Plenarprotokoll 12/132

Deutscher

Stenographischer Bericht

132. Sitzung

Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Inhalt:

Zusatztagesordnungspunkt 3: Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . 11492B Erste Beratung des von den Fraktionen SPD 11493D der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur klar- CDU/CSU 11494 A stellenden Ergänzung des Grundgeset- zes (Drucksache 12/4107) Tagesordnungspunkt 13: Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . 11463B Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . . . . 11466A und F.D.P. eingebrachten Entwurfs Dr. F.D.P. ...... 11468A eines Fünfzehnten Gesetzes zur Ände rung des Abgeordnetengesetzes und Günter Verheugen SPD ...... 11469 C eines Dreizehnten Gesetzes zur Ä n-- Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . 11470C derung des Europaabgeordnetenge- Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE setzes (Drucksachen 12/3978, 12/4125, 12/4126) GRÜNEN ...... . . . . . 11472 B Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . . 11474A Dieter Wiefelspütz SPD ...... 11495 A Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . . 11475C, Manfred Richter (Bremerhaven) F.D.P. . 11496A 11482A, 11483B Dr. Dagmar Enkelmami PDS/Linke Liste 11496D Norbert Gansel SPD . 11476D, 11487 C Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Günter Verheugen SPD . . 11477B, 11480C GRÜNEN ...... 11497 B CDU/CSU ...... 11478 D Joachim Hörster CDU/CSU ...... 11497 D Dr. F.D.P...... 11480A Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . 11498A, 11499A Karl Lamers CDU/CSU 11481A Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste . . . . 11498C Volker Rühe, Bundesminister BMVg . 11483A Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste (Erklärung Dr. SPD . . 11483D, 11493A nach § 31 GO) 11499C SPD ...... 11485C Ortwin Lowack fraktionslos (Erklärung Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/ nach § 31 GO) ...... 11499 C CSU ...... . . . . 11486 C Tagesordnungspunkt 14: Manfred Richter (Bremerhaven) F.D.P. 11487B a) Zweite und dritte Beratung des von der Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . , 11487D Bundesregierung eingebrachten Ent- Paul Breuer CDU/CSU . . . . 11488D, 11492A wurfs- eines Gesetzes über gebäude und wohnungsstatistische Erhebungen Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD 11489C, 11491 D (Wohnungsstatistikgesetz) (Drucksa- Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU , . . . , 11491 D chen 12/3043, 12/4108, 12/4109) II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 b) Beratung des Antrags der Abgeordne- Tagesordnungspunkt 15: ten Norbert Formanski, Achim Groß- Beratung der Beschlußempfehlung und mann, Dieter Maaß (Herne), weiterer des Berichts des Ausschusses für Frauen Abgeordneter und der Fraktion der SPD: und Jugend zu der Unterrichtung durch Erhöhung der Einkommensgrenzen im die Bundesregierung: Maskuline und sozialen Wohnungsbau (Drucksache feminine Personenbezeichnungen in 12/3913) der Rechtssprache c) Beratung der Beschlußempfehlung und Bericht der Arbeitsgruppe Rechtsspra- des Berichts des Ausschusses für Raum- che vom 17. Januar 1990 (Drucksachen ordnung, Bauwesen und Städtebau zu 12/1041, 12/2775) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Hanna Wolf SPD 11519B Seifert, Dr. und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Nachbesserung Susanne Rahardt-Vahldieck CDU/CSU 11521A des Wohngeldsondergesetzes (Druck- Hanna Wolf SPD ...... 11521 D sachen 12/3473, 12/3976) Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE d) Beratung der Beschlußempfehlung und GRÜNEN ...... 11522 A des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Uta Würfel F.D.P ...... 11522 D Seifert, Dr. Barbara Höll und der Gruppe Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜ der PDS/Linke Liste: Verlängerung der NEN 11523C Regelungen über den erweiterten Kün- , Parl. Staatssekretärin digungsschutz für Mieter in den neuen BMFJ 11524 A Bundesländern und in Ost-Berlin (Drucksachen 12/1974, 12/4116) , Parl. Staatssekretär BMJ 11524D e) Beratung der Beschlußempfehlung und Tagesordnungspunkt 16: des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja a) Erste Beratung des von der Fraktion der Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- der PDS/Linke Liste: Verschiebung der setzes zur Änderung des Sexualstraf- 2. Mietsteigerung zum 1. Januar 1993 rechts (§§ 177 bis 179, 184c StGB) um ein Jahr (Drucksachen 12/3284, (Drucksache 12/1818) 12/4116) b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- f) Beratung der Beschlußempfehlung und gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur des Berichts des Haushaltsausschusses Änderung des Sexualstrafrechts (§§ 177 zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. bis 179, 184c StGB) (Drucksache Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der 12/2167) Gruppe der PDS/Linke Liste: Umwand-- c) Erste Beratung des von der Abgeordne- lung der sogenannten Altschulden der ten Christina Schenk und der Gruppe Wohnungswirtschaft in den ostdeut- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- schen Bundesländern und in Ostberlin brachten Entwurfs eines Gesetzes zur in Fördermittel des Bundes (Drucksa- Änderung des Sexualstrafrechts (§§ 177 chen 12/3474, 12/3982) bis 179 StGB) und strafprozessualer Norbert Formanski SPD 11500D Regelungen bei Taten gegen die sexu- elle Selbstbestimmung von Frauen Dr. Walter Hitschler F.D.P. . 11502B, 11506C (Drucksache 12/3303) Jürgen Sikora CDU/CSU 11503 C Dr. Hans de With SPD 11526 A

Dr. Walter Hitschler F D P 11505A CDU/CSU 11527 B Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 11506B Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 11529A Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Hans A. Engelhard F D P. 11529D NEN ...... 11507D Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Dr. , Bundesministerin NEN 11531A BMBau ...... 11509 A Anni Brandt-Elsweier SPD 11532B Norbert Formanski SPD ...... 11509 D Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin Peter Götz CDU/CSU 11511B BMFJ 11533C Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekre Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ 11534C tär BMF 11512D Dr. SPD 11514A Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . 11516 D Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zur Krise der Stahlindu- Achim Großmann SPD , , . . . . , 11517 A strie in der Bundesrepublik Deutsch- Hans Raidel CDU/CSU , ...... 11517 B land Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 III

Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . . 11535C Anlage 2 Günter Klein () CDU/CSU . . . 11537A Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung Ernst Schwanhold SPD 11537D über den Entwurf eines Fünfzehnten Geset- Paul K. Friedhoff F D P. 11538D zes zur Änderung des Abgeordnetengeset- zes und eines Dreizehnten Gesetzes zur Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär Änderung des Europaabgeordnetengeset- BMWi 11539D zes (Tagesordnungspunkt 13) Arne Börnsen (Ritterhude) SPD 11540 D Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein SPD 11549* D CDU/CSU 11541D Friedhelm Julius Beucher SPD 11550* A Wolfgang Weiermann SPD ...... 11542 D Friedhelm Ost CDU/CSU ...... 11543D Günter Graf SPD 11550* B F.D.P. 11544 C Susanne Kastner SPD 11550* B Hans Koschnick SPD 11545 C Walter Kolbow SPD 11550* B Dr. CDU/CSU . . . . . 11546 C Dr. Ruprecht Vondran CDU/CSU . . . 11547C Siegfried Scheffler SPD 11550* C Nächste Sitzung 11548C

Anlage i Anlage 3 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 11549 * A Amtliche Mitteilungen 11551* A

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132. Sitzung

Bonn, den 15. Januar 1993

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die Sitzung ist Geschichte schon oft so. Die Waffenarsenale, auch die eröffnet. nuklearen, sind dafür in der Erbmasse des ehemaligen Sowjetreiches immer noch in überreichem Maße vor- Ich rufe Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf: handen. Erste Beratung des von den Fraktionen der So bleibt der Friede gefährdet, und der Friede ist CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs zumindest in Europa unteilbar. Das, meine Damen eines ... Gesetzes zur klarstellenden Ergän- und Herren, heißt, daß auch in Zukunft jeder, der zur zung des Grundgesetzes Durchsetzung politischer Ziele militärische Mittel — Drucksache 12/4107 — anwenden möchte, überzeugt werden muß, daß das Überweisungsvorschlag: nicht lohnt, weil er, wenn er es tun würde, auf den Rechtsausschuß (federführend) entschiedenen und überlegenen Widerstand der zivi- Auswärtiger Ausschuß lisierten Völkergemeinschaft stoßen würde. Das ist Innenausschuß der Weg, den Frieden zu sichern. Wenn Sie so wollen, Verteidigungsausschuß ist es eine Abschreckungsstrategie oder eine Strategie EG-Ausschuß Haushaltsausschuß der „dissuasion" — der französische Beg riff der Ent- mutigung beschreibt eigentlich besser, was wir wollen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für und meinen —, und diese Strategie ist bezogen auf die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ich sehe unsere nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes so und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. multipolar gewordenen Friedensgefährdungen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Frak- tionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Dr. Schäuble. Weil der Friede unteilbar ist, geht es bei dem, worüber wir debattieren, auch um unsere eigene Sicherheit. Weil es um unsere eigene Sicherheit geht, Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsiden- müssen wir uns daran mit gleichen Rechten und tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit dem Pflichten beteiligen. Denn Friedenssicherung heißt — Ende des Zweiten Weltkriegs sind mehr Menschen heute vielleicht mehr denn je — Bündnisfähigkeit. So durch Kriege ums Leben gekommen als in diesem hat sich immer der Verteidigungsauftrag der Bundes- schrecklichen Weltkrieg selbst mit seinen furchtbaren wehr definiert. Verlusten, und mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist Krieg leider auch wieder mitten in Europa möglich Genauso müssen wir übrigens die Bemühungen der geworden. Während wir heute morgen hier debattie- Vereinten Nationen unterstützen und fördern, Frie- ren, wird ein paar hundert Kilometer von uns entfernt den zu wahren und Frieden zu schaffen, auch wenn im ehemaligen Jugoslawien ein entsetzlicher Krieg wir von einem Gewaltmonopol der Vereinten Natio- geführt, ein Krieg, in dem die Menschenrechte mit nen noch weit entfernt sind, von dem ja im übrigen Füßen getreten werden. Wir alle sind Tag für Tag auch die Charta der Vereinten Nationen ausdrücklich Zeugen, und niemand wird sagen können, er habe es nicht ausgeht. nicht gewußt. Aber selbst wenn wir davon noch weit entfernt sind, Wir müssen darauf achten, daß dieser elende Krieg sollten wir uns doch wenigstens an dem beteiligen, nicht auch noch schlechte Schule macht, denn Mög- was die Vereinten Nationen heute und morgen zur lichkeiten für weitere gewalttätige Konflikte gibt es Friedenswahrung und zur Konfliktbewältigung lei- zuhauf, überall, wo der totalitäre Sozialismus das sten und leisten könnten, und wir müssen uns daran friedliche, freiheitliche, föderale Aufarbeiten von mit gleichen Rechten und Pflichten beteiligen. Es wird

Volksgruppen - , Minderheiten - und religiösen Kon- jedenfalls auch in Zukunft Frieden und Freiheit nicht flikten verhindert hat. Solche Konflikte können leicht zum Nulltarif geben. zu neuen diktatorischen Strukturen führen, und sol- che Diktaturen könnten leicht versucht sein, durch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aggression nach außen von ihrer Unfähigkeit abzu- Nachdem wir Einheit und volle Souveränität für lenken, innere Probleme zu lösen. Das war in der unser Deutschland wiedererlangt haben, erwarten 11464 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Dr. Wolfgang Schäuble eben Europa und die Weltgemeinschaft von uns, daß verfassungsergänzende Klarstellung einigen. Als wir wir unseren Beitrag zur Friedenssicherung — wie alle Sie zu Gesprächen eingeladen haben, haben Sie anderen — nicht verweigern. Wir haben über 40 Jahre gesagt, wir als Koalition mögen eine Initiative im lang letztlich ganz gut damit gelebt, daß für Krieg und Bundestag einbringen. Wir haben gesagt: Wenn das Frieden andere zuständig waren, über die wir uns der Weg zu Gesprächen ist, machen wir es. Das haben notfalls noch entrüsten und gegen die wir notfalls noch wir am Mittwoch beschlossen und gesagt, weil es eilig demonstrieren konnten. sei, wollten wir gleich heute die erste Lesung machen. Das ist der Tatbestand. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aber damit ist es jetzt vorbei. Deshalb müssen wir jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Voraussetzungen schaffen, daß sich auch unsere Nun denke ich, daß Sie die Gespräche und die an kollektiven Maßnahmen zur Siche- Bundeswehr Beratungen auch nicht verweigern, sondern daß wir beteiligen kann. rung des Friedens uns so rasch wie möglich um eine gemeinsame Lösung Verfassungsrechtlich ist das nach unserer Überzeu- bemühen. gung und nach der ganz überwiegenden Meinung der Rechtswissenschaft durch Art. 24 unseres Grundge- Mit unserem Vorschlag zur Ergänzung des Art. 24 setzes schon heute hinreichend geregelt und wollen wir klarstellen, daß unbeschadet des Art. 87 a geklärt. des Grundgesetzes die Streitkräfte des Bundes auch (Beifall bei der CDU/CSU) bei friedenserhaltenden und bei friedensherstellen- den Maßnahmen auf Grund entsprechender Be- Aber wir haben immer gesagt, und alle Bundesregie- schlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen rungen haben es über Jahrzehnte gesagt, daß wir vor eingesetzt werden können — und darüber hinaus einer Entscheidung über einen Einsatz der Bundes- auch in Ausübung des Rechts zur kollektiven Selbst- wehr eine Klarstellung für wünschenswert halten, verteidigung, wie es in Art. 51 der Charta der Verein- weil man in einer solchen Lage nicht über die recht- ten Nationen festgelegt ist. Kollektive Selbstverteidi- lichen Grundlagen streiten soll. gung heißt in der Sprache der Charta der Vereinten Deswegen hat die Koalition den Sozialdemokraten Nationen, daß jedes Mitglied der Vereinten Nationen Gespräche über eine klarstellende Verfassungsände- einem anderen angegriffenen Mitglied auf dessen rung angeboten, um die verfassungsrechtlichen Fra- Bitte hin zu Hilfe kommen kann, bis der Sicherheitsrat, gen außer Streit zu stellen. Wir lassen uns dabei auch dem solche Maßnahmen sofort anzuzeigen sind, die von der Überzeugung leiten, daß wir besser in Bonn erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. entscheiden, als den Streit nach Karlsruhe zu verla- gern. Wir schlagen vor, daß wir darüber hinaus einschrän- kend festlegen, daß wir eine solche Maßnahme nie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mals allein, sondern immer nur gemeinsam mit ande- Ich sage noch einmal: Das hat nichts mit unserer ganz ren Staaten, mit denen wir verbündet sind, treffen festen Überzeugung zu tun, daß die verfassungsrecht- dürfen. Wir wollen damit auch ausdrücken, daß wir liche Lage heute klar ist, aber wir wollen es außer den Frieden durch unsere Einbindung in Bündnisse sicher halten wollen, wozu allerdings auch gehört, daß Streit stellen. Deswegen sind wir bereit und bieten eine Verfassungsergänzung zur Klarstellung dessen wir unsere Pflichten in diesen Bündnissen entspre- an, was — gegen unsere Überzeugung — bestritten chend mit übernehmen. ist. Ich denke, die Sozialdemokraten sollten unseren Die Sozialdemokraten haben auf unser Angebot Vorschlag nicht ablehnen. Sie sollten ihn klug beden- und unsere Einladung zu Gesprächen gesagt, die ken, und Sie werden finden, daß Sie keinen tragfähi- Koalition möge doch eine Initiative im Bundestag gen Grund zur Ablehnung haben. einbringen. Sie haben das zur Vorbedingung für Gespräche gemacht, und wir sind dieser Bitte unver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — züglich nachgekommen und legen Ihnen eine Initia- Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) tive zur Ergänzung des Grundgesetzes vor. Die Beschränkung auf Blauhelmeinsätze, wie sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — von manchen von Ihnen vertreten wird, macht ja Lachen bei der SPD) schon lange keinen Sinn mehr. Das wissen Sie ja. Die Trennung von Blauhelm- und anderen Einsätzen im — Ich finde überhaupt nicht, daß das zum Lachen ist. Rahmen der Vereinten Nationen ist durch die tatsäch- Ich halte das nicht für einen Anlaß, aus dem wir die liche Entwicklung doch längst überholt und obsolet. üblichen parteitaktischen Spielereien be treiben soll- ten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Günter Verheugen [SPD]: Was machen Sie denn gerade?) Das hat auch Ihr Vorsitzender, der Kollege Klose, in diesen Tagen wieder ausdrücklich bestätigt. Wir haben Sie um Gespräche gebeten. Wir sind uns alle einig, daß wir die Entscheidung nicht Karlsruhe Derartige Abgrenzungen sind im übrigen nicht nur zuschieben, sondern selbst entscheiden. Wir haben eher akademisch, sondern vermitteln auch noch den Ihnen Gespräche vorgeschlagen, wir beharren darauf. falschen Eindruck, als wären Blauhelmeinsätze der Wir sind keine Prinzipienreiter und keine Rechthaber. Vereinten Nationen eher etwas Harmloses und Unge- Wir sagen: Bitte sehr, wir wollen uns über eine fährliches. Das ist schließlich etwa angesichts der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11465

Dr. Wolfgang Schäuble Blauhelmaktion in Bosnien-Herzegowina reichlich — Wir fangen jetzt mit den Beratungen an. Sie werden unverantwortlich. Ihre Argumente darlegen. Ich lege gerade die unseren dar. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der CDU/CSU: Überall auf der Es geht um die Handlungsfähigkeit, um die Bünd- Welt!) nisfähigkeit, es geht um die Friedensfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Da darf sich keiner In einer Bürgerkriegssituation wie in Somalia ist es verweigern. Im übrigen haben unsere Soldaten eben mit der bloßen Anwesenheit fremder Truppen Anspruch auf Klarheit, auf Solidarität und auf Konsens auch nicht getan, sondern ein solcher Einsatz hilft den aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Menschen nur, wenn man die Menschen auch vor Gewalt schützt und Gewalt bekämpft. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Also noch einmal: Die Trennung, die Differenzie- Wir alle gemeinsam wollen die Vereinten Nationen rung zwischen Blauhelm- und anderen Einsätzen der Vereinten Nationen, wie sie von manchen in der stärken. Deshalb sind Entscheidungen ohne Be- schlüsse des Sicherheitsrates nicht das, was wir als Sozialdemokratie noch vertreten wird, ist kein tragfä- Regelfall anstreben, ganz im Gegenteil. Aber uns higer Ansatz für eine Lösung der politischen Pro- durch eine Verfassungsänderung darauf einzuschrän- bleme. ken, das würde gegen unsere Bündnisverpflichtun- UNO-Generalsekretär Boutros Ghali, der uns in gen verstoßen, und es würde uns international und dieser Woche in Bonn besucht hat, hat öffentlich an europäisch isolieren. Sie wissen, daß wir Verpflichtun- Pflichten aus der uns Deutsche appelliert, unsere gen eingegangen sind, uns an friedensherstellenden Charta der Vereinten Nationen einschließlich militä- Maßnahmen auf der Grundlage der Charta der Ver- rischer Einsätze vollständig wahrzunehmen. Er hat einten Nationen zu beteiligen. Deswegen dürfen wir dabei ganz ausdrücklich auch friedenserzwingende jetzt nicht unsere Verfassung ändern und diese Mög- Maßnahmen angesprochen. Der außenpolitische lichkeit ausschließen. Sprecher der SPD-Fraktion hat danach erklärt, man Aber indem wir sagen, wir wollen jede Entschei- müsse über diese Wünsche von Boutros Ghali neu dung im Einzelfall nur mit der Zustimmung einer reden. Er hat im übrigen auch darauf hingewiesen, Zweidrittelmehrheit des Bundestages treffen, kann daß Präsident und Vizepräsident der Sozialistischen eine Entscheidung gegen Ihre Stimmen nicht getrof- Internationale, und Boutros Ghali, in fen werden. Ohne den notwendigen Konsens der dieser Frage seinerzeit einer Meinung gewesen politischen Kräfte wollen wir solche Entscheidungen seien. nicht treffen. Deswegen denke ich, daß die Sozialdemokraten Weil wir uns international und europäisch nicht dies alles als Chance zum Umdenken nutzen soll- isolieren dürfen, kann sich auch niemand verweigern, ten. und niemand kann verantworten, sich einer Zustim- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord mung zu dieser klarstellenden Initiative zu verwei- neten der F.D.P.) gern, auch nicht im Respekt vor den Beschlüssen Ihres - Parteitages. Noch einmal: Die Trennung zwischen Blauhelm- und Die und Berechenbarkeit der Bun- anderen Einsätzen macht keinen Sinn, und Sie wissen Verläßlichkeit desrepublik Deutschland für die Sicherung von Frie- das. den und Freiheit ist entscheidend wichtig. Weil das so Dann bleibt der Punkt mit dem Recht auf individu- ist, will ich ausdrücklich betonen, daß durch die von elle und kollektive Selbstverteidigung. Ich finde, Sie uns vorgeschlagenen Formulierungen die Vorausset- können unserem Vorschlag schon deshalb zustim- zungen für den Einsatz der Bundeswehr zur Vertei- men, weil wir solche Einsätze an die Voraussetzung digung des NATO- und WEU-Gebietes gegenüber der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit der Mit- der geltenden Rechtslage nicht verändert werden glieder des Bundestages im Einzelfall binden wollen. sollen und dürfen. Das heißt, wir wollen solche Entscheidungen immer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge nur im Einvernehmen mit der großen Oppositions- ordneten der F.D.P.) fraktion treffen. Deswegen haben Sie eigentlich wenig überzeugende Argumente, auch insoweit Noch einmal: Die Sache, verehrte Kolleginnen und unseren Vorschlag abzulehnen. Kollegen, ist wichtig, und sie ist eilbedürftig. Wir wissen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schnell unter weitergehende Entscheidungszwänge Die Sache ist viel zu wichtig, meine Damen und gestellt sehen kann. Je schneller und je klarer wir die Herren, als daß wir sie zu parteitaktischen Spielereien politischen und rechtlichen Fragen außer Streit stel- mißbrauchen dürften. len, um so besser dienen wir dem Frieden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Niemand, keiner von uns will Soldaten der Bundes- sowie bei Abgeordneten der SPD) wehr leichten Herzens in gefährliche Einsätze entsen- den, und niemand verfügt leichtfertig über Leben und Sie haben überhaupt keinen Grund, irgend etwas zu Gesundheit unserer Soldaten. Es gehört auch zum reklamieren, weil wir genau das gemacht haben, Ernst dieser Debatte, daß wir uns darüber einig sind worum Sie gebeten haben. und uns das nicht gegenseitig absprechen. (Zuruf von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 11466 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzurig. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Dr. Wolfgang Schäuble Aber zur Wahrheit gehört auch, daß der Friede fragen der Außen- und Sicherheitspolitik des verei- gefährdet bleibt und daß er auch unteilbar bleibt. Je nigten Deutschland zur Zeit unvereinbar sind. mehr sich die Gemeinschaft der Europäer und die zivilisierte Weltgemeinschaft für den Frieden enga- Unsere Unterschiede beschränken sich nicht auf gieren und je besser und klarer wir dazu unseren Einzelheiten, die sich durch eine parlamentarische Beitrag leisten, um so besser sind die Chancen, den Beratung in einzelnen Ausschüssen des Bundestages Frieden zu wahren. überbrücken ließen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) Das ist der Auftrag unserer Bundeswehr, dafür leisten unsere Soldaten ihren Dienst, und dafür müssen wir Wenn Sie nicht bereit sind, Ihren Vorschlag nicht nur verantwortlich handeln. im Detail, sondern grundsätzlich zu revidieren, wird sich im Bundestag für diesen Vorschlag keine Zwei- Wir stehen heute vor großen Herausforderungen drittelmehrheit finden. Der Vorschlag wird Makulatur und Gefahren. Aber wenn wir entschlossen und mutig bleiben und, historisch gesehen, im Papierkorb lan- handeln, können wir sie meistern. Wir haben große den. Chancen, aber sie werden uns nicht geschenkt. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD — Hein rich Lummer der F.D.P.) [CDU/CSU]: Sie reden doch dummes Zeug!)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der Erstens. Wir lehnen Ihren Vorschlag nicht deshalb Abgeordnete . ab, weil wir der heutigen Bundesregierung oder unseren europäischen und atlantischen Partnern weniger als der UNO trauten, sondern deshalb, weil Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Frau Präsiden- wir es in einer Zeit, in der politisch und völkerrechtlich tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach die Tendenz, die UNO zur zentralen Friedensinstanz mehr als einem Jahr einer zermürbenden Kontroverse mit Interventionsmonopol zu machen, vorherrscht, für innerhalb der Regierungskoalition haben Sie heute ein historisch rückschrittliches Signal halten, wenn endlich einen gemeinsamen Entwurf zur Änderung Sie das Grundgesetz mit dem Ziel militärischer Inter- des Grundgesetzes vorgelegt. Damit hatten Sie prin- ventionen auch außerhalb von Sicherheitsratsent- zipiell den Standpunkt der SPD akzeptiert, daß das scheidungen verändern, also dafür öffnen wollen. Grundgesetz einer Änderung bedarf, bevor sich die Bundeswehr an Einsätzen über ihren bisherigen (Beifall bei der SPD) begrenzten Auftrag hinaus beteiligen darf. Zweitens. Wir lehnen diesen Vorschlag ab, weil (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der damit ein Schritt in eine vorrangig von den Interessen CDU/CSU) der Industriestaaten bestimmte vermachtete Inter- Allerdings muß ich feststellen, daß nach dem Beitrag ventionspolitik gegangen wird von Herrn Schäuble meine Hoffnung zerstoben ist, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein böser daß Sie zumindest in diesem Punkt zu dem- verfas- sungspolitischen Konsens aller bisherigen Bundesre- Ausdruck!) gierungen zurückgekehrt sind. und selbst bei heute besten Absichten der Bundesre- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ gierung künftiger Mißbrauch keineswegs ausge- CSU]: Das ist ja wohl ein Irrtum!) schlossen bleibt. Seit nun fast einem Jahr liegt dem Bundestag ein Vorschlag der SPD zugunsten von friedenserhalten- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Karl den Blauhelmeinsätzen der Bundeswehr vor. Wäre Lamers [CDU/CSU]: Sie haben Angst vor dieser Vorschlag von Ihnen akzeptiert worden oder sich selber!) zumindest konstruktiv aufgegriffen worden, Ihr Entwurf bedeutet im Extremfall eben auch, daß (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Er ist ver Deutschland im Zweier- oder Dreierbündnis mit Groß- bessert worden!) britannien oder Frankreich oder mit der gesamten dann könnten sich Einheiten der Bundeswehr heute Westeuropäischen Union in Afrika oder im Nahen auf einer rechtlich eindeutigen und verfassungsrecht- Osten kämpfen könnte — und das ohne eine vorher- lich nicht umstrittenen Basis an allen Einsätzen betei- gehende Entscheidung des UNO-Sicherheitsrates ligen, die der Generalsekretär Boutros Ghali von (Zurufe von der CDU/CSU: Falsch!) Deutschland in Somalia wünscht — ohne irgendeine Ausnahme. und immer dann, wenn uns irgendeine Regierung in (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) Afrika oder im Nahen Osten um Beistand bittet. Es ist und bleibt Ihre Schuld, daß die Klärung bis zum (Günter Verheugen [SPD]: Das ist noch nicht heutigen Tag verweigert wurde. Ihr Vorschlag heute einmal nötig!) bringt uns einem parlamentarischen Kompromiß nicht einen einzigen Millimeter näher. Im Gegenteil: Sein Eine gegenteilige Entscheidung des UNO-Sicher- einziges Verdienst ist es, endgültig klarzustellen, daß heitsrates können die westlichen Mitglieder des unsere Auffassungen über die künftigen Aufgaben Sicherheitsrates dann immer blockieren. Insofern hilft der Bundeswehr und damit letzten Endes über Grund dieser Hinweis überhaupt nichts. Eine derartige Pra- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11467

Karsten D. Voigt (Frankfurt) xis würde tatsächlich zu einer Militarisierung der unfähig. Jetzt sind ihre Vorlagen Ausdruck nicht nur deutschen Außenpolitik führen. von Hektik, sondern auch von Schlampigkeit. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad (Beifall bei der SPD) Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Lassen Sie uns bei allem grundsätzlichen und heute — Widerspruch bei der CDU/CSU) durch keinen Kompromiß zu überbrückenden Streit Das wäre eine verhängnisvolle Weichenstellung, weg über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr ohne von unserem Ziel einer deutschen Friedensmacht in Preisgabe unserer unterschiedlichen Rechtsauffas- Richtung auf eine militärische Interventionsmacht. sungen darüber nachdenken, was das Grundgesetz bereits heute zuläßt Ein falsches Konzept wird nicht dadurch annehm- barer, daß es im Einzelfall einer Zweidrittelmehrheit (Beifall des Abg. Günter Rixe [SPD] — Dr. bedarf, um ein falsches Konzept zu verwirklichen. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Was ist denn (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ihre Rechtsauffassung?) Wenn Sie sich in Ziffer 3 Ihres Entwurfes darauf und was wir im Grundgesetz gemeinsam verankern beschränkt hätten, den Bündnisfall ausdrücklich an könnten! Lassen Sie uns jetzt jenseits des Streites über eine Zweidrittelmehrheit zu binden, dann hätte diese Rechtsauffassungen in dem einen Punkt, in dem wir Ziffer unsere Zustimmung finden können. einer Meinung sind, nämlich der Beteiligung der Bundeswehr an friedenserhaltenden Blauhelmein- ( [CDU/CSU]: Dann wä- sätzen, eine Einigung finden, die die sonstigen unter- ren wir ja vertragsbrüchig!) schiedlichen politischen Konzeptionen und Rechts- auffassungen nicht berührt! Ich sage dies noch einmal: Statt dessen aber versteckt sich in dieser Ziffer hinter Wir brauchen in diesem Punkt einen Konsens, der verklausulierten Formulierungen das ganze Ausmaß verfassungsrechtlich Klarheit schafft und sonst keine einer wieder einmal umgefallenen F.D.P. der unterschiedlichen Auffassungen in irgendeiner (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen]: [F.D.P.]: Form rechtlich beeinträchtigt. Das glauben noch nicht einmal mehr Ihre Wenn Sie dieses Angebot zur Güte, das ich im roten Haudegen!) Interesse der Handlungsfähigkeit der deutschen Die unausgegorenen Formulierungen Ihres Ent- Außenpolitik mache, ausschlagen, dann sehe ich wurfes führen übrigens dazu, daß der Bundetag künf- keine Möglichkeit für einen parlamentarischen Kom- tig eine Zweidrittelmehrheit braucht, um Frankreich promiß in dieser Legislaturperiode. Es blieben dann beizustehen, wenn es angegriffen wird, nur noch zwei gleichermaßen schlechte Alternativen: Entweder die Bundeswehr beteiligt sich auch weiter- (Zuruf von der CDU/CSU: Falsch!) hin nicht einmal an friedenserhaltenden Maßnahmen aber daß es nach Ziffer 2 Ihres Entwurfes nur einer — obwohl auch wir Sozialdemokraten dies nicht nur einfachen Mehrheit des Bundestages bedarf, wenn unterstützen, sondern geradezu darauf drängen, weil deutsche Soldaten zur Verteidigung des Kuwait am wir Boutros Ghali mit seinen Reformabsichten im Golf kämpfen sollen. Rahmen der Vereinten Nationen unterstützen wol- - len —, oder Sie handeln im Verfassungsstreit gegen (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sie übertün uns. Das ist gleichermaßen schlecht und wäre nur chen Ihre Unsicherheit!) möglich, wenn die F.D.P., die unter Bundesaußenmi- Damit haben weltweite Interventionsabsichten für nister Genscher stolz darauf war, Urheber unserer die Koalitionsparteien offensichtlich Vorrang vor Verfassungsinterpretation zu sein, erneut umfiele. Bündnisverpflichtungen. Dies halte ich nicht für unwahrscheinlich — eher für wahrscheinlich —, wenn auch aus unserer Sicht für (Widerspruch bei der CDU/CSU) nicht wünschenswert. Dies muß die F.D.P. aber letzten Das ist absurd und völlig inakzeptabel. Zugleich ist es Endes selber entscheiden. Ein Umfallen würde uns bezeichnend für den bei der Mehrheit der Koalition nicht überraschen; aber dies würde bedeuten, daß gegenwärtig vorherrschenden Trend einer konzeptio- Bundeswehrsoldaten auf verfassungsmäßig strittiger nellen Neuorientierung der deutschen Außenpolitik. Grundlage in weltweite Einsätze verstrickt würden. Das müßte dazu führen, daß wir in einem solchen Fall Der Entwurf ist mit derart heißer Nadel gestrickt — denn wir werden nicht umfallen — worden, daß trotz der Befassung zweier Ministerien und ausgewiesener Fraktionsexperten ein Vorschlag (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Pfeifen im Walde!) erarbeitet worden ist, der im Zeitpunkt der Veröffent- zur Klärung der rechtlichen Grundlagen vor das lichung von Professor Scholz am liebsten wieder Verfassungsgericht gehen müßten. eingestampft worden wäre. Dieser Vorfall wirft aller- dings nicht nur ein Licht auf die Arbeitsweise der Unser Kompromißvorschlag macht uns für 95 % Bundesregierung; er macht auch deutlich: Gerade im aller denkbaren UNO-Missionen sofort handlungsfä- Umgang mit der Verfassung sind Sorgfalt und Ruhe hig. Ich appelliere an Sie: Gehen Sie auf diesen wichtig. Kompromißvorschlag ein, damit wir diese politische Frage hier im Bundestag entscheiden können und die (Karl Lamers [CDU/CSU]: Reden Sie einmal rechtliche Klärung nicht dem Bundesverfassungsge- zur Sache!) richt überlassen müssen! Darüber hinaus sage ich Ein Jahr lang waren die Bundesregierung und die Ihnen: Wenn wir uns auf Blauhelmeinsätze einigen, Koalitionsfraktionen handlungs- und entscheidungs und zwar im ganzen Spektrum der Blauhelmeinsätze 11468 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Karsten D. Voigt (Frankfurt) — dieser Begriff hat sich ja weiterentwickelt —, dann vorzulegen. Wir sind dieser Aufforderung gefolgt, werden wir Erfahrungen sammeln, und die internatio- vermutlich wesentlich schneller, als viele von Ihnen nale Völkergemeinschaft wird mit uns Erfahrungen das für möglich gehalten haben. Möglicherweise ist sammeln. Dieses langsame Herangehen an eine neue die eine oder andere Panikreaktion auch darauf internationale Verantwortung wird in Wirklichkeit zurückzuführen. auch von denen begrüßt, die uns jetzt drängen, auch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) bei Militäreinsätzen sofort mitzumachen. Wenn Deutschland Ihrem Ratschlag gefolgt wäre Ich bedanke mich bei allen Partnern, die hier und sofort beim Golfkrieg mitgemacht hätte, wären mitgewirkt haben, insbesondere bei Klaus Kinkel für ein Teil der Leute, die uns jetzt kritisieren, weil wir seinen konstruktiven Ansatz. Er hat mit juristischem nicht mitgemacht haben, die ersten gewesen, die uns Scharfsinn und schwäbischem Pragmatismus in den international wegen eines deutschen Militarismus Koalitionsverhandlungen vorgemacht, wie man einen kritisiert hätten. Auch das muß man bei der Umorien- Ausweg aus vermeintlich festgefahrenen Situationen tierung der deutschen Außenpolitik bedenken. finden kann. Denn zum Ansatzpunkt für den letztlich erfolgreichen Kompromiß wurde die Frage nach dem Vielen Dank. angestrebten Ziel, das die beteiligten Parteien (Beifall bei der SPD) gemeinsam erreichen wollen. So konnten wir es vermeiden, weiter einen ziemlich müßigen Streit zu führen, der darum geht, was denn nun die angemes- Als nächster spricht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: sene Beratungsgrundlage bei der gegenwärtigen Ver- der Abgeordnete Dr. We rner Hoyer. fassungsinterpretation ist. Es war und ist für uns Liberale von elementarer und Dr. Werner Hoyer (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine unverzichtbarer Bedeutung, daß jegliche verfas- sehr verehrten Damen und Herren! Eine gewisse sungsrechtlichen und verfassungspolitischen Zweifel Gefahr besteht in der heutigen Debatte natürlich über einen UN-Einsatz von Bundeswehrsoldaten aus- darin, daß der Text, den wir Ihnen heute vorlegen, gar geräumt werden, bevor wir von jahrzehntelanger keine faire Chance der soliden Begutachtung, Über- verfassungspolitischer Praxis abrücken und uns an prüfung und Beratung bekommt, weil Sie zu voreilig solchen Einsätzen beteiligen können. entscheiden und sich zu schnell auf Bäume hinauftrei- ben lassen oder selber treiben — wir sind uns sehr (Beifall bei der F.D.P.) wohl über die unterschiedlichen Meinungen in der Das sind wir unseren Soldaten schuldig. SPD-Fraktion im klaren —, auf Höhen, von denen Sie nicht mehr herunterkommen. Nur eine Verfassungsänderung kann den für eine so wichtige Entscheidung notwendigen gesellschaftli- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) chen Konsens gewährleisten. Wenn wir den Eindruck Von daher ist meine dringliche Bitte, daß wir aus erwecken, als würden wir uns nicht gemeinsam mit dieser Debatte herausgehen mit der Bereitschaft und aller Kraft um diesen Konsens bemühen, dann, fürchte der Fähigkeit zum Dialog und Gespräch über eine ich, bricht der sicherheitspolitische Grundkonsens in Vorlage, die nach meiner Auffassung einen beherzten diesem Lande, der für uns alle angeblich doch so Schritt auf die Sozialdemokraten zu darstellt. wichtig ist, weg. Dabei ginge es dann um mehr als nur (Lachen bei der SPD — Karl Lamers [CDU/ um die Zustimmung zu einer Einzelentscheidung. Nur CSU]: So ist es!) dann werden wir als Parlamentarier künftig auch in der Lage sein, in einzelnen, konkreten Fällen wirklich Wir als Liberale sind hochzufrieden mit dem heute unter Berücksichtigung der politischen, historischen vorgelegten Entwurf der Koalition. Die Koalition hat in und militärisch-operativen Bedingungen zu entschei- dieser Frage Handlungsfähigkeit bewiesen und damit den, ob sich unsere Streitkräfte an einem UN-Einsatz eine Menge für ihre innenpolitische wie außenpoliti- beteiligen sollen, ohne uns dabei wie bisher auch bei sche Glaubwürdigkeit getan. Unsere Verantwortung grundsätzlicher Zustimmung von verfassungsrechtli- als wichtiges Mitglied der Staatengemeinschaft chen Zweifeln und Unsicherheiten beschränken las- erlaubt es nicht, daß wir uns in dieser Frage noch allzu sen zu müssen. Nur so werden wir — es ist mir lange Zeit nehmen. Im übrigen werden es uns auch besonders wichtig, darauf hinweisen — auch in der unsere Bürger nicht mehr allzulange abnehmen, daß Lage sein, eine deutsche Beteiligung im Einzelfall wir in dieser Frage international ein mehr als bedenk- glaubwürdig nachvollziehbar abzulehnen, liches Bild abgeben, ja letztlich wieder das jämmerli- che Bild abgeben, eine politische Entscheidung, die (Karl Lamers [CDU/CSU]: Eben!) wir auf uns nehmen müssen, dem Bundesverfassungs- ohne daß uns im Ausland vorgeworfen werden kann, gericht zu überlassen. daß wir uns wieder einmal aus purer Bequemlichkeit (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) hinter unserer Verfassung verstecken. Bei seinem Besuch in Bonn in dieser Woche hat (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Generalsekretär Boutros Ghali nochmals in beein- druckender Form vor Augen geführt, was die Völker- Nur so können wir unserer Verantwortung gerecht gemeinschaft heute von uns erwartet. werden. Wir waren und wir sind in der Frage einer Änderung Wir haben Einvernehmen darüber erzielt, daß die des Grundgesetzes zu Gesprächen mit der Opposition Beteiligung an friedensherstellenden und friedensbe- bereit. Aber es war in der Tat ja die SPD, die uns wahrenden Maßnahmen zwingend an einen Beschluß aufgefordert hat, einen eigenen Koalitionsbeschluß des Weltsicherheitsrates geknüpft wird. Das Parla- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11469

Dr. Werner Hoyer ment wird in jedem einzelnen Fall einer möglichen Selbsthilfe- oder Nothilferecht der Charta der Verein- Beteiligung der Bundeswehr an Out-of-area-Einsät- ten Nationen mißbräuchlich Gebrauch macht. Wir zen beteiligt, ja das Parlament wird nicht nur, wie in kennen die Fälle, in denen das geschehen ist. Genau anderen Partnerländern, über ein Informationsrecht deshalb halten wir es für wichtig, daß eine Regierung verfügen, sondern es sind wir Parlamentarier, die als — sie muß ja nicht immer so gut und so zuverlässig gewählte Volksvertreter im Zweifel das letzte Wort sein, wie diese Regierung es ist — haben. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Wir erteilen der Bundesregierung keineswegs eine Lachen bei der SPD) Generalermächtigung zum internationalen Einsatz im Zweifel von der größten Oppositionspartei in der Bundeswehr, diesem Hause daran gehindert werden kann, sich auf Abenteuer einzulassen. Das ist eine wichtige Siche- (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Im Gegenteil!) rung. sondern wir schaffen für uns selbst als Volksvertre- Herr Abgeordneter tung die Möglichkeit — allerdings auch zugleich die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Hoyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Verpflichtung —, in jedem einzelnen Fall vor dem Einsatz unserer Soldaten die Sachlage sorgfältig zu Verheugen? — Bitte. überprüfen und dann unter Berücksichtigung nur unseres eigenen Gewissens ja oder nein zu sagen. Günter Verheugen (SPD): Herr Kollege, nur damit Das Parlament soll mit der Mehrheit seiner Mitglie- sich hier keine falschen völkerrechtlichen Darlegun- der das Plazet zu friedensbewahrenden und friedens- gen testsetzen: Können Sie uns bitte sagen, wo in Art. 51 der UN-Charta die Rede davon ist, daß zum schaffenden Militäreinsätzen auf der Grundlage von Tätigwerden nach Art. 51 ein Hilfeersuchen erforder- UN-Sicherheitsratsbeschlüssen geben können oder lich ist? Oder muß ich daraus schließen, daß Ihnen dieses Plazet eben auch verweigern können. Wir halten damit an unserem seit langem verfolgten Weg nicht bekannt ist, daß die gesamte einschlägige Inter- pretation des Art. 51 davon ausgeht, daß nicht ein fest, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu Hilfeersuchen, sondern lediglich das Einverständnis entwickeln und zu achten. Wir treten endlich aus unserer internationalen Isolation heraus. erforderlich ist? Die Koalition hat sich darauf geeinigt, im Zuge der (F.D.P.): Diese Interpretation ist Grundgesetzänderung auch eine Klausel einzufüh- Dr. Werner Hoyer ren, die es uns ermöglicht, im Rahmen der Wahrneh- mir ehrlich gesagt neu. mung eines Nothilferechts im Sinne von Art. 51 der (Zurufe von der SPD: Aha!) Charta der Vereinten Nationen anderen Staaten zu Ich halte sie aber durchaus für denkbar, was an der Hilfe zu kommen, wenn diese sich selbst in Notwehr rechtlichen Bewertung für mich aber nichts ändert; gegen eine akute Aggression wehren und andere (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Im Gegen Staaten um Hilfe bitten. Allerdings nur so lange — das eil!) steht eben auch in Art. 51 —, bis die UNO ihr Gewaltmonopol wahrnimmt und der Sicherheitsrat--t denn wenn das Einvernehmen von dem in Not befind- den Fall an sich zieht. lichen Staat erfolgt, kann genauso eine Gefahr des Mißbrauchs wie in dem Fall gegeben sein, den ich Sowohl das Recht auf Notwehr als auch das Recht vorher konstruiert habe. Denken Sie nur an Afghani- auf Nothilfe sind in der UN-Charta niedergelegt. Sie stan! Diese Mißbrauchsmöglichkeit ist gegeben. Wir reichen beide weit in die Zeit vor der Verabschiedung werden von daher, wenn wir uns einer grundsätzli- der UN-Charta zurück. Wir wollen die Möglichkeit, chen Option, die für uns persönlich einmal sehr uns mit unseren Streitkräften an Nothilfeaktionen zu wichtig sein kann, nicht begeben wollen, diese Mini- beteiligen, in unserer Verfassung aber an überaus lücke lassen müssen. Wir werden sie dadurch schlie- enge Bedingungen knüpfen. ßen müssen, daß wir eine parlamentarische Siche- (Abg. Günter Verheugen [SPD] meldet sich rung einbauen. zu einer Zwischenfrage) Ich frage mich, ob Sie, wenn Sie selber gefordert — Herr Kollege Verheugen, lassen Sie mich das eben wären, ja zu sagen — andernfalls käme die Aktion nicht zustande —, in sich selbst bzw. in Ihre Führung noch zu Ende führen! Vielleicht kann ich damit schon das erforderliche Vertrauen haben, wenn Sie das einiges ausräumen. ausschließen. Wir werden uns an solchen Aktionen nur gemein- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sam mit Bündnispartnern beteiligen, also niemals alleine handeln. Wir werden nur dann Nothilfe leisten, Schließlich muß auch klar sein, daß wir Nothilfe nur wenn vorher eine Mehrheit von zwei Dritteln der in Erwartung eines Sicherheitsratsbeschlusses leisten. Mitglieder des Deutschen Bundestags einem Einsatz Sie können ja darauf achten, daß es so ist. Eine der Bundeswehr in einem solchen konkreten Fall Militäraktion muß sofort zurückgezogen werden, zugestimmt hat. wenn der Weltsicherheitsrat im Einzelfall zu einer anderen Einschätzung gelangen sollte. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Ich halte es durchaus für denkbar, daß wir über viele ten der CDU/CSU) Punkte, die wir Ihnen hier vorgetragen haben, reden, Das ist wichtig für den Fall, den ich durchaus sehe: daß wenn Beratungs- bzw. Verbesserungsbedarf besteht, ein Mitgliedsland der Vereinten Nationen von dem damit wir zu vernünftigen Ergebnissen kommen kön- 11470 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Dr. Werner Hoyer nen. Nur müssen wir das Gespräch endlich beginnen. Ghali hier in Bonn sollten wir bei der Erwartung auf Die Spielräume, die es in diesem Angebot gibt, auf eine kurzfristige Umsetzung solcher Vorstellungen dieser Brücke, die wir zu Ihnen geschlagen haben, realistisch bleiben. sind erkennbar. Sie sollten nicht von vornherein die Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Brückenpfeiler einreißen, sondern dort, wo Sie noch Kollegen von der Opposition, die Koalitionsfraktionen Lücken sehen, dazu beitragen, die Brücke zu kom- haben mit der heute wunschgemäß eingebrachten plettieren. Gesetzesinitiative eine Brücke gebaut. Prüfen Sie ihre Es besteht von daher noch Verhandlungsbedarf. Es Tragfähigkeit wirklich sorgfältig! Ich glaube, daß wir besteht sicherlich auch Verhandlungsspielraum. Vor- Ihnen ein gewaltiges Stück entgegengekommen sind. aussetzung ist Ihre Gesprächsbereitschaft. Sie wissen, wie schwer wir Liberalen uns mit dem Thema Zweidrittelmehrheit tun. Das können sie sich Lassen Sie mich einen letzten Gedanken anfügen. vorstellen und übernehmen. Ich finde es bedenklich, und es hat mich sehr getrof- fen, daß im Vorfeld dieser Debatte der Eindruck (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Vor erweckt worden ist, als würde nunmehr die Voraus- allen Dingen mit Ihren eigenen Beschlüssen setzung dafür geschaffen, daß die Bundeswehr in eine tun Sie sich offensichtlich sehr schwer!) Interventions- oder gar — wie eine Kollegin gesagt hat Ich fordere Sie eindringlich auf, unser Angebot zum — in eine Angriffsarmee umfunktioniert werden Dialog anzunehmen und sich nicht selber durch eine kann. undifferenzierte Ablehnung des gesamten Pakets die (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: So wird Tür vor der Nase zuzuschlagen. Nehmen Sie keine es!) absolut ablehnenden Positionen ein, von denen Sie — das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bei Ich finde diese Unterstellung infam. Wir sollten das der sozialdemokratischen Partei schon zu oft gegeben aus der Debatte herausnehmen. — später nur mit großer Mühe abrücken können, es (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — letztlich aber doch müssen! Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Aber es Herzlichen Dank. ist so! Rechtlich gesehen ist es so!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Kein Mensch in diesem Hause, mit Sicherheit auch nicht bei CDU/CSU oder F.D.P., hat die Absicht, die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht Bundeswehr zu einer Interventions - oder Angriffsar- die Abgeordnete Andrea Lederer. mee zu machen, im Gegenteil. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- Ich bin persönlich überaus skeptisch und manchmal tin! Meine Damen und Herren! Wenn hier mehrfach, durchaus betroffen, wenn ich feststelle, daß nach dem sozusagen als Zuckerbonbon, die Einschränkung Ende des Kalten Krieges heute geradezu eine Art angeboten wird, daß m an künftig von Alleingängen Renaissance des Denkens in militärischen Konfliktlö- absehen könne, dann frage ich mich, was Ihnen sungskategorien fröhliche Urstände feiert. eigentlich noch alles durch den Kopf geht. Das ist ein (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Punkt, den bisher nicht einmal die CSU gefordert hat. SPD) Wenn das als Verhandlungsmasse gegenüber der SPD angeboten wird, kann man nur Angst bekommen, was Vor dreieinhalb Jahren hätte kein Mensch gewagt, in noch alles auf einen zukommt. solchen Kategorien auch nur zu denken. Deshalb werden wir auch in Zukunft darauf drängen, daß jede Zweitens. Wenn Herr Schäuble davon spricht, daß andere Form der Konfliktlösung einer militärischen manche Staaten durch Aggression von ihrer Unfähig- Aktion vorgezogen wird und alle Möglichkeiten aus- keit ablenken, Probleme zu lösen, dann muß das auch geschöpft werden, bevor wir uns zu einem eventuel- für die Bundesregierung gelten. Wir diskutieren seit len Bundeswehreinsatz bereitfinden könnten, bevor zwei Jahren nichts anderes als Militarisierung und wir uns ihm überhaupt zuwenden. Erweiterung des militärischen Handlungsspiel- raums. Wenn Herr Hoyer hier die Kritiker dieser (Beifall der Abg. Cornelia Schmalz-Jacobsen Militarisierung kritisiert [F.D.P.]) (Zuruf von der CDU/CSU: Wie war das mit Die Bundeswehr ist und bleibt Armee in der Demo- Honecker 1980?) kratie für Frieden und Freiheit. und den Begriff „Renaissance militärischen Denkens" (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) verwendet, ist das eine bodenlose Heuchelei. Denn seit dem Ende der Blockkonfrontation präsentieren Die Bundesrepublik wird ihre Bemühungen aktiv Sie nichts anderes als Vorschläge zu militärischen fortsetzen, auf eine noch effektivere Wahrnehmung Interventionen und dazu, wie sie rechtlich legitimiert des Gewaltmonopols durch den Weltsicherheitsrat werden können. hinzuwirken, damit die UNO ihrer gestiegenen Ver- antwortung gerecht werden kann. Die Reformbemü- (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Das glauben sie hungen im Hinblick auf die Institutionen der Verein- wohl selber nicht!) ten Nationen finden sicherlich unsere volle Unterstüt- — Das glaube ich, und es drückt sich in diesem zung. Eine Reform dieser Institutionen könnte Fort- Gesetzentwurf aus. Wir haben einen solchen Gesetz- schritte bringen. Aber wir sollten realistisch bleiben. entwurf erwartet. Aber er hätte schlimmer nicht kom- Insbesondere nach den Erläuterungen von Boutros men können. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11471

Andrea Lederer Er war deswegen zu erwarten, weil z. B. Herr Der Gipfel dieses Entwurfs ist in der Tat die Ziffer 3, Rüttgers bereits vor einigen Monaten in einem Papier nach der alles möglich ist. Es ist bereits mehrfach schrieb: gesagt worden, in welcher Weise kurzfristig zwei Deutschland und seine europäischen Partner Staaten intervenieren können, wenn sie es, angeblich zur Sicherung von Frieden und Freiheit, für nötig können weder den Entscheidungen der UNO könne die noch den Mechanismen der KSZE alleine die halten. Zu sagen, der UNO-Sicherheitsrat Kontrolle schnell übernehmen, ist pure Heuchelei. Sie Regelung der Konflikte überlassen. Die Unwäg- wissen genau, Sie haben diesen Absatz in den Entwurf barkeiten der Verfahren und Interessen in beiden eingefügt, damit Sie durch militärische Interventionen Institutionen läßt diese ausschließliche Bindung Fakten schaffen können, die Sie auf Grund Ihrer nicht zu. Politik für richtig halten. Sie wissen genausogut, daß Seit einem Jahr geht es nicht mehr um Blauhelme. bereits ein Veto im Sicherheitsrat gegen die Verurtei- Seit einigen Monaten geht es nicht einmal mehr um lung einer solchen Aktion die Legalität und Legitimi- UNO-Kampfeinsätze. Es geht schlicht und einfach tät einer solchen militärischen Intervention herstellen darum, wie die Bundeswehr — zwar nicht im Allein- wird. Das sagen Sie aber hier einfach nicht. gang, aber schon im Zweigang — militärisch interve- nieren kann, und das weltweit. Das ist die Intention Nehmen wir einmal an: Ein deutsch-französisches dieses Gesetzentwurfs. Nichts anderes darf der Bevöl- Eurocorps, eine regionale Abmachung sozusagen, kerung erklärt werden. sieht sonstwo in der Welt die Sicherheit gefährdet und macht so eine Intervention, Hintergrund ist die weltweite Absicherung politi- scher, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer (Zurufe von der CDU/CSU) Interessen, die Aufrechterhaltung des freien Welthan- meldet das ordnungsgemäß im Sicherheitsrat, Ruß- dels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen. land verurteilt das, und irgendwer legt Veto dagegen Das ist ein Zitat vom Vorgänger von Herrn Rühe, ein; vielleicht das zukünftige UNO-Sicherheitsrats- Herrn Stoltenberg. Er hat gute Vorarbeit zur Begrün- mitglied Bundesrepublik Deutschland. — Schon ist dung solcher Gesetzentwürfe geleistet. die Sache gelaufen, schon ist sie legitimiert, und schon Wenn die F.D.P. behauptet, sie sei nicht umgefallen, können Sie weltweit weiter agieren und können diese sondern sie habe eine UNO-Anbindung durchgesetzt, Intervention rechtfertigen. kann ich wirklich nur lachen. Ich zitiere Herrn Kinkel, (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.): Dann kann man der vor einer Woche im Bonner „Generalanzeiger" auch mit einer Zweidrittelmehrheit eine Ver gefragt wurde: Wie denken Sie über deutsche Militär- fassungsänderung machen!) einsätze ohne UN-Anbindung: Das wird genau das sein, womit wir uns auseinander- Das wird von meiner Partei nicht mitgetragen. Kampfeinsätze sollten nur unter dem Dach der setzen. UNO stattfinden. Deswegen ist richtig, was gesagt wurde: Es geht Es ist wirklich ein Witz, was hier ununterbrochen an momentan darum, die Bundeswehr zu einer Interven- Umfallerei passiert. Das führt dazu, daß sich ein Kurs tionsarmee umzufunktionieren, der Bundesregierung durchsetzt, der dieses Land- in (Zuruf von der CDU/CSU: Unerträglich, eine Katastrophe führen wird und die Großmachtpoli- einen solchen Unfug so lange anhören zu tik, die mit dem Anschluß der DDR begonnen wurde, müssen!) fortsetzen und intensivieren wird. Das Verteidigungsministerium in ein Interventionsmi- Was soll nach diesem Gesetzentwurf künftig mög- nisterium umzufunktionieren, lich sein? Blauhelmeinsätze, von denen alle bereits sagen, daß sie fließend in Kampfeinsätze übergehen, (Unruhe bei der CDU/CSU) und im Rahmen von Kampfeinsätzen der UNO jede und es ist im übrigen genau das, was zum Teil zu Recht Form, wobei sich dahinter -- das kann nicht oft genug der Warschauer-Vertrag-Organisation vorgeworfen betont werden — auch die Variante verbirgt, die im wurde. Sie selbst haben das Beispiel Afghanistan letzten Golfkrieg geprobt wurde und mittlerweile angeführt. Das wäre ein Fall sozusagen der Nothilfe, leider zu einem erneuten Angriff der USA auf den Irak die Sie künftig für sich selbst in Anspruch nehmen. geführt hat. Das ist die Variante, die eine bloße Exakt das! Duldung dieser militärischen Intervention durch den Sicherheitsrat voraussetzt, ein kurzfristig geschaffe- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) nes Kriegsbündnis, um nach eigenem Gutdünken zu Ich stelle mir auch den Krieg in Jugoslawien vor. exekutieren, was politisch und militärisch für zweck- Die Scharfmacher hier, die entgegen dem Rat von mäßig gehalten wird. Militärs, entgegen dem Rat von vernünftigen Politi- Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich hoffe, es kern ununterbrochen militärische Einsätze vorschla- bleibt dabei, was Sie gesagt haben: Sie fallen nicht gen, schließen ein befristetes Zweckbündnis und um. Der Begriff „Umfallen" ist mittlerweile ein kenn- schlagen eben mal los. Dann möchte ich einmal sehen, zeichnender Begriff für die politische Willensbildung was im Sicherheitsrat los ist, ob so einer Aktion die in diesem Haus. Ich hoffe wirklich, daß Sie sich nicht Legitimität entzogen wird. Das glaube ich nicht. Ich auf irgendeine Art von Dialog und Kompromiß einlas- bin überzeugt davon, daß das nicht passieren wird. sen, sondern wenigstens auf dem Stand bleiben — den Infolgedessen kann je nach der Ausgeprägtheit des ich kritisiere und den wir ablehnen —, den Sie auf Militarismus in dem Land, das losschlägt, das in der Ihrem Parteitag beschlossen haben. Welt passieren, was Sie vorhaben. 11472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Andrea Lederer Sie können nicht allen Ernstes behaupten, daß diese Ansicht gekommen ist, daß der Einsatz von Bundes- Vorschläge, die Sie hier unterbreiten, auch nur annä- wehrsoldaten außerhalb des NATO-Vertrag-Gebiets hernd etwas mit Friedenspolitik zu tun haben, so wie einer Grundgesetzänderung bedarf. Sie das hier ununterbrochen suggerieren wollen. Es (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Falsch zu sind im Grunde genommen auch nicht die Interven- gehört! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: tionswünsche dieser Bundesregierung, sondern es Das stimmt nicht!) sind natürlich langgehegte Pläne, die schon von der Konrad-Adenauer-Stiftung entwickelt wurden Bisher war es ja Ihre Auffassung, daß der verfassungs- (Unruhe bei der CDU/CSU) rechtliche Status quo jeglichen Einsatz, vom nationa- len Alleingang bis hin zur multinationalen Koalition, und die nun umgesetzt werden sollen. Ein Traum von erlaubt hätte. Allerdings hätte ich mir diese verfas- einem militärisch mächtigen Deutschland, das inter- sungsrechtliche Klarstellung vor dem Einsatz von venieren kann entsprechend auch der ökonomischen Bundeswehrsoldaten in Kambodscha, in Somalia, in Potenz! Sarajevo oder in der Adria gewünscht. Wenn Herr Hoyer hier auch noch anführt bzw. wenn Heikel ist auch, daß es der Bundesregierung mehr darauf hingewiesen wird, daß lediglich das Einver- darum geht, der legitimationskrisengeschüttelten ständnis eines UNO-Mitglieds nötig sei, dann möchte Bundeswehr neue Einsatzoptionen zu eröffnen, als ich Sie bitte noch einmal an ökonomische Abhängig- darum, die Rolle der Vereinten Nationen zu stärken; keiten erinnern, die bestehen. Da können Sie mir denn um die UNO zu stärken, brauchte es nicht in vielleicht zustimmen. Dann möchte ich wissen, wie in erster Linie deutsche Soldaten, sondern deutsches dieser Welt ein Einverständnis zustande kommt und Geld. Um seiner gewachsenen Verantwortung für die welche Druckmittel, beispielsweise ökonomische Welt gerecht zu werden, könnte sich Deutschland Druckmittel, Staaten wie die Bundesrepublik mindestens dazu entschließen, die Summe pro Kopf Deutschland zur Verfügung haben. der Bevölkerung aufzuwenden, die beispielsweise Da können Sie doch nicht allen Ernstes behaupten, Norwegen der UNO zur Verfügung stellt. daß ein Hilfeersuchen und ein Einverständnis unge- fähr gleichgestellt seien, sondern Sie müssen zur Des weiteren wäre es angemessen, wenn Deutsch- Kenntnis nehmen, daß durch politischen und ökono- land seine Zahlungen endlich einmal so entrichtete, mischen Druck durchaus eine Situation hergestellt wie es die Geschäftsordnung der Vereinten Nationen werden kann, in der im Vordergrund das Interesse der vorsieht, nämlich prompt, zuverlässig und pünktlich. angeblich zur Nothilfe eilenden Großmacht steht und Das ist bisher noch niemals geschehen, wäre aber der nicht das Interesse, den Frieden in konfliktreichen gewachsenen Verantwortung des vereinten Deutsch- Regionen wiederherzustellen. land durchaus angemessen. (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) Außerdem hätte Deutschland durch freiwillige und zügige Zahlung in der schwierigen, kritischen Finanz- — Mit Ihnen kann man darüber vermutlich kaum noch situation ein weitaus wichtigeres politisches Zeichen reden. setzen können als durch eine Debatte um die Abstel- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) lung von Kriegern. Wer meint, das würde die Finanz- Aber ich will mich noch einmal an die SPD- wenden. lage des vereinigungsgeschädigten Deutschlands Alle Parteien, insbesondere die SPD, haben erklärt: erschüttern, den möchte ich daran erinnern, daß Nie wieder deutsche Soldaten in anderen Ländern! Deutschland für den zweiten Golfkrieg anteilmäßig Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausge- mehr bezahlt hat, als es seit der Vollmitgliedschaft ab hen! — Ich frage wirklich allen Ernstes, warum das 1973 insgesamt den Vereinten Nationen einschließ- heute anders geworden sein soll. lich Sonderorganisationen zur Verfügung gestellt hat. Wenn Sie das, was Sie hier vorschlagen, Wirklich- Das Geld ist also da. Es fehlt der politische Wille, es in keit werden lassen, dann kann ich nur sagen: Es wird größerem Umfang für eine nichtmilitärische Unter- offensichtlich anders werden. Das erfordert erstens stützung der Vereinten Nationen auszugeben. eine intensive Aufklärung der Bevölkerung über Ihre Unsere Bundestagsgruppe hat am 10. November Pläne und zweitens erbitterten Widerstand von all 1992 einen Antrag zur nichtmilitärischen Unterstüt- denen, die militärische Abenteuer ablehnen, die tat- zung der Vereinten Nationen eingebracht, in dem sächlich eine Friedenspolitik und nicht eine weitere deutlich wird, daß es sehr wohl möglich ist, die Militarisierung der Außenpolitik und der internatio- Vereinten Nationen wirkungsvoll zu unterstützen, nalen Beziehungen wollen. ohne das auf eine militärische Frage zu reduzieren. Es (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei ist auffallend, daß die innerpolitische Diskussion über Abgeordneten der SPD — Zuruf von der eine mögliche Beteiligung deutscher Soldaten an CDU/CSU: Einige von der SPD stimmen da Kampfeinsätzen der VN auf Grundlage des Kapi- zu!) tels VII der Charta diesen Aspekt auf eine militärische Frage verkürzt. Sicherheit und Friedensicherung sind aber mehr als militärische Sicherheit. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich gebe jetzt das Wort an die Abgeordnete Vera Wollenberger. Ich möchte deshalb das von unserer Gruppe vorge- schlagene Spektrum der Unterstützung der Vereinten Nationen noch einmal erwähnen: Unterstützung bei Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Bekämpfung von Natur- und Hungerkatastro- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist zu phen, Unterstützung bei der Bekämpfung von begrüßen, daß die CDU/CSU-Fraktion nun zu der Umweltgefährdungen, Unterstützung bei der Wah- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11473

