzige Antwort auf die Terroran- schläge, mit der er sich für die Wahlen 2017 positionieren kann. Der patriotische Schulterschluss bleibt insofern seine einzige politische Karte. Ob sie sticht, mag man allerdings mit Fug und Recht bezweifeln. Dann nämlich müsste Hollandes Vorgehen zur Beruhigung der politischen Land- schaft führen, zu einem wieder funktionierenden Parteiensystem und einer sozioökonomischen Gesundung Frankreichs, das erneut als starker Partner von Deutschland in Europa operieren könnte. Jedoch ist das größte Problem

8 Deutsche und österreichische Rechtsgutachten zweifeln die Belastbarkeit von Art. 42,7 EUV an: Vgl. Waldemar Hummer, Terrorismusbekämpfung mit unerlaubten Mitteln?, in: „Österreichische Gesellschaft für Europapolitik“, 25.11.2015; Sebastian Zeitzmann, Die Terrorakte von Paris. Anwen- dung des Art. 42 Abs. 7 EUV gerechtfertigt?, in: „Jean-Monnet Saar“: Europarecht-online: http:// jean-monnet-saar.eu/?p=1043. 9 Vgl. Albrecht von Lucke, Freitag der Dreizehnte: Die Welt im Krieg?, in: „Blätter“ 12/2015, S. 5-8.

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Frankreichs nicht der Terror, sondern der Front National. Seine politische Sprengkraft ist viel größer. Wer verstehen will, warum Frankreich die Antwort auf die terroristische Bedrohung außen sucht und nicht innen, im eigenen Land, muss sich jener grundlegenden Zersetzung des politischen Lebens annähern, die der Front National seit Jahren angerichtet hat.

Die Metamorphose der französischen Republik

Der FN trifft auf eine schon marode Republik: Die französische Politik ist ent- kernt, operiert im Leerlauf und mit einem hoffnungslos überalterten politi- schen Personal. Auch die zahlreichen Korruptionsaffären lassen den Staat seit geraumer Zeit zumindest teilweise einer Kleptokratie ähnlicher erschei- nen als einer europäischen Demokratie. 10 Dennoch hat das Mehrheitswahl- recht lange Jahre dazu geführt, dass die zerstörerische Kraft des Front Natio- nal, die inzwischen in weite Schichten der Gesellschaft hineinwirkt, nicht beachtet wurde. Denn bei allen Wahlen ging der FN meist ohne Abgeordnete aus. Läge deutsches Verhältniswahlrecht zugrunde, wäre für alle sichtbar, dass er in Frankreich längst Stimmenanteile hat, die sich, auf Deutschland übertragen, irgendwo zwischen SPD und CDU befinden.11 Inzwischen wählt im Landesdurchschnitt ein Viertel der Franzosen den Front National. Die Partei ist in etwa der Hälfte des Landes zur zweiten poli- tischen Kraft avanciert und hat dort deutlich mehr Stimmen als zum Beispiel die SPD in Deutschland. In einigen Wahlkreisen hat der FN die 50-Prozent- Marke erreicht; in vielen Wahlkreisen liegt er bei satten 35 bis 39 Prozent. Bei den Départementswahlen 2015 hat er es in jedem zweiten Kanton in den zweiten Wahlgang geschafft; in etwa einem Drittel dieser Kantone lag er sogar vorne.12 Dadurch ist aus dem bisherigen Zwei- längst ein Dreiparteien- system geworden. Inzwischen ist in Frankeich sogar eine Debatte darüber ausgebrochen, inwieweit es Marine Le Pen gelingt, sich als Verkörperung der französischen Republik zu präsentieren: „Marine Le Pen erbringt eine permanente Ode an die Republik, mit der Inbrunst einer Konvertitin“, schreibt der Politologe Pascal Perrineau.13 Der Bezug auf die Republik erlaubt es dem FN, die ihr innewoh-

10 Exemplarisch für die französische Malaise ist die sogenannte Parteispendenaffäre um Liliane Bet- tencour, die reiche Erbin des l’Oréal-Konzerns , die die Kampagnen von Nicholas Sarkozy massiv mit Schwarzgeld unterstützte. Bei der ehemaligen Verteidigungsministerin Michelle Alliot-Marie flogen dagegen während des Arabischen Frühlings problematische Geschäftsbeziehungen mit der tunesischen Führung unter Ben Ali auf. Die Liste ließe sich mit Blick auf den französischen Fußball (Bernard Tapie, Michel Platini und die Geschäfte mit Katar) sowie die Rolle von Rüstungsindustrie- magnaten wie Serge Dassault und seine Verbindungen zu Sarkozy und der UMP fortsetzen, wobei dies natürlich – siehe VW und DFB – kein französisches Spezifikum ist. 11 Eine detaillierte Analyse der Wahlen in: Ulrike Guérot, Marine Le Pen und die Metamorphose der französischen Republik, in: „Leviathan“, 2/2015, S. 177-212. 12 Insgesamt in 1073 Kantonen von 2054; in 322 davon lag der Front National nach dem ersten Wahl- gang vorne, während der Parti Socialiste (PS) in 506 Kantonen nicht in den zweiten Wahlgang gekommen ist. In 314 Kantonen gab es sogenannte Triangulaires, in denen sowohl UMP, Front National als auch PS angetreten sind. 13 Vgl. Pascal Perrineau, La France au Front, Paris 2014.

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nende Laizität als Garant für die Identität Frankreichs zu nehmen und damit die islamophoben Tendenzen in der Gesellschaft im Allgemeinen und bei seinen Wählern im Besonderen zu bedienen und zu legitimieren.14 Damit missbraucht der FN die republikanischen Werte als Instrument für Diskrimi- nierung und Verachtung – und pervertiert sie somit. Nach dem Terror von Paris dürfte diese Dynamik weiter zunehmen. Schon im Präsidentschaftswahlkampf 2012 zielte Marine Le Pen auf eine Art politi- sche Sammlungsbewegung: Subtil schweißte sie die „Vergessenen der Repu- blik“,15 die unsichtbaren Mehrheiten der Arbeitslosen, Arbeiter, Rentner, der Landbevölkerung (Chasse et Pêche) und der France profonde zusammen und mobilisierte sie gegen „die europäische Finanzwelt“: „Für die UMPS, die politische Kaste, die sich dem Triple A verschrieben hat, seid ihr ein Triple- Nichts“, rief Marine Le Pen ihren Wählern zu und erreichte damit zweierlei: Sie etablierte den FN als einzige Anti-Establishment-Partei und konnte sich so selbst als Vertreterin des „eigentlichen“ Frankreichs positionieren. Das rhetorisch geschickte und politisch wirkungsmächtige Zusammenziehen der politischen Rechten (UMP) und Linken (PS) zur „Kaste UMPS“ stößt auf einen großen Resonanzboden in der Gesellschaft. Der Begriff hat sich heute im Alltagsfranzösisch fast schon durchgesetzt.

Der Front National als Arbeiterpartei

Nicht von ungefähr verlaufen die regionalen Hochburgen des Front National im Dreieck von Le Havre Richtung Südosten bis Lyon und dann von Lyon bis Perpignan im Südwesten. In der Mitte und im Osten Frankeichs, in ver- gessenen, weil nicht touristischen, Departements hat der FN über die letz- ten 13 Jahre gut 15 Prozentpunkte hinzugewonnen und ist dort spätestens seit den Präsidentschaftswahlen 2012 stabil die zweite, wenn nicht die erste politische Kraft. Der Front National ist damit längst nicht mehr die Partei der grauen Banlieues: Marine Le Pen bedient die Verlierer einer urbanen wie einer ruralen Moderne. Den eigentlichen Zulauf generiert sie in Vororten, in die jene autochthonen französischen Arbeiter aus den Banlieues geflohen sind, die sich gerade ein kleines Vorstadthäuschen leisten können; Vororte, die im Niemandsland zwischen modernisierten Städten und ruralen Lebens- welten veröden. Der Prozentsatz der Arbeiter, die scharf rechts wählen, ist seit 2007 kontinuierlich gestiegen. 36 Prozent der ungelernten und 33 Pro- zent der gelernten Arbeiter haben 2011 bei den Kommunalwahlen den Front National gewählt; bei den Präsidentschaftswahlen 2012 waren es 35 Prozent – und bei den Département-Wahlen vom März 2015 schon satte 59 Prozent. Damit stellen Arbeiter inzwischen mehr als die Hälfte der Front-National- Wählerschaft. Auf gewisse Weise revitalisiert Marine Le Pen über ihren anti- systemischen Diskurs („Triple-A-System“ vs. „Verlierer“) sogar eine Art Klas-

14 Immerhin 37 Prozent der Franzosen denken inzwischen, dass Marine Le Pen „die republikanischen Werte gut verkörpert“ (51 Prozent denken das Gegenteil); vgl. „La Croix“, 2.3.2015. 15 Vgl. François Miquet-Marty, Les oubliés de la démocratie, Paris 2011.

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Blätter_201601.indb 63 09.12.15 11:02 64 Ulrike Guérot

senkampfvokabular,16 das seit dem Niedergang der Kommunistischen Partei und dem Einschwenken der Hälfte der Sozialisten auf das liberale Europa in den 1980er Jahren in Frankreich wie anderswo in Europa tabuisiert war. Tat- sächlich sehnen sich 97 Prozent der FN-Wähler nicht nur nach einem radi- kalen Politikwechsel, sondern auch nach einer „starken Führung“. Das gilt aber auch für sage und schreibe 87 Prozent der Franzosen insgesamt. 17 Die „autoritäre Versuchung“18 hat in Frankreich also längst begonnen: In die- ser latenten Stimmung explodierten die Bomben von Paris. Das erklärt das Tempo, mit dem die Sicherheitsgesetze und der Ausnahmezustand nach den Anschlägen durchgesetzt werden konnten.

Ein vielfach gespaltenes Land

Dieser scheinbaren Handlungsmacht der sozialistischen Regierung in Sicherheitsfragen steht aber eine eklatante Schwäche in der Wirtschafts- politik gegenüber: In einer bemerkenswerten Parallele zum Aufstieg des FN rutschte die französische Wirtschaft 2012/2013 tief in den Keller. Es war ein Schock ungeahnten Ausmaßes: Zwischen 2011 und 2014 sind von allen Arbeitsplätzen rund 60 Prozent in der Industrie zerstört worden, in der Bau- industrie sogar rund 70 Prozent.19 Allein 2013/14 gingen netto fast 500 000 Arbeitsplätze verloren, auch einige der – in Frankreich symbolisch wichtigen – Renault-Werke mussten schließen. Seit 2014, nach zwei verlorenen Jahren seit ihrem Amtsantritt 2012, erprobt die französische Regierung eine Doppelstrategie: Zum einen will sie der europäischen Sparpolitik genügen und damit good will zeigen – auch gegen- über Deutschland als ihrem Treiber. Dazu gehören der verschärfte Reform- kurs und eine auch publizistisch breit entfachte Debatte über das „deutsche Modell“. 20 Zum anderen prescht sie konsequent vor, wenn es um eine Reform der Euro-Governance geht, also um fiskalische und soziale Integrations- schritte für den Euroraum – die indes ins Leere laufen. Das Ausmaß der französischen Reformen wird in Deutschland politisch wie medial kaum wahrgenommen. Vor allem mit seinen Arbeitsmarktrefor- men hat Finanzminister Emmanuel Macron die verkrusteten Strukturen auf- gebrochen – durchaus mit schmerzhaften Folgen: So wurde zwar die Grün- dung von Unternehmen steuerrechtlich und administrativ vereinfacht, aber auch der Kündigungsschutz abgebaut. Die sogenannten Lois Macron wur-

16 Was Pascal Perrineau als „Lepenisme de gauche“ (linken Lepenismus) bezeichnet; vgl. Perrineau, La France au Front, a.a.O. 17 In einer Umfrage von Ipsos/Public Affairs antworteten 2014 auf die Aussage: „Wir brauchen in Frankreich einen richtigen Chef, der die Ordnung wiederherstellt.“ 87 Prozent der Franzosen mit „völlig einverstanden“ oder „eher einverstanden“ und 97 Prozent der FN-Wähler. Die Graphik ist abgedruckt in Ulrike Guérot, Marine Le Pen und die Metamorphose der französischen Republik, a.a.O., S. 202. 18 Siehe mit Blick auf die europäische Linke: Steffen Vogel, Die autoritäre Versuchung, in: „Blätter“, 11/2015, S. 71-78. 19 Vgl. F/E/I, Créations et Déstructions d’emplois en 2014 en France, Mai 2015. Mehr Informationen und Material dazu auf: www.groupe-fie.com/qui-sommes-nous. 20 Vgl. Guillaume Duval, Made in Germany. Le modèle allemand au delà des mythes, Paris 2013.

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den unter Rückgriff auf den Notstandsartikel verabschiedet und haben unter anderem die Regulierung der Nacht- und Sonntagsarbeit flexibilisiert, die Arbeitsgerichte entmachtet und Massenentlassungen ermöglicht. Zudem wurde ein Pacte de responsabilité et de solidarité (Verantwortungs- und Solidaritätspakt) beschlossen, eine Art „Agenda 2010“, der bis 2020 die Unternehmensbesteuerung um 5 Prozentpunkte und generell die Arbeits- kosten senken soll. Dahinter verbirgt sich eine massive Verlagerung von Industrie- zu Dienstleistungsarbeitsplätzen, oft im Niedriglohnbereich. Erste positive Effekte sind dagegen im „oberen Segment“ der Wirtschaft sichtbar: Die Attraktivität Frankreichs für ausländisches Kapital ist seit einem Jahr gestiegen. Der Vergleich mit Deutschland hinkt jedoch: Berlin hat die Hartz-IV- Reformen in einem international günstigen Umfeld durchgeführt und sich zudem durch den Bruch des Stabilitätspaktes einen fiskalischen Spielraum verschafft – der Paris heute durch das Europäische Semester und trotz des gewährten Aufschubs weitgehend versperrt ist. Der französische Schulden- stand wird damit zu einem immer größeren Problem, zumal Frankreich nicht wie Deutschland während der Eurokrise von einer Negativverzinsung seiner Staatsanleihen profitieren konnte.21 Die Schulden geraten damit zu einem erheblichen Wachstumshemmnis, da sie inzwischen auch zu schlechteren Rankings bei den Agenturen führen – ein sich selbst verstärkender Mecha- nismus.

Stadt versus Land

In politischer Hinsicht ist aber vor allem wichtig, dass die Reformen noch keinen durchgreifend positiven Effekt auf die Arbeitslosigkeit erzielt haben. Nach dem rasanten Anstieg von 2010 bis 2013 sank sie zwar 2013/2014 vor- übergehend wieder, aber – und das ist das zentrale Problem – regional sehr ungleich verteilt: Sie verringerte sich nur in den Städten und Ballungsräu- men. Die Erfolge der Strukturreformen kommen nur den Ballungsgebieten und den reichen Städten wie Bordeaux und Lyon zugute. Frankreich wird gerade regelrecht sozioökonomisch umgepflügt: Zwei Drittel des Landes gleichen in gewisser Weise Ostdeutschland, wo jenseits von einigen tech- spots wie Jena massive ländliche Verwahrlosung zu einer populistischen Versuchung führt, die inzwischen jeden Montag bei den Pegida-Demonstra- tionen beobachtet werden kann. Mangelnden Reformwillen kann man Frankreich in den letzten zwei Jahren also nicht vorwerfen. Das eigentliche Problem ist, dass die EU-indu- zierten Strukturmaßnahmen nur die Ballungsgebiete in die globale Wert- schöpfungskette einbeziehen. Der gesamte ländliche Teil Frankreichs fällt zurück und wird so zur leichten Beute für den FN. Frankreich hat mithin kein Reform-, sondern ein massives Stadt-Land-Problem: seine besondere Geo-

21 Vgl. „Germany’s benefit from the Greek crisis“, in: „IWH online“, 7/2015, www.iwh-halle.de.

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Blätter_201601.indb 65 09.12.15 11:02 66 Ulrike Guérot

graphie, die einer historisch gewachsenen Zentralisierung geschuldet ist. Frankreich ist nicht wie (West-)Deutschland ein mittelständisch geprägtes Land, das seine Wertschöpfung in der Fläche verteilen und dabei auf zahl- reiche Provinzstädte sowie einen homogenen Wirtschaftsraum bauen kann. Damit stellt sich die Frage, was hier im Rahmen der europäischen Struk- turpolitik derzeit geschieht – und in welchen Zeiträumen. Momentan geht es in Frankreich um nichts anderes als die Überwindung jahrhundertealter, napoleonischer Wirtschafts- und Politikstrukturen. Das kommt de facto einer Implosion der Strukturen der Republik, so wir wie sie kennen, gleich. Diese Generationenaufgabe birgt immensen gesellschaftlichen Sprengstoff. Und vor diesem Hintergrund muss auch der Patriotismus nach den Terroran- schlägen verstanden werden. Die französische Gesellschaft hat nur noch den Patriotismus, da sozialer oder auch geographischer Zusammenhalt in weiten Teilen des Landes nicht mehr gegeben ist.

Die große europäische Depression

Mit den politischen Folgen müssen Deutschland und Europa jetzt leben. Dazu gehört, dass es für Hollande kein innen mehr gibt, in dem er vor den Präsidentschaftswahlen politisches Terrain gewinnen könnte. So gesehen ist die jetzige Anti-Terror-Allianz einerseits ein Ablenkungsmanöver von der politischen Misere in Frankreich. Anderseits bietet sie die einzige Möglich- keit, Deutschland in französische Politik und Probleme einzubeziehen. Der Krieg soll richten, was mit einer Euro-Union nicht gelungen ist. Vielleicht hätte man die politische Schockwelle der französischen Hartz- IV-Reformen europäisch abfangen können, gerade durch eine beherzte Wei- terentwicklung der Euro-Union. Tatsächlich gab es eine Gelegenheit für eine Reform der Eurozone und ihre institutionelle Vertiefung – die aber verpasst wurde: Das Jahr 2013 kann daher retrospektiv als Wendepunkt bezeichnet werden. Seinerzeit erreichte der politische Kampf um die europäische Spar- politik einen Höhepunkt: Es gab einen letzten französischen Ausbruchsver- such aus der Austeritätslogik und im Juli 2013 versuchte Hollande dann eine politische Union. Verschiedene Entwürfe folgten, zuletzt Anfang 2015 ein Papier von Macron und Bundeswirtschaftsminister . Aber schon 2013 war fühlbar, dass das politische System Frankreichs in Schockstarre verharrte. Und in Deutschland war die Bereitschaft für eine weitreichende Integration auch nicht gegeben. Die politische Lage in Europa nach den griechischen Wahlen im Januar 2015 führte dazu, dass der deutsch- französische Schulterschluss mit Blick auf die Euro-Union ausblieb. Als Finanzminister Wolfgang Schäuble in der EU-Ratssitzung vom 13. Juli 2015 schließlich den Grexit probte, den Angela Merkel gerade noch verhindern konnte, stellten sich die Franzosen mehr oder weniger offen gegen Deutsch- land.22 Finanzminister Macron nahm im August 2015 einen letzten Anlauf

22 Vgl. Steffen Vogel, Grexit verhindert, Europa verspielt?, in: „Blätter“, 8/2015, S. 5-8; Reinhart Blomert, Vorwort zum „Leviathan“-Heft „Politische Gruppendynamik“, 3/2015, S. 319-324.

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für eine Euro-Union, der aber in der Flüchtlingsdebatte unterging. Momen- tan dürfte die allgemeine Verschlechterung der politischen Rahmenbedin- gungen in Europa jedwede Reform erst einmal unmöglich machen.23 Insbesondere amerikanische Autoren sehen eine deutsche Mitverantwor- tung für „die große europäische Depression“ – ein Argument, das hierzu- lande weitgehend negiert wird. Frankreich, so schreibt beispielsweise James Poulos in „Foreign Policy“ eingänglich, weil übertrieben, sei nicht mit dem IS, sondern „mit Deutschland im Krieg“. 24 Damit drohe letztlich eine „Wei- marisierung Europas“: Die Bundesregierung habe eine „Deflationspolitik“ betrieben, auf die Frankeich nicht angemessen reagieren konnte und unter der Deutschland in den 1920ern selbst gelitten hat, mit bekannten politischen Folgen. Dadurch habe Berlin über den Export von Arbeitslosigkeit gleich- sam auch den Populismus nach Frankeich exportiert. Somit könnte sich die deutsche Geschichte in Frankreich wiederholen: Die Linke ist gespalten, der Rechtsruck hält an, das ist „Weimar in Frankreich“.

Marine Le Pen vor dem Durchbruch?

Mit Blick auf 2017 ist dies keineswegs so abwegig: Sollte im zweiten Wahl- gang der Präsidentschaftswahlen Nicolas Sarkozy gegen Marine Le Pen ste- hen, dürfte sich ein Großteil der französischen Linken enthalten. Je niedri- ger die Wahlbeteiligung, desto mehr Chancen hat Marine Le Pen. Der jetzt inszenierte deutsch-französische Schulterschluss sowie die patriotische Wende Frankreichs nach den Anschlägen sind daher Strohhalme, die Hol- lande ergriffen hat, um ein solches Szenario abzuwenden. In Gestalt des FN manifestieren sich heute die Folgen von kumuliertem französischem Politikversagen, deutscher Euro-Dominanz und europäischen Dysfunktionalitäten. Sie könnten auch Deutschland in einen Abgrund zie- hen: Es droht das weitere Anwachsen der AfD, die sich wie der FN an Putin und Russland anlehnt, ja, es kündigt sich über Orbán in Ungarn und Ka- czyn´ski in Polen gar der Ausbruch einer nationalistisch völkischen „rechts- populistischen Revolution“ in Europa an. Das europäische System läuft derweil ins Leere, die EU ist aber gleichzei- tig strukturell reformunfähig. Daher werden jetzt vordergründige Lösungen gesucht, beispielsweise im Kampf gegen den Terror. Dieser jedoch kann die wirtschaftliche, soziale und politische Systemkrise in Europa nicht lösen. Je mehr Deutschland die jetzige französische Wende mitmacht, den Terror als das eigentliche europäische Problem zu inszenieren, desto mehr droht sich das einstige Tandem Europas in einer Politik zu verlaufen, die letztlich zum Ende Europas, wie wir es kannten, führen dürfte.

23 Vgl. Albrecht von Lucke, EU in Auflösung? Die Rückkehr der Grenzen und die populistische Gefahr, in: „Blätter“, 10/2015, S. 45-54. 24 Vgl. James Poulos, France Is at War...with Germany, https://foreignpolicy.com; weitaus überzeugen- der und historisch fundierter: Adam Tooze, Schäuble’s Realm, in: „London Review of Books“, 19.11. 2015, S. 15-17.

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Blätter_201601.indb 68 09.12.15 11:02 Krise und Kritik: Für eine Repolitisierung Europas Von Hauke Brunkhorst

as parlamentarische Regime“, schrieb ein Autor des 19. Jahrhunderts, D ist das „Regime der Unruhe“, das die egalisierende, rationale und welt- verändernde Kraft der Negation freisetzt. Es „lebt von der Diskussion […]. Der Rednerkampf auf der Tribüne ruft den Kampf der Pressbengel hervor, der debattierende Klub im Parlament ergänzt sich notwendig durch debat- tierende Klubs in den Salons und in den Kneipen, die Repräsentanten, die beständig an die Volksmeinung appellieren, berechtigen die Volksmei- nung, in Petitionen ihre wirkliche Meinung zu sagen. Das parlamentarische Regime überlässt alles der Entscheidung der Majoritäten, wie sollen die gro- ßen Majoritäten jenseits des Parlaments nicht entscheiden wollen? Wenn ihr auf dem Gipfel des Staates die Geige streicht, was andres erwartet ihr, als dass die drunten tanzen?”1 So die Beschreibung der parlamentarischen Demokratie durch Karl Marx – und ihrer Auswirkungen. Doch getanzt wird in Europa schon lange nicht mehr. Und wer es trotzdem versucht, wird schnell eines Besseren belehrt. Als dem EU-Parlament, in dem fast alle Gesetzesvorlagen in erster Lesung durchgewunken werden, am 10. Juni dieses Jahres die Sternstunde einer kontroversen und leidenschaftlichen Debatte über das Freihandelsabkom- men Europas mit den USA und eine Entscheidung gegen die immer enger vereinigten Exekutivgewalten des Kontinents drohte, da dehnte Parlaments- präsident seine Befugnisse einfach bis zur äußersten Grenze der Legalität und beendete die Debatte mit einem Verfahrenstrick. Er verwies sie auf Nimmerwiedersehen in die Gruft der Ausschussarbeit, in der die Schattenexistenzen der parlamentarischen Mehrheitsführer mit den Untoten aus Kommission und Rat die Sache unter sich ausmachen. Das Verfahren heißt Trilog, ist formal über die Organautonomie von Kommission, Parlament und Rat legitimiert, hat aber den hinterhältigen, dialektischen Sinn, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren zu deformalisieren, also alle Konflikte zu begleichen, bevor sie öffentlich ruchbar werden kön- nen, und den parlamentarischen Minderheiten ein für alle Mal das Wort zu entziehen.2

1 Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEGA I/11, Berlin 1985, S. 135 f. 2 Jelena von Achenbach, Triloge: Struktureller Wandel des europäischen Gesetzgebungsverfahrens durch Selbstorganisation, Manuskript, Gießen 2015.

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Blätter_201601.indb 69 09.12.15 11:02 70 Hauke Brunkhorst

Und als eine unbotmäßige Regierung in Athen die lange latent gehaltene Legitimationskrise der EU und ihrer Staaten zum Ausbruch brachte, hat das Parlament, fest in der Hand seines Präsidenten, die Gelegenheit zu einer Debatte europäischen Stils verstreichen lassen. Erst nachdem Athen Europa am 5. Juli mit einer demokratischen Entscheidung konfrontiert hat und das Kind bereits in den Brunnen gefallen war, sah sich das Parlament drei Tage später genötigt, die europäische Krise zu diskutieren. Doch immerhin vernahm „Spiegel Online“ die ersten, im Namen des Gel- des schnell wieder abgestellten Signale eines neuen Tanzes. „Es fehlte nur noch die Einlaufmusik. Als Alexis Tsipras das Plenum des Europäischen Par- laments in Straßburg betritt, fühlt man sich spontan an die Eröffnung eines Boxkampfs erinnert. […] Einen Moment lang schaltet die Kamera auf das Gesicht von Parlamentspräsident Martin Schulz. Es ist eine Maske der Miss- billigung. Für derartiges Theater, scheint Schulz‘ Miene zu sagen, ist keine Zeit mehr. Denn die Uhr tickt. In wenigen Tagen droht den griechischen Banken das Geld auszugehen.“3 Wie hätte dagegen eine echte europäische Demokratie ausgesehen? Eine von Anfang an offen geführte Debatte hätte das technokratische Regime der verschlossenen Türen und öffentlichen Beschwichtigungen beendet, sich an den Stamm- und Küchentischen Europas fortgesetzt, hätte den Medien Platz für Gegenstimmen zum Chor der Boulevardzeitungen abgezwungen. Eine offene Debatte hätte die europäische Politik, die sich hinter dem IWF, Formelkompromissen und vermeintlichen Sachzwängen feige versteckt, genötigt, sich dem Kampf um die öffentliche Meinung zu stellen und für ihre Sache, wenn sie denn eine hat, einzustehen. Aber all das ist – trotz Jean-Claude Junckers durch die Krise der euro- päischen Flüchtlingspolitik veranlasste Rede vom 9. September über den schlechten Zustand der Union – nicht geschehen. Das aber hat historische und gesellschaftliche Gründe.

Der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit

Bereits Anfang der 1960er Jahren diagnostizierte Jürgen Habermas einen gravierenden Strukturwandel der Öffentlichkeit und erklärte diesen mit der Entdemokratisierung des Wohlfahrtsstaats, der im demokratischen Klassen- kampf dem Kapital abgerungen wurde – durch eine damals neuartige Form technokratischer Herrschaft von Regierungs- und Administrativorganisa- tionen, mächtigen Wirtschaftsverbänden, hochkonzentrierten Meinungs- monopolen und manipulativ durchgreifenden Kulturindustrien.4 Diese Form der Herrschaft, die heute sogar von Soziologen gern als Rheinische Repub- lik verklärt wird, brachte Adorno auf den Begriff der verwalteten Welt. Und dennoch: Der neue, korporativ versäulte Wohlfahrtsstaat war tatsächlich,

3 Markus Becker, Tsipras-Auftritt im Parlament, www.spiegel.de, 8.7.2015. 4 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1969; Walter Korpi, The Democra- tic Class Struggle, Boston/London1983.