Vera Wollenberger rung individueller Menschenrechte, Unterstützung Scharfschützen, durch Granaten, durch Folter und bei friedlicher Konfliktschlichtung, unter anderem Exekutionen zu. Blauhelm-Missionen, Unterstützung bei der Durch- Wenn es als Folie für den weltweiten Bundeswehr- führung von Maßnahmen operativen Zwangs wie einsatz benutzt werden kann, wird das Massaker in wirtschaftliche Sanktion, Währungssanktion, völker- Jugoslawien beschworen. Aber die Bundesregierung rechtliche Sanktion, kulturelle und soziale Sanktion, kann sich nicht einmal dazu durchringen, dem NATO- elektronische Sanktion, beschränkte militärische Partner Griechenland eindrücklich und unmißver- Operation. ständlich die Einhaltung des Embargos gegen Ser- Zu den beschränkten militärischen Operationen bien abzufordern. Es unterbleiben beispielsweise gehören z. B. die Schaffung eines Korridors, um die auch andere Maßnahmen operativen Zwangs wie die hungernde bosnische Bevölkerung mit Lebensmitteln Unterbrechung der Fernseh- und Rundfunkpropa- zu versorgen. Dazu gehört für uns die Einrichtung von ganda der Serben, der Abbruch sämtlicher diplomati- Luftschutzzonen zum Schutz bedrohter Menschen. sche Beziehungen oder das Einfrieren der serbischen Dazu gehört auch die Befreiung der serbischen Folter- Guthaben. Es unterbleibt die Zusage, die Gefangenen und Vergewaltigungslager. der Vergewaltigungs- und Folterlager unbegrenzt Doch obwohl ein Kollege der CDU gestern den aufzunehmen. Es fehlt auch der politische Wille, unglaublichen Zynismus besessen hat, die vergewal- intensiv Mittel in die friedliche Konfliktbewältigung tigten Frauen in Bosnien-Herzegowina als Begrün- zu investieren. dung dafür nutzen, daß die Bundeswehr Übungs- Das Geld, das die Regierung nun in den Ausbau der plätze braucht, habe ich von unserer christlichen weltweiten Einsatzfähigkeit der Bundeswehr, in Partei wenig Bemühen urn eine tatkräftige Unterbin- luftbewegliche Waffensysteme, Amphibienfahr- dung der Greueltaten in Bosnien - Herzegowina zeuge, Transportkapazitäten in Form von Flugzeugen gespürt. und Schiffen, in Kommunikationsstrukturen, in Auf- (Zurufe von der CDU/CSU) klärungssysteme usw. stecken will, könnte viel besser Ich bin da nicht die einzige. Hören Sie mal zu, Herr in die Entwicklung von nichtmilitärischer Konfliktprä- vention investiert werden. Kittelmann! — Mir liegt ein Schreiben eines Bundes wehrgenerals vor, aus dem ich hier zitieren möchte: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich wende mich an Sie in der verzweifelten und bei der SPD) Hoffnung, daß doch noch etwas bewirkt werden Unterstützte man mit Rat und Geld den Aufbau kann, bevor Serbien die Endlösung erreicht hat demokratischer Strukturen in den Ländern des und dann friedensbereit sein wird, weil es keine Südens und in anderen autoritären Staaten, gäbe das Menschen mehr gibt, die ermordet, verschleppt, einen weit größeren Erfolg als die Verkehrung der vertrieben, vergewaltigt und getötet werden kön- Intentionen des Grundgesetzes in ihr Gegenteil, nen. Würde man dann noch seiner gestiegenen Verantwor- tung dadurch gerecht, daß man den Rüstungsexport (Zuruf von der F.D.P.: Das ist zynisch!) entschieden einschränkte und bekämpfte, sowohl den Es geht nicht darum, Serbien zu erobern, es- geht eigenen als auch den innerhalb der EG, könnte man darum, Kroatien, Bosnien, Mazedonien und viele weitere blutige Kriege verhindern helfen; denn Kosovo in den völkerrechtlich verbindlichen unbestritten ist, daß die leichte Verfügbarkeit von Grenzen zu sichern, dort befriedete Schutzzonen Waffen modernster Bauart, egal, ob Handfeuerwaffen zu schaffen, das Waffenembargo gegen den oder größere Waffensysteme, im letzten Jahrzehnt Agressor, die Serben, und nicht, wie bisher, Zahl, Intensität und Brutalität der militärisch ausgetra- gegen die Verteidiger, die Muslime, durchzuset- genen Konflikte erheblich gesteigert haben. Die zen, demokratische Einrichtungen und ethnische Bekämpfung des Rüstungshandels macht den Weg für Minderheiten gegen totalitäre Ansprüche zu gewaltfreie Konfliktbewältigung erst frei und gang- schützen und humanitäre Hilfe überall dort zu bar. bieten, wo sie nötig ist. Die ist möglich, wenn der Eine bundesdeutsche Initiative gegen den Waffen- politische Wille vorhanden wäre. handel und für die Umwandlung bestehender Kapa- Soweit der General der Bundeswehr, der nicht der zitäten für wesentliche finanzielle Unterstützung der einzige ist, der den Eindruck hat, daß es der Regie- Konversion von Rüstungskapazitäten und eine rungskoalition über Lippenbekenntnisse und kleinere Reform der einseitig auf Rüstung ausgerichteten Wirt- Hilfsaktionen hinaus an politischem Willen fehlt, die schaftsstrukturen der Staaten des ehemaligen sowje- Schlächterei zu beenden. tischen Machtbereichs trügen viel mehr zur Konflikt- lösung bei als bundesdeutsche Divisionen. Angesichts des andauernden Blutbades — das stimme ich dem General zu — rechtfertigt kein politi- All diese Dinge zu machen wären nötiger, als den scher, juristischer oder militärischer Grund mehr weltweiten Einsatz der Bundeswehr zu beschließen. unser Nichthandeln. Dieser Beschluß — ich wiederhole es — ist ja mehr dem Wunsch nach Im Sommer sprach der Verteidigungsminister Bestandserhaltung der Bundes- wehr entsprungen als dem politischen Willen, das davon, den Krieg im ehemaligen Jugoslawien auszu- Unrecht, die Menschenrechtsverletzung en, trocknen oder austrocknen zu wollen. Aber nichts ist das Fol- tern und das Morden auf der Welt zu beenden. seitdem ausgetrocknet worden. Wir sehen jetzt dem im Sommer prognostizierten Massensterben durch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hunger, Kälte, Erschöpfung, durch Kugeln von und bei der SPD) 11474 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort erhält nun daß wir einander zuhören, miteinander sprechen und der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kin- nicht bloß gegeneinander reden. kel. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich appelliere erneut — wie in den letzten Tagen — an die SPD, ihren Teil dazu beizutragen, daß unser Land den Erwartungen der Völkergemeinschaft ent- Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der sprechen kann, daß wir allen Pflichten, die die Charta Zusammenbruch 1945 beendete wohl die dunkelste der Vereinten Nationen — Sie berufen sich ja auch Phase deutscher Geschichte. Mitverantwortung für immer wieder darauf — ihren Mitgliedern auferlegt das Geschehene trug eine durch falsche Politik fehl- hat, nachkommen können. geleitete Armee. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Erst mit der langsamen Wiedereingliederung in die Ja, meine Damen und Herren, wir sollten bedenken, westliche Völkerfamilie 1955 haben wir auch militä- was an Schrecklichem in der Vergangenheit war. risch allmählich einen Neuanfang gewagt. Die Inte- Aber gerade uns kommt aus dieser Vergangenheit gration der Bundeswehr in unsere Gesellschaft, drin- eine besondere Verantwortung zu, an der Wiederher- gend notwendig, war eine wichtige und große Auf- stellung von Frieden, Gewaltlosigkeit und Men- gabe. Sie ist gelungen. schenrechten mitzuwirken. Auch in der neuen Lage stand deutsche Außen- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) politik unter dem Vorzeichen von Trennung und Meine Damen und Herren, unser Grundgesetz hat eingeschränkter Souveränität. Für die Bundeswehr eine grundlegende Entscheidung für die internatio- mußte dies zu Recht die Beschränkung auf Verteidi- nale Zusammenarbeit und den Frieden in der Welt gung bedeuten. Dies war Konsens im Parlament. Dies getroffen. Das heißt nicht nur — wie Art. 26 unseres war Konsens in der Bevölkerung. Dies war Konsens in Grundgesetzes es fordert —, sich jeder Störung des den Parteien und den Bundesregierungen. friedlichen Zusammenlebens der Völker zu enthalten, Die Entwicklung in der Welt, das Ende des Ost sondern heißt auch, den Weltfrieden auch positiv zu West-Konflikts und die Wiedervereinigung haben fördern, notfalls eben auch durch Einsatz der Bundes- eine von Grund auf veränderte Lage geschaffen. In wehr. einer neuen Gemeinsamkeit versucht die Staatenge- Ich möchte an dieser Stelle dem, was ich schon meinschaft unter Führung der Vereinten Nationen einmal im Plenum gesagt habe, hinzufügen: Wie sähe und regionaler Abmachungen wie der KSZE, der mit eigentlich die Situation in der Welt, in unserem Land dem Ende der Blöcke aufgeflammten zahllosen Kon- aus, wenn 1945 nicht durch Gewalt — durch Gewalt! flikte Herr zu werden. Wir alle haben geglaubt und — ein Zustand beseitigt worden wäre, der zutiefst gehofft — ich habe es gestern in der entwicklungs- Menschenrechte und Frieden in der Welt bedroht politischen Debatte gesagt —, daß nach dem Wegfall hat? der Ost-West-Auseinandersetzung Frieden, andere (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Bedingungen eintreten würden. Aber 52 neue Kon- flikte weltweit sind in der Zwischenzeit dazugekom-- Die Koalition, meine Damen und Herren, will mit men. dem vorgelegten Gesetzentwurf die verfassungs- rechtlichen Grundlagen für den Einsatz der Bundes- Auch das wiedervereinigte und souveräne Deutsch- wehr im Ausland außer Streit stellen und dies durch land muß sich dieser Verantwortung in einer verän- eine Grundgesetzänderung erreichen. Sie haben mir derten Welt stellen, und zwar uneingeschränkt. Hätte — so wie es Herr Schäuble vorher gesagt hat — in den es hierfür noch einer irgendwie gearteten Bestätigung letzten Tagen mehrfach deutlich gesagt: Legen Sie bedurft, meine Damen und Herren, — was General- den Entwurf vor; wir werden im Bundestag mit Ihnen sekretär Boutros Ghali hier in den letzten Tagen darüber diskutieren; das ist der geeignete Ort. — Wir gesagt hat, war für meine Begriffe deutlich genug. haben es getan. Deutlicher muß man es eigentlich nicht sagen. Art. 87a regelt bereits bisher in der Formulierung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) „außer zur Verteidigung" den Fall der Landesvertei- Worum geht es? Wir wollen und müssen in unserem digung und der Verteidigung im Rahmen vertraglich eigenen Interesse und im Interesse der Staatenge- vereinbarter Beistandspflichten, also den Bündnisfall. meinschaft die volle Handlungsfähigkeit der Bundes- Weil das etwas diskutiert wurde, sage ich: Wie — republik Deutschland als Mitglied der Vereinten unbeschadet des Art. 87 a — die Formulierung in dem Nationen herstellen. Die dafür notwendige Anpas- Gesetzentwurf der Koalition zeigt, geht Art. 87 a Abs. 2 sung der Verfassung an die neue Lage erfordert auch künftig dem vorgeschlagenen neuen Absatz 2 a zweifellos nicht nur in unserer Bevölkerung, sondern des Art. 24 Grundgesetz vor. Es beibt also insoweit bei auch hier im Parlament, in den Parteien, bei uns allen der bisherigen Regelung; da hat sich nichts geändert, einen gewaltigen Umdenkungsprozeß. Verteidigung und das wollen wir, wenn es nach mir geht, auch in die unseres Landes und des Bündnisses allein reicht nicht Begründung des Gesetzentwurfs aufnehmen, mehr aus. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Wenig Unsere Gesellschaft, die Parteien sind, wie ich finde, überzeugend!) zu Recht aufgerüttelt. Gesellschaftlicher, überparteili- Erstens. Friedenserhaltende und friedenherstel- cher Konsens ist, so weit nur irgendwie möglich, lende Maßnahmen, also Blauhelm-Einsätze und notwendig. Deshalb ist es auch so wichtig, glaube ich, Kampfeinsätze, sind in den Ziffern 1 und 2 geregelt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11475

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Für Blauhelm-Einsätze ist regelmäßig ein Beschluß die Frage der Nothilfe zu regeln, lediglich die Frage des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen erforder- der Nothilfe. lich. Sie können aber auch im Rahmen von regionalen (Zurufe von der SPD) Abmachungen erfolgen, soweit ihnen die Bundesre- Unsere Verfassung kann sich nicht mit dem kollekti- publik Deutschland angehört. Damit, glaube ich, sind ven Recht auf Selbstverteidigung befassen. Ich bin wir mit der SPD einig. ganz gespannt, wie Ihre Rechtsauffassung nachher Blauhelm-Einsätze allein reichen aber nicht mehr dargelegt wird. — Bitte, Herr Voigt. aus. Sie fransen in der Praxis immer mehr aus. Ich weise auf Somalia hin. (Frankfurt) (SPD): Herr Kinkel, ich Der zweite Punkt: Für friedensherstellende Maß- Karsten D. Voigt lasse einmal den Punkt weg, den Sie jetzt strittig nahmen diskutieren, was Sie Nothilfe und was wir Interven- (Zuruf von der SPD: Friedensmissionen!) tionsrecht nennen. In dem gleichen Abs. 3 regeln Sie verlangt der vorgeschlagene neue Art. 24 Abs. 2 des ja auch die Bedingungen dafür, wann wir Bündnis- Grundgesetzes immer — immer! — einen Beschluß hilfe leisten können, nämlich mit Zweidrittelmehr- des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, auch heit. dann, wenn über Kapitel 7 regionale Abmachungen (Zuruf von der CDU/CSU: Nein!) den Beschluß des Sicherheitsrats umsetzen sollen. — In dem Abs. 3. Drittens. Die Nr. 3 des vorgeschlagenen neuen Können Sie mir erläutern, warum Sie für den Fall Abs. 2 d des Art. 24 regelt den Fall, daß ein nicht dieser Bündnishilfe, wenn wir also Frankreich beiste- verbündeter Staat angegriffen wird und um Beistand hen sollen, ersucht oder mit ihm, Herr Verheugen, einverstanden (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Das ist ist. Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen erklärt doch nicht wahr!) den Fall der individuellen und kollektiven Selbstver- teidigung nicht nur für zulässig, sondern für ein dort eine Zweidrittelmehrheit, beim Abs. 2 — Golf- naturgegebenes Recht der Staaten. Völkerrechtlich kriegmodell — aber nur eine einfache Mehrheit galt dies also bereits — Herr Schäuble hat darauf vorsehen? hingewiesen —, bevor die Charta überhaupt geschrie- (Zuruf von der F.D.P.: Ich sage ja, Sie haben ben wurde. es nicht gelesen!) Mit unserer Grundgesetzänderung bzw. -ergän- zung streben wir keinen Freibrief für Einsätze aller Art an. Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Ich habe Ihre Frage, Herr Voigt, mit dem, was ich (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das vorher gesagt habe, beantwortet und brauche deshalb wird so werden!) darauf nicht mehr einzugehen. Wir sollen mit dieser Nr. 3 Nothilfe ermöglichen, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — wie das allen anderen Ländern auf dieser Erde mög- lich ist. Zurufe von der SPD) Meine Damen und Herren, gemäß Art. 51 der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)- Charta sind Maßnahmen nur so lange erlaubt, bis der Wenn ich recht orientiert bin — ich bitte mir aus der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und SPD zu widersprechen —, gibt es auf der ganzen Welt der internationalen Sicherheit erforderlichen Maß- eine einzige Verfassung, in der zu diesem Thema nahmen getroffen hat. Damit er diese Entscheidung überhaupt etwas drinsteht. Das ist die japanische treffen kann, sind alle vorher ge troffenen Maßnahmen Verfassung. Ich sage nochmals: Es gibt auf der ganzen sofort anzuzeigen. Alleingänge sind also ausgeschlos- Welt, soweit ich orientiert bin — ich lasse mich gern sen. Die Formulierung „gemeinsam mit anderen Staa- belehren, wenn jemand das besser weiß — keine ten" stellt sicher, daß Deutschland nicht allein, son- einzige Verfassung, die Nothilfe ausschließt. Ich spre- dern immer nur in Gemeinschaft mit anderen Staaten che jetzt nicht von Japan. dem angegriffenen Staat zur Hilfe kommen kann. Die Begrenzung im Rahmen von Bündnissen und anderen regionalen Abmachungen, die wir bewußt Herr Minister, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: aufgenommen haben, stellt klar, daß nicht irgendwel- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord- che andere Staaten gemeint sind, sondern nur solche, neten Karsten Voigt? die uns durch ein Bündnis wie NATO oder WEU oder durch eine regionale Abmachung wie KSZE verbun- den sind. Aber auch hier hat der Sicherheitsrat eine Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Kontrollmöglichkeit. Art. 51 sieht eine Berichtspflicht Sofort; ich möchte nur den Gedanken zu Ende führen. vor. Daraufhin kann der Sicherheitsrat über den — Das heißt, völkerrechtlich wären und sind wir Konflikt und seine Erledigung entscheiden. überhaupt nicht in der Lage, das Recht auf individu- elle Selbstverteidigung und das Recht auf kollektive Jetzt wird der Vetofall — ich darf das einmal Selbstverteidigung über unsere Verfassung und in sagen — hysterisch hochgespielt. unserer Verfassung auszuschließen. Wir sind lediglich (Zuruf von der CDU/CSU: Von der PDS!) in der Lage, in unserer Verfassung Die Frage, ob wir in Zukunft überhaupt noch zu Vetos (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Wir ha im Sicherheitsrat kommen werden, kann ich natürlich ben noch keine neue Verfassung!) nicht endgültig beantworten. Nur eins scheint sich 11476 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel tendenziell abzuzeichnen — daß das immer weniger drinbleiben oder nicht. — Können Sie mir mal sagen, der Fall sein wird. Es gibt seit 1991 nicht einen wo die UNO-Abdeckung fehlt? einzigen Fa ll mehr, und ich wage einmal die Behaup- Im Strafrecht: A schlägt B, B darf sich wehren, darf tung, daß es auch eher so bleiben wird. jemand zur Hilfe rufen; er muß nicht warten, bis das (Unruhe bei der SPD) Bundesverfassungsgericht entschieden hat, ob er jemand zu Hilfe rufen darf. Wenn dann ein Veto eingelegt wird — ich muß noch einmal ganz deutlich sagen, da verstehe ich die (Lebhafter Beifall bei der F.D.P. und der Aufregung nicht —, liegt die Entscheidung erneut in CDU/CSU — [SPD]: Kinkel den Händen des Deutschen Bundestages. Advokat!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Ich verstehe — — ten der CDU/CSU) (Unruhe bei der SPD) Sie können hier erneut mit Zweidrittelmehrheit Na, also, Herr Abgeordneter Gansel, Winkeladvo- entscheiden, d. h. wir können nur mit Ihrer Zustim- kat — — mung darüber entscheiden, ob wir bei einem einge- (Norbert Gansel [SPD]: „Kinkel-Advokat" legten Veto bei der Nothilfe weiter mitwirken oder hat er gesagt!) nicht. — Ich meine, ich kann mir eine massivere Bremse wirklich nicht vorstellen. Sie mögen nicht hören, wie es in der Praxis ist; das ist der Punkt, weil Sie sich auf die Bäume begeben (Lebhafter Beifall bei der F.D.P. und der haben, von denen Herr Hoyer vorhin gesprochen CDU/CSU) hat. Im übrigen haben Sie auch die Möglichkeit, bei dem (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ersten Zweidrittelmehrheitsbeschluß den Einsatz z. B. Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetz- zu befristen oder zu konditionieren. Man könnte z. B. beschließen, daß der Deutsche Bundestag erneut zu entwurf legt die Entscheidung über den Einsatz befassen ist — dann hätten Sie das bereits in der ersten deutscher Soldaten in die Hände des Deutschen Entscheidung drin —, falls der Sicherheitsrat z. B. Bundestages. — Sofort, ich möchte den Gedanken zu nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums entschei- Ende führen, Herr Gansel. det. Es liegt in Ihrer Hand, mit der Zweidrittelmehrheit Wir sind unseren Soldaten schuldig, hier Klarheit zu des Deutschen Bundestages beschließen Sie in jedem schaffen; das ist hier schon betont worden. einzelnen Fall. Das ist verfassungsändernde Mehr- Lassen Sie mich zum Schluß ein paar Sätze sagen, heit. Nochmals: Kann es eine massivere Bremse auf die ich großen Wert lege. Was das, was in dieser geben? Grundgesetzänderung steht, für uns in der Praxis (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne tatsächlich bedeuten kann, weiß ich gerade als deut- ten der CDU/CSU — Zuruf von der F.D.P.: scher Außenminister sehr wohl. Gestern morgen um Sehr richtig!) halb drei habe ich zusammen mit meinen europäi- schen Kollegen in Paris — es ist die Ruhe wert, sich Nun zum UNO - Dach. Ich möchte hier gern der diesen Satz anzuhören — des letzten britischen Solda- Legendenbildung vorbeugen. - ten gedacht, der vorgestern im UNO-Friedenseinsatz Erster Fall — UNO-Blauhelme unter UNO-Dach: sein Leben verloren hat. Es war nicht das erste Mal im nur nach Sicherheitsratsentscheidung oder UNO Kreis der Europäer. Wir haben in der letzten Zeit Abdeckung, Kapitel 7.8 unseres Gesetzentwurfs. praktisch bei jeder Sitzung eine solche Gedenkminute Zweiter Fall — friedenschaffende Maßnahmen: nur einlegen müssen. Die fairen, aber fragenden Blicke und allein auf Grund eines Sicherheitsratsbeschlus- meiner Kollegen kann jedenfalls ich nicht vergessen ses, also unter UNO-Dach. und auch nicht ohne weiteres verdrängen: Wie lange kann und will sich Deutschland noch erlauben, nur Dritter Fall, sozusagen für die ganz kurze Zeit im zuzusehen, daß andere Völker ihre Soldaten zur Rahmen der Nothilfe — quasi Geschäftsführung ohne Friedenssicherung mit allen Konsequenzen einset- Auftrag: sofortige Anbindung an UNO, weil dort zu zen? melden und dann sofort dem Sicherheitsrats- und UNO-Beschluß unterliegend. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich jedenfalls als Außenminister dieses Landes wün- (Günter Verheugen [SPD]: Nein, nicht unter- sche mir: nicht mehr lange. — Herr Gansel. liegend!) — Aber selbstverständlich. Dann darf ich den Fall nochmals erklären. Norbert Gansel (SPD): Herr Kinkel, haben Sie Es ist absolut klar, daß dort zu melden ist, daß sich Verständnis dafür, daß ich, da Sie mich eben ange- die UNO, der Sicherheitsrat mit einer Nothilfe befaßt. sprochen haben, richtigstellen möchte, daß der ver- Dann gibt es drei mögliche Entscheidungen. meintliche Zwischenruf „Winkeladvokat" nicht von mir kam? Und es war auch nicht „Winkeladvokat", Wenn die Entscheidung Ja lautet, sind wir abge- sondern „Kinkel-Advokat". deckt. Lautet die Entscheidung Nein, dann müssen wir aus der Aktion raus. Die dritte Entscheidung — ich (Unruhe bei der CDU/CSU) sage es nochmals: der denkbare Einzelfall — ist ein — Entschuldigung, ich stelle mit einer Zwischenfrage Veto oder gar keine Entscheidung. Dann unterliegt es nur klar, was hier passiert ist, nachdem Herr Kinkel Ihrer Entscheidung mit Zweidrittelmehrheit, ob wir mich dafür direkt verantwortlich gemacht hat. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11477

Norbert Gansel Zweiter Teil meiner Frage: Haben Sie vielleicht aber das ist das, was international als Konsequenz aus Verständnis dafür, daß wir an der verfassungsrechtli- dem gezogen werden muß, was Sie gesagt haben. chen und außenpolitischen Seriosität Ihrer Argumen- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie tation Zweifel haben, wenn Sie bei der Frage des haben nicht zugehört!) Einsatzes der Bundeswehr, in welcher Konstruktion auch immer, wenn es um Leben und Tod und in letzter — Ich habe sehr gut zugehört. Konsequenz um Krieg und Frieden gehen kann, mit Das zweite Erschreckende an der Begründung ist Begriffen arbeiten wie „Geschäftsführung ohne Auf- das, was Herr Kinkel eben gesagt hat. Herr Kinkel, trag" oder Bilder benutzen wie „A schlägt B, und was wenn Sie der Meinung sind, daß es sozusagen eine macht C"? zwingende Konsequenz der vollen Souveränität (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der Deutschlands nach der Erlangung der Einheit ist, daß CDU/CSU) wir uns allen militärischen Optionen öffnen, die nach der Satzung der Vereinten Nationen erlaubt sind, dann haben Sie einen völlig falschen Begriff davon, Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: was wir jedenfalls unter Souveränität verstehen soll- Was Sie zuerst gesagt haben, akzeptiere ich selbstver- ten. ständlich. Ich bitte um Entschuldigung. Ich hatte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geglaubt, der Zwischenruf sei von Ihnen gekom- der PDS/Linke Liste) men, Souveränität heißt nicht, daß man überall in der Welt (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aber mit militärischen Mitteln tätig werden kann, sondern blöd war er trotzdem!) Souveränität heißt, daß wir das Recht haben, zu sagen, und ich hatte ihn auch inhaltlich anders verstanden. was wir nicht tun wollen, was wir nämlich aus unserer (Karl Lamers [CDU/CSU]: Er war ja auch so Geschichte gelernt haben. gemeint!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zum zweiten muß ich Ihnen sagen, daß ich nicht der PDS/Linke Liste — Dr. akzeptieren kann, was Sie gesagt haben. Ich finde, [CDU/CSU]: In jedem Einzelfall!) daß ich nicht eine unangemessene Ausdrucksweise Das wirklich Verblüffende an der bisherigen gewählt habe. Debatte ist, daß Sie sich nicht die Mühe gemacht (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) haben, uns zu erklären, welches außen- und sicher- heitspolitische Konzept eigentlich hinter der Keinem so sehr wie dem Kollegen Rühe und mir ist der Grund- gesetzänderung steckt. Ernst dieser Situation nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch bewußt und auch bewußt gemacht (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Dann haben worden, gerade in den letzten Wochen. Sie nicht zugehört!) Vielen Dank. Es hat doch keinen Zweck, darum herumzureden: Der (Anhaltender Beifall bei der F.D.P. und der von Ihnen vorgeschlagene neue Art. 24 macht aus der CDU/CSU) Bundeswehr, die zum Zwecke der Landesverteidi- gung und nichts anderem aufgestellt worden ist, ein Interventionsinstrument in internationalen Krisen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht (Beifall bei der SPD) der Abgeordnete Günter Verheugen. Ich sage es ganz bewußt und ganz scharf: ein Instru- ment der Kriegführung. Das ist der objektive Tatbe- Günter Verheugen (SPD): Frau Präsidentin! Meine stand. sehr verehrten Damen und Herren! Der Fraktionsvor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sitzende der CDU/CSU hat die Eilbedürftigkeit der Ob Sie es wollen, ist etwas ganz anderes. Aber es Vorlage mit dem Jugoslawien-Konflikt begründet. kommt bei Grundgesetzänderungen nicht darauf an, Herr Dr. Schäuble, ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, was Sie heute damit wollen, sondern was Sie morgen was Sie damit für die internationale Öffentlichkeit damit können. gesagt haben. Sie haben damit gesagt, die Bundesre- (Beifall bei der SPD) publik Deutschland will die rechtlichen Vorausset- zungen dafür schaffen, daß sie in Jugoslawien militä- Ich will Ihnen das einmal in aller Präzision sagen, was risch eingreifen kann. Sie mit den von Ihnen vorgeschlagenen Grundgesetz- änderungen tatsächlich alles können. (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Habe ich überhaupt nicht gesagt! Lesen Sie es nach!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter — Wenn das nicht stimmt, Herr Schäuble, warum Verheugen, gestatten Sie eine Zwischenfrage der nennen Sie dann Jugoslawien als Beispiel für die Frau Abgeordneten Hellwig? Eilbedürftigkeit der Vorlage? — Bisher war es die Politik dieser Regierung und wurde vom Bundeskanz- ler, vom Außenminister ständig gesagt, daß der Ein- Günter Verheugen (SPD): Nein, ich möchte meinen satz deutscher Soldaten in Jugoslawien aus histori- Gedanken zu Ende führen. schen und politischen Gründen jedenfalls nicht in Abs. 1 erlaubt die Beteiligung der Bundeswehr an Frage kommen kann. Sie haben das bei der Begrün- militärischen Interventionen der NATO, der KSZE, dung, die Sie gewählt haben, vielleicht nicht bedacht, der WEU, ja, sogar eigens zu diesem Zweck der 11478 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Günter Verheugen Intervention geschaffenen regionalen Abmachungen Sie enthält die Befugnis für einen nicht angegriffe- von zwei oder mehr Staaten. Die Verwendung des nen Staat, einem angegriffenen Staat zu Hilfe zu Begriffs „friedenserhaltende Maßnahmen" bezieht kommen. Dafür ist nun wirklich — glauben Sie es sich nicht auf die Charta der Vereinten Nationen, mir — nur eine einzige Bedingung erforderlich: das sondern auf die in den letzten Jahrzehnten von den Einverständnis des angegriffenen Staates. Ein aus- Vereinten Nationen entwickelte Blauhelm-Praxis. drückliches Hilfeersuchen ist nicht erforderlich. Regionale Begrenzung für diese Art von Einsätzen ist Nun gebe ich zu, Herr Kinkel — das haben Sie nicht vorgesehen, sie können überall in der Welt gesagt —: Art. 51 hat Schranken. Es ist ganz ohne stattfinden. Ein Beschluß des Sicherheitsrats ist dazu Zweifel eine Bestimmung mit subsidiärem Charakter, nicht erforderlich. weil Maßnahmen nach Art. 51 von einzelnen Staaten nur ergriffen werden können, solange der Sicherheits- Abs. 2 bezieht sich auf die Kapitel VII und VIII der Charta und macht die deutsche Beteiligung an Kampf- rat nicht handelt. Aber jetzt stellen Sie sich doch bitte einmal die praktische Situation vor: Sie wollen hier einsätzen möglich, die unter Leitung und Verantwor- doch im Rahmen von NATO, WEU oder — eines Tages tung oder unter Billigung der Vereinten Nationen vielleicht — KSZE handeln. Da haben Sie permanente stattfinden. Das ist in Wahrheit das sogenannte Golf- Mitglieder des Sicherheitsrates dabei. Können Sie mir Modell. Denn nur diese Annahme, meine Damen und Herren, ist realistisch, weil der Generalsekretär der einmal verraten, warum Sie so scharf darauf sind, daß nach Art. 51 han- Vereinten Nationen bei seinem Besuch in Bonn ein- diese regionalen Abmachungen deln? Ich will es Ihnen sagen: Weil Sie nicht wollen, deutig klargestellt hat, daß die der UNO selber zur Verfügung stehenden Instrumente des Kapitels VII daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen diese auch in vorhersehbarer Zukunft nicht angewandt Entscheidungen trifft. werden können und nicht angewandt werden. Kampf- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Andrea einsätze der Vereinten Nationen unter ihrer eigenen Lederer [PDS/Linke Liste]) Leitung und Verantwortung wird es nicht geben. Es Sie schaffen hier ein Instrument, mit dem der Sicher- kann also nur die Beteiligung an Kriegen wie dem heitsrat ausgehebelt werden kann. Sie, lieber Kollege Golf-Krieg gemeint sein. Lamers, haben es mir ja vor wenigen Tagen ins Gesicht gesagt. Sie haben gesagt: Wollen Sie denn Abs. 3 deckt alle Möglichkeiten der militärischen eine Situation, in der das Tätigwerden des Sicher- Intervention ab, die von Abs. 1 und 2 noch nicht erfaßt heitsrates in europäischen Angelegenheiten bei- sind. Hier wird die Einsatzmöglichkeit der Bundes- spielsweise davon abhängt, daß China im Sicherheits- wehr in einer Art und Weise ausgedehnt, die jeden- rat zustimmt? — Das ist der Punkt. Sie wollen aus- falls für mich das bisher vorstellbare Maß überhaupt schließen, daß in jedem Fall der Sicherheitsrat hinter- der Diskussion dieser Frage sprengt. Die Berufung auf her tätig wird. Art. 51 der Charta ist von den Koalitionsfraktionen in der Öffentlichkeit — heute war es etwas anders, aber Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine im Fernsehen; ich werde Ihnen gleich sagen, wer es Zwischenfrage des Abgeordneten Lamers? war — so dargestellt worden, als wäre auch hier eine Maßnahme der Vereinten Nationen die Grundlage Günter Verheugen (SPD): Ja, das muß ich jetzt des Handelns. Das ist eine Täuschung. Da ich nicht wohl. annehmen kann, daß den Koalitionsparteien- der Wortlaut des Art. 51 der UNO-Satzung unbekannt ist, Karl Lamers (CDU/CSU): Herr Kollege Verheugen, lag hier eine bewußte Irreführung der Öffentlichkeit sind Sie denn auch bereit, hier dem Bundestag mitzu- vor. Es war Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Hoyer, teilen, daß ich bei ungezählten Gelegenheiten Herr Solms, der erklärt hat, das alles geschieht unter — wenn ich mich nicht irre, auch anläßlich der Oberhoheit der Vereinten Nationen. Das hat er natür- Diskussion, die wir zusammen hatten — darauf hinge- lich gesagt, weil er das Problem Ihrer Parteijetzt schon wiesen habe, daß sich selbstverständlich alle unsere sieht. Ich bin nicht zuständig nicht mehr —, Partner, auch und gerade natürlich diejenigen, die im (Heiterkeit bei der SPD) Weltsicherheitsrat ständige Mitglieder sind, bei jedem der bislang laufenden Fälle und bei jedem denkbaren mir Gedanken darüber zu machen, wie die Program- zukünftigen Fall immer mit allem Nachdruck um ein matik der F.D.P. mit ihrem tatsächlichen Handeln in Mandat des Weltsicherheitsrats bemüht haben bzw. Übereinstimmung zu bringen ist, darüber müssen Sie bemühen werden? sich selber Gedanken machen. (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: „Bemü Ich will Sie nur daran erinnern, was Sie bis vor hen" ! — Weitere Zurufe von der SPD) kurzem von diesem Pult von Ihren Sprechern haben sagen lassen — da sitzt Herr Irmer, der wird das Günter Verheugen (SPD): Ich nehme das gern zur nachher vielleicht noch tun —, nämlich daß genau das Kenntnis. Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr Lamers. Sie für die F.D.P. nicht in Frage kommt. Art. 51 der Charta können nicht garantieren, was in zehn Jahren ist ein allgemein geltender Völkerrechtsgrundsatz. Er geschieht. Aber wir machen hier eine Verfassung. Es ist die einzig praktisch bedeutsame Ausnahme vom geht um Verfassung, Herr Kollege Lamers, und das ist Gewaltverbot, das in Art. 2 der Charta niedergelegt kein Recht, das von Tag zu Tag geändert werden ist. Die dort erlaubte kollektive Selbstverteidigung kann. beschränkt sich nicht auf die gemeinsam koordinierte (Paul Breuer [CDU/CSU]: Sie haben es doch Ausübung des individuellen Selbstverteidigungs- selbst in der Hand! — Weitere Zurufe von der rechts. CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11479

Günter Verheugen Meine Damen und Herren, ich frage Sie noch eingegriffen werden, wenn man das für opportun einmal: Welche Vorstellung von künftiger deutscher hält? Außen- und Sicherheitspolitik verbirgt sich hinter dieser Entfesselung bisher nicht gegebener politi- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wo steht scher und militärischer Möglichkeiten? Sind Sie wirk- das?) lich der Meinung, daß es schon genügt, militärische Einsatzmöglichkeiten zu schaffen, um den Weltfrie- Was sind die Prinzipien, nach denen Sie da vorgehen den und die Internationale Sicherheit zu gewährlei- wollen? Es fällt doch schon heute schwer, die Maß- sten? Ich sage Ihnen: Am Ende dieses Jahrhunderts, in stäbe zu erkennen, nach denen die internationale dem wir als Menschheit so viel hätten lernen können, Staatengemeinschaft bei Interventionen h andelt. fallen Sie in die Denkweise der Kanonendiplomatie Boutros Ghali hat uns ja darauf hingewiesen; Jugo- des Wilhelminismus zurück. slawien ist doch nur ein Teilproblem. Er hat uns hingewiesen auf Tadschikistan, Berg-Karabach, Ka- (Beifall bei der SPD — Peter Kittelmann bul, Burma. Er sagt: Die Lage ist dort schlimmer als in [CDU/CSU]: Das ist Ideologie, was Sie jetzt Sarajevo. machen! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU und der F.D.P.) Wissen Sie, was das Bild heute ist? Wenn ein Fernsehsender — normalerweise CNN — oft genug Wir glauben nicht, daß militärische Instrumente einen Konflikt in der Welt entdeckt und die gesende- geeignet sind, das zu leisten, was Sie leisten wollen. ten Bilder der allgemeinen Öffentlichkeit so unerträg- Nach dem Ende des Kalten Krieges muß die Chance lich werden, daß Druck auf die Politik entsteht, dann ergriffen werden, die Vereinten Nationen zu der wird gehandelt. Das ist in der letzten Zeit das Muster Weltfriedensinstanz zu machen, die sie nach ihrer gewesen. Und ich möchte nicht, daß ein internationa- Charta sein sollen und die sie wegen der Blockade im ler Nachrichtenkanal dafür verantwortlich ist, ob Kalten Krieg nicht werden konnten. Eine kühne unsere Bundeswehr irgendwo eingesetzt wird oder Annahme, mit militärischen Mitteln könnten Sie die nicht. regionalen, ethnischen, religiösen und sozialen Kon- flikte eindämmen, die sich in Europa und in anderen (Beifall bei der SPD — Peter Kittelmann Weltteilen wie ein Steppenbrand ausbreiten! [CDU/CSU]: Sie möchten lieber gar nichts tun!) (Zuruf von der CDU/CSU: Also lieber zuschauen?!) Ich möchte, daß diese Regierung sagt, nach welchen Prinzipien sie in der internationalen Staatengemein- Notwendig ist eine internationale Friedenspolitik, schaft handeln will — „nach welchen Prinzipien", die die Ursachen der Konflikte erkennt und mit einer sage ich vorbeugenden Politik den Ausbruch von Gewalt ver- (Zuruf von der SPD) hindert. Und wenn ständig von deutscher Verantwor- tung die Rede ist, dann sehe ich diese Verantwortung — Menschenrechte, dieses Wort ist heute überhaupt darin, daß wir einen Beitrag zur Entwicklung einer noch nicht gefallen —, Weltfriedenspolitik in dem Sinne leisten, daß die Vereinten Nationen politisch, finanziell und materiell- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Im endlich in die Lage versetzt werden, die Aufgaben zu ersten Satz habe ich das schon erwähnt! Eine erfüllen, die ihnen jetzt ständig vor der Haustür Unverschämtheit! Er hört nicht einmal zu!) abgeliefert werden. wenn die Frage der Intervention ansteht. (Beifall bei der SPD) Mit dieser Grundgesetzänderung begeben Sie sich Wenn die Vereinten Nationen heute überfordert auf einen gefährlichen, einen abschüssigen Pfad. Sie sind, dann doch nicht, weil sie nicht können oder nicht ziehen einen radikalen Schlußstrich unter die bishe- wollen, sondern weil ihre Mitglieder nicht bereit sind, rige gemeinsame Überzeugung, die wir aus der deut- beispielsweise Teile der Ausgaben für nationale Ver- schen Geschichte gelernt haben: daß Krieg kein teidigung und Rüstung, die sie heute überflüssiger Mittel der Politik mehr sein darf. weise noch ausgeben, für ein System der internatio- nalen Sicherheit zur Verfügung zu stellen. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie knüpfen an das Niveau der Debatte vom (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mittwoch an!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Machen Sie einmal den Vorschlag, 20 % unserer Das gehört bisher zu den existentiellen Grundlagen Sicherheitsausgaben für internationale Sicherheit unseres Staatsverständnisses und hat uns im Inneren aufzuwenden! Dann wären wir schon ein Stück wei- zusammengehalten. Was jetzt geschieht, ist nicht nur ter. ein Traditionsbruch, nicht nur ein Leugnen eines historischen Lernprozesses, (Zurufe von der CDU/CSU: Ideologische Spiele!) (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Nein, umge kehrt ist es, Herr Verheugen! Sie stehlen sich Meine Damen und Herren, ich habe aber noch eine hier aus Ihrer Verantwortung!) andere Frage. Es werden hier weitreichende Inter- ventionsinstrumente geschaffen. Was heißt das sondern ein Rückfall in politisches Denken, das wir für eigentlich in Zukunft? Soll jetzt immer militärisch überwunden gehalten haben. 11480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Günter Verheugen Wir sind bereit, den Vereinten Nationen als Welt- Es wird hohe Zeit, diese Diskussion zu führen, nicht friedensinstrument das zu geben, was sie brauchen. nur um die Instrumente, sondern darum, ob wir politisch, wirtschaftlich, ökonomisch und ökologisch (Zuruf von der CDU/CSU: Dann macht es genug tun, um Krisen erst überhaupt nicht entstehen doch!) zu lassen, Aber wir sind nicht bereit, aus Deutschland einen (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der anderen Staat zu machen, als das Grundgesetz ihn einmal gewollt hat. SPD) ob unser Krisenbewältigungsinstrument nur das Mili- (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall tär sein darf oder welche anderen Instrumente not- bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste — wendigerweise vorhergehen müssen und warm Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die SPD unsere eigenen vitalen Interessen so berührt werden, auf dem Weg in die 50er Jahre! — Weitere daß wir unsere Brüder, unsere Söhne und unsere Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) Väter in einen Krieg schicken sollen. Diese Frage muß diskutiert werden. Sie hat nichts mit den Instrumenten zu tun, die heute auf der Tagesordnung stehen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer Zwischenbemerkung hat Herr Abgeordneter Hirsch. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPDÜ und des BÜNDNISSES 90/DIE GR (Zuruf von der CDU/CSU) NEN)

Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Vielen Dank für die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter Vorschußlorbeeren! — Herr Kollege Verheugen, wir Verheugen, möchten Sie antworten? wollen aus Deutschland auch keinen anderen Staat machen. Trotz der Kompliziertheit kann ich deswegen ihre völkerrechtlichen Ausführungen nicht unwider- Günter Verheugen (SPD): Herr Kollege Dr. Hirsch, sprochen lassen. Sie haben mich mißverstanden. Sie haben gegen etwas polemisiert, was ich nicht gesagt habe. Ich habe Es ist richtig, daß der Hinweis auf die Charta der eindeutig klargestellt, daß Nr. 2 Ihres Gesetzentwur- Vereinten Nationen Auslegungsschwierigkeiten aus fes die Möglichkeit enthält, Maßnahmen unter Lei- der Satzung in unsere Verfassung bringen würde, die tung und Verantwortung der Vereinten Nationen wir klären müssen. Es ist auch richtig, daß das Wort zu ergrei- „friedensschaffend" immer die Beteiligung an Krie- oder mit Billigung der Vereinten Nationen fen; das habe ich wörtlich so gesagt. Das ist der gen anderer bedeutet. Hinweis auf Art. 39, völlig unbestritten. Ich habe auch Aber wenn Sie auf den Golfkrieg und auf den auf Art. 51 genau in dem Sinne hingewiesen wie Sie. Koreakrieg verweisen, müssen Sie hier sagen, daß die Da besteht gar kein Problem. auf Empfehlungen nach Art. 39 der Charta beruhen Das Problem besteht in der politischen Umwelt, in und daß eine Empfehlung nach Art. 39, die ja nicht der das stattfindet. Wenn ich noch einmal verdeutli- zwingend ist, keine eigene völkerrechtliche Grund- chen darf, wo die Kritik liegt: Sie brauchen dieses lage zu einer rechtswidrigen Gewaltanwendung - Hilfsinstrument, Art. 51, doch nur deshalb, weil Sie bedeutet, sondern daß eine Empfehlung nach Art. 39 davon ausgehen, daß Sie die notwendigen Entschei- in das kollektive Verteidigungsrecht nach Art. 51 dungen des Sicherheitsrates im Nothilfefall nicht mündet und damit für die Beteiligung an einem bekommen, oder weil Sie aus bestimmten Gründen solchen Vorgang alle Kautelen gelten, die der Außen- die UNO lieber heraushalten möchten. minister für Art. 51 hier eindrucksvoll dargestellt hat und die in der Ziffer 3 unseres Beschlusses enthalten (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Quatsch!) sind. — Ja natürlich, sonst brauchen Sie das doch nicht. Voraussetzungen sind nämlich die Abwehr eines Die regionalen Abmachungen, von denen hier die gegenwärtigen, bewaffneten Angriffs auf ein Mitglied Rede ist, sind die NATO, die WEU und die KSZE. der Vereinten Nationen, sein Einverständnis zur Ver- (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Oder teidigung und die Tatsache, daß der Sicherheitsrat bis solche ad hoc!) dahin keine andere zwingende Empfehlung beschlos- sen hat, sowie — was unser Haus angeht — die — Oder solche ad hoc. — In der NATO haben Sie drei Zustimmung dieses Hauses mit der Mehrheit von zwei ständige Mitglieder des Sicherheitsrates, in der WEU Dritteln der gesetzlichen Mitglieder. eins und in der KSZE sogar vier. Ich will Ihnen noch etwas sagen: Wir diskutieren (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Aber die Chinesen sind hier über die verfassungsrechtlichen Instrumente, nicht dabei!) und das ist gut. Denn die Diskussion um die verfas- Es ist völlig klar: Nur eines von denen braucht im sungsrechtlichen Ins trumente darf nicht länger eine Sicherheitsrat ein Veto einzulegen, und schon ist der andere Frage verdecken, nämlich — wenn wir eine Sicherheitsrat blockiert. Deshalb ist das Ganze nicht größere Verantwortung übernehmen sollen — womit, eine Stärkung der Vereinten Nationen, sondern zielt wofür und wem gegenüber wir diese Verantwortung tendenziell auf eine Schwächung der Vereinten wahrnehmen müssen. Diese Diskussion ist in Wirk- Nationen. lichkeit in der Bundesrepublik bisher nicht geführt Das Monopol, das Sie bei den Vereinten Nationen worden. als Weltfriedensinstanz letztlich bis hin zum Gewalt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) monopol haben wollen, wird hier in seinem Funda- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11481

Günter Verheugen ment wirklich aufgebrochen und für die Zukunft von den Folgen von Krieg und Unfrieden betroffen. Es unmöglich gemacht. kann nur gemeinsame Sicherheit geben, oder es gibt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keine Sicherheit. DIE GRÜNEN — Dr. Wolfgang Freiherr von (Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: So ist es!) Stetten [CDU/CSU]: Absolut falsch!) Wer Verteidigung nur auf die Landesverteidigung beschränkt und dies als historisch bedingte Beschei- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich erteile jetzt dem dung darstellt, ist in Wirklichkeit Provinzialist und Abgeordneten Karl Lamers das Wort. auch jemand, der keine Verantwortung für andere übernehmen will.

Karl Lamers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ehrte Kolleginnen und Kollegen! Jeder, der die deut- Zweitens. Wir haben vor allen Dingen eine europäi- sche Sozialdemokratie ein wenig kennt, hat Ver- sche Gemeinsamkeit. Wir haben in Maastricht eine ständnis dafür, daß sie bei dem Thema Frieden und gemeinsame Außen - , Sicherheits - und Verteidi- Krieg Schwierigkeiten hat, die noch größer sind als gungspolitik und eine gemeinsame Verteidigung in die, die wir als Deutsche alle haben. der Perspektive verabredet. (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Bei dem (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Eine euro Thema Frieden nicht, aber bei dem Thema päische Armee!) Krieg!) Ich habe auch sehr viel Verständnis dafür, Herr Es ist doch völlig ausgeschlossen, daß innerhalb einer Kollege Verheugen, daß Sie angesichts der Einigung politischen Ehe wie der Politischen Union Deutsch- in der Koalition in besonderen Schwierigkeiten sind, land in dieser zentralen Frage von Frieden und Krieg weil Sie sich jetzt entscheiden müssen. eine grundsätzlich andere Position einnehmen kann als alle seine Partner. Das ist doch nichts als ein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) logischer Gedanke. Aber ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß Sie, in einen Stil, in einen Ton wie in den 50er Jahren zurückfallend, die Schwierigkeiten, in denen Drittens. Es kann insbesondere für den Einsatz von Sie als führende Außen- und Sicherheitspolitiker alle Streitkräften in einer gemeinsamen Verteidigung stecken und die wir kennen, noch vergrößern. Wir natürlich keine unterschiedlichen Legitimations- wissen doch alle sehr gut, daß Sie die Position Ihrer grundlagen geben. Das geht doch einfach nicht. Ich eigenen Partei als unhaltbar ansehen. Viele von Ihnen weise darauf hin — Kollege Schäuble hat das schon haben es mit mehr oder minder klaren Worten auch eingangs getan —, daß wir bereits zwei internationale öffentlich gesagt. Vereinbarungen mit europäischen Partnern, nämlich (Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: So ist es!) mit denen in der WEU wie mit Frankreich, abgeschlos- sen haben, in denen wir uns verpflichtet haben, das, Das ist eine Tatsache. was wir jetzt in Nr. 3 unseres Gesetzentwurfs nieder- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Und gelegt haben, auch zu tun. eine Beruhigung des schlechten Gewis-- Sie wissen sehr gut, daß es andere deutsche Vor- sens!) schläge gegeben hat. Alle unsere Partner haben das Aber jetzt steigern Sie sich in etwas hinein, was ich nur ohne lange Überlegung abgelehnt und gesagt: Selbst- als unverantwortlich ansehen kann. verständlich ist es nicht nur wünschenswert, in vielen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Fällen ist es wahrscheinlich auch unerläßlich, ein zu haben; aber wir Sie reden hier von Interventionismus, von Kano- Mandat des Weltsicherheitsrats können uns in der Tat doch nicht von Mitgliedern in nenbootpolitik, von all solchen Dingen, von denen Sie genau wissen — Sie wissen es wirklich —, daß diesem Weltsicherheitsrat abhängig machen, deren niemand in diesem Lande auch nur im allerentfernte- moralische und demokratische Legitimation — ich sten einen solchen Gedanken überhaupt zu fassen in sage das einmal sehr zurückhaltend — nicht über der Lage ist. jeden Zweifel erhaben ist. (Beifall bei der CDU/CSU — Heidemarie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Wieczorek-Zeul [SPD]: Was?) Günter Verheugen [SPD]: Aha! — Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: China entscheidet über — Ja. Wenn Sie es nicht wüßten, dann könnte ich das Gerechtigkeit in der Welt!) nur als mangelnde Einsicht — was ich auch schärfer ausdrücken könnte — oder als Unverschämtheit Sie haben noch etwas Weiteres gesagt; das muß ich bezeichnen. hier doch einmal sagen. Sie haben gesagt: Die Mög- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — lichkeit, ein Mandat zu bekommen, ist um so größer, je Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: Böswillige eher wir in der Lage sind, das nötigenfalls auch anders Realitätsverweigerung!) zu tun. Das ist die Situation seit 1990, seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Was sind unsere einfachen und grundlegenden Überzeugungen? (Günter Verheugen [SPD]: Das ist ehrlich!) Erstens. Wir reden alle zu Recht von der einen Welt. Es ist wieder deutlich geworden, Herr Kollege Wir reden sehr wohl und vor allen Dingen von diesem Voigt, obwohl Sie das vorsichtigerweise eingangs einen Europa. In diesem einen Europa sind wir alle dementiert haben, daß Sie befürchten — Sie haben 11482 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Karl Lamers das hier im Bundestag gesagt —, durch unsere Part- Viertens. Wenn wir eine solche Situation hätten, nerschaft mit unseren engsten europäischen Partnern Herr Kollege Voigt, dann stünden wir doch mit Sicher- — es fallen dann immer die Namen Frankreich und heit nicht allein in der Westeuropäischen Union. Großbritannien — in Abenteuer verstrickt zu werden. (Vorsitz : Helmuth Becker) Herr Kollege Voigt, sehen Sie denn eigentlich nicht, daß das wirklich eine Pervertierung der grundlegen- Alle anderen stünden doch auf unserer Seite. Aber es den Maxime deutscher und westlicher Nachkriegs- ist überhaupt abwegig, noch einen weiteren Gedan- politik überhaupt ist? ken auf solch eine Möglichkeit zu vergeuden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist ein Verwirrspiel für die Öffentlichkeit, was Sie machen!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter Lamers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- Wenn Sie keine anderen Einwände haben, Herr ordneten Voigt? Kollege Voigt, dann sehe ich wirklich voraus, daß Sie schon in kurzer Zeit unserem Vorschlag zustimmen werden. Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Kollege (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Lamers, bei allem Bekenntnis zum deutsch-französi- Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Auf die- schen Freunschaftsverhältnis und deutsch-britischen sen Kurs gehen wir nicht!) Freundschaftsverhältnis: Könnten Sie sich vielleicht Fünftens. Meine Damen und Herren, militärische doch dazu verstehen, einzuräumen, daß das Suez- Integration zwischen Streitkräften mit unterschiedli- Abenteuer nicht unbedingt zur Teilnahme der Deut- chen Einsatzbegrenzungen ist auch nicht möglich. schen einlädt, daß es für ehemalige Kolonialmächte Das zeigt übrigens nichts deutlicher als das Beispiel und traditionelle Interventionsmächte einen anderen der AWACS-Flugzeuge mit den deutschen Soldaten Hintergrund gibt als für deutsche Politik an Bord. Das geht eben nicht; es geht beim besten (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie Willen nicht! sind wirklich in den 50er Jahren!) (Beifall bei der CDU/CSU) und das deshalb eine Intervention in Ländern der Sechstens. Meine Damen und Herren, der Kollege Dritten Welt ohne die Beteiligung des UNO-Sicher- Hoyer hat — wofür ich ihm sehr dankbar bin — mit heitsrats von großen Teilen der Dritten Welt auch als allem Nachdruck darauf hingewiesen: Wer zwingt uns Wiederaufleben von Kolonialismus und klassischer denn eigentlich in einer konkreten Situation, ja zu Interventionspolitik der Industrieländer in Ländern sagen? Niemand zwingt uns. Wir, und zwar nach der Dritten Welt aufgefaßt werden könnte? unserem Vorschlag der Deutsche Bundestag, haben zu entscheiden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie vor Karl Lamers (CDU/CSU): Herr Kollege Voigt, allem, diese Frage einmal zu beantworten. Sie gehen erstens: Ich stelle zum zweitenmal fest, daß Sie immer nie darauf ein. Wieso glauben wir denn eigentlich, wir sehr hilfreiche Fragen stellen. - müßten uns die Last einer freien Entscheidung durch (Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: Gerade ein selbstkonstruiertes Verfassungshindernis abneh- der!) men? Ihre Frage ist zunächst ein Beleg, daß Sie in der Tat (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) geistig noch in der Zeit der 50er Jahre, in denen sich Wofür spricht das denn eigentlich, wenn wir uns dieses Ereignis abgespielt hat, leben. selber in einer konkreten Situation, von der ich sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) genau weiß, daß sie immer schwierig sein wird, nichts Zweitens. Es ist ja wohl mehr als unwahrscheinlich, zutrauen? Wer uns nicht zutraut, daß wir in einer daß sich eine solche Intervention unserer westeuro- solchen Situation nein oder ja, ja oder nein sagen, päischen Partner überhaupt noch einmal wiederholen verehrte Kolleginnen und Kollegen, der ist nicht in der könnte. Lage, Verantwortung in der Welt und in diesem Land zu übernehmen. (Lachen und Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Es ist doch abwegig. Es ist wirklich abwegig. Es ist mehr als abwegig. Ich kenne die geschichtliche Last, unter der wir alle stehen und unter der wir besonders stehen, wenn wir Drittens. Jetzt mache ich aber einmal die abwegige eine solche Entscheidung über Frieden und Krieg zu Unterstellung, sie hätten so etwas vor. Da sage ich: treffen haben. Aber die einzig richtige Lehre aus der Erstens hätten wir dann, wenn wir grundsätzlich Geschichte ist, daß wir bereit sind, diese schwere Last bereit wären, so wie wir es hier vorsehen, die Mög- auf uns zu nehmen. lichkeit, ihnen zu sagen: Also, das ohne uns; das überlegt euch doch bitte dreimal! Wir hätten zweitens (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Möglichkeit, sie vielleicht doch davon abzuhalten. Ich bin überzeugt, daß wir sie davon abhalten wol- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und len. Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Bundes- (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Sie wol minister der Verteidigung, unserem Kollegen Volker len doch ja sagen können!) Rühe. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11483

Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Ich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der finde das schlimm genug, was Sie hier sagen, Herr Fraktionsvorsitzende der SPD, Hans-Ulrich Klose, hat Kollege Voigt. Aber ich sage noch einmal: Im Interesse am 13. Januar gegenüber SAT 1 folgendes erklärt: der Soldaten dieser Armee weise ich solche Begriffe (Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist er denn?) zurück. Sie gehören nicht in die deutsche politische Diskussion. „Ich will in der Tat nicht in jeder beliebigen Form deutsche Soldaten an alle möglichen Fronten schik- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ken. Dafür stehe ich." Worum geht es uns? — Warum soll ein 19jähriger (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Wir alle!) polnischer Soldat jetzt, im Jahre 1993, eine größere Ich sage Ihnen: Dafür steht Klaus Kinkel, dafür steht Verantwortung für den Frieden und die Sicherheit Volker Rühe, dafür steht jeder einzelne Abgeordnete Europas tragen als ein 19jähriger deutscher Soldat? dieser Koalition. Ich möchte, daß wir die Grundlagen schaffen, daß bald deutsche und polnische Soldaten zusammen etwas für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Frieden und die Sicherheit in Europa tun können. Auf dieser Grundlage können wir miteinander spre- Ich beende damit den Blick auf die Vergangenheit chen. Nur, was weg muß, sind die bösen Worte von der und öffne das Tor in die Zukunft. Was tun Sie? — Interventionsarmee und der Kriegführungsarmee. Warum soll ein 19jähriger französischer Soldat (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — ich wiederhole das — ein größeres Risiko für die Ich muß die deutsche Sozialdemokratie warnen, Sicherheit Europas tragen? Darum geht es doch in den was ihr Verhältnis zur Bundeswehr angeht, an dem Vorschlägen. Wir stehen vor der Aufgabe, daß mir sehr viel liegt; denn ich habe immer deutlich Deutschland in einem neuen und gewandelten inter- gemacht, wie wichtig das ist. nationalen System gleiche Verantwortung wie seine (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Ent Nachbarn übernimmt. schuldigen Sie, das ist nicht das Problem der Bundeswehr, das ist das Problem der politi Vizepräsident Helmuth Becker Herr Minister, schen Führung!) gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen — Herr Kollege Voigt, wenn Sie schon Mißtrauen Brecht? gegenüber führenden Politikern dieses Landes haben, was ich mir verbitte, weise ich Ihr Mißtrauen gegen- über den Soldaten zurück. Die würden das niemals mit Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Ja, sich machen lassen. bitte. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Brecht. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (SPD): Herr Minister, trifft die Voigt? Dr. Eberhard Brecht Aussage der „Süddeutschen Zeitung" vom Sommer - des letzten Jahres zu, wonach Sie gegenüber der Bundesminister der Verteidigung: Ich Volker Rühe, „Süddeutschen Zeitung" bestätigt haben, daß die füge noch einen Satz hinzu: Diese Armee ist inzwi- Auffassung von Henry Kissinger richtig sei, daß man mitten in der schen eine so gefestigte Armee, Demo- den Deutschen aus der geschichtlichen Verantwor- daß sie sich allen Politikern widersetzen kratie, tung heraus einen militärischen Einsatz in den näch- würde, die so etwas — Interventionsarmee — vorhät- sten zehn Jahren nicht zumuten kann, und würden Sie ten. Das müssen Sie bitte wissen. Das muß im Interesse dem Prozeß des Umdenkens in Deutschland nicht ein der Soldaten hier gesagt werden. wenig mehr Zeit geben wollen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie jetzt Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: eine Zwischenfrage des Kollegen Voigt? Herr Kollege, das bezog sich auf den Bodeneinsatz im Golfkrieg, und dabei bleibe ich. Ich weiß dies jetzt Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: noch besser als vorher. Darauf sind wir materiell Gerne. überhaupt noch gar nicht vorbereitet. (Zuruf von der SPD: Also doch eine Interven Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Kollege tionsarmee! — Weitere Zurufe von der Voigt. SPD) Aber nehmen Sie die Situation in Somalia. Das ist Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Rühe, eine friedensschaffende Maßnahme. Meine Frage ist: würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß wir volles Warum sollen nicht deutsche Soldaten zusammen mit Vertrauen zu den Soldaten und der Bundeswehr, aber Franzosen dort tätig werden? Darauf schulden Sie uns kein Vertrauen zur politischen Führung und ihren eine Antwort. Absichten hier haben? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — [CDU/CSU]: Unver schämtheit! — Weitere Zurufe von der CDU/ Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie noch CSU) eine Zwischenfrage des Kollegen Brecht? 11484 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Ich stellationen wir es zu tun haben, merkt man ja schon, würde jetzt gerne fortfahren. wenn sich hier Sprecher der GRÜNEN und vom Es geht urn die Zukunftsfähigkeit der deutschen BÜNDNIS 90 auf Militärs berufen, die sich im Unter- Außen- und Sicherheitspolitik angesichts neuer Her- schied zu obersten Militärs nicht immer mit besonde- ausforderungen. Es geht auch um die entsprechende rer Zurückhaltung argumentiert haben, was militäri- Einordnung der Rolle der Bundeswehr, wobei die sche Einsätze im ehemaligen Jugoslawien angeht. Streitkräfte nur ein Instrument unserer Außen- und Hier sind doch ganz neue Fronten entstanden. Das Sicherheitspolitik sind. Ich möchte ausdrücklich ein zeigt doch, daß wir zu neuen Antworten kommen breites Sicherheitsverständnis unterstützen. Das müssen und daß sich Deutschland dem nicht einfach heißt: Vorrang hat für uns immer die Bekämpfung der verweigern kann. Ursachen von Spannungen und der Ursachen von Aber kein Staat kann allein meistern, was auf uns Konflikten. Es geht z. B. um die wirtschaftliche und zukommt. Internationale Zusammenarbeit und Bünd- politische Unterstützung von instabilen Staaten, die nisfähigkeit sind ein unabdingbarer Teil der Staatsrä- auf dem Wege zur Demokratie sind. Das ist natürlich son Deutschlands. Das erfordert unsere Solidarität. auch vorrangig Sicherheitspolitik. Es ist doch letztlich nur Ultima ratio, wenn es zu einem Kampfeinsatz, zu (Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Das ist ein gutes einem militärischen Einsatz kommen sollte. Auch hier Wort!) darf es keine Unterstellungen geben. Hier gibt es — Ja, natürlich. Aber ist Ihnen ganz entgangen, daß keinerlei unterschiedliche Betrachtung. alle unsere Vorschläge darauf basieren, daß wir nie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) etwas allein machen, sondern immer nur mit anderen zusammen? Wir Deutschen haben von den radikalen Verände- rungen in Europa und in der Welt letztlich am meisten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und profitiert, was unsere Sicherheit angeht. Wir haben der F.D.P. — Karl Lamers [CDU/CSU]: Aber unsere Einheit mit Europa, mit Amerika und nicht davor haben die gerade Angst!) gegen sie gewonnen. Wenn wir Deutschlands Einheit Wissen Sie, wenn wir uns in der deutschen Geschichte vollenden und zugleich das vereinte Europa bauen immer so verhalten hätten, nur das zu tun, was auch wollen, dann brauchen wir die Solidarität unserer unsere Nachbarn für richtig halten, hätten wir uns Freunde und Partner. Das ist eine Zweibahnstraße. manches, wenn nicht alles erspart. Robert Leicht hat es in der „Zeit" auf den Punkt gebracht. Es darf nicht heißen: Alle für einen, aber der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eine nur für sich. — Das ist die Lage, in der sich Warum muß sich denn Deutschland immer von Deutschland befindet. anderen unterscheiden? In der Vergangenheit in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bestimmten historischen Phasen durch besondere Amoralität? Und warum glauben Sie denn jetzt, daß Heute, wo es darum geht, Krieg, Not und Gewalt Sie moralischer wären als andere? Warum können wir abzuwenden und abscheuliche Verbrechen zu ver- nicht so den Weg finden, daß wir uns fragen, wie hindern — da sollen wir uns verweigern? Wollen wir unsere beiden wichtigen Nachbarn im Osten und wirklich internationale Konfliktverhütung und- multi- Westen, Frankreich und Polen, die Lage in Europa nationales Krisenmanagement lähmen, die doch sehen, was für die moralisch oder unmoralisch ist? Ist erklärte Kernpunkte unserer Politik sind? In den das keine gute Leitschnur deutscher Politik am Ende Augen der Welt jedenfalls wäre das ein nicht nach- dieses Jahrhunderts? vollziehbarer Bruch deutscher Außenpolitik; denn dafür sind wir doch immer eingestanden in den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erfolgreichen Jahren der deutschen Nachkriegsge- Warum müssen wir immer etwas Besonderes sein? Im schichte. übrigen, was ist denn eigentlich moralisch? Was die künftige Rolle der NATO angeht: Wollen (Karl Lamers [CDU/CSU]: Hypermoralisch! Sie denn wirklich, daß sich die NATO darauf konzen- — Zurufe von der SPD — Gegenruf von der triert, nur auf den einen — Gott sei Dank sehr CDU/CSU: Eure Haltung ist eine Frech unwahrscheinlich gewordenen — großen Konflikt zu heit!) warten? Alle anderen Mitgliedstaaten der NATO bereiten sich darauf vor, friedenserhaltende und frie- Wir haben ja zum Glück eine Diskussion darüber. Hier densschaffende Maßnahmen in Europa auf der Basis ist auch gesagt worden: Die KZs in Deutschland sind der Charta der Vereinten Nationen durchzuführen. allein durch Soldaten geschlossen worden und nicht Sehen Sie denn nicht, daß diese Mitgliedstaaten der durch Resolutionen! Vielleicht ist es auch in der NATO es als einen Bruch der deutschen Politik Zukunft nur Soldaten möglich, so etwas, was zutiefst empfinden, wenn ein Schlüsselstaat wie Deutschland unmoralisch ist, zu beenden. Deswegen kann der bei den neuen Aufgaben der NATO in Europa aus- Einsatz von Militär moralisch sehr geboten sein. fällt? Das ist doch die Frage, der Sie sich stellen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) müssen, wenn Sie es ernst meinen mit Ihrem Bekennt- nis auch zur Zukunft der NATO. Ich bin mit dem Kollegen Gansel doch völlig einig: Die KZs in Deutschland sind nicht durch noch so (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge berechtigte und ergreifende Demonstrationen in Lon- ordneten der F.D.P.) don und New York geschlossen worden, sondern Der Krieg ist als Mittel der Politik nach Europa durch die Einsatzbereitschaft und die Bereitschaft der zurückgekehrt. Ich meine, mit welchen neuen Kon Soldaten, die nach Deutschland gekommen sind, auch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11485