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Blätter_201601.indb 70 09.12.15 11:02 Für eine Repolitisierung der europäischen Öffentlichkeit 71

mit Marx zu reden, „ein großer Fortschritt“.5 Aber sein technokratisches Regime hatte einen hohen Preis: Wählbare Alternativen, die das Schweigen, auch das „kommunikative Beschweigen brauner Biographieanteile“ (Her- mann Lübbe) brechen, gegenläufige Interessen mobilisieren, Streit auslö- sen, Debatten erhitzen, den Chor der Neinstimmen anschwellen lassen, zu Experiment und Diskurs anstiften, sind in den erklärten und nicht-erklärten Großen Koalitionen der Volksparteien untergegangen, die von Bonn über Washington bis Tokio heute wie ein Ei dem andern glichen. Die Entpolitisierung fand bereits in den 1960er Jahren ihren Ausdruck in einer, der ersten Großen Koalition. Damals mahnte derselbe Autor in ersten Reaktionen auf die globale Studentenbewegung die „Repolitisierung der ausgetrockneten Öffentlichkeit“ an.6 Die ließ damals nicht lange auf sich warten. Sie hat die Gesellschaft fast überall auf der Welt für grundstürzende kulturelle Alternativen und einen neuen demokratischen Experimentalis- mus („Mehr Demokratie wagen“) geöffnet. All das hat die Physiognomie der Gesellschaft so tiefgreifend verändert, dass ein Schwarzer US-Präsident werden konnte und eine deutsche Bundeskanzlerin nahe daran war, so Jas- per von Altenbockum in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, „Sicher- heit, Souveränität und Wohlstand“, kurz, den Staat zu opfern, um Emigranten ein „freundliches Gesicht zu zeigen“.7 In den 1960er und 70er Jahren hat das Regime der Unruhe plötzlich wie- der funktioniert, und zwar in der interessanten, dissonanten Verbindung minoritärer außerparlamentarischer, bisweilen antiparlamentarischer und nicht immer gewaltloser Protestbewegungen mit parlamentarischer Mehr- heitsbildung, die Zug um Zug immer radikalere Bürgerrechtsreformen in die Gesetzgebungsmaschine eingespeist hat. In dieser Zeit haben die Löhne und Arbeitsbedingungen der African Americans in den Südstaaten das Niveau der Arbeiter in den Nordstaaten der USA erreicht.8 Gleichzeitig, auch das ein Fortschritt der demokratischen Öffnung für Alternativen, stiegen (aus einer Serie von Gründen, die von hohen Infla- tionsraten, auch infolge keynesianischer Wirtschaftspolitik, bis zur Propa- gandaschlacht der neokonservativen Ideologieplaner reichen) die Chancen neokonservativer und neoliberaler Parteien, rechte, vor allem sozial- und wirtschaftspolitische Programme gegen den Wohlfahrtsstaat durchzuset- zen. Sie haben sich mit Beginn der 1980er Jahre schließlich durchgesetzt und waren so erfolgreich, dass nicht nur in Europa die Politik in die Stasis der Alternativlosigkeit zurückgefallen ist. So aber kam es in den letzten Dezennien des 20. Jahrhunderts erneut zu einem – diesmal von Anfang an globalen – Strukturwandel der Öffentlich- keit. Um diesen zu begreifen, muss man sich zuvor klarmachen, was demo- kratische Öffentlichkeit eigentlich bedeutet.

5 Karl Marx, Zur Judenfrage, Marx/Engels Werke Bd. 1, Berlin 1976, S. 347-377, hier: S. 356. 6 Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt a. M. 1968, S. 100. 7 Jasper von Altenbockum, In einem andern Land, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 17.9.2015. 8 Cass Sunstein, After the Rights Revolutio, Cambridge 1993; Gavin Wright, Sharing the Prize: The Economics of the Civil Rights Revolution in the American South, Cambridge 2014.

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Blätter_201601.indb 71 09.12.15 11:02 72 Hauke Brunkhorst

Von der öffentlichen zur privatisierten »Öffentlichkeit«

In einer demokratisch verfassten Gesellschaft ist die Öffentlichkeit die Sphäre der öffentlichen Willensbildung. Sie umfasst das öffentliche Recht und die öffentliche Meinung. Ihrem normativen Begriff zufolge verläuft die öffentliche Willensbildung in einem Zirkel. Von unten nach oben bildet sich die öffentliche Meinung bis zum gesetzgebenden Willen fort, von oben nach unten wird das Gesetz, an das alle Staatsgewalt mit Ausnahme des Parla- ments gebunden ist, dann Schritt für Schritt konkretisiert. Heute kann von einer derartigen (idealtypischen) demokratischen Öffent- lichkeit keine Rede mehr sein. Transnational ist das öffentliche internationale Recht durch das immense Wachstum des Zivilrechts, das wie das alte römi- sche auch heute noch ein fast reines Koordinationsrecht der herrschenden Klassen ist, marginalisiert worden. Bei Autoren wie Herfried Münkler und Gustav Seibt wird diese neue Formation global ausgreifender Herrschaftsbil- dung bereits zum Anlass neuer deutscher Imperiumsvorstellungen.9 In Gestalt zahlloser und umfangreicherer private-public partnerships ist das Privatrecht tief in das öffentliche Recht der Staatenwelt eingedrun- gen.10 Damit droht sich der dialektische Zusammenhang von Repression und Emanzipation, der das europäische Recht seit der päpstliche Revolution des 11. und 12. Jahrhunderts geprägt und den deutschen Idealismus zur Bestim- mung des Rechts als Dasein des freien Willens motiviert hatte, zugunsten bloßer Repression zu verflüchtigen.11 Menschenrechte und Verfassung wür- den am Ende, mit dem finnischen Völkerrechtler Martti Koskenniemi und mit Jürgen Habermas zu reden, Kitsch und Fassade.12

Die Dominanz des Ordoliberalismus

Der Transformationsprozess hat viele Facetten, ist aber in der Europäischen Union exemplarisch. Hinter der imperialen Härte, mit der die Bundesregie- rung unter Führung ihres Finanzministeriums den massiven, am Ende von Italien und Frankreich, wenn auch halbherzig unterstützten Widerstand Griechenlands in der Schuldenkrise gebrochen und die Austeritätspolitik diktiert hat, steht die Ideologie des Ordoliberalismus. Auch wenn die deutsch-österreichischen Ordoliberalen immer viel Aufhe- bens um ihre Differenz zum Chicagoer Neoliberalismus machen, treffen sich beide Schulen doch im entscheidenden Punkt – der Utopie einer entpoliti-

9 Herfried Münkler, Deutsche Hegemonie in Europa?, Vortrag an der Universität Bonn, 18.6.2015 (über Facebook zugänglich, siehe auch Münklers Artikel in der FAZ vom 12.8.2015); Gustav Seibt, Deutschland – Europas zögerlicher Hegemon, in: „Süddeutsche Zeitung“, 26.7.2015. 10 Vgl. nur die eindrucksvollen Impressionen in Tony Judts letztem Buch über das England Margret Thatchers und das seiner Jugend: Tony Judt, Ill Fares the Land, New York 2010. 11 Zur Genealogie dieses Zusammenhangs: Hauke Brunkhorst, Critical Theory of Legal Revolutions, London 2014. 12 Martti Koskenniemi, International Law in Europe: Between Tradition and Renewal, in: „European Journal of International Law“, 16/2005, S. 113; Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, Frank- furt a. M. 2011.

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Blätter_201601.indb 72 09.12.15 11:02 Für eine Repolitisierung der europäischen Öffentlichkeit 73

sierten Marktwirtschaft ohne Gesetzgeber und Regierung. Unter der allei- nigen Herrschaft des Rechts und der Richter, so Ernst-Joachim Mestmäcker, sollen alle wichtigen Fragen von der Rechtsprechung allein beantwortet wer- den.13 Auf diese Weise aber verwandelt sich das Recht aus einem demokra- tisch bestimmten „Immunsystem der Gesellschaft“ (Luhmann) in ein exper- tokratisches Immunsystem der Marktwirtschaft. Genau das ist die Funktion des Rechts im heutigen Europa. Das auf europäischer Ebene eingeübte und im Nationalstaat mitvollzogene enge Zusammenspiel technokratischer Politik mit professionellem Recht tritt an die Stelle der inneren Verbindung von Demokratie und Rechtsstaat. Es hat eine europäische Schicksalsgemeinschaft von einer funktionalen Dichte geschaffen, deren Auflösung, so Fritz Scharpf schon 1996, nicht nur das „Ende der Union bedeuten, sondern auch die europäische Wirtschaft gerade- wegs in die Katastrophe stürzen müsste“.14 Der Erfolg dieses postdemokra- tischen Regierungsmodells besteht darin, alle strukturellen, sozialen Kon- flikte und politischen Richtungsentscheidungen im Institutionensystem der EU zu invisibilisieren. Politische Entscheidungen werden zu Entscheidungen ohne Politik.15 Die gesamte institutionelle Balance zwischen Europäischem Rat, der Euro-Gruppe und der Kommission, dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Zentralbank ist auf Konfliktvermeidung und Konsens, Integration und Invisibilisierung europäischer Entscheidungen program- miert: „Die makroökonomischen Entscheidungen“, so Fritz Scharpf, „werden innerhalb eines institutionellen Rahmens getroffen, der einen fast perfek- ten Schutz gegen die Einwirkungen von inhaltsorientierten politischen Pro- grammen und von demokratischer Kontrolle durch die Wähler der betroffe- nen Wahlkreise darstellt.“16 Bypassing public opinion und bypassing public law könnte man sich im System demokratischer Öffentlichkeit, ohne Bruch und Aufhebung ihrer Verfassung, kaum perfekter vorstellen.

Das europäische Recht und die Diktatur der schwarzen Null

Hinzu kommt die Gestalt der Europäischen Verträge. Sie sind die Ver- fassung der EU, und sie sind eine schlechte Verfassung, weil sie nicht das Resultat einer verfassunggebenden Versammlung, die am Ende mit Mehr- heit beschließt, sondern eines internalen Vertrags sind, der Einstimmigkeit verlangt. Nicht die Vertragsform, die Einstimmigkeit ist das Problem, wie in der gegenwärtigen „Flüchtlingskrise“ erneut offenbar wird. Das hat mit fort- schreitender Konstitutionalisierung der EU dazu geführt, dass auf Hunder-

13 Ernst-Joachim Mestmäcker, Einführung, in: Franz Böhm, Wettbewerb und Monopolrecht, S. 5-14, hier S. 9; dasselbe Argument zur gegenwärtigen Krise Europas: Mestmäcker, Ordnungspolitische Grundlagen einer politischen Union, in: FAZ, 9.11.2012. 14 Fritz W. Scharpf, Demokratische Politik in Europa, in: Dieter Grimm u.a., Zur Neuordnung der Euro- päischen Union. Die Regierungskonferenz 1996/97, Baden-Baden 1997, S. 65-91, hier S. 82. 15 Mark Dawson und Floris de Witte, From balance to conflict: a new constitution for the EU, Ms., Her- tie School of Governance, Berlin, 3.2014. 16 Fritz W. Scharpf, Political legitimacy in a non-optimal currency area, www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/ dp13-15.pdf.

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Blätter_201601.indb 73 09.12.15 11:02 74 Hauke Brunkhorst

ten von Seiten und in zahllosen Sonderregelungen und Protokollen einfaches Recht, das dem gewöhnlichen, parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren zur Disposition stehen müsste, Verfassungsrecht geworden ist, das überdies nur durch einen einstimmigen Beschluss aller Staaten und Völker der Union geändert werden kann.17 Dieses Vertragsverfassungsrecht aber legt die EU auf eine ordoliberale, wenn nicht neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik fest, die demokratischer Gesetzgebung entzogen ist. „In vielen Bereichen“, so Dawson und Witte, „sind die politischen Präfe- renzen der Union konstitutionell vorprogrammiert. Beispiele gibt es über die Maßen: Die Geldpolitik ist auf Preisstabilität ausgerichtet statt auf Vollbe- schäftigung, die Energiepolitik richtet sich am Ziel des Wettbewerbs und der Energiesicherheit aus statt an demokratischen Entscheidungen über solche Ziele, die Nichtdiskriminierungspolitik fördert Zugang zum Arbeitsmarkt statt Menschenwürde am Arbeitsplatz. Die Interpretation von Art. 125 TFEU durch den Europäischen Gerichtshof knüpft Finanzhilfen an die Einhaltung von Bedingungen, nicht an Solidarität, das exzessive Defizitverfahren ver- ordnet Sparprogramme statt keynesianischer Lösungen, und die Bestim- mungen zur Freizügigkeit verraten bereits ein sehr spezielles Verständnis des Verhältnisses von Staat und Markt.“18 Die Diktatur der schwarzen Null wird so zur Verfassungswirklichkeit, die die egalitäre und demokratische Verfassungsnorm in Kitsch und Fassade verwandelt. Man muss die Leidensmiene Schäubles nur einmal im Fernse- hen gesehen haben, wenn er erklärt, er akzeptiere eine demokratische Ent- scheidung. Er leidet wirklich, und aus seiner Sicht zu Recht, denn die Demo- kratie stört nur, ist Sand im Getriebe ordoliberaler Gesetzesherrschaft. So wie Schäuble agieren mittlerweile viele Agenten der Funktionssysteme, und zwar nicht mehr nur die notorisch demokratiefernen Unternehmerverbände, sondern auch Klimaforscher mit einem eher linken Selbstverständnis.19 Kein Wunder, dass die Wettbewerbsfähigkeit zur obersten Verfassungs- maxime der Union geworden ist. Das ist im Übrigen das ordoliberale Erbe ihrer römischen Gründung, in der sich die damals noch wirtschaftsliberale Minderheit der CDU, unterstützt durch die konservative US-Regierung Eisenhower/Nixon, gegen die staatsinterventionistisch orientierten Fran- zosen durchgesetzt hatte. Das Credo der ubiquitären Wettbewerbsfähigkeit, deren entsolidarisierende Schattenseite in der flächendeckenden Indivi- dualisierung von sozialem Misserfolg besteht, hat niemand besser auf den Begriff einer schwarzen Pädagogik gebracht als die FAZ-Bildungsredakteu- rin Heike Schmoll. Sie schrieb am 6. November 2002 im Leitartikel auf der ersten Seite des Blattes: „Wenn Eltern ihren Säuglingen die Anstrengung des Saugens dadurch erleichtern, dass sie die Öffnung der Babyflasche vergrö- ßern, legen sie den ersten Grundstein für mangelnde Leistungsbereitschaft.“ Warum aber ist die politische Alternativlosigkeit, die sich heute wieder in der Dauerherrschaft großer Koalitionen zeigt, so unverrückbar geworden,

17 Dieter Grimm, Die Stärke der EU liegt in einer klugen Begrenzung, in: FAZ, 11.8.2014. 18 Dawson/Witte, a.a.O., S. 19. 19 Siehe nur den informativen Artikel von Nico Steer in der FAZ vom 4.12.2015.

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Blätter_201601.indb 74 09.12.15 11:02 Für eine Repolitisierung der europäischen Öffentlichkeit 75

und warum haben der Ordo- und Neoliberalismus trotz der größten Welt- wirtschaftskrise seit 1929 überlebt und ihre Hegemonie – bis jetzt – sogar noch befestigt, auch wenn es in der EU gewaltiger Anstrengungen bedurfte, sie gegen das winzige Griechenland durchzusetzen? Darauf gibt es eine einfache, empirisch gut begründete Antwort. In den vergangenen 40 Jahren ist infolge der aggressiven neoliberalen Wirtschafts- politik in der gesamten OECD-Welt die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgegangen.20 Das hat zu einer Ermutigung der immer reicher werdenden Oberschichten und zu einer Entmutigung der immer ärmer wer- denden Unterschichten geführt, denen die neoliberal und neodarwinistisch eingestimmten Medien erklären, sie seien selber schuld. Die Folge ist kontinuierlich sinkende Wahlbeteiligung in den unteren Klassen der Gesellschaft, steigende Wahlbeteiligung ganz oben.21 Die timi- dity trap, die Verzagtheitsfalle, schnappt zu.22 Von Wahl zu Wahl rücken die Parteien, um noch im Spiel zu bleiben, immer weiter von links nach rechts. Unten wollen die nicht mehr wählenden Mehrheiten nach wie vor eine für die Schwachen hilfreiche und schützende sozialstaatliche Agenda.23 Aber es ist keine Partei mehr da, die sie vertritt. Oben sind alle Wähler an den Urnen, und alle wählen die neoliberale Agenda der immer enger vereinigten Einheitspartei der kapitalistischen Postdemokratie. Der institutionalisierte Neoliberalismus ist eine Maschine zur Zerstörung des Wohlfahrtsstaats, die Nationalisten, Ethnozentristen und Rassisten produziert.

Mit jeder Krise in Europa: Mehr Neoliberalismus, weniger Demokratie

Kein Wunder, dass regierende Sozialdemokraten, die den Wählerschwund mit Besuchen bei PEGIDA glaubten aufhalten zu können, die Athener Regie- rung als populistisch gebrandmarkt haben (Populist sind immer die ande- ren), obwohl sie doch nichts anderes verlangt, als eine moderate Version der in den 1960er Jahren überall in Europa durchgesetzten, sozialdemokrati- schen Politik wieder wählbar zu machen. Der Sozialismus, den die schwe- dischen Sozialdemokraten in den 1960er Jahren anstrebten und dem sie sich schon nahe wähnten, war viel radikaler als der von Tsipras und Varoufakis. Dennoch hat Juncker in einem Interview mit dem Fernsehsender „Arte“ kei- nen Zweifel daran gelassen, dass für eine Regierung, die so links ist wie die griechische, in der Eurozone kein Platz sei. In dieser Situation erzeugt jede Krise Europas mehr ordoliberale Integra- tion und weniger Demokratie – es sei denn, Europa zerfällt infolge der aufzie- henden, großen Flüchtlingsangst und der sich abzeichnenden Verewigung

20 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014. 21 Hierzu und zum Folgenden vgl Armin Schäfer, Liberalization, inequality and democracy’s discon- tent, in: Politics in the age of austerity, hg. von Armin Schäfer und Wolfgang Streeck, Cambridge 2013, S. 169-195; Armin Schäfer und Harald Schoen, Mehr Demokratie, aber nur für wenige? Der Zielkonflikt zwischen mehr Beteiligung und politischer Gleichheit, in: „Leviathan“, 1/ 2013, 94-120. 22 Knapp und instruktiv: Paul Krugman, The timidity trapp, in: “New York Times”, 21.3.2014. 23 Armin Schäfer, Liberalization, inequality and democracy’s discontent, a.a.O.

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des Belagerungszustands in Frankreich in seine national- und subnational- staatlichen (und auf dieser Ebene wieder bürgerkriegs- bzw. terrorismusaffi- nen) Bestandteile. Das ist die Falle, in die das parlamentarische Regime in Europa geraten ist. Aber je weiter die fatale Gleichzeitigkeit von wachsender Integration und verschwindender Demokratie die Politik nach rechts treibt, desto ferner rückt das Legitimationssubjekt, das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht. Die von den Verlusten der Demokratie profitieren, haben selbst keine Alter- nativen mehr, und mit sinkender Wahlbeteiligung wird die Legitimationsde- cke, die sie an der Macht hält, immer dünner. Ihre Großmacht erweist sich als Schein; die schwarze Null errötet. Die Krise, in die uns die vom Hegemon der Eurozone durchgesetzte Auste- ritätspolitik gestürzt hat, geht allein aufs Konto einer entpolitisierten Politik, die keine makroökonomischen Alternativen mehr kennt und jetzt in der Falle steckt. Das griechische „Nein“ war deshalb der erste Schritt zur Demokratie in Europa. Der erste Schritt zur Wiederbelebung der national und transnatio- nal „ausgetrockneten Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas). Plötzlich gewinnen Sozialisten wie in Portugal wieder Mehrheiten. In England, dem Mutterland des Neoliberalismus und der postsozialdemokra- tischen Ideologie des Dritten Wegs wird ein demokratischer Sozialist, der in der Parlamentsfraktion von New Labour fast nur Feinde hat, von der Parteiba- sis, die den Dritten Weg satt hat, zum Chef und Führer des Schattenkabinetts gewählt. In den USA, dem Land, in dem der Neoliberalismus zum globalen Dogma promoviert wurde, passiert das Unmögliche, und ein unabhängiger demokratischer Sozialist ohne Wall Street Unterstützung bringt die First Lady des Amerikanischen Dritten Wegs in so arge Bedrängnis, dass sie eine linke Parole nach der andern ausgeben muss, ohne dadurch glaubwürdiger zu werden. Kurzum: „There are alternatives“. Plötzlich sind sie wieder da. Sie zeigen, dass das „parlamentarische Regime“, dessen egalitäres Ideal Marx 1852 mit seiner schlechten bürgerlichen Wirklichkeit konfrontiert hat, vielleicht doch noch nicht am Ende, sondern immer noch imstande ist, Unruhe zu stiften, Kämpfe zu provozieren, doch noch transnational zu wer- den und den neoliberalen Eliten zum Tanz aufzuspielen.

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Blätter_201601.indb 76 09.12.15 11:02 In geschlossener Gesellschaft Ostmitteleuropa und die Rückkehr des Autoritären

Von Helmut Fehr

ir haben sie nicht eingeladen“, erklärt der tschechische Präsident W Miloš Zeman. Und die abgewählte polnische Ministerpräsidentin Ewa Kopacz bekräftigt ebenso wie ihre Amtskollegen aus den Visegrád-Staaten, dass „Wir“ nicht für Flüchtlinge zuständig sind. Das sind nur zwei von vielen Reaktionen ostmitteleuropäischer Politiker auf die Flüchtlingskrise. Sie wer- den durch Warnungen untermauert, die an politische Geisterbeschwörung grenzen und der Devise folgen: „Stopp“ der „Islamisierung Europas“.1 Jarosław Kaczyn´ski, der starke Mann in Polen und Vorsitzende der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) sieht sogar die Gefahr, dass die Flüchtlinge den Einheimischen zukünftig ihren Lebensstil aufzwingen werden.2 Gemein- sam ist den Machteliten in Ostmitteleuropa – von Orbán über Kaczyn´ski und Duda bis Zeman und Fico –, dass sie in der Flüchtlingskrise und noch befördert durch die islamistischen Terroranschläge den Kitt ethnischer Solidarität in einem Ausmaß beschwören, das bis zu politischer Hysterie reicht: Ungarn ste- hen gegen „Nicht-Ungarn“, „wahre Polen“ gegen „Anti-“ und „Nicht-Polen“. Auch der Stereotyp der „Anti-Tschechen“ wird wieder entdeckt. Während Viktor Orbán ständig die Bedrohung der tausendjährigen christlichen Kultur Ungarns durch islamische Flüchtlinge beschwört, sieht Jarosław Kaczyn´ski Gefahren der „Überfremdung“ bis in das Alltagsleben. In den osteuropäischen Elitendebatten kommen derzeit Vorstellungen an die Oberfläche, die lange Zeit nur von populistischen Politikern genutzt wurden: der Rückgriff auf Vorurteile und ethnisch geprägte Wir-Gefühle. So stellt der slowakische Premier Robert Fico fest, dass die Slowakei „für Slowaken“ gebaut sei. Sein Amtskollege Orbán beschwört ebenso wie der PiS-Vorsit- zende Kaczyn´ski gar den Niedergang von Nationalstaaten und europäischer Kultur durch Epidemien: „Es gibt Infektionsrisiken und Massen von Einwan- derern, die nicht willens sind und immer aggressiver werden. Menschen sind besorgt und verängstigt – nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa.“3 Die Einwanderung werde „irreparable Schäden“ an den „Volkskörpern“ anrichten, erklärt Orbán. Und er beschwört mit dramatischen Worten: „Von

1 Vgl. Janusz Korwin-Mikke, Gründer des „Kongresses der Neuen Rechten“, KNP), Europa-Abgeord- neter und Spitzenkandidat der rechtspopulistischen Allianz KORWiN bei den jüngsten Sejm-Wah- len, in: „Rzeczpospolita“, 10.9.2015). 2 „Rzeczpospolita“, 17.9.2015. 3 Viktor Orbán im Interview mit dem staatlichen Radio „Kossuth“, 4.9.2015.

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einem multikulturellen Europa gebe es „kein Zurück“, „weder zu einem christlichen Europa noch zu einer Welt nationaler Kulturen“.4 Darin ist er sich mit den anderen Visegrád-Regierungschefs einig, wie die wiederholte Polemik slowakischer, tschechischer und polnischer Politiker gegen „Multi- kulturalismus“ unterstreicht. Offensichtlich bietet die Flüchtlingskrise den willkommenen Anlass für die neuen Eliten in Ostmitteleuropa, sich polemisch gegenüber der Brüsseler Politik abzusetzen. Daneben werden Forderungen zum Schutz der Grenzen als „realistische“ Politik verkündet. Der stellvertretende tschechische Minis- terpräsident Babiš schlug bereits den Einsatz von Nato-Truppen zur Siche- rung der EU-Außengrenzen vor, der tschechische Präsident Zeman will Sol- daten an den nationalen Grenzen postieren. Und die ungarische Regierung baut längst auf Maschendrahtzäune – ergänzt durch Soldaten – zur Siche- rung der Grenzen gegen Flüchtlinge. Noch in den 1990er Jahren verband die neuen politischen Eliten in Ostmit- teleuropa eine Forderung: die der „Rückkehr nach Europa“. Dieser Slogan war als Wiederbelebung europäischer Werte gemeint. Und dies in einem Sinn, der den ethischen Handlungsimperativen einer Zivilgesellschaft entsprach, wie die Selbstverständigungsdebatten der Bürgerbewegungen vor und nach 1989 dokumentieren. Davon ist heute – in der Flüchtlingskrise – nichts mehr übrig. Für sich selbst wurde mit der „Rückkehr nach Europa“ ein Recht auf Teil- habe an Wohlfahrt und Lebensstandard als selbstverständlich gefordert, das gegenüber den Flüchtlingen in der Gegenwart radikal verneint wird. Statt- dessen wird den Flüchtlingen ein „Grundrecht auf ein besseres Leben“ in engherziger Weise abgesprochen. Jan T. Gross, ein nach den polnischen Studentenprotesten von 1968 in die USA emigrierter Sozialwissenschaft- ler, fragt völlig zu Recht: „Haben die Osteuropäer kein Schamgefühl? Seit Jahrhunderten sind ihre Vorfahren massenweise ausgewandert, um mate- riellem Elend und politischer Verfolgung zu entkommen. Und heute spielen das herzlose Verhalten und die kaltschnäuzige Rhetorik ihrer Politiker dem Populismus in die Hände.“5

Die »falschen Realisten«

In der politischen Arena der ostmitteleuropäischen Gesellschaften tritt damit heute ein Haltungstyp zutage, der nur auf den ersten Blick neu erscheint. Als „falsche Realisten“ bezeichnete sie schon István Bibó 1946 in einer Studie zur politischen Kultur Ostmitteleuropas: „Charakteristisch für diesen Typus […] war zweifellos neben Talent eine gewisse Bauernschläue und Brutalität, die in hervorragender Weise dazu befähigte, zum Verwalter und Hüter anti- demokratischer Regierungsformen oder gewaltförmiger politischer Schein- konstruktionen zu werden.“ Auf diese Weise, eben mit Bauernschläue und

4 Vgl. Viktor Orbáns Rede im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stif- tung Budapest und des „Instituts des XX. Jahrhunderts“ vom 2.6.2015, in: „Pester Lloyd“, 3.6.2015. 5 Jan T. Gross, Flüchtlingsabwehr: Die osteuropäische Schande, in: „Blätter“, 10/2015, S. 41-42.

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Blätter_201601.indb 78 09.12.15 11:02 Ostmitteleuropa: In geschlossener Gesellschaft 79

Brutalität, verschafften sich Orbán, Kaczyn´ski und Klaus das „Renommee des ‚großen Realisten‘“ und verdrängten den „westeuropäischen“ [liberalen, d.A.] Politikertypus, der als „doktrinär“ oder „idealistisch“ abgewertet wurde.6 Vor diesem Hintergrund erklären sich die Verdikte Jarosław Kaczyn´ski über „Lügen-Eliten“7, von Viktor Orbán über „modernen Liberalismus als Form der Heuchelei“8 und von Václav Klaus über „grüne Ideologen“ und „eta- tistische Intellektuelle“: Durchgängig spielen hier Verweise auf „fremde“ Einflüsse eine Rolle, die sich gegen „Ungarntum“, „Polentum“ oder das im Präsidentenwahlkampf 2013 wiederentdeckte „Tschechentum“ richten. So verstieg sich Beata Szydło, die neue polnische Ministerpräsidentin, gar zu der allenfalls halbironischen Forderung „mehr polnische Wirtschaft in der pol- nischen Wirtschaft“9. Insbesondere Flüchtlinge und Asylsuchende werden schon länger über Slogans wie „Überfremdung“ zu Feinden der nationalen Kultur erhoben. Diese gefährden den Zusammenhalt ebenso wie „innere Feinde“. Das aber hat eine längere Vorgeschichte.