Bundesminister Volker Rühe ihr Leben zu geben. Das dürfen Sie doch nicht Vielen Dank. vergessen! (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — (Günter Verheugen [SPD]: Geschichtsklitte Beifall bei der F.D.P.) rung!) — Das ist keine Geschichtsklitterung, sondern das ist die Geschichte! Vizepräsident Helmuth Becker: Der nächste Redner ist unser Kollege Walter Kolbow. (Zuruf von der CDU/CSU: Der Zuruf ist doch unglaublich! — Hans Büttner [Ingolstadt]: Historische Klippschule ist das!) Walter Kolbow (SPD): Herr Präsident! Meine Und, lieber Herr Kollege Verheugen, es kann j eden- Damen und Herren! Mit dem Bundesverteidigungs- falls nicht sein, daß sich alles ändert, daß die Institu- minister wissen viele in unserem Land, daß gegenwär- tionen reformiert werden, alle Nationen ihre Rolle neu tig rund 700 Soldaten der Bundeswehr an verschiede- bestimmen, nur die Deutschen bleiben in den Vorstel- nen Friedensmissionen der UNO teilnehmen und lungen einer vergangenen Welt gefangen. dabei ihr Leben risikieren müssen. Dafür hat ihnen auch dieses Haus heute an dieser Stelle und in dieser So werden wir die Zukunft jedenfalls nicht erfolg- Debatte zu danken. Es hat deutlich zu machen, daß wir reich gestalten. Deutschland liefe erneut Gefahr, an der Seite dieser Soldaten und ihrer Familie nicht international Außenseiter zu werden und seinen Ein- nur mit unserem Fühlen, sondern auch — und darum fluß auf die Gestaltung der für uns lebenswichtigen geht es — mit unserer Verantwortung stehen. Strukturen und Prozesse zu verlieren. Das hat über- haupt nichts zu tun mit deutscher Großmannssucht (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der oder mit Vordrängen, aber sehr viel mit einer verant- F.D.P.) wortlichen Werte- und Interessenpolitik, mit dem Wir lassen uns aber — und da ist etwas Ungutes, ich Einsatz für den Frieden in Europa und der Welt will sehr zurückhaltend sprechen, weil zwischen uns gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern. nichts verschüttet werden soll, auch nicht bei dieser Ich muß Ihnen jedenfalls sagen: Wenn Völkermord wichtigen Frage — nicht auseinanderdividieren. Sie geschieht, wenn Freiheit und Humanität mit Füßen können die Soldaten, Herr Bundesminister, nicht getreten werden, dann muß gehandelt werden. Das ist gegen die Sozialdemokratische Partei Deutschlands politisch und moralisch geboten. Wer nur reden, aber ausspielen wollen — es klang so. nicht handeln würde, machte sich schuldig. Wir müs- (Beifall bei der SPD) sen zumindest die Möglichkeit erhalten, in jedem Unterlassen Sie dies auch im Interesse einer zielorien- Einzelfall zu entscheiden. Ein Kampfeinsatz bliebe tierten Debatte! Denn in unserer Verpflichtung, für die immer die Ultima ratio der Politik. tatsächliche Sicherheit, für die Rechtsklarheit des Die Unterstellung, daß die Demokratien dieser Einsatzes von Soldaten und der künftigen Beteiligun- Bündnisse — NATO, WEU, Politische Union Euro- gen, um die es heute ja auch mit Ihrem Entwurf geht, pas — in der Zukunft schrankenlosem Interventionis- zu sorgen, lassen wir uns nicht übertreffen. Unsere mus Vorschub leisten, ist wirklich absurd. Wer -außer Wortbeiträge hier sind Ausdruck dieser Sorge und Demokratien wäre denn mehr dazu geeignet, Frei- dieses Engagements. heit, Humanität und Recht zu verwirklichen? Das muß Deswegen bewerten wir Ihren Vorschlag aus unse- ich Sie fragen. rer Sicht auch mit den Argumenten, die wir Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gegenüberzustellen haben und zu denen Sie, meine ich, mehr sagen sollten als das, was Sie in dieser Lassen Sie mich — ich darf das noch sagen, weil ich Begründung gesagt haben, nämlich nichts. Einen die Fragen zugelassen habe — noch einmal klarstel- Einsatz, bei dem es künftig um Leben und Tod gehen len: Niemand will die Bundeswehr an jeden Krisenort kann, einfach so auf den Tisch zu legen, ohne Begrün- dieser Erde schicken, schon gar nicht ich. Es gibt dung, mit einer übers Knie gebrochenen Einbringung keinerlei Automatismus, nicht heute und nicht in der eines solchen Gesetzentwurfes, entspricht nicht der Zukunft. Deutschland wird nie allein handeln, immer Wichtigkeit und — ich sage es bewußt — auch nicht Jeder Einzelfall wird mit Verbündeten und Partnern. der Würde des Umgangs mit einer so wichtigen vor dem Hintergrund unserer Werte, unserer Interes- Verfassungsänderung. Das können Sie so nicht sen und im Bewußtsein unserer Verantwortung vor machen, der Geschichte abgewogen und durch dieses Parla- ment entschieden. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Es gibt ja eine Begründung!) (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Genau! Aber davor haben die ja Angst!) zumal da Sie sich, Herr Bundesminister der Verteidi- gung, natürlich nicht nur mit den Argumenten der Mit dem Vorschlag der Koalition wird Deutschland Sozialdemokratie auseinandersetzen müssen. international handlungsfähig. Es bleibt glaubwürdig und berechenbar. Wir wahren die Kontinuität, und wir Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt heute über werden zugleich zukunftsfähig. Wir tun, was im Ihren neuen Art. 24 Abs. 2a, er gleiche „eher einem Grunde schon jetzt ein breiter gesellschaftlicher Kon- saugfähigen Schwamm". Sie fährt fort: sens verlangt: Wir verbinden die Lehre der Geschichte Mit diesem verquollenen Gebilde kann kein mit den Herausforderungen der Zukunft. Und genau Soldat etwas anfangen .... Ein Anwalt, der einen das ist unsere Aufgabe. Mietvertrag formuliert, geht mit den Interessen 11486 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Walter Kolbow seines Mandanten pfleglicher um als die Koali- sondern nach unserer Auffassung die Feigenblatt- tion mit den Pflichten der deutschen Soldaten. klausel der UNO-Charta ist. Mit dieser Klausel in der Charta haben Regierungen stets ihre außenpoliti- (Beifall bei der SPD) schen Interessen in den Mittelpunkt gestellt und Wenn Sie schon uns nicht zuhören: Nehmen Sie die nachgeholfen. So war es bei Grenada, bei T ripolis und Stimmen der Öffentlichkeit wahr! Ich komme darauf auch bei der amerikanischen Militärintervention in zurück. Panama. Auch die 10jährige Invasion in Afghanistan sowie der Falkland-Konflikt sind im Zusammenhang Ich will Sie bei dieser Debatte nicht damit belasten, mit Art. 51 begründet worden. daß sie offensichtlich diese Einbringung auch schon deshalb so rasch vorgenommen haben, damit Ihnen dieser Kompromiß nicht zerbröselt. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kol- bow, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (Hans Bittner [Ingolstadt] [SPD]: Ablen Schwarz-Schilling? kungsmanöver!) Herr Kollege Voigt hat schon auf die Bedenken des Walter Kolbow (SPD): Selbstverständlich. Kollegen Scholz hingewiesen. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr. Nach Äußerungen von Ihrer Seite ist der Kompro- miß, den Sie gefunden haben, auslegungsfähig und Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Herr auslegungsbedürftig. Deshalb sind unsere Ausfüh- Kollege, ist Ihnen bekannt, daß bei den Beratungen rungen dazu nicht nur erlaubt, sondern auch notwen- des Parlamentarischen Rates am 19. November 1948 dig. gerade die Sozialdemokratische Partei — hier Carlo Die vorgeschlagene Änderung des Grundgesetzes Schmid und der Kollege Eberhard — auf genau dem geht in die falsche Richtung, und zwar auch deswe- gegensätzlichen Standpunkt stand und man so die gen, weil sie zum Nachteil unserer Streitkräfte sein Formulierung für den heutigen Art. 24 gefunden hat? kann. Damit Sie wissen, ob Ihnen das bekannt ist oder nicht, darf ich Ihnen den damaligen Standpunkt zitieren. Sie haben hier — ich will aktuell darauf eingehen — Auf Grund eines Einwurfs von Herrn Seebohm, daß deutlich gemacht, daß Sie unsere Soldaten zusammen die Übertragung auf ein kollektives Sicherheitssystem mit anderen nicht an alle möglichen Fronten schicken doch besser mit einer Zweidrittelmehrheit erfolgen wollen. Das nehmen wir uns gegenseitig ab. Aber die sollte — er wollte die Souveränitätsrechte nicht so Gefahr, daß eine solche objektive Situation durch die ohne weiteres internationalisieren —, erklärte der Verfassung geschaffen werden kann, treibt uns um. Vorsitzende Carlo Schmid: Weil Sie das wollen, kämpfen wir mit Leidenschaft — das sage ich Ihnen von mir persönlich — für einen Ich möchte bitten, diesen Antrag abzulehnen. Wir Kompromiß, aber unterhalb dessen, was Sie hier haben gerade darüber in den verschiedenen objektiv an Möglichkeiten und Optionen schaffen Ausschüssen, die sich mit dem Artikel befaßt wollen. haben, viel gesprochen. Wir waren der Meinung, (Beifall bei der SPD) daß durch dieses Grundgesetz — das ja von der - überwältigenden Mehrheit des Volkes wird Herr Bundesminister der Verteidigung, Sie haben angenommen werden müssen ... — zum Aus- darauf hingewiesen, daß nicht Resolutionen, sondern druck gebracht werden soll, daß dieses Land Soldaten die KZs geschlossen haben. Das ist eine grundsätzlich bereit ist, internationalen Organen, Tatsache. Ihr müssen wir uns, wenn wir diskutieren, zwischenstaatlichen Einrichtungen beizutreten, immer mit Leidenschaft, nicht nur intellektuell, stel- also die Internationalisierung der politischen len. Wirklichkeit möglichst aktiv zu fördern. Wir woll- (Beifall bei der CDU/CSU) ten die Bereitschaft insbesondere dadurch zum Das war sicher für die Alliierten ein wesentlicher Ausdruck bringen, daß wir für diesen Fall gerade Grund, in den Krieg gegen Hitler-Deutschland einzu- kein verfassungsänderndes Gesetz verlangen, treten. Aber es war nicht der einzige Grund. Auch sondern ein einfaches Gesetz als genügend anse- wenn bei einem so schwierigen Thema weitere hen wollen. Die grundsätzliche Entscheidung, ich Punkte angeführt werden müssen, handelt es sich möchte sagen, die Entscheidung vom Rang einer doch nicht um das Wegnehmen von Verantwortung Verfassungsbestimmung soll nicht bei den einzel- für Entwicklungen in der Weltgemeinschaft und in nen Akten, sondern schon in dem Augenblick, in anderen Ländern, sondern geht es um die Sorge beim dem wir das Grundgesetz beschließen, als eine Einsatz von Soldaten unseres Landes im Zusammen- Entscheidung allgemeiner und fundamentaler hang mit falschen Entwicklungen. Darüber kann auch Art getroffen werden. eine Zweidrittelmehrheit nicht hinwegtäuschen. Ihr Kollege Eberhard fügte hinzu: Ich bitte, den Antrag Dr. Seebohm abzulehnen. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wem Man kann dem nicht beitreten, was in der unterstellen Sie das denn? — Manfred Rich Begründung dieses Antrags gesagt ist ... Wir ter [Bremerhaven] [F.D.P.]: Was wollt ihr geben uns hier eine verfassungsmäßige Ord- denn konkret?) nung, genannt Grundgesetz. Wir haben in erster — Ich sage Ihnen konkret — der Herr Bundesaußen- Lesung ausführlich darüber gesprochen, ob wir minister kann nicht mehr anwesend sein —, daß die ein einfaches Gesetz vorsehen wollen, und wir

Brücke des Art. 51 der UNO - Charta keine Brücke, haben uns dazu entschlossen, im Grundgesetz zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11487

Dr. Christian Schwarz-Schilling sagen, daß durch einfaches Gesetz Hoheitsrechte gen zu finden. Wir lassen es uns auch im Interesse übertragen werden können, um unsere Bereit- derer, die das gegebenenfalls auszubaden haben, schaft eindeutig festzulegen, in der europäischen nicht nehmen, von dieser Gefahr zu reden. Ordnung und in der f riedlichen Ordnung der Welt (Beifall bei der SPD) unsere Rolle dadurch zu spielen, daß wir es leicht machen, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Ich bin dafür, daß Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kol- wir dabei bleiben. bow, gestatten Sie eine weitere Frage, und zwar des Kollegen Norbert Gansel? — Bitte sehr, Herr Kollege (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wie lange soll das Verlesen noch dauern? — Heidemarie Wiec Gansel. zorek-Zeul [SPD]: Art. 24 Abs. 1! — Günter Verheugen [SPD]: Das hat doch nichts mit Norbert Gansel (SPD): Kollege Kolbow, da Sie ja Militär zu tun!) nicht nur unser sicherheitspolitischer Sprecher, son- War Ihnen das als die Auffassung der Sozialdemo- dern auch ein juristischer Experte sind, kraten der damaligen Zeit bekannt? (Zurufe von der CDU/CSU: Was?) (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Die Frage läßt gestatten Sie mir die Frage, ob Sie mir in der Ansicht sich klar mit Ja beantworten!) zustimmen, daß sich der Kollege Schwarz-Schilling deshalb im Irrtum befindet, weil die Vorlage der Walter Kolbow (SPD): Herr Kollege Schwarz-Schil- Koalitionsfraktionen zur Verfassungsänderung in kei- ling, der genaue Text war mir nicht bekannt, wohl nem einzigen Punkt die Übertragung eines Souverä- aber natürlich, daß diese unterschiedlichen Ziele, die nitätsrechts an eine internationale Organisa tion ent- Sie vorgetragen haben, eine Rolle gespielt haben. hält, sondern im Gegenteil aus den Erklärungen von Im übrigen erlauben Sie mir den Einschub, daß Sie Herrn Rühe und von Herrn Kinkel deutlich geworden es sicherlich genießen, wieder einmal längere Aus- ist, daß man sich unter Berufung auf eine neugewon- führungen im Parlament machen zu können, da Sie im nene deutsche Souveränität durch eine Verfassungs- Kabinett dafür offensichtlich nie so viel Zeit bekom- änderung neuen Spielraum für außenpolitische und men haben. militärische Optionen eröffnen will. (Beifall des Abg. Norbert Gansel [SPD]) (Beifall bei der SPD) Art. 24 Abs. 1 betraf die Zielorientierung Europäi- sche Gemeinschaft. Was Art. 24 Abs. 2 angeht, Herr Walter Kolbow (SPD): Herr Kollege Gansel, mit den Kollege Schwarz-Schilling, wissen Sie genau, daß es Experten ist das immer so eine Sache; aber mit dieser zu der Zeit der Debatte, aus der Sie zitiert haben, noch Antwort haben Sie sich als Experte erwiesen. gar keine Bundeswehr gab. Art. 24 Abs. 2 war in Richtung Vereinte Nationen orientiert. Aber man (Beifall bei der SPD — Zurufe von der F.D.P.: Oho!) dachte doch nicht an einen Einsatz in dem Sinn, daß man alle Optionen für Kampfeinsätze durch eine künftige deutsche Wehrmacht eröffnen wollte. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kol- - bow, gestatten Sie noch eine Frage der Kollegin Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kol- Wieczorek-Zeul? bow, gestatten Sie eine weitere Frage, und zwar des Kollegen Manfred Richter? Walter Kolbow (SPD): Bitte. Walter Kolbow (SPD): Bitte schön, Herr Kollege. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Herr Kollege Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Rich- Kolbow, stimmen Sie mir zu, daß bereits ersichtlich ter, bitte. geworden ist, daß sich alle Zitate auf die Frage der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Manfred Richter (Bremerhaven) (F.D.P.): Herr Kol- Gemeinschaft bezogen haben? Zur damaligen Zeit lege, Sie haben eben in Ihrer Rede eine Reihe von war es mit einfacher Mehrheit möglich. militärischen Interventionen in der Vergangenheit Geben Sie mir recht, daß wir mit der Stimme des aufgezählt. Darf ich Ihren Ausführungen entnehmen, Abgeordneten Schwarz-Schilling bei der Ratifizie- daß die Opposition diesen Interventionen gegebenen- rung des Maastricht-Vertragswerkes gerade durch falls zugestimmt hätte, denn das wäre ja die Voraus- den neuen Art. 23 erreicht haben, daß künftige setzung für das Tätigwerden der Bundeswehr? Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft nur noch mit Zweidrittelmehrheit mög- Walter Kolbow (SPD): Das dürfen Sie natürlich lich sind, und zwar deshalb — Herr Kollege Scholz nicht, Herr Kollege. Manchmal ist die Neigung, das freut sich; er hat es mit zu verantworten —, weil einfach glauben zu wollen, größer als die intellektu- deutlich geworden ist, daß heute nicht nur wirtschafts- elle Fähigkeit, dies so zu kontrollieren. Das können politische Zuständigkeiten auf die Europäische Sie uns — ich habe Sie ein bißchen angeschaut, Gemeinschaft übertragen werden, sondern es an während Sie das gesagt haben — doch nicht unterstel- Kerne unserer Entscheidungsbefugnisse geht, und len. Ich glaube, es war eindeutig, daß ich in Art. 51 die daß es bei dem hier Zitierten um ganz andere Fragen Gefahr sehe, eine Begründung für solche Optionen gegangen ist als um das, worüber wir heute morgen auch im Zusammenhang mit regionalen Abmachun diskutieren? 11488 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Walter Kolbow (SPD): Wie könnte ich Ihnen hier Ihr Weg, über den es heute zu reden gilt, weist widersprechen, Frau Kollegin. Genau darum ging es zurück in die Tradition nationaler Macht- und Inter- hier. essenpolitik (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ (Zurufe von der CDU/CSU) CSU]: Noch eine Expertin!) mit dem ständigen Risiko weiterer Staaten- und Koali- tionskriege. Unsere Soldaten sollen da nicht hineinge- — Fürwahr, Herr Kollege von Stetten. zogen werden. Die Zeit ist mir davongelaufen. Darum will ich nicht (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ bei meinem Text bleiben, sondern kurze Zeit noch CSU: Das Gegenteil ist der Fall! — Zurufe darauf verwenden, mich mit der Akzeptanz zu befas- von der F.D.P.) sen, mit der natürlich auch Sie, Herr Bundesminister, sich auseinandersetzen müssen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Weder in der Bevölkerung noch in den Streitkräften Herren! Ich will darauf aufmerksam machen, daß nach findet Ihre Auffassung ausreichend Akzeptanz. — der Geschäftsordnung hier gestellte Fragen kurz sein Herr Kollege Rühe, es wäre schön, wenn Sie zuhörten. und eine kurze Beantwortung ermöglichen müssen. Ich weiß, daß es in diesem Fall nicht an Ihnen liegt. — Es gab zur Klärung der Sache eine Ausnahme. Ich Zu Beginn Ihrer Amtszeit haben Sie noch auf die habe das für zulässig gehalten, weil Herr Kollege Notwendigkeit des Konsenses hingewiesen. Sie sag- Schwarz-Schilling erst einmal sagen mußte, was er ten, in der Demokratie lasse sich nur durchsetzen, was meinte, und dies durch die Zitate etwas länger gedau- eine Mehrheit finden könnte, bevor Sie aus reichlich ert hat. durchsichtigen Gründen mit dem Entsendegesetz auf (Dr. Uwe Küster [SPD]: Es wurde dadurch Konfrontationslinie gegangen sind. Sie wissen doch nicht besser!) wohl wie ich, daß zwischen 60 und 85 % der Bevölke- Des weiteren möchte ich sagen, daß es bei den rung nach den Umfragen gegen Kampfeinsätze der Redezeiten jetzt zweimal eine kurze Überziehung Bundeswehr außerhalb von Landes- und Bündnisver- gab, die ich ebenfalls für zulässig hielt. teidigung sind, während gleich große Teile Blauhelm- einsätze befürworten. Wir haben noch drei Wortmeldungen vorliegen. Im Interesse der Sache und des Fortgangs bitte ich die Nach Erhebungen des bewährten Sozialwissen- Redner, ihre Redezeiten möglichst einzuhalten. schaftlichen Instituts der Bundeswehr sind 60 % der Bitte sehr, Herr Kollege Paul Breuer. Offiziere für Kampfeinsätze, 60 % der übrigen Solda- ten dagegen. „Kampfeinsätze der Bundeswehr finden grundsätzlich keine Unterstützung bei jungen Men- Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine schen", schreiben die Jugendoffiziere in ihrem vom Damen und Herren! Ein Teil dieser Debatte war von Bundesministerium der Verteidigung im Juni 1992 der Frage geprägt, ob der Vorschlag, das Grundgesetz verteilten Bericht, „während Blauhelmeinsätze ak- zu ergänzen, den die Koalition heute einbringt, in der zeptiert werden." Warum dann diese fatale Fixierung Kontinuität der bisherigen Politik der Bundesrepublik auf Kampfeinsätze als Conditio sine qua non?- Deutschland liegt oder eine Veränderung vornimmt. Es darf nicht in erster Linie darum gehen — das Der Kollege Verheugen hat sich dazu hinreißen lassen, zu sagen, wir zögen einen radikalen Schluß- macht uns Sorge —, über neue Aufgaben far die Bundeswehr die Legitimation der Streitkräfte sicher- strich unter die bisherige Politik. zustellen und deren Personalumfang gegen weitere (Günter Verheugen [SPD]: Es war nicht hin Reduzierungen abzusichern. Das alleinige Kriterium gerissen; es war gut überlegt!) dafür muß das Erfordernis der Landes- und der Ich glaube aber, daß Sie die Kontinuität, die in diesem Bündnisverteidigung sein. Wenn die militärischen Vorschlag liegt, nicht ausreichend bedenken. Risiken weiter sinken, muß das auch Konsequenzen Als sich die Bundesrepublik Deutschl and vor für die Streitkräfte nach sich ziehen. 39 Jahren in den Pariser Verträgen verpflichtet hat, Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen, Herr zur Verteidigung der freien Welt beizutragen, vor Präsident. Der Bundestag wird im neuen Jahr nicht 38 Jahren der NATO beigetreten ist und danach die einfach diese oder jene Bestimmung der Wehrverfas- Bundeswehr aufgestellt hat, war von vornherein klar, sung ändern. Er wird eine Weiche stellen und dadurch daß die Bundesrepublik Deutschland nie beabsich- den Kurs der deutschen Außenpolitik, Sicherheits- tigte, nationale Verteidigung allein zu be treiben, politik und auch Verteidigungspolitik für unsere sondern von vornherein den erklärten politischen Streitkräfte auf Jahre oder Jahrzehnte vorzeichnen Willen hatte, nationale Verteidigung in die freie Welt, und Aufschluß geben, für welche Art Weltordnung in die Völkergemeinschaft zu integrieren. — darum geht es uns — die Bundesrepublik Verant- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wortung übernehmen will. der F.D.P.) Unser Weg, der seit Juni 1992 dem Bundestag Insofern bewegt sich deutsche Politik mit diesem bekannt ist und der, wie Sie wissen, ergänzt werden Vorschlag in der Kontinuität dessen, was in der kann, freilich nicht mit Einsätzen à la Golf, eröffnet die Vergangenheit in diesem Staat bet rieben wurde. Chance einer qualitativ neuen Friedensvorsorge Es stimmt allerdings, daß in der Zeit der Teilung unter der Regie der Vereinten Nationen, der interna- Deutschlands die Beschränkung der innen- und tionalen Rechtsgemeinschaft. außenpolitischen Souveränität verhindert hat, daß die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11489

Paul Breuer Bundesrepublik Deutschland ihrer außenpolitischen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Verantwortung in vollem Umfang gerecht wurde. Die Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Heidemarie historische und geopolitische Situation Deutschlands, Wieczorek-Zeul das Wort. aber auch der politische Pragmatismus haben dazu geführt, daß der Sinn deutscher Streitkräfte fast immer (SPD): Liebe Kollegin- nur unter dem Gesichtspunkt des konkreten Bedro- Heidemarie Wieczorek-Zeul nen und Kollegen! Die Entscheidungen der Parteien, hungsszenarios des Kalten Krieges, der unmittelbaren die die Bundesregierung stellen, eint zwar fürs erste, Konfrontation mit den Staaten des Warschauer Paktes wie man der heutigen Zeitung entnimmt, — fürs und der existentiellen Bedrohung der Bundesrepublik erste! — die heillos zerstrittene Bundesregierung, Deutschland gesehen wurde. aber sie spaltet unser Volk und unser Land, das durch Mit der neuen geopolitischen Lage, der neuen die Art von Wirtschafts- und Finanzpolitik bereits von historischen Lage, in die wir eingetreten sind, muß es Ihnen gespalten worden ist. darum gehen, deutlich zu machen, daß wir mit der (Zustimmung bei der SPD) Begründung der Außenpolitik der Bundesrepublik Einen gesellschaftlichen Konsens über die künftige Deutschland allerdings von vornherein nie nur auf Rolle der Bundeswehr und ihre zukünftigen Aufgaben den eigenen Bauchnabel geschaut haben, nicht nur können Sie damit nicht erreichen. Die große Mehrheit den eigenen Frieden und die eigene Freiheit gesehen der Bevölkerung in Deutschland ist mit uns, der SPD, haben, sondern immer auch die Freiheit und den der Meinung, daß die Aufgaben der Bundeswehr bei Frieden der freien Welt und der Völker dieser Welt. der Verteidigung unseres Landes und unserer Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bündeten belassen bleiben müssen und daß sie maxi mal auf friedenserhaltende Blauhelm-Missionen aus- Es ist wichtig, dies in der heutigen Debatte zu beto- geweitet werden sollen. Sie ist aber nicht gewillt, nen. deutsche Soldaten weltweit in militärische Kampfein- Die verfassungsrechtliche Regelung zum Einsatz sätze zu schicken. deutscher Streitkräfte außerhalb der Bündnisgebiete (Beifall bei der SPD) von NATO und WEU ist ein Zeichen, daß sich Selbstverständlich ist eine Trennung zwischen dem Deutschland seiner gewachsenen internationalen Blauhelm-Konzept und einem Kampfeinsatzkonzept sicherheitspolitischen Verantwortung gegenüber möglich; das haben Sie in der Vorlage Ihres Verfas- den Vereinten Nationen stellt und völkerrechtliche sungsänderungsvorschlages auch selber deutlich ge- Verpflichtungen einhalten will. macht. Insofern ist es eine Verschleierung der Absicht, Meine Damen und Herren Kollegen von der Oppo- daß man Kampfeinsätze will, wenn man sagt: Es gibt sition, von der Sozialdemokratie, dies haben der in diesen Bereichen keine klare Abgrenzung. damalige Bundespräsident Gustav Heinemann und (Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist doch eine der ehemalige Bundesminister des Auswärtigen Wal- Tatsache!) ter Scheel anläßlich des Beitritts der Bundesrepublik Die Bevölkerung hat recht. Sie drückt das aus, was Deutschland zu den Vereinten Nationen feierlich sich in Jahrzehnten nach dem Krieg in der guten erklärt — ich zitiere —, - Tradition militärischer Zurückhaltung in Deutsch- daß die Bundesrepublik Deutschland die in der land gesammelt hat. Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Ver- In der Tat, Herr Rühe, Instinkte lassen sich nicht pflichtungen annimmt und sich feierlich ver- wegkommandieren. Aber diese Instinkte der Zurück- pflichtet, sie zu erfüllen haltung will die Bundesregierung jetzt anscheinend mit Ihrer Verfassungsänderung zurücknehmen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wegkommandieren. Das werden Sie nicht erreichen. nachdem wir als Deutsche jahrzehntelang den Bei- Sie werden dafür keine Mehrheit im Deutschen Bun- stand und die Solidarität der freien Welt zur Wahrung destag erhalten. der Freiheit und des Friedens erfahren haben. (Beifall bei der SPD) Erinnern Sie sich an den großen Ausspruch von Eines ist sicher: Mit Ihren Plänen vom ungehemm- Ernst Reuter bei der Bedrohung Berlins durch die ten weltweiten militärischen Kampfeinsatz Blockade: Völker der Welt, schaut auf diese Stadt! (Paul Breuer [CDU/CSU]: Unglaublich! — Nachdem wir diesen Beistand der freien Welt erfah- Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Allein die ren haben, halte ich es für unsere moralische Ver- Begriffswahl!) pflichtung, der freien Welt und den bedrohten Völ- können Sie sich gerade einmal auf eine absolut kleine kern dieser Welt unseren Beistand zu geben. Daran Minderheit von 15 % im Land stützen. müssen auch Sie, meine Damen und Herren der (Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.] meldet sich zu Sozialdemokratie, mitwirken. einer Zwischenfrage) Verstecken Sie sich bitte nicht hinter Parteitags- beschlüssen. Der Parteitagsbeschluß nimmt Ihnen als Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin, frei gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundesta- gestatten Sie eine Zwischenfrage? ges die Notwendigkeit der Entscheidung nicht ab. Ihr Gewissen ist gefordert. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Ich möchte jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu Ende reden. 11490 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Heidemarie Wieczorek-Zeul Ich bin nicht dafür, daß wir unsere Argumente, Herr Die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutsch- Breuer, hinter anderen verstecken, nicht hinter einem land will aber nicht, daß deutsche Soldaten für eine Beschluß eines Parteitags, auch nicht hinter dem verfehlte Politik künftig auf internationalen Schlacht- UNO-Generalsekretär. Ich bin dagegen, daß wir an feldern ihr Leben lassen. Hand jeder einzelnen Situation grundsätzliche Fragen wie die künftigen Aufgaben der Bundeswehr ent- (Beifall bei der SPD — Peter Harry Carsten scheiden. sen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wer will denn so etwas überhaupt!) Mit der Methode der Spaltung ist gesellschaftlicher Konsens nicht zu erreichen, wohl aber, indem wir eine — Die Frage ist nicht, was Sie wollen, sondern wofür wirkliche öffentliche Debatte über die künftigen Auf- Sie die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen gaben der Bundeswehr nach dem Wegfall der Ost- schaffen. Dann sagen Sie es bitte deutlich, damit die West-Konfrontation führen, und dies, bitte schön, Leute das wissen und damit Sie in diesen Fragen noch nicht hinter verschlossenen Türen bei angeblichen mehr von der Bevölkerung gesagt bekommen, was die Spitzengesprächen, sondern da, wo sie hingehören, Menschen wirklich wollen. (Paul Breuer [CDU/CSU]: Darüber debattie ren wir hier doch!) Im Punkt 3 Ihrer Vorlage der Verfassungsänderun- gen — das ist heute mehrfach diskutiert worden — ist in die parlamentarischen Institutionen, z. B. in die klargemacht worden, daß es eine Uminterpretation — Verfassungskommission. Dort wird die Diskussion auch das ist praktisch — der Verteidigungsbündnisse geführt. NATO und WEU gibt. Das widerspricht aber dem In diesen Situationen müssen Fragen gestellt und Verteidigungsauftrag beider Organisationen. Insbe- beantwortet werden, deren Perspektiven bis heute sondere für die Deutschen hätte diese Uminterpreta- völlig im unklaren geblieben sind und auf die Sie auch tion die Konsequenz, daß unter der Hand jeder welt- keine Antworten geben: Welche Bundeswehr will die weite Einsatz der Bundeswehr als angeblich notwen- Gesellschaft der Bundesrepublik eigentlich selbst, mit diger NATO-Einsatz begründet und dargestellt welchen Konsequenzen, zu welchen Kosten? würde. (Abg. Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU] mel det sich zu einer Zwischenfrage) In der Sache ist die Gefahr groß, daß NATO und WEU dann auch gegenüber Ländern der Dritten Welt militärisch eingesetzt werden, und zwar immer dann, Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Wiec- wenn es die selbst definierte „Sicherheit des Westens" zorek-Zeul, gestatten Sie eine Zwischenfrage? angeht. Ich erinnere daran, daß im Papier von Verteidi- Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Ich habe gesagt, gungsminister Stoltenberg, das am 20. Januar 1992 ich wollte gerne zu Ende sprechen. — Wer muß die dem Deutschen Bundestag vorlag, als deutsches Kosten tragen? Die Parteien der Regierungskoalition Sicherheitsinteresse formuliert worden ist — ich betreiben dabei semantische Verschleierung. zitiere —: Herr Kollege Kinkel, ich bin sehr dafür, daß- wir die Debatte öffentlich führen, aber dann, bitte schön, die Aufrechterhaltung des freien Welthandels nicht nach dem Muster von Orwell, daß alles vernied- und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen. licht wird. Da wird von friedensherstellenden Maß- Der Herr Kollege Lamers hat vorhin gefragt, wer nahmen auf Grund der Kapitel VII und VIII der Charta der Vereinten Nationen gesprochen, oder: A schlägt sich denn so etwas vorstellen könnte. Wenn es schon B. Das müssen die Bürgerinnen und Bürger im Land der ehemalige deutsche Verteidigungsminister konnte, dann muß es doch in einem Bereich der halt wissen. Praktisch heißt das: Es geht um Krieg, und es geht um die Beteiligung an Kriegen. CDU/CSU schon weit verbreitet sein, wie ersichtlich wird. Wenn erst NATO und WEU umdefiniert sind, wo (Zustimmung bei der SPD) ist dann die Grenze, wer hindert sie? Nach Ihrem Vorschlag hätten deutsche Soldaten im Golfkrieg mitkämpfen und sterben müssen, und das Vor dem Auswärtigen Ausschuß — die Kollegen würde auch für jeden anderen Krieg nach dem Muster waren doch dabei — hat Boutros Ghali doch plastisch des Golfkriegs gelten. dargestellt, wie schon heute das Verhältnis zwischen UNO und der Militärorganisation NATO ist. Wir (Helmut Schäfer [Mainz] [F.D.P.]: Reden Sie haben ihn gefragt: Ist denn das, was die NATO zu doch einmal von Somalia! — Karl Lamers möglichen Eingriffen im ehemaligen Jugoslawien [CDU/CSU]: „Mitmachen müssen" : Das ist vorbereitet, auf Initiative oder Antrag der UNO die Unwahrheit! Frau Wieczorek, Sie lü erfolgt? Er hat daraufhin gesagt, er habe darüber in gen!) der Zeitung gelesen, und er habe dann beim NATO- Das Magazin „Stern" hat formuliert Generalsekretär anrufen lassen, damit er, bitte schön, (Karl Lamers [CDU/CSU]: Frau Wieczorek einmal eine Kopie der Pläne zugesandt bekomme. So Zeul, Sie lügen!) ist die Realität. — ich zitiere —: Ich sage Ihnen: Wenn das so ist, dann bedeutet das Man wird sich erstmals seit Mai 1945 wohl bald folgendes: Wenn solche Militärorganisationen erst wieder an Bilder von toten deutschen Soldaten einmal im wahrsten Sinne des Wortes in Marsch gewöhnen müssen. gesetzt sind, dann suchen Sie sich notfalls Ihre Mehr- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11491

Heidemarie Wieczorek-Zeul heiten im UNO-Sicherheitsrat, oder Sie handeln not- Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): — ja, ich bin falls auch ohne ihn. Das wäre verhängnisvoll. gleich fertig —, d. h. Hilfen in aller Welt. Deshalb: Wir (Paul Breuer [CDU/CSU]: Gestatten Sie eine leisten einen Beitrag zur Friedenssicherung, indem Zwischenfrage, Frau Kollegin?) wir die Finanzierung der sozialen Einheit Deutsch- lands und die Stabilisierung der Lander in Ost- und Was bedeuten weltweite Kampfeinsätze der Bun- Mitteleuropa leisten. Das tun wir. Deshalb brauchen deswehr für die Bevölkerung der Bundesrepublik wir nicht mit Großmächten zu konkurrieren. Das ist Deutschland? Diese Diskussion darf nicht der politi- unsere internationale Verantwortung. Das bedeutet schen Klasse und der schreibenden Klasse überlassen unsere Form von Friedenssicherung. Deshalb: Lassen bleiben, die im Zweifelsfall nicht mit ihrem eigenen Sie uns den einzig möglichen Kompromiß schließen, Leben in militärischen Kampfeinsätzen einstehen der alle in diesem Hause umfaßt. Lassen Sie uns ein müssen, sondern da muß die Bevölkerung mitdisku- Votum zugunsten der Verfassungsänderung von tieren. Blauhelmeinsätzen abgeben. (Beifall bei der SPD — Rudolf Bindig [SPD]: (Karl Lamers [CDU/CSU]: Kompromiß ist Es geht auch um die Wehtpflichtigen!) Ihre Bedingung!) Da muß die Diskussion von Menschen mit geführt Dann können wir all das machen, was zur Hilfe werden, die meinen, daß der wirkliche Ernstfall der notwendig ist. Dann lassen Sie uns weiter streiten über Politik die Probleme der kleinen Leute in unserem die Frage der Kampfeinsätze. Dazu haben wir dann Land sind, und die meinen, daß sich diese Bundes- noch lange genug Zeit. regierung mit der gleichen Verbissenheit und Hart- Ich bedanke mich sehr. näckigkeit um ihre Probleme, die Probleme der klei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen Leute kümmern sollte, wie sie sich um Bundes- der PDS) wehreinsätze in aller Welt kümmert. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Sie muß von den jungen Männern geführt werden, die Herren, es gab eben einen Zwischenruf des Kollegen von derartigen Einsatzentscheidungen betroffen sind, Lamers: Sie lügen. Das ist unparlamenta risch, Herr sie muß von den Männern geführt werden, die im Kollege Lamers. letzten Weltkrieg gekämpft und gelitten haben, und (Zuruf von der CDU/CSU: Es war leider die sie muß von den Frauen und Müttern geführt werden, Wahrheit!) die von militärischen Aktionen im allgemeinen sehr Nun erteile ich das Wort zu einer Zwischenbemer- wenig halten. kung gemäß § 27 der Geschäftsordnung unserem Zu Recht fragen sich die Leute, Herr Kinkel: Warum Kollegen Rüttgers. wird denn immer erst von der Verantwortung gespro- chen, wenn es per Militär durchsetzbar ist? Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Frau Wieczorek- (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch Zeul, Sie haben gerade, nach meiner Einschätzung, auch nicht!) eine sehr demagogische Rede gehalten, die durch eine maßlose Das Auswärtige Amt hat im März 1991 meinem (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Die Kollegen , der gesagt hat, wir wollen, daß Wahrheit hören Sie auch ungern!) es mehr Flüge zur Versorgung der hungernden Bevölkerung in Somalia gibt, mitgeteilt, dafür stünde Sprache gekennzeichnet war. kein Geld zur Verfügung. Ja warum greifen Sie denn Ich mache diese Zwischenintervention, weil ich immer erst ein, wenn es mit Militär geht, während Sie gestern eine Agenturmeldung gelesen habe, wonach vorher nicht helfen, wo die Hilfe geleistet werden Sie die Durchführung dieser ersten Lesung als „Ver- kann? fassungsputsch" bezeichnet haben. Ich möchte Ihnen Gelegenheit geben, das hier zurückzunehmen, weil (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ich mir sonst überlegen müßte, gegenüber diesen der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES Agenturen diesen Vorgang als Verbalterrorismus zu 90/DIE GRÜNEN) bezeichnen. Das zeigt doch, wie verlogen die Debatte in diesen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Fragen ist. Die Wahrheit ist — und deshalb werden Sie auch nicht mehr lange die Regierung bilden und stellen können —, die Außenpolitik der Zukunft Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat Frau beruht eben nicht in militärischen Einsätzen. Kollegin Wieczorek-Zeul.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Sie werden doch Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Ich möchte in durchschaut! Sie sind doch durchschaut!) der Tat sagen, daß ich das gesagt habe, und dazu stehe Die Außenpolitik der Zukunft gehört nicht militäri- ich: Jeder Verein geht mit seiner Satzung besser um schen Einsätzen, sondern ökonomischen, sozialen, als diese Bundesregierung mit unserer Verfassung. humanitären, ökologischen „Einsätzen" — (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU: Pfui!) Dazu stehe ich. Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Wiec- Ich füge hinzu. Ich höre doch von Leuten aus den zorek-Zeul, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Regierungsparteien: Wir haben die Verfassungsände- 11492 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Heidemarie Wieczorek-Zeul rung in Punkt 3 so gemacht, damit wir mit euch Rat getan hat. Aber es hat natürlich zwischendrin auch möglicherweise da etwas machen können. — Dieses andere Zeiten gegeben. Geramsche um Verfassungsformulierungen ist un- Für mich ist das heute eine Lehrstunde gewesen. So würdig. Ich sage Ihnen, man hat manchmal den ungefähr muß es gewesen sein als die SPD gegen die Eindruck, als müsse man die Verfassung vor dieser Wiederbewaffnung, gegen die NATO, gegen Europa, Regierung schützen. gegen die WEU usw. debattiert hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) So muß es gewesen sein als man den Begriff des Vizepräsident Helmuth Becker: Zu einer weiteren Internationalismus von Carlo Schmid nicht mehr rich- Zwischenintervention hat das Wort unser Kollege Paul tig zu buchstabieren wußte. Es hat darin gegipfelt, daß Breuer. der Kollege Kolbow, dem man den inneren Eiertanz angemerkt hat — er wollte etwas ganz anderes sagen, Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine als er sagen mußte —, vom Feigenblatt des Art. 51 Damen und Herren! Frau Kollegin Wieczorek-Zeul! gesprochen hat. Nun, Herr Kolbow, als Verteidi- Wenn Sie sich auf den Punkt 3 beziehen, dann sollten gungspolitiker brauche ich Sie nicht darauf hinzuwei- wir doch in aller Sachlichkeit — und das war eben sen, daß die ganze Räson der NATO, Art. 5 des alles andere als sachlich — NATO-Vertrages, expressis verbis gerade auf diesem Art. 51 der UN-Charta basiert (Zuruf von der CDU/CSU: Das schafft die nie!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) deutlich machen, daß in diesem Punkt 3 für uns und daß die NATO nichts anderes ist als das in Form Verfassungsrecht dergestalt klargestellt wird, daß wir gegossene Prinzip des Rechts zur kollektiven Selbst- uns von unseren Partnern und Nachbarn in den verteidigung. politischen Möglichkeiten nicht mehr unterscheiden. Das ist der erste Punkt. Das ich wichtig. (Zuruf von der CDU/CSU: Das weiß man Was macht uns eigentlich gefährlich, frage ich Sie, doch wohl! — Zuruf von der SPD: Das bestrei- wenn wir im Hinblick auf unsere Handlungsmöglich- tet doch keiner! — Heidemarie Wieczorek- keiten das gleiche tun können wie unsere Nachbarn Zeul [SPD]: Was ist jetzt neu? — Weiterer und Partner? Es macht uns berechenbarer. Zuruf von der SPD: Das ist nichts Neues!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) — Das ist nichts neues. Wir gehen über die Interpre- Der zweite Punkt, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul. tation — — Wenn wir dies im Punkt 3, wo die Voraussetzung ist, (Zuruf des Abg. Günter Verheugen [SPD]) daß der UN-Sicherheitsrat noch nicht beschlossen hat, unter den Vorbehalt einer Zweidrittelmehrheit in — Aber, Herr Verheugen, der Herr Kolbow hat von diesem deutschen Parlament, gleichzeitig verfas- einem Feigenblatt gesprochen, das der Makel in der sungsändernde Mehrheit, stellen, dann müßte ja, UN-Charta wäre. Da müssen Sie sich schon gefallen lassen anzuhören, daß sie wohl auch die NATO wenn ich in Ihrer Logik bleibe, alles in- diesem Parlament gefährlich sein, weil die Gefahr bestünde, abschaffen wollen. eine Zweidrittelmehrheit herbeizuführen. Diese Lo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge gik leuchtet mir nicht ein. Ich kann sie nur als ordneten der F.D.P.) Demagogie abqualifizieren. Zum anderen: Wenn sich die Welt verändert hat (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — sie soll es in den letzten Jahren getan haben, wenn auch die SPD manchmnal die Weltsicht nach Christian Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Morgenstern vorzieht: „,Weil', so schließt er messer- Herren, letzter Redner in dieser Debatte ist jetzt unser scharf, ,nicht sein kann, was nicht sein darf.'" — und Kollege Christian Schmidt. sich durch die Änderung der Weltlage und den Wegfall der Blöcke eine Bereitschaft zum Beistand Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- oder zur Nothilfe vielleicht auch für die eine oder dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr andere Nation auf europäischem Boden in einem Kollege Breuer, ich kann Ihnen schon erklären, woran Krisenfall ergibt, können wir durchaus ein Interesse es liegt, was die Kollegin Wieczorek-Zeul hier vorge- daran haben, von Fall zu Fall aus unserer eigenen tragen hat. Sie hat vermutlich die Befürchtung, daß sie Sicherheitslage heraus im Verbund mit anderen etwas vielleicht eine der wenigen von der Opposition ist, die zu tun. heute gesprochen und selbst an das geglaubt haben, Die Kollegin Wollenberger hat mit beredten Worten was sie gesagt haben, und hat möglicherweise Angst davon gesprochen, was in Bosnien-Herzegowina vor ihrer eigenen Fraktion, vielleicht vor ihrem Frak- gegenwärtig vor sich geht. Ja freilich, es gibt welche, tionsvorsitzenden und einigen anderen, die sagen: 1943 waren Luftbilder von KZs da, 1993 (Zuruf von der CDU/CSU: Vor der eigenen sind Luftbilder von Lagern da. Was wird getan? Verantwortung!) Die Antwort „Ohne mich! " — etwas anderes haben wie ich mit einer Reihe von Zitaten nachweisen wir heute nicht gehört, es war eine „Ohne mich"- könnte, daß es durchaus noch einige auch bei der SPD Debatte gibt, die internationale Verantwortung so buchstabie- ren, wie es 1948 Carlo Schmid im Parlamentarischen (Staatsminister Helmut Schäfer: Leider!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11493

Christian Schmidt (Fürth) im schlimmsten Stil der 50er Jahre. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Mit diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Konsens hat es so seine Bewandtnis. Ich will folgendes dazu sagen: Wenn es dazu kommt — was hoffentlich Diese Antwort „Ohne mich! " reicht nicht aus. nicht eintreten wird —, daß die Friedensverhandlun- Hans Peter Schwarz hat davon gesprochen, daß die gen von Genf scheitern und daß das Ultimatum, daß Deutschen von der Machtbesessenheit zur Machtver- diesem Mörder Karadzic gestellt worden ist, ohne gessenheit gekommen sind. Vielleicht sind Sie auch, Reaktion verläuft, sehe ich keine andere Sprache zum mindesten in Teilen, zur Verantwortungsverges- mehr als die Sprache der Gewalt, um den Gewalttä- senheit gekommen. Anders kann ich mir das heute tern entgegenzutreten. Dann ist die Frage tatsächlich, nicht erklären. in welcher Form sich diese Bundesrepublik darauf zurückziehen kann — — Herr Kollege Vizepräsident Helmuth Becker: (Zuruf von der SPD) Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- gen Brecht? — Sie wissen ganz genau, Herr Kollege, daß wir nicht über Bodeneinsätze sprechen, sondern über sehr begrenzte Einsätze. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Bitte sehr. Noch ein weiteres dazu. Wenn die Verfassung nicht Dr. Eberhard Brecht (SPD): Herr Kollege Schmidt, mehr reicht, sich dann das Argument aus der darf ich die Frage eines Kollegen von vorhin wieder- Geschichte zurechtzulegen, wir dürften uns nie mehr holen, als er nämlich gefragt hat, warum Sie denn so irgendwo im friedlich-humanitären Sinne der Verein- eine Eile haben. Besteht tatsächlich ein Begründungs- ten Nationen beteiligen, weil vorher in deutschem zusammenhang zwischen der Situation in Bosnien- Namen Aggression und Schindluder mit diesen Herzegowina und der jetzigen Verfassungsände- Instrumenten betrieben worden sind, ist falsch. rung? (Zuruf von der SPD: Das hat selbst Boutros (Staatsminister Helmut Schäfer: Denken Sie Ghali bestätigt!) mal an Somalia!) Aus unserer historischen Verantwortung erwächst ganz im Gegenteil die Verpflichtung, dort, wo emi- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Die Welt- nente Menschenrechtsverletzungen entstehen, mit- sicht und die Sicht der Dinge wird sich nicht nach dem zuhelfen, daß diese Menschenrechtsverletzungen Zeitplan der SPD-Bundestagsfraktion richten. beendet werden. (Staatsminister Helmut Schäfer: Denken Sie (Beifall bei der CDU/CSU) an Somalia! — Zuruf des Abg. Günter Nur einen Satz dazu. Gestern wurde nahezu unter Verheugen [SPD]) Ausschluß der Öffentlichkeit eine vierstündige Es kann in der Tat sein, daß die Festlegungen und die Debatte über Entwicklungspolitik und die damit Klarstellungen, die wir schaffen, in absehbarer und zusammenhängenden Fragen, beispielsweise auch näherer Zeit besprochen werden müssen. Der Ein- der Flüchtlingsbewegungen, geführt. — Selbstver- wand des Staatsministers, „Denken Sie an Somalia", ständlich kann die Anwendung von Gewalt, wie es ist völlig berechtigt. Hier handelt es sich nach Ihren doch die Vereinten Nationen in den letzten Jahren eigenen Angaben um eine Initiative, um ein Engage- praktiziert haben, nur immer Ultima ratio sein. Die ment, das wir mit betreiben sollten. Auch hierfür präventiven und die friedlichen Maßnahmen müssen wollen Sie eine Klärung haben. Sie wollten einen vorher eingesetzt werden, bevor andere Schritte Entwurf. Sie haben einen Entwurf. ergriffen werden können. Wie war dieses Wort von Frau Wieczorek-Zeul „Verfassungsputsch", das soll es sein. Ja, was wollen Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Sie denn nun? Wir reden ja darüber. Sollen wir jetzt Schmidt, gestatten Sie noch eine Frage der Kollegin wieder verschieben, sollen wir zurücknehmen, verzö- Zapf? gern, oder wo ist der Sinn? (Zuruf von der SPD: Sie haben die Frage mit Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Bitte sehr! einer Gegenfrage beantwortet! — Günter Verheugen [SPD]: Sie haben die Frage nicht Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Frau Kolle- beantwortet!) gin.

Gestatten Sie noch Vizepräsident Helmuth Becker: (SPD): Herr Kollege Schmidt, ich halte die eine weitere Zusatzfrage von Herrn Brecht? Uta Zapf Angelegenheit für so wichtig, daß ich doch noch einmal nachfragen möchte. Erstens: Habe ich Sie Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Eine lasse richtig verstanden, daß Sie diese Grundgesetzände- ich noch zu. rung, insbesondere auch die in der Ziffer 3, für notwendig und zeitkritisch halten, weil sich die Bun- Dr. Eberhard Brecht (SPD): Darf ich Sie dann fragen, desrepublik notfalls die Option zu militärischem Ein- ob Sie den bisherigen Konsens, daß deutsche Soldaten greifen in Jugoslawien schaffen will? in Jugoslawien nie wieder etwas zu suchen haben, Zweitens, der zweite Begründungszusammenhang, (Paul Breuer [CDU/CSU]: Wer hat den aus- der hier angeführt wurde, nämlich die Teilnahme in gesprochen?) Somalia. Können Sie da mein Argument nachvollzie- jetzt auch noch verlassen haben? hen, daß auf der Grundlage dessen, was die SPD zu 11494 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Uta Zapf tun bereit ist, nämlich der friedenserhaltenden Maß- hineinzubringen. Wir wollen die NATO-Verpflich- nahmen, all das gemacht werden könnte, was in tungen, so wie sie sich aus dem NATO-Vertrag Somalia notwendig ist und angefordert wird? ergeben, wie es der NATO-Rat beispielsweise im Bündnisfall beschließen würde, etwa beim Angriff auf Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Das Argu- eines der Mitglieder des Nordatlantischen Vertrages, ment kann ich nicht recht nachvollziehen, weil ich den so beibehalten, ohne etwas daran zu ändern. Zusammenhang nicht ganz erkannt habe. Sie haben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) von Somalia gesprochen. Das ist eine aktuelle Situa- Meine Kolleginnen und Kollegen, Sie haben vom on, eine aktuelle Frage, da dürfen wir jetzt wohl, wie ti gesellschaftlichen Konsens gesprochen. Ich war da Sie sagen, „zeitkritisch" tätig werden. Und im ande- schon etwas überrascht. Wir — damit meine ich die ren Fall sollten wir das nicht? Da scheint mir die Logik Politik allgemein — werden in der Öffentlichkeit ein bißchen verlorengegangen zu sein. wegen einer gewissen Entscheidungsträgheit ab und zu gescholten. Nun ist eine Ini tiative auf den Weg Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie noch gebracht. Nun geht es darum, politisch zu argumen- eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Paul Breuer? tieren und natürlich auch Mehrheiten zu gewinnen, Überzeugungen darzulegen. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Ja, bitte Zu Beginn dieser Debatte sagten Sie, was weiß ich, sehr. Forsa oder die „Bild"-Zeitung oder sonstige äußerst seriöse Unternehmen hätten Ihnen gesagt, das ginge Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Kollege Schmidt, nicht, weil nur 15 % dafür oder 60 % dagegen wären. können Sie im Hinblick auf den Konflikt in Bosnien Das ist nicht Politik, das ist Abdankung der Politik. Herzegowina bestätigen, unterstellt, der UNO- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sicherheitsrat käme zu der Entscheidung, das Flug- verbot mit militärischen Mitteln durchzusetzen, daß Politik muß in die Zukunft weisen. Ich darf an Sie, Frau die Gefahr bestünde, daß das Angebot der NATO an Kollegin Wieczorek-Zeul, appellieren. Wir haben in die UN, das Flugverbot mit militärischen Mitteln einer heftigen Diskussion mit der Ratifizierung des durchzusetzen, in Mitleidenschaft gezogen werden Maastrichter Vertrages gemeinsam einen wesentli- könnte, weil ein deutscher Beitrag auf Grund der chen Punkt für die Einbindung Deutschlands in die Verhinderungsstrategie der Sozialdemokraten nicht europäische Integration beschlossen. Das hier ist ein geleistet werden könnte? weiterer Punkt, der in der heutigen Zeit, nach dem Fa ll der Berliner Mauer, ein notwendiges Element für die (Zurufe von der SPD) Einbindung Deutschlands in die internationale Ver- antwortung für Frieden und Freiheit darstellt. Deswe- Cristian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Kollege, gen bitte ich Sie herzlich darum, sich dieser Diskus- ich kann das bestätigen. Ich kann zu Ihrer Frage noch sion nicht zu versagen und unseren Argumenten, die eines sagen. Wir alle in diesem Hause sind uns wohl zweifelsohne die besseren sind, zu folgen. darüber im klaren, daß es militärische Probleme mit dem Einsatz der AWACS-Flotte gibt, weil sie wesent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lich auch von deutschen Besatzungsanteilen- mit geprägt ist. Aber politisch ist die Gefahr noch viel Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und verheerender. Sollen wir denn, bitte schön, unseren Herren; ich schließe die Aussprache. Aus der verein- NATO-Partnern, die immerhin 40 Jahre lang im barten Zweistundendebatte ist eine Dreistundende westlichen Teil unseres Landes standen, um dem batte geworden. Dies müssen wir für die nachfolgen- Kommunismus entgegenzustehen, in dem ersten Fall, den Tagesordnungspunkte zur Kenntnis nehmen. in dem es darum geht, im Sinne der Menschlichkeit zu Interfraktionell wird, anders als in der Tagesord- agieren, sagen: „Ohne mich, ohne uns"? nung vorgesehen, gewünscht, den Gesetzentwurf auf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Drucksache 12/4107 zur federführenden Beratung an Ich glaube, daß das sehr schwerfallen wird und daß die den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den SPD gerade bei der neuen Administra tion in Washing- Auswärtigen Ausschuß, den Innenausschuß, den Ver- ton wohl Schwierigkeiten haben wird, ihre Position teidigungsausschuß, den EG-Ausschuß sowie an den darzulegen. Was wäre dann die Folge? Die Folge Haushaltsausschuß zu überweisen. wäre, daß in Amerika Überlegungen Platz greifen Gibt es noch anderweitige Vorschläge? — Das ist würden, wo denn die Räson für den Verbleib ameri- nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so kanischer Truppen in Deutschland überhaupt sein beschlossen. sollte. (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) Dann besteht eine substantielle Gefahr, dann geht es Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 13 uns ans Mark, an die eigene Sicherheit. Wer das auf: bedenkt, der wird über die Frage des Bosnien Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Einsatzes und über andere Fragen, über die Notwen- tionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. einge- digkeit der NATO-Kooperation anders denken. brachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes Noch eines dazu. Es wird nicht so sein können zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und — Kollege Voigt hat da etwas falsch verstanden —, eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des daß es darum ginge, den NATO-Bündnisfall in Europaabgeordnetengesetzes irgendeiner Weise in diese Grundgesetzänderung mit — Drucksache 12/3978 — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11495

Vizepräsident Helmuth Becker a) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- richtig. Wir wollen der korrekten Empfehlung der schusses für Wahlprüfung, Immunität und Präsidentin, die Entschädigung für Abgeordnete um Geschäftsordnung (1. Ausschuß) 4,7 % anzuheben, jedoch wegen der besonderen Lage — Drucksache 12/4125 — in unserem Lande nicht folgen und die Anhebung auf Berichterstattung: die Hälfte des vorgeschlagenen Betrages beschrän- Abgeordnete Joachim Hörster ken, also auf lediglich 2,35 %. Manfred Richter Wir wollen uns dieser Zurückhaltung nicht aus- Johannes Singer drücklich rühmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Ich denke, diese Zurückhaltung versteht sich von schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung selbst. Die Mitglieder des Bundestages haben ein überdurchschnittliches Gehalt und können gestie- — Drucksache 12/4126 — gene Lasten leichter tragen als andere. Berichterstattung: Der allein verbindliche Abgeordnete Dr. Klaus Rose Maßstab für das Gehalt der Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist immer Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Rudolf Purps wieder unser Grundgesetz. In Art. 48 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes heißt es: (Erste Beratung 129. Sitzung) Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich Entschädigung. höre und sehe keinen Widerspruch. Es gibt inzwischen kaum noch Stimmen, die das Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem aktuelle Gehalt der Abgeordneten kritisieren. Im unserem Kollegen Dieter Wiefelspütz das Wort. Gegenteil, in Relation zur Bedeutung und Verantwor- tung des Amtes wird das Gehalt der Abgeordneten immer häufiger als vergleichsweise niedrig einge- schätzt. Ich will das aber hier gar nicht vertiefen. Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag Entscheidend ist die heutige Fragestellung. Die wird heute eine maßvolle Anhebung der Abgeordne- Anhebung der Entschädigung um 2,35 % und die tengehälter und der Kostenpauschale beschließen. Anhebung der Kostenpauschale um preissteigerungs- Diese Entscheidung ist — wie könnte es anders bedingte 3,69 % sind nach meiner Überzeugung in sein? — umstritten. Sie ist innerhalb dieses Hauses, Ordnung. aber auch außerhalb des Bundestages umstritten. Das Die öffentliche Diskussion über die Gehälter von war auch in den vergangenen Jahren so. Die kriti- Politikern hat sich in den letzten Jahren in ihren schen Argumente wiederholen sich immer wieder. Akzenten verschoben. Kritisiert wird heute vor allem, Jahr für Jahr ist für m anche die Anhebung der daß die Bundestagsabgeordneten in eigener Sache Gehälter der Mitglieder des Bundestages untragbar. entscheiden. Kritisiert wird auch eine angeblich zu In der SPD-Fraktion, aber auch in anderen Fraktionen üppige Versorgungsregelung. dieses Hauses existieren bei einer Reihe von Kollegin-- nen und Kollegen Bedenken, ob in diesem Jahr eine (Vorsitz: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) Diätenerhöhung angesichts erheblicher sozialer Pro- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, daß bleme in unserem Lande vertretbar ist. die Präsidentin des Bundestages vor einigen Monaten Nach einer langwierigen und eindringlichen Dis- eine unabhängige Kommission eingesetzt hat, die kussion haben wir uns darauf verständigt, einer maß- den Auftrag hat, die gesetzlichen Bestimmungen über vollen, einer unterdurchschnittlichen Anhebung der finanzielle Zuwendungen an Abgeordnete zu über- Abgeordnetengehälter zuzustimmen. Es ist zu respek- prüfen. Der Bericht der Kommission wird voraussicht- tieren, daß eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen lich im Frühjahr dieses Jahres vorliegen. Diesem sich dieser Auffassung nicht anschließen wird, sich Bericht wird sich eine Generaldebatte über das Gehalt enthalten oder auch mit Nein stimmen wird. der Abgeordneten, die Kostenpauschale, die Amts- ausstattung, die Versorgung der Abgeordneten (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Aber anschließen. Das Abgeordnetengesetz, das all dies nehmen werden sie es!) regelt, stammt aus dem Jahre 1977. 15 Jahre nach dem Nach den Regeln, die sich der Bundestag für Inkrafttreten dieses Gesetzes ist es an der Zeit, das Diätenanhebungen gegeben hat, wäre eine Anhe- damals geschaffene System einer grundsätzlichen bung der Entschädigung ab 1. Juli 1992 um 4,7 % Überprüfung und öffentlichen Diskussion zu unterzie- angemessen. Das ergibt sich aus einer sorgfältigen hen. Erhebung über die Entwicklung der Löhne und Lassen Sie mich zum Schluß darauf hinweisen, daß Gehälter sowie vergleichbarer Einkünfte im maßgeb- nach meiner Einschätzung noch in der ersten Hälfte lichen Zeitraum der Jahre 1991/92. Die Löhne und dieses Jahres mit einer Änderung des Grundgesetzes Gehälter stiegen im vergangenen Jahr um gut 5 %, zu rechnen ist. Danach wird in Zukunft die verbindli- übrigens auch die Löhne und Gehälter solcher Perso- che Entscheidung über die jährliche Diätenanhebung nen, die höhere Einkünfte als Bundestagsabgeord- in die Hände einer vom Bundestag unabhängigen nete beziehen. Kommission gelegt. Die Beratungen der Gemeinsa- Angesichts dieser Einkommensentwicklung wäre men Verfassungskommission in dieser Angelegenheit eine Anhebung um rund 5 % daher durchaus folge sind inzwischen gut vorangekommen. Es ist deshalb 11496 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Dieter Wiefelspütz zu vermuten, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Es gibt aber keine objektiven Kriterien für die Bewer- eine Beratung wie diejenige, die wir jetzt durchfüh- tung der Leistung eines Abgeordneten. Was der eine ren, in Zukunft nicht mehr nötig sein wird — zur Wahlbürger für super hält, hält der andere für Freude der Öffentlichkeit, aber auch zur Freude des Schwachsinn. Das ist auch der Grund, weswegen bei weitaus größten Teils der Mitglieder des Bundesta- der Bezahlung der Abgeordneten nicht differenziert ges. werden kann oder wie auch immer geartete Lei- Herzlichen Dank. stungsgesichtspunkte gelten können. Es mag auch den einen oder anderen geben, der das Geld, das er an (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der jedem Ersten überwiesen bekommt, nicht verdient. F.D.P.) Aber ich kenne viele Kollegen, die ein Arbeitspensum absolvieren, das weit über dem liegt, was ein Ange- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der stellter in einer vergleichbar bezahlten Position zu Abgeordnete Manfred Richter. leisten hätte. Ich empfinde es auch als ungerecht, daß unsere Kollegen deswegen angefeindet werden, weil sie auch unpopuläre Dinge draußen vertreten müssen. Manfred Richter (Bremerhaven) (F.D.P.): Frau Prä- Man schlägt den Sack, und man meint den Esel. sidentin! Meine Damen und Herren! Erhöhungen der Diäten sind unpopulär, werden es immer bleiben. Ich wünsche mir wirklich ein Meinungsklima in Jede denkbare Höhe der Bezahlung für die Abgeord- unserem Land, in dem sich nicht diejenigen, die nach neten ist einigen Mitbürgern zu hoch. Abgeordnete reiflicher Abwägung eine sachlich fundierte Meinung sollen für Gotteslohn schaffen, am besten noch Geld nach außen tragen, dann, wenn diese unpopulär ist, mitbringen, aber bloß kein Parlament der Reichen! mit ganz unglaublichen Anwürfen auseinandersetzen müssen. Das gilt auch — das möchte ich an dieser Im Gesetz steht dagegen, daß die Abgeordneten Stelle auch einmal sagen — für unsere Ehe- und angemessen zu bezahlen sind. Aber es gibt nun Lebenspartner. Oft geht das, was hier geleistet wird, einmal keine amtliche Definition dessen, was ange- an die Grenzen der Belastbarkeit. Privatleben und messen wäre. Also müssen wir uns der Kontroverse Familie stehen allzuoft zurück. Das alles kann nicht stellen. finanziell abgegolten werden — das soll es auch nicht Es gibt auch keinen geeigneten Zeitpunkt. Der —, aber die Abgeordneten haben einen Anspruch Zeitpunkt ist immer der falsche. Es spielt keine Rolle, darauf, sich nicht bei jeder zurückhaltenden Diätener- ob wir über die Diätenerhöhung für 1992 Anfang 1992 höhung von 2,35 % auf die Anklagebank gesetzt zu oder Anfang 1993 entscheiden, die Vorurteile stehen sehen. sowieso fest. Es ist ja klar: Abgeordnete sind faul, (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der unqualifiziert, verdienen zuviel und treffen auch noch SPD) falsche Entscheidungen. Beim Kampf um die Luftherr- schaft über deutschen Stammtischen gibt es keine Flak. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich erteile jetzt der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Abgeordneten Dr. das Wort. Deswegen stelle ich nochmals fest: Die Diätenerhö- hung ist maßvoll. Sie bleibt hinter der allgemeinen Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Frau Einkommensentwicklung im Jahre 1991 zurück. Im Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aufrufe an Unterschied zu den Empfehlungen aus dem Bericht die Bürgerinnen und Bürger des Landes, den Gürtel der Präsidentin des Deutschen Bundestages, die enger zu schnallen, werden immer lauter. Schon hat Grundentschädigung um 4,7 % bei einer durch- man die ersten Opfer eines sogenannten Solidarpakts schnittlichen tariflichen Einkommensverbesserung benannt: Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger der Arbeitnehmer von 5,6 % anzuheben, verabschie- werden als Wildwuchs diskriminiert; ihre Hilfe soll für den wir heute eine Anhebung nur um die Hälfte, also drei Jahre eingefroren werden; Empfängerinnen und um 2,35 %. Die Anpassung der Diäten bleibt hinter Empfänger von BAföG, die die angekündigte Steige- den Erhöhungen in der freien Wirtschaft und auch im rung in den Wind schreiben müssen, und Soldaten, die öffentlichen Dienst zurück, der bei der Neuregelung auf ihre Solderhöhung verzichten sollen. Vor diesem der Abgeordnetengrundentschädigung im Jahr 1977 Hintergrund wird im Deutschen Bundestag nun die als Orientierungshilfe diente. Erhöhung von Diäten und Kostenpauschale, die noch Das Verfahren zur Festsetzung der Abgeordneten- dazu rückwirkend erfolgt, debattiert. Ich schäme mich bezüge ist sicher nicht unproblematisch; darauf habe für diese Heucheleien. ich schon in der ersten Lesung hingewiesen. Aber der In meiner Rede aus Anlaß der ersten Lesung der Gesetzgeber, also die Abgeordneten, müssen nun Änderung des Abgeordnetengesetzes habe ich einmal nach der geltenden Rechtslage das Gesetz gesagt, daß die Fraktionsspitzen von CDU/CSU, selbst machen. Wir sollten gerade diesen Gesichts- F.D.P. und SPD hinter dem Rücken ihrer Fraktionskol- punkt in einem größeren Zusammenhang diskutieren, leginnen und -kollegen sowie der Gruppen gekungelt vielleicht dann, wenn die Kommission zur Neuord- haben. Heraus kam der noch vor Weihnachten — für nung der Bezüge und der Versorgung der Abgeord- die meisten hier überraschend — präsentierte Vor- neten Lösungsvorschläge unterbreitet. schlag. Kollege Struck warf mir daraufhin vor, Tatsa- Der Deutsche Bundestag mit seinen Mitgliedern ist chen zu verdrehen. Die Möglichkeit zur Richtigstel- ein ganz normales Spiegelbild der deutschen Gesell- lung durch eine Kurzintervention wurde mir verwei- schaft. Es gibt gute Abgeordnete und schlechte, flei- gert. Was hier verdeckt wird und hinter den Kulissen ßige und faule; es gibt schlaue und weniger schlaue. läuft, darf eben nicht an die Öffentlichkeit. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11497