Nationale Mythen und die Kultur der Verantwortungslosigkeit

Seit Anfang der 1990er Jahre sind in Ostmitteleuropa politische Kampfwör- ter gegenüber Minderheiten in Umlauf, die nur in der exzessiven Wortwahl variieren: Immer ist von „Zigeunern“ die Rede, mitunter werden Roma gar als „Tiere“ diskriminiert (Zsolt Bayer, Fidesz-Journalist und Politiker). Durch- gängig werden Migranten, „Tschetschenen“ und Muslime als unerwünschte Minderheiten betrachtet. „Stoppt die Islamisierung Europas“, skandier- ten etwa am 17. September Fußballfans von Lech Posen, die zugleich zum Boykott einer Flüchtlingshilfe aufriefen.10 „Heimkehr, keine illegale Ein- wanderung“, sondern die „Repatriierung“ von „Polnischstämmigen“ aus der Ukraine und polnischer Auswanderer aus Westeuropa sei zu betreiben. Hier, in den Losungen von Fußballfans aus Posen und Warschau, zeigen sich Mythen über das Polentum, die auch von der Mehrheit der Bevölkerung und Politikern geteilt werden. Ganz ähnliche Mythen werden auch von den ungarischen Fidesz- und Jobbik-Führungen bevorzugt. Ungarn stehe im Abwehrkampf gegen „äußere Feinde“ – Migranten, die alles „überfluten“, und „Europa“, das unfähig ist, Entscheidungen zu treffen. Das Beharren auf nationalen Interessen verdeckt allerdings nur die Ambi- valenzen des politischen Charakters der Akteure. Sie schwanken zwischen „nationaler Eitelkeit“ (Bibó), sprich: übertriebener Selbstdarstellung in der nationalen Arena, und Leisetreterei auf der europäischen Bühne. Der Wider- spruch zwischen nationalen Gemeinschaftsgefühlen und der Realität euro- päischer Kompromissbildung wird auf diese Weise überspielt. Und zwar nach

6 István Bibó, Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei, Frankfurt a. M. 1992 [1946], S. 52. 7 Jarosław Kaczyn´ski, Interview in: „Fakt“, 1.12.2006. 8 Viktor Orbáns Rede auf dem 14. Zivilen Picknick von Kötcse, 17.9.2015, www.miniszterelnnok.hu. 9 Zit. nach „Rzeczpospolita“, 10.9.2015. 10 Vgl. Ronald Tenbusch, Polnische Fußballfans boykottieren Flüchtlingshilfe, in: „Die Welt“, 18.9.2015.

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„innen“, gegenüber den eigenen Anhängern, wie nach „außen“, gegenüber den europäischen Institutionen. Dem heimischen Publikum wird das Image des tatkräftigen Politikers im Dienst „nationaler Interessen“ geboten, der jeden politischen Kampf besteht (vor allem in der „Schlacht“ um den EU-Haushalt und gegen europäische Klimapolitik). In den Brüsseler Verhandlungsrunden wird dagegen die Stra- tegie des taktischen Machtopportunismus gepflegt. Das reicht bis zur bereit- willigen Räumung von Positionen, die eben zu Hause noch als unverhandel- bar erklärt worden waren. Die häufig moralisch aufgeladene Sprache der Konfrontation täuscht so über die Deformationen des politischen Charakters der Eliten hinweg, die in rapiden Änderungen von Grundsätzen, Zielen und Wertorientierungen zum Ausdruck kommen. In der Flüchtlingskrise zeichnet sich speziell Orbáns Politik durch demons- trative moralische Verantwortungslosigkeit aus: eine Politik des reinen natio- nalen Egoismus, der Konfrontation und der Geringschätzung der EU-Partner. Diese Kultur der Verantwortungslosigkeit wird von sämtlichen Führungs- gruppen der ostmitteleuropäischen Nachbarländer geteilt. Die politischen Slogans unterscheiden sich nur punktuell, gemeinsam ist auch das massive Ungleichgewicht zwischen dem eigenen Anspruch auf europäische Solidari- tät und dem Rückzug in die nationale Wagenburg – der „kleinen“ (Tschechi- sche Republik, Slowakei) oder der „historischen“ Nation (Ungarn, Polen). Wenn Kaczyn´ski, Orbán und Zeman dagegen von der Gefahr des importier- ten Terrors durch Muslime reden, ist das Teil einer inszenierten politischen Hysterie. So werden in Ostmitteleuropa virulente Formen der Fremdenfeind- lichkeit wiederbelebt, die die Erfahrungen der Öffnung und Modernisierung nach 1989 überdauert haben. Politische Hysterie und Verschwörungsphan- tasien bleiben in Ostmitteleuropa somit nicht auf nationalpopulistische und rechtsradikale Bewegungen beschränkt – es sind Haltungen, die die neuen Führungsgruppen über die politischen Lager hinweg verbinden. Gegenüber „Europa“ entfalten die „falschen Realisten“ Strategien der Konfrontation, die Ritualen des Parteienkampfs entsprechen – immer auf der Suche nach Feindbildern. Einmal getroffene Vereinbarungen bleiben dagegen im Ungefähren, Fragen zur Krisenbewältigung werden ausge- blendet (siehe etwa die Verhandlungen über eine gemeinsame europäische Klima- und Umweltpolitik). Diese Politik des Taktierens und Lavierens – des Rückzugs aus Beratungs- und Verhandlungsprozessen – wiederholt sich im Bereich der Flüchtlingspolitik. Statt Lösungen zur Überwindung der demo- graphischen Krise in den ostmitteleuropäischen Gesellschaften durch Asyl und geregelte Einwanderung zu diskutieren, werden negative historische Stereotype über „Anderssprachige“ und „Andersgläubige“ erzeugt. Diese Politik mit Angst steht in der Tradition der Zwischenkriegsgesell- schaften, wie István Bibós Studie aus dem Jahre 1946 verdeutlicht. Sie ist Kennzeichen einer deformierten politischen Kultur: „Die Länder Mittel- und Osteuropas hatten deshalb Angst, weil sie keine entwickelten und gefes- tigten Demokratien waren, und eben wegen dieser Angst konnten sie auch keine werden. Die Entfaltung eines ungestörten freien und angstlosen poli-

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Blätter_201601.indb 80 09.12.15 11:02 Ostmitteleuropa: In geschlossener Gesellschaft 81

tischen Lebens wäre an den verschiedensten Punkten an den Angstkomplex dieser Nationen gestoßen.“11

Erosion der demokratischen Kultur

Besonders in der Auseinandersetzung mit Flüchtlingen und Fremden wird ersichtlich, worin die heutige Krise der ostmitteleuropäischen Demokratien besteht: Die voreilig angenommene Konsolidierung des parlamentarischen Rahmens wird bis heute nicht durch eine liberale politische Kultur gestützt. Im Gegenteil: Der Elitenkampf ist gekennzeichnet durch die Erosion der nach 1989 nur schwach entfalteten demokratischen politischen Kultur. Die neuen politischen Führungsgruppen pflegen eine Sprache der Konfronta- tion, die zur anhaltenden Deformation der liberalen Demokratie beiträgt. Hierbei unterscheiden sich die Eliten kaum. In Ungarn nutzen die Fidesz- Führungsgruppen „völkische“ Rahmendeutungen, die auch zum Repertoire der rechtsradikalen Jobbik-Partei zählen. Angeblich steht die „Reinheit“ des ungarischen Volks und der ungarischen Nation auf dem Spiel. In Polen reicht die Vision der ethnisch reinen Gemeinschaft von „katho- lisch-nationalen“ Gruppenverbänden über national-populistische Parteien bis zur rechtsextremen Szene. Dabei fallen Kampfwörter wie „Polen zuerst!“ und „Anti-Polen“ gegen „wahre Polen“. So betonte die nach der nationalisti- schen Bewegung der dreißiger Jahre benannte rechtsradikale ONR in einem Aufruf zu einer Demonstration in Warschau am 12. September 2015 unter der Überschrift „Polen gegen Einwanderer“: „Wir sind für Nation und Heimat.“12 In der Tschechischen und Slowakischen Republik grassiert sogar eine Frem- denfeindlichkeit ohne Fremde. Die Demonstrationen vom 12. September 2015 in Prag und Bratislava gegen Migranten fügen sich in ein schon länger von nationalpopulistischen und rechtsextremen Gruppen gewähltes Mobi- lisierungsschema: Politik mit Ressentiments. Kulturelle Homogenität und christliche Grundlagen der Nation werden hierbei wie in Ungarn und Polen nur als Worthülsen herangezogen. Die angeblich verbindende christliche Identität wird weiterhin in polarisierender Weise in den Migrationsdebatten verwendet: „Wir“ gegen die „anderen“, die „Nicht-Christen“. Über Geschichtspolitik „von oben“ wird so eine resolute Politik der ethni- schen Reinheit und Solidarität verkündet, die jedoch in der Wirklichkeit an enge Grenzen stößt. Schon ein Blick auf die nach Westeuropa emigrierten polnischen und ungarischen Gemeinschaften müsste die heimischen Füh- rungsgruppen belehren, dass weder „Polen-“ noch „Ungarntum“ bleibende Orientierungsmuster garantieren. Denn kaum einer der nach Westeuropa abgewanderten Polen und Ungarn kehrt zurück. Dabei ist insbesondere die Zahl der Jüngeren unter den Auswanderern hoch – und zwar in allen ostmit- teleuropäischen Ländern. So verließen zum Beispiel im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre Hunderttausende junge Erwachsene Polen und Ungarn.

11 Bibó, Die Misere der osteuropäische Kleinstaaterei, a.a.O, S. 51. 12 „Rzeczpospolita“, 10.9.2015; „Gazeta Wyborcza“, 14.9.2015.

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Blätter_201601.indb 81 09.12.15 11:02 82 Helmut Fehr

Die Mentalität geschlossener Gesellschaften

An der herrschenden Kultur in Osteuropa prallt diese Entwicklung jedoch völlig ab. Was dominiert, ist die Mentalität geschlossener Gesellschaften. Sie gründet auf der Vorliebe für enge soziale Bindungen. Gemeinschaftsidenti- täten spielen dabei eine Rolle, die nach dem Muster primärer Gruppen und informeller Netzwerke das im Entstehen begriffene demokratische Gemein- wesen überlagern13: Persönliche Loyalitäten und Nutzenkalküle politischer Familien beeinflussen politische Austauschbeziehungen, die von der lokalen bis zur europäischen Ebene reichen. Zwar wird in der Regierungsrhetorik Polens und Ungarns aus taktischen Gründen der Begriff der „europäische Solidarität“ verwendet, und zwar in inflationärer Weise. Doch vertragliche Vereinbarungen und rechtsstaatliche Normen erscheinen als bloß rhetorische Mittel, die im jeweiligen Machtspiel auch wieder relativiert werden können. Damit sind alle Spezifika benannt, die heute das Milieu der „falschen Rea- listen“ kennzeichnen: Populismus und demokratischer Elitismus, eng ver- knüpft mit einer Kultur der Verantwortungslosigkeit und dem Verständnis von Politik als Kampf. Ob Orbán, Zeman oder Kaczyn´ski: Sie alle inszenieren sich als Politiker des Volkes – gegen die europäischen Eliten und den „schäd- lichen“ Einfluss der Journalisten. Sie alle verfolgen ihre eigenen Machtkal- küle ohne Rückbindung durch Wahlen. Im Gegenteil: Die liberale Demokra- tie soll zugunsten eines „starken“ Staats überwunden werden.14 Dieser Haltungstyp des nur sich selbst verantwortlichen Akteurs, ohne Bezug auf rechtsstaatliche Normen, bestimmt die politische Kultur Osteuro- pas. Rechtsstaatlichkeit und Wertorientierungen – wie Toleranz und Pluralis- mus, Konsens und Kompromissbildung – werden als Anzeichen politischer Schwäche betrachtet. Orbán und Kaczyn´ski bringen diese Einstellung auf einen Nenner, wenn sie vom „starken Staat“ schwärmen, dessen Vorbild sie in der Zwischenkriegszeit beider Länder finden. An dieser Stelle ergeben sich deutlich Übergänge zum präfaschistischen politischen Autoritarismus der 1930er Jahre. So überrascht es nicht, dass der Antiliberalismus und Anti- pluralismus Carl Schmitts – und besonders dessen Parlamentarismuskritik – heute im Milieu der neuen Machteliten Ostmitteleuropas eine hohe Anzie- hungskraft besitzen.15 Das aktuelle „Spiel“ mit der Fremdenfeindlichkeit ist somit Ausdruck einer weit tieferen Krise der politischen Kultur Osteuropas: Die Legitimation der Demokratie als eines pluralistischen Elitenprojekts ist ausgehöhlt. Der Typus des falschen Realisten appelliert dagegen vorwiegend an eine imagi-

13 Helmut Fehr, Eliten und zivile Gesellschaft – Legitimitätskonflikte in Ostmitteleuropa, Wiesbaden 2014, Kap. 16. 14 Vgl. das Bekenntnis von Jarosław Kaczyn´ski: „Ich will Macht“, im Interview mit „Newsweek Pol- ska“, 2.3.2008, ferner die Rede Viktor Orbáns während der 25. Freien Sommeruniversität in Ba˘ile Tus˛nad (Rumänien) vom 26.7.2014, Viktor Orbán, Wir bauen den illiberalen Staat auf, in: „Pester Lloyd“, 30.7.2014. 15 Vgl. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des Parlamentarismus, Berlin 1961; ders., Der Begriff des Politischen, Berlin 1931. Die Vorliebe für Schmitt im ost-europäischen Elitenspektrum ist dabei keineswegs auf das national-christliche Lager beschränkt.

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Blätter_201601.indb 82 09.12.15 11:02 Ostmitteleuropa: In geschlossener Gesellschaft 83

nierte plebejische Öffentlichkeit. Und dies mit einem Kalkül, das bereits in der Zwischenkriegszeit in allen ostmitteleuropäischen Gesellschaften ver- breitet war: die Gewöhnung der Bevölkerungsmassen an Verschwörungs- phantasien. Die grassierende politische Hysterie in der Flüchtlingsfrage legt die Deformation der politischen Kultur in Osteuropa – als auch das Dilemma der liberalen Demokratie in dieser Region – bloß: Die nach 1989 begründe- ten Institutionen der parlamentarischen Demokratie können nicht über die anhaltenden Schwächen der demokratischen Kultur hinwegtäuschen.

Politischer Autoritarismus versus zivilgesellschaftliche Solidarität

Die Krise der ostmitteleuropäischen Demokratie kommt somit nicht nur im Versagen der politischen Führungsgruppen in der Flüchtlingskrise zum Ausdruck.16 Die Rückkehr zum politischen Autoritarismus und die Konjunk- tur populistischer Selbstbilder zeigen die weit tiefer gehende Legitimitäts- krise an. In der Flüchtlingskrise wurde in der nationalistischen Sprache der Machteliten ein tiefes moralisches Vakuum sichtbar. Doch während die Visegrád-Regierungen sich über das „Diktat“ aus Brüs- sel und den „moralischen Imperialismus“ (Orbán) empören, engagieren sich zahlreiche NGOs für Flüchtlinge. Dieses Engagement der freiwilligen Helfer erinnert daran, worauf sich Flüchtlinge aus Ostmitteleuropa vor 1989 ihrer- seits verlassen konnten: Die 1956, 1968 und 1980 in Not geratenen ungari- schen, tschechischen, slowakischen und polnischen Emigranten erfuhren im Westen Hilfe und politische Sympathien. Dagegen wird heute von den osteuropäischen Machteliten das eigene Engagement massiv stilisiert, bis hin zur Manipulation von Zahlen. So ver- kündeten der polnische Präsident und die Ex-Premierministerin Kopacz, dass Polen bereits über eine Million Ukrainer aufgenommen habe. Dass die- ser Verweis irreführend ist, belegt die Zahl der anerkannten ukrainischen Flüchtlinge: Im Jahr 2015 wurden bisher nur zwei Ukrainer als Flüchtlinge anerkannt. Bei der großen Zahl von Ukrainern in Polen handelt es sich dagegen um Studierende oder Arbeitskräfte, die die Arbeitsplätze in den Westen abgewanderter Polen einnehmen. Faktisch schrumpfte das Interesse der politischen Führungsgruppen in den neuen EU-Ländern Ostmitteleuropas in den Flüchtlingsverhandlungen mit Brüssel Ende September 2015 auf das einfachste Nutzen-Kalkül: „Als Beata Szydło kürzlich Polens Unternehmer umwarb, betonte sie in seltener Offenheit, das nächste Jahrzehnt sei besonders wichtig, da es wohl das letzte Mal sei, dass Polen so viel Geld von der EU bekomme.“17 Ehrlicher lässt sich die Abkehr Ostmitteleuropas von der Idee Europas als einer Wertegemein- schaft wohl nicht auf den Punkt bringen.

16 Michal Šime˘ka und Benjamin Tallis, Fighting the wrong battle: Central Europe‘s crisis is one of libe- ral democracy, not migration, in: „open democracy”, 4.9.2015. 17 Vgl. Florian Hassel, Nationaler Egoismus, in: „Süddeutsche Zeitung“, 22.9.2015.

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Blätter_201601.indb 83 09.12.15 11:02 Zerstörung und Flucht Von der Hierarchie der Märkte zur Migrationskrise in Europa

Von Elmar Altvater

ede Fluchtbewegung ist eine Abstimmung mit den Füßen, und zwar J sowohl über die Herkunfts- als auch über die Zielregionen der Flüch- tenden. Diese Abstimmung ist selten eine freie Entscheidung Einzelner, sie kommt zumeist kollektiv zustande und wird unter wechselnden Umstän- den auch mehr oder weniger freiwillig korrigiert. Das wiederholt sich in der Geschichte und die Ergebnisse sind irritierend. In den Jahrzehnten der frü- hen Industrialisierung Europas mussten nicht zuletzt infolge der Freisetzung einer „Überflussbevölkerung“ (redundant population nach David Ricardo) von etwa 1820 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs mehr als 50 Millio- nen Menschen aus Irland, Italien, Spanien oder Deutschland in die „Neue Welt“ auswandern, nach Nord- oder Südamerika, Afrika und Australien. Meist reichte der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx), manchmal wurde politisch und polizeilich bei der „Auswanderung“ nachge- holfen. Auch die kriegerische Verwüstung von Landstrichen hat Menschen immer wieder in die Flucht getrieben. Diese Flucht vor dem Krieg hat sich bis heute nur insofern geändert, als die Destruktionsmittel des 21. Jahrhunderts unvergleichlich größer sind als in der bisherigen Geschichte. Auch die „friedlichen Destruktionsmittel“, mit denen die Naturbedingun- gen des menschlichen Lebens im Normalbetrieb der kapitalistischen Pro- duktions- und Lebensweise beschädigt oder zerstört werden, treiben immer mehr Menschen in die Flucht. Die International Organisation of Migration schätzt die Zahl der Umwelt- und Klimaflüchtlinge auf 50 bis 150 Millionen. Und die Tendenz ist eher steigend als rückläufig. Das macht deutlich, in welch verheerenden Zustand der Planet Erde durch politische Gewalt, ökonomische Krise, finanzielle Spekulation und ökologische Zerstörung geraten ist. Auch die Zerstörung der Naturbedingungen der menschlichen Existenz ist eine Folge von Migration, von sogenannter Entropiemigration. Die Lager- stätten konzentrierter Mineralien oder fossiler Energiereserven werden zum Wohle der entwickelten Nationen geplündert. Die Abfälle und schädlichen Emissionen, beispielsweise von Treibhausgasen, werden in den Ozeanen oder der Atmosphäre untergemischt und als Abfall überall zerstreut. Die Entropie steigt in der einen Weltregion, während sie anderswo gesenkt wer- den kann. Per Saldo freilich ist der Entropieanstieg auf Erden unvermeid-

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bar – und auch diese Entropiemigration treibt tausende von Menschen in die Flucht. Die massenhafte Wanderung von Menschen ist ein historisch vergleichs- weise junges Phänomen, obwohl es in der Geschichte immer kontinentale und transkontinentale „Völkerwanderungen“ gegeben hat. In der Neuzeit hat die Emigration der 50 Millionen „Überflüssigen“, von denen schon die Rede war, die europäische Industrialisierung erleichtert und als Immigration in der „Neuen Welt“ für jene qualifizierte „manpower“ gesorgt, die eine Vor- aussetzung für die ökonomische Entwicklung auf der Bahn der europäischen Weltbeherrschung war und ist. Die Ökonomen würden sagen, dass die Mig- rationsbewegungen positive externe Effekte mit sich brachten, es also eine Win-win-Migration war. Das kann von der heutigen Migration nicht mehr so selbstverständlich gesagt werden. Die einen gewinnen, die anderen verlie- ren. Tausende von Migrantinnen und Migranten verlieren sogar ihr Leben, viele von ihnen im eigentlich so migrationsgünstigen Mittelmeer, das ein Massengrab geworden ist. Die heutigen Fluchtbewegungen sind daher eine Aneinanderreihung von Tragödien. Sie zeigen, dass sich Menschen auch als ökonomische Cha- raktere, als Arbeitskräfte, aus ihrem goldenen Vlies der Staatsbürgerschaft nicht ganz befreien können. Zwar ist die Ökonomie heute globalisiert, aber die Politik ist selbst in der hochintegrierten EU noch weitgehend national- staatlich verfasst. Hier kommen zwei Eigenheiten des Kapitalismus zur Gel- tung: Erstens vollziehen sich unter kapitalistischen Bedingungen gleichzei- tig Naturprozesse, also stoffliche und energetische Transformationen und die Evolutionsprozesse in der lebendigen Natur, und Wert- und Verwertungs- prozesse. Letztere sind einerseits wie die Wertform substanzlos, verlangen aber andererseits einen substanziellen Zuwachs, einen „return to capital“. Die Verwertung und ihre auf Wachstum getrimmte Dynamik treiben die Vor- gänge in der Natur an, die ihr wiederum natürliche Grenzen setzen. Hier wird dramatisch erkennbar, was Karl Marx mit dem „Springpunkt“ der poli- tischen Ökonomie, mit dem „Doppelcharakter“ aller ökonomischen Prozesse gemeint hat und warum er sich in seiner Kritik der politischen Ökonomie nicht nur für die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, sondern auch für die Geologie des Planeten Erde interessierte.1 Zweitens müssen die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen wirtschaftlicher Veränderungen und umgekehrt die Einwirkungen der Poli- tik in der Ökonomie und daher auch im gesellschaftlichen Naturverhältnis berücksichtigt werden – auch und gerade wenn es um Ursachen, Verlauf und Folgen von Flucht und Migration geht. Seit der Bildung eines kapitalistischen Weltsystems im „langen 16. Jahr- hundert“ – von der „Entdeckung Amerikas“ 1492 bis zum Westfälischen Frieden 16482 – ist die soziale und ökonomische Entwicklung auf Weltniveau

1 Zum Doppelcharakter der Arbeit vgl. das erste Kapitel im ersten Band des „Kapital“, MEW Bd. 23. Auf das Interesse von Marx an der Geologie verweist Martin Hundt, Wie und zu welchem Ende studierte Marx Geologie?, in: „Sitzungsberichte Leibniz-Sozietät der Wissenschaften“, 121 (2014), S. 117-133. 2 Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, 3 Bände, München 1986.

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Blätter_201601.indb 85 09.12.15 11:02 86 Elmar Altvater

gehoben worden. Mit dem Industriekapitalismus im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts wurde sie dann nochmals beschleunigt. Die Wachstums- rate der Weltwirtschaft sprang in den letzten zwei Jahrtausenden von lang dauernder Stagnation („Nullwachstum“) auf 2,2 Prozent pro Kopf und Jahr im Zeitraum von 1820 bis 1998.3 Das bedeutet eine Verdoppelung des realen Pro-Kopf-Einkommens von einer Generation zur nächsten, das ist tatsächlich eine Revolution. Das liberale Versprechen der klassischen politischen Öko- nomie, den „Wohlstand der Nationen“ zu steigern, war also nicht falsch. Aber die Steigerung war ungleichmäßig in den Weltregionen und sie erfolgte ungleichzeitig. Die Auswirkungen auf die Kultur der modernen Gesellschaften sind immens, da qualitative Vielfalt nun in quantitative Ungleichheit der Einkommen, der Vermögen, des Zugriffs auf natürliche Res- sourcen sowie auf militärische und politische Macht übersetzt wird. Markt- prozesse können aus den qualitativen Bindungen, die soziale Beziehungen oder natürliche Bedingungen unvermeidlich darstellen, „entbettet“ werden – was denn auch, wie Karl Polanyi herausarbeitet, beim Übergang zur moder- nen Marktwirtschaft mit ihrer selbstreferenziellen Logik geschieht.4 Hier befindet sich der Ursprung jenes Wachstumsfetischismus, der die moderne Welt beherrscht.

Die Geologie des Weltsystems

Doch hat die industrielle Revolution wegen des erwähnten Doppelcharakters auch enorme geologische Folgen. Geologen sprechen von einer neuen erd- historischen Epoche, vom sogenannten Anthropozän. Dieses sollte besser als Kapitalozän bezeichnet werden.5 Denn es sind die menschlichen Aktivitä- ten unter kapitalistischen Verhältnissen – in Produktion, Investition, Handel, Migration –, die angeregt durch die Gewinnmaximierung nicht nur die Wirt- schaft, die Technik und das Alltagsleben der Menschen, sondern sogar die Geologie der Erde, die Gesteinsschichten der Erdoberfläche ver- und umfor- men. Die Kontinente, die vom ursprünglichen Superkontinent Pangäa fortge- trieben sind und sich auf der Erdkugel als Eurasien, Afrika, Amerika, Austra- lien und Antarktis verteilt haben, werden im kapitalistischen Weltsystem und infolge der vielfältigen wirtschaftlichen Integrationsanstrengungen gewis- sermaßen noch einmal zu einem „neopangäischen“ Superkontinent zusam- mengefügt: Nun aber nicht als Folge einer neuen geologischen Kontinental- verschiebung, sondern wegen der kapitalistischen Steigerungsdynamik, ausgedrückt in der simplen Formel g – g‘, aus Geld muss mehr Geld werden.6

3 Berechnung von Angus Maddison, The World Economy: A Millennial Perspective, Paris 2001. 4 Vgl. Karl Polanyi, The great transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesell- schaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt 1978. 5 Vgl. Jason Moore, The Capitalocene. Part I: On the Nature & Origins of Our Ecological Crisis; The Capitalocene. Part II: Abstract Social Nature and the Limits to Capital, 2014 (Manuskript); Elmar Altvater, Engels neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die „Dialektik der Natur“ und die Kritik von Akkumulation und Wachstum, Hamburg 2015, S. 59-68; Elmar Altvater, El Capital y el Capitaloceno, in: „Mundo Siglo XXI“, Mai-August 2014, S. 5-15. 6 Vgl. den fünften Abschnitt des dritten Bandes des „Kapital“, MEW Bd. 25.

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Um ihr Rechnung zu tragen, wird die ganze Welt, alle Kontinente einbezie- hend, zum Marktplatz. Die Erde wird der Ökonomie zuliebe für die Beschleu- nigung aller Transaktionen physisch und regulatorisch zugerichtet. Dem dienen in der Geschichte die Infrastrukturen der Beschleunigung, von Häfen und Straßen bis zu urbanen Agglomerationen, und eine Vielfalt von Handels- vereinbarungen von der Hanse im 12. bis 17. Jahrhundert bis zum GATT nach dem Zweiten Weltkrieg – und natürlich bis zur EU. In dieser Tradition befindet sich heute auch die Welthandelsorganisation, die erst Mitte der 1990er Jahre gegründet worden ist. Sie wird aber bei der atemlos durchgeführten Liberali- sierung der Märkte und ihrer Integration noch übertrumpft von TTIP (Trans- atlantische Handels- und Investitionspartnerschaft) oder TPP (Transpazifi- sche Handelspartnerschaft). Das sind Brücken zwischen den beiden Seiten des Atlantischen und Pazifischen Ozeans. Alternative Integrationsprojekte wie BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika umfassend) werden vereinbart. Auch sie ordnen nicht nur den Markt in der Zirkulations- sphäre, sondern die Produktionssphäre, daher auch die Geographie und Geo- logie des kapitalistischen Weltsystems neu; sie haben daher geopolitische Bedeutung. Diese Anstrengungen können als Versuche interpretiert werden, den alten Superkontinenten Pangäa, wenn nicht als geologisches, so doch als ökonomisches Gebilde auferstehen zu lassen. Dieses ist allerdings für die Bewegungen von Menschen, für Flucht und Migration unsensibel, die „neo- pangäische“ Integration ist nicht umfassend. Der Grund ist in einer Hierar- chie der Märkte zu suchen, die nun, kontinentale Distanzen überbrückend, integriert werden.

Die hierarchische Ordnung entbetteter Märkte

Karl Polanyi beobachtete Folgendes: Märkte gehorchen der „Logik des Gel- des“, dabei wird wenig Rücksicht auf gesellschaftliche Verhältnisse genom- men, und die Marktakteure haben in der Konkurrenz für empathische Emp- findungen daher keine Zeit. Folglich wird die Natur überlastet – die Märkte entbetten sich durch das Wirken der Marktakteure aus Gesellschaft und Natur. Das ist in den Sozialwissenschaften inzwischen eine selten bezwei- felte Grunderkenntnis. Freilich ist die Entbettung kein einmaliger Vorgang, sondern ein Prozess, der unterschiedliche Gestalten annehmen kann und die Märkte ganz verschieden mitreißt, die Finanzmärkte, auf denen die gehan- delten Waren Geld, Kredit und Wertpapiere sind, sehr viel stürmischer als Güter- und Dienstleistungsmärkte, wo nicht nur Werte getauscht werden, sondern Mineralien, Stoffe und Lebensmittel beschnüffelt werden können. Auf Arbeitsmärkten wird die Ware Arbeitskraft getauscht, die Arbeit jedoch muss von konkreten Menschen geleistet werden. Da sind der Entbettung natürliche, daher auch menschliche Grenzen gesetzt, um deren Respektie- rung Klassenkämpfe entbrennen.7

7 Vgl. Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Politik, Ökologie in der Weltgesellschaft, Münster 72007, S. 109 ff.