Dr. Dagmar Enkelmann Fakt ist, daß im November eine Beratung der für einmal auf die Erhöhung ihrer Einkünfte zu verzich- Vorschläge zur Änderung des Abgeordnetengesetzes ten. Das hätte unser zeichenhafter Beitrag zum so zuständigen Rechtsstellungskommission des Alte- dringend notwendigen Solidarpakt sein können. Wie stenrates stattfand, bei der mehrere Varianten für das können wir nun glaubhaft sein, wenn wir von den Verfahren in diesem Jahr diskutiert wurden. Als eine Gewerkschaften eine maßvolle Tarifpolitik fordern Möglichkeit wurde durchaus ernsthaft erwogen, eine und von den Arbeiterinnen und Arbeitern Einkom- Nullrunde zu fahren. Eine abschließende Festlegung mensverzicht erwarten oder gar über Kürzungen der ist nicht getroffen worden. Ausgaben für sozial Schwache nachdenken? Sie werden schon gestatten, daß ich als Mitglied Die Abgeordneten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE dieser Kommission mehr als verwundert bin, wenn GRÜNEN haben bereits die letzte Diätenerhöhung plötzlich ein fertiges Papier auf dem Tisch landet, das abgelehnt und beschlossen, den Erhöhungsbetrag möglichst schnell und ohne großen Widerstand das nicht für sich in Anspruch zu nehmen. Wir haben Parlament passieren soll. Dazu wurden in der ersten einen Diätenfonds gegründet, in den bisher von uns Lesung noch diverse Spielereien mit Redezeiten ver- acht Abgeordneten über 100 000 DM eingezahlt wor- anstaltet, die verhinderten, daß kritische Stimmen aus den sind. Mit Mitteln aus diesem Fonds haben wir den großen Fraktionen zu Wort kommen konnten, Projekte in den ostdeutschen Bundesländern unter- oder aber eine merkwürdige — d. h. des Merkens stützt, z. B. das Frauenhaus in Rostock, das alternative würdige — Veränderung der Rednerliste, die der Energieprojekt „Sonnenhaus" in Rambow, das For- PDS/Linke Liste einen unerwarteten zweiten Platz schungszentrum zu Stalinistischen Verbrechen in Ber- und damit den parlamentarischen Schwitzkasten lin, die Umwelt-Bibliothek in Berlin, den Verein sicherte. Wir haben also sehr wohl mitgekriegt, was „Frauenförderung" ; das Projekt ,,Mädchen von der Sie da veranstaltet haben. Straße" des Unabhängigen Frauenverbandes, das Die PDS/Linke Liste wird die Diätenerhöhung Frauencafé und den Kinderladen in Riesa, das Förder- ablehnen. Den Gründen, die in der ersten Lesung zentrum „Johann Amos Comenius" in Wurzen, das bereits genannte wurden, ist nichts hinzuzufügen: Begegnungszentrum „Café Cabana" in Potsdam, das Kinderzentrum „Märchenvilla" in Eberswalde im Erstens. Das System der prozentualen Anhebung Land Brandenburg, das Ökocafé Nordhausen, das führt letztlich dazu, daß die Schere zwi- der Diäten Dritte-Welt-Haus in Jena oder die Arbeitsloseniniti- schen Gutverdienenden und Schlechtergestellten ative in Zwönitz in Sachsen. immer weiter auseinandergeht. Angesichts der anhaltenden sozialen Krise in Ost- Zweitens. Angesichts der Entwicklung der Realein- deutschland, der zunehmenden Anzahl von Arbeitslo- kommen im Osten — vor allem von Rentnerinnen und sen im Westen wie im Osten und des Entstehens von Rentnern, Alleinerziehenden, Familien mit mehreren wirklicher Not in Deutschland wird die Gruppe Kindern, Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängerinnen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch die diesjährige und -empfängern — wäre eine Nullrunde ein kleines Erhöhung der Diäten ablehnen. Zeichen wirklicher Solidarität. Vielen Dank. Drittens. In Anbetracht der enormen Kürzungen im Haushalt bei ABM-Stellen, im Umweltschutz, bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kultur- und Sportförderung etc. ist eine Diätenerhö- und bei der PDS/Linke Liste — Uta Würfel hung unverantwortlich. In dem seit Ende Dezember [F.D.P.]: Und auch nicht annehmen!) offensichtlich gepackten Sozialabbaupaket sollte der Verzicht auf die Erhöhung von Diäten für Abgeord- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der nete des Bundestages ganz obenauf liegen. Das wäre Abgeordnete Joachim Hörster. politgesundheitsfördernd. Ich appelliere besonders an meine Kolleginnen und Joachim Hörster (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Kollegen aus den neuen Bundesländern, der Diäten- Meine Damen und Herren! Nach meinen beiden erhöhung nicht zuzustimmen. Vorrednern möchte ich doch wieder zu den sachlichen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Punkten zurückkommen, mit denen wir uns hier zu befassen haben, (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie der Abg. Christina Schenk [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Wollen Sie GRÜNEN]) sagen, daß das unsachlich war? — Dr. Dag- mar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Wieso sprechen Sie als letzter? Sie sprechen doch Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächstem erteile sonst immer als erster!) ich dem Kollegen Konrad Weiß das Wort. denn wir haben nun einmal die Pflicht, uns nach den Regeln des Abgeordnetengesetzes und nach den Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vorgaben, die uns das Bundesverfassungsgericht Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gemacht hat, in regelmäßigen Abständen über die erneute Erhöhung unserer Diäten — auch wenn sie in Angemessenheit der Abgeordnetenentschädigung diesem Jahr nur geringfügig ausfällt und unterhalb zu befinden. Ich weiß — darüber sind wir uns alle in des Inflationsausgleichs liegt — ist ein falsches politi- diesem Hause einig —, daß es alles andere als eine sches Signal. In einer Situation, in der es noch immer komfortable Situation ist, selbst über die Höhe seiner ein erhebliches Einkommensgefälle zwischen Ost- Einkünfte entscheiden zu müssen. Ich frage mich, wie und Westdeutschland gibt, hätte es den Abgeordne- das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts, wie das ten des Deutschen Bundestages gut angestanden, Ansehen des Bundesgerichtshofes, wie das Ansehen 11498 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Joachim Hörster der Bundesregierung, der Landesregierungen oder anderen Kreisen der Bevölkerung Schritt hält oder anderer Verfassungsorgane wäre, wenn sie selbst nicht und angepaßt werden muß. über diese Dinge zu entscheiden hätten, wozu wir auf Grund einer Entscheidung des Bundesverfassungs- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Hörster, gestat- gerichts gehalten sind. ten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert? Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Hörster, gestat- ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Joachim Hörster (CDU/CSU): Er hat besondere Hirsch? Erfahrung mit demokratischen Verfassungsorganen. Ich lasse ihn gerne fragen. Joachim Hörster (CDU/CSU): Ja. Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Kollege, da Ihnen das Ansehen dieses Parlaments so sehr am Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege, da Sie Herzen liegt: Wäre es unserem Ansehen nicht hier den fälschlichen Eindruck einer Automatik unheimlich dienlich, eine Nullrunde einzulegen, also erwecken, frage ich Sie: Sind Sie bereit, mir darin keine Diätenerhöhung zu beschließen? zuzustimmen, daß die Verpflichtung, zu entscheiden, auch durchaus bedeuten kann, daß wir uns gegen eine Joachim Hörster (CDU/CSU): Nein, das ist dem Erhöhung entscheiden Ansehen dieses Hauses nicht dienlich, und zwar aus (Beifall bei der PDS/Linke Liste und beim folgendem Grunde, den ich Ihnen sehr deutlich dar- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge stellen will. ordneten der SPD) Manche Züge der gegenwärtigen Diskussion über oder daß wir die Erhöhung nur auf unsere Aufwen- die Situation der Abgeordneten erinnern mich an dungen beziehen oder daß wir auf eine rückwirkende Diskussionen der Weimarer Zeit. Ich sage das hier in Erhöhung verzichten? Sind wir nicht in allen diesen aller Deutlichkeit. Denn in der Öffentlichkeit wird Fragen völlig frei, so daß von einer Automatik über- häufig die Position des Abgeordneten auf die Frage haupt keine Rede sein kann? verengt: Wie hoch ist seine Entschädigung, und wie (Beifall bei der PDS/Linke Liste und beim hoch ist seine steuerfreie Aufwandspauschale? Kein Mensch diskutiert mehr über den Verfassungsrang BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge ordneten der SPD) des Organs, dem wir als Abgeordnete angehören. Ich bin der Auffassung — ich denke, die Mehrheit dieses Hauses ebenfalls —, daß wir uns nicht durch eine Joachim Hörster (CDU/CSU): Selbstverständlich, populistische oder oberflächliche Diskussion dazu Herr Kollege Hirsch, sind wir in unseren Entscheidun- zwingen lassen dürfen, das Verfassungsorgan Bun- gen frei. Wir sind sogar frei, darüber zu entscheiden destag anders zu behandeln als andere Verfassungs- — darüber werden wir uns in absehbarer Zeit unter- organe in der Bundesrepublik Deutschland. Denn einander verständigen müssen —, ob das bisherige niemand hat darüber diskutiert, daß die Richter des Verfahren zur Regelung der Abgeordnetenentschä- Bundesverfassungsgerichts oder anderer Oberge- digung beibehalten werden muß. Denn in der Tat hat - richte auf ihre Einkommenserhöhung zu verzichten es in Anbetracht der permanenten Neiddiskussion in hätten, die sie mit der Änderung der letzten Besol- unserer Gesellschaft nicht zum Ansehen des Hohen dungsordnung automatisch bekommen haben. Hauses beigetragen, daß wir die einzige Institution in Warum konzentriert sich eine solche Diskussion diesem Verfassungsstaat sind, die über ihre Verhält- immer nur auf Abgeordnete? Das wird von Leuten nisse selbst zu entscheiden hat. Das ist unser Problem. betrieben — ich sage das mit allem Nachdruck —, Ich finde es hoch an der Zeit, daß wir die damalige denen das parlamentarische System im Grunde Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die uns genommen nicht gefällt das auferlegt hat, dahin gehend überprüfen, ob wir, (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE notfalls mit Hilfe einer entsprechenden Änderung GRÜNEN]: Das ist eine Unverschämtheit!) oder Klarstellung in der Verfassung, dieses Verfahren verändern sollten, da es dem Ansehen dieses Verfas- und die nicht bereit sind, die Erschwernis zu ertra- sungsorgans nicht dient. Das ist die Erfahrung, die wir gen, seit mehr als zehn Jahren auf diesem Gebiet (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE machen. GRÜNEN]: Das ist eine Unverschämtheit!) Es dient auch nicht dem Ansehen dieses Verfas- daß in einer Demokratie Entscheidungsprozesse län- sungsorgans, wenn je nach Lage der Politik die einen ger dauern als in einer Diktatur. Denn hier muß man sagen, die Erhöhung ist angemessen, und die ande- Mehrheiten finden; man braucht Beratungszeit, man ren, die Erhöhung ist nicht angemessen. Es gibt muß sich überzeugen lassen und zu Enscheidungen überhaupt nur ein Maßstab, der im Sinne des verfas- finden, die auch bei diffizilen Fragen immer dem sungsgerichtlichen Urteils die Angemessenheit der Anspruch gerecht werden, den uns die Verfassung Abgeordnetenentschädigung definiert. Der Maßstab vorgibt. ist nicht, ob man mit der Politik, die gerade gemacht wird, zufrieden ist oder nicht. Es ist auch nicht die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Hörster, gestat- Frage, wie groß die Zahl der Abgeordneten ist. Auch ten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten das wird manchmal diskutiert. Es ist vielmehr aus- Hirsch? schließlich die Frage, ob die Entwicklung der Abge- ordnetendiäten mit der Einkommensentwicklung in Joachim Hörster (CDU/CSU): Aber ja. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11499

Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Verehrter Herr Kol- Dr. Ilja Seife rt (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! lege, ich bedanke mich. Wie berücksichtigen Sie Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich gerade unter den von Ihnen zuletzt gemachten Aus- bin wahrlich nicht abergläubisch. Aber dieser Tages- führungen, daß wir vorgestern im Innenausschuß ordnungspunkt 13 macht mich unglücklich, insbeson- dieses Hauses einem Gesetzentwurf zugestimmt dere deshalb, weil sich keine der großen Fraktionen haben, wonach die Amtsgehälter der Bundesminister bereit findet, eine namentliche Abstimmung zu die- und der Parlamentarischen Staatssekretäre für die sem Tagesordnungspunkt zu beantragen. Ich sehe nächsten zwei Jahre unverändert auf dem jetzigen mich gezwungen, dieser Diätenerhöhung nicht zuzu- Stand stehenbleiben? stimmen, weil die soziale Situation in unserem Lande, (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Eine posi und zwar in Ost und West, so schlecht ist, daß ein tive Entscheidung!) Zeichen dieses Hauses, einmal auf eine Diätenerhö- hung zu verzichten, sehr angemessen wäre. Ich danke für die Aufmerksamkeit. Joachim Hörster (CDU/CSU): Ich halte das für eine sehr interessante Entscheidung, die im Innenaus- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) schuß getroffen worden ist. Nur bitte ich Sie zu berücksichtigen: Es handelt sich hierbei um eine Entscheidung für die Zukunft, während unsere heu- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich stelle fest, daß tige Entscheidung an sich im September des vergan- weitere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsord- genen Jahres hätte getroffen werden müssen. nung zu Protokoll gegeben worden sind: von Angelika (Beifall des Abg. Dr. Winfried Pinger [CDU/ Barbe, Günter Graf, Susanne Kastner, Walter Kolbow CSU]) und Siegfried Scheffler.*) Wir haben sie deswegen damals nicht getroffen, weil Es liegen mir jetzt noch zwei Meldungen zu einer wir als Bundestag darauf gewartet haben, was uns die Erklärung nach § 31 vor. Herr Lowack, bitte. von uns eingesetzte Kommission an Vorschlägen liefert. (Beifall des Abg. Manfred Richter [Bremer Ortwin Lowack (fraktionslos): Verehrte Kolleginnen haven] [F.D.P.]) und Kollegen des Deutschen Bundestages! Ich möchte nur daran erinnern, daß dieses Parlament über sieben Sie liegen noch nicht vor. Nach dem gegenwärtigen Jahre lang, zwischen 1976 und 1983, seine Diäten um Stand der Dinge müssen wir damit rechnen, daß ein keinen Pfennig angehoben hat, während gleichzeitig Ergebnis dieser Kommission auch bis zur Osterpause die Inflationsrate rund 35 % ausmachte. Das war in der nicht vorliegt. Das heißt also, wir müssen uns in der Parlamentsgeschichte einmalig. Ich stimme deswe- Sache entscheiden. gen der Anhebung heute zu. Wenn es Kolleginnen und Kollegen gibt, die der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Auffassung sind, daß man in dieser Frage dem Vor- Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Das ist neun schlag nicht folgen sollte, so ist das deren Entschei- Jahre her!) dung. Sie wird von mir auch respektiert. Ich bitte jeden von diesen Kolleginnen und Kollegen, zu berücksich-- tigen, wie er das begründet. Das Parlament und seine Ausstattung können nicht zum Gegenstand des jewei- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bei der zweiten ligen Mißmuts, Unmuts oder Glücksgefühls der poli- Meldung handelt es sich um eine schriftliche Erklä- tischen Situation werden. rung, die zu Protokoll gegeben wird.*) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Damit kommen wir zur Einzelberatung und Abstim- mung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, Das Parlament und seine Ausstattung müssen sich an SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes der Aufgabe und an dem Verfassungsrang orientie- zur Änderung des Abgeordneten- und des Europaab- ren, die diese Einrichtung hat. Von daher gesehen geordnetengesetzes. Der Ausschuß für Wahlprüfung, werden wir dein Gesetz zustimmen. Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt auf Ich will aber gleich darauf aufmerksam machen, Drucksache 12/4125, den Gesetzentwurf unverändert daß ich sehr darauf hoffe, daß das das letzte Mal ist, anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- daß wir eine Diskussion in dieser Weise führen. Wir wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer müssen uns sehr darum bemühen, das Verfahren zu stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzent- verändern sowie den Status und die Amtsausstattung wurf ist damit in zweiter Beratung bei einer Reihe von neu zu definieren. Ich hoffe sehr, daß uns die Kom- Gegenstimmen und Enthaltungen angenommen. missionen, die dazu Berichte geliefert haben oder Wir kommem zur noch liefern werden, dazu eine gute Handreichung geben werden. dritten Beratung Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der SPD) Gesetzentwurf ist wie in der zweiten Lesung bei einer Reihe von Gegenstimmen und einigen Enthaltungen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer angenommen. Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Ilja Seifert. *) Anlage 2 11500 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 a bis 14 f auf: e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Sei- desregierung eingebrachten Entwurfs eines fert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der Gesetzes über gebäude- und wohnungsstatisti- PDS/Linke Liste sche Erhebungen Verschiebung der 2. Mietsteigerung zum 1. Ja- (Wohnungsstatistikgesetz — WoStatG) nuar 1993 um ein Jahr — Drucksache 12/3043 — — Drucksachen 12/3284, 12/4116 — Berichterstattung: aa) Beschlußempfehlung und Be richt des Aus- Abgeordnete Dr. Michael Luther schusses für Raumordnung, Bauwesen und Dr. Eckhart Pick Städtebau (19. Ausschuß) f) Beratung der Beschlußempfehlung und des — Drucksache 12/4108 — Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- Berichterstattung: schuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Abgeordnete Iris Gleicke Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste Umwandlung der sogenannten Altschulden bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- der Wohnungswirtschaft in den ostdeutschen schuß) gemäß § 96 der Geschäftsord- Bundesländern und in Ostberlin in Fördermit- nung tel des Bundes — Drucksache 12/4109 — — Drucksachen 12/3474, 12/3982 — Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Pützhofen Abgeordnete Dieter Pützhofen Carl-Ludwig Thiele Carl-Ludwig Thiele Thea Bock Thea Bock (Erste Beratung 107. Sitzung) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vor- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nor- gesehen. — Dagegen sehe ich keinen Widerspruch. bert Formanski, Achim Großmann, Dieter Maaß (Herne), weiterer Abgeordneter und der Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Fraktion der SPD Abgeordneten Norbert Formanski. Erhöhung der Einkommensgrenzen im sozia- (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) len Wohnungsbau — Drucksache 12/3913 —

Überweisungsvorschlag: Norbert Formanski (SPD): Frau Präsidentin! Meine Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Damen und Herren! Im „Handelsblatt", aber auch im Heft 41/1992 der „Wohnungswirtschaftlichen Infor- c) Beratung der Beschlußempfehlung und des mationen" konnten wir folgenden Sachverhalt, der Berichts des Ausschusses für Raumordnung, uns aus den Wahlkreisen in den Ballungsgebieten Bauwesen und Städtebau (19. Ausschuß) zu bestens bekannt ist, nachlesen — ich zitiere —: dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Ein 33jähriger verheirateter Polizeihauptwacht- Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke meister (Besoldungsgruppe A 6), der zusammen Liste mit seiner halbtags beschäftigten Ehefrau (be- Nachbesserung des Wohngeldsondergeset- zahlt nach BAT VII) jährlich 57 000 DM Brut- zes toeinkommen erreicht, liegt um mehr als — Drucksachen 12/3473, 12/3976 — 10 000 DM über der zulässigen Sozialwohnungs- Berichterstattung: grenze. Auch ein Ehepaar ohne Kinder, bei dem Abgeordnete Hans Raidel nur er berufstätig ist (Amtmann, Besoldungs- Achim Großmann gruppe A 11), liegt um beinahe 20 000 DM über der Einkommensgrenze. Selbst die alleinerzie- d) Beratung der Beschlußempfehlung und des hende Mutter mit einem Kind, in Frankfurt tätig Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) als Sachbearbeiterin in der Wohnungswirtschaft, zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Sei- übertrifft mit ihrem Jahresbruttoeinkommen von fert, Dr. Barbara Höll und der Gruppe der 45 000 DM um mindestens 6 000 DM die Einkom- PDS/Linke Liste mensgrenze und fällt ebenfalls aus dem Bewer- berkreis heraus. Verlängerung der Regelungen über den erweiterten Kündigungsschutz für Mieter in Diese Beispiele belegen: Die Anhebung der Ein- den neuen Bundesländern und in Ost-Berlin kommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau ist — Drucksachen 12/1974, 12/4116 — schon lange überfällig. Es muß in Zukunft regelmäßig überprüft werden, ob eine Anpassung an die allge- Berichterstattung: meine Tarifentwicklung erforderlich ist. Abgeordnete Dr. Michael Luther Dr. Eckhart Pick (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11501

Norbert Formanski Seit 1980 sind die Sätze nicht mehr grundlegend an Nicht nur in München, sondern in fast allen Ballungs- die Einkommensentwicklung angepaßt worden. Die gebieten finden Familien mit zwei oder drei Kindern Löhne und Gehälter sind seitdem nominal zwar kaum noch preiswerte Wohnungen. gestiegen, gleichzeitig hat sich aber der Preisindex nach oben entwickelt. Außerdem sind Steuern und Ohne jetzt in die Verfassungsdiskussion eintreten Sozialversicherungsabgaben gerade für kleine und zu wollen, möchte ich doch mit Nachdruck betonen, mittlere Einkommen stark gestiegen. Das Realein- daß eine Wohnung kein beliebig. austauschbares kommen der Beschäftigten, das, was die Bürger netto Wirtschaftsgut ist. in der Tasche haben, ist also kaum gestiegen und in vielen Fällen sogar gesunken. (Beifall bei der SPD) Durch diese Entwicklung ist eine große Gruppe Das Recht auf angemessenen und bezahlbaren Wohn- unserer Bevölkerung aus dem Kreis der Berechtigten raum ist ein soziales Grundrecht, das sehr wohl aus zum Bezug öffentlich geförderter Wohnungen heraus- dem Sozialstaatsgedanken des Art. 20 Abs. 1 unseres gefallen bzw. wird zur Fehlbelegungsabgabe heran- Grundgesetzes abgeleitet werden kann und sich auch gezogen, ohne daß sich deren wirtschaftliche Situa- in der Verfassung für das vereinte Deutschland wie- tion gegenüber dem Vergleichsjahr 1980 effektiv derfinden muß. verbessert hat. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, daß heute nicht einmal mehr 30 % aller Haushalte Der Antrag der SPD-Fraktion sieht nicht nur eine unterhalb der Einkommensgrenzen im sozialen Woh- generelle Anhebung der Einkommensgrenzen um nungsbau liegen. Insbesondere Arbeitnehmerhaus- durchschnittlich 10 % vor, sondern auch einen pau- halte können kaum noch eine öffentlich geförderte schalen Abzug vom Jahreseinkommen von jeweils Wohnung beziehen. Ihr Anteil dürfte bereits deutlich 10 %, wenn der Antragsteller Steuern vom Einkom- unter 30 % liegen. men, Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung und Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Krankenversiche- Damit werden in erster Linie diejenigen Haushalte rung entrichtet. Dieser pauschale Abzug entlastet vom Bezug einer Sozialwohnung ausgeschlossen, die gezielt normal verdienende Arbeitnehmerinnen und einerseits durch Steuern zu der direkten und indirek- Arbeitnehmer und schafft so die Voraussetzung dafür, ten staatlichen Wohnungsbausubvention zu einem daß die weitere Gettobildung im Sozialwohnungsbe- erheblichen Teil beitragen, die aber andererseits stand verhindert wird. Denn das Zusammenleben selbst nicht in der Lage sind, die hohen Marktmieten unterschiedlicher Bevölkerungskreise ist unverzicht- im freifinanzierten Wohnungsbau aufzubringen. bar für die notwendige Integration und Unterstützung (Zurufe von der SPD: Das ist der Punkt! — von Problemgruppen unserer Gesellschaft. Unglaublich!) Die Versorgung von Haushalten, die deutlich unter Der Verdrängungswettbewerb auf dem Markt der den neubestimmten Einkommensgrenzen liegen freifinanzierten Wohnungen betrifft längst nicht mehr — Minderverdienende —, muß weiterhin durch die nur Randgruppen unserer Gesellschaft. Bei Quadrat- bevorzugte Vergabe der vor 1966 geförderten Woh- meterpreisen jenseits von 20 DM oder gar 25 DM kann nungen an diesen Personenkreis möglich bleiben. Es sich auch jeder Doppelverdienerhaushalt ausrechnen, muß jedoch überprüft werden, wie groß dieser Woh- wann die Grenzen der Belastbarkeit erreicht sind. - nungsbestand derzeit noch ist und wie er sich in den (Zuruf von der SPD: Eine skandalöse Ent nächsten Jahren entwickeln wird. Gegebenenfalls wicklung ist das! — Dr.-Ing. Dietmar Kansy müssen jüngere Baujahrgänge in die bevorzugte Ver- [CDU/CSU]: Wie war das mit den Genossen gabe an Minderverdienende einbezogen werden. Im hei der SAGA in Hamburg? Die zahlen übrigen bleibt es in Gebieten mit erhöhtem Woh- 7 DM!) nungsbedarf beim Benennungsrecht durch die Ge- Fakt ist: Der soziale Wohnungsbau erreicht heute meinden und bei den bisher vorhandenen Belegungs- nicht mehr die breiten Schichten der Bevölkerung rechten. — dem werden Sie ja zustimmen können, Herr Die bisherigen niedrigen Einkommensgrenzen füh- Kansy —, wie es ursprünglich durch den Bundesge- ren auch dazu, daß die setzgeber vorgesehen war. Ich zitiere den bayerischen direkte Einkommensförde- Minister (CSU), rung im sozialen Wohnungsbau immer schwieriger wird. Die vielen Normalverdiener, die Opfer der (Achim Großmann [SPD]: Eine gute Einkommensgrenzen werden, können den Traum von Adresse!) den eigenen vier Wänden schnell vergessen. Wer über „Frankfurter Rundschau" vom 11. Dezember 1992: den Einkommensgrenzen liegt, ist auf die Förderung nach § 10e des Einkommensteuergesetzes angewie- In München ist es inzwischen schwierig gewor- sen. Dieser von uns so oft kritisierte Förderweg führt den, ausreichend Mitarbeiter für das mittlere, dazu, daß das untere Fünftel der Einkommensskala teils aber auch das gehobene Management und ganze 5 % der Förderung bekommt und daß das obere den öffentlichen Dienst zu finden. Busfahrer, Fünftel der Einkommensskala dagegen 45 % des Polizisten, Krankenschwestern, Feuerwehrmän- staatlichen Fördervolumens erhält. ner oder Boten werden immer schwerer eine Wohnung finden, wenn hier nicht der Staat (Achim Großmann [SPD]: Ein Skandal ist außerordentlich hilft. Eine Stadt kann nicht nur das! Unerhört!) von den „eggheads" leben, sondern sie braucht natürlich den gesamten Querschnitt der Bevölke- Diese Förderpraxis ist nicht nur sozial ungerecht, rung. sondern sie verfehlt auch das erklärte Ziel, die Eigen- 11502 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Norbert Formanski tumsbildung in weiten Kreisen der Bevölkerung zu die Wohnung zu verlieren, große Sorgen bereiten. Die fördern. Bundesbauministerin hat Recht mit ihren Aussagen, (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das ist daß die Wohnungspolitik entscheidenden Einfluß auf Ordnungspolitik!) den Ausgang der nächsten Bundestagswahl haben wird und daß durch die Anpassung der Einkommens- Die Stagnation im Werkswohnungsbau ist ebenfalls grenzen keine einzige Sozialwohnung mehr zur Ver- auf die Nichtanpassung der Einkommensgrenzen fügung steht. Das ist zweifelsfrei richtig. Doch nicht zurückzuführen. Wer will es einem Unternehmen die längst überfällige Anpassung der Einkommens- verübeln, daß es eben nicht in den Werkswohnungs- grenzen ist das Hauptproblem, sondern das Hauptpro- bau investiert, weil kaum noch ein normal verdienen- blem ist, daß immer noch viel zu wenige Sozialwoh- der Arbeiter den Wohnberechtigungsschein erhält? nungen gebaut werden. Das heißt: Der größte Teil der eigenen Belegschaft würde die für sie gebauten Wohnungen nicht belegen (Zuruf von der SPD: Jawohl! So ist es!) können. Als Betriebsratsvorsitzender kann ich Ihnen Deshalb muß sich die Koalition die Frage stellen aus eigener Anschauung versichern, daß gerade die- lassen, warum sie die Anträge der SPD-Bundestags- ses Problem in vielen Betrieben für zusätzlichen fraktion zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus sozialen Sprengstoff sorgt. immer wieder abgelehnt hat. Die Bauministerin und In Nordrhein-Westfalen ist speziell dieses Problem die Koalition müssen sich auch fragen lassen, welchen aktuell erkannt worden, und diesem Problem ist Stellenwert sie dem sozialen Wohnungsbau noch gegengesteuert worden. In einer Schwerpunktaktion zurechnen. wurde 1992 eine besondere Initiative gestartet und wurden zusätzlich 5 000 neue Werkswohnungen Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine gebaut. Die Unternehmen zogen sofort mit, weil Anfrage der SPD-Fraktion zur Zukunft des sozialen nämlich die 5 000 Wohnungen für Mieter gefördert Wohnungsbaus jedenfalls kommt einer wohnungspo- wurden, deren Einkommen bis zu 40 % über den für litischen Bankrotterklärung gleich. den sozialen Wohnungsbau gültigen Grenzen liegt. (Beifall bei der SPD) Um weitere Aktionen im ganzen zu ermöglichen, sind wir gefordert, endlich die überholten Richtzahlen Zu zentralen Fragen zum derzeitigen und zukünftigen Bedarf an Sozialwohnungen, zum Verlust der Sozial- anzupassen. bindung von Wohnungen bis zum Jahr 2000 und zur Entwicklung des Werkswohnungsbaus heißt die lapi- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege For- dare Antwort jeweils: Wir haben keine Zahlen. manski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- gen Dr. Hitschler? (Zuruf von der SPD: So ist das!) Auch die Frage, wie viele Haushalte einen Wohnbe- Norbert Formanski (SPD): Ja, bitte. rechtigungsschein besitzen, konnte oder sollte nicht beantwortet werden. Andere Antworten zum Bestand Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Herr Kollege For- an Sozialwohnungen, zu Fertigstellungen in den Jah- manski, ist es richtig, daß die Sozialdemokraten in ren 1991 und 1992, wurden geschönt. Erklärungen ansonsten, wenn es um die Frage- der Jedes mittlere Unternehmen plant seine zukünftige Einkommensbesteuerung geht, die Auffassung ver- Arbeit auf der Grundlage ordentlichen Datenmate- treten, daß man etwa ab einem Monatseinkommen rials. Sind exakte Schätzungen schwierig, werden auf von 5 000 DM zu dem Kreis der Besserverdienenden Basis der schlechtesten und der besten Prognose zählt und meinen Sie, daß die Einkommensgrenze im Analysen vorgenommen, werden Strategien und sozialen Wohnungsbau, die bei einem Vierpersonen Handlungsalternativen erarbeitet und Zwischenbi- aushalt bei 4 590 DM und bei einem Fünfpersonen-h lanzen erstellt. Die Bundesbauministerin und ihr haushalt bei 5 333 DM liegt, so gestaltet werden sollte, Ministerium dagegen wursteln vor sich hin, bevorzu- daß die von Ihnen als Besserverdienende Bezeichne- gen ungenaue Allgemeinplätze und versuchen, Ver- ten in Zukunft Anspruch auf eine Sozialwohnung antwortung für eigene Fehler auf die Länder und haben? Gemeinden abzuschieben. (Zuruf von der SPD: So ist es! — Dr.-Ing. Norbert Formanski (SPD): Nach meinem Kenntnis- stand haben wir im Hinblick auf die Besserverdienen- Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Ach du meine den, als es z. B. um die Fortführung der Ergänzungs- Güte!) abgabe ging, andere Zahlen genannt, und zwar für Wie anders ist es sonst zu erklären, Herr Kansy, daß den Ledigen 5 000 DM pro Monat, sprich 60 000 DM der einstimmige Beschluß des Deutschen Bundesta- im Jahr, und für ein Ehepaar 10 000 DM im Monat ges aus dem Jahre 1990, mit dem die Bauministerin bzw. 120 000 DM im Jahr. Dieser Personenkreis ist in aufgefordert wurde, einen Bericht über die Erhöhung diesem Fall nicht in die Berechnung mit einbezo- der Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau gen. vorzulegen, immer noch nicht umgesetzt wurde? (Achim Großmann [SPD]: Es gibt doch kaum Die Entwicklung in diesem Bereich jedenfalls ist noch Familien mit vier oder fünf Personen!) katastrophal. 1991 wurden nur etwa 65 000 Sozial- Aus einer Untersuchung der Gesellschaft für erfah- wohnungen fertiggestellt. Andererseits fallen jedes rungswissenschaftliche Sozialforschung geht hervor, Jahr an die 150 000 Sozialwohnungen aus der Bin- daß mittlerweile fast jedem zweiten Bundesbürger die dung. Zur Zeit verfügen wir — bei einem Gesamtwoh- Höhe der Wohnungsmiete und auch die Möglichkeit, nungsbestand in den alten Bundesländern von rund Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11503

Norbert Formanski 27 Millionen — nur noch über 2,8 Millionen Sozial- gemeinsamen Anstrengungen zur Behebung der wohnungen. Nur noch 10 % aller Wohnungen sind Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland. Sozialwohnungen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt Auf Grund dieser Entwicklung sollte man meinen, nicht!) daß die Bundesbauministerin alles daransetzen Wir Sozialdemokraten sind dazu bereit. Der Woh- würde, dafür zu sorgen, daß noch mehr Sozialwoh- nungsbau muß wieder Vorrang haben. nungen gebaut werden können. Aber leider ist genau Schönen Dank. das Gegenteil der Fall. Trotz der dramatischen Lage (Beifall bei der SPD) auf dem Wohnungsmarkt in West- und Ostdeutsch- land ist weder die Bauministerin noch die Bundesre- gierung bereit, den längst überfälligen Kurswechsel in Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und der Wohnungspolitik einzuleiten. Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Jürgen Sikora. (Widerspruch bei der CDU/CSU)

Das zeigt sich deutlich an dem Einzelplan 25 des (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Bundeshaushaltes 1993 und an der mittelfristigen Jürgen Sikora Damen und Herren! Die Entwicklung des Wohnungs- Finanzplanung des Bundes 1992 bis 1996. Obwohl marktes der letzten zehn Jahre hat gezeigt, daß sich immer mehr Wohnungen aus der Sozialbindung her- eine zielgerichtete und treffsichere Wohnungsbau- ausfallen und immer weniger Sozialwohnungen fer- politik ohne gesicherte und aktuelle Datenunterlagen tiggestellt werden, reduziert der Bund seine Finanz- immer schwerer gestalten läßt. hilfen für den sozialen Wohnungsbau in den alten Bundesländern im Jahre 1994 um 200 Millionen DM Die in dem Zeitraum von Mitte bis Ende der 80er auf nur noch 2,5 Milliarden DM und ab dem Jahre Jahre aufgetretene außergewöhnliche gegensätzliche 1995 sogar um weitere 700 Millionen DM auf nur noch Entwicklung von Wohnungsleerständen hin zu Woh- 1,8 Milliarden DM. nungsfehlbeständen infolge eines unerwarteten und nicht vorhersehbaren Anstieges von Wohnungssu- (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) chenden haben die gesamte Wohnungswirtschaft vor eine völlig veränderte Situation gestellt. Aber auch Trotz des steigenden Bedarfs senkt die Bundesre- das Wohnverhalten in der Bevölkerung hat zu — gierung also ihre Bundeshilfen um 30 %. Nimmt man wohlstandsbedingten — Nachfragesteigerungen, was die auf hohem Niveau weiter steigenden Baupreise Ausstattung und Wohnfläche angeht, geführt. hinzu, ist die Kürzung real noch einschneidender. Hinzu kommen neue Entwicklungsprozesse aus der Ist es nicht ein Armutszeugnis für diese Bundesre- stark zunehmenden Zahl von Einpersonenhaushal- gierung, daß im Jahre 1992 das Land Nordrhein- ten. Von den derzeitig 35 Millionen privaten Haushal- Westfalen allein mehr Eigenmittel für den sozialen ten sind bereits 11,9 Millionen sogenannte Single- Wohnungsbau aufgebracht hat als die Bundesregie- haushalte, die am Wohnungsmarkt den Anspruch auf rung für alle alten Bundesländer zusammen? eigene Wohnungen geltend machen. Von gravierender Bedeutung für die Erstellung des (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja auch Wohnungsstatistikgesetzes ist die weitere Tatsache, Ländersache!) daß nach der Volks- und Wohnungsstättenzählung Rund 3,9 Milliarden DM investierte Nordrhein-West- von 1987 etwa 4 Millionen Menschen zusätzlich in die falen 1992 in den Wohnungsbau. alten Bundesländer gekommen sind. Ein Weiteres kommt hinzu: Durch die Wiederverei- Solche positiven Beispiele sollte sich Frau Schwaet- nigung unseres Landes ist nicht nur eine völlig neue zer zu eigen machen. Aber ihre Politik ist nicht nur Lage in der Wohnungsversorgung eingetreten, son- jenseits der realen Erfordernisse des Wohnungsmark- dern das hat auch noch völlig unterschiedliche Struk- tes, sondern ist auch ein falsches Signal für potentielle turen zwischen Ost und West aufgeworfen, die die Investoren im sozialen Wohnungsbau. Weder der bislang geltenden Erfahrungswerte und Maßstäbe Finanzplan noch der Bundeshaushalt 1993 geben den des Wohnungsmarktes grundlegend verändert ha- Investoren die von der Bundesregierung selbst immer ben. wieder eingeforderte Klarheit und Stetigkeit der Inve- stitionsbedingungen im Wohnungsbau. Vor diesem Hintergrund ist es für die Bewältigung und aktuelle Fortentwicklung der Wohnungsbaupoli- Der Deutsche Mieterbund schätzt den Fehlbestand tik, aber auch für die gesamten wohnungswirtschaft- an Wohnungen auf mindestens 2,5 Millionen und den lichen Aufgaben einschließlich künftiger Entwick- Bedarf an Neubauten auf jährlich 600 000 Wohnun- lungsprozesse in den Städten und Gemeinden von gen, davon 300 000 Sozialwohnungen. Um diese Auf- großer Wichtigkeit, auf gesicherten Datengrundlagen gabe bewältigen zu können, sind gewaltige Anstren- aufbauen zu können. Deswegen werden wir dem gungen notwendig. vorliegenden Wohnungsstatistikgesetz heute auch unsere Zustimmung geben. (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!) Meine Damen und Herren, dieses Wohnungsstati- Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion gewährlei- stikgesetz wird darüber hinaus aber auch für die stet, daß der soziale Verdrängungswettbewerb auf Fortentwicklung des sozialen Wohnungsbaus von dem Wohnungsmarkt nicht weiter ausufert, und eröff- nicht untergeordneter Bedeutung sein. Das trifft ins- net die Möglichkeit, z. B. im Werkswohnungsbau, zu besondere auf die immer wieder neu aufgeworfene 11504 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Jürgen Sikora Frage zu, wie und wie weit der soziale Wohnungsbau besserung, die Sie, meine Damen und Herren von der zur Bedarfsdeckung wirken soll und, um sozial SPD, bei der Gesamtbetrachtung auch vernachlässigt gerecht zu sein, welcher Berechtigtenkreis am Woh- haben. Damit haben die Länder ein Instrument in die nungsmarkt eigentlich erreicht werden soll. Hand bekommen — Sie haben es vorhin bezüglich der Länder anders dargestellt —, das sie wohnungspoli- tisch zur Unterbringung von Haushalten einsetzen Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Sikora, gestat- können, deren Einkommen über der Grenze des § 25 ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Sei- des Zweiten Wohnungsbaugesetzes liegt. Das ist die fert? Rechtslage.

Jürgen Sikora (CDU/CSU): Wir können die Debatte Die Regelungen der Länder zeigen, daß beispiels- gerne im Ausschuß führen. Ich habe nur eine weise höchstzulässige Überschreitungen der Einkom- begrenzte Zeit. Herr Kollege, ich bitte um Verständ- mensgrenzen — zwischen 25 und 40 %, aber auch bis nis, wenn ich meine Rede fortführen möchte. zu 100 % im Falle Berlins — ausgeschöpft werden. Da haben Sie die Abdeckung der Einkommensgrenzen Dabei muß es nach unserer Auffassung vorrangig und die Erweiterungsmöglichkeiten. Das insbeson- darum gehen, denen zu helfen, die auch wirklich die dere auch zu dem Hinweis, den Sie hinsichtlich der Hilfe des Staates benötigen. Im Lichte der in den Arbeitnehmerhaushalte gemacht haben; auch der letzten beiden Jahren massiv entstandenen Diskus- Beamte kann hier durchgefördert werden. sion um die Fehlbelegung von Sozialwohnungen ist diese Problematik deutlich geworden. Nur gilt auch (Norbert Formanski [SPD]: Die Länder war- hier, daß eine wirkliche und gerechte Lösung langfri- ten doch auf eine sinnvolle Erhöhung durch stig nur dadurch gefunden werden kann, daß wir den den Bund!) Weg fortsetzen, alle Kräfte darauf zu konzentrieren, den Bau von neuen Wohnungen in allen Teilmärkten — So ist die Situation. Das sollten Sie einmal nachle- — vom sozialen Wohnungsbau, der Förderung von sen, wenn Sie es noch nicht getan haben. Wohneigentum bis zum freifinanzierten Wohnungs- bau — zügig voranzubringen. Insoweit, meine Damen und Herren, ist bei der Meine Damen und Herren, mit dem Wohnungs- Schaffung neuen Wohnraums die Problematik der bauprogramm der letzten Jahre und der seit 1982 bestehenden Einkommensgrenzen entschärft und aufgestockten Mittel für den sozialen Wohnungsbau durch praktikablere Modalitäten des dritten Förder- leistet der Bund einen zusätzlichen und direkten weges ergänzt worden. Beitrag zur Angebotserweiterung zugunsten einkom- mensschwächerer Wohnungssuchender. Aber auch Ein Blick auf die derzeitig geltenden Einkommens- grenzen zeigt aber auch, daß über die 1990 in Kraft getretene Änderung des Woh- des ersten Förderweges die Einkommensgrenzen für Drei- und Mehrperso- nungsbindungsgesetzes wurde bei Unterbelegung nenhaushalte und insbesondere für junge Ehepaare größerer Sozialmietwohnungen der Wohnungstausch durch die 1985 eingeführten Zuschlagsbeträge durch- mit einer kleineren Sozialwohnung ohne Einhaltung aus ausreichend sind. Für Erwerbstätige und Ein- und der Einkommensgrenzen ermöglicht. - Zweipersonenhaushalte ist allerdings der Bezug von Gleichzeitig wurden die Bindungsfristen bei vorzei- Sozialwohnungen — das räumen wir ein — in der tiger freiwilliger Rückzahlung der öffentlichen Mittel Regel nicht möglich bzw. — und darauf will ich auf zehn Jahre verlängert, um den Bestand verfügba- hinweisen — sind derartige Haushalte nur dann rer Sozialwohnungen bis zum planmäßigen Ende der berechtigt, wenn es sich um nicht erwerbstätige Sozialbindungszeit zu erhalten. Personen handelt. Im Fall der erwerbstätigen Einper- (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Sie reden sonenhaushalte, erscheint allerdings unter Berück- doch immer nur vom Westen!) sichtigung der besonderen Problemlage eine Anhe- Um den Kreis der Berechtigten im zweiten Förder- bung der Einkommensgrenzen erwägenswert, weil weg zu erweitern, wurden die hierfür geltenden dadurch Erwerbspersonen niedriger Einkommen ge- Einkommensgrenzen bereits von 140 % auf 160 % der rade in Ballungsgebieten eine Chance zum Bezug Grenzen des ersten Förderweges angehoben. Das einer Sozialwohnung erhalten würden. haben Sie vorhin völlig vernachlässigt, Herr Kollege Unsere Bedenken richten sich allerdings gegen eine Formanski. Das bedeutet bei Eigentumsmaßnahmen allgemeine Erhöhung, was in der Folge unweigerlich für einen Vierpersonenhaushalt eine Anhebung der dazu führen würde, daß die Haushalte mit niedrigen Einkommensgrenze auf rund 87 000 DM steuerpflich- Einkommen durch die sozial Berechtigten mit höhe- tiges Jahreseinkommen. ren Einkommen verdrängt würden und damit das Mit dem Modell der vereinbarten Förderung nach eigentliche soziale Anliegen wieder verlorenginge. dem sogenannten dritten Förderweg ist erstmalig ein Entscheidungen hierüber müssen daher wohlüberlegt flexibles und marktgerechtes Förderinstrument ge- sein und bedürfen einer sehr genauen Prüfung, der schaffen worden, das es in der Folge auch erlaubt, wir uns nicht entziehen wollen. Dabei wird insbeson- Mietentwicklungen, Art der Bindung, Bindungsdauer dere auch zu prüfen sein, inwieweit die vom Bundes- und Förderintensität vertraglich zu gestalten. rat und der AG Bau angeführten Belange, die Sie, Für die Länder ist dieser dritte Förderweg von meine Damen und Herren von seiten der SPD, ja zum besonderer Bedeutung, da er für unterschiedliche Anlaß Ihres Antrages heute gemacht haben, den Zielgruppen genutzt und als Ergänzung des ersten gesamtwohnungswirtschaftlichen Belangen Rech- Förderweges eingesetzt werden kann, also eine Ver nung tragen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11505

Jürgen Sikora Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. mensgrenzen des sozialen Wohnungsbaus fallen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben beide in Berlin inzwischen jeder für sich eine eigene Sozialwohnung bezogen

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und (Dr. Christina Lucyga [SPD]: Mit Beziehun Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen gen geht das!) Dr. Walter Hitschler. und natürlich auf diesem Wege auch Wohnungen in Anspruch genommen, die eigentlich für einen ande- Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine ren Berechtigtenkreis gedacht waren. sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag auf (V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein) Erhöhung der Einkommensgrenzen im sozialen Woh- nungsbau klingt zunächst sehr plausibel und ver- Die Lösung dieses ganzen Problemzusammenhangs diente gar Unterstützung, wenn das Fördersystem so ist aber nicht von einer Erhöhung der Einkommens- aufrechterhalten und weiter praktiziert werden grenzen zu erwarten, da hiermit nur punktuell ein könnte, wie es sich in den Nachkriegsjahren durchaus Aspekt aufgegriffen wird, in der Hauptsache aber bewährt hat. keine Erleichterung für die Wohnungsmärkte ge- Die Nachkriegszeit aber ist vorbei; der soziale schaffen würde. Nein, was wir brauchen, ist eine Wohnungsbau in seiner herkömmlichen Form ist völlige Neuorientierung der Wohnungsbauförde- tot. rung. Nach unserer Auffassung müssen wir eine (Zuruf von der SPD: Durch Sie!) Entwicklung der Abkehr von der Objektförderung zu einer stärkeren Subjektförderung einleiten. Einkom- Die Wohnungsversorgungsprobleme haben sich näm- mensgrenzen im bisher üblichen Sinne werden dann lich völlig verändert, so daß sich auch die Anforderun- überflüssig und durch die Zahlung eines erheblich gen an eine sinnvolle und wirksame Wohnungsbau- verbesserten Wohngelds ersetzt. Schritte auf dem förderung gewandelt haben. Die Ansprüche an Weg dahin sind der dritte Förderweg mit kürzeren Größe, Ausstattung und Gestaltung einer Wohnung, Belegungsbindungen, die strukturelle Anpassung des an Sicherheitsvorkehrungen, Wünsche an das Wohn- Wohngelds, die Schaffung von Belegrechten und die umfeld, aber auch die Baulandpreise, die Zinsen- und Einführung einer einkommensorientierten Miete als Baukostenentwicklung haben sich in einer Weise Übergangslösung. Leider versuchen einige Bundes- verändert, daß der klassische erste Förderweg im länder, auf deren Mitwirkung wir bei vertraglichen sozialen Wohnungsbau heute nicht mehr funktio- und gesetzlichen Regelungen angewiesen sind, die- niert, sen Fortschritt zu behindern und zu blockieren; sie (Zuruf von der SPD: Das haben Sie allein zu nehmen dabei eine schlechtere Wohnraumversor- verantworten!) gung unserer Bevölkerung in Kauf. weil die Sozialwohnungen so teuer geworden sind, Dennoch ist es der Wohnungspolitik der Bundesre- daß sie nicht mehr in ausreichender Zahl gebaut gierung gelungen, den Wohnungsneubau gewaltig werden können. voranzubringen Der Berechtigtenkreis hat sich ebenfalls wesentlich gewandelt. Die Landesbewilligungsmieten im sozia-- (Beifall bei der F.D.P.) len Wohnungsbau und die Kostenmieten klaffen zu und das Vertrauen derer zu stützen, die bereit sind, ihr weit auseinander, so daß die zu überbrückende Finan- Kapital in Investitionen für den Wohnungsbau einzu- zierungslücke durch Subventionen von Bund, Län- bringen. Trotz aller Versuche der Opposition, die dern und Gemeinden nicht mehr bezahlt werden Investoren zu diskreditieren, sie als Profitgeier und kann. Spekulanten an den Pranger zu stellen, und trotz Wenn wir in dieser Situation Ihrem Antrag folgen ständiger Versuche, ihre Rechtspositionen aus ihrem würden, würden wir zwar die Zahl derer, die einen Eigentum einzuschränken, befindet sich der Woh- Anspruch auf eine Sozialwohnung erheben könnten, nungsneubau gottlob auf gesunden Pfaden. erhöhen, aber keine einzige zusätzliche Wohnung mehr erhalten. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Achim Großmann [SPD]: Natürlich!) Es ist ein großes Glück und ein Verdienst der Dies hätte zur Folge, daß gerade die Schwächeren in Koalitionsregierung, daß die Einkommen der Bevöl- der Kette der Wohnungssuchenden im Auswahlver- kerung in den letzten zehn Jahren so außerordentlich fahren bei der Wohnungsvergabe überhaupt keine gestiegen sind, und zwar auch real, daß heute wesent- Chance mehr hätten, zum Zuge zu kommen. lich weniger Mitbürger auf eine Sozialwohnung ange- wiesen sind. Viele Sozialwohnungen sind darüber (Achim Großmann [SPD]: Die wohnen jetzt hinaus fehlbelegt, ein Konstruktionsfehler, der aber schon in billigen Altbauten!) eigentlich nicht durch die Einführung einer Fehlbele- Zugegeben; die einseitige Struktur in der Zusam- gungsabgabe korrigiert werden sollte, sondern durch mensetzung der Sozialwohnungsberechtigten berei- eine Systemänderung. Mit den bestehenden Einkom- tet bei der Wohnungsbelegung in der Tat ernste mensgrenzen, die immerhin bei einem Dreipersonen Probleme. Aber ich habe auch beim Besuch eines haushalt bei einem Monatseinkommen von 3 850 DM, besserverdienenden Bekannten in Berlin feststellen bei einem Vierpersonenhaushalt bei einem Monats- dürfen, daß dessen beide Söhne inzwischen aus der einkommen von 4 590 DM und bei einem Fünfperso- elterlichen Wohnung ausgezogen sind. Sie studieren nenhaushalt bei einem Monatseinkommen von 5 330 beide in Berlin, und da sie beide unter die Einkom DM liegen — alle die, die darunter liegen, haben 11506 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Dr. Walter Hitschler einen Anspruch auf eine Sozialwohnung —, müssen hung unter Berücksichtigung des Wohngelds den wir, so meinen wir, noch eine Zeitlang auskommen. Einkommenszuwachs nicht übersteigen wird. In der Wohneigentumsförderung, dem sogenannten zweiten Förderweg, durften diese Einkommensgren- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Seifert, zen bis zum 25. Februar 1992 um 40 % überschritten gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen werden; Kollege Sikora hat es bereits erwähnt. Im Dr. Hitschler? letzten Jahr haben wir diese Grenze auf 60 % ange- hoben, so daß nunmehr wesentlich mehr Bauherren in Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Selbstverständlich, den Genuß von öffentlichen Aufwendungszuschüssen ich kenne ja seine Klugheit. oder Aufwendungsdarlehen kommen können. Dies trägt zur Wohneigentumsbildung breiter Schichten Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Herr Kollege Seifert, es unserer Bevölkerung bei, und davon wird wiederum ist normalerweise nicht meine Art, so etwas zu fragen, auch rege Gebrauch gemacht. und ich hätte es nicht getan, wenn Sie diese unver- In den neuen Bundesländern sollten wir daher das schämten Bemerkungen eben nicht gemacht hätten. überholte System beim Übergang zu einer marktwirt- Aber ich muß Sie jetzt doch fragen, in wie vielen schaftlichen Wohnungswirtschaft erst gar nicht ein- Fällen Sie in Ihrer Stasi-Tätigkeit dafür gesorgt haben, führen. Wir hoffen darauf, daß uns die von uns daß Mieter aus ihren Wohnungen in Gefängniszellen eingesetzte Expertenkommission zur Überprüfung gewechselt haben. des gesamten wohnungswirtschaftlichen Instrumen- (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Das ist tariums bald entsprechende Empfehlungen vorlegen aber unterhalb der Gürtellinie! — Gegenruf wird. von der CDU/CSU: Wer austeilt, muß auch Die von der PDS eingebrachten Anträge zu unter- einstecken!) stützen hieße, den Aufschwung Ost bewußt abzuwür- gen. Helfen Sie deshalb durch Ihr Abstimmungsver- Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Null! halten mit, sie in die Toilette des Vergessens zu Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß spülen. unser Antrag abgelehnt werden soll, weil die Regie- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rung die Nagelprobe auf die Stichhaltigkeit ihrer Behauptungen fürchtet. Das Tragische ist nur, daß vor allem ältere Menschen, die von Rentenerhöhungen Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen ausgeschlossen worden sind, ebenso wie Dauerar- Dr. Ilja Seifert das Wort. beitslose und Alleinerziehende in Verzweiflung gestürzt werden. Den Antrag abzulehnen und gleich- Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! zeitig für sich, also für uns, eine Diätenerhöhung zu Meine Damen und Herren! Heute darf ich siebenein- beschließen, ist schon ziemlich pe rvers. Ich kenne in halb Minuten lang zu vier Anträgen der PDS/Linke meinem Wahlkreis aus dem eben genannten Perso- Liste reden. Ich hätte nicht für möglich gehalten, Herr nenkreis jedenfalls niemanden mit einer Einkom- Dr. Hitschler, daß Sie eine so unqualifizierte Berner- menssteigerung, wie wir sie, d. h. Sie, als Bundestags- kung dazu machen können. Ich kenne Sie als- wesent- abgeordnete für uns als angemessen und notwendig lich klügeren Menschen. erachten. So fördert m an sozialen Frust, so produziert Im Verlauf des Jahres 1992 haben wir insgesamt man Mietschuldnerinnen und Mietschuldner, Ob- fünf Anträge zu dringenden Fragen der Mietentwick- dachlose und übrigens auch Politikverdrossenheit, bei lung und des Mietrechts eingebracht. Dabei h andelt der wir alle über einen Kamm geschoren werden, und es sich keineswegs um gravierende Umwälzungen das finde ich überhaupt nicht mehr in Ordnung. des bestehenden Rechts, sondern lediglich um Vor- Ähnlich verhält es sich mit unserem Antrag zur schläge zur Schadensbegrenzung, d. h. zur Vermei- Verschiebung der zweiten Mietsteigerung zum 1. Ja- dung unbilliger sozialer Härten. Dies wäre eigentlich nuar dieses Jahres. Abgesehen davon, daß die Bun- die Aufgabe der Bundesregierung gewesen. Da sie desregierung bis heute nicht in der Lage ist, eine jedoch, wie allen bekannt, mit anderen Aufgaben exakte und vor allem nach Bevölkerungsgruppen beschäftigt ist, hat sie meines Erachtens ihre Schulauf- differenzierte Analyse der Einkommensentwicklung gaben wieder einmal nicht gemacht. Aber was will vorzulegen — Herr Kollege Formanski wies bereits man auch von einer Bauministerin erwarten, die ihre darauf hin —, stellt diese famose Verordnung der Sympathie für Immobilienhaie so unverblümt zum Bundesregierung das bisher in der BRD geltende Ausdrück bringt und eine vorgeschobene Eigenbe- Mietrecht in wichtigen Teilen auf den Kopf. Statt von darfskündigung auf Bundestagskopfbogen ver- einem ordnungsgemäßen Zustand der Mietwohnun- schickt? Das nicht nur nebenbei. gen auszugehen, was wohl selbstverständlich wäre, Bezeichnend ist es, wenn man nach der Lektüre der und bei Mängeln — ausschließlich bei Mängeln! — Beschlußempfehlung der Ausschüsse des Bundesta- Mietabschläge vorzunehmen, so wie es im BGB gere- ges feststellen muß, daß von der übergroßen Mehrheit gelt ist, werden für völlig normale Eigenschaften eines dieses Hauses — leider einschließlich der SPD — Miethauses, z. B. daß ein Dach darauf ist, Beschaffen- unsere Anträge abgewiesen werden, ohne daß sich heitszuschläge eingeführt. Mit der angeblich freiwil- auch nur ein einziges stichhaltiges Argument finden ligen Möglichkeit, Instandhaltungskosten auf die läßt. Nehmen wir z. B. unseren Antrag zur Nachbes- Miete umzulegen, soll offensichtlich auf dem Ver- serung des Wohngeldsondergesetzes. Dieser Antrag suchsfeld Ostdeutschland das gegenwärtig geltende folgt ausdrücklich der Intention der Regierung, die Recht auch im Westen zu Lasten der Mieterinnen und behauptet hat, daß die erneut verordnete Mieterhö Mieter ausgehebelt werden. Blanker Hohn ist es, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11507