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Blätter_201601.indb 87 09.12.15 11:02 88 Elmar Altvater

Die Hierarchie der aus Gesellschaft und Naturverhältnissen entbetteten Märkte ist für ihre räumliche Integration und für Migrationsbewegungen von großer Bedeutung. Auf den globalen Finanzmärkten bilden private Akteure, international operierende große Banken und Fonds mit ihrem Anhang von Anwälten, Beratern und Rating-Agenturen die Zinsen und Wechselkurse. Das sind zentrale Preise und daher wichtige Signale für die Entscheidun- gen über Investitionen und Wachstum. In geringerem Umfang als die pri- vaten Akteure tragen dazu Regierungen, Zentralbanken oder internationale Finanzinstitutionen wie IWF oder Weltbank bei. Die so ermittelten Zinsen und Wechselkurse haben also für Produktion, Standortwahl und Beschäfti- gung – folglich auch für die Arbeitslosigkeit – einen zentralen Stellenwert. In der Hierarchie folgen die Märkte für Waren und Dienstleistungen. Dort werden die Produktpreise gebildet, insbesondere die Energie- und Rohstoff- preise (von fossilen Brennstoffen, strategischen Rohstoffen, Strom), die für die Wirtschaftsentwicklung in der modernen Welt entscheidend sind. Auch hier treten vor allem private Akteure in Erscheinung, meist große transnationale Konzerne. Diese Märkte sind heute sehr weitgehend integriert. Dafür sorgen die Intensität des Warenaustausches, Kooperations- und Normierungsver- einbarungen und eben die Integrationsprojekte, die den Weltmärkten Struk- tur geben. Am unteren Ende der Hierarchie befinden sich die Arbeitsmärkte. Auf ihnen wird über die Höhe von Löhnen und Gehältern, des Preises der Arbeits- kraft also, und über Beschäftigung und Arbeitslosigkeit entschieden, aber auch über Ausmaß und Tendenz der Prekarisierung und Informalisierung der Beschäftigung. Dabei besteht ein entscheidender Unterschied zu den anderen Märkten: Sozialsysteme und Sozialstaat unterliegen selbst in der hochintegrierten EU noch nationalen Grenzen, und die Arbeitsmärkte sind daher nicht so globalisiert wie die Finanz- und Produktmärkte. Vereinfacht kann man die Hierarchie also als eine Kaskade zusammenfassen: Die Zinsen und Kurse bestimmen die Investitionen, die Investitionen die Produktion der Produkte und deren Preis. Dieser wiederum ist bedeutsam für Beschäftigung und Lohnbildung. Das hat zur Folge, dass die Integration entbetteter Märkte asymmetrisch und prinzipiell unvollständig ist. Auf den Finanz-, Waren- und Dienstlei- tungsmärkten sind in der EU in einer Reihe von Integrationsschritten schon bis Anfang der 1980er Jahre die Grenzen demontiert worden. Auch hat die EU ernsthafte Bemühungen unternommen, die freie Bewegung von Perso- nen zu erleichtern, beispielsweise durch den sogenannten Schengenraum seit 1985 und die Dublin-II-Regeln. Aber als die Zahl der Flüchtlinge 2015 dramatisch anstieg, wurden in Europa neue Mauern und Zäune aus Nato- Stacheldraht sowie Flüchtlingslager errichtet, in denen humanitäre Min- deststandards sehr oft nicht gelten. Die EU, die 2012 den Friedensnobelpreis erhalten hat, erweist sich beim Umgang mit Flüchtlingen inzwischen als ein Kontinent der Schande. Die in Europa fast überall herrschenden Neoliberalen stellen also das Regelwerk der Freizügigkeit im Schengenraum in Frage, sobald es in

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Anspruch genommen wird. Warum also waren die Liberalisierung und Dere- gulierung auf den Finanz- und Warenmärkten mehr oder weniger erfolg- reich, auf dem Arbeitsmarkt aber nicht? Den Grund findet man in dem bei der europäischen Integration gewählten Regelwerk. Dieses erlaubte, wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Jan Tinber- gen schon in den 1950er Jahren festhielt, nur eine „negative Integration“. Mit dieser Bezeichnung wollte Tinbergen nicht kritisch bewerten, sondern ein Integrationsprojekt deskriptiv und analytisch erläutern, das vor allem auf der Liberalisierung von Märkten durch den Abbau von Grenzen und Deregulie- rung beruhte. Diese negative Integration wird treffend ein „Hayek-Projekt“ genannt.8 Denn es war der „Papst des Neoliberalismus“, F. A. von Hayek, der am Ende des Zweiten Weltkriegs den zynischen Vorschlag machte, Deregu- lierung und Liberalisierung auf nationaler Ebene unumkehrbar zu machen, indem sie in ein internationales Vertragswerk eingebunden wurden.9 Das sollte im Kalten Krieg in der westlichen Welt eine wirksame Waffe gegen politische Tendenzen zur Sozialisierung von Produktionsmitteln sein. Keine nationale Regierung sollte aber die rechtliche Befugnis und politische Legiti- mation besitzen, um die einmal in Gang gesetzte Deregulierung in der Poli- tik sowie die Liberalisierung von Märkten rückgängig zu machen. Unter den Vorzeichen der negativen Integration hat eine linke Regierung daher in der Tat keine Chance, eine Alternative zu realisieren, sondern muss „die Spielre- geln“ der kapitalistischen Marktwirtschaft akzeptieren. Diese Lektion wird der griechischen Syriza-Regierung von der Troika bzw. Quadriga mit Hilfe von Hayeks Tochter TINA (There Is No Alternative) eingebläut. Dabei sind die Folgen von Liberalisierung und Deregulierung weitrei- chend. Handelsbeziehungen und Investitionsströme sind in den letzten Jahrzehnten sprunghaft angestiegen; dazu haben auch verringerte Trans- aktionskosten beigetragen. Der intensivierte Wettbewerb hat zur Folge, dass technische Produktnormen angeglichen, rechtliche Regelungen vereinheit- licht, Moden und Stile assimiliert worden sind. Tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse sind auf dem Weltmarkt weitgehend verschwunden. Besonders folgenreich aber sind die Angleichung der Lohnstückkosten in der Produktion und deren Abwärtstrend wegen des Produktivitätsfortschritts und der auf hochintegrierten Märkten verschärften Konkurrenz. Das ist günstig für die Konsumenten, die alle Produkte wegen der gestiegenen Pro- duktivität billiger bekommen können. Als ungünstig erweist es sich für die Lohnabhängigen, weil Jobs wegfallen und Druck auf Löhne und Gehälter ausgeübt werden kann.

Die negative Integration führt in eine Sackgasse

Zunächst sprachen die Daten lange für einen Erfolg des Projekts der nega- tiven Integration. Sie zeigen einen zwar ungleichmäßigen und zyklischen,

8 Vgl. Peter Gowan, Crisis in the Heartland, in: „ New Left Review“, Januar/Februar 2009, S. 5-29. 9 Vgl. F.A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Zürich 1945.

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aber stabilen Aufwärtstrend der Wirtschaftsentwicklung in der EU und spä- ter in der Eurozone bis zum Ausbruch der Krise von 2008. Folglich war in der Vergangenheit das Wirtschaftswachstum die treibende Kraft hinter der wirt- schaftlichen und politischen Integration, indem es die Lebens- und Arbeits- bedingungen der europäischen Bürgerinnen und Bürger verbesserte. Daher werden die 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland als das „Wirtschaftswunder“ und in Frankreich als „les trente glorieuses“ gepriesen. In diesen schönen Jahren bekamen auch Migranten und heute so genannte Wirtschaftsflüchtlinge eine Gloriole. Sie waren „Gastarbeiter“, und der millionste bekam ein Moped als Willkommensgeschenk. Auch wurden in den wilden Jahren des schnellen Wachstums und der europäischen Integration viele Unternehmen in der EU zu Bestandteilen globaler Waren- und Wertschöpfungsketten und gerieten aufgrund der neo- liberalen Deregulierung seit den 1970er Jahren mehr und mehr in Abhän- gigkeit von globalen Finanzmärkten. Seit nun die Wachstumsraten zurück- gehen, hoffen die politischen Eliten in der EU ebenso wie auf der anderen Seite des Atlantiks, in den USA und in Kanada, diesen Rückgang durch wei- tere Marktintegration stoppen zu können. Die ökonomische Integration wird jetzt nicht mehr wegen des hohen wirtschaftlichen Wachstums erleichtert, sondern umgekehrt zu seiner Voraussetzung. Schon erwarten Wirtschafts- forschungsinstitute, aus dem transatlantischen Integrationsprojekt TTIP würden Gewinne von mehreren hundert Milliarden Euro erwachsen. Doch ist das Versprechen eines höheren Wachstums durch transatlantisch und transpazifisch ausgreifende Integration der Wirtschaftsräume ideologisch aufgeladen, und die kolportierten Wachstumsraten und Wohlstandsgewinne sind absurd überschätzt, auch wenn es richtig ist, dass Freihandel Grund- nahrungsmittel wie Getreide verbilligt und die Reproduktionskosten der Arbeitskraft daher senkt, so dass die Profite des Kapitals und kapitalistische Akkumulation und wirtschaftliches Wachstum beflügelt werden. Heute aber gehören viele Hightech-Produkte wie Autos, elektrische Haus- haltsgeräte oder Computer in den Korb der unverzichtbaren Lohnwaren. Daher geht es bei der Marktintegration nicht nur um eine Handels-, sondern auch um eine Investitionspartnerschaft. Bei TTIP werden also nicht nur trans- atlantische Warenketten geschmiedet, sondern auch Industriebetriebe, Roh- stoffförderunternehmen und Finanzinstitute in die Zirkulation des Kapitals eingebunden. Die Entbettung aus Regulationsräumen erfolgt jetzt nicht nur auf Märkten für Waren und Dienstleistungen, sondern auch an den unter- schiedlichen Produktionsstätten, an den Standorten im globalen System. Weniger entwickelte Volkswirtschaften können bei einem solchen Integra- tionsprojekt nicht als gleichberechtigte Partner mithalten, da es ihnen dazu an Hightech-Produktionsstätten und diversifizierten Handelsplattformen mangelt. Auch fehlen ihnen häufig qualifizierte Arbeitskräfte ebenso wie Technologie und Infrastruktur, eine effiziente Verwaltung und nicht zuletzt eine diversifizierte Finanzindustrie an der Spitze der Markthierarchie. Es sind also die entwickelten Marktwirtschaften, die die Wettbewerbsvorteile des freien Handels ernten. Die anderen geraten ins Hintertreffen.

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Nicht ohne Grund haben David Ricardo und John M. Keynes in ihren öko- nomischen Schriften immer für eine Liberalisierung des Handels von Waren und Dienstleistungen, aber gegen die Liberalisierung der Finanzmärkte argumentiert. Die Hierarchie der freien Märkte hat nämlich zur Folge, dass bei der Liberalisierung der Finanzmärkte Anpassungen auf den Güter- und Arbeitsmärkten erzwungen werden, die schwere gesellschaftliche Verwer- fungen mit sich bringen können. Das liegt am schon vermerkten Doppelcha- rakter ökonomischer Prozesse: Finanzielle Transaktionen haben soziale und ökologische Konsequenzen. Die Handelspartner befinden sich also in einer ungleichen und asymmetrischen Situation. Denn während Finanzmärkte global sind und ihre Regeln globale Reich- weite haben, müssen deren Bedingungen vor Ort erfüllt werden. Das ist der Kern der sogenannten finanziellen Konditionalität. Sie wurde in den 1980er Jahren während der Schuldenkrise der „Dritten Welt“ von den Bretton-Woods- Institutionen – der US-Regierung, den großen Banken, Rating-Agenturen und Beratungsfirmen mit Sitz in Washington D.C. – als „Konsens von Washing- ton“ formuliert. Die nationale Souveränität wird durch die darin vorgesehe- nen Maßnahmenpakete untergraben, und die wirtschaftliche Entwicklung wird blockiert. Kreditbeziehungen spalten die Welt, weil sie unterschiedliche Konsequenzen für Schuldner und Gläubiger haben. Wenn beispielsweise die monetären Forderungen der Gläubiger Geldvermögen sind, das verbrieft und dann auf globalen Finanzmärkten in Form von Wertpapieren gehandelt wer- den kann, werden Schulden zu lästigen Verpflichtungen, die immer wieder die Zahlungsfähigkeit von Schuldnern übersteigen. Denn während die For- derungen monetäre Ansprüche sind, muss der Schuldendienst real erarbeitet werden. Schließlich geben sich die Geldvermögensbesitzer nicht mit wertlo- sen, aus dem Nichts erzeugten Papieren zufrieden. Real können die Leistun- gen aber nur vor Ort erbracht werden, aus einem vom Schuldner produzierten Überschuss, der vom Gläubiger angeeignet werden kann. Auf diese Weise mussten in den 1980er Jahren lateinamerikanische Län- der die Schulden, die sie bei global operierenden Finanzinstituten hatten, bedienen. Die damalige Schuldenkrise war vor allem eine lateinamerikani- sche. In den 1990er Jahren wurde die Schuldenkrise asiatisch, dann, wäh- rend der New Economy- und später der Subprime-Krise, US-amerikanisch. In den USA ist es aber mit Hilfe finanzieller Innovationen gelungen, die ame- rikanischen Schuldendienstverpflichtungen aus der Krise ab 2007 zu euro- päisieren. Als in Europa dann wiederum Verbindlichkeiten sozialisiert und Geldvermögen privatisiert wurden, wurden die Schulden griechisch, irisch, portugiesisch, spanisch oder italienisch. Diese Nationalisierung von Schulden und Schuldendienst zwang das ver- einte Europa zu einer politischen Gewichtsverschiebung zugunsten der Nationalstaaten: Sie kommen für den Schuldendienst auf, nicht die EU. Die Finanzkrise hat seither auch den Euro und damit das Rückgrat des europäi- schen Integrationsprojekts erfasst. Das bedeutet: Künftig können Fortschritte bei der europäischen Integration und der Überwindung der Krise nicht mehr auf dem Weg der negativen Integration erreicht werden, sondern nur noch

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mit einem Spurwechsel auf die Bahn der positiven Integration. Der griechi- sche Fall zeigt eindringlich, wie ein souveränes Land mit einer Bevölkerung von etwa elf Millionen Menschen von den europäischen Partnern (von „Brü- dern und Schwestern“) ins Elend gestoßen wird, weil die Hausordnung des „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ Unterstützungszahlungen an über- schuldete Länder, also eine positive Integration nicht vorsieht. Die negative Integration durch Entbettung der Märkte, durch Liberalisierung, Deregulie- rung und Privatisierung mündet in wirtschaftliche Not und soziale Desin- tegration, und sie veranlasst viele Menschen zur Migration – innerhalb der negativ integrierten EU und darüber hinaus. Die Push- und Pull-Faktoren, die für die derzeitige Migrationsbewegung verantwortlich sind, haben einerseits einen ökonomischen Ursprung. Denn die Steigerung der Renditen geht häufig auf Kosten von Löhnen und Sozial- leistungen und bringt in der Regel eine höhere Arbeitsintensität mit sich. Gleichzeitig hat die Steigerung der Arbeitsproduktivität die Freisetzung von Arbeitskräften zur Folge. So werden die Push-Faktoren der Arbeitsmigration verstärkt, sowohl in Europa, als auch in den Nachbarländern – es kommt zu erhöhter Abwanderung in jene Länder und Regionen, in denen die Lebens- und Arbeitsbedingungen vergleichsweise günstig sind. Doch bestimmen, wie man weiß, nicht nur Einkommen, Beschäftigung und weitere wirtschaftliche Faktoren Ausmaß und Richtung der Migration, sondern mindestens ebenso die Gefährdung oder der Verlust menschlicher Sicherheit: der sicheren Unterkunft, der politischen Stabilität und öffent- lichen Sicherheit sowie der sicheren Naturverhältnisse einschließlich der Sicherheit vor den Folgen des Klimawandels, der Ernährungssicherheit, des Zugangs zu Land und zu grundlegenden öffentlichen Gütern und Dienstleis- tungen. Ganz entscheidend für die menschliche Sicherheit ist die Abwesen- heit von Krieg, selbst wenn das nicht immer schon Frieden bedeuten mag. In all diesen Belangen befindet sich die EU derzeit in einer weit besseren Lage als ihre Nachbarregionen. Daher ist im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahr- hunderts eine starke Pull-Spannung zwischen der EU und den Ländern des Balkans, der Levante, Nordafrikas oder des Nahen Ostens entstanden. Eine wachsende Zahl von Menschen wird von der EU angezogen und strandet als Flüchtlinge an ihren Außengrenzen. Dort können sie von einer „Willkom- menskultur“ nur träumen. Einige Mitgliedsländer der EU haben die Situation durch politische und militärische Interventionen verschärft, indem sie einen Regimewechsel in Ländern wie dem Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien erreichen wollen. Als Global Player mischen sie sich in nationalstaatliche Auseinandersetzungen ein, ohne Rücksicht auf lokale wirtschaftliche oder politische Bedingungen und die Lebensverhältnisse der Menschen „vor Ort“. Die nachfolgende poli- tische Instabilität löst weitere Wellen der Gewalt und daher der Migration aus. Millionen von Kriegsflüchtlingen sind nach Europa vertrieben worden. Im europäischen Mainstreamdiskurs jedoch werden die Bürgerkriege im Nahen Osten und in Nordafrika vor allem als Folge von Fanatismus, Korrup- tion und wirtschaftlichen Versäumnissen der dortigen Regierungen wahr-

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genommen. Europas Regierungen lehnen daher selbstbewusst und selbstge- fällig Verantwortung für Auswanderung und Flucht in die EU ab. Auch das Regelwerk globaler entbetteter Märkte und der negativen neoliberalen Inte- gration ohne „soziales Beiwerk“ taucht in der europäischen Debatte kaum als Ursache für Fluchtbewegungen auf.

Der blinde Fleck oder: Ein anderer Umgang mit Grenzen ist möglich

Dazu tritt ein weiterer blinder Fleck in der allgemeinen Wahrnehmung: Die legitimen Fluchtgründe werden zu eng gefasst. Künftig werden der Klima- wandel, die nukleare Kontamination ganzer Landstriche und andere Umwelt- schäden zu den wichtigsten Fluchtursachen gehören. Schon jetzt haben viele Flüchtlinge sich aus ökologischen und wirtschaftlichen Gründen auf den Weg an die europäischen Küsten gemacht. Doch für diese Ursachen ist die Gen- fer Flüchtlingskonvention nicht zuständig. Diese definiert einen Flüchtling als Person, die aus „begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Reli- gion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Meinung“ gezwungen ist, ihr Land zu verlassen. Hier wird erneut die Hierarchie der Märkte deutlich. Globalisierte Märkte für Waren, Kapital und Dienstleistungen sind grenzenlos und frei und auch Investitionen werden mit Projekten wie TTIP und TPP noch weiter liberalisiert, während die Migration von Menschen reglementiert und mit Grenzzäunen eingedämmt wird. Die Freiheit gilt für das Kapital, nicht aber für die Menschen als Träger der Ware Arbeitskraft. Vorstellungen einer angeblich homogenen ethnischen Nation sowie koloniales und rassistisches Denken rechtfertigen die Grenzlinien, die inzwischen wieder innerhalb der EU aktiviert werden, und zwischen Europa und dem Außen, das geographisch entlang der südli- chen Mittelmeerküsten beginnt und sich geistig in den Köpfen der Menschen festsetzt. All dies findet seinen politischen Ausdruck in den jüngsten Ände- rungen der europäischen Asylpolitik, in der polizeilichen und militärischen Verteidigung der europäischen Grenzen, im Wachstum der rechten, neona- tionalistischen Bewegungen überall in der EU. Im dominanten politischen Diskurs gilt als das größte Problem nicht die humanitäre Katastrophe vor der Haustür der EU, sondern die „ungleiche Belastung“ ihrer Mitgliedsländer mit den Kosten der Migration. Europäer vergessen dabei die Lage in den Ländern der Levante oder Nordafrikas. Derzeit leben 3,5 Millionen Flüchtlinge in der Türkei, in Jordanien und dem Libanon; im Vergleich dazu hat die EU 2015 nur eine relativ geringe Zahl von Menschen aufgenommen. Auch wird verdrängt, dass viele Europäer, die heute stacheldrahtbewehrte Grenzen gegen Men- schen in Not ziehen, noch vor wenigen Jahrzehnten selbst Flüchtlinge waren. Diese hatten, so die Legende, edle Beweggründe, beispielsweise als antikom- munistische Freiheitskämpfer. Heute hingegen seien die Flüchtlinge zumeist „Wirtschaftsflüchtlinge“, die „das Grundrecht auf Asyl missbrauchen“. Dieser Argumentation zufolge hat die EU nichts mit den Fluchtursachen zu tun. Igno- riert wird dabei, dass sehr oft die Arbeitsmarktregulierung die Arbeitsuchen-

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den in illegale oder informelle Tätigkeiten zwingt. Für Arbeitgeber ist das lohnend, für die Beschäftigten haben die rigiden Maßnahmen an den Gren- zen sehr häufig unerträgliche Ausbeutung zur Folge. Hier zeigt sich, dass die negative Integration entbetteter Märkte in der Welt von Ware und Geld zu gesteigerten Profiten führen mag, auf dem Arbeitsmarkt aber Migrationsten- denzen auslöst, die verheerende Folgen haben – für die Gesellschaft ebenso wie für die einzelnen Betroffenen. Diese Realitäten sind bitter, zumal auf einem Kontinent, der einst unmit- telbar nach 1989 liebevoll „das gemeinsame Haus Europa“ genannt wor- den ist. Heute soll dieses Haus nach dem Willen vieler Europäer nicht jenen Flüchtlingen offenstehen, die Heim und Hof verlassen müssen. Es dominiert die nationalstaatliche und ethnische Borniertheit, die sich im Wunsch nach Abschottung spiegelt. Trotzdem beschwören konservative Politiker unver- drossen und geradezu verbissen die „europäische Wertegemeinschaft“, die selbst angesichts der toten Kinder in Kühllastwagen an österreichischen und bulgarischen Straßenrändern unverwüstlich intakt bleibt. Der kategorische Imperativ Immanuel Kants fordert von den Bürgern auf der „begrenzten Oberfläche“ des Planeten Erde gemeinsame Regeln, die ein friedliches und würdevolles Zusammenleben der Menschen aller Nationen, Religionen oder Ethnien erlauben. Die Welt Kants mit universaler „Hospitali- tät“ und freien Möglichkeiten der Bewegung zur Aus- und Einwanderung ist heute eine Utopie, bestenfalls eine „konkrete Utopie“ im Sinne Ernst Blochs, weil ihre Verwirklichung bei entsprechenden politischen Anstrengungen immerhin möglich ist. Wenn die Entwicklung aber den Ideologen der entbet- teten Märkte überlassen wird, folgt unweigerlich eine TINA-Situation, in der es keine Alternative zu geben scheint. Das jedoch ist ein folgenschwerer Irrtum. Denn die Menschheit bzw. die internationale Staatengemeinschaft muss nicht nur die Krise bewältigen, die durch Menschen auf der Flucht ausgelöst worden ist. Auch die Entropie mi- griert: Toxische Abfälle werden in den Ozeanen verklappt, die auch die Plas- tikabfälle der zivilisierten Welt aufnehmen und zu kleinen Partikeln zermah- len, die sich dann überall in der Welt wiederfinden lassen. Die wohlgeord- neten, weil konzentrierten Lager von mineralischen Rohstoffen oder fossilen Energieträgern werden geplündert und die Abfälle werden in den Erdsphären

unordentlich zerstreut. Das gilt auch für das CO2, das einst in Gestalt hoch- energetischen Erdöls existierte und nach den kontrollierten Explosionen im Motor und der Umsetzung in Arbeitsenergie, mit der das Fahrzeug bewegt

wird, als CO2-Partikel in die Erdatmosphäre emittiert wird. Das ist Entropie- migration, die Menschen wegen ihrer Wirkung auf das Klima zur Flucht trei- ben kann. Daher besteht auf lange Sicht tatsächlich keine Alternative (TINA) zur Transformation des Energiesystems und der kapitalistischen Art und Weise des Wirtschaftens. Dann können die negativen Konsequenzen der neo- pangäischen Integration überwunden werden. Vielleicht bietet die Alterna- tive zur negativen Integration entbetteter Märkte, zur Migration von Entropie und erzwungener Flucht, die im neoliberalen Denken ausgeschlossen ist, die einzige Chance zur Überwindung der Krisen unserer Zeit.

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Blätter_201601.indb 94 09.12.15 11:02 Streben nach Hoffnung Das Narrativ der Flucht und die Ideologie des Nationalstaats

Von Arjun Appadurai

luchtzwänge können aus Umwelt-, Wirtschafts- oder Bürgerkriegstrau- F mata erwachsen. Das Resultat sind in jedem Fall traumatisierte Flücht- linge. Mit ihren Ansprüchen an die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaf- ten, in denen sie landen, geraten die Flüchtlinge stets in eine Grauzone zwischen Gastfreundschaft, Asyl und Freiheitsentzug. Verantwortlich dafür ist die kategoriale Unbestimmtheit ihres Status, in dem sich Charakteristika des Fremden, des Opfers, des Kriminellen und eines Reisenden ohne Aus- weispapiere vermischen. Das Trauma des zur Flucht Gezwungenen rührt zugleich an die tiefsten Ängste des modernen Nationalstaats. Er verlässt sich auf Grenzen, Volks- zählungen, Steuern und administrative Erfassung. So erleben Flüchtlinge in ihrem neuen Land neue Traumata, die darum kreisen, dass er oder sie zwar einen Plot, eine Geschichte, hat, die Persönlichkeit, Identität oder der Name des Neuankömmlings jedoch unbekannt sind. Wenn wir eine neue Form rechtlicher und moralischer Gastlichkeit entwickeln wollen, stehen wir vor dem Problem, einen zur Geschichte passenden Namen, eine zum Narrativ passende Identität finden zu müssen. Das Problem des modernen Nationalstaats wiederum besteht darin, dass seine Kernnarrative in Sachen Identität auf vorgegebene Ausgangspunkte festgelegt sind: Blut, Sprache, Religion und Territorium. Demgegenüber entspringen die Fluchtzwänge in der Regel originären Traumata der Bluts-, Sprach-, Religions- oder territorialen Zugehörigkeit. Das aber wirft die Frage auf, wie in modernen Nationalstaaten ein neues Verhältnis zwischen Plot und Persönlichkeit aussähe. Inmitten einer durch Fluchtbewegungen geprägten Welt fehlt es den Staaten an einer ethischen Fundierung, mit der sie die trau- matischen Entwurzelungs- und Fluchterfahrungen einige ihrer Bürgerinnen und Bürger als Dreh- und Angelpunkt ernsthafter Identitätsbestimmung ausmachen könnten. Seit dem berühmten Westfälischen Frieden von 1648 begründet haupt- sächlich das Prinzip der territorialen Souveränität den Nationalstaat. Zwar

* Der Autor bedankt sich beim Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) für die Möglichkeit, am 4.11.2015 die erste „Berlin Lecture“ gehalten zu haben, auf der dieser Text basiert.