Dr. Ilja Seifert wenn vom Rechtsausschuß die Ablehnung dieses am Das, was die Bundesregierung alternativ zu unseren 23. September gestellten Antrags und des am 22. Ja- Vorschlägen zur Regelung der Problematik der soge- nuar 1992 eingebrachten Antrags zur Verlängerung nannten Altschulden bisher angedacht hat, ist meiner der Kündigungsschutzregelung am 13. Januar dieses Meinung nach ganz gewollt unzureichend und diffus. Jahres u. a. damit begründet wird, daß sich diese Die sogenannten Altschulden sind der Knebel, um die Anträge durch Zeitablauf erledigt hätten. Wohnungsbaugesellschaften zu zwingen, den mög- lichst besten Teil ihres Bestandes mit hohem Erlös zu Besonderen Stellenwert hat für uns der Antrag zur verkaufen. Tun sie das nicht, dann steht angesichts Problematik der sogenannten Altschulden der Woh- der Haushaltslage in den Kommunen der Konkurs nungswirtschaft, der angesichts der hier tickenden bevor, und dann wird erst recht privatisiert. Ange- Zeitbombe von grundsätzlicher Bedeutung für die sichts des Zwangs, einen guten Preis zu erzielen, ist Gewährleistung des Menschenrechts auf eine ange- klar, daß es nicht darum geht, daß die jetzigen messene und bezahlbare Wohnung ist. Die gegenwär- Mieterinnen und Mieter ihre Wohnungen kaufen, tig geltende Rechtskonstruktion ist ein gravierender sondern angesprochen sind insbesondere westdeut- Geburtsfehler des Einigungsvertrages, mit dem wir sche Immobilienfirmen. Hier schließt sich der Kreis zu DDR-Bürger, die durch Lohn- und Rentenverzicht dem von Frau Schwaetzer be triebenen Werberum- unsere Wohnung schon einmal finanziert haben, auf mel. heimtückische Weise erneut über den Tisch gezogen werden sollen. Über das Rechtsgutachten von Profes- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Sie haben sor , der sicherlich nicht zu unseren Ihre Redezeit bereits ein gutes Stück überschritten. besten Freunden zählt, Bitte noch einen Schlußsatz! (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Ein Glück!) Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Präsident, der letzte Satz: Als Fazit bleibt mir leider nur zu konsta- zu dieser Thematik wurde das Gesetz des Schweigens tieren, daß — abgesehen von der Diätenerhöhung — verhängt. Und bemerkenswert ist es schon, wenn Frau die Mehrheit dieses Hohen Hauses und offenbar auch Dr. Schwaetzer, die zaghaft zu erkennen gab, daß die hochbezahlte Beamtenschaft leider tatsächlich vielleicht doch Regelungsbedarf besteht, dafür von unbestechlich ist. Sie nehmen nämlich nicht einmal Herrn Staatssekretär Carstens in sehr unfeiner Art Vernunft an. gerügt wurde. (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dr. Walter Völlig unverständlich ist mit allerdings auch die Hitschler [F.D.P.]: Das ist schon peinlich!) Haltung der SPD, die zwar — siehe Drucksache — Ihre Frage auch, Herr Hitschler. 12/3982, Seite 5 — verbal unserem Antrag in wichti- gen Teilen zustimmte, aber dennoch seine Annahme Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Abge- ablehnt, ohne selbst konstruktive Vorschläge zu ordnete Christina Schenk. unterbreiten. Verrät sie damit nicht Ideale, für die sie lange Zeit gekämpft hat und die z. B. im 2. Wohnungs- Christina Schenk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): baugesetz ihren Niederschlag gefunden haben? Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die - Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird den heute Ich kann in diesem Zusammenhang nicht umhin, zur Diskussion stehenden Antrag der SPD-Fraktion auf den heute ebenfalls zur Debatte stehenden SPD auf eine Erhöhung der Einkommensgrenzen im Antrag einzugehen. Beim ersten Hinsehen scheint sozialen Wohnungsbau nicht unterstützen. Die Koali- dieser Vorschlag durchaus plausibel zu sein. Aber gibt tionsparteien CDU/CSU und F.D.P. tun dies zwar auch es nicht bereits jetzt bedeutend mehr Haushalte mit nicht, allerdings aus einer völlig anderen Motivation Wohnberechtigungsschein als freie Sozialwohnun- als wir. Sie lehnen den Antrag ab, weil sie den sozialen gen, und verringert sich die Anzahl der Sozialwoh- Mietwohnungsbau an sich als wohnungspolitisches nungen nicht ohnehin weiter? Es ist eine Binsenweis- Instrument ablehnen, da er in ihren Augen ohnehin heit, daß ohne eine energische Förderung des sozialen nur ein vorübergehendes oder — wie Herr Hitschler Wohnungsbaus — und das wäre etwas anderes als die hier ausführte — schon vorübergegangenes Übel ist, gestrige Erfolgsverkündigung von Frau Schwaetzer zu dessen Desavouierung und Demontage sie aller- — das Problem ungelöst bleibt. Ansätze dafür hat die hand zu unternehmen bereit sind. SPD gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen bei der Wir hingegen lehnen den Antrag der SPD zwar Behandlung des Haushaltsplans 1993 leider verhin- nicht grundsätzlich, aber in der jetzigen Situation ab, dert. und zwar deswegen, weil eine Erhöhung der Einkom- Schizophren ist es, wenn einerseits die SPD ihren mensgrenzen zwangsläufig dazu führen wird, daß die Antrag damit begründet, daß zunehmend mehr in Zahl der Bewerbungen um eine Sozialwohnung Lohn und Brot stehende Arbeitnehmer eine Wohnung steigt, ohne daß gleichzeitig die Zahl der Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt nicht mehr bezahlen erhöht worden wäre. können, andererseits erklärtes Ziel der Koalitionsfrak- (Achim Großmann [SPD]: Die wird erhöht, tionen und der SPD die Überführung des gesamten wenn investiert wird!) Wohnungsbestandes in Ostdeutschland in den freien Die Zahl der sozialen Mietwohnungen nimmt konti- Markt ab 1995 ist. Diese Last den Menschen im Osten nuierlich und rapide ab. Seit 1980 sind 1,2 Millionen aufzuhalsen, ist für uns wirklich unannehmbar; denn Wohnungen aus der Bindung gefallen. Es gibt heute im Osten wurden Extraprofite aus der Einigung weiß nur noch 2,8 Millionen soziale Mietwohnungen, und Gott nicht erzielt. Fachleute prognostizieren, daß es bis zum Jahre 1995 11508 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Christina Schenk nur noch 1 Million sein werden. Insofern halte ich die meiner Sicht nicht stichhaltig. Wo wollen Sie denn Forderung, die Zahl der potentiellen Bewerberinnen praktisch die von Ihnen angeführten Problemfamilien und Bewerber um eine soziale Mietwohnung zu unterbringen, wenn nicht im sozialen Mietwohnungs- erhöhen, während gleichzeitig die Zahl der sozialen bau? Mietwohnungen weiter abnimmt, für absolut verant- (Achim Großmann [SPD]: Da auch, aber nicht wortungslos. nur!) (Achim Großmann [SPD]: Das ist eine Milch Wo will der Frankfurter Oberbürgermeister die aus- mädchenrechnung!) ländischen wohnberechtigten Haushalte, die auf Meine Damen und Herren, 1980 gab es in der Bun- Grund seiner Quote jetzt nicht mehr in die sozialen desrepublik ca. 12 Millionen Haushalte, die Anspruch Mietwohnungssiedlungen dürfen, denn wohnen las- auf einen Wohnberechtigungsschein hatten, und ca. sen? 4 Millionen soziale Mietwohnungen. Heute gibt es (Achim Großmann [SPD]: Da auch, aber nicht noch ca. 2,8 Millionen soziale Mietwohnungen und ca. nur da!) 9 Millionen sozialwohnberechtigte Haushalte. An der bedauerlichen Tatsache, daß drei Sozialwohnberech- Als Alternative zum sozialen Mietwohnungsbau tigte auf eine Sozialwohnung kommen, hat sich also gibt es für die, die sich auf dem freien Markt aus nichts geändert. Es gibt daher keinen Grund, der es eigener Kraft nicht selbst versorgen können, doch nur rechtfertigen würde, die Einkommensgrenzen und das viel schlimmere Ghetto der Obdachlosensiedlun- damit auch die Zahl der potentiellen Bewerberinnen gen, der Baracken- oder Containersiedlungen oder und Bewerber heraufzusetzen. Dies wäre erst dann die Pensionen am Stadtrand. Eine solche Art von richtig, wenn es deutlich mehr soziale Mietwohnun- Ghetto bedeutet, keine abgeschlossene eigene Woh- gen gäbe, als dies heute der Fall ist. nung mehr zu haben, das bedeutet den Verlust der Privatsphäre mit all den schlimmen Folgen, die das Der Konkurrenzkampf auf dem sozialen Mietwoh- insbesondere für Kinder und Jugendliche hat. An die nungsmarkt unterscheidet sich nicht wesentlich von von der SPD angeführte Integration ist in der Obdach- dem auf dem sogenannten freien Wohnungsmarkt. losenunterkunft erst recht nicht zu denken. Auch im sozialen Mietwohnungsbau suchen sich die Vermieter die wirtschaftlich stärkeren und gesell- Noch etwas: Sie sollten mit diskriminierenden schaftlich besser situierten Mieterinnen und Mieter Äußerungen über Ghettos vorsichtig sein. Erstens gibt aus. Die besseren Chancen haben diejenigen, deren es durchaus Personengruppen, die sehr gern unter Einkommen ganz oben, dicht an der Einkommens- ihresgleichen leben, z. B. Angehörige verschiedener grenze, liegt, die verheiratet und aus dem Blickwinkel ethnischer Gruppen, und zweitens — hier möchte ich der Vermieter „pflegeleicht" sind. Alleinerziehende, einmal die Stadtökonomin Ruth Becker sinngemäß Kinderreiche und sogenannte Problemfälle bleiben zitieren —: Wer redet denn eigentlich vom Ghetto der auf der Strecke. Wenn das nicht so wäre, dann hätte Villenbesitzer? Wer fordert denn da die soziale Durch- das Parlament ja im Zusammenhang mit dem soge- mischung? nannten Schwangerenhilfegesetz nicht eine Sonder- Meine Damen und Herren, bei dem hier vorliegen- regelung verabschieden müssen, die die bevorzugte den Antrag der SPD soll eine ganz bestimmte Klientel Vergabe von Sozialwohnungen an schwangere- bedient, besser gesagt, befriedet werden: der Arbeit- Frauen regelt. nehmer und seine Familie, derjenige, der noch Arbeit Die Vermieter von Sozialwohnungen verhalten sich hat und dessen Lohn in den letzten Jahren so weit mitunter genauso unsozial wie andere Vermieter. Da gestiegen ist, daß er nicht mehr in den sozialen hat z. B. der Frankfurter Oberbürgermeister Andreas Wohnungsbau hineinkommt. Ich habe nichts dage- von Schoeler, SPD, erst kürzlich die Beschränkung der gen, daß auch diese Gruppen soziale Mietwohnungen Ausländeranteile im sozialen Mietwohnungsbau aus- bekommen. Dazu braucht man aber erst einmal mehr drücklich verteidigt. Das halte ich für inhuman und Wohnungen; das ist hier schon öfter gesagt worden. auch rassistisch. In einem Punkt möchte ich der SPD allerdings recht (Achim Großmann [SPD]: Es liegt eben an geben: Durch den unklaren Einkommensbegriff im den Einkommensgrenzen, weil sonst keiner sozialen Mietwohnungsbau — er liegt irgendwo zwi- mehr einen Wohnberechtigungsschein be- schen brutto und netto — entstehen Ungerechtigkei- kommt, und das ist der soziale Spreng ten zwischen Haushalten, die Steuern, Rentenversi- stoff!) cherung und Krankenversicherung zahlen, und sol- chen, die diese Leistungen nur teilweise erbringen. Ich meine, wer Derartiges propagiert, sollte auf die Deswegen ist der Versuch, einen Einkommensnetto- Teilnahme an der nächsten Lichterkette ehrlicher- begriff zu konstruieren, wie ihn die SPD in Punkt 2 weise lieber verzichten. Aber das nur nebenbei. ihres Antrags vornimmt, im Prinzip richtig. Der Antrag der SPD auf Erhöhung der Einkom- (Achim Großmann [SPD]: Wenigstens ein mensgrenzen würde im Falle seiner Realisierung zur Folge haben, daß noch mehr gutsituierte Haushalte bißchen haben Sie verstanden!) auf dem Sozialmietwohnungsmarkt gegen schlechter Allerdings bezweifle ich, ob ein Abzug von 30 % vom gestellte konkurrieren könnten, was deren Chance, Bruttogehalt gerechtfertigt ist. Ich frage mich erstens, eine Wohnung zu bekommen, noch weiter verringern ob ein Abzug von 10 % für die Steuern nach dem Urteil würde. Das Argument der SPD, daß es notwendig ist, des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge die Be- die Einkommensgrenzen zu erhöhen, um die Heraus- steuerung im unteren Einkommensbereich ohnehin bildung sogenannter Ghettos zu verhindern, ist aus wesentlich verringert werden muß, richtig ist. Ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11509 Christina Schenk kann Sie nur bitten, das bei den Beratungen im lion Wohnungen fertiggestellt worden sind — mit Ausschuß zu prüfen. Zweitens verstehe ich nicht, weiterhin positiver Tendenz. warum Sie für die Krankenversicherung 10 % abzie- Wir erwarten 1993 Fertigstellungszahlen, die deut- hen wollen. So viel kostet diese ja zum Glück noch lich über 400 000 liegen, weil wir auf eine Genehmi- nicht. Derzeit beträgt der Arbeitnehmeranteil 6 % des gungszahl von etwa 450 000 aus dem Jahr 1992 Einkommens. Bei dem Abzug von 10 % für die Ren- zurückblicken können. tenversicherung liegen Sie, meine ich, in etwa richtig, (Uta Würfel [F.D.P.]: Mehr kann doch wohl so daß insgesamt vielleicht ein Einkommensabzug wirklich niemand leisten!) von 15 % angemessen wäre. Gegen eine solche Kor- rektur der Einkommensgrenzen würden wir uns Davon werden etwa 130 000 Sozialwohnungen sein, natürlich nicht sperren. mit öffentlichen Mitteln des Bundes, der L ander und der Gemeinden gefördert. Grundsätzlich sind wir aber weiterhin der Meinung, daß bei der Vergabe von Sozialwohnungen diejeni- (Achim Großmann [SPD]: Aber leider fallen gen den absoluten Vorrang bekommen müssen, die es 150 000 aus der Bindung!) am schwersten haben, auf dem freien Wohnungs- Auch da sind deutliche Anstrengungen zusätzlicher markt eine Wohnung zu bekommen. Die GRÜNEN Art der Bundesregierung in den vergangenen zwei haben in der letzten Legislaturperiode beantragt, daß Jahren, also in meiner Amtszeit, zu verzeichnen. bei der Vergabe von sozialen Mietwohnungen dieje- Im vergangenen Jahr haben wir die Mittel für den nigen Priorität haben sollten, deren Einkommen um sozialen Wohnungsbau auf insgesamt 3,7 Milliarden mindestens 20 % unterhalb der Einkommgensgrenze DM heraufgefahren. Das läßt sich gut sehen im liegt. Zu dieser Position stehen wir nach wie vor. Vergleich mit dem, was zu Beginn der siebziger Jahre Deshalb lehnen wir zumindest Punkt 1 des Antrages Realität gewesen ist, d. h. zu einer Zeit, die heute von der SPD ab. allen mit vielleicht etwas verklärendem Rückblick (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei besonders hochgelobt wird. Abgeordneten der CDU/CSU und der Ich stimme allen zu, die einen besonderen Wert auf F.D.P.) den Werkswohnungsbau legen. Ich bin ja froh, daß die Opposition den Werkswohnungsbau wiederent- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Bundesmi- deckt hat. Ich begrüße das zutiefst. Ich bin übrigens nisterin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, fest davon überzeugt, daß das laufen wird, wenn die Dr. Irmgard Schwaetzer, das Wort. Länder in der Programmförderung jetzt etwas anders handeln, als sie es in den vergangenen Jahren getan haben. Die steuerlichen Fördermöglichkeiten für den Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für Werkswohnungsbau sind nämlich fabelhaft: Es kön- Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Präsi- nen im Zehnjahreszeitraum 85 % der Kosten steuer- dent! Meine Damen und Herren! Die Diskussion um mindernd geltend gemacht werden. die Zahlen am Wohnungsmarkt ist zur Zeit — da gebe ich jedem, der etwas ähnliches sagt, recht — so etwas (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) wie das Stochern im Nebel: Niemand weiß ganz genau, wie groß die Nachfrage ist. Niemand -weiß Vizepräsident Hans Klein: Frau Bundesministerin, ganz genau, wieviel tatsächlich fehlt. Wer hier kon- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen For- krete Zahlen behauptet, wird immer den Beweis dafür manski? schuldig bleiben. Ich sage: leider. Denn in der Tat ist es sehr wichtig, daß wir genaue Zahlen haben. Des- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für wegen, Herr Formanski, verabschieden wir heute das Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Bitte. Wohnungsstatistikgesetz, das die Wohnungsstich- probe für 1993 mit der notwendigen rechtlichen Grundlage versieht. Ich wäre Ihnen dankbar gewe- Norbert Formanski (SPD): Frau Bundesministerin, ist Ihnen die sen, wenn Sie als Konsequenz aus dem, was Sie gesagt Zielvorgabe des Bundeskanzlers aus dem Oktober 1990 bekannt, der vorgegeben hatte, hatten, noch darauf hingewiesen hätten. Aber ich von 1991 bis 1994 zwei Millionen habe nicht gehört, daß Sie dies noch erwähnt hät- neue Wohnungen zu ten. bauen, d. h. pro Jahr 500 000? Sie sagten uns gerade, daß in den letzten drei Jahren knapp eine Mi llion neue (Achim Großmann [SPD]: Wir haben ja noch Wohnungen gebaut worden sind. Haben Sie diese zwei Redner!) Zielvorgabe heruntergesetzt? Wir brauchen diese Zahlen, und deswegen werden wir dieses Wohnungsstatistikgesetz heute mit einem Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für positiven Votum versehen. Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Die Bun- Es ist auch richtig, daß vor allem preiswerte Woh- desregierung hat im. Jahre 1989 eine zusätzliche nungen am Wohnungsmarkt fehlen. Es ist deshalb Förderanstrengung beschlossen, vor allen Dingen im wichtig, daß der positive Trend im Wohnungsbau in freifinanzierten Mietwohnungsbau. In diesem Zusam- den nächsten Jahren weiter anhält. Ich möchte die menhang ist der Begriff „eine Million Wohnungen" Zahlen, die ich hier schon mehrfach vorgetragen gefallen und ist auch von der Opposition immer habe, noch einmal deutlich unterstreichen. Wir haben wieder, wie ich finde, zu Recht aufgegriffen worden. in den vergangenen Jahren Zuwachsraten von etwa Nun stehe ich hier und sage Ihnen: Jawohl, trotz aller 20 % von Jahr zu Jahr zu verzeichnen gehabt. Das anfänglichen Kritik und trotz aller Bedenken — wir bedeutet, daß im Dreijahreszeitraum etwa eine Mil schaffen das, wir machen das. Wir lassen in unseren 11510 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer Anstrengungen nicht nach, sondern im Gegenteil: Wir sozialen Gerechtigkeit vorgeht. Wer ein höheres gehen in den nächsten Jahren mit den gleichen Einkommen hat, müßte, wenn er öffentliche Förder- Anstrengungen heran, trotz finanzieller Engpässe. mittel bezieht, eigentlich in der Lage sein, einen angemessenen Anteil seines Einkommens für seine (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wohnung einzusetzen. Deswegen bin ich mir zwar darüber im klaren, daß wir die nach wie vor existierenden Probleme, die ja nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne bestritten werden, sicherlich nicht auf einen Schlag ten der CDU/CSU) lösen können. Aber ich bin ganz zuversichtlich, daß Deswegen brauchen wir mehr Flexibilität im Förder- wir uns auf dem richtigen Weg befinden und daß wir system des sozialen Wohnungsbaus. die Wohnungsprobleme überwinden werden, weil wir mit unseren Anstrengungen nicht nachlassen. (Achim Großmann [SPD]: Damit haben wir keine Probleme!) Lassen Sie mich zum Werkswohnungsbau zurück- kommen. Ich will das noch einmal unterstreichen: Die Das Konzept habe ich mit dem Vorschlag einer steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten mit 85 % in Weiterentwicklung des Fördersystems im vergange- zehn Jahren sind wirklich ein sehr, sehr guter Anreiz. nen Jahr vorgelegt. Die L ander sind an diesem Weg Woran es hapert, ist die Direktförderung, und hier ist grundsätzlich interessiert. ganz klar: Wer Werkswohnungen bauen will, muß das (Achim Großmann [SPD]: Aber auch an einer von den Ländern genehmigen lassen. Dabei verfahren Erhöhung der Einkommensgrenzen sind die die Länder meist nach altbekannter bürokratischer Länder interessiert!) Manier und außerdem im ersten Förderweg. Damit sind Sie bei den starren Einkommensgrenzen. Das Ich will ihn noch einmal ganz kurz beschreiben: Die heißt, damit sind Sie da, wo die Firmen sagen, daß das Förderung soll danach aus einer Grundförderung, die für sie nicht attraktiv ist. eine Miete am unteren Rand der ortsüblichen Ver- gleichsmiete erlaubt, bestehen. Wer das zahlen kann (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!) und in einer Sozialwohnung wohnt, der sollte diese Das heißt, hier liegt es an den Ländern. Sie müssen Miete zahlen. Wer nach seinem Einkommen diese jetzt endlich ihre Verantwortung erfüllen. Miete nicht bezahlen kann, bekommt eine Zusatzför- derung, die sich an seinem Familieneinkommen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) orientiert, also eine subjektorientierte Förderung. Die Länder müssen etwas tun! Sie haben Nordrhein- Dies ist genau die soziale Gerechtigkeit, die wir Westfalen gerade so hochgelobt. Ich hoffe, daß die brauchen. Darüber hinaus wird das Ärgernis der Frau Kollegin Brusis diesen Weg tatsächlich mit gro- Fehlbelegung von vornherein vermieden, und das, ßer Entschiedenheit einschlägt. Dann werden Werks- denke ich, ist notwendig in dieser Zeit knapper wohnungen gebaut. Wo sie heute gebaut werden, Mittel. werden sie deshalb gebaut, weil der Bund diese (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) fabelhaften steuerlichen Regelungen getroffen hat. Wir werden in diesem Frühjahr mit den Ländern (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Proberechnungen für diesen Förderweg durchführen. - Lassen Sie mich zu den Einkommensgrenzen kom- Ich bin ganz zuversichtlich, daß es noch in diesem Jahr men. Die Einkommensgrenzen, wie sie im ersten gelingen wird, deutliche Fortschritte in Richtung auf Förderweg festgelegt sind, sind genauso wie die die Einführung eines solchen Systems zu machen. starren Bewilligungsmieten ein Kennzeichen des Übrigens: Das System wird ja auch von jemandem alten Fördersystems des sozialen Wohnungsbaus in unterstützt, der mir parteipolitisch überhaupt nicht den vergangenen 40 Jahren. Die Frage ist, ob das noch nahesteht, nämlich dem Präsidenten des Gesamtver- in die heutige Zeit paßt. Ich will übrigens der guten bandes der Wohnungswirtschaft, der ja von sich aus Ordnung halber darauf hinweisen, daß der erste auch immer sagt, daß das starre Fördersystem mit den Wohnungsbauminister dieser Republik, Herr Wilder- starren Einkommensgrenzen zwischen den Sozial- muth, ein Liberaler, das Gesetz über den sozialen wohnungen mit 7,50 DM pro Quadratmeter und dem Wohnungsbau eingeführt hat. Ich finde, das war eine frei finanzierten Mietwohnungsbau mit Mieten zwi- phantastische Tat. schen 12 und 20 DM pro Quadratmeter die Eiger Nordwand erst aufrichtet, die für viele dann nicht (Achim Großmann [SPD]: Es gibt solche und mehr übersteigbar ist. Da sind wir uns in der Analyse solche Liberale!) völlig einig. Gehen Sie mit uns den Weg auf ein Wir brauchen sozialen Wohnungsbau, auch in der flexibleres Fördersystem mit mehr sozialer Gerechtig- Zukunft. Aber wir brauchen einen sozialen Woh- keit! nungsbau, der die Mittel effizient einsetzt und der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — außerdem zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt. Achim Großmann [SPD]: Das tun wir ja! Aber (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — das steht heute nicht zur Debatte!) Uta Würfel [F.D.P.]: Genau das ist es!) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein Dem ersten Förderweg liegt die Vorstellung Wort zu den Anträgen der PDS sagen: Die Mietenre- zugrunde, daß alle etwa gleich gefördert werden form, die in einem zweiten Schritt jetzt in den östlichen müßten, und zwar gleichgültig, ob sie 1 500 oder 2 500 Bundesländern durchgeführt worden ist, ist für dieje- DM im Monat verdienen. Aber das kann doch nicht nigen, die davon betroffen waren — und das ist eben vernünftig sein, wenn man nach den Maßstäben der fast die gesamte Bevölkerung in den östlichen Bun- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11511

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer desländern — sicherlich ein schwieriger Schritt. Des- Trotzdem gibt es einen gemeinsamen wohnungspoli- sen waren wir uns von vornherein bewußt. tischen Nenner zwischen Ost und West: Deswegen haben wir ja auch in sehr langen Diskus- Erstens. Die ausreichende Wohnungsversorgung sionen nicht nur das System dieses Schrittes mit den für unsere Bürger ist eine Grundvoraussetzung für den Zuschlägen, die sich an der Qualität der Wohnung sozialen Frieden in unserem Land. Es steht außer orientieren, entwickelt, sondern wir haben auch in Frage, daß jeder Mensch menschenwürdig wohnen einem Diskussionsprozeß mit den östlichen Ländern muß und soll und daß deshalb auch die Wohnungs- jeden einzelnen Bestandteil dieses Mieterhöhungs- politik sozialpolitische Ziele zu verfolgen hat. schrittes abgeklopft. Was jetzt Anwendung findet, ist von Bund und Ländern gleichermaßen verabschiedet (Beifall bei der CDU/CSU) worden. Das heißt, es handelt sich hier um eine Nach dem Zusammenbruch des realexistierenden einvernehmliche Entscheidung zwischen der Bundes- Sozialismus und dem Scheitern der Kommandowirt- regierung und dem Bundesrat. Es haben also zuge- schaft ist zwischenzeitlich unstrittig: Die Soziale stimmt: CDU, CSU, SPD und F.D.P. Marktwirtschaft ist das bessere System, um Wohnun- (Achim Großmann [SPD]: Und Bündnis 90!) gen zu produzieren. Ich habe auf einer Diskussionsveranstaltung ge- Zweitens. Unser Ziel muß sein, für ein möglichst stern abend in Chemnitz außerdem auch erfahren, vielfältiges Wohnungsangebot flächendeckend in daß unsere Erwartungen in die soziale Abfederung ganz Deutschland zu sorgen. durch das Sonderwohngeldgesetz, das ja noch einmal für diesen Mietenschritt verbessert worden ist. in Drittens. Bei den gewaltigen Belastungen, die auf vollem Umfang zutreffend gewesen sind. Das Sonder- die öffentlichen Haushalte zukommen werden, ist wohngeld erfüllt seine soziale Aufgabe. allein mit dem Geld des Steuerzahlers der Wohnungs- bedarf nicht zu decken. Wir brauchen p rivates Kapi- Trotzdem gibt es in Einzelfällen schwierige Situa- tal. tionen, für die dann im Einzelfall auch andere Rege- lungen getroffen werden müssen. Deswegen wünsche Die veränderten Rahmenbedingungen der letzten ich mir, daß die Gemeinden in den ostdeutschen Jahre, die zu den Engpässen am Wohnungsmarkt Bundesländern denjenigen, die aus einer großen führten, kennen wir: Zuwanderung aus allen Him- Wohnung in eine kleine Wohnung ziehen wollen, weil melsrichtungen nach Deutschland; der Zerfall der ihre Miete in der Tat einen unerträglich hohen Anteil Familien führt zu Scheidungsziffern, die uns erschrek- ihres Einkommens aufzehren würde, hilft, eine klei- ken müssen — in den Ballungszentren im Schnitt bis nere Wohnung zu finden. Ich wünsche mir, daß sie zu 50 %; die Zahl der Alleinerziehenden nimmt dra- beim Wohnungstausch behilflich sind. Dies kann man matisch zu; zugleich öffnet sich am anderen Ende mit auf der Ebene der Gemeinde auch dadurch noch dem Drang zur Individualisierung eine weitere Nach- verbessern, daß man Umzugshilfen zahlt. Ich meine, fragelücke. daß dies ein vernünftiger Punkt ist. Inzwischen liegt die Zahl der Single-Haushalte in (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Nordrhein-Westfalen über der Zahl der Familien mit Letzte Bemerkung: Ich habe bei meinen Diskussio- Kindern. Um das Paradox vollständig zu machen: Wir nen auch den Eindruck gewonnen, daß die Verlänge-- haben statistisch gesehen im Westen eine Inanspruch- rung des besonderen Kündigungsschutzes, der für die nahme von Wohnraum von 37 qm/Person. So drücken ostdeutschen Bundesländer jetzt bis 1995 angelegt ist, wir unseren Wohlstand aus und definieren gleichzei- auch dort seine Funktion erfüllt. Ich hoffe sehr, meine tig unsere Schwächen in der Gesellschaft. Damen und Herren, daß wir es durch Information und Für eine zeit- und situationsgemäße Wohnungs- Aufklärung gemeinsam erreichen können, unberech- politik hat die Bundesregierung in den letzten Jahren tigte Ängste von Mietern abzubauen. Ich wünsche erfolgreiche Beiträge geleistet. So wird der soziale mir, daß alle Beteiligten, Politiker genauso wie der Wohnungsbau, Herr Formanski, 1993 wie im Vorjahr Mieterbund, mithelfen, dieses Ziel auch weiter durch- in den alten Ländern mit 2,7 Milliarden DM Bundes- zusetzen und zu erreichen. mitteln gefördert. Das ist fast doppelt soviel wie am Ich danke Ihnen. Ende der sozialliberalen Koalition. Hinzu kommt eine (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Milliarde DM für die neuen Länder. (Zuruf von der SPD: Aber da war die Woh Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege nungsnot auch noch nicht so groß!) Peter Götz. Wir können auch in Zukunft auf die Direktförde- rung neuer Mietwohnungen nicht verzichten, damit Peter Götz (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kol- keine Kluft zwischen denen entsteht, die gut mit leginnen und Kollegen! Wenn wir uns heute erneut Wohnungen versorgt sind und den vielen wohnungs- über verschiedene Themen des Wohnungsbaus unter- suchenden Familien mit kleinen und mittleren Ein- halten, wie über das dringend zu verabschiedende kommen. Wohnungsstatistikgesetz, über die verschiedensten Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Anträge zum sozialen Wohnungsbau, zum erweiter- Mittel für den Wohnungsbau möglichst zielgenau und ten Kündigungsschutz und zum Wohngeld Ost bis zu effektiv einsetzen zu können, brauchen wir — die Frau der zu lösenden Frage der Altschulden, so macht dies Ministerin hat das angesprochen — einen neuen die unterschiedlichen Ansätze im Bereich des Woh- sozialen Wohnungsbau, einen sozialen Wohnungs- nungsbaus in den alten und neuen Ländern deutlich. bau in neuer Form. Wir brauchen eine Förderung, die 11512 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Peter Götz sich nicht nur auf ganz enge Zielgruppen beschränkt, Schon aus ökologischen Gründen müssen selbstver- eine Förderung, die mit marktnäheren Mieten gleich- ständlich alle Ansätze zum kosten- und flächenspa- zeitig finanzierbar bleibt und die sozial gerechter ist, renden Bauen, zur Wohnraumschaffung im Bestand indem sie sich flexibel und treffsicher auf die jeweili- — Dachgeschoßausbau und ähnliche Maßnahmen — gen Bedürfnisse der Wohnungssuchenden einstellt. genutzt werden. Eine sozialverträgliche Lösung der Ansprüche an das Wohnen ist ohne neue Baufläche (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) jedoch nicht möglich. Dies wird nicht ohne Konflikte Wenn wir das Ärgernis der Fehlbelegungen von gehen; das wissen wir. Sozialwohnungen weitgehend vermeiden wollen, Bei der Baulandausweisung müssen sich die Städte muß im Ergebnis die Förderung stärker einkommens- und die dort lebenden Menschen an der Frage messen abhängig differenziert werden. Das heißt: Künftig lassen, wie sie es mit der Solidarität mit ihren woh- sollte die Förderung des sozialen Wohnungsbaus aus nungssuchenden Mitmenschen halten. Hier sind den beiden Elementen, der Objekt- und der Subjekt- rasche unkonventionelle Verfahren, Fristenverkür- förderung, bestehen. Der Vorschlag von Ihnen, Frau zung und Genehmigungserleichterungen für Ost und Ministerin, im Frühjahr Modellversuche mit dieser West dringend gefordert. Förderung durchzuführen, ist nur zu begrüßen; denn (Beifall bei der CDU/CSU) damit wäre gewährleistet, daß ein Vermieter verläß- lich kalkulieren kann, daß der Mieter seinen Einkom- Die Koalitionsfraktionen haben den Entwurf eines mensverhältnissen entsprechend weniger belastet Gesetzes zur Erleichterung von Investitionen, Aus- wird und, was auch noch wichtig ist, daß mit den weisung und Bereistellung von Wohnbauland einge- gleichen öffentlichen Mitteln mehr Wohnungen sozial bracht. Mit der intensiven Beratung werden wir nach treffsicher entstehen können. einer auf kommenden Montag angesetzten Anhörung in der nächsten Woche im Bauausschuß des Deut- Daneben muß selbstverständlich das Wohngeld für schen Bundestages beginnen. Der Bundesrat hat in die soziale Flankierung einkommensschwacher seiner gestrigen Sondersitzung zu diesem Gesetzent- Haushalte in allen Teilbereichen des Wohnungsmark- wurf seine grundsätzliche Zustimmung signalisiert. tes bleiben. Damit viele, vor allem Familien, den Wir möchten Sie, meine Damen und Herren von der Wunsch nach Wohneigentum realisieren können, Opposition, im Interesse vieler Wohnungssuchender brauchen wir auch in Zukunft eine wirksame staatli- in unserem Land sehr herzlich bitten, unsere Wohn- che Förderung in diesem Bereich. bauland-Offensive nicht zu torpedieren, sondern kon- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist reali struktiv mitzuwirken. Wir geben damit den Städten stisch!) und Gemeinden die dringend erforderlichen, verbes- serten Rahmenbedingungen an die Hand, so daß mehr Der Anteil im Eigentumsbereich liegt bei uns bei bezahlbares Wohnbauland zur Verfügung gestellt 33 %. Das zeigt den dringenden Handlungsbedarf werden kann. auch im Vergleich mit unseren europäischen Nach- Dieses Artikelgesetz enthält vielfältige Möglichkei- barn. ten, die kommunale Selbstverwaltung zu stärken, Wenn in den vergangenen drei Jahren eine Million gleichzeitig mit dem Abbau bürokratischer Hemm- Wohnungen neu gebaut wurden, so ist dies,- Herr nisse Bauland zu mobilisieren und die davongaloppie- Formanski, ein hervorragendes Ergebnis und auch, renden Preise am Immobilienmarkt einzufangen. Nur Frau Ministerin, eine Bestätigung für die Richtigkeit durch die Schaffung von zusätzlichem finanzierbaren der von der Bundesregierung und den Koalitionsfrak- Wohnraum erhalten wir bezahlbare Mieten. Packen tionen in den letzten Jahren eingeleiteten Wohnungs- wir es doch gemeinsam an! politik. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Norbert Formanski [SPD]: Es wurde eine Million in zwei Jahren versprochen!) Vizepräsident Hans Klein: Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Trotzdem, Herr Formanski, ist die Schere zwischen Dr. Joachim Grünewald, hat das Wort. Angebot und Nachfrage damit noch lange nicht geschlossen. 1992 sind fast 700 000 Menschen in Deutschland eingewandert. Sie alle wollen mit Wohn- Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär beim raum versorgt werden. Die Zahl der Obdachlosen wird Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Werte auf über eine Million geschätzt. Diese wenigen Zah- Kolleginnen und Kollegen! Aus dem Komplex der len machen deutlich, daß alle Verantwortlichen in bisher behandelten Themen will ich mich nur einer unserer Gesellschaft zum H andeln aufgefordert brennenden und hochaktuellen Frage zuwenden, sind. nämlich der Altschuldenproblematik in den jungen Ländern. (Zuruf von der CDU/CSU: Den Verfall im Osten nicht vergessen!) Hier wurde eben gesagt, die Bundesregierung sähe bezüglich der Altschuldenproblematik keinen Rege- Mit der Wohnungsbauland-Initiative der Bundes- lungsbedarf. Sowohl die Bauministerin als auch der regierung und der Koalitionsfraktionen verbessern Finanzminister haben diesen Regelungsbedarf nie wir die Grundvoraussetzung; denn Wohnungsbau bestritten und haben sich bisher alle erdenkliche braucht ausreichend erschlossenes Bauland, sonst Mühe zur Lösung dieses Problems gegeben. Wir nützen die besten Förderprogramme nichts. wissen allzu genau, daß diese Altschuldenproblema- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. 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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald tik neben den administrativen Engpässen und den Wie sieht es aus? Es hat drei Elemente. Wir wollen Eigentumsverhältnissen das Investitionshemmnis in zum einen die Altschulden unternehmensbezogen der Wohnungswirtschaft ist. kappen. Im Gespräch ist die Kappung bei 350 DM pro Quadratmeter; der darüberliegende Betrag soll dem Nur damit man weiß, über welche Dimension wir Sonderrechtsvermögen der Länder zugeführt werden. hier reden: Zum Zeitpunkt der Wähungsunion belie- Die Zinsen sollen von Bund und jungen Ländern fen sich die Altschulden auf 36 Milliarden DM. Der gemeinsam getragen werden. Bund hat außerhalb seiner finanzverfassungsrechtli- chen Zuständigkeit ein Moratorium angeregt, wel- Die spätere Tilgung soll dann schrittweise aus den ches nun per ultimo 1993 ablaufen wird. Dann werden Privatisierungserlösen erfolgen. Für die bei den Kom- sich die Altschulden auf 51 Milliarden DM belaufen, munen und Genossenschaften verbleibenden Alt- die im Grunde genommen ab 1. Januar 1994 bedient schulden — es verbleiben immer noch welche — werden müßten. wollen wir zeitbefristete Zinshilfen gewähren. Wegen der durch Mietanpassung und die schon erwähnte Das hat zur Folge, daß die Wohnungsunternehmen Privatisierung zunehmenden Verbesserung der Ein- schon heute nicht mehr kreditfähig sind. Auch die kommensverhältnisse sollen diese Zinshilfen abneh- Kommunen haben zunehmend kommunalaufsichts- men. Die Finanzierung dieser Zinshilfen ist zwischen rechtliche Schwierigkeiten bei der Aufnahme von Bund, Ländern und Gemeinden gedreiteilt vorgese- Krediten mit der weiteren Folge, daß es im Wohnungs- hen. bau in den neuen Ländern zu dringend notwendigen Das dritte, auch aus unserer Sicht wichtige Element Modernisierungs - und Investitionsmaßnahmen nicht kommt. Deswegen ist zwischen allen Beteiligten ist die Privatisierung. Daß sich Herr Seifert dieses unstreitig, daß wir eine rasche Lösung erreichen Element nun gar nicht zu eigen machen kann, ver- müssen. wundert in diesem Hause selbstverständlich nieman- den. Wir sind aber in diesem Punkt nun wirklich mit Nun hat eben Herr Dr. Seifert gemeint — das ist allen Beteiligten, mit den Ländern und den Gemein- auch Gegenstand des Antrages —, man könne die den, völlig einig, daß es auch wegen der breiten Schulden einfach streichen, sie vergessen oder in Eigentumsstreuung, wie wir sie im Westen haben, zu öffentliche Förderzuschüsse umwandeln. Genau das einer nachhaltigen Privatisierung kommen soll. kann man natürlich nicht tun. (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/Linke (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Doch!) Liste]) — Wenn Sie meinen, daß man das doch tun könne, Im übrigen ist das im Einigungsvertrag so festge- muß ich Ihnen in Anlehnung an das, was eben die Frau schrieben. Wir wissen doch allzu genau — mit Sicht Bauministerin gesagt hat, sagen, daß auch die Bürger auf den Zwischenruf: Ich weiß aus vielen Zuschriften, im Westen — Solidarität ist keine Einbahnstraße — in die wir im Finanzministerium täglich erhalten, daß genossenschaftlichen und kommunalen Wohnungen sich Mieter dafür interessieren, die Wohnungen, in leben, die teilweise fremdfinanziert sind. Auch sie denen sie jetzt leben, erwerben zu können —, daß müssen ein Drittel ihres verfügbaren Einkommens für diese breite Eigentumsstreuung auch im Sinne einer das Wohnen ausgeben. Das kann im Osten nicht Vermögensanlage gewünscht ist und, wie wir im anders sein als im Westen. Westen alle wissen, natürlich die Mieter vor Mieter- höhungen in der Zukunft schützt. Insbesondere mobi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lisiert sie — das wurde schon in anderen Zusammen- Im übrigen wäre das bei den Dimensionen — ich habe hängen gesagt — notwendiges Kapital zur weiteren die Zahlen genannt — fiskalisch überhaupt nicht Wohnungsbaufinanzierung. möglich und auch nicht gerecht; denn diesen Bela- Voraussetzung ist, daß nun endlich einmal die stungen stehen Nettovermögenswerte gegenüber. jungen Länder und die Kommunen diese Altschulden Das ist etwas anderes als z. B. die Finanzschulden von anerkennen. Dies ist aber leider umstritten; es wurde Kreditabwicklungsfonds oder Treuhandanstalt, da gerade auf das Gutachten von Herrn Professor Rupert hier die verbleibenden Vermögenswerte die Altschul- Scholz hingewiesen. Deswegen wollten wir an sich die den sogar überwiegen. Frage offenlassen, damit wir uns möglichst bald einer Ich deutete schon an: Das ist verfassungsrechtlich Lösung nähern können. eine Frage der Länder. Gleichwohl ist der Bund bereit, Wir müssen die Unternehmen der Wohnungswirt- an einer, wenn Sie so wollen, politischen Lösung schaft unbedingt in die Situation stellen, daß sie schon mitzuwirken, um der Wohnungswirtschaft und natür- sehr schnell bilanzwirksame Maßnahmen ergreifen lich auch den Mietern zu helfen. können. Wir müssen auch erreichen — ich habe mir in Wir hatten zunächst eine befristete Überbrückungs- mehreren Kommunalkonferenzen große Mühe gege- hilfe angeboten. Das ist von den neuen Ländern nicht ben —, daß die Kommunen endlich bereit sind, den angenommen worden. Im Dezember haben sich dann Genossenschaften die notwendigen Grundstücke Bauministerin und Finanzminister in zwei intensiv auch zu angemessenen Preisen zu übertragen. geführten Verhandlungen mit den Bau- und Finanz- Ich sagte schon: Über die Eilbedürftigkeit dieser ministern der neuen Länder unterhalten und ein Problematik sind wir uns völlig im klaren. Deswegen neues Lösungskonzept vorgelegt, das Herr Seifert haben wir miteinander vereinbart, daß wir eine eben als unzureichend oder gar diffus umschrieben Lösung anstreben wollen, wie immer sie denn ausse- hat. Darauf kann ich nur erwidern, daß er das Konzept hen wird. Wir müssen mit den Ländern und Gemein- nicht gesehen hat. den etwas verabreden, damit spätestens nach Ablauf 11514 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald der Bau-Winterperiode 1992/93 nun auch die Investi- Problems der Altschulden in der Wohnungswirtschaft tionen beginnen können. der ostdeutschen Länder. Wir können nicht erkennen, Ich bin ganz sicher, daß, Frau Bauministerin, unser daß sich auf diesen Feldern im vergangenen Jahr gemeinsamer Vorschlag eine außerordentlich ausge- Entscheidendes bewegt hat. Im Gegenteil, es scheint, wogene Lösung enthält. Er ist ein Kompromiß. Er als würden der soziale Sprengstoff, der hier liegt, und bedeutet für die Unternehmen der Wohnungswirt- der soziale Stellenwert, den Mieten und Wohnen als schaft eine Investitionsverträglichkeit, er bedeutet für eine der zentralen sozialen Fragen inzwischen in ganz die Mieter eine Sozialverträglichkeit, und er bedeutet Deutschland haben, doch nicht so recht zur Kenntnis für uns alle als Steuerzahler auch eine fiskalische genommen. Zumindest wird in diesem Sinne nicht Verträglichkeit. Auf diese Komponenten müssen wir energisch gehandelt. Statt Probleme wie das der alle miteinander Rücksicht nehmen. Altschulden in vertretbarer Form zu lösen, ist die Situation bisher durch Liegenlassen verschärft wor- Schönen Dank. den. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Achim Großmann [SPD]: Leider wahr!) Statt dessen hat sich die Bundesregierung in letzter Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin Zeit zunehmend mit hausgemachten Problemen und Dr. Christine Lucyga. am meisten mit sich selbst befaßt. Ich habe manchmal den Eindruck, daß die Debatte über Personen inklu- sive des wechselseitigen Ausstellens von Persilschei- Dr. Christine Lucyga (SPD): Herr Präsident! Ver ehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, nen, nicht aber die Sacharbeit das Thema ist, das die ich war eigentlich ganz optimistisch, als ich las, daß Regierung am meisten beschäftigt. Sie kurzfristig auf die Rednerliste gekommen sind, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS weil ich mir einen richtigen Knüller zu den Altschul- 90/DIE GRÜNEN — Zuruf von der SPD: den erhofft hatte. Ich stelle fest: Im Westen nichts Völlig handlungsunfähig!) Neues. Oder sollten diese Inszenierungen sogar noch will- Es wäre mir auch lieber, ich könnte für die hier zur kommen sein als, wie ein von mir wegen seiner Debatte stehenden Drucksachen der PDS zu der kultivierten Federführung sehr geschätzter Jou rnalist Feststellung kommen, die für die Drucksache 12/1974 schreibt, Versuch einer scheinbaren Aufklärung, in zur Verlängerung des besonderen Kündigungsschut- der Absicht zu vertuschen, und zwar zu vertuschen, zes gilt, nämlich daß inzwischen ein Beschluß des daß die Politik der Bundesregierung schon längst Deutschen Bundestages vorliegt, durch den sich der neben den Realitäten liegt? Antrag bis auf weiteres erübrigt. Ich könnte es mir leicht machen, indem ich für die (Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn die Anträge zur Verschiebung der zweiten Mietsteige- Debatte vom Zaun gebrochen? Doch Sie!) rung und zur Nachbesserung des Wohngeldsonderge- Sie liegen in vielen Dingen total daneben. setzes konstatiere, daß die inzwischen in Kraft getre- tene Zweite Grundmietenverordnung plus Wohn- (Hans Raidel [CDU/CSU]: Sie leben von geldsondergesetz diese Anträge inzwischen- zumin- diesen Realitäten, und zwar gar nicht so deste überholt haben. Ich möchte aber, mindestens schlecht!) was den Antrag auf Nachbesserung des Wohngeld- Eine Regierung und eine Bauministerin, die sich sondergesetzes angeht, nachdrücklich feststellen, daß selbst eine erfolgreiche Poltik bescheinigen, weil es wir angesichts der beginnenden Tarifverhandlungen außer ihnen niemand tut, kranken an einem beängsti- die Einkommensentwicklung sehr kritisch verfolgen genden Realitätsverlust, zu dem zeitweilig auch ein und uns sofort für ein verbessertes Wohngeldsonder- Gesichtsverlust hinzukommt. gesetz stark machen werden, wenn Einkommensent- wicklung, Mietsteigerungen und Wohngeldregelun- (Hans Raidel [CDU/CSU]: Im Rheinland sagt gen nicht mehr miteinander in Einklang stehen. man, Sie läuft neben der Kapp'!) (Beifall bei der SPD) Es wird aber Zeit, die Realitäten in Deutschland zur Spätestens der Antrag zu den Altschulden der Kenntnis zu nehmen. Nur so können praktikable Wohnungswirtschaft in den ostdeutschen Ländern Lösungen gefunden werden. legt allerdings auch nahe, hier eine wohnungspoliti- Ich komme zurück auf das seit nunmehr fast zwei sche Grundsatzdebatte zu führen; denn im Rückblick Jahren betriebene Tauziehen um die Altschulden der auf die vergangenen zwei Jahre sehen wir immer ostdeutschen Wohnungswirtschaft und stelle fest: Das wieder, daß wir zu Beginn der zweiten Legislatur- ist eine der traurigsten wohnungspolitischen Fehllei- periode mit zunehmend schwierigen und mit vielen stungen, die wir bisher überhaupt erlebt haben, mit ungelösten Problemen der Wohnungspolitik konfron- Auswirkungen in den sozialen und in den arbeits- tiert sind. marktpolitischen Bereich hinein. Die Handlungs- und Wir müssen uns vor diesem Hintergrund ganz Entscheidungsschwäche der Bundesregierung kann einfach fragen, wo denn das wohnungspolitische die ostdeutschen Mieter und die Wohnungsunterneh- Gesamtkonzept der Bundesregierung ist, wo die men noch teuer zu stehen kommen; denn angesichts wohnungspolitischen Schwerpunkte gesetzt werden der alarmierenden Finanznot der ostdeutschen Woh- angesichts eskalierender Mieten und um sich greifen- nungswirtschaft und der Kommunen und angesichts der Wohnungsnot in bisher unbekannten Größenord- der Tatsache, daß die Mieter seit Inkrafttreten der nungen und auch des bisher immer noch ungelösten Zweiten Grundmietenverordnung zum Teil schon Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11515

Dr. Christine Lucyga jetzt finanziell überfordert sind und Einkommenszu- Besitzstand, zu dem nun einmal die Wohnung gehört, wächse in Ostdeutschland offenbar nicht so erfolgen nicht angetastet werden darf. wie angenommen, ist es unverantwortlich, wenn die Bundesregierung, die jetzt in der Pflicht steht, eine Wohnen ist ein Grundrecht, das Dach über dem zumutbare und politisch vertretbare Lösung des Alt- Kopf eine Grundvoraussetzung für Menschenwürde, schuldenproblems vorzulegen, nicht handelt. Dabei die durch das Grundgesetz geschützt wird. Sie sollten geht es nicht nur um ein fiskalisches Problem, sondern sich mit uns dafür einsetzen, daß das Grundrecht auf auch um ein Problem des politischen Willens. Es muß Wohnen in der Verfassung verankert wird. politisch gewollt sein. Angesichts der bekanntgewordenen Pläne zu Hier kommen wir immer wieder mit neuen wider- einem sogenannten Solidarpakt, der in seinen Eck- sprüchlichen, unlogischen und auch unsozialen Vor- werten zutiefst unsolidarisch zu werden scheint, wer- schlägen in Berührung, sei es die einfache Verlänge- den wir Sozialdemokraten sehr genau darauf achten, rung des Zinsmoratoriums, die auf ein weiteres daß die soziale Flankierung des Wohnens erhalten Anwachsen des Schuldenbergs hinausliefe, sei es die bleibt, da das Recht auf Wohnen ein Teil der sozialen unausgegorene Fondslösung, sei es die mehr als Gerechtigkeit ist, ohne die der gesellschaftliche Kon- anfechtbare — weil schlicht und einfach unseriöse — sens zerbricht. Privatisierungsvariante. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Daß die Frauenministerin auch noch ihren Senf 90/DIE GRÜNEN) dazugeben und den Verkauf der schuldenbelasteten Soziale Gerechtigkeit bedeutet gegenwärtig auch Plattenwohnungen al s gold ene Idee bej ubeln muß ist in ganz besonderem Maße soziale Gerechtigkeit zwi- eine Platitüde, die sie sich besser verkniffen hätte, es schen West und Ost. Es ist doch an Zynismus schwer- sei denn, die Kabinettsmitglieder machten jetzt schon lich zu überbieten, wenn jetzt diejenigen zur Kasse gegenseitig Werbung füreinander. gebeten werden sollen, die auch vorher immer am (Gudrun Weyel [SPD]: Ein guter Gedanke!) meisten geschröpft worden sind. Nachdem in DDR Zeiten die Bürger billige Wohnungsmieten durch Seit Anfang des vergangenen Jahres werden wir Niedriglöhne und -gehälter erkaufen mußten, sind die über die Presse mit Ankündigungen aus dem Hause Vorstellungen der Bundesregierung, sie zur Tilgung der Bauministerin verwöhnt, in denen mit schöner der Altschulden mit heranzuziehen, fast so etwas wie Regelmäßigkeit die Rede davon ist, daß die Ministerin eine zusätzliche Geldbuße für den damaligen Lohn- eine Lösung der Altschuldenproblematik fordert, verzicht. Das kann im Ernst niemand beabsichtigen. obwohl es doch eigentlich ihr Job als Ministerin sein müßte, eine Lösung durchzusetzen. Das Altschuldenproblem auf die Mieter abzuwälzen (Rolf Rau [CDU/CSU]: Sie hat nur die Finan darf kein Thema sein; nein, bei den Altschulden darf zen nicht!) es nur eine faire Lösung geben. Höhepunkt war am 7. November die Ankündigung, Schließlich dürfen wir auch nicht vergessen, daß es daß das Bundeskabinett die Bauministerin beauftragt die Bundesregierung ist, die durch ihre Sturheit bis habe, bis Anfang 1992 ein Konzept zur Lösung der jetzt eine Lösung blockiert hat. Sollen vielleicht am Altschulden vorzulegen. Auf das Konzept warten- wir Ende die Mieter oder die finanzschwachen Woh- noch. nungsunternehmen dafür aufkommen, daß der Schul- denberg immer munter weiterwächst? Dadurch, daß Nach allem, was uns dazu bisher auf den Tisch viel zu lange auf einem juristisch anfechtbaren und gekommen ist, fordert die Bundesregierung die vor allem politisch nicht durchsetzbaren Standpunkt Lösung des Problems offenbar von den anderen. Die beharrt wurde, ist das Problem erst verschärft worden. anderen, das sind bei der unsozialen Politik, die wir Schon aus diesem Grunde kann die hier vorgetragene erleben, oft die Schwächsten. Oder wie sollen wir Haltung der Bundesregierung zur Altschuldenfrage denn die Ankündigung verstehen, daß nach Einschät- politisch nur falsch sein. zung der Bundesregierung ab 1995 auch Mieter einen Beitrag zum Schuldendienst leisten können? Im übrigen läßt die Bundesbauministerin an der ungeklärten Rechtslage keinen Zweifel, wenn sie Wer solche Überlegungen anstellt, in einer Zeit, in gesprächsweise einräumt, daß mit einer Klärung der der die ostdeutschen Mieter — und nicht nur sie — Altschuldenproblematik frühestens in sechs bis acht durch schmerzhafte Mieterhöhungen bei gleichzeiti- Jahren zu rechnen sei. gen Einkommenseinbußen, u. a. durch den Verlust des Arbeitsplatzes und durch Verluste an sozialem (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Eine Besitzstand, schwer verunsichert sind — und das, gerichtliche, Frau Lucyga!) obwohl die Herkunft der nach wie vor umstrittenen Altschulden juristisch noch nicht geklärt ist —, handelt — Ich kann es Ihnen zitieren: „Neue Zeit", Oktober politisch instinktlos und auch fahrlässig. 1992. Ich habe alles sehr genau nachgelesen. Was eigentlich soll den Menschen im Osten noch (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Ich bin zugemutet werden, die jetzt schon zum zweiten Mal nicht verantwortlich für das, was die an die Suppe auslöffeln müssen, die ihnen durch die Unfug abdrucken!) Kriegsfolgen und durch die deutsche Teilung einge- — Ich schicke es Ihnen zu. brockt wurde? Gerade in dieser Zeit allgemeiner großer Verunsicherung und existentieller Nöte sollten Das legitimiert noch weniger Prinzipienreiterei, Sie den Menschen das Gefühl geben, daß der soziale statt Abhilfe zu schaffen. 11516 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Dr. Christine Lucyga Vorschläge gibt es von verschiedenen Seiten. Der Jahren allein 40 Milliarden DM investieren. Das wäre Vorschlag der SPD, die Altschulden analog zum wirklich ein willkommener Beitrag zum Aufschwung sozialen Wohnungsbau der Altbundesrepublik zu Ost. behandeln, d. h. als öffentliche Fördermittel mit nied- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: riger Verzinsung und Tilgung bei langer Laufzeit Das blockieren Sie schon die ganze Zeit!) umzustellen, wurde wiederholt vorgetragen, u. a. am Daß diese Summen aber nicht von den Mietern 5. November in der Plenardebatte. Diesem Vorschlag aufgebracht werden können, liegt nahe, und ebenso kommt zwar der vorliegende Antrag der PDS sehr ist indiskutabel, die Mehreinnahmen aus der Zweiten nahe; aber wir können ihn nicht beschließen, da er Grundmietenverordnung in etwas anderes als die auch föderale Kompetenzen berühren würde und Instandsetzung fließen zu lassen. Allein durch die formal nicht zutreffend ist. Kosten des aufgelaufenen Instandsetzungsbedarfs Wir kennen im übrigen vom Ministerpräsidenten wären die Mieter schon finanziell überfordert. Miet- Thüringens und vom Deutschen Mieterbund ähnliche mehreinnahmen für die Bedienung von Altschulden Vorschläge. Es ist natürlich und nachvollziehbar, daß zu verwenden wäre also eine unbillige Härte, zu der es sich Länder, Kommunen und Wohnungsunternehmen nicht kommen darf; denn andernfalls sind Miet- gegen Vorstellungen der Bundesregierung zur Wehr sprünge vorprogrammiert, die das Sozialgut Woh- setzen, die ihre finanzielle Handlungsfähigkeit blok- nung — als solches vor allem müssen wir die Wohnung kieren. Es spricht ja nicht gegen ihren politischen betrachten — hochgradig gefährden. Lösungswillen, wenn sie unabhängig von ihrem Wil- Abschließend möchte ich einige Sätze zum Woh- len, gemeinsam zu einer Lösung des Problems zu nungsstatistikgesetz sagen. Wir halten es für richtig kommen, auch die rechtlichen Grundlagen ganz kri- und wichtig, wohnungsstatistische Daten zu erheben, tisch hinterfragen. insbesondere auch mit Blick auf die mißbräuchliche Sowohl die Überlegungen des Landes Branden- Umwandlung von Wohnraum in den neuen Bundes- burg, die Altschulden auf den tatsächlichen Substanz- ländern. wert herunterzurechnen — es sind ja die schlechteren Zum vorliegenden Gesetzentwurf gibt es jedoch Wohnungen, die am höchsten verschuldet sind —, als noch Beratungsbedarf, vor allem zu dem am letzten auch die Vorstellungen aus Sachsen-Anhalt, Altschul- Beratungstag von der CDU/CSU eingebrachten den ungeachtet ihrer späteren rechtlichen Wertung Änderungsvorschlag, den wir wegen des zu engen zunächst als nachrangig in die Grundbücher einzutra- Zeitrahmens nicht mehr mit der notwendigen Sorgfalt gen, um wenigstens die Wohnungsunternehmen prüfen konnten. Deshalb werden wir uns enthalten. finanziell handlungsfähig zu machen, sollten mit ein- bezogen werden. Dagegen setzen alle Überlegungen, Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Lucyga, vor allem die aus dem Bundeskabinett, bei denen Frau Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer würde immer zuerst die Bedienung der Altschulden und erst Ihnen gern eine Frage stellen. Sind Sie bereit, sie zu dann der finanzielle Spielraum der ostdeutschen beantworten? Wohnungswirtschaft gesehen wird, die falschen Prio- ritäten; denn die politische Schwerpunktaufgabe, daß Investitionen den Vorrang haben müssen, darf nicht Dr. Christine Lucyga (SPD): Da ich mit meiner Rede am Ende bin, gern. im Zusammenhang mit der Wohnungswirtschaft der neuen Länder durch eine falsche Prioritätensetzung ausgehebelt werden. Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Frau Kollegin Lucyga, würden Sie mir zustimmen, daß Sie zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kenntnis zu nehmen haben, daß die Bundesregierung Vor etwa einem Jahr hat die Bauministerin öffent- seit dem Frühsommer des vergangenen Jahres mit lich erklärt, daß die Altschuldenfrage endlich geklärt den ostdeutschen Bundesländern konkret über die werden müsse. Seit einem Jahr hat sich kaum etwas Regelung der Altschuldenfrage verhandelt, und zwar bewegt. auf der Grundlage eines Angebots der Bundesregie- rung zu einer Überbrückungsfinanzierung? (Zuruf von der SPD: Wer hat sich nicht bewegt?) Würden Sie mir zustimmen, daß seit dieser Zeit die ostdeutschen Bundesländer, vor allen Dingen deren Nun wird es Zeit, auf die Länder zuzugehen und eine Finanzminister, zu keiner Zeit auch nur einen Milli- aktive Wohnungspolitik zu ermöglichen, wobei auch meter an Bewegungsspielraum haben erkennen las- der Vorschlag des Deutschen Mieterbundes, Mieter- sen? investitionen verstärkt zu fördern und rechtlich abzu- Würden Sie mir zustimmen, daß dies ein Spiel ist, sichern, Berücksichtigung finden sollte. das auf dem Rücken der Mieter ausgetragen wird? Auf dem Wohnungsmarkt der neuen Länder liegt Können Sie sich damit einverstanden erklären, daß ein riesiges Konjunkturprogramm brach, weil es der die Bundesregierung zum Ende letzten Jahres ein Bundesregierung bisher nicht gelungen ist, die Rah- noch einmal verbessertes Angebot zur Regelung der menbedingungen zu schaffen. Das sieht am Beispiel Altschuldenfrage an die ostdeutschen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommerns etwa so aus: Die rund vorgelegt hat und daß daraufhin weitere Verhand- 150 Wohnungsunternehmen mit 400 000 Wohnungen lungsrunden stattgefunden haben, in denen ebenfalls im Bestand — veranschlagen Sie 10 000 DM für wieder die ostdeutschen Bundesländer nicht einen Modernisierungsmaßnahmen, zu denen jährlich einzigen Millimeter Bewegungsspielraum haben durch Mietmehreinnahmen jetzt ca. 1 000 DM für erkennen lassen, und daß dies bedauerlicherweise Instandsetzung kommen — könnten in den nächsten dazu führt, daß wir in der Frage bisher noch nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11517