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beeinflussen auch zahlreiche andere Ideen sein kulturelles Selbstbild, sein Eigennarrativ: solche, die die Sprache betreffen, gemeinschaftliche Her- kunft, Blut, Boden und verschiedene andere Ethnosbestimmungen. Doch bei alledem bleibt die entscheidende politische und juridische Ratio des natio- nalstaatlichen Systems die territoriale Souveränität, gleichgültig wie diese unter post-imperialen Bedingungen begrifflich differenziert und in ihrer Handhabung verfeinert sein mag. Überall in der Welt wachsen die Probleme, die mit der Immigration, den kulturellen Rechten der Flüchtlinge und ihrem staatlichen Schutz zusam- menhängen. Sie nehmen auch deshalb zu, weil nur sehr wenige Staaten sorgfältig mit der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Bürgerschaft, Abstammung, ethnischer Zugehörigkeit und nationaler Identität umgehen. Nirgendwo tritt diese Krise gegenwärtig deutlicher in Erscheinung als in Europa. Hier droht das Ringen um die Kontrolle des verstärkten Migranten- zustroms aus dem Mittleren Osten und Nordafrika die europäischen Vorstel- lungen von Staatsbürgerschaft, Asyl und Flucht von Grund auf zu erschüt- tern. Zugleich legt sie den Ausschlusscharakter des europäischen Denkens über kulturelle Kriterien nationaler Zugehörigkeit bloß. Aber auch in vielen anderen Ländern der Welt gibt es Probleme unter- schiedlichster Art mit Einwanderern, Themen wie Rasse, Abstammung und Aufenthaltsberechtigung. Man denke etwa an Mexikaner in den Vereinigten Staaten, an die Rohingya-Muslime in Bangladesch, in Myanmar und ande- ren südostasiatischen Ländern oder an die Migranten, die es aus ganz Afrika in die südafrikanische Republik zieht. Die Probleme gehen auf moderne Bürgerschaftsvorstellungen im Kontext unterschiedlicher Varianten des demokratischen Universalismus zurück, die dazu neigen, die Existenz einer homogenen Bevölkerung mit standardisierten Rechten zu unterstellen. Die Realitäten des ethnoterritorialen Denkens hingegen, das die kulturel- len Ideologien des Nationalstaats prägt, erfordern es, zwischen unterschied- lichen Kategorien von Bürgern zu unterscheiden, auch wenn sie alle dasselbe Territorium bewohnen. Das Ringen um eine Auflösung des Konflikts zwi- schen diesen einander widersprechenden Prinzipien nimmt unausweichlich rüde, ja gewaltsame Formen an.

Das Kernproblem der Territorialität

Als Kernproblem der gegenwärtigen Krise des Nationalstaats kann daher die Territorialität gelten oder genauer gesagt: die Krise im Verhältnis zwi- schen Nation und Staat. Insofern die Nationalstaatsideologien die Vorstel- lung ethnischer Kohärenz als Grundlage staatlicher Souveränität vorausset- zen, müssen sie zwangsläufig jene, die als ethnisch minderwertig betrachtet werden, minorisieren, abwerten, benachteiligen oder ausstoßen. Wenn sol- che Minderheiten – sei es als Gastarbeiter, Flüchtlinge oder Fremde ohne Aufenthaltserlaubnis – in bestehende Gemeinwesen aufgenommen werden möchten, bedürfen sie der Reterritorialisierung innerhalb einer für sie neuen

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bürgerschaftlichen Ordnung. Damit aber stören sie zwangsläufig deren Ideo- logie ethnisch begründeter Kohärenz und Bürgerrechte. Schließlich hängen alle modernen Rechtslehren letztlich von jener ge- schlossenen Gruppe der Berechtigten ab, die Schutz und Fürsorge des jewei- ligen Staates genießen. Die Folge besteht unausweichlich in der Hierarchi- sierung der Bürgerrechte, in der Behandlung als Bürger zweiter und dritter Klasse – gleichgültig wie pluralistisch die ethnische Ideologie eines Staates und wie flexibel sein Umgang mit Flüchtlingen und anderen Ankömmlingen ohne einwandfreie Papiere sein mögen. Die Problemlage, vor der wir jetzt stehen, entsteht aber erst durch die glo- bale Dimension, in der Ökonomie, Beschäftigung und Technologien heute organisiert werden. Sie erzeugt neue, dramatische Schub- und Sogwirkun- gen – pushes und pulls – die Einzelne und ganze Gruppen entwurzeln und in neue nationale Milieus versetzen. Diese Individuen und Gruppen müssen in irgendeinem Vokabular über Rechte und Ansprüche verortet werden – so eingeschränkt und unfreundlich dieses auch sein mag. Damit stellen sie jedoch für den ethnischen und moralischen Zusammenhalt all jener Aufnah- meländer eine Bedrohung dar, die auf der Annahme eines sowohl singulären als auch unveränderlichen Ethnos basieren.

Migration und die Krise des Nationalstaats

Unter diesen Umständen sieht der Staat als Pushfaktor in ethnischen Diaspo- ren sich ständig genötigt, die Auslöser ethnischer Unruhe abzuschieben, die seine Integrität als ethnisch singuläres Territorium gefährden oder verlet- zen. Gleichzeitig ist jeder moderne Nationalstaat veranlasst oder regelrecht gezwungen, Zuwanderern in großer Zahl und Vielfalt den Zugang zu seinem Territorium zu gewähren. Diese fordern ihrerseits die Einlösung einer Reihe von territorial mehrdeutigen Ansprüchen auf soziale und staatsbürgerliche Rechte und Ressourcen. Genau hier hat die Krise des Nationalstaats ihren Kern. Auf den ers- ten Blick sieht es so aus, als erwachse diese aus der ethnischen Pluralität, welche die Migration in der heutigen Welt unvermeidlich hervorruft. Doch schaut man näher hin, zeigt sich, dass das Problem nicht in ethnischem oder kulturellem Pluralismus als solchem besteht. Vielmehr wohnt dem Projekt des modernen Nationalstaats ein Spannungsverhältnis zwischen diaspo- rischem Pluralismus und territorialer Stabilität inne. Ethnische Pluralität verletzt – insbesondere, wenn sie das Ergebnis unverhoffter Bevölkerungs- bewegungen ist – das Gefühl der Isomorphie von Territorium und nationa- ler Identität, auf das der moderne Nationalstaat baut. Diese diasporischen Pluralismen offenbaren und vertiefen die Kluft zwischen den Fähigkeiten des Staates, Grenzen zu sichern, inneren Dissens unter Kontrolle zu halten sowie Berechtigungen zu vergeben und der Fiktion ethnischer Singularität, von der alle Nationen letztlich ausgehen. Anders gesagt: Es fällt zunehmend schwerer, die territoriale Integrität, die Staaten legitimiert, und die Nationen

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begründende ethnische Singularität noch schlichtweg als zwei Seiten einer Medaille aufzufassen.

Migration, Erinnerung und Medien

In meinem Buch „Modernity at Large“1 vertrete ich die These, dass im Zeit- alter der Globalisierung die Zirkulation medialer Bilder – ebenso wie die Flucht- oder Migrationsbewegungen – neue Brüche zwischen Aufenthalts- ort, Vorstellungswelt und Identität erzeugt. Konkret behaupte ich, dass welt- weit besonders in durch mediale Sättigung und Einwanderung geprägten Gebieten „bewegliche Bilder auf ein mobiles Publikum stoßen“. Dadurch wird die Stabilität vieler Sender-Empfänger-Modelle der Massenkommuni- kation erschüttert. Das wirkt sich in vielfältiger Weise auf die von mir seiner- zeit so genannte „Arbeit der Imagination“ aus; allerdings unterstreiche ich die neuen Möglichkeiten, die sich der Ausbreitung imaginierter Welten und Selbstbilder eröffnen. Es ist ja nicht so, als ob Einwanderer, besonders die ärmeren, in einer Welt der freien Märkte, der Konsumparadiese oder sozialer Befreiung unbe- schwert leben könnten. Sie mühen sich vielmehr damit ab, aus den Möglich- keiten das Beste zu machen, welche die neuen Bezüge zwischen Migration und massenmedialer Kommunikation ihnen eröffnen. Die Migranten unserer Tage verlassen – wie alle Migranten der Menschheitsgeschichte – ihre Hei- mat, um furchtbaren Lebensumständen zu entfliehen und um besser leben zu können. Neu ist lediglich, dass angesichts der weltweiten Präsenz elektroni- scher Medien das Archiv der Lebensentwürfe für gewöhnliche Leute reicher bestückt und besser zugänglich ist als je zuvor. Es gibt also einen umfangrei- cheren Bestand an Vorstellungen, die ganz normale Menschen nutzen kön- nen, um eigene Entwürfe möglicher Welten und eigene imaginäre Selbst- bilder zu entwerfen. Das bedeutet keineswegs, dass Gesellschaftsprojekte, die daraus hervorgehen, immer befreiend oder auch nur angenehm wirkten. Es handelt sich jedoch um die Einübung der „capacity to aspire“, wie ich die Fähigkeit, bessere Lebensverhältnisse zu erstreben, einmal genannt habe. Es kommt immer wieder vor, dass muslimische Migranten aus Nordafrika, Syrien, der Türkei und dem Irak ertrinken, wenn sie in irgendwelchen Boo- ten illegal das Mittelmeer überqueren und schwimmend die italienische, griechische oder spanische Küste zu erreichen versuchen. Ebenso ergeht es manchen ihrer Leidensgefährten in den Gewässern vor Florida, und wieder andere sterben in den Containern, in denen sie den Ärmelkanal zu über- queren versuchen. Und es stimmt, dass junge Frauen aus den vormals sozia- listischen Ländern oft als Sexarbeiterinnen in den Grenzzonen zwischen dem alten und dem neuen Europa landen, ausgebeutet und misshandelt wie philippinische Hausmädchen in Mailand oder in Kuwait und südasiatische Arbeitskräfte – Männer wie Frauen – in Dubai, Saudi-Arabien und Bahrain.

1 Vgl. Arjun Appadurai, Modernity at Large: Cultural Dimensions in Globalization, Minneapolis 1996.

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Derartige Beispiele der Misshandlung von Migranten gibt es zahlreiche: die Ärmeren unter den Migranten enden heute nur zu oft als „Illegale“, Objekte rassistischer Gesetze und Gefühle, und nicht selten werden sie vielerorts zwi- schen – sagen wir – Ruanda und Indonesien zu Zielen ethnozidaler Gewalt. Aber ist diese Leidensgeschichte die ganze Wahrheit? Erklärt sie uns alles, was wir über die Hintergründe der Fluchtpläne wissen müssen? Welche Mühen es kostete, die erforderlichen Mittel aufzubringen? Wie notleidende Menschen sie sich buchstäblich vom Munde absparten? Welchen Wandel das Verhältnis zwischen Männern und Frauen unter Migrationsbedingungen häufig durchmacht? Welche Türen sich Migrantenkindern öffnen? Und nicht zuletzt: wie wertvoll die Erfahrung des Ringens um die Eröffnung neuer Lebenschancen, selbst unter schwierigsten Bedingungen, sein kann? Die eigenen Vorstellungskräfte zu mobilisieren, ist besonderes für die Ärmeren unter den Migranten entscheidend wichtig, wenn es um die „capa- city to aspire“ geht. Gewiss, diese Aspiration kann auf Abwege führen – in Schändung, Ausbeutung, ja mit dem Tode enden (denn Migration ist stets auch Wagnis). Aber ohne sie werden arme Migranten immer Gefangene blei- ben: den Wünschen der Avantgarde unterworfen, Häftlinge ihrer heimischen Despotien und Opfer der selbsterfüllenden Prophezeiungen jener Edelrevo- lutionäre, die stets schon im voraus wissen, was gut für die Armen ist, wie diese sich verhalten und welche Risiken sie äußerstenfalls eingehen sollten. Und deshalb bestehe ich darauf, dass es nicht ein Privileg von Eliten, Intel- lektuellen oder kosmopolitischen Geistern ist, sich ihrer Einbildungskraft zu bedienen. Auch die Armen nehmen dieses Recht in Anspruch – nicht zuletzt, indem sie weltweit ihre Migrationsmöglichkeiten nutzen, ob es sie nun in die Nähe oder in die Ferne zieht. Solch proletarische Projekte der Phantasie und der Hoffnung zu berauben und sie auf bloße Reflexe des Arbeitsmarkts oder irgendeine andere Institutionenlogik zu reduzieren, nimmt den Armen sogar noch das allgemeinmenschliche Privileg, Risiken einzugehen. Dies aber ist das genaue Gegenteil dessen, was Charles Taylor die „Politik der Anerken- nung“ nennt.

Die lebenden Archive

Was lässt sich unter diesem Blickwinkel über den Ort sagen, den Archive, Narrative und Erinnerung bei der Herausbildung migrantischer Identi- tät einnehmen? Hier erweist sich die Vorstellung vom lebenden Archiv als besonders nützlich. Migranten haben ein gemischtes Verhältnis zu Erinnerungspraktiken und demzufolge – aus mehreren Gründen – zur Anlage von Archiven. Ers- tens unterliegen, weil Erinnerungen vielen Migranten über alles gehen, die Erinnerungsweisen, die das kollektive Gedächtnis bilden, besonders stark der Vereinfachung und kulturellem Streit. Erinnern – das bedeutet für Mig- ranten fast immer: Erinnerung an Verlorenes. Doch da die meisten Migran- ten aus den Orten des amtlich anerkannten, nationalen Erinnerns in ihrer

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ursprünglichen Heimat vertrieben wurden, sorgen sie sich um den Status des Verlorenen. Schließlich müssen die Erinnerung an Abschied, Flucht- wege und Ankunft, die Erinnerung an das eigene Leben und das der eigenen Familie am alten Ort sowie das offizielle Geschichtsbild der Nation, die ver- lassen wurde, an einem neuen Ort neu zusammengesetzt werden. Migration geht tendenziell mit einer gewissen Verwirrung darüber ein- her, worin genau der Verlust besteht, was zurückgewonnen oder erinnert werden muss. Diese Verwirrung führt zu der – oft ganz bewusst unternom- menen – Anstrengung, eine Mehrzahl von Archiven anzulegen. Sie reichen von höchst Persönlichem und Intimem – wie etwa der Erinnerung an vergan- gene Stadien der eigenen Leiblichkeit – bis zu durch und durch Öffentlichem und Kollektivem. Letztere nehmen gewöhnlich die Form gemeinschaftlicher Narrative und Praktiken an. Medien spielen bei der Anlage des migrantischen Archivs eine Schlüssel- rolle. Denn Zirkulation, Instabilität sowie Brüche wecken „unterwegs“ und in der Fluchterinnerung stets Zweifel an der „zufälligen“ Spur, die manch- mal zur Entstehung von Archiven führen soll. In ihrem Bestreben, Ressour- cen für die Anlage von Archiven aufzutreiben, suchen Migranten deshalb oft die Medien nach Bildern, Narrativen, Modellen und Skripten der eige- nen Lebensgeschichte ab – eben auch deshalb, weil die Diasporageschichte immer als eine der Brüche und Lücken aufgefasst wird. Es handelt sich dabei keineswegs um bloßen Konsum. Im Internetzeit- alter haben gebildete Migranten begonnen, soziale Medien, Chatrooms und andere interaktive Räume zu erkunden. Dort lesen sie ihre eigenen Erinnerungsspuren und Geschichten auf, erörtern und verdichten diese zu einem allgemeinverständlichen Narrativ. Dieses Bemühen, bei dem es nie ohne Debatte und Streit abgeht, nimmt gelegentlich Formen an, die Bene- dict Anderson abschätzig als „long-distance-nationalism“ bezeichnet hat. Allerdings ist „Langstrecken-Nationalismus“ eine vielschichtige Angele- genheit, in der gewöhnlich mannigfaltige Politikformen und Interessen zum Ausdruck kommen. In einer Epoche, in der elektronische Medien die Print- medien und ältere Kommunikationsformen zu ergänzen und sogar zu erset- zen beginnen, sind imaginierte Gemeinschaften für Migranten mitunter viel realer als natürliche.

Diaspora-Öffentlichkeit: Das alte und das neue Erinnern

Interaktive Medien spielen also eine besondere Rolle bei der Schaffung des- sen, was wir als Diaspora-Öffentlichkeit bezeichnen können.2 Sie eröffnen nämlich neue Möglichkeiten, imaginierte Gemeinschaften zu schaffen. Den Akt gemeinsamer Lektüre hat Anderson im Hinblick auf die Rolle von Zeitungen und Romanen in den Nationalbewegungen der kolonialen Welt

2 Diesen Terminus habe ich in meinem Buch „Modernity at Large“ in der Absicht eingeführt, die Erkenntnisse von Habermas, Anderson und anderen über nationale Öffentlichkeiten auf die Dias- pora-Öffentlichkeit auszuweiten.

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brillant herausgearbeitet. Er wird nun durch neue Technologien und Techni- ken bereichert – Internet, Facebook, Twitter, Google. So entsteht eine Welt, in der die Simultanität des Lesens durch die Interaktivität des Datentrans- fers, Suchens und Postens ergänzt wird. Was wir als das diasporische oder migrantische Archiv bezeichnen können, zeichnet sich also über das bloße Lesen, Rezipieren und Interpellieren hinaus zunehmend durch die Präsenz von Mitsprache (voice) und Tätigkeit (agency) und Debatte (debate) aus. Allerdings steht das migrantische Archiv auf andere Weise unter Druck: Es muss sich dazu verhalten, dass in der neuen Heimat des Migranten ein anderes Narrativ das öffentliche Erinnern bestimmt. Der Migrant erscheint dort häufig als ein Mensch, der nur eine einzige Geschichte vorzubringen hat – die Geschichte äußersten Verlusts und extremer Bedürftigkeit. In der neuen Gesellschaft, in der er oder sie lebt, gilt es, mit der minoritären Präsenz des migrantischen Archivs, der verstörenden Ferne seiner Bezüge und der Dürftigkeit seiner Ansprüche gegenüber den offiziellen „Erinnerungsorten“ der neuen Umgebung zurechtzukommen. Aus diesem Grund ist der Raum des elektronischen Archivs für Migranten doppelt wertvoll, weil sich in ihm zum einen die Schmach teilweise kompensieren lässt, in der neuen Gesell- schaft als irrelevant oder gar verächtlich zu gelten; zum anderen kann das migrantische Archiv in seiner Verletzlichkeit durch die relative Sicherheit des Cyberspace geschützt werden. Darüber hinaus ermöglichen es sowohl die neuen elektronischen als auch die traditionellen Medien, in migrantischen Communities neuartige Debatten zwischen dem Erinnern der alten Heimat und den Anforderungen öffentlicher Narrative in der neuen Konstellation zu führen. In vielen sol- cher Gemeinschaften geben Migrantenzeitungen den Auseinandersetzun- gen zwischen Micro-Communities, zwischen den Generationen und zwi- schen unterschiedlichen Nationalismen bewusst Raum. In dieser Hinsicht ist das migrantische Archiv hochgradig aktiv und interaktiv – ist es doch der maßgebliche Aushandlungsort des kollektiven Erinnerns und kollektiver Sehnsüchte. Als wichtigste Ressource, die es Migranten erlaubt, die Kriterien ihrer eigenen Identität und Identitätsbildung jenseits der Zwänge ihrer neuen Hei- mat selbst zu bestimmen, gilt für das diasporische Archiv verstärkt, was für alle derartigen Archive gilt: Es ist ein Ort, an dem sich bestimmen lässt, wel- che Bedeutung dem Erinnern im Verhältnis zu den Anforderungen kulturel- ler Reproduktion zukommt. Da es außerhalb der offiziellen Sphären sowohl der Ursprungs- wie der neuen Gesellschaft existiert, kann das migrantische Archiv sich die Illusion nicht leisten, Spuren fänden sich zufällig, Dokumente kämen von selbst zum Vorschein und Archive seien geeignet, das Glück materiellen Überlebens zu speichern. Eher funktioniert diese Art Archiv als fortwährende und bewusste Anstrengung der Einbildungskraft, im kollekti- ven Erinnern eine ethische Grundlage zur nachhaltigen Reproduktion kul- tureller Identitäten in der neuen Gesellschaft zu finden. Für Migranten stellt ihr Archiv, mehr als für andere Menschen, so etwas wie eine Landkarte dar. Es dient als Wegweiser durch die Ungewissheiten

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einer Identitätsbildung unter widrigen Umständen. Das Archiv dient der Erkundung, welche Erinnerungen zählen, nicht aber der Unterbringung sol- cher, deren Relevanz vorab feststeht. Dieses lebende, aspirationsfördernde Archiv könnte tatsächlich befähigen, den Aufgaben von Narratibilität – von Erzählbarkeit einer Lebensgeschichte – und Identitätsbildung in der heuti- gen Zeit gerecht zu werden.

Narrative ohne Identitäten

Das Bürgerrecht moderner Nationalstaaten wie etwa Deutschlands basiert auf der festen Verknüpfung von Plot und Persönlichkeit (oder einer Lebens- geschichte und ihrem „Helden“ oder von Narrativ und Identität). Von seinen rechtlichen und administrativen Ursprüngen her erstrebt der moderne Natio- nalstaat, eine territoriale Basis bereitzustellen, auf der sich Plot und Persön- lichkeit in der Beglaubigung legitimer Bürgerschaft verknüpfen. Das stärkste Beispiel dieser Konvergenz bietet die Begründung des Bür- gerschaftsanspruchs. Sie verweist auf die Abstammung von Eltern, die ihrer- seits die Bürgerrechte des betreffenden Staates genießen, und steht für drei- fache Stabilität – territorial, personell und im Hinblick aufs „Blut“. Rechtliche Einbürgerungsverfahren mittels Heirat, Berufstätigkeit oder Investment erzeugen diese Stabilität und die Konvergenz zwischen Plot und Persönlichkeit, indem sie den Status eines Immigranten durch „Naturalisie- rung“ seiner Bindung an das Staatsgebiet verändern – vom Flüchtling oder illegal im Lande Lebenden zum Voll- oder doch Quasibürger. Flüchtlinge, Asylsuchende und fast alle anderen Migranten ohne Personaldokumente haben das Problem, dass ihre – noch so schmerzlichen und dramatischen – Geschichten zwar Personennamen enthalten, nicht aber die Persönlichkeit, die Identität, die den narrativen Erfordernissen rechtmäßiger Einwanderung genügt. Das liegt nicht einfach daran, dass sie plötzlich, auf traumatische Weise und gewaltsam in ihrer neuen nationalen Umgebung – oder in einem Durchgangsland auf dem Weg zu ihrem eigentlichen Wunschzielort – auf- tauchen. Es liegt vielmehr daran, dass sie in den Augen ihrer neuen Gast- geber echte „Nobodies“ – „Niemande“ – sind, weil sie nicht über die Identität verfügen, die zu ihren neuen Lebensumständen passt. Hier besteht die größte Schwierigkeit darin, dass der moderne National- staat Narrativen keinen Raum bietet, die nicht in der Vergangenheit grün- den – Blut, Abstammung, Elternschaft, Sprache usw. – oder der Gegenwart – Arbeit, Heirat, Ausbildung etc. –, sondern in der Zukunft: im Streben nach einer besseren Heimstatt, einem sichereren Leben, einem klareren Horizont. Für Flüchtlinge gibt es keine entsprechenden Narrative, jedenfalls nicht wie für Menschen, die sich als Arbeitssuchende oder aufgrund beruflicher Qua- lifikationen um die Aufnahme bewerben. Flüchtlinge sind heute zuerst ein- mal Bittsteller, die um eine Anwartschaft auf den Bürgerstatus in Ländern wie Deutschland nachsuchen. Ihre Geschichten handeln von Leid, Unterdrü- ckung und Gewalt in ihren Herkunftsländern oder den Lagern, aus denen

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sie sich schließlich aufmachten, um die wechselvolle Reise zu den eigentlich erstrebten Zielen anzutreten. Doch solche Geschichten von Erniedrigung und Bittstellerei lassen sich nicht ohne weiteres in Bewerbungs- und Auf- stiegsnarrative umformen. Hier haben wir die narrative Herausforderung, die Migranten im heuti- gen Europa ebenso zu bewältigen haben wie ihre Gastgeber und die über die polizeilichen, administrativen und rechtlichen Probleme durchaus hin- ausreicht: Wie konzipieren wir in einem Kontext, in dem die meisten gesetz- lichen Regelungen der Staatszugehörigkeit sich an der Vergangenheit (Geburt, Elternschaft und Blut) orientieren, Lebensgeschichten, die auf einer imaginierten künftigen Zugehörigkeit basieren? Wie kann der Zugehörig- keitswunsch (longing) sich in tatsächliche Zugehörigkeit (belonging) ver- wandeln? Wie kann aus Gastfreundschaft gegenüber Fremden die legitima- torische Basis eines Bürgerschaftsnarrativs werden? Wenn wir gründliche und nachhaltige Antworten auf diese Fragen finden wollen, kommen zwei Herangehensweisen in Betracht. Die erste besteht darin, zur Konsolidierung und Vertiefung migrantischer Archive beizutra- gen. Dazu müssen wir sie nicht nur als Erinnerungsdepots, sondern auch als kartographierte Aspirationen behandeln. Dies könnte uns befähigen, das Gemeinsame in ihren und unseren Aspirationen zu erkennen und auf diese Weise einen großzügigeren kulturellen Zugang zu den rechtlichen und administrativen Lösungen zu finden, um die gegenwärtig gestritten wird. Die andere Herangehensweise wäre, Mittel und Wege zu finden, wie sich der Bürgerschaftsstatus auf der Grundlage migrantischer Narrative und Identi- täten sichern lässt. Sie würde allerdings erfordern, das Konzept der Souve- ränität als solches in der heutigen Welt von Grund auf zu überdenken. Eine derart einschüchternde Aufgabe lässt sich hier und heute nicht bewältigen. Ich hoffe aber, die Verhältnisse kenntlich gemacht zu machen, die unweiger- lich dazu zwingen werden, sich ihr zu stellen.

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Blätter_201601.indb 103 09.12.15 11:02 Der grüne Papst und der Irrweg des käuflichen Glücks Von Christoph Fleischmann

s gibt keine Ökologie ohne eine angemessene Anthropologie“.1 So Eschreibt es Papst Franziskus in seiner jüngsten Enzyklika „Laudato si“. Umweltschutz setze eine bestimmte Vorstellung vom Menschen voraus. Man könnte das für eine katholische Grille halten nach dem Motto: Die Kir- che hatte immer schon präzisere Vorstellungen davon, wie die Menschen zu sein haben als davon, wie die außermenschliche Welt sich bewegt; deswegen redet sie von Ersterem, auch wenn es eigentlich um das Zweite geht. Noch böser könnte man vermuten, dass sich hier im Gewand der Umweltsorge die alte Vorstellung vom Menschen als der Krone der Schöpfung ausspricht: Letztlich definiert die Kirche das Problem der Ökologie vom Menschen her. Aber da würde man den Papst dann doch zu einseitig auslegen. Als Hüter einer vormodernen Tradition kennt er noch die Alternativen zu den moder- nen Selbstverständlichkeiten. Tatsächlich hat sich mit dem Beginn der Neu- zeit in Europa die Vorstellung vom Menschen und seiner Beziehung zur Welt fundamental verändert. Und der Papst hat durchaus recht, wenn er glaubt, dass diese Veränderung hoch bedeutsam ist – für unsere Art des Wirtschaf- tens und damit auch für unsere Umwelt. Aber der Reihe nach: Vorderhand scheint der Papst mit seinem Hinweis auf die Anthropologie nur zu meinen, dass Umweltschutz nicht auf Kosten der Entwicklungsländer gehen dürfe. Franziskus verbindet die Sorge um die Natur mit der Frage nach der Gerechtigkeit gegenüber den Armen. Der Lebensstil der wohlhabenden Länder habe längst ein verallgemeinerungs- fähiges Niveau überschritten, erklärt der Papst. „Wir wissen sehr wohl, dass es unmöglich ist, das gegenwärtige Konsumniveau der am meisten entwi- ckelten Länder und der reichsten Gesellschaftsschichten aufrechtzuerhal- ten, wo die Gewohnheit, zu verbrauchen und wegzuwerfen, eine nie dage- wesene Stufe erreicht hat“ (27). Der Papst hat die Zahlen auf seiner Seite: Im Jahr 2009 verbrauchten 18 Pro- zent der Weltbevölkerung ungefähr 80 Prozent der Ressourcen. Was für die Konsumtion gilt, gilt spiegelbildlich auch für die ökologische Last: Wenn alle Menschen auf der Welt gleich viel Kohlendioxid ausstießen, dann liege eine

1 Enzyklika „Laudato si“, Rom 2015, Ziffer 118, siehe unter www.dbk.de. Alle weiteren numerischen Angaben im Text beziehen sich auf die Enzyklika; wie bei päpstlichen Dokumenten üblich wird nicht die Seitenzahl, sondern die Ziffer des Abschnitts genannt.

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vertretbares Maß bei zwei bis drei Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr. Derzeit aber emittieren Deutsche im Schnitt noch rund 11 Tonnen. Damit ist das Ver- sprechen einer nachholenden Entwicklung ad absurdum geführt: Eine Ver- allgemeinerung des westlichen Lebensstils wäre der ökologische Kollaps des Planten. Das ist nicht gerade neu, der Papst nennt aber die ethischen Konsequenzen dieser Situation: Es gebe zwischen dem Norden und dem Süden eine „ökologische Schuld“ (51). Folglich habe auch der Norden bei den Bemühungen, den Klimawandel zu begrenzen und die Ressourcen zu schonen, eine viel größere Last zu tragen, Umweltauflagen dürften nicht zu wirtschaftlichen Nachteilen der Entwicklungsländer führen und – unüber- bietbar deutlich: „Darum ist die Stunde gekommen, in einigen Teilen der Welt eine gewisse Rezession zu akzeptieren und Hilfen zu geben, damit in anderen Teilen ein gesunder Aufschwung stattfinden kann“ (193). Wir müs- sen verzichten, damit die Anderen zulegen können. Entsprechend skeptisch beurteilt der Papst eine rein technische Lösung des Problems, die unter dem Label des nachhaltigen Wachstums verkauft wird: Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger Schonung des Ressourcenverbrauchs. Selbst wenn dies in einem gewissen Maße gelänge, würde es nicht das weltweite Ungleichge- wicht beseitigen, das der Papst vor Augen hat.