Dr. Irmgard Schwaetzer weitergekommen sind, aber nicht etwa, weil die Allerdings sind die Punkte natürlich schrittweise zu Bundesregierung, sondern weil die ostdeutschen Bun- klären, um zu einem vernünftigen Ergebnis zu kom- desländer derzeit keine Bewegung gezeigt haben? men. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Verehrte Frau Kollegin Schwaetzer, dies ist nun wirklich fast keine Frage Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese mehr. Das war ein Korreferat und läuft normalerweise Regierung be treibt eine durch und durch erfolgreiche unter Kurzintervention; aber selbst die ist auf zwei Wohnungsbaupolitik. Minuten begrenzt. (Zuruf von der F.D.P.: So ist es!) Bitte, Frau Kollegin Dr. Lucyga. Wer die Schwierigkeiten kennt und die Ergebnisse (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Es zeigt zum Vergleich heranzieht, kann überhaupt nicht zu nur, wie aktiv die Bundesregierung gewesen einem anderen Ergebnis kommen. Ich behaupte auch, ist, Herr Präsident!) daß die Arbeit unserer Arbeitsgemeinschaft mit der F.D.P. erfolgreich ist, weil wir kein Thema auslassen, Dr. Christine Lucyga (SPD): Ich habe eben noch weil wir wirklich alle Fragen aufgreifen und sie Schritt einmal eine Kurzfassung des Aktionismus der Bun- für Schritt klären und in den Prozeß, beispielsweise ins desregierung vernommen. Genau das habe ich in Parlament, einbringen. meinem Beitrag angesprochen. Es wurde viel gesagt, Natürlich bleiben immer viele Fragen offen, natür- aber es hat sich nichts getan. lich müssen wir in den Verhältnissen leben, wie sie Ich danke Ihnen. nun einmal sind. Der Finanzrahmen ist, gesamtwirt- (Zuruf von der F.D.P.: Sie nehmen Sachver schaftlich gesehen, nun einmal eng, und wir müssen halte einfach nicht zur Kenntnis!) uns alle gemeinsam nach der Decke strecken. Wenn wir all dies berücksichtigen, sind auch die Haushalts- Vizepräsident Hans Klein: Ich habe unglücklicher- ansätze angemessen und bedarfsgerecht kalkuliert, weise das Stichwort Kurzintervention genannt. was nicht ausschließt, daß hier und da noch mehr Herr Großmann, bitte. verlangt werden könnte und müßte. Bereits unter Ihrer verehrten Vorgängerin, Frau Achim Großmann (SPD): Ich versuche, die zwei , wurde eine wohnungspolitische Minuten nicht auszunutzen, Herr Präsident. Offensive eingeleitet; unter Ihnen wurde sie fortge- Meine Damen und Herren, ich denke, daß wir auf setzt. Ich glaube, daß sich das Ergebnis durchaus das, was wir eben gehört haben, einfach sagen müs- sehen lassen kann. Die statistischen Zahlen beweisen sen, daß auch die Bundesregierung sogar in sich dies. ständig über den richtigen Ansatz zur Lösung des Ich nehme aber einen ganz anderen Kronzeugen, Altschuldenproblems streitet. Wenn ich es richtig in nämlich die ARGE Bau. Das sind in der Mehrheit die Erinnerung habe, hat der finanzpolitische Sprecher, Länder, die hier nicht unbedingt ein Loblied anstim- Herr Faltlhauser, noch vor einigen Tagen Vorschläge men müßten. In der letzten ARGE-Bau-Sitzung wurde gemacht, die die Bauministerin als unsinnige -Quer- ausdrücklich festgestellt, daß es eine Entspannung am schläge bezeichnet hat. Wohnungsmarkt gegeben hat. Das ist doch wohl eine Danke. sehr positive Feststellung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Trotz dieser Entwicklung — das gebe ich gerne DIE GRÜNEN) zu — haben sich die sozialen Spannungen am Woh- nungsmarkt durchaus vermehrt, verursacht durch Vizepräsident Hans Klein: Kurzinterventionen ha- hohe Mieten, drastisch gestiegene Baulandpreise ben sich im Regelfall auf Äußerungen des Redners zu und, damit verbunden, steigende Immobilienpreise. beziehen und nicht etwa auf Äußerungen eines Fra- Das bestreitet niemand. gestellers. Wir sollten nun alle gemeinsam versuchen, hier die (Gudrun Weyel [SPD]: Oder eines anderen Lösungen zu beschleunigen — auch darin sind wir uns Kurzintervenienten!) einig —, weil wir wissen, daß derzeit kurzfristige — Das schon gar nicht, Frau Kollegin. Lösungen so schnell nicht zu haben sind, weil es Da kein Bedrüfnis besteht, noch einmal darauf einige Engpaßfaktoren am Markt gibt. einzugehen, erteile ich jetzt dem Kollegen Hans Einer davon ist natürlich, daß zu wenig Bauland Raidel das Wort. ausgewiesen ist. Wir wissen ja, welche Zurückhaltung von Städten und Gemeinden da vorhanden ist. (CDU/CSU): Herr Präsident, meine Hans Raidel Ein zweites Hindernis sind die sehr strengen Natur- sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Frau schutzbestimmungen, technische Anforderungen, Dr. Lucyga, ich habe Verständnis dafür, daß Sie mit ganz persönlichem Engagement an dieses Thema Planungs- und Genehmigungsvorhaben. herangehen, aber in der Sache haben Sie sicherlich Drittens. Wir haben weitgehend ausgelastete Bau- nicht viel beigetragen. kapazitäten. Zwischen Finanzministerium und Bauministerium Viertens. Viel Geld wird nicht investiert, auch gibt es in all diesen Fragen keinerlei Differenzen. deshalb nicht, weil im Moment einfach unzureichende (Lachen bei der SPD) Renditen im Mietwohnungsbau vorhanden sind und 11518 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Hans Raidel gleichzeitig ein hohes Zinsniveau etliches zumindest Aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß im nicht in Fahrt bringen läßt. Programm Aufbau Ost seit der Wende insgesamt rund 400 Milliarden DM an privaten und öffentlichen Fünftens. Mangelndes Eigenkapital bei privaten Mitteln in die neuen Länder geflossen sind. In der Bauherren verhindert ebenfalls mehr Geschwindig- nächsten Zeit werden es jährlich ca. 140 Milliarden keit bei diesem Zuge. DM sein. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die hohen Anforderungen an die öffentlichen Haushalte insge- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Raidel, Sie samt nur geringe weitere Spielräume eröffnen, um haben Ihre Redezeit ein gutes Stück überschritten. mehr Mittel in die Wohnungsbauförderung zu geben, Bitte kommen Sie zum letzten Satz. so wünschenswert dies alles wäre. Auf Grund dieser Tatsachen, denen wir Schritt für Hans Raidel (CDU/CSU): Danke schön. — Natürlich Schritt nachgehen und wo wir vernünftige Lösungen kann man darüber streiten, ob das alles genügend ist. anbieten werden, ist für mich eigentlich selbstver- Ich möchte aber doch feststellen: Es hat niemals eine ständlich — was schon ausgeführt worden ist —, daß Aktion dieser Art gegeben. Auch das sollten wir mehr Geld über den privaten Wohnungsbau zur eigentlich positiv vermerken. Verfügung gestellt werden muß. Wir haben dafür zu Die Wohnungsbaupolitik hat auch für die gesell- sorgen, daß vernünftige Rahmenbedingungen dazu schaftliche Entwicklung hohen Rang. Wir stehen vor geschaffen werden, ohne dabei die Mieterinteressen Aufgaben, wie sie in den 50er und 60er Jahren zu zu vernachlässigen. bewältigen waren. Wenn wir alle gemeinsam hier die Prioritätenskala richtig setzen — — Aber ich sage auch ganz deutlich: Es muß ein Interessenausgleich zwischen Mietern und Investo- Vizepräsident Hans Klein: Herr Raidel, bitte, wirk- ren erarbeitet werden. Ich sage weiterhin, daß miet- lich — — rechtliche Maßnahmen dringend erforderlichen Woh- nungsneubau nicht behindern dürfen. Hans Raidel (CDU/CSU): — und das Thema zu Die Sozialschiene für den Mieter — ich unterstrei- unserer Hauptaufgabe machen, dann wird es uns che das noch einmal — darf dabei selbstverständlich auch gelingen, in absehbarer Zeit die Mangelsituatio- nicht vernachlässigt werden. Für mich gilt der Kern- nen zu bereinigen. Ich fordere Sie dazu herzlich satz, daß der Bau von Wohnungen immer noch der auf. beste Mieterschutz ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Es ist mir, wie ich zuge- Natürlich ist es eine fabelhafte Idee, zusätzliche ben muß, nicht unangenehm, einen Kollegen der Mittel zu Lasten anderer Etats in den Wohnungsbau eigenen Partei einmal ordentlich darauf hinzuweisen, überzuleiten. An einer solchen Idee ist überhaupt wenn er die Redezeit überschreitet. Damit kann ich nichts auszusetzen. Diese Mittel wären allerdings signalisieren, daß ich nicht einseitig bin. auch effektiver einzusetzen, und viel könnte zur (Heiterkeit) Entschärfung beigetragen werden. Ich darf aber noch einmal auf die allgemeinen Zwänge, in denen der Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Herr Finanzminister steht, verweisen, die solches Abstimmungen, zunächst zur Einzelberatung und zumindest im Moment verhindern. Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurf eines Wohnungsstatistikgeset- Persönlich bin ich ein Fan von selbstgenutztem zes, Drucksachen 12/3043 und 12/4108. Wohneigentum. Ich meine, auch hier sollten wir Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der ansetzen, da bei relativ geringer staatlicher Unterstüt- Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- zung hier doch eine ganze Menge erreicht werden zeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich kann und durch neuerstelltes Wohneigentum in zwei der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Drittel aller Fälle auch Mietwohnungen, häufig sogar Beratung angenommen. Sozialwohnungen frei gemacht werden können. Dritte Beratung Auf die Fragen des sozialen Wohnungsbaus wurde und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem ausreichend eingegangen, auch auf den § 25 Abs. 2. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Hierzu gibt es unterschiedliche Auffassungen. Ich bin Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf dafür, daß man einfach einmal seriös überprüft, wie ist gegen eine Stimme und bei einer großen Zahl von man diesen § 25 Abs. 2 sozialverträglich neu gestalten Enthaltungen angenommen. soll, damit nicht die Geringstbezieher von Einkom- Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der men unter Umständen dabei Nachteile erleiden. Ich Fraktion der SPD zur Erhöhung der Einkommensgren- glaube, hier kommen wir durchaus weiter. zen im sozialen Wohnungsbau auf Drucksache Meine Damen und Herren, hier ist das Thema Ost 12/3913 an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwe- sehr kritisch angesprochen worden. Natürlich wissen sen und Städtebau zu überweisen. Sind Sie damit wir alle, daß es sich um ein sehr sensibles Thema einverstanden? — Das ist offenkundig der Fall. Dann handelt. Auch wir müssen das mit der gebotenen ist die Überweisung so beschlossen. Sensibilität behandeln; da sind wir uns durchaus Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raum- einig. ordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11519

Vizepräsident Hans Klein Gruppe PDS/Linke Liste zur Nachbesserung des Thema vorgesehen, sondern eine Reihe von Glossen, Wohngeldsondergesetzes, Drucksache 12/3976. Der dann sähe auch das allgemeine Interesse im Parla- Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Gruppe PDS/ ment besser aus. Linke Liste auf Drucksache 12/3473 abzulehnen. Wer Der langwierige Werdegang der heutigen Vorlage stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegen- ist in der Tat glossenverdächtig. Vielleicht nehmen probe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung sich die Medien dieses Themas wenigstens in dieser ist angenommen. Ich widerstehe nicht der Versu- Form an. chung, darauf hinzuweisen: gegen die einzige im Saal vertretene Stimme der Antragstellergruppe. Meine Kolleginnen und Kollegen, im politischen Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zum Alltagsgeschäft wissen wir doch ganz genau, welchen Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Verlängerung politischen Stellenwert Sprache für uns hat. Warum des erweiterten Kündigungsschutzes, Drucksache sprechen Mitglieder der Regierung vom Aufschwung 12/4116. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe a Ost, von den jungen Bundesländern, den blühenden seiner Beschlußempfehlung, den Antrag der Gruppe Landschaften, dem Wildwuchs bei Sozialleistungen, PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/1974 abzulehnen. dem Eurofighter 2000, dem ungeborenen Menschen, Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegen- dem SPD-Asylanten und — jüngstes Beispiel — der probe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung unzureichenden Tatsachenfeststellung? Sie erinnern ist angenommen. sich: Minister Möllemann kam mit diesem glorreichen Einfall. Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zum Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Verschiebung (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Der Einfall ist der Mietsteigerung, Drucksache 12/4116. Der Aus- aber nicht neu!) schuß empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluß- Die dahinterliegende Absicht reicht von Schönfär- empfehlung, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste berei bis Verleumdung. Um den leidigen Beg riff auf Drucksache 12/3284 abzulehnen. Wer ist dafür? — „Abwicklung" loszuwerden, bemühte die Treuhand Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschluß- eine Jury von fünf Journalisten und zwei Treuhand- empfehlung ist angenommen. vertretern und lobte einen Preis von 1 000 DM aus. Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses Das Ergebnis: Das Direktorat heißt jetzt „Rekonstruk- zum Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf tion". Umwandlung der Altschulden der Wohnungswirt- schaft, Drucksache 12/3982. Der Haushaltsausschuß Wie hängen Sprache und Bewußtsein miteinander empfiehlt, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zusammen? Bei einer Diskussion darüber wird mit auf Drucksache 12/3474 abzulehnen. Wer stimmt für folgender Frage abgelenkt: Prägt die Sprache das diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? Bewußtsein, oder prägt das Bewußtsein die Sprache? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußemp- Es ist sozusagen die Frage nach der Henne und dem fehlung ist angenommen. Ei. Die angeführten Beispiele zeigen, wie die Spre- chenden denken, d. h. wie ihr Bewußtsein Sprache prägt; sie zeigen aber auch, wie die Sprechenden Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: versuchen, den Hörenden ihre eigene Optik der Dinge Beratung der Beschlußempfehlung und des aufzudrängen. Das heißt, sie versuchen durch ihre Berichts des Ausschusses für Frauen und Sprache das Bewußtsein anderer zu prägen. Geglückt Jugend (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung ist es, wenn die anderen so reden wie sie. Nicht die durch die Bundesregierung Sprache verfolgt also einen Zweck, sondern die Spre- Maskuline und feminine Personenbezeich- chenden. nungen in der Rechtssprache Im übrigen ist die Sprache nicht statisch. Es kom- Bericht der Arbeitsgruppe Rechtssprache vom men täglich neue Wörter hinzu; sonst hätte die 17. Januar 1990 Duden-Redaktion ja nicht laufend mit Nacharbeit zu — Drucksachen 12/1041, 12/2775 — tun. Sprache ist von den Menschen gemacht, die sich Berichterstattung: ihrer bedienen. Also haben wir auch die Möglichkeit, Abgeordnete Susanne Rahardt-Vahldieck bestimmte gesellschaftliche Normen zu setzen, denen Hanna Wolf z. B. die Rechtssprache entsprechen soll. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der Auch die Rechtssprache oder das Amtsdeutsch, wie SPD vor. es landläufig heißt, hat Wirkungen, die über die Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Vermittlung des eigentlichen Inhalts hinausgehen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Es Sie kann einschüchternd, verschleiernd, diskriminie- erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlos- rend sein. Es ist darüber hinaus eine Binsenweisheit, sen. daß das Amtsdeutsch weder durch die Schönheit dichterischer Sprache charakterisiert werden kann Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der noch die Klarheit und Verständlichkeit aufweist, die Kollegin Hanna Wolf. sich Bürgerinnen und Bürger wünschen. Ein willkürliches Beispiel aus einem Steuerbe- Hanna Wolf (SPD): Herr Präsident! Meine Damen scheid kann das veranschaulichen: und Herren! Wenn in den Medien gar nichts mehr läuft, eine Glosse über die Bemühungen von Frauen, Der Bescheid ist im Hinblick auf den Beschluß in der Sprache benannt zu werden, läuft immer noch. des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juni Wäre heute nicht eine ernsthafte Debatte zu diesem 1990 zum Kinderlastenausgleich und auf die 11520 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Hanna Wolf Anhängigkeit weiterer Verfassungsbeschwerden Hierin folgen wir den Empfehlungen der intermini- zum Grundfreibetrag hinsichtlich der Höhe des steriellen Arbeitsgruppe Rechtssprache nicht mehr; Grundfreibetrags vorläufig, soweit diese Rege- vielmehr folgen wir in dieser Forderung den sachkun- lung in Ihrem Fall von Bedeutung ist. digen Ausführungen des Ausschusses Frauen und Jugend des Bundesrates, der dort leider nicht feder- Dieser Rechtssprache wird also nicht Gewalt angetan, führend war und somit in der Minderheit blieb. Auf wenn sie einer gründlichen Revision durch sprachwis- diese Ausführungen möchte ich ausdrücklich verwei- senschaftlich geschulte Expertinnen und Experten sen und mich nicht mit nochmaligen Begründungen unterzogen würde, sozusagen „von Amts wegen", aufhalten. damit ein „Einspruch insoweit nicht erforderlich" ist. Ich möchte nur eine grundsätzliche Aussage des Berichtes dieses Ausschusses zitieren: Die Revisionsgremien fänden dann endlich zu der allseits beschworenen Präzision, Klarheit, Bestimmt- Bedenklich ist, daß Personenbezeichnungen im heit und Kürze. Sie charakterisieren angeblich die generischen Maskulinum Männer unmittelbar Vorschriftensprache. Ganz selbstverständlich wür- ansprechen und Frauen nur mitmeinen. Darin den die Revisionsgremien die Gleichberechtigung liegt eine psychologische Benachteiligung der der Geschlechter mit einarbeiten, ohne gegen die Frau ... Auch die Rechtssprache muß die Betrof- eben genannten Kriterien zu verstoßen. fenen als Personen ansprechen und überzeu- gen. Die SPD begrüßt den zur Debatte stehenden Bericht der interministeriellen Arbeitsgruppe Rechtsspra- Meine Damen und Herren, zur Geschichte der che. Vorlage: Der Deutsche Frauenrat, eine Organisation, die ca. 11 Millionen Frauen repräsentiert, hat 1982, Den Beschluß des Bundeskabinetts lehnen wir also vor 11 Jahren, in seiner Resolution „Diskriminie- jedoch ab, da wir in der Umsetzung keine Einschrän- rung von Frauen in der Gesetzessprache" den Gesetz- kung akzeptieren. Dort heißt es lediglich: geber aufgefordert — und ich zitiere wieder —: ... soweit dies sachlich gerechtfertigt ist und die ... in allen Gesetzen und sonstigen Rechtsnor- Lesbarkeit und Verständlichkeit des Gesetzes- men die bisher üblichen, einseitig männlich aus- textes nicht beeinträchtigt wird. Die Empfehlun- gerichteten Definitionen zu beseitigen, sie durch gen können als Richtschnur dienen. Die Ressorts die entsprechenden weiblichen Definitionen od er werden gebeten, sich an den Empfehlungen zu durch Formulierungen zu ersetzen, die ge- orientieren und weitere Anregungen aufzugrei- schlechtsneutral sind. fen. Im März 1987 stellte die SPD im Bundestag zu Das ist uns zuwenig. Es ist an der Zeit, statt diesem Thema einen Antrag. Die GRÜNEN und die unverbindlicher Empfehlungen für das Schaufenster Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. folgten mit endlich verbindliche Handlungsanweisungen zu ge- abgewandelten Anträgen im Laufe des gleichen Jah- ben. Der Hessische Landtag hat z. B. schon 1986 in res. Ebenfalls im Herbst desselben Jahres wurde die einer Entschließung festgelegt: interministerielle Arbeitsgruppe Rechtssprache ein- gesetzt. Ein qualifizierter Bericht dieser Arbeits- Im Gesetzestext sollen grundsätzlich die weibli- gruppe liegt seit Januar 1990 vor. Über die schon chen und männlichen Formen einer Personenbe- genannte Stellungnahme des Ausschusses Frauen zeichnung aufgeführt werden. und Jugend des Bundesrates hinaus bedarf es keiner In der sprachlichen Entwicklung überholen inzwi- weiteren Begründung oder gar Rechtfertigung. schen auch die neuen Länder den Bund. Dies konnte Nachdem der Ausschuß Frauen und Jugend des der interministerielle Be richt noch gar nicht berück- Bundestages die Federführung zu diesem Thema sichtigen. errungen hatte, zeichnete sich im Ausschuß Einstim- In diesem Sinne fordert die SPD, daß sich die migkeit für einen Antrag in unserem soeben vorgetra- Bundesregierung die Empfehlung zur Amtssprache genen Sinne ab. Sie wurde jedoch leider durch die im Bericht der interministeriellen Arbeitsgruppe F.D.P. zunichte gemacht. Vielleicht kann uns jetzt Rechtssprache zu eigen macht und voll umsetzt. Damit Frau Würfel die Hintergründe ihres Sinnesw andels würde z. B. auch folgender Unsinn aus dem gleichen nennen. Steuerbescheid verschwinden, der sich übrigens an Wir stimmen also im Ausschuß nicht überein, wie eine unverheiratete, kinderlose Frau richtete: „Der mit der Vorschriftensprache verfahren werden soll. Pauschbetrag beim Steuerpflichtigen bzw. Ehe- Davon be troffen sind alle Gesetze, aber auch die mann ... " In meinem Paß hieße es nicht mehr Verfassung. Gerade aber zur Sprache der Verfassung „Unterschrift des Paßinhabers", sondern „Unter- liegen der Verfassungskommission mittlerweile Tau- schrift der Paßinhaberin". sende von Eingaben vor. Deswegen haben wir hierzu Die Verwendung des generischen Maskulins, mit einen Änderungsantrag eingebracht, weil wir hier dem wir Frauen angeblich immer mitgemeint sind und generell eine Regelung für beide Sprachformen wün- sein sollen, möchten wir jedoch nicht nur in der schen. Amtssprache, sondern auch in der Vorschriftenspra- Heute, 1993, sollten Sie endlich die überfälligen che grundsätzlich ausgeschlossen wissen, denn For- Entscheidungen treffen. Andernfalls hieße es, daß Sie mulierungen wie „der Wähler", „der Steuerzahler" mit dem Mittel der Rechtssprache entweder diskrimi- oder „der Schüler" sprechen über die Hälfte der nieren wollen oder zumindest eine Diskriminierung Bevölkerung nicht an. billigend in Kauf nehmen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11521 Hanna Wolf Der Bund wird sich ohne verbindliche Handlungs- diese ganzen Schreiben nicht zurückschicke mit der anweisungen zur Verwirklichung der Gleichberechti- Begründung: Hier postalisch nicht erreichbar. —Dann gung in der Rechtssprache über kurz oder lang nicht können die ihre Mahnungen und ihre Festsetzungen mehr im Einklang mit der Rechtssprache vieler Bun- woandershin jagen. Vielleicht überlegen sie es sich desländer bzw. mit dem deutschsprachigen Ausland dann. befinden. Die Rechtssprache muß grundsätzlich dem Aber das ist die soziale Wirklichkeit einer auf Prinzip der Gleichbehandlung der Geschlechter ent- Männer ausgerichteten Rechtssprache. Daran müssen sprechen. Ein bißchen Gleichberechtigung gibt es wir etwas ändern, denn Sprache prägt Bewußtsein. Es nicht. Wo denn, wenn nicht in der Rechtssprache besteht hier eine gewisse Interdependenz, um dieses — und das schließt die Sprache der Verfassung mit schöne Wort zu verwenden. Natürlich, Bewußtsein ein —, soll die Gleichbehandlung vollzogen wer- prägt Sprache, aber Sprache prägt auch Bewußtsein. den? Insofern müssen wir hier — nicht nur, um der gesell- Vielen Dank. schaftlichen Wirklichkeit nachzukommen, sondern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch, um sie weiter und zusätzlich in unserem Sinne DIE GRÜNEN) zu prägen — auf die Sprache einwirken. Da sind wir völlig einer Meinung, und wir sind im Ausschuß für Frauen und Jugend auch weitgehend einer Meinung gewesen. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin Rahardt-Vahldieck. Gehakelt haben wir uns an einem einzigen Punkt. Der Punkt war, oh immer und in jedem Fall, auch wenn die Lesbarkeit wirklich erheblich beeinträchtigt Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU/CSU): Herr Prä- wird — — sident! Meine Damen und Herren! Zu diesem Thema (Christina Schenk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ist mir ein Weihnachtsgeschenk in die Hände geraten, NEN]: Wovon hängt die Lesbarkeit denn ab? das mir ein frauenpolitisch motivierter Mitarbeiter Das ist doch eine Frage der Übung!) geschenkt hat, ein schönes Buch mit der Fragestel- — Moment, ich will hier mal ein kleines Beispiel lung: „Ob die Weiber Menschen sind". verlesen, das Sie nun nicht für tragisch halten Nun muß man sagen: Diese Frage ist über Jahrhun- mögen. derte diskutiert worden, und zwischenzeitlich ist man doch wohl zu dem Ergebnis gekommen — ich glaube, wir können hier einen Konsens feststellen —: Frauen Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten sind Menschen. Sie vorher eine Frage der Kollegin Wolf? Aber im Hinblick auf die Rechtssprache fragt man sich: Sind auch Frauen Menschen, oder sind nur Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU/CSU): Ja, frei- Männer Menschen? Denn die Rechtssprache geht lich. doch so etwas in die Richtung — es ist vorhin ange- sprochen worden —: „der Wähler", „der Steuer- zahler" , der was auch immer. Und es könnte- doch Hanna Wolf (SPD): Frau Kollegin, Sie erinnern sich, sein, daß eine Frau sich mit der Bezeichnung „der daß wir auch darüber gesprochen haben, was Worte Wähler" oder „der Paßinhaber" oder „der Antragstel- bedeuten. Sie sind Juristin und können es einem ler" nicht angesprochen fühlt. besser verdeutlichen. Wir haben gesagt: „grundsätz- lich nicht". Und daraufhin hat man uns gesagt: Frau Wolf hat das Finanzamt erwähnt. Ich habe mit „Grundsätzlich" heißt nicht, daß man nicht Ausnah- meinem Finanzamt so meine eigenen Erfahrungen. men zuläßt. Würden Sie das bestätigen? Ich will sie mal kurz wiedergeben, um Ihnen vor Augen zu führen, wie sich das praktisch auswirkt. Ich bin selbständige Anwältin und demzufolge Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU/CSU): Also, wir waren da verschiedener Ansicht. Das „grundsätzlich" einkommensteuerpflichtig, mit meinem Mann, der war genau der Drehpunkt. Da haben wir versucht, uns Gehaltsempfänger ist, wie es sich für eine treudeut- an Beispielen zu orientieren, was wir denn jeweils sche Ehefrau gehört, gemeinsam veranlagt. Sämtliche meinen. Ich finde es ganz gut, nicht nur etwas zu Aufforderungen, ich möge bitte die Steuererklärung formulieren, sondern auch zu wissen, was man damit abgeben, gehen an meine Kanzleianschrift unter dem eigentlich meint. Namen meines Mannes, der dort postalisch überhaupt nicht erreichbar ist, weil er sich dort nie aufhält. Denn Der Knackpunkt war z. B. folgender: Ich hatte die er arbeitet woanders, und wohnen tun wir eh woan- Formulierung aus dem Verfassungsentwurf des ders. Diverse Versuche, das Finanzamt dazu zu bewe- Kuratoriums vorgetragen — Sie kennen sie, Frau gen, die Schreiben unter meinem Namen meiner Schenk —, Art. 69 Abs. 3 GG, die da lautet — ich trage Kanzlei zuzuschicken, waren völlig ohne jeden das hier mal vor —: Erfolg. Auf Ersuchen der Bundespräsidentin oder des (Zuruf von der SPD) Bundespräsidenten ist die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler, auf Ersuchen der Bundes- — Zahlen darf ich, logisch. Aber die Aufforderung kanzlerin oder des Bundeskanzlers oder der Bun- kriegt e r. despräsidentin oder des Bundespräsidenten eine Nun sagt man sich: Das paßt doch alles irgendwie Bundesministerin oder ein Bundesminister ver- nicht zusammen. Und ich überlege bereits, ob ich pflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung ihrer 11522 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Susanne Rahardt-Vahldieck Nachfolgerin oder seines Nachfolgers weiterzu- Jahre ins Land gehen, in denen es „der Bundesmini- führen. ster für Frauen und Jugend" heißt. (Heiterkeit) Wir wollen Engagement der Bundesregierung mit der entsprechenden Berichtspflicht gegenüber die- sem Haus. Jedes Engagement, auch dieses so wichtige Vizepräsident Hans Klein: Sind Sie zur Beantwor- tung einer weiteren Frage bereit? frauenpolitische Engagement, muß aber ein gewisses Augenmaß zeigen. Wenn wir dieses Augenmaß ver- letzen und mit Forderungen kommen, die auf der Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU/CSU): Ja. einen Seite mehr einreißen als auf der anderen Seite aufbauen, dann halte ich das auch im Interesse der Frauen für politisch unklug. Christina Schenk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Rahardt-Vahldieck, sind Sie bereit, anzuerken- Sie haben die Verfassung angesprochen. Mir wäre nen, daß es unterschiedliche Wahrnehmungsmöglich- auch sehr lieb, wenn es möglich wäre, die Verfassung keiten gibt, wenn man einen Text hört und einen Text umzuformulieren. Aber für mich persönlich ist es liest? Wenn Sie das hier vortragen, mag es unver- wichtiger, daß wir die von uns allen gewollte Ergän- ständlich erscheinen. Ich behaupte aber, daß dieser zung zu Art. 3 Abs. 2 GG bekommen, die uns Text, wenn man ihn liest, sehr wohl verständlich ist. frauenpolitische Handlungsmöglichkeiten für alle Stimmen Sie mit mir darin überein? unsere Wählerinnen und Bürgerinnen eröffnet, als auf Nebenkriegsschauplätzen zu versuchen, Art. 69 Abs. 3 GG von einem sowieso schon schwer verständ- Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU/CSU): Also, lichen in einen völlig unverständlichen umzuwan- Frau Schenk, das kommt ein bißchen darauf an. Ich deln. finde den Text, auch wenn ich ihn lese, schwer Grundsätzlich sind wir uns einig. Wir sehen das nachvollziehbar. Ich muß auch sagen, daß es in allerdings etwas maßvoller, weil wir glauben, daß Landesverfassungen oder Landessatzungen, einigen damit am Ende für die Frauen mehr zu erreichen sein die sich dem löblichen Grundsatz der Gleichbehand- wird. Unser Petitum lautet daher, der Beschlußemp- lung der Geschlechter in der Rechtssprache ver- fehlung des Ausschusses zuzustimmen. pflichtet gefühlt haben — ich nenne nur Schleswig- Holstein —, Paragraphen oder Artikel gibt, die ich Danke schön. kaum verstehe, wenn ich sie lese. Aber wenn jetzt (Beifall bei der CDU/CSU) noch mit Querverweisen und dem „-in" oder „und" oder wie auch immer gearbeitet wird, dann verstehe Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Kollegin ich sie überhaupt nicht mehr. Und ich bin Juristin, Uta Würfel das Wort. habe also Jura studiert, so daß es mir leichter fällt, so etwas zu begreifen, als Leuten, die diese Ausbildung nicht hinter sich gebracht haben. Uta Wü rfel (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe Kollegin- nen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn ein Da war bei uns der Dreh- und Angelpunkt, daß wir kleines Experiment mit Ihnen machen: Welche Asso- gesagt haben: Soweit es irgendwie geht, muß, bevor ziationen haben Sie bei dem Satz „Der Inhaber dieses es zu derartigen Satzungetümen kommt, die wirklich Passes ist Deutscher", welche bei dem Satz „Die nicht mehr nachvollziehbar sind, eine Bremse einge- Inhaberin dieses Passes ist Deutsche"? Die meisten zogen werden. Das war der allereinzige Unterschied, von Ihnen werden sich ganz selbstverständlich bei Frau Wolf. Darin werden Sie hoffentlich mit mir einer dem ersten Satz einen Mann vorgestellt haben und bei Meinung sein. dem zweiten Satz eine Frau. Was nun verbinden Sie Es stört mich, daß es auf Formularen immer heißt: mit folgendem Satz: „Die Inhaber dieser Pässe sind „der Antragsteller" und, wenn man Glück hat, noch Deutsche "? Haben Sie nur an Männer gedacht oder an „die Ehefrau". Daß eine verheiratete Frau vielleicht Männer und Frauen? Ganz sicherlich haben Sie sich auch mal einen Antrag stellt, das scheint auf diesen nicht eine Gruppe vorgestellt, die nur aus Frauen rechtlichen Formularen, die in der Gerichtspraxis von besteht. Wie Sprache unser Bewußtsein prägt, kann Bedeutung sind, keine große Rolle zu spielen. man — glaube ich — an diesem Experiment erfah- Mich stört auch, wenn ich immer lesen muß: „ D e r ren. Bundesminister für Frauen und Jugend", obwohl wir In den letzten 20 Jahren haben im Zuge der Frau- sehr wohl wissen, daß es sich in diesem Fall um eine enbewegung insbesondere Sprachwissenschaftlerin- Ministerin handelt. Und wenn die Behördenbezeich- nen unsere deutsche Sprache gewissenhaft analysiert nung, wohlgemerkt, ganz einfach in „das Bundesmi- und festgestellt, daß Sprache eine immens wichtige nisterium" umgewandelt werden könnte, ohne daß Bedeutung hat, wenn es darum geht, unser Lebens- das Geschlecht des Amtsinhabers eine Rolle spielt, bild zu erfassen. Jedes Wort ruft in uns Vorstellungen dann sind das Dinge, bei denen wir energisch der wach, knüpft an Erfahrungen an und wird ein Teil Meinung sind, da müßte man etwas tun. unserer inneren Sprache. Sprache ist ein Hilfsmittel, Wir sind auch der Meinung, daß der Be richt der das Hilfsmittel, mit dem wir unsere Wirklichkeit Bundesregierung — vorsichtig formuliert — da eine konstruieren, sie beschreiben und bewerten. Sprache Spur zu mager ist. Das haben wir auch ganz eindeutig spiegelt deshalb auch Verhältnisse der Unterordnung so gesagt. Wir wollen keine unverbindlichen Empfeh- und der Dominanz wider, so auch gesellschaftliche lungen. Wir wollen glasklare Anweisungen. Wir wol- Statusunterschiede zwischen Männern und Frauen. len Kontrolle. Wir wollen Berichte. Wir wollen nicht, Sprache markiert, was wichtig ist und unwichtig; denn daß dieses Papier im Sande versackt und noch weitere durch Sprache vermitteln wir Normen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11523

Uta Würfel An einem Beispiel möchte ich Ihnen dies verdeutli- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Die Abge- chen: Unsere Sprache gibt vor, daß der handelnde ordnete Frau Christina Schenk hat das Wort. Mensch, der tatkräftige, der sich nach außen orientie- rende Mensch der Mann ist. Warum heißt es „der Christina Schenk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sekretär des Ausschusses für Frauen und Jugend", auch wenn eine Frau dieses Amt bekleidet? Sie stellen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben uns hier zum wiederholten Male mit der leidigen fest, daß die Bezeichnung „Sekretärin" nicht die Tatsache auseinanderzusetzen, daß der weibliche Parallelform ist. Auch hier klafft eine Hier- Sprachge- archielücke. brauch in dieser Gesellschaft noch immer überwie- gend maskulin, d. h. auf Männer fixiert ist, sich an Ein „Fräulein" wird erst durch die Heirat mit einem Männern orientiert und der Existenz von Frauen in Mann zu einer „Frau", wobei das „Fräulein" bis vor vielen Fällen die Widerspiegelung in der Sprache kurzem auch noch den männlichen Familiennamen einfach verweigert wird. übernahm. Ein „Jungchen", das mit der Eheschlie- Wir haben es zugegebenermaßen im deutschen ßung zum „Herrn" wird, gibt es in unserer Sprache Sprachraum besonders schwer. Es gibt auch Spra- nicht. Der gesellschaftlich geringere Status einer chen, bei denen dieses Problem entweder gar nicht unverheirateten Frau klingt beispielsweise auch in oder nur in sehr viel geringerem Maße auftritt. Den- der Formulierung „spätes Mädchen" nach. noch, meine ich, sind weder die Bundesregierung (V o r sitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro noch der Bundestag durch diesen Umstand aus der nenberg) Pflicht entlassen, dafür zu sorgen, daß wenigstens in ihrem Einflußbereich eine Sprache benutzt wird, die Frauen waren jahrhundertelang nicht nur rechtlich nicht von vornherein über 50 % der Bevölkerung benachteiligt, was inzwischen niemand mehr bestrei- einfach ausgrenzt. tet, sondern kamen auch in der sprachlichen Wirklich- keit nur eingeschränkt vor. Seit altersher werden Die Anwendung des generischen Maskulinums ist Frauen in unserer Sprache der Dichter und Denker absolut keine Bagatelle — sie wirkt repressiv und — haben Sie jemals von einer „Denkerin" gehört? — ausgrenzend, was durchaus Auswirkungen auf die unter der männlichen Bezeichnung subsumiert. Unter Selbst- und Fremdwahrnehmung von Frauen hat. Die den Vätern des Grundgesetzes — selbstverständlich Verwendung des generischen Maskulinums sowie nur „Väter" des Grundgesetzes — waren vier Frauen. einer ausschließlich männerbezogenen Sprache über- Hat man — „man" mit einem „n" natürlich — sie nur haupt führt dazu, daß Frauen und Mädchen Ausgren- vergessen, oder stehen andere Fragen dahinter? zung nicht nur erleiden, sondern diese auch verinner- lichen. Wenn stets und immerfort nur die Rede ist von Frauen sollen sich mit der männlichen Sprachform dem Architekten, dem Lehrer, dem Chefarzt usw., angesprochen fühlen: Wissenschaftler, Anwalt, Geld- können sich junge Frauen und Mädchen mit einem geber, Darlehensnehmer, Bauherr, Bevollmächtigter, Leben als Ingenieurin, Chefärztin oder Journalistin Gutachter. Die Mehrzahl der Frauen fühlt sich heute natürlich viel schlechter identifizieren als Jungen oder nicht mehr angesprochen, wenn die ausschließlich junge Männer. Insofern ist die Forderung nach einer männliche Bezeichnung gebraucht wird. geschlechtsneutralen Sprache, die Anwendung des Fühlen Sie sich, meine Herren, eigentlich angespro-- großen „I" bzw. die regelmäßige Nennung beider chen, wenn ich formulieren würde: Wissenschaftlerin- Geschlechter nicht etwa ein Spleen von Feministin- nen, Politikerinnen und Expertinnen aus der Wirt- nen oder der Gag einer linken Tageszeitung, sondern schaft diskutierten miteinander? Stellen Sie sich vor wir meinen es damit sehr ernst. Ihrem geistigen Auge dabei tatsächlich Männer (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) vor? Die erste Debatte zu diesem Thema fand in diesem Sprache schafft Identifikation. Mit Worten erzeugen Hause — wie ich mich informiert habe — im Novem- wir Bilder, auch Vorbilder. Sie sind wichtig vor allen ber 1987 statt. Da ist es doch verwunderlich, wenn Dingen für Mädchen und Jungen, damit sie ihre Rolle Frauen dennoch immer noch zugemutet wird, mit dem in der Gesellschaft finden und ihr Selbstverständnis deutschen Euroreisepaß, der jünger ist als diese Dis- entfalten. Die deutsche Amts- und Rechtssprache muß kussion, durch die Welt zu reisen, in dem steht: „Der also der heutigen gesellschaftlichen Realität angepaßt Inhaber dieses Passes ist Deutscher." werden. Sie findet damit Anschluß an die Differenzie- Ich frage mich, wie lange die Geduld von Frauen rungen, die in unserer Alltagssprache inzwischen noch strapaziert werden wird, ehe sich die Regierung gemacht werden; denn — die Kolleginnen haben es zu konkretem Handeln bemüßigt fühlt. schon gesagt — die Alltagssprache hat sich ja inzwi- Leider mangelt es auch der Beschlußempfehlung schen zu einer geschlechtsneutralen Sprache entwik- des Ausschusses für Frauen und Jugend zu den kelt. Damit werden Frauen in ihrer Qualität, in ihrer maskulinen und femininen Personenbezeichnungen Lebenswirklichkeit nicht mehr unterschlagen. Sie in der Rechtssprache an Konsequenz, indem es z. B. kommen in der Sprache vor. Das dient uns allen und ist dort heißt, daß auf die Verwendung des generischen ein weiterer kleiner Mosaikstein auf dem Wege der Maskulinums in der Vorschriftensprache nur „soweit Gleichberechtigung, die ja bereits seit mehreren als möglich" verzichtet werden sollte, wobei dann die Jahrzehnten im Grundgesetz verankert ist und in der Begründungen für eine Nichtbefolgung dieser Forde- Lebenswirklichkeit noch nicht überall durchgesetzt werden konnte. rung gleich noch mitgeliefert werden. Die Lesbarkeit und die Verständlichkeit dürften nicht beeinträchtigt (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der werden, heißt es da — als ob das nicht vorrangig eine SPD) Frage der Gewohnheiten wäre! Diese Debatte über 11524 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Christina Schenk den Sprachgebrauch dient ja gerade dazu, die partnerschaftliches Miteinander von Männern und Gewohnheiten zu ändern. Änderungen also nur, Frauen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen und wenn es bequem ist — sonst kann im wesentlichen auf allen Ebenen. Immer mehr Frauen nehmen politi- alles beim alten bleiben. sche Mandate wahr. Von öffentlichen Ämtern und Das, meine Damen und Herren, kann doch nicht der Funktionen sind sie nicht länger ausgeschlossen. Endpunkt der Debatte um eine Frauen nicht diskrimi- Doch dieser Wandel in der Gesellschaft hat sich nierende Sprache sein! Wir wollen, daß im täglichen noch immer nicht auf die Rechtssprache ausgewirkt. Sprachgebrauch stets die männliche und die weibli- Es ist an der Zeit, daß sich dies ändert. Ich unterstütze che Wendung benutzt wird, wenn es um Männer und deshalb die Beschlußempfehlung des Ausschusses für

Frauen geht. Wir wollen, daß alle Gesetze — wozu es Frauen und Jugend. Die Bundesregierung wird darin gewiß eines angemessenen Zeitraums bedarf — aufgefordert, sicherzustellen, daß den Empfehlungen sprachlich so umgearbeitet werden, daß deutlich der Arbeitsgruppe Rechtssprache in den Ressorts wird, daß Männer und Frauen gemeint sind. Und wir gefolgt wird. wollen, daß neue Gesetze von vornherein in Ich meine, daß diese Empfehlungen sinnvolle und geschlechtsneutraler Sprache verfaßt werden. So- vernünftige Vorschläge enthalten. Sie schießen nicht lange das keine Selbstsverständlichkeit ist, werden in ideologischer Verkehrung über das Ziel hinaus. Es Frauen dieses Folgeproblem einer sexistischen Denk- geht nämlich nicht um eine Feminisierung der Spra- weise immer wieder thematisieren — auch hier in che; auch das grammatikalische System soll nicht diesem Hohen Hause. verändert werden. „Die Regierungsdirektor" wird es (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke auch in Zukunft ebensowenig geben wie das große Liste) Binnen-I. Aber es wird dafür Sorge ge tragen, daß Frauen in Zukunft auch als Frauen angesprochen und somit nicht länger übersehen, verschwiegen oder Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr die Parlamentarische Staatssekretärin ausgegrenzt werden. Frau Cornelia Yzer. Es kommt darauf an, die Empfehlungen auch in der Praxis anzuwenden. Die Bundesregierung wird dem Ausschuß für Frauen und Jugend darüber Be richt Parl. Staatssekretärin bei der Bun- Cornelia Yzer, erstatten. desministerin für Frauen und Jugend: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sprache ist nichts ein für Ein Beispiel aus meinem eigenen Verantwortungs- allemal Feststehendes. Wie wir sprechen, wie wir bereich möchte ich aber schon jetzt nennen: Im Worte gebrauchen, hängt auch mit den gesellschaftli- Referentenentwurf des Gleichberechtigungsgesetzes chen Verhältnissen zusammen, in denen wir leben. haben wir die Vorgaben der Beschlußempfehlung Deshalb kann Sprache auch nicht unberührt bleiben bereits durchgehend berücksichtigt. Er belegt, daß von den veränderten Beziehungen zwischen Män- dies nicht auf Kosten der Lesbarkeit und Verständ- nern und Frauen in unserer Gesellschaft. lichkeit geht. Gerade in der hier zur Debatte stehenden Rechts- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sprache wird deutlich, daß Frauen sehr oft gar nicht oder nur beiläufig wahrgenommen werden. Wir wis- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort sen es ja auch aus dem Alltag: Wer von uns Frauen hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär Rai- hätte nicht schon einmal die Erfahrung gemacht, daß ner Funke. in einer Versammlung nur die „Sehr geehrten Her- ren" begrüßt wurden? Darin spiegelt sich ein Bewußt- sein wider, das noch immer von der Vorstellung Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- geprägt ist, etwa die Politik sei eine männliche ministerin der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen Domäne. und Herren! Die Diskussion um die Gleichberechti- ist nicht neu. Schon 1912 In der Tat: Politik war lange Zeit — bis weit in unser gung in der Rechtssprache Jahrhundert — Domäne der Männer. Sie allein hatten hatte der Journalist und Sprachkritiker Karl Kraus das Wahlrecht, sie bestimmten die politische Willens- Anlaß zu der Bemerkung: bildung in Parteien, Parlamenten, Regierungen und Die Frauenrechtler mögen verzweifeln, aber es Verwaltungen. Eine Vielzahl bedeutender Gesetzes- läßt sich nun einmal nicht ändern: Die Sprache bücher, über die wir heute verfügen, stammt aus einer hält mit dem Mann. Sie ist noch immer nicht Zeit, in der Frauen als politisch, sozial und rechtlich emanzipiert. gleichberechtigte Menschen nicht wahrgenommen Damals wurde aus der Verwendung der männli- wurden. Die Folge: Mandate, Ämter und Funktionen chen Sprachform in Rechtsvorschriften auf fehlende waren von Männern besetzt. Gesetze und Verordnun- Rechte von Frauen geschlossen, etwa wenn man 1912 gen sind ohne die Mitwirkung von Frauen zustande einer Frau den Einzug in den böhmischen Landtag gekommen. verweigern wollte, weil es im Gesetz hieß: „Als Es kann also nicht wundern, wenn die Rechtsspra- Landtagsabgeordneter ist jeder gewählt, che festgefügte Rollenzuweisungen und Leitbilder der . . .". widerspiegelt, wonach die Frau im öffentlichen Diese rechtliche Ungleichbehandlung ist heute Bereich nichts zu suchen hat. nicht mehr das Problem. Heute konzentriert sich die Frauen wird von unserer Rechtsordnung heute die Kritik auf die Rechtssprache, weil sie nicht die heutige Gleichberechtigung garantiert. Frauen nehmen am Stellung der Frau in Beruf und Gesellschaft widerspie- politischen und öffentlichen Leben teil. Es gibt ein gelt, weil Frauen darin nicht vorkommen, weil sie sich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11525

Parl. Staatssekretär Rainer Funke nicht angesprochen fühlen können, weil sie nicht glauben, daß damit schon die Gleichberechtigung, die länger nur „mitgemeint" sein wollen. Emanzipation umgesetzt wird. Das muß vielmehr in Diese kritische Haltung unserer Sprache gegenüber erster Linie im gesellschaftlichen und politischen Leben erfolgen. Daran wollen wir gemeinsam arbei- wird inzwischen ernst genommen und akzeptiert. Das war nicht immer so. Bis hierhin war es ein mühsamer ten. und ein langer Weg; ein Weg, der mit kontroversen Vielen Dank. Auffassungen, zuweilen auch mit gegenseitigen Vor- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) würfen von Frauen und Männern, mit überspannten Vorstellungen und unsachlichen Repliken begann. Die Arbeitsgruppe Rechtssprache hat mit ihrem Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit Bericht wesentlich zur Versachlichung der Diskussion sind wir am Ende der Aussprache. beigetragen. Sie hat mit vielen Beispielen aufgezeigt, Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst wo ein Handlungsbedarf besteht, und sie hat prakti- über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD, kable und sprachlich annehmbare Vorschläge unter- Drucksache 12/4095, zur Beschlußempfehlung des breitet. Ausschusses für Frauen und Jugend. Wer stimmt für Inzwischen haben Bundestag, Bundesrat und Bun- diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — desregierung in manchen Gesetzesvorlagen und Dann ist dieser Änderungsantrag abgelehnt. Beschlüssen bereits einige der Lösungsvorschläge Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des berücksichtigt. Ich möchte einige Beispiele nennen: Ausschusses für Frauen und Jugend auf Drucksache Die „Vertrauensmänner" sind inzwischen weitge- 12/2775 ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- hend in „Vertrauenspersonen", die „Wahlmänner" in lung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der „Delegierte" umbenannt worden. Nach Änderung Stimme? — Bei Enthaltung der Oppositionsfraktion des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes wird nicht und -gruppen ist die Beschlußempfehlung angenom- mehr „der Älteste der Wahlmänner den Wahlmänner men. ausschuß" einberufen, sondern „das älteste Mitglied des Wahlausschusses den Wahlausschuß". Den Aus- druck „Frauensperson" wird es im Bürgerlichen Ich rufe den Punkt 16 a bis c der Tagesordnung Gesetzbuch nicht mehr geben. Zeiten der Schwanger- auf: schaft werden nicht mehr auf Ausbildungszeiten eines „Schülers" angerechnet, sondern auf die Ausbil- a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD dungszeiten einer „Schülerin" . Erst kürzlich ist § 180 b eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur StGB in einer sprachlich angemessenen Fassung hier Änderung des Sexualstrafrechts — §§ 177 bis im Bundestag beschlossen worden. 179, 184c StGB Diese Beispiele zeigen, daß die Empfehlungen der — Drucksache 12/1818 — Arbeitsgruppe Rechtssprache nicht ohne Wirkung Überweisungsvorschlag: geblieben sind. Es geht nun darum, auf diesem Wege Rechtsausschuß (federführend) nicht stehenzubleiben, sondern beharrlich bei weite- Ausschuß für Familie und Senioren ren Gelegenheiten die passenden Änderungen -vorzu- Ausschuß für Frauen und Jugend nehmen. Von allen Vorrednerinnen ist darauf hinge- b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach- wiesen worden, daß das Wort „Inhaber" eines Passes ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des geändert werden sollte. Es sollte demnächst die Mög- Sexualstrafrechts (§§ 177 bis 179, 184c StGB) lichkeit bestehen, entsprechende Änderungen in For- — Drucksache 12/2167 — mularen und auch in den jeweiligen Paßvorschriften vorzunehmen. Das dürfte außer Frage stehen. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) Daß das Thema nicht an Aktualität verloren hat, Ausschuß für Familie und Senioren zeigt außerdem die Forderung nach einer sprachli- Ausschuß für Frauen und Jugend chen Überarbeitung des Grundgesetzes, die von c) Erste Beratung des von der Abgeordneten Frauenpolitikerinnen und Frauenverbänden nachhal- Christina Schenk und der Gruppe BÜND- tig erhoben und von der Kommission „Verfassungsre- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs form" des Bundesrates unterstützt wird. eines Gesetzes zur Änderung des Sexualstraf- Sicherlich wird es auch eine Reihe von Fällen rechts (§§ 177 bis 179 StGB) und strafprozes- geben, in denen Lösungen nicht einfach zu finden sind sualer Regelungen bei Taten gegen die sexu- und in denen sprachwissenschaftlicher Rat notwendig elle Selbstbestimmung von Frauen ist. Aber ich bin sicher, daß wir mit der Zeit immer — Drucksache 12/3303 — mehr gute Formulierungen in Gesetzesvorschriften Überweisungsvorschlag: finden werden. Doch müssen wir bei allem berechtig- Rechtsausschuß (federführend) ten Bestreben um eine Bereinigung der Rechtssprache Ausschuß für Familie und Senioren stets auch die Lesbarkeit und Verständlichkeit von Ausschuß für Frauen und Jugend Vorschriften im Blick behalten. Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von Für die Zukunft ist es daher wichtig, daß wir im einer Stunde vor. — Das Haus ist offensichtlich damit Hinblick auf sprachliche Ausdrucksformen noch sen- einverstanden. sibler werden und daß wir die Empfehlungen mit Ich eröffne die Debatte. Zunächst hat der Abgeord- Nachdruck umsetzen. Wir sollten allerdings nicht nete Hans de With das Wort. 11526 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Dr. Hans de With (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Worin unterscheiden sich die Vergewaltigungen in verehrten Damen und Herren! Die offizielle Bezeich- der Ehe und die unter ge trennt lebenden Eheleuten nung des jetzt aufgerufenen Tagesordnungspunkts von der Vergewaltigung bei in eheähnlicher Gemein- — erste Beratung der Entwürfe von Gesetzen zur schaft Lebenden und solchen ohne diese Beziehun- Änderung des Sexualstrafrechts — verbirgt eher, als gen? In nichts. Allenfalls in einem zusätzlichen Ver- daß sie sagt, worum es im Kern eigentlich geht. Es geht trauensbruch für das Opfer. Ehe heißt doch auch darum, daß endlich auch die Vergewaltigung in der besondere Rücksichtnahme aufeinander. Ehe wie jede andere Vergewaltigung unter S trafe Im Grund aber sehen wir darin, sich diesem Antrag gestellt wird, daß die von der Rechtsprechung hierzu zu versagen, ein Versagen vor der Korrektur einer geschaffene Einengung des Gewaltbegriffs beseitigt Geschichtsentwicklung, die wir Männer zu verant- wird und daß jedwede Vergewaltigung, nicht nur die worten haben. Von dem patriarchalischen Gebot „Das des Mannes gegenüber der Frau, gleichermaßen der Weib sei dem Manne untertan" über den Filmtitel Strafdrohung unterliegt. „Die Frau gehört mir" und die nach der höchstrichter- Wir Sozialdemokraten unternehmen mit der heuti- lichen Rechtsprechung gebotene Pflicht zum eheli- gen Vorlage seit 1972 — Sie haben richtig gehört: seit chen Verkehr bis zur Eherechtsreform 1976 kann über 1972 — den vierten Versuch, die von der Frau wohl am die Forderung nach der sexuellen Verfügbarkeit der schmerzlichsten empfundene Demütigung endlich Frau eine wirklich bedrückende Geschichte geschrie- unter Strafe zu stellen. ben werden. Dieser über Jahrhunderte nachvollziehbare gesell- Als ich im Strafrechtsonderausschuß im Rahmen der schaftliche Mangel an wirklicher Partnerschaft im Reform des Sexualstrafrechts am 1. März 1972 einen sexuellen Bereich zwischen Frau und Mann hat seine entsprechenden Antrag stellte, wurde dieser einen Auswirkungen noch heute. Das ist sicher unbestreit- Tag danach mit vier gegen fünf Stimmen bei einer bar. Wie kann eigentlich der Bundesgerichtshof noch Stimmenthaltung abgelehnt. Es dauerte zehn Jahre, 1985 verlangen, daß unter Gewalt beim Erzwingen bis es zur nächsten Vorlage kam. Der Versuch der des Geschlechtsverkehrs gegenüber der Frau nur Sozialdemokraten 1983 — mittlerweile lagen die tatsächliche körperliche Gewalt verstanden werden Erfahrungen und Informationen aus den Frauenhäu- darf, wohingegen derselbe Bundesgerichtshof bei der sern vor — scheiterte ebenso wie unser dritter Anlauf Nötigung den Gewaltbegriff — wie es so schön 1987. heißt — „vergeistigt" hat, und das, obwohl die Polizei Wurde anfangs als Gegenargumente ins Feld landauf, landab generell empfiehlt, in diesem Fall geführt, der Staatsanwalt habe im Schlafzimmer keinen sinnlosen Widerstand zu leisten? Der zu demü- nichts zu suchen — Herr Engelhard erinnert sich tigenden Frau kann es gleichgültig sein, ob ihr Wider- vielleicht —, stand durch tatsächliche, körperlich erkennbare Gewalt gebrochen wird oder durch das Versetzen in (Uta Würfel [F.D.P.]: O ja!) eine völlig aussichtslose Lage, in der jeder Widerstand das Geschehen nur noch verschlimmert. Wir alle Vergewaltigung in der Ehe sei schon wegen Nötigung kennen aus der täglichen Praxis die achselzuckende und/oder Körperverletzung strafbar, und in der Praxis Bemerkung: Wie die sich auch anzüglich verhalten scheitere eine solche Strafbestimmung auf -alle Fälle hat! Leider müssen wir feststellen, daß in unserer Zeit an der Beweisfrage, so wurde seit 1987 als neu noch immer genügend Filme und Bücher den rüden vornehmlich von der CSU vorgetragen, eine solche Draufgänger verherrlichen. Vorschrift weite die Zahl der Schwangerschaftsabbrü- che aus. Natürlich kennen wir den Vorwurf, der da lautet: (Uta Würfel [F.D.P.]: Absurd!) Beim § 218 verneinen Sie die sittenprägende Kraft des Strafrechts, und hier halten Sie sie hoch. Immerhin — das sei als wohltuend angemerkt bekannten sich auch im Plenum des Deutschen Bun- (Beifall der Abg. Hanna Wolf [SPD]) destags die Vertreter von CDU und F.D.P. zu der Das ist nichts anderes als ein doppelt falsches Notwendigkeit einer Strafdrohung. Inzwischen hatten Pauschalurteil. Zunächst einmal verbietet es sich, uns sich nämlich die Sachverständigen allenthalben in der dieses Schlagwort zuzuordnen. Zum anderen sollte Bundesrepublik Deutschland in Anhörungen weit seit Adolf Arndts Rede auf dem Deutschen Juristentag überwiegend — man kann beinahe sagen: in erdrük- 1968 in Nürnberg über „Strafrecht in einer offenen kender Weise — für die Schließung dieser Lücke stark Gesellschaft" — es ging vornehmlich um das Sexual- gemacht. Es gab eine entsprechende Entwicklung strafrecht — klar sein, daß wir das Strafrecht allein bei auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland. sozialschädlichem Verhalten, also einem „unwider- bringlichen Rechtsverlust" — was hier in beiden Wenn ich jetzt innerhalb von 21 Jahren zum vier- Fällen zutrifft —, als letztes Mittel ansehen. Es sollte tenmal das Erfordernis der Einführung einer Strafvor- klar sein, daß wir diesem letzten Mittel nur dann die schrift für die Vergewaltigung in der Ehe begründe, Bedeutung nicht absprechen, wenn tatsächliche dann wende ich mich vornehmlich an die CSU. Ich Anhaltspunkte auf eine Wirkung hindeuten und sich hoffe, es ist noch jemand im Plenum, der zuhören damit die Strafandrohung legitimiert, also ein stump- kann. fes Schwert nicht entsteht. (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Klar! — Bei der einzigartigen Situation der Frau aber, in der Gudrun Weyel [SPD]: Nein! Wo denn? — diese als Schwangere bei einem Abbruch Opfer und Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Wir über Täter zugleich ist, und nachdem weit mehr als hundert mitteln das!) Jahre bewiesen haben, daß die bloße Strafdrohung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11527

Dr. Hans de With zum Schutz des werdenden Lebens — zumindest in erarbeiteten Gesetzentwurf. Die Sache scheiterte an den ersten drei Monaten — leerläuft, muß und kann einer unseligen Verquickung mit dem § 218 StGB. gewagt werden, akzeptablere und wirksamere Ein- Ein Teil meiner Fraktion vertrat die Auffassung, die wirkungsmöglichkeiten zu schaffen. auf eine Vergewaltigung zurückzuführende Schwan- Eine Frau kann auch auf andere Weise als durch gerschaft dürfe dann nicht zum Schwangerschafts- vaginalen Verkehr sexuell gedemütigt werden. abbruch berechtigen, wenn der Vergewaltiger der Schließlich kann — um nur ein Beispiel zu nennen — eigene Ehemann gewesen sei. ein Mann von einem Mann vergewaltigt werden. Weil das so ist, wollen wir den derzeitigen Vergewalti- Ich mache keinen Hehl daraus, daß mich dieses gungsparagraphen, der nur die Vergewaltigung der Argument nicht überzeugt hat; aber eine Auseinan- dersetzung mit diesem Problem führt uns ja nicht Frau durch vaginalen Geschlechtsverkehr unter Strafe stellt, erweitern und zusätzlich geschlechts- weiter. Sie ist auch überflüssig, da nach Auffassung neutral fassen. Schließlich haben wir in die Strafvor- der überwältigenden Mehrheit dieses Hauses der schrift, die die Nötigung zum Beischlaf betrifft den Tatbestand der kriminologischen Indikation in Zu- kunft entfallen soll. Das gilt sowohl für die gesetzliche Begriff „unter Ausnutzung einer hilflosen Lage" eingefügt, um auch diese bisher nicht erfaßten Hand- Neuregelung, über deren Verfassungsmäßigkeit das lungen, weil sie gleichermaßen kriminell sind, unter Bundesverfassungsgericht in Kürze entscheiden wird, Strafe zu stellen. als auch für den Mehrheitsentwurf der Union, der nur noch eine einheitliche Indikation der psychosozialen Das Verhalten der Menschen in unserer Zeit scheint Notlage enthielt. Damit bestehen, wie ich meine, gute mir — bei allen kriminellen Auswüchsen — im Voraussetzungen dafür. endlich eine Änderung des Umgang zwischen Mann und Frau partnerschaftlicher § 177 StGB zu erreichen. geworden zu sein. Natürlich können wir nur schwer- lich messen, ob und wie heute Ang riffe gegen die Wenngleich die Einsicht, daß es an der Zeit ist, die sexuelle Selbstbestimmung der Frau mehr als noch Privilegierung der Vergewaltigung der eigenen Ehe- vor zehn Jahren gesellschaftlich tabuisiert oder gar frau zu beseitigen, in den letzten Jahren allseits geächtet werden. Aber wir können und müssen etwas gewachsen ist, gibt es dennoch, insbesondere unter tun, um das Bewußtsein zur unbedingten Achtung der den Männern, eine Reihe von ausgesprochenen, vor körperlichen Integrität in seinem wohl empfindlich- allem aber unausgesprochenen Bedenken und Vorbe- sten Bereich, der sexuellen Selbstbestimmung, zu halten. Soweit es die Zeit erlaubt, werde ich mich fördern. damit kurz auseinandersetzen. Ich sage vorsichtig: Ich hoffe, daß wir keinen fünften An Anhängerschaft verloren hat und im Grunde Anlauf benötigen. nicht mehr ernst zu nehmen ist ein Argument, das noch 1988, vor fünf Jahren, von einem anerkannten Vielen Dank. Kommentator des Strafgesetzbuchs, Herrn Dreher, in (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und einem Leserbrief vertreten wurde. Ich zitiere: der F.D.P.) Nun begeht zwar der Mann, der seine Frau vergewaltigt, gewiß ein verwerfliches und straf- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich -erteile würdiges Unrecht, aber er holt sich nur, was ihm dem Abgeordneten Horst Eylmann das Wort. seine Frau zu gewähren grundsätzlich verpflich- tet ist. Deshalb weise die sexuelle Gewalt im Ehebett Horst Eylmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Passiert in der Ehe eine Verge- einen deutlich geringeren Unrechts- und Schuld- waltigung, so ist es keine. So will es jedenfalls unser gehalt auf als der typische Fall der Vergewalti Strafgesetzbuch. Der Grund dafür liegt in der Rechts- gung, bei dem ein fremder Mann eine Frau geschichte. Sowohl nach römischen als auch nach gewaltsam mißbraucht. germanischen Rechtsvorstellungen stand die Ehefrau Eine fürwahr merkwürdige Argumentation! Abgese- unter der Vormundschaft und Herrschaft ihres Man- hen davon, daß Raub im Strafgesetzbuch ja auch dann nes. Demgemäß war es sein gutes Recht, den tatbestandsmäßig Raub bleibt, wenn der Räuber mit Geschlechtsverkehr zu verlangen und ihn notfalls zu der Pistole eine fällige Geldforderung eintreibt, läßt erzwingen, wann immer es ihm paßte. Er nahm sich sich doch die eheliche Geschlechtsgemeinschaft nicht damit nur, was ihm rechtlich zustand. als ein — im Gegensatz zum Bordellbesuch sittlich Nun bekennt sich ja heute kein halbwegs ernstzu- befürwortetes und rechtlich abgesichertes — Gläubi- nehmender Mensch noch zu diesem Ehebild. Gesetz- ger-Schuldner-Modell darstellen, in dem jeder Teil lich, im BGB, ist die Ehe ja ganz anders geregelt. Aber auf Verlangen Ansprüche des Partners zu befriedigen es finden sich in unseren Gesetzen noch Spuren aus hat. grauer Vorzeit. Die Beschränkung der Vergewalti- Die Ehe ist nach heutigem Verständnis auf ein gung auf den „außerehelichen Beischlaf" — so heißt partnerschaftliches Miteinander angelegt, in dem es in § 177 StGB — ist solch ein lebendes Fossil. sich die sexuellen Beziehungen immer wieder neu Es hat in den letzten beiden Jahrzehnten nicht an kommunikativ entwickeln müssen. Hier kann und Versuchen gefehlt — Herr Kollege de With hat das darf nichts einseitig verlangt, beansprucht und einge- berichtet —, diesen Anachronismus zu beseitigen. Die fordert werden. Vor allem bestimmt doch nicht allein Koalitionsfraktionen standen in der letzten Wahl- der Mann den Zeitpunkt, zu dem ihm seine Ehefrau periode kurz vor der Einigung über einen im BMJ sexuell zur Verfügung zu stehen habe, etwa nach der 11528 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Horst Eylmann bierschwangeren Rückkehr vom Herrenabend. Und bestehenden Zweierbeziehung. Täter und Opfer ken- weil er es nicht allein zu bestimmen hat, ist er nen sich mehr oder weniger intensiv. Das Spektrum innerhalb der Ehe auch nicht ein Gran mehr als der Fälle reicht von der Disko-Bekanntschaft, die sich außerhalb der Ehe berechtigt, seine Wünsche mit später im Pkw nicht nach den Vorstellungen des Gewalt durchzusetzen. Mannes entwickelt, über länger dauernde Beziehun- gen im Bekannten-, Freundes- und Verwandtenkreis (Beifall im ganzen Hause) bis hin zum eheähnlichen Zusammenleben. Im Gegenteil ließe sich aus dem besonderen verfas- sungsrechtlichen Schutz, den die Ehe genießt, folgern, Der Mann hinterm Busch, der einer fremden Frau daß sich ein Ehemann in gesteigertem Maß strafwür- auflauert, ist einer der Tätertypen, aber nicht der dig verhält, wenn er in einer solch engen menschli- häufigste in der Notzucht. Das beunruhigend Gefähr- chen Gemeinschaft, in der sich jeder Partner notwen- liche sexueller Aggression liegt ja gerade darin, daß digerweise auch ein Stück weit in die Hand des sie sich gegen ein Objekt richtet, das der Täter nicht anderen begibt und sich ihm anvertraut, seiner verachtet, sondern zu dem er sich hingezogen fühlt Aggression freien Lauf läßt und sie zur Durchsetzung und das er besitzen will. sexueller Wünsche instrumentalisiert. Wie will man es Es liegt auf der Hand, daß in solchen Fällen die denn eigentlich rechtfertigen, daß eine in einer nicht- Beweisschwierigkeiten groß sind — spektakuläre ehelichen Lebensgemeinschaft lebende Frau einen Fälle beweisen das immer wieder —, vor allem dann, besseren strafrechtlichen Schutz genießt als eine Ehe- wenn Spuren von Gewaltanwendung fehlen oder frau? nicht mehr festgestellt werden können. Da Zweifel für (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der den Angeklagten ausschlagen müssen, sind hier Frei- SPD und der PDS/Linke Liste) sprüche häufig unumgänglich, mögen sie von den betroffenen Frauen auch als empörend empfunden Schon seit langem streite ich für die Einbeziehung werden. der ehelichen Vergewaltigung in den Tatbestand des § 177 StGB, vor allem unter diesem Gesichtspunkt der Diese Beweisschwierigkeiten sind allerdings noch materiellen Gerechtigkeit. nie als ein Argument gegen die Strafbarkeit der Vergewaltigung schlechtin verwendet worden. Es ist Dem häufig von den Frauen in den Vordergrund daher wenig überzeugend, wenn man sie für die geschobenen Argument, das Strafrecht müsse hier Straflosigkeit der ehelichen Notzucht ins Feld führt. sittenbildend wirken, stehe ich skeptisch gegenüber. Gerade jetzt erleben wir überall in unserer Gesell- Selbstverständlich werden auch bei einer ehelichen schaft eine beunruhigende Zunahme von Gewalt, Vergewaltigung die Beweisschwierigkeiten in vielen obwohl unsere Strafgesetze eindeutig jede Gewaltan- Fällen erheblich sein. Andererseits zeigen praktische wendung mißbilligen. Fälle, daß auch hier Täter überführt werden können, insbesondere dann, wenn sie besonders roh vorge- Mein Ansatz ist ein anderer: Die gewaltsame Durch- gangen sind. Vor einigen Monaten ging in Nord- setzung sexueller Ziele ist vom Gesetzgeber grund- deutschland ein Fall durch die Presse, in dem während sätzlich als so sozialschädlich gewertet worden, daß er des Scheidungsprozesses der schon getrennt lebende dafür einen besonderen als Verbrechen ausgestalte- Ehemann seine Frau unter dem Vorwand, mit ihr über ten Tatbestand zu schaffen für notwendig gehalten Scheidungsfolgen sprechen zu wollen, in der eheli- hat. Die Tatbestände der Nötigung und der Körper- chen Wohnung aufgesucht und sie in Gegenwart verletzung erschienen ihm nicht ausreichend, um den eines fünfjährigen Kindes in besonders brutaler Weise Unrechtsgehalt einer solchen Tat angemessen ahn- vergewaltigt hat. Die Tat war klar beweisbar, der den zu können. Täter konnte aber nur wegen Nötigung und Körper- Die Frage ist nun, ob sich die Anwendung sexueller verletzung, nicht wegen Vergewaltigung, verurteilt Gewalt gegen die eigene Ehefrau nicht nur graduell, werden. sondern auch in ihrer Qualität so weitgehend von der (Zuruf von der SPD: Skandalös!) Vergewaltigung einer anderen Frau unterscheidet, daß es gerechtfertigt ist, sie nicht unter diesen Tatbe- Erneut frage ich. Was kann diese Privilegierung stand einzuordnen. Mir hat bisher niemand dafür rechtfertigen? einen plausiblen Grund nennen können. Ernster zu nehmen ist das Argument, der eheliche Einen gewissen populären Charme hat das Argu- Intimbereich solle von staatlicher Ausforschung mög- ment, wie man eine Vergewaltigung in der Ehe lichst freigehalten werden. — In der Tat tut der Staat beweisen wolle. Der Staatsanwalt unterm Bett sei gut daran, sich nicht ohne Not in die eheliche Lebens- doch wohl das letzte, was man der Ehe noch wünschen gemeinschaft einzumischen. Dem Toleranzgebot ent- könne. spricht es, daß nicht nur Eheleute in ihren vier Wänden das tun können, was ihnen beliebt, solange Das läßt sich leicht entkräften. Der oben erwähnte es nicht den Interessen schutzbedürftiger Personen Kommentator des Strafgesetzbuches hält es für einen widerstreitet. typischen Fall der Vergewaltigung, wenn ein fremder Mann eine Frau gewaltsam mißbraucht. Dieses Vor- Gerade um diesen Schutz des meist physisch schwä- urteil scheint einfach nicht auszurotten zu sein. Als cheren Partners geht es aber hier. Deshalb halte ich Kriminologe sollte es Herr Dreher allerdings besser eine Gesetzesänderung in diesem Punkt für notwen- wissen. dig. Die Vergewaltigung ereignet sich auch außerhalb Ich will nur noch ergänzen: Wenn es jetzt um die der Ehe in den meisten Fällen innerhalb einer schon Ausgestaltung geht, dann meine ich, der Schutz der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11529