Zwei Fortschrittsmodelle

Für Leser in Deutschland muss das durchaus radikal klingen, da eine Position des ethischen Verzichtes, der kalkulierten Rezession, von keiner der relevan- ten politischen Parteien vertreten wird. Nur wenige Protagonisten der Post- wachstumsbewegung trauen sich, dies öffentlich zu vertreten. Interessant ist, dass der Papst auch kaum etwas von Politikern zu erwarten scheint, wohl aber vom „Druck der Bevölkerung“ und den vielen Vereinigungen, die sich für das Gemeinwohl engagierten: „Über Nichtregierungsorganisationen und inter- mediäre Verbände muss die Gesellschaft die Regierungen verpflichten, rigo- rosere Vorschriften, Vorgehensweisen und Kontrollen zu entwickeln“ (179). Diese deutliche Positionierung des Papstes erklärt sich wohl zum größten Teil aus seiner Herkunft aus Argentinien, einem Schwellenland, das schon öfters unter den Vorgaben westlich dominierter Wirtschaftsmodelle zu lei- den hatte. Aus dieser „Süd-Sicht“ ist die weltweite Ungerechtigkeit in der (Ver-)Nutzung der Natur evident. Dafür muss man kein Befreiungstheologe sein, was der Papst auch nicht ist; um das ungerecht zu finden, reichen einige Aristoteles-Kenntnisse. Der Papst aber treibt die Analyse noch weiter, denn er sieht hinter dem global dominanten Entwicklungsmodell und dem, was er für wünschenswert hält, zwei grundsätzlich verschiedene Logiken am Werk, zwei sich ausschlie- ßende Paradigmen: Zum einen, ein „techno-ökonomisches Paradigma“, das auf Gewinnmaximierung und Steigerung des Nutzens des Einzelnen ziele und einer am Gemeinwohl orientierten Idee des Fortschritts. Darum for- dert er, „den Fortschritt neu zu definieren“ (194). Durch den ökonomischen

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Blätter_201601.indb 105 09.12.15 11:02 106 Christoph Fleischmann

Fortschritt vergrößere sich zwar das Konsumangebot und die technischen Errungenschaften; dies gehe aber oftmals auf Kosten des Lebensraumes von Pflanzen, Tieren und Menschen. Der wirtschaftliche Fortschritt bedeute kei- neswegs immer einen Gewinn an Lebensqualität, er habe oftmals die soziale und ökologische Integration von Menschen zerstört: „Es entspricht nicht dem Wesen der Bewohner dieses Planeten, immer mehr von Zement, Asphalt, Glas und Metall erdrückt und dem physischen Kontakt mit der Natur ent- zogen zu leben“ (44).

Der Mensch als Gemeinschaftswesen

Der Papst glaubt, dass das dominante Fortschrittsmodell dem „Wesen des Menschen“ nicht gerecht werde. Hinter den unterschiedlichen Fortschritts- paradigmen liegen somit auch unterschiedliche anthropologische Kon- zepte. Dabei hat der Papst – im Gegensatz zu seinem Vorgänger – ein aus- gesprochen positives Bild vom Menschen: Der Mensch ist in seinen Augen ein Gemeinschaftswesen, geschaffen um zu lieben und sein Potential in der Gemeinschaft mit anderen zu entfalten. Dabei traut Franziskus den Men- schen zu, dass sie ihr Ziel erreichen können, die Fähigkeit zum Guten sei von keiner Macht vollständig korrumpierbar. Die menschliche Autonomie, also seine Fähigkeit, sich selbst Regeln und Ziele zu setzen, wird gewürdigt, aber nur in den Grenzen des Menschengemäßen befürwortet. Das Menschen- gemäße definiert Franziskus gut katholisch als das Gemeinwohl, also „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen“ (156). Wer will, mag da an jene bekannte Definition von Freiheit denken, wonach die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist (Karl Marx). Zum anderen aber weist der Papst – und das hat keine ganz so lange katho- lische Tradition – auf die unveräußerlichen Menschenrechte hin, die jedem Menschen Leben, Glück und eine würdige Behandlung sichern und die sich in entsprechenden sozialen Maßnahmen äußern müssen. Als Beispiele nennt er den Zugang zu sauberem Trinkwasser, das Recht auf Land für die Campesinos in Paraguay oder einen ordentlichen Nahverkehr, der leider „in vielen Städten aufgrund der Menschenmenge, der Unbequemlichkeit oder der geringen Häufigkeit des verfügbaren Nahverkehrs und der Unsicherheit eine unwürdige Behandlung der Passagiere“ darstellt (153). Der Papst wäre jedoch nicht der Papst, wenn er nicht glauben würde, dass zum Ziel der Menschen auch eine glückliche Gottesbeziehung gehört. Und natürlich sieht er in der Natur Gott am Wirken. Franziskus zitiert daher Tho- mas von Aquin: „Die Natur ist nichts anderes als die Vernunft einer gewis- sen Kunst, nämlich der göttlichen, die den Dingen eingeschrieben ist und durch die die Dinge sich auf ein bestimmtes Ziel zubewegen: so, als könne der Schiffsbauer dem Holz gewähren, dass es sich von selbst dahin bewegt, die Form des Schiffes anzunehmen“ (80).

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Das Problem bei diesem Zitat ist nicht, dass eine natürliche Kraft als göttlich definiert wird – wer das nicht glaubt, bleibe bei der Natur(wissenschaft). Das Problem ist vielmehr, dass dieses Bild vom Menschen, der sich kraft eigener Fähigkeiten oder Neigungen auf das Ziel einer beglückenden Gemeinschaft zubewegt, seit der frühen Neuzeit in eine fundamentale Krise geraten ist – und zwar in eine Krise, die bis heute noch nicht wirklich zur Ruhe gekommen ist. Der Philosoph und Historiker Franz Borkenau schrieb zu Beginn der 1930er Jahre, dass die Antinomie zwischen Trieb und Norm im Menschenleben das Kernstück der philosophischen Problematik in der frühen Moderne sei.2 Das heißt: Der Menschen will nicht, was er soll. Seine ihm eingeschriebenen Triebe führen eben nicht zum sozial erwünschten Ergebnis. Dieses fatale Aus- einanderfallen – von Anspruch und Realität – steht am Beginn der Neuzeit.

»Der Mensch denkt immer zuerst an sich«

Bereits in der italienischen Renaissance begann eine Umwertung traditionel- ler christlicher Moralvorstellungen, die man als „Hinwendung zum realen und empirisch beobachtbaren Handeln der Menschen“ beschreiben kann.3 Der nach seinem eigenen Vorteil, nach Selbsterhaltung strebende Mensch wird nicht mehr als selbstbezogener Sünder charakterisiert, das aktive Han- deln zum eigenen Nutzen wird vielmehr zu einem Ideal. Ein Ideal, das zum Ende der Renaissance freilich ein pessimistisches Men- schenbild gebiert: Wenn alle Menschen traditionelle Werte wie Aufrichtig- keit, Dankbarkeit und damit verbundene Treue um des eigenen Nutzens willen hintanstellen, sollte man immer mit dem Schlimmsten rechnen: „Man kann von den Menschen insgemein sagen, dass sie undankbar, wankelmü- tig, falsch, feig in Gefahren und gewinnsüchtig sind“, so Niccolò Machiavelli (1469-1527) in seinem Fürsten-Ratgeber, „solange du ihnen wohltust, sind sie dir ergeben und bieten dir […] Gut und Blut, ihr Leben und das ihrer Kin- der an, wenn die Gefahr fern ist; kommt sie aber näher, so empören sie sich. Der Fürst, der sich ganz auf ihre Worte verlässt und keine andere Zurüstung gemacht hat, geht zugrunde […], denn die Liebe hängt an einem Bande der Dankbarkeit, das, wie die Menschen leider sind, bei jeder Gelegenheit zer- reißt, wo der Eigennutz im Spiel ist.“4 Dieses Menschenbild bekam nun durch die Reformation in Europa eine doppelte Bestätigung: Zum einen führte die Reformation zu Religionskrie- gen, die ein neues Phänomen in der europäischen Geschichte darstellen. Die religiöse Einheit zerbrach. Auf einmal beriefen sich zwei Kriegsparteien auf dieselbe Religion. Es waren nicht mehr Adelige, die mit Söldnern um politi- scher Ziele willen kämpften, sondern Bürger eines Landes, die sich gegen- überstanden und im Anderen die Agenten des Teufels sahen. So formulierte

2 Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Darmstadt 1980, S. XI. 3 Sabrina Ebbersmeyer, Homo Agens. Studien zur Genese und Struktur frühhumanistischer Moral- philosophie, Berlin und New York 2010, S. 281. 4 Niccolo Machiavelli, Der Fürst, Frankfurt a. M. 1990, Kap. 17.

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Blätter_201601.indb 107 09.12.15 11:02 108 Christoph Fleischmann

es ein Zeitgenosse des 16. Jahrhunderts: „Dieser Krieg ist anders als andere Kriege. Er ist nämlich ein Krieg ohne Ende. Jede Partei strebt danach, die andere vollständig zu vernichten. Beide Parteien haben außerdem feierlich gelobt, bis zum letzten Atemzug und letzten Blutstropfen zu kämpfen.“5 Die Religion war damit nicht mehr Förderer der (natürlichen) Tugend, son- dern Anlass zum Krieg. Musste es da nicht grundlegendere Triebe im Men- schen geben als seine (bloß angeblich) vernunftgeleitete Tugendfähigkeit? Fast alle europäischen Philosophen der frühen Neuzeit arbeiteten sich an diesem zentralen Problem des Bürgerkriegs ab, der in den meisten Fällen ein Religionskrieg war. Zum anderen aber bestätigten die Reformatoren das pessimistische Men- schenbild auch in ihren Glaubenslehren: Einer ihrer zentralen Punkte war, dass die menschliche Natur ganz und gar korrumpiert sei, der Mensch nicht mit eigenem Zutun sein Heil erwerben könne, sondern dazu ganz auf die Gnade Gottes angewiesen sei. Nach Franz Borkenau leisten die Reformato- ren „die Übertragung des bei Machiavelli bloß als praktische Maxime vor- handenen moralischen Pessimismus auf das religiöse Gebiet, machen ihn dadurch prinzipiell, vernichten jede theoretische Möglichkeit eines mittel- alterlichen Staatsideals, das auf den Zusammenfall von individuellem Trieb und objektiver Moral beruht, und schaffen dadurch Raum für ein modernes regimentales Staatsideal.“6 Kurzum: Über den sündigen Menschen muss ein starker Herrscher wachen oder wahlweise eine energische Kirche.7 Was aber, wenn eine „regimentale“ Lösung nicht zur Verfügung steht, weil die eigene religiöse Gruppe im Dissens ist mit der Kirchenhierarchie und der Staatsmacht? Ist Gott dann die Welt aus der Hand gefallen, leitet und lenkt er dann nicht mehr die Geschicke der Menschen? Und wer müsste dann an seine Stelle treten?

Marktgesetze als Theodizee

Es ist vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet im Umfeld der Jansenisten in Frankreich die Vorstellungen von einem selbstregulierenden Markt entstan- den sind.8 Die Jansenisten waren als katholische Erneuerungsbewegung in ihrer Anthropologie dem Protestantismus näher als der eigenen Kirche, mit der sie im Streit lagen. Der jansenistische Theologe Pierre Nicole (1625-1695) schrieb in seinen einflussreichen „Essais de morale“ über Liebe und Selbst- liebe. Die Frage, um die es Nicole geht: Wie ist es möglich, dass Menschen, die aufgrund ihrer Selbstliebe im Kampf miteinander sind („eine Menschen- menge voll von Leidenschaften, die der Einigkeit entgegengesetzt sind und dazu neigen, sich gegenseitig zu zerstören“) dennoch ein gutes gemeinsa-

5 Sebastian Castellio, Conseil à la France désolée, Genf 1967, S. 50. 6 Franz Borkenau, a.a.O., S. 104. 7 Nur am Rande sei bemerkt, dass dieses wichtige Themenfeld beim Reformationserinnern zum 500. Jubeljahr 2017 auf keinen Fall fehlen sollte – aber wahrscheinlich weitgehend fehlen wird. 8 Zum Folgenden vgl. die Beiträge von Gilbert Faccarello und A. M.C. Waterman in: Paul Oslington (Hg.), The Oxford Handbook of Christianity and Economics, Oxford 2014, S. 73-112.

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mes Staatswesen bilden können? Seine Antwort ist die „aufgeklärte Selbst- liebe“, die erkennt, dass sie das Eigene am Besten verfolgen kann, wenn sie (auch) dem anderen dient. Ein Beispiel aus dem ökonomischen Bereich erinnert dabei stark an den Metzger von Adam Smith, der uns um seines eigenen Vorteils willen bedient: „Wenn wir durch das Land reisen, finden wir Männer, die bereit sind, denen zu dienen, die vorüberziehen und die fast überall Übernachtungsmöglichkei- ten parat haben. Wir verfügen über ihre Dienste, wie wir wollen. Wir befeh- len und sie gehorchen. [...] Niemals versagen sie uns die Hilfe, die wir von ihnen erbitten. Was wäre bewunderungswürdiger als diese Menschen, wenn sie aus Nächstenliebe handelten. Es ist die Gier, die sie so handeln lässt.“9 Dabei geht es – das sei nochmal unterstrichen – um eine Sozialtheorie in religiöser Absicht: Wie kann eine von Gott garantierte weise Weltordnung angenommen werden angesichts der selbstsüchtigen Triebe der Menschen? Heute gilt der von Nicole beeinflusste Ökonom Pierre Boisguilbert (1646- 1714) als einer der ersten Theoretiker eines sich selbst regulierenden Marktes. „Boisguilbert definiert einen Zustand des optimalen Gleichgewichts als eine Situation, in dem es jedem ökonomischen Agenten erlaubt ist, seine natür- lichen Neigungen frei zu realisieren und zu versuchen so gut er kann, das meiste aus den verschiedenen Situationen herauszuholen.“ Dabei ist jeder Agent mit den anderen nur durch Märkte und Preise verbunden, die garantie- ren, dass sich ein „wechselseitiger Nutzen“ oder „geteilter Profit“ einstellt.10 Diese Theodizee, angesichts des selbstsüchtigen Menschen, wurde in der liberalen Wirtschaftstheorie systematisch ausgebaut. Das heißt die klassi- sche Ökonomie legte nicht nur eine Oikodizee, eine Rechtfertigung der Wirt- schaft vor, sondern eine klassische Rechtfertigung Gottes aus den vermeint- lich von Gott gestifteten Naturgesetzen der Wirtschaft. Der natürliche Marktmechanismus gleiche die fehlenden moralischen Fähigkeiten des Menschen aus, wie es Adam Smith (1723-1790) auf den Punkt brachte: Die Reichen „verzehren wenig mehr als die Armen; trotz ihrer natür- lichen Selbstsucht und Raubgier und obwohl sie nur ihre eigene Bequem- lichkeit im Auge haben, obwohl der einzige Zweck, welchen sie durch die Arbeit all der Tausenden, die sie beschäftigen, erreichen wollen, die Befrie- digung ihrer eigenen eitlen und unersättlichen Begierden ist, trotzdem tei- len sie doch mit den Armen den Ertrag aller Verbesserungen, die sie in ihrer Landwirtschaft einführen. Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustande gekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung.“11 So führte der vermeintlich empirische Zugang zum Menschen wiede- rum zu luftigen Hoffnungen oder harten Dogmen, die eines gemein haben

9 Pierre Nicole, Essais de morale; zitiert bei Gilbert Faccarello, a.a.O., S. 77. 10 Gilbert Faccarello, a.a.O., S. 78. 11 Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2004, S. 316 f.

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Blätter_201601.indb 109 09.12.15 11:02 110 Christoph Fleischmann

– dass sie sich empirisch nicht bestätigen lassen. Ob Adam Smith wirklich an die „gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter“ durch die Selbstsucht der Reichen geglaubt hat? Jedenfalls ist die liberale Utopie der menschlichen Gesellschaft in den letzten 250 Jahren ebenfalls in die Krise geraten. Es bleibt aber zu fragen, ob es reicht, dagegen einfach die alte scholasti- sche Sicht wiederzubeleben, wie Papst Franziskus es tut.

Ein präziserer Widerspruch

In der Wahrnehmung seines Gegners zeigen sich nämlich die deutlichsten Schwächen der päpstlichen Enzyklika. Franziskus beschreibt weder das „techno-ökonomische Paradigma“ mit präzisen Begriffen, noch den dahinter vermuteten „Anthropozentrismus“. Letztlich laufen seine Klagen über „anthro- pozentrische Maßlosigkeit“ oder eine „Kultur des Relativismus“ (Papst Benedikt grüßt aus dem Hinterhaus) auf den alten christlichen Vorwurf hin- aus, wonach die Wurzel aller Übel darin liege, dass der Mensch nicht Gott anerkenne, sondern sich selber zum autonomen Gesetzgeber mache. Damit erfasst der Papst eben gerade nicht die Transformation der An- thropologie zu Beginn der europäischen Neuzeit. Vielleicht hätte er dazu nur bessere Bücher lesen müssen: Der theologische Autor, den der Papst neben offiziellen Lehrtexten am häufigsten zitiert, ist Romano Guardini mit seinem Buch „Das Ende der Neuzeit“, einer katholischen Kulturkritik aus dem Jahr 1950, die – höflich gesagt – nicht als „realgeschichtliche Analyse“ gelesen werden kann, sondern eher eine fromme Betrachtung mit zum Teil veralte- ten Kategorien ist.12 Es hilft jedoch nicht weiter, dem Gegner einfach alles Böse anzulasten. So entgleiten dem Papst die Kategorien vollends, als er an einer Stelle (123) die Verteidigung der unsichtbaren Hand des Marktes mit der sexuellen Ausbeutung von Kindern gleichsetzt. Gegenüber dem vermeintlich realistischen und noch immer dominanten Menschenbild, in dem sich liberale Theorie und gouvernementale Praxis treffen,13 wird man heute doch wohl etwas präziser argumentieren müssen. Entscheidend ist der Einwand, dass die liberalen Theoretiker und ihre Vor- läufer nicht den Menschen an sich beschrieben haben, sondern den immer schon durch eine bestimmte historische Situation geformten Menschen. Und ihre vermeintlich realistische Analyse wurde zur Verstärkung eines Trends: Sie rechtfertigten einen Menschentypus, der sich im Umgang mit dem kapi- talistischen Markt erst gebildet hatte. Man kann so bereits bei den Renais- sance-Humanisten zeigen, dass ihre Vorstellung vom aktiven Menschen, der sein Schicksal selbstbewusst und zum eigenen Nutzen in die Hand nimmt, aus den sozialen Erfahrungen der ersten kapitalistischen Händlerdynastien und ihrem Umfeld entstanden ist.

12 Vgl. Hans Joachim Bahner, Romano Guardinis These vom „Ende der Neuzeit“, in: „Widerspruch“, 18/1990, S. 74-80. 13 Vgl. dazu Jean-Claude Michéa, Die Metamorphose des Liberalismus, in: „Blätter“, 9/2015, S. 54-60.

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Blätter_201601.indb 110 09.12.15 11:02 Der grüne Papst und der Irrweg des käuflichen Glücks 111

Der marktgemachte Mensch

Freilich wäre es zu kurz gegriffen, wenn man sagen wollte, dass der selbst- süchtige Mensch nur eine Selbstrechtfertigung, etwa einer bestimmten Klasse, sei. Die Menschen wurden wohl tatsächlich im Laufe der europäi- schen Moderne durch ihre Involvierung in den kapitalistischen Markt immer mehr zum unsentimentalen Verfolgen des eigenen Nutzens erzogen. Oder anders gesagt: Bestimmte vormoderne Formen von Gerechtigkeit, Solidarität oder Nächstenliebe sind heute – bei Strafe des wirtschaftlichen Untergangs – in den meisten Bereichen der Wirtschaft nicht mehr praktizierbar. Der Papst nimmt dies durchaus zur Kenntnis. An einigen Stellen lässt er erkennen, dass die Menschen sich unter der Herrschaft der kapitalistischen Wirtschaft nicht einfach für etwas anderes entscheiden können, dass sie in vielen Fällen zum Mitmachen gezwungen sind. Er weiß somit auch, dass es nicht nur individueller, sondern vor allem kollektiver Veränderungen bedarf, die sich in neuen Gesetzen niederschlagen müssen, damit sich etwas Ent- scheidendes ändert. Eingedenk des eigenen Verstricktseins, das natürlich auch die Kirche betrifft, wird man also etwas bescheidener von den menschlichen Möglich- keiten reden müssen. Als (durch eine kapitalistische Gesellschaft) Defor- mierte müssen wir neue Wege finden. Man wird aber mit dem Papst darauf bestehen müssen, dass wir über unser Bild vom Menschen reden müssen: Es ist in der Tat viel zu einfach (und perspektivlos) zu sagen, der Mensch ist nun mal egoistisch. Und der damit verbundene optimistische Glaube an den Markt ist uns heute – zum Glück – ohnehin abhanden gekommen. Deswegen müssen wir mit dem Papst fragen: Welche menschlichen Fähig- keiten wollen wir ermöglichen und stärken? Ist es der Gemeinschaft der Menschen gemäß, dass nur wenige eine freie Auswahl beim Kaufen haben – oder dass alle ihre grundlegenden Bedürfnisse stillen können? Wie viel Differenz und wie viel Gleichheit unter den Menschen braucht es zu einem guten Leben? Welche Wirtschaftsformen erlauben ein höheres Maß an der Verwirklichung menschlicher Potentiale, die sich nicht an der Gütermenge messen lassen, sondern an der Qualität von Sozialbeziehungen? Mit solchen anthropologischen Fragen kommt man freilich in entschie- denen Konflikt mit dem liberalen Mainstream, der ja gerade dezidiert nicht bewerten will, was jemand als sein oder ihr Glück erstrebt. Diesen Konflikt mit dem herrschenden „Anything goes“ sollten, ja müssen wir heute austra- gen. Denn bei der Beantwortung dieser Fragen fallen die Entscheidungen, die die notwendigen Veränderungen der Wirtschaft leiten. Wenn für ihre Beantwortung einige vormoderne Traditionen hilfreich sind, sollte man sie unbedingt nutzen.

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Blätter_201601.indb 111 09.12.15 11:02 Schmutziges Licht: Die Abschaffung der Nacht Von Josiane Meier

ünstliches Licht ist aus unserem Alltag kaum mehr wegzudenken. Von K Schreibtischlampen und Deckenstrahlern über Straßenlaternen und Fassadenilluminationen bis hin zu Werbetafeln und Weihnachtsdekoration – elektrische Beleuchtung ist allgegenwärtig. Sie ermöglicht es uns, auch nach Anbruch der Dunkelheit allen Tätigkeiten nachzugehen, die wir tagsüber ausüben. Die existentielle Bedeutung des künstlichen Lichts stand auch im Zentrum des Internationalen Jahres des Lichts und der Lichttechnologie der UNESCO, das im Dezember 2015 zu Ende ging. Es sollte auf die Potentiale des Lichts für unser tägliches Leben aufmerksam machen – vor allem mit Blick auf Energieeinsparung, Bildung, Landwirtschaft und Gesundheit.1 Nur ein Jahr zuvor, im Dezember 2014, erhielten die japanischen Forscher Isamu Akasaki, Hiroshi Amano und Shuji Nakamura den Physik-Nobelpreis für die bahnbrechende Entwicklung der blauen Leuchtdiode. Sie erlaubt weißes LED-Licht, wodurch einer breiten Anwendung der neuen und hocheffizien- ten Lichttechnologie nichts mehr im Wege stand. Bei aller Begeisterung über das künstliche Licht kommen die negativen Folgen künstlicher Beleuchtung in der öffentlichen Debatte allerdings erheb- lich zu kurz. Sie werden unter dem Schlagwort „Lichtverschmutzung“ ver- handelt. Diese geht auf künstliche Lichtquellen zurück, die nicht zwingend erforderlich, zu hell oder unzureichend abgeschirmt sind. Das Licht blendet daher oder streut in die Atmosphäre. Die genauen Auswirkungen der Licht- verschmutzung sind bislang nur im Ansatz erforscht. Fest steht allerdings schon jetzt: Das künstliche Licht hat seine Schattenseiten – für Menschen, Tiere und Pflanzen gleichermaßen. Welche Dimension die Erhellung der Nacht bereits angenommen hat, ist besonders gut auf Satellitenbildern des europäischen Kontinents erkennbar. Weit deutlicher als auf Tagaufnahmen treten die großen Städte hervor: Ham- burg ist schnell gefunden, München, Berlin, dann Wien, Oslo, Rom, Moskau und London. Aber auch kleinere Städte sind – dank der elektrischen Beleuch- tung – selbst aus mehreren hundert Kilometern Höhe gut zu erkennen. Die unbeleuchteten Gebiete erscheinen hingegen wie Inseln im Lichtermeer. Die Satellitenaufnahmen zeigen eindrücklich, wie wir vielerorts die Nacht buch-

1 Vgl. www.light2015.org und www.jahr-des-lichts.de.

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Blätter_201601.indb 112 09.12.15 11:02 Schmutziges Licht: Die Abschaffung der Nacht 113

stäblich zum Tage machen. Was auf den Bildern jedoch nicht sichtbar wird, ist die Dynamik der dahinterliegenden Entwicklung. Denn noch vor 200 Jah- ren hätte der Anblick aus dem All vollkommen anders ausgesehen. Erst 1807 wurden auf der Pall-Mall-Straße in London anlässlich des Geburtstags des englischen Königs die ersten öffentlichen Gaslaternen in Betrieb genommen. Bis dahin waren Öllampen, meist mit Walöl gefüllt, die gängige Form der Straßenbeleuchtung. Die Lichtausbeute dieser Laternen war anfangs äußerst gering. Und auch wenn diese durch technische Fort- entwicklung im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts immer heller wurden, so wirkten sie doch vornehmlich als Positions- und Orientierungslichter.2 Weit ausgeleuchtete Straßen und Plätze, wie wir sie heute kennen (wenn auch weniger hell), erlaubte erst die fortentwickelte Gasbeleuchtung im aus- gehenden 19. Jahrhundert. Seitdem ist es überhaupt erst üblich, dass Straßen das ganze Jahr über und die ganze Nacht hindurch beleuchtet werden. Bis dahin blieben die Lampen beispielsweise während der Vollmondphasen aus. Es wurde also ein nicht unerheblicher Regelungsaufwand betrieben, um das damals noch wertvolle Licht zu sparen.

Städte als »Zentren des Lichts«

Der nächste Technologiesprung erfolgte mit der elektrischen Beleuchtung, die in vielen Städten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Gasbe- leuchtung ersetzte. Besonders rapide hat die Erhellung der Nacht seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts – nach dem Zweiten Weltkrieg – zugenom- men. Und die Nächte werden auch heute noch immer heller: Nach aktuellen Schätzungen nimmt die künstliche Beleuchtung im weltweiten Mittel jähr- lich um etwa sechs Prozent zu. In den Städten prägen die vielen unterschiedlichen öffentlichen wie priva- ten Lichtquellen das nächtliche Bild. Parkplätze werden genauso beleuchtet wie Kreuzungen, Haltestellen, Bahnhöfe und Tankstellen. Ampeln regeln den Verkehr der mit Scheinwerfern versehenen Fahrzeuge; Kirchen, Rat- häuser und Firmenzentralen werden angestrahlt. In Schaufenstern steht die Ware im Rampenlicht, Werbeschilder blinken grell und Riesenposter leuch- ten von Häuserfronten herab. Himmelsstrahler weisen den Weg zum nächs- ten Party-Event, das Licht über der Haustür zeigt den Eingang, und durch die Fenster leuchten unsere Wohn- und Arbeitsräume. Das städtische Licht erhellt dabei weit mehr als nur den Ort, an dem es erzeugt wird. So ist der Lichtschein von Las Vegas noch im über 200 Kilome- ter entfernten Death-Valley-Nationalpark zu sehen, und jener von Berlin lässt sich noch im etwa 100 Kilometer entfernten Westhavelland ausmachen. Große Lichtkonzentrationen sind zudem längst nicht mehr nur auf dicht besiedelte Gebiete begrenzt. Auch Flughäfen, Einkaufs- oder Logistikzent- ren, große Industrieanlagen sowie Gewächshäuser werden intensiv beleuch-

2 Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahr- hundert, Frankfurt a. M., 2004.

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Blätter_201601.indb 113 09.12.15 11:02 114 Josiane Meier

tet. Selbst inmitten der Meere werden große Mengen an Licht erzeugt: Unzählige Fischerboote setzen allnächtlich starke Strahler ein, um ihren Fang anzulocken, und bilden auf diese Weise großflächige Lichtteppiche auf dem einst tiefschwarzen Wasser. Und auch die Frackinggebiete in North Dakota sind aus weiter Höhe gut zu erkennen: Licht entsteht hier als Abfall- produkt beim Abfackeln des Erdgases, das bei der Ölförderung austritt.

Die Kolonisierung der Nacht

Indem wir die Nacht zum Tage machen, verändert sich unser Verhältnis zur Zeit grundlegend. Vergleichbar mit einem zu erobernden Territorium wird die Nacht zunehmend als Zeitressource genutzt – für wirtschaftliche Aktivi- täten ebenso wie für Freizeit und Vergnügen: ein Prozess, den der Soziologe Murray Melbin als „Kolonisierung der Nacht“ bezeichnet.3 Diese Kolonisierung schritt im Lauf der Geschichte umso weiter voran, je günstiger das Licht wurde und je einfacher die Lichttechnik zu handha- ben war. In frühen Zeiten war der Aufwand, Dunkelheit zu vertreiben, noch recht hoch. Insbesondere der Einsatz von Öl musste abgewogen werden: Es war teuer und lässt sich auch als Lebensmittel einsetzen. Zudem mussten Öllampen fortwährend gepflegt werden, um sie in Betrieb zu halten und die Rußbildung auf ein Minimum zu reduzieren. Gasbeleuchtung, die die Ölbe- leuchtung ablöste, bot demgegenüber bereits zahlreiche Vorteile. Sie musste allerdings über lange Zeit individuell angezündet werden; vor allem aber barg sie erhebliche Explosionsgefahren. Das elektrische Licht hingegen for- dert uns kaum mehr als einen Knopfdruck ab, es ist „rein“, hinterlässt keine Spuren und bringt uns nur noch äußerst selten in Gefahr. Die gesteigerte Effizienz der Leuchtmittel hat das künstliche Licht auch erheblich günstiger gemacht.4 Dies hatte jedoch einen Rebound-Effekt zur Folge: So hat sich die Effizienz elektrischer Beleuchtungsmittel in Großbri- tannien zwischen 1950 und 2000 verdoppelt; gleichzeitig vervierfachte sich jedoch der Lichtverbrauch.5 Weil es allgegenwärtig ist, fällt das nächtliche Licht heute kaum mehr auf – außer, es fällt einmal aus. Damit aber haben die künstliche Beleuchtung und ihre Folgen zugleich weitgehend an öffentlicher Aufmerksamkeit verlo- ren. Das Feld wurde stattdessen jenen überlassen, die sich von Berufs wegen damit befassen: Ingenieuren und Technikern in der Industrie, in Tiefbauäm- tern und in lichttechnischen Gesellschaften. Unter ihnen herrscht weitge- hend Einigkeit, wie künstliche Beleuchtung einzusetzen ist. Welche Folgen

3 Vgl. Murray Melbin, Night as Frontier. Colonizing the World After Dark, New York/London, 1987. 4 Messen lässt sich dies anhand der sogenannten Lichtausbeute in Lumen pro Watt. Während z.B. eine Kerze um 1800 noch eine Lichtausbeute von 0,1 lm/Watt hatte, schaffte die Gasbeleuchtung um 1875 0,25 lm/Watt, die Wolfram-Glühlampe um 1930 bereits 12 lm/Watt. Mittlerweile sind weiße Leuchtdioden mit über 200 lm/Watt in der Entwicklung. Vgl. u.a. William D. Nordhaus, Do Real- Output and Real-Wage Measures Capture Reality? The History of Lighting Suggests Not, in: Timo- thy F. Bresnahan und Robert J. Gordon, The Economics of New Goods, Cambridge, MA, 1996. 5 Vgl. Roger Fouquet und Peter J.G. Pearson, Seven Centuries of Energy Services Light: The Price and Use of Light in the United Kingdom (1300-2000), in: „The Energy Journal“, 1/2006, S. 139-177.

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diese jedoch für uns alle hat, wird bislang nur wenig untersucht. Gerade ein- mal vor rund 15 Jahren begannen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- ler unterschiedlicher Disziplinen damit, sich dezidiert mit den biologischen, ökologischen und gesundheitlichen Konsequenzen der Erhellung der Nacht zu befassen. Und erst jüngst sind Auseinandersetzungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften hinzugekommen. Auslöser für diese intensivere Be- schäftigung war unter anderem die Beobachtung, dass der Sternenhimmel nur mehr eingeschränkt sichtbar ist. Was zunächst Astronomen bemerkten, weil es ihre Arbeit beeinträchtigte, betrifft mittlerweile den überwiegenden Teil der westlichen Bevölkerung: 2001 wurde geschätzt, dass mehr als zwei Drittel der US-Bevölkerung und über die Hälfte der Europäer die Milch- straße von ihrem Wohnort aus nicht mehr erkennen können – und seither ist es deutlich heller geworden.6 Der kulturelle Verlust, der damit einhergeht, ist erheblich. Schließlich ver- lieren wir ebenjenen alltäglichen, unmittelbaren Bezug zum Sternenhimmel, der seit Jahrtausenden aufs Engste mit der kulturellen und wissenschaft- lichen Entwicklung des Menschen verwoben ist – von Kalendern über die Navigation bis hin zu Sagen und Märchen. Und während sich die forschende Astronomie in Observatorien fernab menschlicher Siedlungen zurückgezo- gen hat, um die Sterne zu beobachten, besteht diese Option für die Mehrheit der Menschen allenfalls noch im Urlaub. Zugleich verlieren wir mehr und mehr die natürliche Dunkelheit der Nacht – und damit das Pendant zum Tag. Menschen, aber auch Tiere, Pflanzen und mit ihnen die Ökosysteme haben sich über Jahrmilliarden den jahres- und tageszeitlichen Rhythmen von Hell und Dunkel angepasst. Während der Mensch den Tag vorrangig als Aktivitäts- und die Nacht als Regenerations- phase nutzt, ist es bei anderen Lebewesen genau umgekehrt: Rund 30 Pro- zent der Wirbeltiere und über 60 Prozent der wirbellosen Tiere sind nacht- aktiv.7 Indem künstliche Beleuchtung die einst dunkle Nacht mitunter zum „zweiten Tag“ macht, verändern sich die Lebensbedingungen tag- als auch nachtaktiver Arten auf dramatische Weise.

Das Licht als Staubsauger

Besonders bei Tieren sind die Auswirkungen der künstlichen Beleuchtung gut sichtbar. So werden Insektenarten – etwa Nachtfalter – massenhaft von künstlichen Lichtquellen angezogen. Sie umschwärmen Straßenlaternen meist so lange, bis sie infolge von Blendung und Desorientierung erschöpft zu Boden sinken und verenden. Dieser sogenannte Staubsaugereffekt ist – neben Insektiziden und der Zerstörung natürlicher Lebensräume – maßgeblich für den vielfach festgestellten Rückgang von Insekten verantwortlich. Diese feh-

6 Vgl. Pierantonio Cinzano, Fabio Falchi und Christopher D. Elvidge, The first World Atlas of the artifi- cial night sky brightness, in: „Monthly Notices of the Royal Astronomical Society“, 3/2001, S. 689-707. 7 Vgl. Franz Hölker, Christian Wolter, Elizabeth K. Perkin und Klement Trockner, Light pollution as a biodiversity threat, in: „Trends in Ecology & Evolution“, 12/2010, S. 681-682.

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len dann andernorts als Nahrungsquelle wie auch als Bestäuber. Auch für Zugvögel birgt das künstliche Licht Gefahren. Zwar sind die meisten Vogel- arten tagaktiv, dennoch wandern sie überwiegend bei Nacht; der Sternen- himmel dient ihnen dabei zur Orientierung. Wird dieser jedoch durch Wol- ken oder Nebel verdeckt, steuern die Vögel zumeist künstliche Lichtquellen an. Diese werden dann oft zu Todesfallen – sei es weil die Vögel vom hellen Licht geblendet werden und mit Gebäuden kollidieren oder weil sie ebenfalls bis zur Ermattung um das Licht kreisen. Nicht nur Hochhäuser stellen für sie eine Bedrohung dar, sondern auch Leuchttürme, beleuchtete Brücken und Windkraftanlagen sowie Bohrinseln, Schiffe und Himmelsstrahler. Bei jähr- lichen Zählungen im Zentrum der kanadischen Stadt Toronto wurden zu den Hauptzugzeiten pro Jahr durchschnittlich 2750 verendete Vögel aufgefun- den, ein Großteil davon nachtwandernde Arten.8 Künstliches Licht hat zudem Auswirkungen auf das Brutverhalten von Vögeln. Der Balzgesang von Amseln beginnt in vielen Städten inzwischen nicht erst im Frühjahr, sondern bereits zum Jahreswechsel. Verantwort- lich dafür ist wahrscheinlich die künstliche Helligkeit, die den Vögeln vor- täuscht, es sei bereits deutlich später im Jahr. So kann es zu verfrühten Brut- versuchen kommen, die für die Jungvögel wegen fehlender Nahrung tödlich enden.9 Und dass die künstliche Erhellung der Nacht Vögel aus ihrem Tag- Nacht-Rhythmus bringen kann, lässt sich dann unmittelbar erleben, wenn tagaktive Arten plötzlich inmitten der Nacht anfangen zu singen. Das Leben der Pflanzen gerät ebenfalls aus seinem jahrtausendealten Takt. Die industrialisierte Landwirtschaft nutzt künstliches Licht bereits seit langem, etwa um Gemüse zu schnellerem Wachstum zu animieren oder um Blumen termingerecht für den Verkauf zum Blühen zu bringen. Die Auswir- kungen künstlicher Beleuchtung in Städten sind ähnlich: Stehen sie in der Nähe einer künstlichen Lichtquelle, werfen bestimmte Baumarten ihre Blät- ter verspätet oder gar nicht mehr ab. Infolgedessen sind sie dem Winterwetter deutlich stärker ausgesetzt. Selbst bei Wassertieren wie Meeresschildkröten wirkt sich künstliche Beleuchtung negativ aus. Deren verändertes Verhalten lässt sich besonders gut an den dicht bebauten und damit stark beleuchteten Strandabschnitten Floridas beobachten. Hier vergraben Schildkröten ihre Eier im Sand; die Jungtiere schlüpfen bei Nacht und müssen, nachdem sie sich an die Oberflä- che gegraben haben, den Weg ins Wasser finden. Dabei orientieren sie sich instinktiv am Meer, welches das Licht der Himmelskörper reflektiert. Die beleuchteten Strandpromenaden leiten die Jungtiere jedoch in die falsche, entgegengesetzte Richtung. Die Schildkröten sammeln sich unter Straßen- laternen und vertrocknen am nächsten Tag in der prallen Sonne, fallen Fress- feinden zum Opfer oder werden von Autos überfahren. Schätzungen zufolge sterben auf diese Weise jedes Jahr zehntausende Schildkröten. Dies wiegt

8 Vgl. City of Toronto, Migratory Birds in the City of Toronto, Toronto, 2009. 9 Vgl. Ommo Hüppop, Reinhard Klenke und Anja Nordt, Vögel und künstliches Licht, in: Thomas Posch, Franz Hölker, Anja Freyhoff und Thomas Uhlmann (Hg.), Das Ende der Nacht. Lichtsmog: Gefahren – Perspektiven – Lösungen, Weinheim, 2013, S. 111-137.

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umso schwerer, da im Schnitt ohnehin nur zwei Jungtiere aus einem Nest mit etwa einhundert Eiern ein Alter von 20 bis 30 Jahren – und damit die Geschlechtsreife – erreichen.10

Lichtverschmutzung – das verkannte Problem

Auch bei uns Menschen verdichten sich Erkenntnisse zu schädlichen Aus- wirkungen. Licht ist ein wichtiger Zeitgeber für unsere innere Uhr, die den Organismus auf den Wechsel zwischen Aktivitäts- und Regenerationspha- sen einstellt. Es unterdrückt die Ausschüttung des „Schlafhormons“ Mela- tonin, wirkt also als Wachmacher. Zu viel Licht zu später Zeit führt daher zu Schlafstörungen und trägt so zum weitverbreiteten Schlafmangel bei. Dieser wird inzwischen mit zahlreichen Zivilisationskrankheiten in Ver- bindung gebracht: mit erhöhtem Krebsrisiko, Fettleibigkeit, Diabetes und Depressionen. So ist bereits seit längerem bekannt, dass Nachtarbeiterinnen einem erhöhten Brustkrebsrisiko ausgesetzt sind. Dafür könnte das starke Arbeitslicht verantwortlich sein, weil es den Biorhythmus stört und das Mela- tonin – ebenfalls ein körpereigenes Antioxidans – an gesundheitsfördernder Wirkung einbüßt.11 Besonders empfindlich reagieren Menschen – wie auch viele Tiere – auf die Blauanteile des Lichts. Sie sind vor allem in „kaltem“, also weißem Licht vertreten, wie es zum Beispiel Bildschirme, aber auch ein Großteil der LED- Leuchten abgeben. Jüngste Studien deuten darauf hin, dass schon geringe Lichtmengen deutliche Wirkungen zeigen können – etwa wenn das Licht von Straßenlaternen ins Schlafzimmer fällt. Diese modernisieren viele Städte derzeit – oft vom warmen, orange-gelben Licht der Natriumdampflampen zu deutlich kühlerem LED-Licht. Von dem Austausch verspricht man sich neben einer „korrekten“ Wiedergabe von Farben bei Nacht insbesondere Einspa- rungen im Energieverbrauch. Dass das weiße Licht aber zugleich den Tag- Nacht-Rhythmus bei uns Menschen empfindlich stören kann, gerät dabei allzu häufig aus dem Blick. Wie aber können derlei Negativfolgen der zunehmenden Lichtverschmut- zung sinnvoll eingedämmt werden? Zuallererst benötigen wir verbindliche Grenzwerte, die regeln, wann Licht zu Lichtverschmutzung wird. Dass es solche Werte bislang nicht gibt, hängt auch mit unterschiedlichen Auffas- sungen zusammen, die in der Wissenschaft bestehen. Während manche Wis- senschaftler jedwedes künstliche Licht im Außenraum als Lichtverschmut- zung sehen, da es die natürlich gegebenen Lichtverhältnisse unweigerlich beeinflusst, verstehen andere unter Lichtverschmutzung nur jene künstliche Beleuchtung, die ungewollt, nicht erforderlich oder störend ist.

10 Vgl. Christin Borgwardt, Tony Tucker und Kristen Mazzarella, Meeresschildkröten als Opfer der Strandbeleuchtung, in: Thomas Posch, Franz Hölker, Anja Freyhoff und Thomas Uhlmann (Hg.), Das Ende der Nacht. Lichtsmog: Gefahren – Perspektiven – Lösungen, Weinheim 2013, S. 138-155.. 11 Vgl. Richard G. Stevens und Yong Zhu, Electric light, particularly at night, disrupts human circadian rhythmicity: is that a problem? Philosophical Transactions of the Royal Society of London, B 370: 20140120, 2015.

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Hinzu kommt, dass die begriffliche Nähe zu anderen Formen der Umwelt- verschmutzung mitunter als irreführend kritisiert wird. Während etwa bei der Luftverschmutzung die Luft verschmutzt ist, gehe es bei Lichtverschmut- zung nicht um eine Verunreinigung des Lichts. Andere halten dagegen, dass der Begriff gerade deshalb passend sei, weil das natürliche Licht etwa des Sternenhimmels durch künstliches Licht verunreinigt wird. Ungeachtet aller definitorischen Unterschiede: Dem Begriff „Lichtver- schmutzung“ kommt entscheidende Bedeutung zu, weil er auf die Schatten- seiten der künstlichen Beleuchtung hinweist. Die Dimensionen sind dabei ähnlich wie beim Thema Lärm: Schall kann sowohl Klang sein als auch Lärm. Für beide Ausprägungen gibt es Begriffe, die es durch die ihnen eingeschrie- benen Werturteile erlauben, die positiven wie negativen Facetten ein und desselben Phänomens zu thematisieren. So ist Licht derzeit noch meist positiv besetzt; erst der Begriff Lichtverschmutzung schafft ein Bewusstsein für das Problem, indem es die Folgen der künstlichen Beleuchtung sichtbar macht. Um Lichtverschmutzung gezielt reduzieren zu können, müssen zudem die Hauptquellen von Lichtemissionen ausgemacht werden. Im Fokus stehen dabei bislang Abstrahlungen städtischer Siedlungen in den Nachthimmel. Allerdings gibt es hier große Unterschiede: So strahlen bundesdeutsche Städte erheblich weniger Licht pro Einwohner ab als US-amerikanische Städte ähnlicher Größe.12 Gründe hierfür könnten etwa Unterschiede in der genutzten Beleuchtungstechnologie oder in der Siedlungsstruktur sein. Selbst innerhalb Europas sind die Unterschiede immens: So erweist sich Berlin im Vergleich zu fünf anderen europäischen Metropolen als die mit Abstand dunkelste Stadt; Madrid hingegen ist die mit Abstand hellste. Auch die neuen und alten Bundesländer strahlen unterschiedlich hell: In ostdeut- schen Kommunen liegt die Lichtemissionen pro Kopf um knapp 60 Prozent höher als in westdeutschen. Verantwortlich dafür sind vermutlich Unter- schiede in der öffentlichen Beleuchtung – insbesondere die Wahl der Leucht- mittel und wie lange die Modernisierung der Straßenbeleuchtung zurück- liegt. Je älter die Lampen, desto dunkler sind sie meist.

Die Repolitisierung des Lichts

Das wird aber nicht mehr lange so bleiben: Denn viele Städte und Gemein- den planen, ihre oft veraltete öffentliche Beleuchtungsinfrastruktur in naher Zukunft zu modernisieren – ohne die negativen Folgen ausreichend zu beachten. Die neuen Beleuchtungslösungen werden uns voraussichtlich die kommenden 30 bis 40 Jahre erhalten bleiben. Da derzeit aber vor allem die Energieeffizienz im Zentrum der Überlegungen steht, wird das Licht vieler- orts sowohl deutlich weißer als auch erheblich heller werden.13 Damit aber

12 Vgl. Christopher C. M. Kyba, Stefanie Garz, Helga Kuechly, Alejandro Sánchez de Miguel, Jaime Zamorano, Jurgen Fischer und Franz Hölker, High-Resolution Imagery of Earth at Night: New Sources, Opportunities and Challenges. Remote Sensing, 1/2014. 13 Grund dafür sind insbesondere fehlende Grenzwerte. Viele Kommunen richten sich mangels ande- rer Vorgaben nach der gesetzlich nicht bindenden Norm DIN EN 13201, die nur Minimalwerte kennt

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droht sich das Problem der Lichtverschmutzung weiter zu verschärfen. Aus diesem Grund sind neben Grenzwerten auch ganzheitliche Konzepte drin- gend erforderlich, die auch ökologische, gesundheitliche und ästhetische Aspekte berücksichtigen. Eine wachsende Zahl europäischer Städte verfügt bereits über lokale nicht-bindende Lichtkonzepte. Sie sehen vor, das nächtli- che Stadtbild zu gestalten und eine effiziente öffentliche Beleuchtung zu ent- wickeln. Als Vorreiter gilt hier Lyon, das erstmals 1989 einen Plan Lumière vorlegte. Erste gesetzliche und damit verbindliche Regelungen gibt es seit einigen Jahren in Italien – Vorreiter war die Lombardei im Jahr 2000 –, in einigen Regionen Spaniens sowie in Slowenien. Sie begrenzen gezielt Lichtemis- sionen oberhalb der Horizontalen sowie das Anstrahlen von Gebäuden und Werbetafeln bei Nacht; zudem verbieten sie den Einsatz von Himmelsstrah- lern. Mitunter wurden sogar Beschränkungen für die Beleuchtungsstärke festgesetzt, die von Lichtquellen im Außenraum an die Fenster von priva- ten Wohnhäusern gelangen darf. Besonderes Aufsehen erregte Frankreich, als dort im Jahr 2013 ein Gesetz in Kraft trat, wonach ab ein Uhr morgens die Innen- und Außenbeleuchtung von Büros, Geschäften und öffentlichen Gebäuden abzuschalten ist. Sofern in einzelnen Gebäuden länger gearbei- tet wird, muss das Licht spätestens eine Stunde nach Verlassen des letzten Mitarbeiters gelöscht werden. Auf diese Weise hofft die Regierung, 250 000 14 Tonnen CO2 sowie 200 Mio. Euro an Energiekosten pro Jahr einzusparen.

Der Preis der Dunkelheit

Auch außerhalb Europas tut sich bereits viel. Ebenfalls 2013 trat in Korea der Light Pollution Prevention Act in Kraft. Er sieht vor, ein an die Flächennut- zung gekoppeltes Zonierungssystem einzurichten, und definiert dafür vier verschiedene Zonen – von Naturschutzgebieten bis hin zu urbanen Zentren, in denen jeweils unterschiedliche Grenzwerte erlaubt sind. Die herrschenden Grenzwerte gelten sowohl für Licht, das von außen an die Fenster von Wohn- häusern dringt, als auch für die Helligkeit diverser Lichtquellen im Außen- raum. Verstöße gegen die Beschränkungen sollen mit Geldstrafen von bis zu 10 000 US-Dollar geahndet werden.15 Auch in den Vereinigten Staaten bahnt sich ein Umdenken den Weg von kleinen Städten in die größten Metropolen. Nachdem im US-Bundesstaat New York im Jahr 2014 der Healthy, Safe and Energy Efficient Outdoor Lighting Act verabschiedet wurde, das Einschrän- kungen für öffentliche Beleuchtungseinrichtungen vorsieht, debattierte das Stadtparlament von New York City – berühmt für seine hell erleuchtete Sky- line – im Frühjahr 2015 über die Einführung ähnlicher Regelungen, wie sie bereits in Frankreich gelten.

und sich maßgeblich an der Verkehrssicherheit orientiert. Da Lampen im Laufe ihrer Lebensdauer an Strahlkraft einbüßen, wird meist eine noch höhere Helligkeit gewählt als in der Norm empfohlen. 14 Vgl. République Française, Eclairer Pour Rien la Nuit, Paris 2013. 15 Vgl. JS Cha, JW Lee, WS Lee, JW Jung, KM Lee, JS Han und JH Gu, Policy and status of light pollu- tion management in Korea. Lighting Research and Technology, 1/2014, S. 78–88.

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Es bleibt zu hoffen, dass diese Beispiele auch hierzulande Schule machen. Gelingt die Eindämmung des Lichts nämlich nicht, wird dies auch gesell- schaftliche Folgen haben. Im lichtüberfluteten Europa ist Dunkelheit auf dem besten Wege, ein Luxusgut zu werden. Bereits seit längerem suchen viele Menschen in Zeiten anwachsenden Lärms die Stille. Vergleichbar dazu gewinnt derzeit auch die Dunkelheit an Wert: Vor allem Sternenparks erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Auch Urlaube an dunklen Orten lie- gen im Trend – sei es um Himmelsphänomene zu beobachten oder um der Sinnesüberreizung in Großstädten zu entkommen. Der Preis für die Dunkelheit wird dabei voraussichtlich steil ansteigen. Denn falls die Erhellung weiter wie bisher voranschreitet, bleiben in naher Zukunft nur noch Fernreisen nach Island, Namibia oder in die chilenische Atacama- wüste, um der künstlichen Helligkeit zu entkommen. Dann aber entscheidet vor allem der Geldbeutel darüber, wer noch Sterne zu sehen bekommt. Im Globalen Süden ist die Situation hingegen genau umgekehrt: Dort herrscht vielerorts Lichtarmut. In weiten Teilen Afrikas, Asiens und Latein- amerikas gibt es noch immer Orte, wo Strom und damit auch künstliches Licht überaus rar und kostbar sind. Wir stehen somit vor zwei großen Herausforderungen: Vor allem im globa- len Norden müssen wir die Lichtverschmutzung stoppen, im globalen Süden hingegen vorrangig die Lichtarmut bekämpfen. Hier wie dort aber gilt: Es ist höchste Zeit, dass wir uns der Risiken, die auch diese moderne Techno- logie mit sich bringt, bewusst werden. Nur dann werden wir auch unterbin- den können, dass das künstliche Licht weiter zu Lasten unserer Umwelt und unserer Gesundheit geht.

UNFPA-Weltbevölkerungsbericht 2015 Anzeige Schutz für Frauen und Mädchen in Not Derzeit befinden sich so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Millionen Menschen leben in Flüchtlingslagern, Hundert- tausende haben sich auf den gefährlichen Weg nach Europa gemacht. Auch unter diesen schwierigen Bedingungen werden Frauen und Mädchen schwanger, und Kinder werden geboren. Die dringend erforderliche gesundheitliche Versorgung während Schwangerschaft und Geburt, aber auch der Schutz vor ungewollten Schwangerschaften, vor sexuell übertragbaren Krankheiten und vor Vergewalti- gungen ist in humanitären Krisensituationen erheblich schwerer zu gewährleisten.

Der neue Weltbevölkerungsbericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) zeigt auf, wie Regierungen und die internationale Gemeinschaft dazu beitragen können, die sexuelle und reproduktive Gesundheit von Menschen in Deutsche Ausgabe humanitären Notlagen zu ermöglichen. Der Bericht enthält außerdem die jüngsten Hrsg.: Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 72 Seiten, broschiert, Schutzgebühr: 2,50 Euro demografischen und sozioökonomischen UN-Daten für alle Länder und Regionen www.weltbevoelkerung.de/weltbevoelkerungsbericht der Welt.

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Reichtum macht arm Von Rudolf Hickel

Als vor exakt 50 Jahren ein junger begabter Ökonom seine Dissertation vorlegte, hätte wohl kaum jemand geahnt, dass aus ihm eines Tages ein weltbekannter Wissenschaft- ler und Intellektueller werden würde. Dabei ist das Thema, mit dem sich der junge Joseph Stiglitz schon damals beschäftigte, stets das gleiche geblieben – die nationale wie interna- tionale Ungleichheit. 2001 wurde Stiglitz zusammen mit George Ackerlof und Michael Spence mit dem Nobel- preis für Wirtschaftswissenschaften aus- gezeichnet – und zwar konkret für seine Forschung zum Marktversagen durch asym- metrische, ungleiche Informationen, etwa zwischen dem Bankberater, der über die Risi- ken von Finanzmarktprodukten informiert ist, und dem ahnungslosen Käufer. Joseph Stiglitz, Reich und Arm: Die wachsende Ungleichheit in unserer Mit seinem neuen Buch „Reich und Arm“ Gesellschaft, Siedler Verlag, 512 Sei- macht Joseph Stiglitz nun seine wichtigsten ten, 24,99 Euro Beiträge zur „wachsenden Ungleichheit“ zu- gänglich. Dabei handelt es sich beileibe nicht nur um einen schlichten Sammelband, der die von ihm über viele Jahre ver- fassten Texte – jeweils mit einer hochaktuellen Einordnung – zusammen- fasst, sondern um eine sehr grundsätzliche Einführung in das Thema. Das ausgesprochen gut lesbare Buch lässt sich zudem schrittweise, dosiert nach den einzelnen Beiträgen, erschließen. In der Kontroverse über die längerfristige Entwicklung sozialer Ungleich- heit korrigiert Stiglitz das Ergebnis seiner Dissertation aus dem Jahr 1966. Sein damals präsentierter Entwicklungspfad ging davon aus, dass mit dem Wirtschaftswachstum die Ungleichheit zwar zunähme, diese sich jedoch dann auf einem Gleichgewichtsniveau stabilisieren werde. Rückblickend muss Stiglitz eingestehen, die Dynamik der „zentrifugalen Kräfte“ zur Ver- mehrung des Reichtums deutlich unterschätzt zu haben – und vor allem ihre verheerenden gesellschaftlichen Folgen. Für den Wissenschaftler Joseph Stiglitz bestand das erkenntnisleitende Interesse stets darin, die Ursachen

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Blätter_201601.indb 121 09.12.15 11:02 122 Buch des Monats

und Folgen der sozialen Spaltung zwischen Arm und Reich aufzudecken und praktikable Vorschläge zum „Wohlstand für alle“ zu unterbreiten. Der Beginn seines laustarken politischen Engagements lässt sich ebenfalls genau datieren – auf die Präsidentschaft George W. Bushs und dessen Politik der „Reichtumspflege“ durch Steuerentlastungen, einhergehend mit massiven Deregulierungen, die die monopolistische Marktmacht immer mehr erhöh- ten. Den Rat seiner Frau, nun auch politisch gegen die soziale Spaltung zu arbeiten, setzte Stiglitz durch eine bisher kaum sortierte Flut von Beiträgen um – und zwar nicht nur in schwer zugänglichen wirtschaftswissenschaft- lichen Journalen, sondern auch in den populären Medien.