Horst Eylmann Ehe gebietet es, der betroffenen Ehefrau ein Wider- und Entfaltung der eigenen Sexualität und das Recht spruchsrecht gegen die Strafverfolgung einzuräu- auf körperliche Unversehrtheit und auf Schutz der men. Ich glaube, wenn sie sich zutraut, mit diesem sexuellen Intimsphäre durch entsprechende Gesetze Mann weiterhin zusammenzuleben und ihn von sei- zu sichern. Das heißt eben auch, Frauen, die für sich nen Aggressionen abzubringen, dann ist das mehr die Form der Ehe gewählt haben, zu schützen und wert, als ihn ins Gefängnis zu stecken. nicht dafür zu bestrafen. (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) Sexuelle Integrität und Selbstbestimmung von Es ist wirklich an der Zeit — lassen Sie mich das zum Frauen und Mädchen müssen ungeteilt und uneinge- Schluß sagen —, die letzten Spuren eines überholten schränkt und gegen jegliche Art ihrer Verletzung Ehebildes in unserem Strafgesetzbuch zu tilgen. geschützt werden. Wir begrüßen es deshalb, daß aufs neue der wiederholte Versuch unternommen wird, die (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der bestehende Rechtsprechung in Deutschland endlich SPD und der PDS/Linke Liste) zu ändern. Meines Erachtens ist es aber notwendig, gleichzei- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort tig über die Sinnhaftigkeit des bestehenden Sexual- hat die Abgeordnete Frau Dr. Höll. strafrechts insgesamt nachzudenken. Dieses wird als solches ja recht unterschiedlich ausgestaltet und gehandhabt. Der endlich zu überholende § 175 diente Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sexuelle Gewalt gegen in Deutschland seit 100 Jahren zur Diskriminierung homosexueller Männer und war real ein Eingriff in die Frauen und Mädchen ist nicht die Ausnahme, sondern Privatsphäre dieser betroffenen Personen. Anderer- die Regel; sie gehört als ständige Bedrohung oder als erlittene Geschichte zur Wirklichkeitswahrnehmung seits ist das bestehende Sexualstrafrecht bisher nicht aller Frauen. Sexuelle Gewalt hat unter den Bedin- in der Lage bzw. nicht willens, Frauen innerhalb gungen unserer partriarchalen gesellschaftlichen dieser Privatsphäre zu schützen. Strukturen eine zentrale Funktion für die Aufrechter- Aus diesem Grund begrüßen wir diese Initiative der haltung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Män- Vorlage der drei Gesetzentwürfe. Wir hoffen, daß es nern und Frauen, indem sie Frauen und Mädchen in mit diesem vierten Versuch endlich gelingen möge, nachhaltigster Weise deutlich macht, daß ihre Bedürf- die bestehende katastrophale Rechtslage in Deutsch- nisse und Willensäußerungen nicht von Bedeutung land zu ändern. sind und weibliche Würde und Integrität verletzbar Ich danke Ihnen. sind. (Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD, der Das Recht auf den eigenen Körper und auf sexuelle F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Selbstbestimmung — für Männer eine Selbstver- NEN) ständlichkeit — ist für Frauen keineswegs selbstver- ständlich. Die existentielle Angst vor sexueller Gewalt ist in unserer Gesellschaft einer der zentralen Grundbestandteile eines Frauenlebens. Frauen leben Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort nirgendwo — von den Nischen abgesehen, die- sich hat der Abgeordnete Hans Engelhard. lesbisch lebende in Teilbereichen aufgebaut haben — in ihrer eigenen Welt, sondern immer in der Welt der anderen, der Welt der Männer. Es gibt für Frauen und Hans A. Engelhard (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Mädchen keinen Ort, an dem sie in ihrer körperlichen Damen und Herren! Im gesamten politischen Raum ist und seelischen Integrität nicht bedroht und verletzt es, soweit man dort artikulationsbereit ist, mittlerweile werden könnten. Gerade in den Räumen, die Gebor- eine gefestigte Überzeugung, daß die Vergewalti- genheit bedeuten sollten, einschließlich der Familie gung in der Ehe ebenso verwerflich und damit unter und der Arbeitsplätze, geschieht die Hälfte aller Strafe zu stellen ist wie die Vergewaltigung außerhalb sexuellen Straftaten. der Ehe. Wir wissen, daß wir das sexuelle Selbstbe- Sexuelle Gewalt trifft Frauen und Mädchen im stimmungsrecht des Menschen haben. Und es kann Zentrum ihrer weiblichen Existenz und wirkt lebens- nicht richtig sein, daß mit der Eheschließung bei der lang nach. Ehefrau Fremdbestimmung durch den Mann Platz greifen soll. Extremster Ausdruck der bestehenden frauenfeind- lichen Verhältnisse in der Gesetzgebung ist die Tat- Es ist bereits zu Recht betont worden, daß die sache, daß Vergewaltigung in der Ehe bisher straffrei Eheleute ja ein besonderes Vertrauensverhältnis mit- ist und daß in der Spruchpraxis diese Vergewalti- einander verbindet und deswegen unter Umständen gungsart als sexuelle Nötigung ein minder schwerer die Vergewaltigung in der Ehe besonders verwerflich Fall ist. Der Schutz des Staates gilt bislang offensicht- sein kann. In einer Zeit, in der gerade in den Städten lich sehr wohl der Institution Ehe, nicht aber der viele Bedenken haben, des Nachts die Straßen aufzu- Würde der Frau. Das ist nach meiner Meinung uner- suchen, da ist die Wohnung der schützende Raum. träglich. Und dort, mit dem vertrauten Partner zusammen, da Es ist notwendig, die gegenwärtige Rechtslage auf gibt man sich in besonderer Weise preis, man kann diesem Gebiet zu ändern und allen Frauen und nicht glauben, daß nicht zumindest das der sichere Ort Mädchen, unabhängig von der von ihnen gewählten sein soll. Lebensform und von ihren verwandtschaftlichen Meine Damen und Herren, daß bei dieser Sachlage Beziehungen, das Recht auf ungestörte Entwicklung eine gesetzliche Regelung abschließend noch nicht 11530 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Hans A. Engelhard bewirkt worden ist, gereicht ganz sicherlich der Meine Damen und Herren, wir haben uns weiter in Gesetzgebung nicht zur Zierde. dem Konzept der Bundesregierung den gleichen Schutz von Frauen und Männern durch eine (Beifall bei der F.D.P., der SPD und der geschlechtsneutrale Tatbestandsbestimmung ange- PDS/Linke Liste) legen sein lassen. Dieser Text ist seinerzeit im Jahre Aber ich meine, wenn wir diesen langen, langen Weg 1988 mit Frau Professor Süssmuth als der damaligen einmal betrachten, den die Diskussion genommen Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und hat, kann man auch die Hartnäckigkeit lobend erwäh- Gesundheit abgestimmt worden. nen, mit der wir es nie aufgegeben haben, die Dinge Es kam dann zu jenem Punkte, den Herr Kollege weiterzutreiben. Eylmann bereits erwähnt hat, zu dem Einwand, daß Es ist auch daran zu erinnern, daß es Schritt für sich aus der Union Stimmen erhoben, die auf die Schritt gelungen ist, zu besseren Modellen und Lösun- kriminologische Indikation verwiesen mit dem gen zu kommen. Herr Kollege de With, das ist ganz Bedenken, daß davon von Ehefrauen Gebrauch klar: Es ist ein weiter Weg seit jenem Frühjahr 1972, gemacht werden könnte bis hin zu der sicherlich als Sie im Strafrechtssonderauschuß des Deutschen etwas verrückten Vorstellung, daraus könnte die Zahl Bundestags die Streichung des Begriffs „außerehe- der Schwangerschaftsabbrüche zahlenmäßig an- lich" im § 177 StGB beantragt hatten. wachsen. Wir wissen: Allenfalls 0,1 % der legal ablau- fenden Schwangerschaftsabbrüche — derer, die Dann gab es — um nur die wichtigsten Punkte zu angemeldet werden — werden auf diese Indikation nennen — ja immer den Plan, eine Sondervorschrift gestützt. Deswegen kann man sich nicht vorstellen, für die eheliche Vergewaltigung zu verankern — auch daß da irgend etwas in eine falsche Richtung laufen ein falscher Weg. sollte. Man hatte ehedem es beschränkt auf den „Bei- Ich habe bei anderer Gelegenheit hier im Hause im schlaf" des § 177 StGB. Abgewandt hat man sich übrigen darauf hingewiesen: Wer antritt, um die davon. soziale Indikation einer verfassungsrechtlichen Prü- So bleibt ja auch für die SPD noch Gelegenheit, fung unterziehen zu lassen, weil das ausgeweitet und darüber nachzudenken, ob es richtig sein kann, aus kein vernünftiges Instrumentarium mehr sei, der wird § 179 StBG — über sexuellen Mißbrauch Widerstands- doch nicht glauben, daß eine Ehefrau gar zu der unfähiger — das Wort „außerehelich" herauszuneh- wahrheitswidrigen Beschuldigung einer Vergewalti- men, weil eine Überlegung gezeigt hat, daß man gung gegenüber ihrem Ehemann greift, um qua damit einer psychisch beeinträchtigten, ja gestörten diesen Weg zu einer Indikation zu kommen! Nein, das Ehefrau unter Umständen die Möglichkeit des sexu- ist das Problem nicht. ellen Kontakts überhaupt nähme, weil ihr Ehemann Ich sage mit aller Deutlichkeit: Wer aus religiösen damit in die Gefahr gebracht werden könnte, eine Gründen die Auffassung der kriminologischen Indi- strafbare Handlung zu begehen. kation vertritt und hier Bedenken hat, dem begegne Über all das kann man sich unterhalten, und inso- ich mit Achtung. Die Bedenken teile ich nicht, und ich fern kann dem langen Zeitraum auch etwas Positives weise nachdrücklich darauf hin, daß in unserem Staat abgewonnen werden. - nach seiner Konstruktion solche Bedenken nicht zum Maßstab allgemeiner Gesetzgebung erhoben werden Meine Damen und Herren, die Bundesregierung können. hat zu meiner Zeit als Minister ein Konzept entwickelt (Beifall bei der F.D.P.) — ich habe es bei anderer Gelegenheit bereits vorge- stellt —: die Zusammenführung der Tatbestände von Meine Damen und Herren, wir stehen jetzt vor der Vergewaltigung und sexueller Nötigung in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum einzigen Bestimmung, die Gleichbehandlung von § 218. Wenn unsere Beschlüsse, die wir — gestützt auf ehelichen und außerehelichen sexuellen Gewalt- den Gruppenantrag — am 25. Juni 1992 gefaßt haben, handlungen, die Gleichbehandlung der verschiede- der verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten, was nen Penetrationsformen. Aber zu letzterem füge ich unserer Überzeugung entspricht, was aber auch hier hinzu: Im Gesetzbuch hat das, wenn man es mit unsere Hoffnung ist, dann gibt es auch keine krimino- der deutschen Sprache ernst meint, nichts verloren. logische Indikation mehr, und die Sache ist hinfäl- Jenes Konzept, das von der Bundesregierung im lig. Bundesministerium der Justiz entwickelt worden ist, Aber ich will ein kritisches Wort anfügen. Dann wird braucht solche Begriffe nicht. Es kommt mit der sich in dem Moment zeigen, ob die Verfechter der deutschen Sprache aus, denn gehen Sie einmal hinaus kriminologischen Argumentationskette wirklich das und fragen Sie den berühmten Mann, die berühmte und nur das gemeint haben Frau auf der Straße unvorbereitet, was sie von vagi- naler, analer, oraler Penetration wissen, und Sie (Uta Würfel [F.D.P.]: Genau!) werden staunen: Nichts! oder ob es nicht bei manchen eine Möglichkeit war, sich wegen ganz anderer Argumente hinter einem (Dr. Hans de With [SPD]: Bei uns heißt das solchen Argument verstecken zu können. Geschlechtsverkehr!) Wir können hier mit diesen Begriffen hantieren, sie (Uta Würfel [F.D.P.]: Bravo, Herr Engel haben Platz in Gesetzentwürfen, aber schließlich, im hard!) Bundesgesetzblatt und in den Gesetzestexten, sollten Meine Damen und Herren, ich will es noch einmal sie keinen Platz haben. ganz klar ansprechen. Ich kenne Kollegen, die gegen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11531

Hans A. Engelhard die Strafbarstellung der ehelichen Vergewaltigung tung der Geltung auch für verheiratete Frauen hinaus Bedenken haben, aber das sind Kollegen, die sagen, in drei Punkten. worum es ihnen geht. Das sind strafprozessuale Vor- stellungen und anderes, die ich für falsch halte, aber Erstens. Unter Vergewaltigung sollte nicht mehr mit diesen Kollegen kann gesprochen werden. Mit nur die vaginale Penetration verstanden werden, wem man nicht sprechen kann, das sind die, die nicht sondern jedes gegen den Willen des Opfers erfol- im Arbeitskreis, nicht in ihrer jeweiligen Fraktion, gende Eindringen in den Körper. Versuche, bei der nein, nirgends sich melden, sondern sich im verbor- Beurteilung der Schwere der Tat eine Unterscheidung genen halten und allenfalls hinter vorgehaltener zwischen vaginaler, analer oder oraler Penetration Hand sagen, daß man damit nicht einverstanden sein machen zu wollen, sind willkürlich und lassen die könne. Mit denen muß gesprochen werden, und Perspektive des Opfers außer acht. Zudem wäre — das notfalls müssen sie in ihrer Fraktion und dann insge- ist hier auch schon öfter gesagt worden — mit einer samt im Deutschen Bundestag überstimmt werden. solchen Formulierung die sexuelle Selbstbestimmung sowohl von Frauen als auch von Männern unter den (Beifall der Abg. Hanna Wolf [SPD]) strafrechtlichen Schutz gestellt. Auf die Entscheidung des Bundesverfassungsge- richts wartet die Fraktion der Freien Demokraten mit Zweitens. Wir wollen, daß im deutlichen Unter- hartnäckiger und entschlossener Geduld. schied zu den Gesetzentwürfen von SPD und Bundes- (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie rat die jetzige Definition des Tatbestandsmerkmals bei Abgeordneten der CDU/CSU und der des gegenüber dem Opfer ausgeübten Zwangs geän- SPD) dert wird. Nach geltendem Recht wird der Tatbestand einer Vergewaltigung oder einer sexuellen Nötigung daran geknüpft, daß die Tat mit „Gewalt oder Dro- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben" hat nun die Abgeordnete Frau Christina Schenk. ausgeführt worden ist. Die Gewaltanwendung gegen- über Frauen wiederum wird in der gegenwärtigen Christina Schenk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rechtspraxis danach beurteilt, ob Frauen glaubwür- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hierzu- dig machen können, daß sie physische Gegenwehr lande wird noch immer mit erschreckender Blindheit geleistet haben. Dies hat im Gerichtsverfahren ten- und Blauäugigkeit die Ehe als die Idealform des denziöse Täterschutzstrategien zur Regel werden las- Zusammenlebens eines Mannes mit einer Frau darge- sen, in denen die alte Mär, Frauen meinten ja, wenn stellt. Wer sich den Blick auf die Realität nicht von sie nein sagten, aufscheint und die patriarchale Tra- diesen Trugbildern einer patriarchalischen Ideologie dition, Frauen nicht wirklich ernst zu nehmen, fortge- verkleistern läßt, wird feststellen, daß Frauen, die der führt wird. Es hat Freisprüche gegeben, wenn Verge- Tradition und dem Leitbild Ehe bzw. den ökonomisch waltiger nicht mit physischer, sondern psychischer und rechtlich gesetzten Ködern folgen, das mit diver- oder indirekter körperlicher Gewalt eine Vergewalti- sen gravierenden Nachteilen bezahlen müssen. Einer gung oder sexuelle Nötigung erzwungen haben. dieser Nachteile ist bis jetzt noch der fehlende Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von verheirateten Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Polizei Frauen, und um den geht es heute hier. Die mit Beginn- von einer aktiven körperlichen Gegenwehr in einer des Patriarchats konstruierten Besitzrechte von Män- Vergewaltigungssituation dringend abrät, da dies nern an ihren Frauen werden auch vom Strafrecht der unmittelbare Lebensgefahr heraufbeschwört, muß Bundesrepublik Deutschland noch immer behaup- das Tatbestandsmerkmal anders definiert werden. tet. Wir meinen, daß jede Mißachtung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts, die ein Täter wissentlich Es ist in der Tat ein himmelschreiender Skandal, daß gegen den in irgendeiner Weise vom Opfer zum das Parlament dieses Landes es noch immer nicht Ausdruck gebrachten Willen begeht, als Vergewalti- geschafft hat, diesen unhaltbaren Zustand zu been- gung bzw. Nötigung gewertet werden muß. den, und es ist auch skandalös, daß die Bundesregie- rung es nicht für nötig gehalten hat, in dieser Frage die Drittens. Für die Straftatbestände Vergewaltigung Initiative zu ergreifen. Angesichts der Tatsache, daß und Nötigung muß der minder schwere Fall gestri- Vergewaltigungen zum überwiegenden Teil im fami- chen werden. In der Praxis patriarchaler Rechtspre- lialen Rahmen stattfinden, ist es auch bezeichnend, chung wird in der Regel versucht, der vergewaltigten daß von der Familienministerin zu diesem Problem Frau eine Mitschuld an dem an ihr begangenen noch kein Wort zu vernehmen war. Frau Rönsch ist Verbrechen zu geben, sei es durch die Art, wie sie offenbar von der Aufgabe, permanent das Bild der Ehe angeblich bekleidet war, sei es, weil sie den Täter und Familie in vollendeter Harmonie und Eintracht zu bereits vor der Tat gekannt hat oder vor der Tat malen und außerdem noch die Familienpolitik der sexuelle Kontakte zu ihm hatte, sei es, weil sie Bundesregierung als deren angeblich ernsthaftes Prostituierte von Beruf war, oder sei es, weil sie der Anliegen zu verkaufen, so in Anspruch genommen, Einladung in seine Wohnung gefolgt war, oder sei es, daß es zu einem deutlichen Wort in der Öffentlichkeit, weil der Täter angeblich in Liebe zum Opfer entbrannt im Kabinett nicht mehr reicht. ist. In solchen Fällen hat man bisher die Konstruktion Meine Damen und Herren, die Gruppe BÜND- eines minderschweren Falles dazu genutzt, dem Täter NIS 90/DIE GRÜNEN fordert eine Reform des Sexu- ein geringeres Strafmaß zuzumessen. Wir meinen, daß alstrafrechts hinsichtlich Vergewaltigung und sexu- für die Beurteilung der Schwere der Tat ausschließlich eller Nötigung über die aus unserer Sicht nicht weiter das Tatgeschehen und dessen Auswirkung auf das diskutierenswerte, da selbstverständliche Auswei Opfer maßgeblich sein sollten und nicht das Aussehen 11532 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Christina Schenk oder die Art der Beziehung zwischen Opfer und gung, der sexuellen Nötigung und des sexuellen Täter. Mißbrauchs Widerstandsunfähiger soll auf Handlun- Meine Damen und Herren, wir wenden uns auch gen ausgeweitet werden, bei denen der Täter keine strikt gegen eine sogenannte Versöhnungsklausel, körperliche Gewalt anwendet, aber eine hilflose Lage wie sie in den Gesetzentwürfen des Bundesrates und ausnutzt. Weiterhin muß auch die anale und orale der SPD vorgesehen ist. Dieser Passus soll es dem Penetration als Vergewaltigung erfaßt werden, denn Gericht ermöglichen, die Strafe zu mildern oder gar für die erniedrigten Opfer gibt es keine Unterschei- von ihr abzusehen, wenn es, wie es heißt, im Interesse dung in entwürdigend und weniger entwürdigend. der Aufrechterhaltung ehelicher oder eheähnlicher Die Gewaltanwendung allein als Voraussetzung für Bindungen zwischen Täter und Opfer geboten das Anerkennen der Vergewaltigung als solche geht scheint. Eine solche Klausel gibt es bei keinem ande- meines Erachtens auch an der Realität vorbei. Inso- ren Offizialdelikt. Sie ist zudem überflüssig, denn das weit ist auch der Gesetzentwurf des Bundesrats nicht Opfer hat durch Rückgriff auf das Zeugnisverweige- weitgehend genug. Gerade diese Einschränkung hat rungsrecht jederzeit die Möglichkeit, einen Prozeß bisher zur Folge gehabt, daß der Täter in zahlreichen praktisch zum Erliegen zu bringen, wenn es ihn nicht Fällen freigesprochen wurde, weil es zur physischen will. Die Versöhnungsklausel ist nicht harmlos. Ihre Gewaltanwendung nicht gekommen war. Die Frau überaus schädliche Wirkung besteht darin, daß sie die aber empfindet ihre Lage als aussichtslos, aus Angst Verurteilung des Täters an eine nicht oder doch unterläßt sie jede Gegenwehr, ein Verhalten, das im stattgefundene Versöhnung bindet und damit die übrigen zum eigenen Schutz der Frau von der Krimi- vergewaltigte Frau einem unsäglichen Druck aussetzt nalpolizei empfohlen wird, weil sie sich durch Gegen- und sie geradezu zur Zielscheibe von Erpressungsver- wehr manchmal auch einer Todesgefahr aussetzt. suchen seitens ihres Ehemannes oder Partners macht. Auch hier wird die Fragwürdigkeit der Gesetzge- bung, die besteht, deutlich. Diese Gesetzgebung ent- Es gibt also viel zu tun in den dann damit befaßten spricht noch einer veralteten Auffassung von einem Ausschüssen. Ich hoffe, auch wenn die Chancen geschlechtsrollenkonformen Verhalten einer Frau angesichts der Mehrheitsverhältnisse in diesem dem Mann gegenüber. Eine anständige Frau hat eben Hohen Hause dafür nicht sehr hoch sind, daß es jede Situation zu vermeiden oder ihr frühzeitig aus wenigstens an dieser Stelle gelingt, die patriarchalen dem Wege zu gehen, die damit enden könnte, daß es Traditionen im Sexualstrafrecht zu brechen. gegen ihren Willen zu sexuellen Übergriffen kommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kommt es dann aber doch dazu, muß sich die Frau als Opfer häufig noch fragen lassen, ob sie denn nicht Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile etwa durch ihre Kleidung oder durch ihr Verhalten nunmehr der Abgeordneten Frau Anni Brandt-Els- den Mann provoziert hat, ob sie denn nun auch alles weier das Wort. getan hat, um der sexuellen Nötigung, der Vergewal- tigung zu entgehen. Das dürfen wir nicht weiter hinnehmen. Anni Brandt-Elsweier (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) Seit über 20 Jahren berät dieses Haus Gesetzent-- Meine Damen und Herren, auch uns ist klar, daß die würfe, die die Vergewaltigung in der Ehe im Straf- Änderung des Strafgesetzbuchs die Gewalttätigkeit recht nicht nur als Nötigung behandelt wissen wollen. der Ehemänner gegenüber ihren Frauen allein nicht Eine Einigung wurde bisher nicht erzielt. Während all beenden wird. Nein, das Strafrecht allein wird keine dieser Jahre habe ich in meiner beruflichen Eigen- Frau vor den Schlägen ihres Mannes retten. Eines schaft als Richterin diese Diskussion teilweise ver- aber kann eine Änderung erreichen, einen Anstoß für ständnislos verfolgt. Wer wie ich die erschütternden einen Bewußtseinswandel in unserer Gesellschaft Schilderungen der mißhandelten Frauen bereits oft geben: Jeder muß akzeptieren, daß die Ehefrau auch als Anwältin in Scheidungssachen und später im gegenüber ihrem Ehemann ein eigenes Persönlich- Gerichtssaal erlebt hat, ihre Ängste, ihre Ohnmacht, keitsrecht und ein Recht auf sexuelle Selbstbestim- ihre Erniedrigung gespürt hat, wird eine erneute mung hat. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, diese Verzögerung der Reform nicht hinnehmen können. Rechte zu schützen. Der Schutz dieser Rechte darf (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) auch nicht erst dann erfolgen, wenn das Opfer einen Auch widerspricht es meinem Gerechtigkeitssinn, Antrag stellt. Dafür ist die Lebenssituation der betrof- daß das geltende S trafrecht eine Ungleichbehand- fenen Frauen viel zu bedrohlich und der Druck des lung von verheirateten und unverheirateten Frauen Ehemanns viel zu stark. Nein, hier ist der Staat akzeptiert. Während die außereheliche Vergewalti- gefordert, von sich aus die Initiative zu ergreifen. Die gung als solche geahndet wird, wird die Vergewalti- innereheliche Tat darf nicht auf die Ebene eines rein gung der Ehefrau lediglich als Nötigung behandelt. partnerschaftlichen Konflikts gezogen werden. Der staatliche Schutz gilt somit vorrangig der Institu- Es will mir nicht einleuchten, warum die Vergewal- tion Ehe, nicht aber der Würde der Frau und ihrem tigung außerhalb der Ehe von Amts wegen verfolgt Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, auf das sie mit wird, die durch den Ehemann aber erst auf Antrag. dem Ja beim Standesamt nicht verzichtet. Dennoch ist es denkbar, daß die verletzte Ehefrau im Nach dem vorliegenden Entwurf der SPD-Fraktion Interesse der Aufrechterhaltung der Ehe eine Bestra- soll auch die Vergewaltigung in der Ehe unter S trafe fung nicht für sinnvoll hält. Entscheidend muß dabei gestellt werden, und zwar unabhängig vom Antrag jedoch sein, daß die Frau eine Fortsetzung der Ehe für der Betroffenen. Der Straftatbestand der Vergewalti möglich hält. Da die Brutalität des Ehemanns gegen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11533

Anni Brandt-Elsweier seine Familie ein oft schon jahrelange geübtes Ver- Jeder, der an dieser Stelle die Stichworte „Presse- und haltensmuster ist, wird das Versprechen einer Verhal- Informationsfreiheit" einwirft, hat von diesem Grund- tensänderung allein nicht ausreichen. Hier wird es recht nichts, aber auch gar nichts beg riffen, oder er sicherlich ohne eine gutachterliche Stellungnahme übersieht, daß auch die Würde der Frau unantastbar nicht gehen. Dabei ist es jedoch für die Opfer entschei- ist. dend, daß der Täter seine Schuld zugeben muß, daß er Vielen Dank. ein echtes Unrechtsbewußtsein entwickelt hat und (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der den Willen hat, sich zu ändern. F.D.P.) Wenn aber der Täter Einsicht in seine Schuld zeigt, wenn eine Therapie Erfolg verspricht, warum sollte Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile dann diese winzige Chance, die Ehe auf Wunsch der nunmehr der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau zu retten, nicht wahrgenommen werden? Von Cornelia Yzer noch einmal das Wort. den Gegnern des bereits früher diskutierten Ansatzes „Therapie statt Strafe" werden die, wenn auch gerin- Parl. Staatssekretär bei der Bundes- gen Erfolgschancen dieses Weges nicht geleugnet, Cornelia Yzer, ministerin für Frauen und Jugend: Herr Präsident! aber es folgt in der Regel sofort der Hinweis auf den Meine Damen und Herren! Für mich steht außer finanziellen und personellen Aufwand. Sie müssen Frage, daß die sich dann allerdings fragen lassen, wieviel Ihnen der geltenden Regelungen der §§ 177 und 178 StGB, die nur die außereheliche Vergewaltigung Schutz von Ehe und Familie wirklich wert ist. Es ist nur und sexuelle Nötigung erfassen, als Relikte früherer zu hoffen, daß dieser Wert nicht genauso gering Zeiten verändert werden müssen. Denn was besagt angesetzt wird, wie er sich in der Unterstützung der beispielsweise der heutige § 177? Er besagt letztlich, Frauenhäuser durch die Bundesregierung ausdrückt. daß es eine Vergewaltigung in der Ehe schon begriff- Nur rund 25 000 Frauen finden in Frauenhäusern lich nicht geben kann. Dies war einmal, wenn schon Schutz; mehr lassen die von der Frauenministerin zu nicht richtig, so doch folgerichtig. Nach den germani- bewilligenden Mittel nicht zu. Die Frauenhäuser in schen und römischen Rechtsvorstellungen bis hin zu den neuen Bundesländern leiden darunter ganz den Rechtsvorschriften des 19. und des beginnenden besonders. 20. Jahrhunderts galt die Rechtsmeinung — ich zitiere In der ehemaligen DDR wurde das Problem der hier aus einem alten Lehrbuch —: Gewalt in der Ehe aus ideologischen Gründen ver- Wer, wie der Ehemann, auf den Beischlaf ein leugnet, aber nach 1990 waren die aus dem Boden vollkommenes Recht hat, macht sich durch schießenden Frauenhäuser schnell überfüllt. Wohlge- Erzwingung desselben keiner Notzucht schul- setzte Worte stärken hier vielleicht noch den Rücken, dig. aber Geld verschafft Standhaftigkeit. Wenn hier nicht schnell finanzielle Hilfe erfolgt, wird die Hälfte der Noch 1937 entschied das Reichsgericht, daß ein Bei- ostdeutschen Frauenhäuser ihre Türen vor geschlage- schlaf unter Eheleuten nie Unzucht sein kann, auch nen, mißhandelten und vergewaltigten Frauen schlie- wenn er erzwungen wird. Diese Meinung galt bis in ßen müssen. die 70er Jahre und war durch das Strafgesetzbuch gedeckt, das die „Sittlichkeit" schützte und ,,unzüch- Diesen Frauen mit ihren Kindern bleibt dann nichts tige Handlungen" unter Strafe stellte. anderes übrig, als das Martyrium weiter zu ertragen. Doch in den letzten 20 Jahren hat sich unsere Denn wo sollen sie auch hin? Eine Wohnung bekom- Rechtsauffassung grundlegend verändert. Unser Ehe- men sie nicht, in der eigenen Wohnung wartet der recht wird vom Leitbild der Partnerschaft geprägt. gewalttätige Ehemann. Auch hier werden die Miß- Unter dem Begriff der ehelichen Lebensgemeinschaft stände und Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft verstehen wir heute die Partnerschaft gleichen Rechts deutlich. Es ist die Frau, die mit ihren Kindern die und gleicher Pflichten mit besonderen Anforderungen Wohnung verlassen muß, nicht aber der mißhan- auf gegenseitige Rücksichtnahme, auf Mitsprache delnde Mann. Dies, meine Damen und Herren, ist in und Mitentscheidung. Israel und Argentinien z. B. anders. Dort muß der Täter die Wohnung verlassen. — Auch hier besteht Im Strafrecht ist das geschützte Rechtsgut nicht noch dringender Handlungsbedarf. mehr die Sittlichkeit, sondern das sexuelle Selbstbe- stimmungsrecht. Dieses sexuelle Selbstbestimmungs- Ich muß allerdings gestehen, daß ich in die Reform- recht der Frau wird auch durch die Ehe nicht einge- fähigkeit und Reformwilligkeit der Regierungskoali- schränkt. tion wenig Hoffnung setze. Der Konservatismus mit Die Vergewaltigung — dies muß man immer wieder seinem Ziel der geistig-moralischen Erneuerung, des- betonen — ist auch dann keine Bagatelle, wenn sie sen zehnten Jahrestag Sie, meine Damen und Herren innerhalb der Ehe geschieht. Machen wir uns doch von der Koalition, erst vor kurzem feierten, hat auch einmal bewußt: Ehegatten sind zu wechselseitiger einen Werteverfall hinnehmen müssen. Die Folgen Rücksicht und Achtung verpflichtet. Eine Vergewalti- dieses konservativen Werteverfalls können wir jeden gung in der Ehe muß daher besonders schwer wiegen. Abend in den Privatsendern betrachten: Gewalt, Soft- Die Erfahrung zeigt deshalb auch, daß sich die Opfer und bald auch Hardpornos sind nicht geeignet, eine einer Beziehungstat häufig in besonderer Weise psy- Vorbildfunktion auszuüben, jedenfalls nicht, wenn es chisch verletzt fühlen. Dies ist auch nachvollziehbar. einem mit der sexuellen Selbstbestimmung der Frau Schließlich hat sich bei einer ehelichen Vergewalti- und der Achtung ihrer Würde ernst ist. gung jemand an der Frau vergangen, von dem sie (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei gerade besondere Liebe, Fürsorge und Rücksicht- Abgeordneten der CDU/CSU) nahme erwartet. 11534 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Parl. Staatssekretär Cornelia Yzer Aus all dem folgt für mich: Eine Frau muß vor der Regel in diesem Bereich nicht aus, um einen Täter Vergewaltigung in der Ehe strafrechtlich geschützt zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Erfahrun- sein. Ich setze mich daher dafür ein, daß die eheliche gen aus den Vereinigten Staaten aufgreifend, sollte Vergewaltigung in einem Straftatbestand verankert hier die Teilnahme an entsprechenden Resozialisie- wird. Es muß allerdings eine Regelung gefunden rungsmaßnahmen zur Bewährungsauflage gemacht werden, die verhindert, daß gegen den Willen der werden. Denn Ziel einer Änderung des Sexualstraf- Ehefrau ermittelt wird. rechts kann nicht sein, daß ein neuer Kampf der Noch eine Bemerkung, gerade auch um Mißver- Geschlechter gegeneinander beginnt, Frau gegen ständnissen vorzubeugen: Es kann und wird nicht das Mann oder umgekehrt. Ziel muß es auch sein, Hilfe Ziel sein, eine Kette von Strafverfahren gegen Ehe- dort anzubieten, wo es möglich ist, die Gewaltspirale männer auszulösen. Dies ist auch nach allen interna- zu durchbrechen. Ich weiß, daß diese Forderung zur tionalen Erfahrungen nicht zu erwarten. Es geht Zeit noch nicht erfüllt werden kann, da es in Deutsch- vielmehr darum, bewußt zu machen, daß die eheliche land noch keine einschlägigen Therapiemaßnahmen Vergewaltigung weder erlaubt noch ein Kavaliersde- für diese Täter gibt. Das Bundesministerium für likt ist. Denn auch heute fehlt oftmals noch das Frauen und Jugend prüft aber zur Zeit, ob und Unrechtsbewußtsein. Eine im Auftrag des Justizmi- gegebenenfalls wo ein entsprechender Modellver- nisteriums erstellte Studie aus dem Jahre 1986 belegt, such gemacht werden kann. daß ein Viertel der Befragten auch heute noch nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sicher ist, ob ein solches Verhalten des Ehemannes, die Vergewaltigung, strafrechtlich geahndet werden Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort kann. erteile ich nunmehr dem Parlamentarischen Staatsse- Ich bin allerdings auch der Meinung, daß eine kretär Funke. Änderung des Sexualstrafrechts nicht nur die Einbe- ziehung des ehelichen Bereichs umfassen sollte. Stu- Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- dien des Bundesministeriums für Frauen und Jugend ministerin der Justiz: Herr Präsident! Meine sehr haben gezeigt, daß die strafrechtliche Ahndung von verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst Sexualdelikten unzureichend ist. Ich denke dabei dem verehrten Kollegen Engelhard für seine ein- insbesondere an eine Erweiterung des Gewaltbegriffs drucksvolle Rede sehr danken. Er hat die Vielschich- in den §§ 177 und 178 StGB. Die sehr enge Auslegung tigkeit der Probleme aufgezeigt und darauf hingewie- des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung hat sen, warum in der letzten Legislaturperiode die dazu geführt, daß Vergewaltigungen nicht als solche Gesetzesnovelle gescheitert ist geahndet werden, nur weil es an einer aktiven Gegen- (Uta Würfel [F.D.P.]: Bedauerlicherweise!) wehr der Frau fehlte oder weil diese Gegenwehr nicht nachgewiesen werden konnte. In dieser Debatte — bedauerlicherweise, Frau Kollegin Würfel —, weil doch eine Verknüpfung mit § 218 wurde bereits darauf verwiesen, daß wir doch alle gesehen wurde. wissen: Frauen wird empfohlen, im Falle eines Diese Verknüpfung wird man auflösen können, wenn das Bundesverfassungsgericht — hoffentlich im Sinne Angriffs keine Gegenwehr zu leisten, um die Aggres- sivität des Täters nicht weiter zu erhöhen. der Mehrheit diese Parlamentes — entschieden hat. (Beifall der Abg. Gudrun Weyel [SPD]) Wir müssen ferner prüfen, ob andere Formen des Geschlechtsverkehrs in § 177 StGB einbezogen wer- Meine Damen und Herren, der zweite Einwand den müssen, da diese Formen von Frauen als beson- zeigt, daß es um mehr geht, als nur das Wort „außer- ders erniedrigend empfunden werden. ehelich" in den §§ 177, 178 und 179 des StGB zu streichen. Es geht auch und gerade darum, ob und in Eine weitere wichtige Regelung wird das Ruhen der welcher Form der besonderen Situation bei Verlet- Verjährungsfrist bei Sexualdelikten gegen Kinder zung der sexuellen Selbstbestimmung innerhalb sein. Dabei werden wir uns darauf verständigen bestehender Ehen und Lebensgemeinschaften Rech- müssen, ob aus strafrechtssystematischen Gründen nung getragen werden soll. Die vorliegenden Ent- ein Ruhen der Verjährung nur bis zur Vollendung des würfe sehen dazu ganz unterschiedliche Lösungs- 14. Lebensjahres möglich ist oder ob ein Ruhen der möglichkeiten vor. Verjährung bis zur Volljährigkeit des Opfers in Am weitesten geht der Gesetzentwurf der Gruppe Betracht kommt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die offensichtlich an Ich spreche mich dafür aus, bei der notwendigen ihrem eigenen Gesetzentwurf nicht übermäßig inter- Novellierung der §§ 177 bis 179 StGB auch diese essiert zu sein scheinen; denn sie sind gar nicht mehr Aspekte mit einzubeziehen, damit dieser Bereich da. Diese verzichten auf Sonderregelungen, und dar- insgesamt abgeschlossen werden kann. über hinaus wollen sie die milderen Strafrahmen für minder schwere Fälle streichen. Dieser Vorschlag Allerdings tragen die vorliegenden Entwürfe der führt zwar zu einer formellen komplexen Regelungsmaterie meines Erachtens nicht Gleichbehandlung bei der Bestrafung erzwungener sexueller Handlungen ausreichend Rechnung; sie weisen zum Teil sogar den falschen Weg. innerhalb und außerhalb bestehender Lebensge- meinschaften. Er erlaubt es aber meines Erachtens Lassen Sie mich abschließend über das S trafrecht zum einen nicht, dem vielfach bestehenden Wunsch hinaus auch noch auf folgendes hinweisen. Wir müs- von Täter und Opfer nach Aufrechterhaltung ihrer sen bei Gewalttaten von Männern gegen Frauen auch Lebensgemeinschaft und einer eigenständigen Kon- über wirksame Resozialisierungsmaßnahmen nach- fliktregelung ausreichend Rechnung zu tragen. Zum denken. Geldstrafen oder Haftstrafen allein reichen in anderen könnten Gerichte dazu neigen, die Vorschrif- Deutscher Bundestag —— 12. Wahlpe 132.riode Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11535

Parl. Staatssekretär Rainer Funke ten der §§ 177 bis 179 StGB einschränkend auszule- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine gen, um nicht die hohen Mindeststrafen verhängen zu Damen und Herren, damit sind wir am Ende der müssen. Aussprache. Akzeptabler erscheinen mir, Herr Kollege de With, Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetz- dagegen der Gesetzentwurf der SPD und der des entwürfe auf den Drucksachen 12/1818, 12/2167 und Bundesrates, die es dem Gericht ermöglichen sollen, 12/3303 an die in der Tagesordnung aufgeführten die Strafe zu mildern oder von Strafe abzusehen, wenn Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? — dies im Interesse der Aufrechterhaltung der Bindung Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind diese zwischen dem Opfer und dem Täter geboten ist. Für Überweisungen beschlossen. bedenklich halte ich es allerdings, daß diese Regelung Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr sogar ein völliges Absehen von Strafe zulassen soll, Zusatzpunkt 4 auf: obwohl es sich bei den §§ 177 bis 179 StGB um Aktuelle Stunde Verbrechenstatbestände handelt. Darüber müssen Haltung der Bundesregierung zur Krise der wir vielleicht rechtssystematisch noch einmal mitein- Stahlindustrie in der Bundesrepublik Deutsch- ander intensiv diskutieren. land Als dritte Möglichkeit, die ich ebenfalls für prüf ens- Die Gruppe PDS/Linke Liste hat diese Aktuelle wert halte, käme ein Widerspruchsrecht des Opfers Stunde beantragt. gegen die Strafverfolgung in Betracht. Das würde Das Wort erteile ich zunächst einmal dem Abgeord- vielleicht rechtssystematisch etwas besser passen. neten Dr. Gregor Gysi. Aber, wie gesagt, darüber muß gesprochen werden.

Wenn wir hier schon über die Vergewaltigung in Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! der Ehe sprechen, sollten natürlich auch andere Meine Damen und Herren! Wir hatten hier am Mitt- Probleme des Sexualstrafrechts einer Lösung zuge- woch eine Aktuelle Stunde, die sich letztlich — wenn führt werden. Im Bereich der Tatbestände der Verge- ich mich recht entsinne — über sechs oder sieben waltigung und der sexuellen Nötigung sind Fälle Stunden hingezogen hat, und zwar zu dem spannen- aufgetreten, in denen weder das Tatbestandsmerkmal den Thema, daß der Bundeskanzler dem F.D.P.- Gewalt noch das Tatbestandsmerkmal Drohung mit Vorsitzenden einen Brief geschrieben hat. Ich hätte es gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben erfüllt als angemessener empfunden, wenn wir die Zeit waren. Gleichwohl erscheinen diese Fälle nicht min- genutzt hätten, um vor vollem Haus über das Schick- der strafwürdig. Es handelte sich dabei um Situa- sal der Stahlindustrie in Deutschland und in Europa zu tionen, in denen Frauen vor Schreck starr oder aus sprechen; denn hier geht es, glaube ich, um sehr Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den ernsthafte Probleme. Ich finde es sehr bedauerlich, Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen daß wir uns hier am Freitagnachmittag darüber ver- ließen. Die Gesetzentwürfe der SPD und auch der ständigen, wenn die meisten Abgeordneten natürlich Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen dazu bereits auf dem Wege nach Hause sind. einige sinnvolle Lösungsvorschläge. Ich halte es zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbe- Nichtsdestotrotz ist es wichtig, daß wir das über- stimmung für durchaus erwägenswert, die §§ 177 und haupt tun; denn es gilt meines Erachtens in erster 178 StGB um das weitere Tatmittel „Ausnutzung einer Linie, den Klöckner-Konzern als ein integriertes hilflosen Lage" zu ergänzen. Stahlwerk im Interesse nicht nur der über 7 000 Stahlarbeiter und ihrer Familien in Bremen und Lassen Sie mich noch eine weitere Fallgruppe in Georgsmarienhütte zu erhalten. Es geht auch darum, diesem Zusammenhang erwähnen: sexuelle Über- allen Stahlstandorten in Deutschland und Europa, die griffe von Therapeuten gegenüber ihren Patienten im sich in Westeuropa meines Erachtens sämtlich in einer Rahmen psychotherapeutischer Behandlung ohne tiefen Krise befinden, und zwar seit Anfang der Anwendung von Gewalt oder Drohung. Ich meine, achtziger Jahre, ihre Zukunft zu sichern. Dabei geht es daß diese Fälle auch in den § 179 StGB aufgenommen letztlich um Zehntausende von Arbeitsplätzen in der werden sollten. Stahlindustrie. Das sind einige zusätzliche Anregungen. Ich halte Ich bedaure, daß wir das hier nicht konkreter es für sinnvoll, daß wir diese Punkte gemeinsam machen können. Wenn man nämlich einen regionalen angehen und lösen. Lassen Sie uns die vorliegenden Vorschlag unterbreitet, wie z. B. betreffend Bremen Gesetzentwürfe zum Anlaß nehmen, mit dieser Arbeit oder die Klöckner-Werke, dann wird einem entgegen- gemeinsam zu beginnen. gehalten, daß sich der Bundestag nun einmal mit der Bundesrepublik Deutschland als Ganzem zu beschäf- Lassen Sie mich abschließend ein kritisches Wort zu tigen hat und nicht mit einzelnen Regionen. Aber ich Ihnen, Frau Brandt-Elsweier, sagen. Ihre durchaus finde, das Leben ist immer konkret, und die Bundes- versöhnlichen Worte zum Eingang hätten sicherlich republik besteht nun einmal aus einzelnen Regionen. der gemeinsamen Beratung geholfen. Ich fürchte, daß Deshalb meine ich, daß es auch möglich sein muß, das, was Sie am Schluß Ihrer Rede zum zehnjährigen über einzelne Regionen hier in einer Aktuellen Jubiläum dieser Koalition gesagt haben, für die Stunde zu sprechen. gemeinsame Beratung nicht gerade hilfreich war. Nun leben wir zwar in einer Zeit, in der die Danke schön. dramatische Vernichtung von Arbeitsplätzen in Ost- deutschland und die wieder wachsende Massenar- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) beitslosigkeit in Westdeutschland fast zur Normalität 11536 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Dr. Gregor Gysi geraten sind; dennoch ist es wichtig, hier darüber zu Mengensteigerung im Absatz von Grobblech und sprechen, weil nämlich im Falle der Stahlindustrie die natürlich wesentlich mehr Sicherheit auf den Mee- Bundesregierung wirtschafliche Instrumentarien be- ren. sitzt wie in anderen Branchen nicht und deshalb die (Hans Koschnick [SPD]: Besser nicht Blech Chance besteht, daß diese eingesetzt werden. Mit beim Schiffbau!) Unfähigkeit kann sich hier also niemand herausreden. — Stahl. Wenn, dann ginge es höchstens um Unwilligkeit. (Zuruf von der SPD: Keine Blechdosen!) Für die Stahlindustrie gibt es die Möglichkeit, im Rahmen des EGKS-Vertrages mit der Feststellung — Wenn Sie sich die einmal angucken, werden Sie einer manifesten Krise Regulierungen anzuwenden, feststellen: Die meisten Tanker sind inzwischen die die Arbeitsplatzvernichtung vermeiden oder doch Blechdosen. zumindest wesentlich beschränken und aufhalten (Beifall bei der PDS/Linke Liste) könnten. Ich meine, daß es an der Zeit ist, diese Es gibt schon Gründe für die deutschen Unternehmen, manifeste Krise auszurufen. ihre Schiffe sozusagen in den Libanon umzuflaggen, Schon Anfang der 80er Jahre wurde durch die damit sie halt die sicherheitspolitischen Vorschriften Festsetzung von Produktionsquoten und Mindestprei- der Bundesrepublik nicht mehr zu erfüllen brau- sen in der westeuropäischen Stahlindustrie eine dra- chen. matische Krise abgefedert und der unvermeidliche (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das geht doch gar Arbeitsplatzabbau wenigstens sozial verträglich nicht!) durchgeführt. Wir halten daher die neuerliche Dagegen, meine ich, müßte man schon einiges tun. Anwendung der Art. 58 und 61 des EGKS-Vertrages Wenn wir das täten — und Sie wissen: Ein Tanker für dringend geboten, um Konkurse und Stillegungen besteht in erster Linie aus Stahl —, dann hätten wir in der Stahlindustrie abzuwenden. hier wirklich eine Chance, daß ganz andere Mengen Wir halten diese Instrumentarien auch deshalb für produziert und hergestellt werden können, und die sinnvoll, weil unseres Erachtens keine Notwendigkeit Regionen an der Nordküste und überhaupt im Norden zu einer dauerhaften Kapazitätsreduzierung besteht. wären durch entsprechende Arbeit und Arbeitsplätze Das konjunkturell und durch die desolate Lage in ebenfalls bevorteilt. Das wäre zugleich ein sinnvolles Osteuropa bedingte Überangebot an Stahl ist vor- Konjunkturprogramm für Werften und Stahl. übergehender Natur und wäre durch eine vernünftige Wirtschaftspolitik auflösbar. Der Stahl selbst als Werk- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- stoff wird sich langfristig auf Grund seiner positiven geordneter Dr. Gysi, Sie wissen, daß ich bei der Eigenschaften, vor allem in umweltpolitischer Hin- Aktuellen Stunde gezwungen bin, mich sehr streng an sicht, sogar Terrain vom Kunststoff, Beton und Alumi- die zeitlichen Vorgaben der Geschäftsordnung zu nium zurückerobern. halten. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das sind alles Zitate!) Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Das ist sehr bedauerlich. Außerdem müssen wir davon ausgehen, daß in Osteuropa irgendwann der Aufbau ernsthaft beginnt. Zu dieser Zeit wird auch dort der Bedarf an Stahl Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sonst bin beachtlich zunehmen. Es wäre ja geradezu verhee- ich immer sehr großzügig. Ich wäre dankbar, wenn Sie rend, wenn ein modernes integriertes Stahlwerk mir das Geschäft nicht so schwierig machten. schließen würde, das dann wieder neu aufgebaut werden müßte, um neue Kapazitäten zu erschlie- Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ich verstehe das ßen. sehr gut. Aber gerade, wenn es um etwas Aktuelles Selbst diejenigen, die den langfristigen Stahlabsatz geht, sollte man großzügiger sein. negativ einschätzen, müßten dennoch dem Krisenme- chanismus zustimmen, gibt er doch die Chance wie in Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Verehrter keiner anderen Branche, eine Umstrukturierung zeit- Dr. Gysi, aber Sie wissen doch, wie es ist. lich zu strecken und den eventuell nicht vermeidbaren Abbau von Arbeitsplätzen durch Altersabgänge und Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ich bin sofort am den Aufbau neuer Arbeitsplätze sozial verträglich Ende. Lassen Sie mich nur noch eines sagen: Wir durchzuführen. brauchen ein positives Signal für die Stahlarbeiter Es gibt darüber hinaus einen weiteren ganz aktuel- und ihre Familien. Das muß heute vordringlich nach len Ansatzpunkt: Wenn die Beteuerungen, die gestern Bremen und Georgsmarienhütte gehen, aber auch an in diesem Hause von allen Fraktionen zur künftigen die Kolleginnen und Kollegen an Rhein und Ruhr, in Vermeidung von Tankerkatastrophen abgegeben Niedersachsen, an der Saar und nicht zuletzt in den wurden, ernst gemeint waren, dann muß meines ostdeutschen Bundesländern. Erachtens durchgesetzt werden, daß Ö ltanker west- Deshalb hoffe ich sehr, daß sich alle nachfolgenden europäische Häfen baldmöglichst nur noch dann Fraktionssprecher für die Anwendung der A rt. 58 und anlaufen dürfen, wenn sie auf doppelwandige Tanks 61 des EGKS-Vertrages aussprechen und daß der umgerüstet bzw. durch entsprechende Neubauten Bundeswirtschaftsminister — wie auch immer er hei- ersetzt worden sind. Das bedeutete nicht nur viel ßen mag — dieses am 23. Februar in der nächsten Arbeit für die Werften, sondern auch eine erhebliche EG-Ministerratssitzung durchsetzt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11537

Dr. Gregor Gysi Danke schön. verpflichtung aus der Gewährung von Stahlstruktur- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) hilfen in Höhe von 370 Millionen DM. Ich bitte die Bundesregierung und die beteiligten Länder — also auch und gerade Bremen —, dieser Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Forderung zu entsprechen, und zwar im Interesse des nunmehr dem Abgeordneten Klein (Bremen) das Zustandekommens des Vergleichs. Wort. Ich bin sicher und auch informiert, Herr Kollege Koschnick, daß diese Forderung im Bereich des Bun- Günter Klein (Bremen) (CDU/CSU): Herr Präsident! desministers der Finanzen wohlwollend geprüft wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die welt- Ich wäre dankbar, wenn das Haus diese für den weite Krisensituation der Stahlindustrie hat die Klöck- Vergleich wichtige Forderung unterstützen könnte. ner-Hütte in Bremen mit rund 6 000 Mitarbeitern und Drittens. Die Hütte Bremen erleidet durch den rund 5 000 Arbeitsplätzen im Zulieferungsbereich Zwang zur Abnahme von Ruhrkoks einen Jahresver- besonders hart getroffen. Die Hütte mußte die Eröff- lust von rund 85 Millionen DM, die Georgsmarien- nung des Vergleichsverfahrens beantragen. Über den hütte, die ebenfalls vom Vergleichsverfahren betrof- Antrag ist noch nicht entschieden, die Gefahr des fen ist und die zum Klöckner-Stahlbereich gehört, Konkurses nicht abgewendet. einen Verlust von 15 Millionen DM. Diese dramatische Entwicklung bei dem Klöckner- Dieser Verlust von rund 100 Millionen DM im Jahr Stahlunternehmen beruht auf der drastischen Ver- muß durch die im Hüttenvertrag vorgesehene Anpas- schl echterun g auf dem Stahlmarkt.Derverflla Erlös sungsklausel verhindert werden, selbst wenn dadurch setzte sich 1992 verstärkt fort. Das Minus beträgt zur die Kohlesubvention von 200 DM je Tonne berührt Zeit 30 %. Hinzu kommt ein starker Mengenverfall würde. von 15 %, verursacht durch die sich verschlechternden Im übrigen: Bei Hereinnahme des preiswerteren konjunkturellen Bedingungen, besonders der deut- Importkokses käme der Standortvorteil der Hütte voll schen Automobilindustrie. zum Tragen — nämlich unmittelbarer Zugang zum Wenn man nun der Klöckner-Hütte helfen möchte, Meer. dann muß man die Stärken dieser Hütte im Wettbe- Viertens. Der sich aus dem Vergleich ergebende werbsvergleich als einen positiven Bestandteil eines außerordentliche Ertrag soll ausschließlich dem Stahl- möglichen Vergleichskonzepts bewerten. Deswegen bereich zugute kommen. möchte ich sie hier ausdrücklich erwähnen. Diese Stärken sind: einziger deutscher Küstenstandort mit Fünftens. Die im Vergleichskonzept vorgesehenen unmittelbarem Zugang zum seeschifftiefen Wasser; Anpassungsmaßnahmen im Personalbereich — Ab- ein integriertes Hüttenwerk mit der Konzentration bau von 1 000 Arbeitsplätzen in Bremen und von 500 aller Produktionsanlagen an einem Standort; die Lei- in Osnabrück — sind sozial verträglich zu gestalten. stungsfähigkeit und Modernität der Produktionsanla- Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch gen; eine sehr hohe Produktivität des Werkes auch im zwei Forderungen stellen: Vergleich zum deutschen Wettbewerb und schließlich Erstens. Die Bundesregierung wird gebeten, sich der Anschluß an ein weltweites Vertriebsnetz über dafür einzusetzen, daß zur notwendigen Restrukturie- Klöckner & Co. sowie anerkannte Qualitätsleistun- rung, insbesondere für die Finanzierung der sozialen gen, z. B. durch Ford oder General Motors, die noch im Anpassungsmaßnahmen, das von der EG-Kommis- Jahre 1991 der Hütte das Prädikat „Lieferant des sion verwaltete Montanvermögen in Höhe von mehr Jahres 1991" einbrachten. Last, not least — für Nord- als 1,5 Milliarden DM mobilisiert wird. deutschland besonders wichtig —: keine Umweltrisi- ken und selbstverständlich — auch das möchte ich Zweitens sollte darauf hingewirkt werden, daß auch die laufenden hier betonen — ein qualifiziertes und sehr motiviertes Erträge aus der beim Stahlunterneh- men erhobenen Mitarbeiterpotential. Montanumlage in Höhe von 250 Mi- lionen DM jährlich auf die Finanzierung der notwen- Meine Damen und Herren, diesen Stärken stehen digen Anpassungsmaßnahmen insbesondere im so- Schwächen gegenüber, die durch ein tragfähiges zialen Bereich konzentriert werden. Vergleichskonzept ausgeglichen werden müssen. Meine Damen und Herren, dies wäre ein Beitrag zu Diese Schwächen möchte ich hier erwähnen — auch einem tragfähigen Vergleichskonzept. Ich bin sicher: und gerade mit der Bitte um Unterstützung der Wenn das in die übergeordneten Maßnahmen meiner öffentlichen H and; aber selbstverständlich müssen hier auch die Privatwirtschaft und die Banken helfen. Fraktion zur Überwindung der Stahlkrise eingebettet wird, wird es gelingen, in Bremen wieder einen Folgende Schwächen sind auszugleichen: sicheren Stahlstandort zu realisieren. Erstens. Bis zu einer Eröffnung des Vergleichs in Ich darf mich bedanken. etwa vier Monaten muß die Liquidität gesichert wer- den, und zwar durch die zugesagte Soforthilfe des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Klöckner-Handelshauses in Höhe von 160 Millionen DM. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Zweitens. Die Vergleichsgläubiger, die auf 60 % — hat nunmehr der Abgeordnete Ernst Schwanhold. bei dinglicher Sicherung auf 40 % — ihrer Forderun- gen verzichten müssen, verlangen vom Bund und den Ländern Bremen, Nordrhein-Westfalen und Nieder- Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident! Meine sachsen den Verzicht auf die bedingte Rückzahlungs- sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nicht über 11538 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Ernst Schwanhold ein isoliertes Konzept reden, welches nur die Georgs- worden. Insofern werde ich Klöckner nicht verteidi- marienhütte und die Klöckner-Betriebe in Bremen gen. angeht, sondern will zunächst darauf hinweisen, daß Der einzig beständige Faktor im Bereich der Stahl- die sich seit Monaten abzeichnende Schwierigkeit in krise, die uns nun schon seit vielen Jahren verfolgt, ist diesem Bereich längst durch diese Bundesregierung die Identifikation, Leistungswilligkeit und -fähigkeit hätte angegangen werden können. Wir haben häufig der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Schauen eine nationale Stahlkonferenz gefordert. Bis heute ist Sie sich gerade in einer solch kleinen Stadt wie die Bundesregierung untätig. Georgsmarienhütte die Identifikation an. Da war man Ich will, um zu illustrieren, welcher Bewußtseins stolz, Klöckneraner zu sein. Zwischenzeitlich, über stand in der Bundesregierung vorherrscht, Herrn viele Jahre hinweg, ist ihnen dieser Stolz abgekauft Kolb, den ich persönlich sehr schätze, wie er weiß, auf worden, wurden die Arbeitsplätze von 8 000 auf 1 700 seinen Brief vom 7. Januar zu diesem Thema aufmerk- abgespeckt. sam machen, mit dem er mir geantwortet hat — ich Dabei gibt es insbesondere für die Georgsmarien- hatte ihn im Vorfeld angeschrieben. Im Prinzip steht hütte Lösungskonzepte. Sie könnte ein integriertes nichts darin, außer: Dieses muß betriebswirtschaftlich Stahlwerk mit einer vorzüglichen Technologie und geregelt werden. Qualität bieten, allerdings nicht ohne daß Arbeits- plätze abgebaut werden. Ich weiß dies und will Ihnen, (Hans Koschnick [SPD]: Mit dem Kopf des - Herr Klein, in einem Teil Ihrer Forderungen ausdrück- Bundeswirtschaftsministeriums!) lich zustimmen. Es ist aber — ich sage das noch — Mit dem Kopf des Bundeswirtschaftsministeriums einmal — auch Aufgabe der Bundesregierung, hier als Parlamentarischer Staatssekretär. tätig zu werden. Investitionen (Ina Albowitz [F.D.P.]: Schön vorsichtig!) Das Konzept müßte so aussehen, daß getätigt werden: Ein Elektroofen, der einen kapazi- Herr Kolb, wenn eine betriebswirtschaftliche Rege- tätsorientieren Ausstoß hat, der Kosten senken würde, lung Ihr Lösungskonzept ist, werden Sie viele Fälle sollte dorthin kommen, im Anschluß daran die Walz- wie Klöckner erleben. Beständig wird uns in den straße, die eine vorzügliche Qualität liefern würde. nächsten Jahren eine regionale Strukturkrise an allen Gestatten Sie mir letztlich darauf hinzuweisen: Wer Stahlstandorten verfolgen. Es wird eine Fülle von Klöckner heute in Konkurs gehen läßt oder einen Arbeitslosigkeit geben, ein Flächenbrand entzündet Abbau von Arbeitsplätzen betreibt, der nimmt eine werden, den wir nicht aufhalten können. Das ist die Fehlkalkulation vor, wenn er meint, an den anderen erste Feststellung. Standorten damit Sanierungskonzepte zu be treiben. Übrigens ist die Niedersächsische Landesregierung Auch die anderen Standorte werden auf Grund des am Tag des Vergleichs tätig geworden, hat in intensi- Verdrängungswettbewerbes in die Bredouille kom- ven Kontakten mit der Georgsmarienhütte, mit der men. Geschäftsleitung und dem Betriebsrat, unter regional- Wir sind also aufgerufen, einen deutschen Stahl- und strukturpolitischer Verantwortung an Lösungs- kompromiß herzustellen, bei dem alle Standorte konzepten und Vorschlägen gearbeitet. Dies ist Indu- erhalten bleiben, wobei allerdings jeder einige striepolitik, die man in solch einer Situation machen Federn zu lassen hat. Wir sind vor allen Dingen muß. Ihnen aber geht das Wort „Industriepolitik" aufgefordert, die Tatbestände, die Klöckner und nicht über die Lippen; Sie sind da ideologisch borniert. anderen Schwierigkeiten bereitet haben, nämlich die Am Ende werden wir all das auszulöffeln haben. verdeckte Subventionspolitik der Vergangenheit, in europäischen Mitbewerberländern auszugleichen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und den Versuch zu unternehmen, die Standortnach- Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß allein in teile zu beheben. Georgsmarienhütte, einer Stadt mit etwas mehr als (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 20 000 Einwohnern, heute noch 1 700 Arbeitsplätze der PDS/Linke Liste) im Stahlbereich existieren. Im Sekundärbereich sind noch einmal 1 700 Arbeitsplätze anzusiedeln. Bei einem Faktor von 3 der indirekt Betroffenen sind wir Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort bei 10 000 Menschen, die in dieser Region dann hat nunmehr der Abgeordnete . arbeitslos oder zumindest direkt davon betroffen wären. Dies ist nicht hinnehmbar. Es ist dann nicht mehr Aufgabe der Niedersächsischen Landesregie- (F.D.P.): Herr Präsident! Meine rung und der Region allein, sondern auch Aufgabe der Paul K. Friedhoff Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, wie Bundesregierung, an Lösungskonzepten mitzuarbei- oft wir uns in letzter Zeit im Deutschen Bundestag auf ten. Antrag einer Gruppe mit den Problemen eines einzel- Ich will die Verantwortung des Klöckner-Konzerns nen Unternehmens befassen müssen. Deshalb lassen überhaupt nicht in Abrede stellen. Ich weiß, daß im Sie mich vorab klarstellen: Auch in einer Sozialen Bereich der Stahlindustrie in vielen Jahren viel Geld Marktwirtschaft ist es nach wie vor Aufgabe von verdient worden ist. Dieses Geld ist der Stahlindustrie Privaten, unternehmerische Verantwortung zu tra- nicht zugute gekommen. Es wurde leider Gottes viel gen. Die Politik hat die Rahmenbedingungen dafür zu zuwenig investiert. Auch die Diversifizierung dieses setzen; sie darf sich also nicht als Obervorstand oder Unternehmens, um gewinnträchtige Teile zu errei- Oberaufsichtsrat aufspielen und entsprechend han- chen, ist nicht in ausreichendem Maße durchgeführt deln. Deutscher Bundestag —— 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11539