Das Konzentrat eines 50jährigen Kampfes

Sein neues Buch ist das Konzentrat eines 50jährigen Kampfes gegen soziale Ungleichheit. Mit neu geschriebenen Einführungen zu den jeweiligen Kapi- teln aktualisiert Stiglitz die bereits publizierten Beiträge. Das gibt ihm die Möglichkeit, die Rezeption einzelner Artikel aufzugreifen und diese rückbli- ckend durchaus selbstkritisch zu bilanzieren. Neuere Diskussionen, wie jene zu Thomas Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“, wurden in den Sammel- band ebenfalls aufgenommen. Mit den Schwerpunkten des Buches – zu den „Dimensionen“, „Ursachen“ und „ökonomischen Folgen“ der zunehmenden Ungleichheit und der Rolle der die Markt- und Machtverhältnisse stabilisierenden Politik – verbindet sich die zentrale erkenntnisleitende Frage: Sind Marktwirtschaften lang- fristig und aus eigener Kraft in der Lage, die soziale Spaltung zu stoppen, ja sogar abzubauen? Stiglitz‘ Befund ist ausgesprochen pessimistisch. Zwar konzentrieren sich die meisten Beiträge auf die Entwicklung in den USA, doch die Erkenntnisse sind auch für Deutschland dramatisch aktuell. Das politisch-ökonomische System, so Stiglitz’ Befund, basiert auf der „Reproduktion der Reichen auf erweiterter Stufenleiter“, vor allem über Erbschaften, womit er seinen frü- heren Gleichgewichtsoptimismus eindeutig revidiert (dabei nicht zuletzt durch Thomas Piketty beeinflusst). In mehreren Beiträgen werden die Ursa- chen und Folgen der sozialen Spaltung speziell in der neoliberalen Phase dargelegt: Massenarbeitslosigkeit führt zu Lohndumping, was wachsende Armut und den sukzessiven Abstieg auch der Mittelschicht zur Folge hat – bei gleichzeitig dezidiert neoliberaler Politik zur Schonung des Reichtums durch vergleichsweise niedrige Besteuerung und Sozialisierung der Verluste (etwa bei der Rettung der Finanzmärkte). Die Triebkraft der Vermögenskon- zentration beschreibt Stiglitz mit der Theorie vom „Rent Seeking“, die auf Gordon Tullock (1967) zurückgeht. „Wenn kleine Gruppen von Menschen einen unverhältnismäßig hohen Wohlstand genießen wollen, werden sie ihre Macht einsetzen, um sich eine Sonderbehandlung durch den Staat zu sichern“, benennt Stiglitz die Gier zur Aneignung leistungslosen Einkom- mens als Ursache der wachsenden Ungleichheit.

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Blätter_201601.indb 122 09.12.15 11:02 Buch des Monats 123

Mit der ideologischen Rechtfertigung des Reichtums als angeblicher Voraus- setzung für Innovation, wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze geht Stiglitz hart ins Gericht. Reichtum (und dessen Steigerung) sei niemals die Voraussetzung für den massenhaften Aufstieg aus der Armut, im Gegenteil: Für die plutokratische Regierung des „1 Prozent durch das 1 Prozent und für das 1 Prozent“ (Lincoln) gebe es weder eine ökonomische noch eine gesell- schaftliche Rechtfertigung. Kritisiert wird das „Rossäpfel-Theorem“, das schon Kenneth Galbraith in seiner Kritik der Reichtumskonzentration aufge- griffen hatte: Wenn die Rösser mit bestem Hafer gefüttert würden, profitier- ten am Ende auch die Spatzen (auch als Trickle-down-Effekt bekannt). Empirische Studien belegen dagegen eindeutig, wie wachsende Armut und vor allem der Absturz der Mittelschicht ökonomisches Wachstum verhin- dern (auch, aber nicht nur wegen der fehlenden Binnennachfrage). Demnach hätte das deutsche BIP zwischen 1990 und 2010 um zusätzliche 6 Prozent wachsen können, wäre die Ungleichheit bei der Vermögens- und Einkom- mensverteilung nicht seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierlich gestiegen. Durch die Reich-Arm-Spaltung werden zudem Innovationen behindert sowie Finanzkrisen durch die aggressive Suche nach profitablen Finanzan- lagen verstärkt. Wie innovationsfeindlich die soziale Spaltung ist, zeigt Stig- litz auch an den höchst ungleich verteilten Bildungschancen, die massiv von der Höhe des Einkommens und des Vermögens der Eltern abhängen. Die bil- dungsbezogene Diskriminierung der sozial Schwachen behindert die ökono- mische Entwicklung und bedroht die Stabilität der Demokratie. Im Ergebnis forciert die neoliberale Politik eine hochmonopolisierte Markt-Macht-Ökonomie. Und dennoch ist diese Tradition (der Neoklassik) in der Wissenschaft nach wie vor dominant. Die vorherrschenden „Mainstream Economics“ bagatellisieren die gesellschaftliche Herausforderung durch die Arm-Reich-Spaltung. Stiglitz schließt daher wie kaum ein anderer das Elend seiner akademischen Zunft nicht von der Kritik aus. So zitiert er polemisch den Nobelpreisträger Robert Lucas von der University of Chicago mit der noch heute an den Akademien verbreiteten Ideologie: „Der verlockendste und [...] verderblichste aller Ansätze, die einer soliden wirtschaftswissen- schaftlichen Forschung schaden, besteht darin, sich auf Verteilungsfragen zu konzentrieren.“ Gegen diese Ideologie hat Stiglitz sein Leben lang angedacht und ange- schrieben. Sein neuer Sammelband verdient schon deshalb große Anerken- nung. Sein erkenntnisleitendes Interesse an der Aufklärung über die sich verbreitende soziale Spaltung der Gesellschaft im entfesselten Kapitalismus löst er gekonnt ein. Die Lektüre lohnt sich daher nicht zuletzt für diejenigen, die die wachsende Ungleichheit als gesellschaftliche Bedrohung wie als öko- nomische Belastung empfinden, jedoch die Zusammenhänge eingängig ver- mittelt bekommen wollen. Für Studierende, Lehrende und Forschende der Wirtschaftswissenschaft, aber auch für Politiker und Journalisten, sollte der Sammelband dagegen eine Pflichtlektüre sein – schon um der herrschenden Legitimation des immer größer werdenden Reichtums der wenigen wie der Armut der vielen endlich wirksam widersprechen zu können.

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Blätter_201601.indb 123 09.12.15 11:02 DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »Die Zeit fossiler Brennträger ist vorbei« Regierungserklärung von Bundesumweltministerin Barbara Hendricks, 4.12.2015

• »Syrien braucht weniger Bomben, nicht noch mehr!« Friedensaufruf der syrischen Zivilgesellschaft, 4.12.2015

• »Die Bombardierung des IS wäre völkerrechts- und verfassungswidrig« Brief des Co-Präsidenten der International Association of Lawyers against Nuclear Arms (IALANA) an den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, 3.12.2015

• »Die reichsten 10 Prozent verursachen die Hälfte aller Treibhausgase« Bericht von Oxfam Deutschland, 2.12.2015

• »Zur Integration gehört der Kampf gegen den Antisemitismus« Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Verleihung des Abraham- Geiger-Preises, 2.12.2015

• »Entwicklungsbanken müssen Investitionen am Zwei-Grad-Ziel ausrichten« Studie des New Climate Institutes, der 2°C Investing Initiative und Germanwatch, 30.11.2015 (engl. Originalfassung)

• »Glyphosat ist für den Menschen vermutlich krebserregend« Offener Brief unabhängiger Krebsforscher an den EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, 27.11.2015 (engl. Originalfassung)

• »HIV-Neuansteckungen in Europa auf höchstem Stand aller Zeiten« Pressemitteilung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten und der WHO, 26.11.2015 (engl. Originalfassung)

• »Konvention gegen Landminen muss weltweit umgesetzt werden« Pressemitteilung der Internationalen Kampagne für das Verbot von Landminen, 26.11.2015 (engl. Originalfassung)

• »Deutliche Abstiegsrisiken in der Mittelschicht« WSI-Verteilungsbericht der Hans-Böckler-Stiftung, 26.11.2015

• »Der Islamische Staat ist eine beispiellose Bedrohung« Erklärung des UN-Sicherheitsrats, 20.11.2015 (engl. Originalfassung)

• »Die Milliardärs-Klasse kann nicht alles bekommen« Rede von Bernie Sanders, Kandidat für die Vorwahlen der US-Demokraten, 19.11.2015 (engl. Originalfassung)

• »Gemeinschaftsunterkünfte erschweren Akzeptanz von Flüchtlingen in der Bevölkerung« Studie der Robert Bosch Stiftung, 19.11.2015

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Blätter_201601.indb 124 09.12.15 11:02 Chronik des Monats November 2015

1.11. – Türkei. Bei vorzeitigen Parlaments- Frankreichs, Russlands und der Ukraine in wahlen kann die regierende AKP von Prä- Berlin den Fortgang des Friedensprozes- sident Erdogan die im Juni d.J. verlorene ses in den Konfliktgebieten der Ostukraine Mehrheit zurückerobern (vgl. „Blätter“, (Vereinbarungen von Minsk). Es wird be- 8/2015, S. 126). Die prokurdische Partei HDP schlossen, die schweren Waffen aus den um- kann erneut in das Parlament einzie- kämpften Gebieten abzuziehen. Der Waf- hen. – Am 2.11. nimmt die Luftwaffe Angrif- fenstillstand, so heißt es, werde weitgehend fe auf Stellungen der verbotenen Arbeiter- eingehalten. – Am 22.11. unterbrechen An- partei Kurdistans (PKK) in der osttürkischen schläge auf mehrere Hochspannungsleitun- Provinz Hakkari und im Nordirak wieder auf. gen die Stromversorgung der von Russland 2.11. – Österreich. Die von Bundeskanzler annektierten Halbinsel Krim. Die Ukraine Faymann (SPÖ) geführte Große Koalition erlässt am 25.11. ein Überflugverbot für rus- aus Sozialdemokraten und Volkspartei ei- sische Flugzeuge und stoppt die Einfuhr von nigt sich auf eine Verschärfung des Asyl- russischem Gas. rechts. Es soll nur noch „Asyl auf Zeit“ – Großbritannien. Schatzkanzler Os- gewährt werden, nach drei Jahren werde borne wirbt in Berlin vor Wirtschaftsver- geprüft, ob Schutzgründe weiterbestehen. tretern für die britischen Positionen in der Familiennachzug wird an bestimmte Vor- Europäischen Union. Sein Land gehöre aussetzungen gekoppelt. nicht zur Eurozone und auch nicht zum 3.11. – Syrienkonflikt. Der Generalstab in Schengenraum. Nur ein kleiner Teil der bri- Moskau beziffert die Zahl der im Vormonat tischen Wähler wolle eine EU, die immer nä- ausgeführten russischen Luftangriffe in Sy- her zusammenrücke. rien mit 1631 gegen 2084 Ziele (vgl. „Blät- 7.11. – China. Auf neutralem Boden, in Sin- ter“, 11/2015, S. 126). Ziele seien vor allem gapur, kommt es erstmals zu einer Begeg- die Infrastruktur des Islamischen Staates nung der Präsidenten der Volksrepublik und anderer Terrorgruppen. – Am 11.11. er- China und der Insel Taiwan, Xi Jinping und örtert der russische Außenminister Lawrow Ma Ying-jeou. Beide betonen in ihren An- in einem Telefongespräch mit seinem irani- sprachen den Willen zur Zusammenarbeit schen Amtskollegen Zarif Möglichkeiten für trotz der weiterhin bestehenden politischen die Aufnahme eines innersyrischen Dialogs Differenzen. Peking vertritt die „Ein-China- unter Schirmherrschaft der Vereinten Natio- Politik“, Taiwan bezeichnet sich als „Repu- nen. Ein russischer Acht-Punkte-Plan sieht blik China“. einen auf 18 Monate angelegten politischen 8.11. – Myanmar (Burma). Die von Frie- Reformprozess vor, an dessen Ende Wahlen densnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi stehen sollen. – Am 14.11. wird in Wien die geführte National League for Democracy Syrienkonferenz vom Vormonat fortgesetzt (NLD) kann die landesweiten Wahlen für (vgl. „Blätter“, 12/2015, S. 109). Es wird ein sich entscheiden. Fahrplan vereinbart, der zunächst einen 9.11. – EU. Der luxemburgische Außenmi- Waffenstillstand zwischen dem Assad-Re- nister Asselborn warnt vor aufkeimendem gime und moderaten Rebellengruppen an- Nationalismus, falls immer mehr Länder strebt. Bis Mitte 2016 sollen eine Übergangs- eigene Lösungen gegen Asylbewerber und regierung installiert sowie eine neue Verfas- Flüchtlinge anstrebten: „Die Europäische sung ausgearbeitet werden. Union kann auseinanderbrechen.“ Falscher – Ukraine. Präsident Poroschenko un- Nationalismus könne „zu einem richtigen terzeichnet in Kiew ein Gesetz, das Aus- Krieg führen.“ – Am 17.11. befassen sich die ländern und Staatenlosen den Eintritt in Verteidigungsminister aller 28 Mitgliedstaa- die Armee ermöglicht. Damit könne die ten auf einer Sondersitzung in Brüssel mit Kampfkraft erhöht, zugleich müssten weni- einem Hilfeersuchen Frankreichs bei der ger Ukrainer einberufen werden. – Am 6.11. Bekämpfung des Terrorismus. Grundlage beraten die Außenminister Deutschlands, ist Artikel 42.7 des Vertrages über die Euro-

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päische Union (Vertrag von Lissabon). Diese ordneten beider Kammern des Parlaments Beistandsklausel, so die Außenbeauftragte kündigt der Präsident einen gnadenlosen Mogherini, wurde „zuvor noch nie aktiviert“. Kampf gegen den islamischen Terror an. – Spanien. Das katalanische Regional- Auch Russland solle in die gemeinsame parlament in Barcelona (135 Abgeordnete) Front einbezogen werden. Der zunächst verabschiedet mit 72 gegen 63 Stimmen nur für einige Tage verhängte Ausnahme- eine Resolution, die den offiziellen Beginn zustand wird auf bis zu drei Monaten ver- der Bildung eines unabhängigen Staates längert. Die Sicherheitskräfte starten um- markieren soll. Die Regierung in Madrid fangreiche Razzien und nehmen viele Ver- bringt eine Anfechtungsklage beim Verfas- haftungen vor. Bei Schusswechseln kommt sungsgericht ein. Ministerpräsident Rajoy: es zu Toten und Verletzten. Eine der Spuren „Katalonien wird sich nicht abspalten.“ der Attentäter führt nach Belgien, insbe- 10.11. – Portugal. Die erst seit elf Tagen am- sondere in das Gebiet um Brüssel, wo die tierende Minderheitsregierung von Passos Polizei ebenfalls Hausdurchsuchungen und Coelho stürzt im Parlament (230 Abgeordne- Festnahmen vornimmt. Auch die belgische te) über ein Misstrauensvotum der Opposi- Regierung verhängt Notstandsmaßnahmen. tion. Die Sozialistische Partei (PS) hatte sich Der U-Bahn-Verkehr in Brüssel wird für mit dem Linksblock, den Kommunisten und mehrere Tage komplett eingestellt, Kinder- den Grünen auf den Antrag geeinigt, der mit gärten, Schulen und Universitäten bleiben Mehrheit (123 Stimmen) angenommen wird. geschlossen. Nach Meinung des französi- PS-Generalsekretär Antonio Costa erhält schen Premierministers Valls ist die Atten- am 24.11. von Staatspräsident Cavaco Silva tatsserie von Paris von Islamisten in Syrien den Regierungsauftrag und kündigt an, die geplant und organisiert worden: „Wir müs- neue Regierung werde die Austeritätspoli- sen länger mit dieser Bedrohung leben.“ tik der letzten Jahre abmildern, dabei aber Frankreich wirbt bei Verbündeten für eine alle für Eurostaaten geltenden Regeln ein- einheitliche Kriegskoalition gegen den Is- halten. lamischen Staat. Präsident Hollande trifft 11.-12.11. – Europa/Afrika-Gipfel. Unter Premier Cameron (23.11.), Präsident Obama Vorsitz von EU-Ratspräsident Tusk findet (24.11.), Bundeskanzlerin Merkel (25.11.) in der maltesischen Hauptstadt Valetta ein und Präsident Putin (26.11.). Die Bundes- „Migrationsgipfel“ statt. Die rund 60 euro- kanzlerin sagt Hollande militärische Unter- päischen und afrikanischen Staats- und stützung zu. Putin und Hollande treten nach Regierungschefs verabschieden einen Ak- ihrem Gespräch in Moskau gemeinsam vor tionsplan, der verstärkte finanzielle Auf- die Presse und kündigen eine verstärkte wendungen Europas im Entwicklungs-, Zusammenarbeit an. – Am 27.11. spricht Wirtschafts- und Umweltbereich vorsieht, Außenminister Fabius von der Möglichkeit, um Fluchtursachen zu bekämpfen und lega- Teile der syrischen Armee im Rahmen eines le Einwanderungswege nach Europa zu er- „politischen Übergangs“ in die Front gegen öffnen. Von den afrikanischen Partnern wird den IS einzubeziehen. eine effizientere Zusammenarbeit bei der 15.-16.11. – G20. Das Gipfeltreffen der 20 Rücknahme von Migranten gefordert, die in führenden Industrie- und Schwellenländer Europa kein Bleiberecht haben. im türkischen Belek nahe Antalya (Anta- 13.11. – Frankreich/Belgien. Eine Gruppe lya Summit) steht im Zeichen der Terroran- von Terroristen richtet in Paris ein Blutbad schläge von Paris. Bundeskanzlerin Merkel an. An mindestens sechs Orten der Haupt- erklärt, der Terrorismus müsse mit einer stadt explodieren fast zeitgleich Bomben, Vielzahl von Mitteln bekämpft werden. Selbstmordattentäter schießen mit Maschi- Nach einem Gespräch des amerikanischen nengewehren in die Menge und zünden ihre Präsidenten Obama mit Präsident Putin Sprengstoffgürtel. Ziele der Anschläge sind heißt es von russischer Seite, bei den strate- mehrere Cafés, ein Kabarett und der stark gischen Zielen im Kampf gegen den IS liege besuchte Konzertsaal Le Bataclan. Die Zahl man nahe beieinander. der Toten steigt auf 130. Präsident Hollande 16.11. – Polen. Nach ihrem Sieg bei den Par- spricht vom „Kriegsakt einer feindlichen lamentswahlen am 25. Oktober d.J. tritt die Armee, des Islamischen Staates“. Vor den von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Schloss Versailles versammelten Abge- gestellte Regierung ihr Amt an. Beata Dzydlo,

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Blätter_201601.indb 126 09.12.15 11:02 Chronik 127

die Ewa Kopacz von der Bürgerplattform Verletzung ihres Luftraums spricht, heißt (PO) ablöst, wird neue Regierungschefin. es in Moskau, das Flugzeug sei in Syrien 19.11. – Griechenland. Das Parlament bil- im Einsatz gewesen und habe die Grenze ligt mit der Mehrheit der Koalition von Syri- nicht überquert. Präsident Erdogan lehnt za und Unabhängigen Griechen ein weiteres die von Präsident Putin geforderte offizielle Spar- und Reformprogramm, um Bedingun- Entschuldigung ab, äußert jedoch am 28.11. gen für neue Kredite der Gläubiger zu er- Bedauern: „Wir wünschten, es wäre nicht füllen. Zwei Koalitionsabgeordnete verwei- geschehen.“ Russland wirft der Türkei Kom- gern die Zustimmung und werden von ihren plizenschaft mit der IS-Terrormiliz vor und Fraktionen ausgeschlossen. verfügt Handelssanktionen und Einschrän- 20.11. – UNO. Angesichts der zunehmenden kungen im Tourismus. Terroranschläge verabschiedet der Sicher- 25.11. – Bundesregierung. Das Bundesver- heitsrat einstimmig Resolution 2249 (2015). teidigungsministerium teilt mit, die letz- Die Mitgliedstaaten, „die dazu in der Lage ten Streubomben aus den eigenen Bestän- sind“, werden aufgefordert, unter Beach- den seien vernichtet worden. Damit habe tung des Völkerrechts „alle notwendigen Deutschland die eingegangenen Verpflich- Maßnahmen“ („all necessary measures“) zu tungen nach dem „Oslo-Übereinkommen“ ergreifen, „um terroristische Handlungen (Convention on Cluster Munitions/CCM) zu verhüten und zu unterbinden“. vorzeitig erfüllt. – Am 26.11. kündigen 22.11. – G7/G8. Bundesaußenminister Stein- Außenminister Steinmeier (SPD) und Ver- meier setzt sich in einem Zeitungsinterview teidigungsministerin von der Leyen (CDU) für die Rückkehr Russlands in den Kreis gemeinsam einen Kabinettsbeschluss über der G8-Staaten ein. Sollten im Ukrainekon- den Einsatz der Bundeswehr im Antiter- flikt und bei der Lösung des Syrienkonflikts rorkampf in Syrien und dem Irak an. – Am weitere Fortschritte erzielt werden, könne 27.11. stimmt nach dem Bundestag auch der Westen kein Interesse haben, Russland der Bundesrat der Verlängerung des Geset- dauerhaft auszuschließen (vgl. „Blätter“, zes zur Terrorabwehr zu. Das Gesetz wurde 8/2015, S. 126). nach den Anschlägen vom 11. September – Argentinien. Eine Mehrheit der Wäh- 2001 in den USA eingeführt und sollte En- ler stimmt für einen Richtungswechsel. Bei de 2015 auslaufen. Eine Neubewertung soll der Stichwahl um das Amt des Präsidenten 2021 erfolgen. erhält der Oppositionskandidat Mauricio 29.11. – EU/Türkei-Gipfel. Auf der Tages- Macri fast 52 Prozent. Macri, Gründer einer ordnung steht ein Aktionsplan mit dem Ziel, liberalkonservativen Partei und bisher Bür- die „ungesteuerte Einwanderung“ über die germeister der Hauptstadt Buenos Aires, Türkei in die Europäische Union zu stoppen. folgt auf Cristina Kirchner, die nach zwei Von der Türkei, die durch Ministerpräsi- Amtsperioden nicht mehr antreten konnte. dent Davutoglu vertreten ist, wird erwartet, 23.11. – Iran/Russland. Präsident Putin ihre Grenzen undurchlässig zu machen, führt in Teheran Gespräche mit Präsident ihre Küsten besser zu überwachen und die Rohani und wird von Revolutionsführer Kha- Lebensumstände für Flüchtlinge im Land menei empfangen. Beobachter verweisen zu verbessern. Im Gegenzug erhält Ankara auf gemeinsame Positionen der beiden Re- eine Finanzhilfe in Höhe von drei Mrd. Euro gierungen gegenüber dem Assad-Regime. und Zusagen über Visaerleichterungen. Vor 24.11. – Tunesien. Mitten in der Hauptstadt der Sitzung erklärt EU-Ratspräsident Tusk, Tunis wird ein Attentat auf einen Bus der man wolle die Beziehungen zum Kandi- Präsidentengarde verübt. Die Polizei meldet datenland Türkei wiederbeleben, das schlie- 13 Tote. Präsident Essebsi verhängt für 30 ße auch die Beitrittsverhandlungen ein. Tage den Ausnahmezustand über das ganze 30.11. – UN-Klimakonferenz. In Anwesen- Land, verbunden mit einer Ausgangssperre heit von mehr als 150 Staats- und Regie- in der Hauptstadtregion. rungschefs und begleitet von Demonstratio- – Türkei/Russland. Der Abschuss eines nen in aller Welt beginnt unter verschärften russischen Kampfjets durch die türkische Sicherheitsauflagen in Le Bourget bei Paris Luftwaffe über dem Grenzgebiet zu Syrien die Klimakonferenz der Vereinten Nationen. führt zu Spannungen zwischen den beiden Im Mittelpunkt steht die Begrenzung der Regierungen. Während die Türkei von einer Erderwärmung.

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Blätter_201601.indb 127 09.12.15 11:02 Zurückgeblättert...

Am 7. November 2015 starb überraschend der Soziologe und langjährige »Blätter«-Autor Volker Gransow. Wir erinnern an zwei seiner nach wie vor hochaktuellen Beiträge zu den Widersprüchen des technischen Fortschritts: »Der autistische Walkman – Unterhaltungselektronik, Öffentlichkeit und Freizeit« (in: »Blätter«, 8/1984) sowie »Ambivalenter Fortschritt, umgebaute Lebensweise und radikale Bedürfnisse« (in: »Blätter«, 9/1985).

Die Texte finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

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Verlag: Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, Torstraße 178, 10115 Berlin; Postfach 540246, 10042 Berlin Amtsgericht Berlin Charlottenburg HRB 105991 B Finanzamt für Körperschaften II, Berlin St.-Nr. 37/239/21010 Gesellschafter: Daniel Leisegang, Albrecht von Lucke, Annett Mängel, Dr. Albert Scharenberg Geschäftsführerin: Annett Mängel, Telefon 030/30 88 - 36 43, Fax 030/30 88 - 36 45 Bankverbindung: Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Kto. 147 993-502 IBAN: DE54 3701 0050 0147 9935 02, BIC: PBNKDEFF Vertrieb: Berit Lange-Miemiec, Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 54 02 46, 10042 Berlin

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An dieser Ausgabe wirkten als Praktikanten Florian König und Ben Rieckmann mit.

Blätter-Gesellschaft: Die gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V., vormals abgekürzt „Blätter-Förderverein“, gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die Blätter für deutsche und internationale Politik heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Christoph Wagner vor. Die „Blätter“ erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 54 02 46, 10042 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 10 Euro, im Abonnement jährlich 84,60 Euro (ermäßigt 67,20 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint jeweils im Dezemberheft. Heft 2/2016 wird am 29.1.2016 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

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Blätter_201601.indb 128 09.12.15 11:02 www.ng-fh.de • www.dietz-verlag.de Bestellen Sie ein kostenloses Probeheft! Autorinnen und Autoren dieses Heftes Anzeige Elmar Altvater, geb. 1938 in Kamen, Ulrike Guérot, geb. 1964 in Greven- Dr. oec. publ., Prof. em. für Politische broich, Dr. phil., Publizistin, Gründe- Ökonomie an der Freien Universität rin und Direktorin des „European De- Berlin. mocracy Lab“ Berlin.

Tatjana Ansbach, geb. 1948 in Ber- Rudolf Hickel, geb. 1942 in Nürnberg, lin, Dr. habil, Juristin, zuletzt tätig Dr. rer. pol., Professor em. für Finanz- als Rechtsanwältin mit Schwerpunkt wissenschaft an der Universität Bre- Ausländer- und Asylrecht. men, Mitherausgeber der „Blätter“.

Arjun Appadurai, geb. 1949 in Bom- Jochen Hippler, geb. 1955, Dr. rer. bai/Indien, Ph.D., Ethnologe und God- pol., Politikwissenschaftler, Privatdo- dard Professor of Media, Culture, and zent und wiss. Mitarbeiter am Institut Communication an der New York Uni- für Entwicklung und Frieden der Uni- versity. versität Duisburg-Essen.

Ulrike Baureithel, geb. 1957 in Frei- Stefanie Janczyk, geb. 1973 in Wolfs- burg, Literaturwissenschaftlerin, freie burg, Dr. phil., Politikwissenschaftle- Journalistin, Mitbegründerin der Wo- rin, Leiterin des Ressorts Allgemeine chenzeitung „Der Freitag“. Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beim Vorstand der IG Metall. Christian Bommarius, geb. 1959 in Frankfurt a.M., Jurist und Journalist, Thomas Kistner, geb. 1958 in Karlsru- Kommentator der „Berliner Zeitung“ he, Redakteur für Sportpolitik bei der und der „Frankfurter Rundschau“. „Süddeutschen Zeitung“, Verfasser des Buches „Fifa-Mafia“. Tobias Boos, geb. 1985 in Siegen, Poli- tikwissenschaftler, Universitätsassis- Martin Kutscha, geb. 1948 in Bremen, tent und Doktorand am Institut für Dr. iur., Professor i.R. für Staats- und Politikwissenschaft an der Universität Verwaltungsrecht an der Hochschu- Wien. le für Wirtschaft und Recht in Berlin, Vorstandsmitglied der Humanisti- Lothar Brock, geb. 1939 in Lauenburg/ schen Union. Pommern, Dr. phil., Professor em., Projektleiter des Bereichs „Herrschaft Ulrich Menzel, geb. 1947 in Düs- und gesellschaftlicher Frieden“ in der seldorf, Dr. phil., Professor em. am Hessischen Stiftung Friedens- und Institut für Sozialwissenschaften der Konfliktforschung (HSFK). TU Braunschweig.

Hauke Brunkhorst, geb. 1945 in Mar- Josiane Meier, geb. 1979 in Chur/ International Quartly Edition – ne/Holstein, Dr. phil., Professor für So- Schweiz, Dipl.-Ing., wissenschaftliche »Best of NG/FH« alle 3 Monate ziologie an der Universität Flensburg. Mitarbeiterin am Institut für Stadt- in englischer Übersetzung und Regionalplanung der TU Berlin. Helmut Fehr, geb. 1945 in Wollrode/ Hessen, Dr. phil., Professor für Euro- Antje Schrupp, geb 1964 in Weilburg, päische Regionalforschung an der An- Politikwissenschaftlerin, freie Publi- drássy Universität Budapest/Ungarn. zistin und Übersetzerin.

Christoph Fleischmann, geb. 1971 in Hilden/Rheinland, ev. Theologe, freier Journalist u.a. für den ARD- Rundfunk.

... weil Politik im Kopf anfängt! Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage der Initiative »Adopt a Revolution«. Wir bitten um freundliche Beachtung.

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