Paul K. Friedhoff Meine Damen und Herren, es ist richtig: Die Stahl- deutsche Steinkohle, deutscher Koks, eingesetzt wer- industrie befindet sich in einer Krise nicht allein in den muß, der nicht so weit heruntersubventioniert Deutschland, sondern europaweit. Die Gründe dafür wird, daß er mit dem, was auf dem Weltmarkt gehan- sind vielfältiger Natur. Die Stahlindustrie ist wie viele delt wird, konkurrieren kann. Auch das ist nicht andere Industriezweige von einer weltweit schwa- besonders günstig. chen Konjunktur bei lustlosen internationalen Märk- Zum Abschluß möchte ich noch eines sagen. Vorhin ten betroffen. Gleichzeitig bestehen nach Berechnun- wurde gelobt — das kann man ja von der SPD gen der EG-Kommission europaweit in der Stahlindu- erwarten —, daß die Mitarbeiter besonders engagiert strie erhebliche Überkapazitäten. sind. Dies ist sicher richtig. Aber hier gibt es auch eine Herr Schwanhold, Sie haben hier gerade sehr ein- besondere Verantwortung. Ich möchte darauf hinwei- drucksvoll beschrieben, was alles getan werden muß. sen, daß diese Hütte — wie die gesamte deutsche Ich habe dabei aber eines vermißt: Sie sind nicht auf Stahlindustrie — eine montan-mitbestimmte Indu- die Marktsituation eingegangen. In der Marktwirt- strie ist. schaft mag man noch so gute Produkte herstellen, mag (Zuruf von der SPD: Jetzt wissen wir, woran man noch so intensiv arbeiten: Ganz wichtig dabei ist, es liegt!) daß man für seine Produkte zu auskömmlichen Prei- — Natürlich. — sen einen Markt findet. Das findet zur Zeit zumindest hier nicht statt. (Zuruf von der SPD: Das ist ja ein lächerlicher Blödsinn!) Hinzu kommt ein Wettbewerbsdruck durch die Stahlproduzenten aus Mittel- und Osteuropa. Diesen Alle diese Entscheidungen wurden nicht einsam Wettbewerbern nun mit protektionistischen Maßnah- getroffen, sondern, wenn ich es richtig weiß, sind in men den Marktzugang zu verwehren wäre sicher der montan-mitbestimmten Industrie immer noch nicht richtig in einer Zeit, in der die politische und 50 % der Aufsichtsratssitze mit Vertretern besetzt, die ökonomische Umgestaltung, der Transformationspro- nicht vom Anteilseigner bestimmt werden. Jetzt so zu zeß in diesen Ländern, auch darauf angewiesen ist, tun, als sei das alles nicht wahr, kann ich nicht als daß wir Produkte aus diesen Ländern kaufen. richtig empfinden. Der Rückgang der Preise um ca. 20 % gegenüber (Ernst Schwanhold [SPD]: Aber Herr Fried- 1989 in einer Situation, in der eine sinkende Nach- hoff, das ist doch Mathematik und keine frage auf Produktionsüberkapazitäten trifft, kommt Wirtschaftsrealität! — Weiterer Zuruf des daher nicht von ungefähr, sondern ist ein Element, das Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]) in der Marktwirtschaft automatisch zum Tragen — Entschuldigen Sie, im Gegensatz zu Ihnen, Herr kommt. Gysi, kann ich auf eigene Erfahrungen in der Stahlin- Meine Damen und Herren, die gegenwärtige Stahl- dustrie verweisen. Ich weiß, wie schwierig es ist, dort krise ist also eher ein auslösendes Moment als eine Rationalisierungen durchzuführen. Ursache für die spektakuläre Entscheidung von (Zurufe von der SPD) Klöckner Stahl, den Vergleichsantrag zu stellen. — Ich weiß. Sie können noch so laut rufen, ich sage es Die Probleme von Klöckner Stahl sind zu einem dennoch: In dieser montan-mitbestimmten Industrie großen Teil hausgemacht. Wenn aber alles zusam- sind Rationalisierungen nicht so leicht durchzuführen menkommt, tritt das in einer solchen Situation beson- wie in anderen Industriezweigen. ders deutlich hervor. Dort, wo sehr viel Hausgemach- ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. tes ist, werden dann auch am ehesten die Probleme (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sichtbar. ten der CDU/CSU) So ist die Klöcknerhütte überdimensioniert, so daß die Kapazitäten nicht genügend ausgelastet sind. Der Ausbau der Hütte hat zu einem Kapitaldienst von etwa Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort 300 Millionen DM pro Jahr geführt. Wenn ich es hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär richtig gelesen habe, hat der Vorstandsvorsitzende Dr. Kolb. von Klöckner, Hans Christoph von Rohr, erläutert, daß dies nur in sehr guten Stahljahren tatsächlich erwirt- Parl. Staatssekretär beim schaftet werden kann. Dr. Heinrich L. Kolb, Bundesminister für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine Überdies leidet die Hütte unter ihrem Standort: Damen und Herren! Die Lage der Stahlindustrie hat Entgegen dem, was hier vorhin gesagt worden ist, ist sich nach einem Zwischenhoch Mitte der 80er Jahre die Hütte keine reine Küstenhütte, sondern küsten- und vier Jahren guter Stahlkonjunktur Ende der 80er nah, aber verbraucherentfernt, so daß die eigentli- Jahre und Anfang der 90er Jahre wieder drastisch chen Vorteile gar nicht zum Tragen kommen, die verschlechtert. Die gut strukturierten Unternehmen Vorteile nämlich, daß man die Rohstoffe mit großen konnten die guten Phasen nutzen, um Gewinne zu Schiffen direkt heranbringen kann. Dies kommt hier machen und, Herr Schwanhold, Reserven anzulegen. nicht voll zum Tragen. Von daher hat man nicht einen Das gilt leider nicht für alle deutschen Stahlunterneh- Standortvorteile, sondern wegen der Kundenferne men. eher einen Standortnachteil, weil zusätzliche Kosten Die gute Stahlkonjunktur hat die strukturellen entstehen. Schwächen vieler Unternehmen in der Europäischen Eine weitere Belastung — auch das ist hier gesagt Gemeinschaft überdeckt. In einer Reihe von Fällen worden — sind die Kosten, die dadurch entstehen, daß haben diese wohl im Vertrauen darauf, daß schlechte 11540 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb Zeiten nicht mehr kommen werden, versäumt, die Ländern erörtert. Sollte sich bei einem Produkt eine langfristig nicht zu umgehenden einschneidenden erhebliche Marktstörung durch Niedrigpreiseinfuh- Maßnahmen durchzuführen. Diese Unternehmen ren abzeichnen, müßte über Abhilfe entschieden sind jetzt — bereits kurz nach dem neuerlichen werden. Einbruch des Marktes — in erheblichen Schwierigkei- Die strukturelle Anpassung der Stahlunternehmen ten. Das gilt z. B. für spanische und italienische in der EG will die EG-Kommission durch geeignete Unternehmen, leider aber auch für deutsche Unter- Maßnahmen flankieren. Zum Beispiel will sie zusätz- nehmen. liche Mittel für die Sozialmaßnahmen nach Art. 56 Die Situation in den neuen Bundesländern ist EGKS-Vertrag zur Verfügung stellen. Sie läßt derzeit infolge der Umstellung auf ein marktorientiertes Wirt- durch einen Beauftragten die Pläne der Unternehmen schaftssystem noch stärker als in Westdeutschland zur Anpassung der Kapazitäten feststellen. auch durch strukturelle Schwierigkeiten gekenn- Im Anschluß daran beabsichtigt die Kommission, zeichnet. dem Ministerrat Vorschläge vorzulegen, inwieweit sie Ursächlich für den weltweiten Einbruch der Stahl- die Vorstellungen der europäischen Stahlindustrie, nachfrage ist die weltweit schwache Konjunktur für die Überkapazitäten in einer abgestimmten Eigenini- Produkte, für die Stahl eingesetzt wird. Ich will inso- tiative anzupassen, durch wettbewerbspolitische weit nur an den rückläufigen Automobil- und Maschi- Maßnahmen flankieren will. Die Bundesregierung nenbauabsatz erinnern. unterstützt diese Zielrichtung. Für den Stahlmarkt kommen Sonderfaktoren hinzu. Nicht zuletzt auf deutsches Drängen hin achtet die Kommission zudem sehr aufmerksam auf die Einhal- Die Stahlproduzenten der osteuropäischen Länder Deshalb wurde ein gro- suchen neue Absatzmöglichkeiten. Sie haben ihre tung des Subventionskodex. traditionellen Märkte durch den Zusammenbruch der ßer spanischer Beihilfefall nicht im Ministerrat am sozialistischen Systeme verloren. Ihre massierten 24. November 1992 entschieden, vielmehr wird er am Stahlverkäufe zu niedrigen Preisen haben 1992 unse- 25. Februar 1993 erneut verhandelt. Nach unserer ren Markt erheblich betroffen. Die Industrie bereitete Auffassung und der Auffassung nahezu aller anderen Antidumpinganträge vor. Um den Markt kurzfristig zu EG-Mitgliedstaaten stand der von Spanien angebo- stabilisieren, hat die EG-Kommission im August auf tene Kapazitätsabbau in keinem angemessenen Ver- deutschen und französischen Antrag hin die Schutz- hältnis zu den beabsichtigten Beihilfen. Allerdings klausel aus dem Interimsabkommen zum Europaab- — ich räume dies ein — werden auch wir alsbald kommen mit der CSFR angewandt. Sie hat deren möglicherweise mit Fällen aus den neuen Bundeslän- Lieferungen von Warmbreitband, Walzdraht und dern antreten müssen. bestimmten Rohrsorten nach Deutschland, Frankreich Das von Klöckner beantragte Vergleichsverfahren und Italien mengenmäßig begrenzt. Diese Maßnahme für die Klöckner-Werke AG und ihre Stahltöchter ist hat wesentlich zur Beruhigung der Märkte beigetra- zwar auch vor dem Hintergrund der derzeit schlech- gen. Sie galt bis Ende 1992. ten Stahlmarktverfassung zu sehen; Sonderfaktoren in erheblichem Umfang kommen aber hinzu. Zum Jahreswechsel nun hat die EG-Kommission im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten — also auch (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das kann man wohl der Bundesregierung — für 1993 folgende Maßnah- sagen!) men für die Einfuhr von Stahlerzeugnissen ergriffen. Klöckner bemüht sich, zusammen mit den Gläubigern Für GUS-Staaten werden Gemeinschaftskontingente zu langfristigen Lösungen der bestehenden Probleme für Flachstahlerzeugnisse mit Unterkontingenten für zu kommen. Warmbreitband und Grobbleche eingeführt. Die Von dem eingeleiteten Vergleichsverfahren ist Höhe entspricht etwa den EG-Importen von 1991. Bei übrigens auch die Bundesregierung als Gläubiger auf Langstahlerzeugnissen liegt die Kontingentsmenge Grund der von 1983 bis 1985 bedingt rückzahlbar über den Lieferungen 1991. gewährten Strukturverbesserungshilfen betroffen. Da die Europaabkommen mit Rumänien und Bulga- Sie wird sich konstruktiv verhalten. Ein Vorschlag des rien zwar schon ausgehandelt, die Interimsabkommen Vergleichsverwalters für eine Beteiligung am Ver- bis zur Ratifizierung aber noch nicht in Kraft gesetzt gleich liegt aber noch nicht vor. sind, wurden auch für diese Länder gemeinschaftliche Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Mengenkontingente festgelegt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Mit der Tschechischen und der Slowakischen Repu- Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Die mani- blik werden Gemeinschaftszollkontingente für einige feste Krise!) Stahlerzeugnisse und Rohrsorten vereinbart, die an die Stelle der Ende 1992 ausgelaufenen Kontingente treten. Die Verhandlungen hierüber sind weitgehend Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort abgeschlossen. Die ausgehandelten Mengen liegen erteile ich nun dem Abgeordneten Arne Börnsen. im übrigen auch hier beträchtlich unter den tatsächli- chen Lieferungen des Jahres 1992. Die Einfuhren aus Polen und Ungarn sind entspre- Ame Börnsen (Ritterhude) (SPD): Herr Präsident! chend den Interimsabkommen zu den Europaabkom- Meine Damen und Herren! Es sind heute gut 25 Mit- men liberalisiert. Allerdings wird die Entwicklung der arbeiter und Betriebsräte der Klöckner AG aus Bre- Einfuhr der einzelnen Stahlerzeugnisse durch die men und Georgsmarienhütte nach Bonn gekommen. EG-Kommission ständig beobachtet und mit diesen Ich freue mich, daß wir mit ihnen reden konnten. Ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11541

Arne Börnsen (Ritterhude) freue mich auch, daß sie es haben einrichten können, gerade eben aufgefangen werden, weil sich in Bre- an dieser Debatte als Zuhörer teilzunehmen. men ein anderer großer Betrieb allmählich aufbaute und eine erhebliche zusätzliche Zahl an Arbeitsplät- Die Kollegen sind gekommen, um von der Politik zen anbot. Er gehört zur Automobilindustrie, ist selbst und speziell von der Bundesregierung zu hören, wie Abnehmer von Klöckner, steckt aber jetzt selbst in ihr Unternehmen gerettet werden kann, wie ihre einer Rezession und muß Arbeitsplätze abbauen. In Arbeitsplätze gerettet werden können. dieser wirtschaftlichen Situation ist der Standort der (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ja, so einfach habe ich Klöckner-Hütte in Bremen gefährdet. mir das auch vorgestellt!) Wenn der Standort tatsächlich kaputtgeht, sind die — Hören Sie erst einmal zu. Es geht hier nicht darum, mehr als 6 000 Arbeitsplätze alle kaputt. Damit sind daß die Verantwortung gezielt nur einem zugescho- Familienexistenzen kaputt, damit sind Dienstlei- ben wird. stungsbereiche gefährdet, damit sind Anbieter nicht nur in Bremen, sondern auch in den umliegenden (Ina Albowitz [F.D.P.]: Einverstanden!) Landkreisen in ihrer Existenz gefährdet. Aber es ist ein Anspruch, dem wir gemeinsam gerecht Meine Damen und Herren, in einer solchen Situa- werden müssen, dem auch die Bundesregierung tion muß man seiner Verantwortung ein kleines biß- gerecht werden muß, nämlich daß gesagt wird, wel- chen mehr gerecht werden. Ich will das nicht auf das che einzelnen Initiativen denn auch aus dem Bereich Problem eines Unternehmens oder einer Region redu- der Politik gestartet werden, um im Gesamtkonzert zieren, aber Kollege Schwanhold hat deutlich eine Rettung dieses Unternehmens und der beiden gemacht, daß dies symptomatisch ist für die Krise der hier genannten Standorte zu ermöglichen. Stahlindustrie. Wenn Sie hier handlungsunfähig oder -unwillig sind, wird das nur der erste Fall einer Kette Wir haben eben, verehrte Frau Kollegin, den Herrn von weiteren Fällen sein. Deswegen müssen Sie Staatssekretär gehört. Ganz zum Schluß tauchte ein- rechtzeitig beginnen. Es ist also kein Einzelfall Klöck- mal der Name Klöckner auf, aber ansonsten war von ner, wo wir erwarten, daß industriepolitische Initiati- gezielten Initiativen, die die Bundesregierung in die- ven ergriffen werden, sondern es ist exemplarisch sem Zusammenhang ergreift, nicht die Rede. dafür, daß der Branche der Stahlindustrie geholfen Wir haben vorher den Kollegen der F.D.P. gehört. — werden muß. Ich stocke, weil ich gerade meine Erinnerung auf- Ich habe ein Zitat, mit dem belegbar ist, daß auch frischte, was da an Initiativen zu hören war. Aber das über die Europäische Kommission eine Reihe von war wohl auf einer anderen Ebene. Initiativen möglich ist, die weit über das hinausgehen, was Sie getan haben. Sie haben davon gesprochen, daß in negativer Art und Weise immer wieder einzelne Unternehmen über Es ist für mich und, ich fürchte, bisher auch für die Aktuelle Stunden in die Debatte des Bundestages angereisten Kolleginnen und Kollegen enttäuschend, eingebracht werden. Verehrter Kollege, es geht hier was die Politik an Antworten gefunden hat. Industrie- um 6 000 Mitarbeiter in Bremen, deren Arbeitsplätze politik muß dafür Sorge tragen, daß Regionen nicht gefährdet sind. entindustrialisiert werden. Dieser Begriff, der für Ostdeutschland oftmals angewendet werden muß, ist (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke leider für eine Region in Norddeutschland ebenfalls Liste) annähernd — ich sage das mit aller Vorsicht — Es geht nicht nur um den Standort Bremen, es geht um gerechtfertigt. Da erwarten wir Antworten von der die Region Norddeutschland. Deswegen versuche ich Bundesregierung. auch, den betroffenen Kollegen deutlich zu machen, Herzlichen Dank. daß wir ihre Probleme ernst nehmen und nicht nur (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke einfach sagen, daß wir uns mit ihnen solidarisch Liste) fühlen. Wir müssen auch zeigen, daß etwas getan wird. Da muß man aber mindestens die Verantwor- tung der Politik erkennen und dazu stehen. Sie haben Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile aber marktwirtschaftliche Elemente in den Vorder- nunmehr dem Abgeordneten von Hammerstein das grund gestellt und gesagt, das sei nun einmal so, und Wort. damit müsse das Unternehmen alleine fertigwerden. Ich habe das jetzt in verkürzter Form gesagt. Damit Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein (CDU/CSU): können Sie den Problemen nicht gerecht werden. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der SPD) Herren! Auch ich darf mich ganz herzlich dafür bedanken, daß ich wie Herr Börnsen sowohl mit den Meine Damen und Herren, es geht um 6 000 Betriebsräten als auch mit der Unternehmensleitung Arbeitsplätze in Bremen, um 1 700 Arbeitsplätze in sprechen konnte. Georgsmarienhütte. Es geht um mindestens die glei- che Zahl von Arbeitsplätzen in Zulieferbetrieben von Die Lage ist sehr, sehr kritisch. Alle Stahlunterneh- Klöckner. Es geht tatsächlich um eine Region. men der Bundesrepublik Deutschland haben 1992 rote Zahlen geschrieben. Die Bundesregierung und Wir haben noch in Erinnerung — Herr Kollege vor allem auch die Landesregierungen, der Bundestag Koschnick vielleicht ganz besonders —, wie in der und die Landesparlamente, aber auch Betriebsleitun- Stadt Bremen vor ungefähr 10 Jahren die Großwerft gen und Betriebsräte müssen überlegen, wie sie aus AG Weser zugemacht wurde. Das konnte damals dieser Notlage herauskommen. 11542 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Ich will ein paar Gründe nennen. Erstens. Die Fünftens. Um die Stahlstandorte Bremen und Marktbedingungen für die deutschen Stahlindustrie- Georgsmarienhütte zu erhalten, ist es wichtig, daß es unternehmen sind katastrophal. Es werden zur Zeit zu dem Vergleich kommt, den der Vorstand vorgelegt nahezu unbegrenzte Importmengen auf den deut- hat. schen Markt gebracht, die nicht mehr marktorientiert Sechstens. Ich bitte die Bundesregierung, auf alle kalkuliert sind. Der deutsche Markt war 1992 der Beihilferückzahlungen zu verzichten. Ich glaube, daß einzige in der gesamten Welt, der noch gewisse das für beide Unternehmen sehr wichtig ist. Kapazitäten aufgenommen hat, allerdings Import- (Zustimmung bei der CDU/CSU und der mengen, die subventioniert auf den deutschen Markt SPD) gekommen sind. Siebtens. Ich bitte auch die Betriebsräte und die Zweitens. Weil die Amerikaner und leider auch Mitarbeiter, sich Gedanken zu machen, wie sie nicht andere in der Welt ihren Markt durch Antidumping- nur ihr Werk, ihre Firma, ihren Arbeitsplatz, sondern maßnahmen schützen, ist Deutschland Abladeplatz auch viele weitere Tausend Arbeitsplätze in den vor- für Billigmengen geworden. und nachgelagerten Unternehmen schützen und Drittens. Nahezu alle Stahlstandorte in Europa erhalten können. befinden sich in staatlicher Hand bzw. werden staat- Achtens. Ich glaube, daß es auch wichtig wäre, daß lich gelenkt mit der Folge, daß die Staatskassen der sich die Unternehmensleitungen, die Betriebsräte mit einzelnen Länder für die Stahlunternehmen gerade- ihren Mitarbeitern und die Bundesregierung zusam- stehen. Herr Staatssekretär Kolb hat gerade Spanien mensetzen, um sich über die Zukunft der Stahlindu- angesprochen. Spanien hat 1992 8,5 Milliarden DM in strie in der Bundesrepublik Deutschl and zu unterhal- die Stahlindustrie subventionieren müssen. Das sind ten und dann weitere Gespräche in der Europäischen Gelder der spanischen Bürger. Das muß man sich Gemeinschaft zu führen. einmal vorstellen. Zum Schluß gestatten Sie mir, aus einem Kommen- tar von Professor Walter von der Deutschen Bank zu Wenn man zur Stahlkrise in der Bundesrepublik im zitieren, Parlament spricht, sollte man sich nicht nur gegenüber (Wolfgang Roth [SPD]: Der?) den Unternehmen, der Arbeitnehmerschaft und den vielen Tausend Zulieferern solidarisch erklären, son- der kürzlich zur deutschen Wirtschaft unter der Über- dern auch Vorschläge machen, wie man aus dieser schrift „Stimmung schlechter als die Lage" die Aus- kritischen Situation herauskommt. sage getroffen hat, Herr Roth: Es ist erforderlich, daß sich alle herausgefordert Erstens. Jeder im Hause sollte jegliche Subventio- fühlen und entsprechend h andeln, da nur dies die europäischer Stahlwerke mit Entschieden- - nierung Basis dafür ist, daß aus der Krise nicht der Kollaps, heit bekämpfen. Ich betone klar und deutlich, daß sondern der Neubeginn wird. Panik ist unange- kurzfristige Hilfen für deutsche Standorte als Investi- bracht. tionsbeihilfen nötig sind, um aus dieser Krise heraus- zukommen. Lassen Sie uns der Realität ins Auge sehen. (Beifall bei der CDU/CSU — Arne Börnsen Kop- Zweitens. Wir sollten uns auf keinen Fall auf [Ritterhude] [SPD]: Und das sagen Sie den pelgeschäfte unter dem Motto einlassen: Tolerierst du Kollegen zum Schluß!?) meine Subvention, drücke ich die Augen zu.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Dann gebe ich dir Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort deine Subventionen!) hat nunmehr der Abgeordnete Wolfgang Weier- Drittens. Verhinderung jeglicher Wettbewerbsver- mann. zerrungen. Viertens. Abbau der Subventionen im Kohleberg- Wolfgang Weiermann (SPD): Herr Präsident! Meine bau in der Bundesrepublik Deutschland. Damen und Herren! Nicht nur die Stahlindustrie in Bremen, sondern die deutsche Stahlindustrie insge- (Hans Koschnick [SPD]: Das ist nun wirklich samt ist von dieser Krise betroffen. Wir müssen Nonsens!) befürchten, daß zwischen 15 000 und 20 000 direkt betroffene Arbeitsplätze wegfallen. Die Kurzarbeit — Ich weiß, daß ich mit dieser Aussage viele vor den schnellt weiter an. Ich spreche jetzt gar nicht die Kopf stoße. Mir ist der Jahrhundertvertrag wohlbe- angrenzenden Bereiche an. Aber ich meine auch die kannt. Aber was nützen den Bergarbeitern Stahl- Kohle, weil Kohle und Stahl wirtschaftlich doch eng werke, wenn sie in der Bundesrepublik in allerkürze- miteinander verknüpft sind. ster Zeit schließen müssen? Das bedeutet, daß sie keine Kohle mehr abnehmen; das bedeutet auch Es geht in der Tat darum, was die Bundesregierung arbeitslose Bergarbeiter. Es ist ein Teufelskreis, der zu tun gedenkt und ob sie endlich bereit ist, ein meines Erachtens dringend gelöst werden muß. Wenn Gesamtkonzept zur Stabilisierung des EG - Stahl man überlegt, daß man zur Zeit auf dem deutschen marktes zu beschließen, in dem letztlich auch die Markt z. B. australische Kohle, die in Japan verkokst Interessen der deutschen Stahlindustrie Eingang fin- worden ist, in Bremen für 100 DM pro Tonne billiger den. bekommen kann als die eigene, dann muß man sich, Hier ist schon viel über radikal herabgesetzte Preise so glaube ich, auch der Lösung dieses Problems in bei Stahllieferungen aus den europäischen Ländern Zukunft zuwenden. gesprochen worden. Sie machen uns im Bereich der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11543

Wolfgang Weiermann EG, aber auch im Bereich der Bundesrepublik und Mindestpreise für alle Stahlhersteller in den Deutschland erheblich zu schaffen. Das erfordert Mitgliedsländern festgelegt werden. zwingend, daß der Stahlhandel mit Osteuropa einer Die bislang für Kapazitätsstillegungen gezahlte EG- geordneten Regelung zugeführt wird und daß man Sozialhilfe muß bei möglichen betriebsbedingten auch gegen Maßnahmen in den USA mit allen GA TT Freisetzungen im Zuge von Strukturanpassungen, - konformen Mitteln angeht. wie etwa Rationalisierungsvorhaben, durch Art. 56 Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Das, was der EGKS ergänzt werden. Sonst bekommen wir es nicht Wirtschaftsausschuß am 11. November 1992 beschlos- in den Griff, daß Gelder für Sozialplanleistungen zur sen hat, nämlich darauf hinzuwirken, daß im EG- Verfügung stehen, die verhindern, daß Menschen ins Ministerrat keinen weiteren Subventionen zuge- Bergfreie falle. stimmt wird, bis in der deutschen Stahlindustrie glei- Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Einrich- che Wettbewerbsmöglichkeiten gesichert sind, findet tung einer europäischen Stahlstiftung mit Beibehal- meine und, ich glaube, unser aller volle Zustimmung. tung der Montanumlage und die unverzügliche Ein- Die seit Jahren geforderten gleichen Start- und Wett- berufung einer nationalen Stahlrunde aus Vertretern bewerbschancen sind bis heute nicht verwirklicht der Stahlindustrie, der Politik und der Gewerkschaf- worden. ten. Das muß das erste sein, was der neue Bundeswirt- Angesichts der jetzigen katastrophalen Situation schaftsminister aufgreift; denn wir schreiben fünf vor bei Klöckner — ich komme selber aus einem solchen zwölf. Stahlstandort, und ich sage ganz deutlich: es sieht Wir brauchen des weiteren eine Intensivierung der woanders leider nicht besser aus — darf vermutet Schaffung neuer Arbeitsplätze in Verbindung mit werden — ich habe bislang von der Bundesregierung differenzierten arbeitsmarkt- und strukturpolitischen jedenfalls nichts gehört —, daß es ihr am politischen Sofortmaßnahmen in Finanzkombination von EG, Willen fehlt, deutsche Stahlarbeitsplätze zu schüt- Bund, Ländern und Gemeinden. zen. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Sagen Sie nicht immer Mehr als 120 Milliarden DM an Subventionen sind Strukturpolitik! Sagen Sie Subventionspoli- seit etlichen Jahren in anderen EG-Ländern in die tik!) dortigen Stahlindustrien geflossen unter Zustimmung Wir brauchen letztlich und endlich — ich komme zum des EG-Ministerrates und damit doch wohl auch unter Schluß — ein nationales Stahlkonzept im Rahmen Zustimmung des deutschen Bundeswirtschaftsmini- europäischer Stahlpolitik, das diesen Namen auch sters. verdient. Um nur wenige Beispiele zu nennen: Die Subven- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. tionen betragen mehr als 40 Milliarden DM für das (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke staatliche Unternehmen in Italien, mehr als 30 Milli- Liste) arden DM in England, mehr als 25 Milliarden DM in Frankreich und noch einmal rund 15 Milliarden DM in Belgien. Wie wollen denn bei größtem Fleiß deutsche Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Stahlunternehmen und deutsche Stahlarbeiter in die- nunmehr dem Abgeordneten Friedhelm Ost das sem Wettbewerb überhaupt bestehen können, wenn Wort. die Stahlindustrie in anderen Ländern mit diesen Riesensummen subventioniert wird? Friedhelm Ost (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Die deutsche Stahlindustrie hat natürlich einige Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! finanzielle Hilfen bekommen, die aber der Zurück- Herr Gysi hatte vorhin auf „aktuell" und „konkret" zahlung unterlagen und die in der Tat auch zurück- hingewiesen. gezahlt worden sind. Wir stehen nun vor dem Scher- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wo ist er denn über- benhaufen dieser Politik. Das muß man an dieser haupt?) Stelle deutlich festhalten. — Er ist wieder nicht da. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind sich klar dar- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wie immer!) über — das ist ein Teil der Eigenverantwortung, die Wir haben uns — der Kollege Weiermann hat es Sie angesprochen haben —, daß vorhandenen Über- angesprochen — sehr intensiv, aktuell und konkret kapazitäten im gesamten EG-Bereich — das sind rund schon am 11. November 1992 im Wirtschaftsausschuß 20 Millionen t — durch eine Strukturbereinigung innerhalb der Branche begegnet werden muß. Aber mit den Stahlproblemen beschäftigt. Es wäre sehr gut gewesen, wenn die Gruppe, die den Antrag auf das heißt doch im Klartext, daß die Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer nicht allein die Zeche einer Durchführung einer Aktuellen Stunde gestellt hat, verfehlten Industriepolitik zu begleichen haben. Das damals dabeigewesen wäre. Ich hielte das jedenfalls kann doch nicht der Fall sein. für seriöser, als hier immer spezielle Dinge in die Diskussion zu bringen, weil man meint, man könnte (Beifall bei der SPD) damit PR-Effekte erzielen. Aus diesem Grunde und angesichts der steigenden (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Dramatik fordere ich die Bundesregierung auf, bei der [CDU/CSU]: Ein reiner Opportunist!) EG auf das Ausrufen der manifestierten Krise gemäß Es geht in der Tat um Einzelunternehmen, auch um Art. 58 des Montanunionsvertrages zu drängen. Das das Schicksal der Menschen. Es ist wiederholt gesagt bedeutet, daß in diesem Fall feste Produktionsquoten worden: Es geht um die Region, es geht um Standorte, 11544 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Friedhelm Ost es geht um 6 000 Arbeitsplätze. Natürlich müssen wir Natürlich gibt es dieses Problem nicht nur in Bre- uns davor hüten, jedesmal, wenn 6 000 Arbeitsplätze men. Auch die neue Maxhütte ist in existentielle in mittleren oder kleineren Unternehmen oder jetzt in Schwierigkeiten geraten. Ostdeutschland in Gefahr sind, hier große Diskussio- Diejenigen, die jetzt sehr laut nach Produktions- nen zu führen; dann wären wir wirklich Tag und Nacht quoten rufen, warne ich: Es mag die Ultima ratio sein. damit beschäftigt. Aber wir müssen auch zu Ende denken, was die Wir alle — ich glaube, die Kollegen der SPD sind da Einführung von Produktionsquoten letztendlich be- derselben Meinung — bekennen uns doch nach wie deuten würde — möglicherweise Linderung bei der vor zur Sozialen Marktwirtschaft. einen Hütte, Verschlechterung bei den anderen —, und zwar auch mit Blick auf die ostdeutsche Stahlin- (Hans Koschnick [SPD]: Handeln, nicht nur dustrie. bekennen!) Es sind über eine längere Strecke kräftig rote — Auch danach handeln; das ist richtig. — Dann muß Zahlen geschrieben worden. Rot ist für viele eine aber zunächst in den Vorständen gehandelt werden. politisch beliebte Farbe, aber rote Zahlen bedeuten Es muß auch in den Aufsichtsräten gehandelt und ökonomisch und auch sozial operative Verluste und entschieden werden. Montan-Mitbestimmung — ich einen Abbau von Arbeitsplätzen. Wir müssen alles bin kein Gegner — heißt aber auch große und inten- versuchen, damit die Branche nicht wieder in einen sive Verantwortung für beide Seiten. Sie muß im ruinösen Wettbewerb verfällt, sondern zu einer Stabi- Sinne der Arbeitnehmer auch wahrgenommen wer- lisierung kommt. den. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist manchmal geglückt, aber manche Dinge sind auch verkleistert worden. Man hat sich in Unterneh- Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort men im Norden wie auch anderswo insoweit etwas hat nunmehr die Abgeordnete Ina Albowitz. vorgemacht. Natürlich haben wir — Herr Kollege Weiermann hat (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr darauf hingewiesen — in der deutschen Stahlindu- Ina Albowitz verehrten Damen und Herren! Ich wende mich strie, insgesamt in der europäischen Stahlindustrie, in zunächst an die Kollegen von der PDS/Linke Liste: Es der Weltstahlindustrie Die kann Strukturprobleme. ist kein guter Stil, wenn der Gruppenvorsitzende hier man natürlich nicht mit läppischen Anmerkungen spricht und als Antragsteller dann nicht bis zum lösen, indem man sagt: Die Schiffe werden demnächst Schluß der Debatte hier ist. vielleicht anders konstruiert. Das ist — das weiß der Kollege Börnsen sicherlich aus eigener Erfahrung (Wolfgang Weiermann [SPD]: Das hätte die besser; er ist ja Schiffsbauingenieur — nicht die Lage aber auch nicht verbessert!) Lösung der Stahlprobleme. Wenn jemand so redet, — Natürlich nicht, Herr Weiermann; aber warten Sie spricht er wie ein Blinder von der Farbe. ab, ich komme zu Ihnen auch noch. — Ich finde also, es (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das habe gehört sich eigentlich, dann auch freitags um 17 Uhr ich nicht gesagt!) noch hier zu sein, denn die Damen und Herren, die oben sitzen, wollen ja in dieser Aktuellen Stunde zu — Nein, Sie haben das nicht gesagt. Ich meinte jetzt diesem Punkt auch etwas hören. sozusagen den Premierenredner, der hier aufgetreten (Zurufe von der PDS/Linke Liste) ist. — Das interessiert mich jetzt nicht; Gründe haben wir (Ina Albowitz [F.D.P.]: Der hat doch eh keine sicher alle eine ganze Menge. Ahnung!) Noch zwei andere Vorbemerkungen. Wir können es — Gut, das brauchen wir jetzt nicht mehr festzustel- alles auf den Punkt bringen, Herr Weiermann, und len. Herr Schwanhold hat es noch dezidierter gesagt. Wir Klöckner mußte den Vergleich anmelden; dies ist können auch fragen: Wie strukturieren wir eigentlich gesagt worden. Nun werden in der Tat gewaltige neue Subventionspolitik? Denn nichts anderes haben Kraftanstrengungen und auch riesige Opfer von Gläu- Sie eigentlich gefordert. bigern und Banken abverlangt. (Wolfgang Weiermann [SPD]: Das ist doch Auch die Mahnung in Richtung Bund ist erfolgt. Ich nicht wahr! Die Stahlindustrie hat noch nie hoffe, daß die für die Regionalpolitik und die Arbeits- Subventionen gefordert!) plätze zuständigen Landesregierungen ihren Teil — Sie haben es etwas vornehmer genannt: neue einbringen Strukturpolitik; aber Sie haben mehr Geld gefordert. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn es das ist, was (Hans Koschnick [SPD]: Das werden sie! — Sie wollen, dann frage ich mich, was wir hier ständig Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Darauf für eine scheinheilige Debatte führen, wenn wir uns können Sie sich verlassen!) über die Finanzen unterhalten. und wirklich mit großer Phantasie — lieber Herr (Wolfgang Weiermann [SPD]: Die deutsche Kollege Koschnick, Sie waren da vielleicht sogar Stahlindustrie hat nie Subventionen gefor- phantasievoller als Ihre Nachfolger — zu einer Lösung dert! Nehmen Sie das zur Kenntnis! Sie beitragen, wollte gleiche Wettbewerbsvoraussetzun- (Klaus Harries [CDU/CSU]: Sehr richtig!) gen!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11545

Ina Albowitz — Herr Weiermann, ich helfe Ihnen gerne, wenn wir in der Stahlindustrie sind sie außerordentlich kritisch uns beim Bundeshaushalt über die Subventionen und schwierig —, Ursachenforschung zu betreiben. unterhalten, die in den einzelnen Haushalten ste- Wir haben Konzepte zu entwickeln und müssen unse- hen. rer sozialen Verantwortung gerecht werden. (Wolfgang Weiermann [SPD]: Seien Sie nicht Das gilt für alle Fraktionen dieses Hauses. Wir so überheblich!) müssen an der Lösung bestimmter schwieriger Pro- Wir haben den Haushalt gerade beraten und bleme auf dem europäischen Markt mitarbeiten. beschlossen. Wir haben Subventionen für die Werftin- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- dustrie, für die Autoindustrie usw. drin. ten der CDU/CSU) (Wolfgang Weiermann [SPD]: Ich spreche von der Stahlindustrie!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort —Ja, ja, wir können das ja alles machen. Aber fordern hat nunmehr der Abgeordnete Hans Koschnick. Sie nicht gleichzeitig ständig Subventionsabbau. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, wir brauchen (SPD): Herr Präsident! Meine sehr eine neue Strukturpolitik, dann fordern Sie im Hans Koschnick Grunde, um es deutlich zu sagen, nur mehr Geld. verehrten Damen und Herren! Es geht um eine Krise eines Industriebereichs, die nicht regionalisiert wer- (Wolfgang Weiermann [SPD]: Nein, wir for den kann. Es kann nicht heißen, das sei nur Bremen dern gleiche Wettbewerbsvoraussetzungen oder Osnabrück oder Duisburg — wo der Hauptvor- in Europa!) stand sitzt oder die Maxhütte. Wir haben eine ganze Im übrigen, Herr Kollege, müssen Sie offensichtlich Menge Gesamtprobleme, und es gibt spezielle Pro- ein Trauma haben. Als mein Kollege Friedhoff nur die bleme, die gemeinsam gesehen werden müssen. Wir Feststellung von der Montán-Mitbestimmung getrof- können nichts ausklammern und sagen: Nur dieses fen hat, sind Sie wie eine Rakete hochgegangen. Ich eine ist etwas Wichtiges. Wir können umgekehrt auch weiß überhaupt nicht, warum. nicht nur von den globalen Fragen reden. Wir reden über die Sorgen von Menschen in einer Region, die (Wolfgang Weiermann [SPD]: Natürlich weil mit ihren Familien darauf warten, daß die Politik es eine Lüge ist! Wenn es die Montan Antworten gibt — natürlich nicht an Stelle von Unter- Mitbestimmung nicht gäbe, hätten wir heute nehmen. überhaupt keine Stahlindustrie mehr!) Ich bin da für Schumpeter: Unternehmer sollen — Herr Kollege, ich habe von Ihrem offensichtlichen Unternehmensführung leisten. Mitbestimmung ist da, Trauma gesprochen, um mitzudenken und nachzuprüfen. Alles das ist- (Wolfgang Weiermann [SPD]: Wir haben richtig. Aber Wettbewerbsverzerrung im europäi- doch gemeinsam die Karre aus dem Dreck schen oder internationalen Rahmen beseitige ich in gezogen!) keinem Unternehmen durch Mitbestimmung. das Sie bei der Feststellung einer Montan-Mitbestim- (Zustimmung bei der SPD und der PDS/Linke mung haben. Ich habe nicht gesagt, daß es Verfehlun- Liste) gen gegeben hat. Offensichtlich müssen Sie mehr Unternehmensprobleme sind nicht allein vom Unter- Erkenntnisse haben als wir. nehmensvorstand zu lösen, wenn auf anderen Gebie- (Wolfgang Weiermann [SPD]: Die haben wir ten die Dinge völlig verschoben werden. tatsächlich!) Ich möchte noch einmal deutlich machen: Es geht Ich warne Neugierige davor, wenn wir jedes Unter- hier, verdammt noch mal, nicht um Subventionen; es nehmen mit seinen Fehlleistungen und seinen Erfol- geht um Europa, um Wettbewerbschancengleichheit, gen — manchmal ist ja beides da — hier sozusagen auf es geht bei GATT um ähnliche Positionen. Es geht den Tisch legen wollten. nicht um Abriegelung der Märkte, aber um gleiche Chancen für alle. Wir sollten uns auch über folgendes unterhalten, Herr Kollege Hammerstein, denn der Staatssekretär Zum zweiten geht es um Industriepolitik. Hier bitte ich die christlichen Demokraten und die Freien Demo- hat ja zu der sozialen Verantwortung auch Stellung genommen. Wenn hier gefordert wird, auf die Forde- kraten, besonders zuzuhören. rung des Bundes im Vergleich zu verzichten, frage ich (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wir hören immer zu, Sie, ob man das einfach so in den Raum stellen kann. wenn Sie reden!) Wissen Sie eigentlich, um wieviel Geld es geht? Ich Nach 1948, 1949, 1950 ist die Konzeption der Sozialen will es gern laut erklären: Es geht hier schlicht erst Marktwirtschaft auch als eine Antwort gegen ein einmal um 250 Millionen DM. kommunistisches System aufgebaut worden. Es war (Hans Koschnick [SPD]: Die Sie eh nicht ein Prinzip, das nach dem „tausendjährigen Reich" wiederkriegen!) entwickelt worden ist und bei dem ganz klar war — nicht nur bei Ludwig Erhard, auch bei den theore- — Das ist etwas anderes. Sie erwarten doch wohl nicht tischen Vordenkern —, daß man es nicht ohne Ord- von einem Gläubiger, daß er sich hinstellt und sagt: nungsrahmen machen kann, daß es nicht mit „laissez Weil das alles nichts ist, verzichte ich gleich von faire " geht, daß man nicht sagen kann: Der freie Markt Anfang an darauf. Das kann es nicht gewesen sein. regelt alles. Wir haben politische Strukturen aufzu- Meine Damen und Herren, wir haben bei den bauen, um Chancen für die Wirtschaft zu entwik- schwierigen Zeiten, die in der Wirtschaft sind — auch keln. 11546 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Hans Koschnick Diese Frage der Industriepolitik, von Ludwig Erhard ersatzweise Herrn Erich Fritz zum Schriftführer damals gesehen, von anderen weitergetragen, wird ernenne. — Dies ist damit geschehen. heute zum Teil geleugnet, und zwar aus dem Wirt- (Zuruf von der CDU/CSU: Herzlichen Glück- schaftsministerium. In den letzten Jahren habe ich von wunsch!) den Wirtschaftsministern nur gehört: Der freie Markt regelt alles. — Hier regelt er nichts! Das sage ich Ich darf nunmehr dem Abgeordneten Dr. Sprung das Ihnen! Wort erteilen. (Zuruf von der F.D.P.: Das ist nicht wahr!) — Ich will ja nicht von Möllemann reden; auch davor Dr. Rudolf Sprung (CDU/CSU): Herr Präsident! war es nicht viel besser. Meine Damen und Herren! Sicherlich wäre die Lösung der Probleme der Stahlindustrie leichter, Lassen Sie es mich in wenigen Worten sagen. Die wenn es sich nur um ein EG-Thema handeln würde. konkrete Frage ist: Wo ist die industriepolitische Die Probleme werden jedoch dadurch entscheidend Antwort, auf die sich Unternehmen einstellen können, verschärft, daß sich die Stahlindustrie weltweit wegen mit der wir mit den Kolleginnen und Kollegen in den Überkapazitäten in Schwierigkeiten befindet. Die Betrieben arbeiten können? Kommen Sie nicht und Gründe dafür sind bereits genannt worden. Die Folge sagen: Die Betriebsräte und die Arbeitnehmer müs- sind einerseits oft weit unter den Gestehungskosten sen etwas leisten! Die Antwort im freien Unterneh- stattfindende Exporte, andererseits Abwehrmaßnah- merbereich, wie wir ihn heute kennen, ist: Ich erwarte men, Straf- und Retorsionsaktionen, oft GATT-widrig gut motivierte Arbeitnehmer mit einer hohen Effekti- und unzulässig. vität im Betrieb bei der Aufgabenstellung, den Betrieb zu modernisieren. Aber der Arbeitnehmer ist nicht Was ist zu tun? dazu da, das Kapital zu erbringen — bei den Löhnen, Erstens. Ich wiederhole die Forderung, die der die wir zahlen. Wirtschaftsausschuß bereits im November an die Wenn es richtig ist, bleibt eine große Frage: Ist es Bundesregierung gerichtet hat, in Brüssel mit Nach- industriepolitisch vernünftig, moderne Werke kaputt- druck darauf zu drängen, daß sich die EG mit aller gehen zu lassen, weil sie heute unter Kapitalenge Entschiedenheit gegen die Maßnahmen der USA und leiden, andere Bereiche in Europa aber weiterzufüh- — so muß man heute hinzufügen — auch Kanadas im ren, obwohl sie schrottreif sind, und das nur, weil wir Bereich der Stahlindustrie zur Wehr setzt und alle sagen, mit Brüssel werden wir weiter für freie Markt- verfügbaren Mittel dafür einsetzt, daß den deutschen wirtschaft sein? Stahlunternehmen daraus kein Schaden entsteht. Ich sage: Wenn wir den Menschen helfen wollen, Zweitens. Die Bundesregierung muß darauf drän- wenn wir der Wirtschaft helfen wollen, brauchen wir gen, daß die Stahlimporte aus Mittel- und Osteuropa nicht weiterhin zu Dumpingpreisen auf den europäi- eine Politik, die für gleiche Wettbewerbsbedingun- schen Markt kommen. Wir alle lehnen protektionisti- gen sorgt. Wir brauchen nach wie vor Unternehmer, auch Gewerkschaften, auch Arbeitnehmer, die sche Maßnahmen ab. Wir haben den EG-Markt zum gemeinsam darüber nachdenken, wie sie insgesamt Osten hin geöffnet, um den mittel- und osteuropäi- die Strukturen verbessern können. Darauf könnten schen Ländern die Möglichkeit zu geben, sich zügig wir uns verständigen, falls Sie bereit sind, endlich zu auf dem Weg zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung sagen: Wir wollen wirklich Industriepolitik betrei- in die internationale Arbeitsteilung einzufügen. Die ben. Preise, zu denen ihre Stahlexporte auf unseren Markt kommen, insbesondere auf den deutschen Markt, und Es ist doch ein Hohn in Deutschland. Es gibt große zwar wegen unserer geographischen Lage, haben Anzeigen, daß wir den Industriestandort Deutschland allerdings nur bedingt etwas mit den tatsächlichen gefährden, und wir würden gar die modernsten Werke Kosten zu tun. dichtmachen! Ich frage jeden, der Verantwortung hat, Bis Ende des vergangenen Jahres konnte wenig- in der Diskussion, ob man bei der Entscheidung, wo stens im Fall der CSFR für einige Stahlprodukte die was getan werden muß, nicht auch die Qualität der Schutzklausel des Interimsabkommens angewendet Arbeit sehen muß. Ich meine damit nicht nur Bremen, werden. Seit dem 1. Januar gibt es einen solchen nicht nur Osnabrück, nicht nur die Maxhütte. Es ist Schutz nicht mehr — wir haben es von Herrn Staats- eine Frage, die insgesamt gesehen werden muß. Ich sekretär Kolb gehört —, weder gegenüber den beiden hoffe, daß wir uns vielleicht doch verständigen kön- Nachfolgestaaten der CSFR noch gegenüber Polen nen; denn die Diskussion von heute ist auch eine und Ungarn. Diskussion über Hoffnungen für Menschen. Wir haben auch gehört, welche Maßnahmen die (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Kommission ergreifen will bzw. schon ergriffen hat, Liste) um auch weiterhin der Stahlindustrie in der EG einen gewissen Schutz gegenüber den Einfuhren aus den mittel- und osteuropäischen Ländern zukommen zu lassen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Diese Maßnahmen betreffen allerdings nur einige Damen und Herren! Damit die Abgeordnete Frau wenige Produkte, und sie reichen deshalb nicht aus. Grochtmann, die als Schriftführerin hier neben mir Für die deutsche Stahlindustrie bliebe damit nur der sitzt, noch die Möglichkeit hat, nach Hause zu kom- Weg, über Antidumpingklagen im GATT diesen Bil- men, bitte ich um Zustimmung des Hauses, daß ich ligimporten entgegenzutreten. Diese Antidumping- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11547

Dr. Rudolf Sprung klagen besitzen jedoch einen entscheidenden Nach- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Als letz- teil: sie dauern zu lange. tem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich dem Abgeordneten Dr. Vondran das Wort. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Bis über sie entschieden wird, können bis zu drei Jahre Dr. Ruprecht Vondran (CDU/CSU): Herr Präsident! vergehen. Die Folge kann sein, daß bis dahin die Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht hier privaten Stahlunternehmen in der EG aus dem Markt um Klöckner, aber es geht um noch mehr. Es geht ausgeschieden sind, während die staatlich gestützten — und das ist zum Ausdruck gekommen — um die Stahlunternehmen in Italien und die massiv subven- Zukunft der deutschen Stahlindustrie, von der über tionierten Stahlunternehmen in Spanien im Markt 300 000 Arbeitsplätze abhängen. Und es geht um ein verbleiben. wichtiges Stück unserer privaten Wirtschaftsord- (Zuruf von der CDU/CSU: Österreich!) nung. Überall in Europa unterliegt die Stahlindustrie Das wäre ein wirklich groteskes Ergebnis, meine einem Substanzverzehr, schlimmer als in der schwär- Damen und Herren. Die wettbewerbsfähigen Privat- zesten Zeit der Stahlkrise Ende der 70er und Anfang unternehmen — dazu gehören auch die deutschen Stahlfirmen — scheiden aus, während die am staatli- der 80er Jahre. Die Chancen zu überleben sind dabei nicht gleichmäßig verteilt. Herr Sprung hat gesagt, chen Tropf hängenden subventionierten Stahlunter- geraten gegenüber der ver- nehmen im Markt verbleiben. Keiner von uns, meine private Unternehmen immer mehr in die Defen- Damen und Herren, kann dem zustimmen! staatlichten Konkurrenz sive. Ich unterstreiche das. Wenn der Mengen- und (Hans Koschnick [SPD]: Das sollten die Preisverfall so weitergeht, gibt es in der EG Ende Freien Demokraten sehen!) dieses Jahres — in wenigen Monaten — nur noch zwei oder drei integrierte privatwirtschaftliche Erzeuger; Drittens. Sowohl das Subventionsverbot als auch die so der Chef des Hauses Thyssen, Heinz Kriwet, vor Genehmigung von Subventionen nach dem Subven- kurzem. Am Ende droht Brüsseler Dirigismus, ein tionskodex des § 95 des EGKS-Vertrages müssen behördliches Quotenregiment, Planwirtschaft. Im endlich konsequent angewandt werden. Das heißt, Osten haben wir sie gerade ohne Wehmut verabschie- daß Subventionen allenfalls für Maßnahmen im det. Umweltschutz, für die Forschung und für die Regio- nalbeihilfen zugelassen werden können — entspre- Betreiben wir Ursachenforschung, wie Frau Albo- chend dem Subventionskodex von 1987. witz es vorgeschlagen hat. Sieht man einmal von den allgemeinen Konjunkturschwankungen, mit der jede Gleichzeitig muß die Bundesregierung darauf drän- Industrie, auch die Stahlindustrie, fertig werden muß, gen, die Gewährung von Subventionen, wenn sie und der notwendigen Bereinigung der Kostenstruktu- dennoch über die Maßnahmen des Subventionskodex ren — auch das ist eine Aufgabe für Vorstände und hinaus erfolgen, grundsätzlich mit einem Kapazitäts- Aufsichtsräte — ab, so kommen die Belastungsele- abbau zu verbinden und zwischen Subventionen und mente ganz überwiegend aus dem Feld der Politik. dem Kapazitätsabbau einen zwingenden Zusammen- Überkapazitäten: eine Altlast der hemmungslosen hang herzustellen, der sich in festen Relationen zwi- Subventionswirtschaft. Einfuhrschwemme aus Osteu- schen gewährten Subventionsbeträgen und dem ropa: Ergebnis einer Handelspolitik mit der Brech- dafür stillzulegenden Produktionspotential aus- stange, die nicht wahrhaben wollte, daß die Kosten- drückt. strukturen in Ost und West unvergleichbar sind, daß Es kann nicht so weitergehen, daß deutsche Unter- sich die Kostengüterpreise für Kohle, Strom, Erz, nehmen, wie Mitte der 80er Jahre, pro Subventions- Frachten und Kapital im Osten nicht im Markt bilden, milliarde eine Kapazität von einer Million Tonnen daß Umweltschutz jenseits der Oder und des Erzge- stillegen mußten, während sich die Kommission im birges ein Fremdwort ist. aktuellen Fall Spanien, das für seine Stahlunterneh- Verstärkter Importdruck aus anderen Ländern: men Subventionen in Höhe von 19 Milliarden DM eine Folge des amerikanischen Protektionismus. Der beantragt hat, mit nur einem Viertel an Stillegungen größte Stahlmarkt der Welt macht für alle Importe zufriedengibt. dicht. (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind harte (Zuruf von der CDU/CSU: Genau das ist Wettbewerbsverzerrungen!) es!) Die dort verdrängten Tonnagen suchen Asyl bei uns. Meine Damen und Herren, wenn es der Bundesre- Zugleich werden 600 000 Tonnen deutschen Stahls gierung gelingt, diese und die anderen in der Ent- ausgesperrt. schließung des Wirtschaftsausschusses vom Novem- ber genannten Maßnahmen auf europäischer Ebene Schließlich nenne ich eine verklemmte Wettbe- durchzusetzen, werden die Arbeitsplätze in der deut- werbspolitik, die bisher nicht zuläßt, daß die Unter- schen Stahlindustrie weitgehend erhalten und die nehmen das wirtschaftlich Vernünftige tun, nämlich Ertragskraft der Unternehmen deutlich gestärkt wer- das Angebot kurzfristig verkürzen, um den Zusam- den können. Die Kommission ist aufgefordert und menbruch des Marktes zu vermeiden und die Struk- verpflichtet, entsprechend und sehr schnell tätig zu turen in gemeinsamer Anstrengung auf Dauer zu werden. bereinigen. Wer ist verantwortlich? Einige der Oppositionsred- Ich danke Ihnen. ner sagten: Bonn. Ich trete dem mit Deutlichkeit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) entgegen. Ja, es hat eine Zeit gegeben, da hat die 11548 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Dr. Ruprecht Vondran Bundesregierung in Brüssel nicht hart genug gegen- Seit Jahresanfang ist dort eine neue Mannschaft gehalten. Ich habe mich nicht gescheut, das hier zur tätig. Das gibt die Chance auf einen Neuanfang in der Sprache zu bringen. Das war z. B. im Sommer 1991. Stahlpolitik. Ich setze darauf, daß diese Chance Aber in den letzten eineinhalb Jahren sind solche genutzt wird. Vielleicht gibt auch der Be richt des Fehler nicht zu beklagen. früheren EG-Generaldirektors Braun, der zum Mo- Der Bundeswirtschaftsminister hat mit Nachdruck natsende vorliegen müßte, konkrete Ansätze dazu. Subventionsdisziplin angemahnt. Er hat konsequent Vorschläge aus Deutschland liegen dazu auf dem Kapazitätsabbau gefordert. Er hat sich für faire Han- Tisch. Art. 58 kann — da stimme ich dem Kollegen Ost delsregelungen eingesetzt. Er hat deutliche Signale zu — nur die Ultima ratio sein. Vorrang hat ande- gesetzt, daß ein Krisenkartell politisch begleitet wer- res. den soll. Der Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundesta- Der Wirtschaftsminister hat sein Amt zur Verfü- ges hat sich am 11. November einstimmig für eine gung gestellt. Aber für seinen Einsatz im Sinne der gemeinsame Politik entschieden. Es erscheint mir deutschen Stahlindustrie möchte ich ihm und der wichtig, daß die politisch Verantwortlichen im Bund Spitze des Wirtschaftsministeriums hier Dank zum und in den Ländern, die Gewerkschaftler und die Ausdruck bringen. Ich hoffe, daß dieser Kurs auch Arbeitgeber in diesem Sinn auch weiter zusammen- künftig weiter gefahren wird. wirken. Dann haben wir zumindest noch eine Chance, Die Verantwortung für den Scherbenhaufen der die Krise zu bewältigen. Stahlpolitik liegt vor allem in Brüssel. Ich wiederhole Ich bedanke mich. das hier ungerührt, obwohl mir das von dort schon heftig entgegengehallt ist, einfach deshalb, meine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Damen und Herren, weil es die Wahrheit ist: Unter dem Recht der Montanunion liegen die Kompetenzen in Brüssel. In Brüssel wird geschönt, wenn es um Subventionen geht. Dort sind die Probleme des Ost- handels völlig verkannt worden. Die dort entwickelte Meine dogmatisch verhärtete Wettbewerbspolitik hat der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Stahlindustrie die notwendigen Reaktionsspielräume Aktuellen Stunde und am Ende unserer Tagesord- genommen. nung. Aber ich muß hier differenzieren. Vizepräsident Bangemann und sein Kabinett kennen die Probleme. Mir bleibt nicht mehr übrig, als die nächste Sitzung Sie haben versucht, das Richtige zu tun. Den Kurs der des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. Ja- EG-Kommission haben sie jedoch nicht bestimmt. nuar 1993, 13 Uhr einzuberufen und Ihnen allen ein Nachgeordnete Dienste haben zum Teil miserable sorgenfreies Wochenende zu wünschen. Arbeit geleistet. Noch vor wenigen Wochen haben sie Die Sitzung ist geschlossen. eine, gemessen an den Tatsachen, viel zu optimisti- sche Stahlprognose vorgelegt. (Schluß der Sitzung: 17.19 Uhr) Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11549*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich Niggemeier, Horst SPD 15. 1. 93 entschuldigt bis Oesinghaus, Günther SPD Abgeordnete(r) 15. 1. 93 einschließlich Pfeiffer, Angelika CDU/CSU 15. 1. 93 Berger, Hans SPD 15. 1. 93 Pfuhl, Albert SPD 15. 1. 93 Blunck (Uetersen), SPD 15. 1. 93* Dr. Pohler, Hermann CDU/CSU 15. 1. 93 Lieselott Rauen, Peter Harald CDU/CSU 15. 1. 93 Dr. Blunk (Lübeck), F.D.P. 15. 1. 93 Reddemann, Gerhard CDU/CSU 15. 1. 93* Michaela Reimann, Manfred SPD 15. 1. 93 Brähmig, Klaus CDU/CSU 15. 1. 93 Rempe, Walter SPD 15. 1. 93 Brunnhuber, Georg CDU/CSU 15. 1. 93 Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 15. 1. 93 Büchler (Hof), Hans SPD 15. 1. 93 Reuschenbach, Peter W. SPD 15. 1. 93 Caspers-Merk, Marion SPD 15. 1. 93 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 15. 1. 93 Dr. Diederich (Berlin), SPD 15. 1. 93 Ingrid Nils Schily, Otto SPD 15. 1: 93 CDU/CSU 15. 1. 93 Doss, Hansjürgen Schmalz, Ulrich CDU/CSU 15. 1. 93 Duve, Freimut SPD 15. 1. 93 Schmidt (Mülheim), CDU/CSU 15. 1. 93 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 15. 1. 93 Andreas Gallus, Georg F.D.P. 15. 1. 93 Schmidt-Zadel, Regina SPD 15. 1. 93 Gattermann, Hans H. F.D.P. 15. 1. 93 von Schmude, Michael CDU/CSU 15. 1. 93 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 15. 1. 93 Schröter, Gisela SPD 15. 1. 93 Gerster (Mainz), CDU/CSU 15. 1. 93 Seibel, Wilfried CDU/CSU 15. 1. 93 Johannes Dr. Solms, Hermann Otto F.D.P. 15. 1. 93 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 15. 1. 93 Dr. von Teichman, F.D.P. 15. 1. 93* Graf, Günter SPD 15. 1. 93 Cornelia Grünbeck, Josef F.D.P. 15. 1. 93 Dr. Thalheim, Gerald SPD 15. 1. 93 Dr. Guttmacher, F.D.P. 15. 1. 93 F.D.P. 15. 1. 93 Karlheinz Thiele, Carl-Ludwig Hackel, Heinz-Dieter F.D.P. 15. 1. 93 Dr. Vondran, Ruprecht CDU/CSU 15. 1. 93 Hämmerle, Gerlinde SPD 15. 1. 93 Vosen, Josef SPD 15. 1. 93 Dr. Hartenstein, Liesel SPD 15. 1. 93 Dr. Waigel, Theo CDU/CSU 15. 1. 93 Hasenfratz, Klaus SPD 15. 1. 93 Walther (Zierenberg), SPD 15. 1. 93 Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 15. 1. 93 Rudi Dr. Hellwig, Renate CDU/CSU 15. 1. 93 Welt, Jochen SPD 15. 1. 93 Heyenn, Günther SPD 15. 1. 93 Dr. Wieczorek CDU/CSU 15. 1. 93 Hiller (Lübeck), Reinhold SPD 15. 1. 93 (Auerbach), Bertram Dr. Janzen, Ulrich SPD 15. 1. 93 Wieczorek (Duisburg), SPD 15. 1. 93 Helmut Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 15. 1. 93 Willy CDU/CSU 15. 1. 93 Kolbe, Manfred CDU/CSU 15. 1. 93 Wimmer (Neuss), Kretkowski, Volkmar SPD 15. 1. 93 Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 15. 1. 93 Kriedner, Arnulf CDU/CSU 15. 1. 93 Zierer, Benno CDU/CSU 15. 1. 93* Leidinger, Robert SPD 15. 1. 93 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-- Dr. Leonhard-Schmid, SPD 15. 1. 93 lung des Europarates Elke Männle, Ursula CDU/CSU 15. 1. 93 Dr. Mahlo, Dietrich CDU/CSU 15. 1. 93 Anlage 2 Marx, Dorle SPD 15. 1. 93 Matschie, Christoph SPD 15. 1. 93 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf Meckelburg, Wolfgang CDU/CSU 15. 1. 93 eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung Mehl, Ulrike SPD 15. 1. 93 des Abgeordnetengesetzes Dr. Mildner, Klaus CDU/CSU 15. 1. 93 und eines Dreizehnten Gesetzes Gerhard zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes Mosdorf, Siegmar SPD 15. 1. 93 (Tagesordnungspunkt 13) Müller (Wesseling), CDU/CSU 15. 1. 93 Alfons Angelika Barbe (SPD): Hiermit möchte ich mich Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 15. 1. 93 gegen die beabsichtigte Erhöhung der Diäten und Neumann (Gotha), SPD 15. 1. 93 Aufwandsentschädigungen der Bundestagsabgeord Gerhard neten aussprechen. Angesichts der laufenden Diskus- 11550* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 sionen um die notwendigen Sparmaßnahmen sollten Immer mehr Menschen in diesem Land leiden unter wir Bundestagsabgeordneten mit gutem Beispiel vor- den zusätzlichen Belastungen ihrer Einkommen angehen und mit dem Sparen bei uns selbst anfangen, durch höhere Lebenshaltungskosten, Steuern, Abga- ehe wir denen in der Gesellschaft geringere Einkom- ben und Gebühren. Auch für die Zukunft wissen sie, men zumuten, die ohnehin nur Sozialhilfe zur Verfü- daß ihr persönliches Einkommen eher abnehmen gung haben, vor allem Kindern unter 15 Jahren. wird. Dagegen hilft es vor allem, der wachsenden Politik- verdrossenheit ein Ende zu bereiten, wenn wir Bun- Wir haben deshalb Verständnis dafür, daß die destagsabgeordneten zur Diätenerhöhung ein klares Bürgerinnen und Bürger in unserem Land ein sichtba- Nein sagen und damit ein wenig glaubwürdiger res Opfer ihrer Abgeordneten verlangen, auch wenn werden. dies nur symbolischen Charakter haben kann.

Wir werden das uns nach einer Erhöhung zusätzlich Friedhelm Julius Beucher (SPD): Ich werde auch in überwiesene Geld karitativen und sozialen Einrich- diesem Jahr der Diätenerhöhung wiederum nicht tungen zur Verfügung stellen, um auf diese Weise zustimmen, weil es erneut wir Abgeordnete sind, die unserem Abstimmungsverhalten auch die nötigen bestimmen und entscheiden, ob und wie hoch unsere Konsequenzen folgen zu lassen. Entschädigung angehoben wird. Außerdem verweise ich in diesem Zusammenhang darauf, daß Politik oft durch symbolhaftes Handeln Siegfried Willy Scheffler (SPD): Hiermit erkläre ich, vermittelt wird. Deshalb hätte ich mir in dem Jahr, wo daß ich dem Gesetzentwurf meine Zustimmung aus sich die Sparappelle vor allem wegen der unsoliden persönlichen Gründen versage. Finanzpolitik der Bundesregierung überschlagen werden, gewünscht, eine demonstrative Nullrunde Auch ich erkenne, daß Abgeordneten nach Art. 48 einzulegen. Abs. 3 GG ein Anspruch auf eine angemessene, ihre Ich respektiere, daß der Erhöhungsansatz weit unter Unabhängigkeit sichernde Entschädigung zusteht. dem liegt, was vorgeschlagen und an Lohnabschlüs- sen im vergangenen Jahr getätigt wurde. In einer Zeit jedoch, in der wir uns fast bei jeder Sitzung des Deutschen Bundestages über die wach- Ich begrüße, daß zukünftig eine „Unabhängige senden sozialen Probleme in den neuen Bundeslän- Kommission" über die Entschädigungen von Abge- dern und Berlins auseinandersetzen, ist eine Erhö- ordneten entscheidet. hung der Bezüge der Abgeordneten zum jetzigen Zeitpunkt, noch dazu rückwirkend zum Ju li 1992, das falsche politische Signal. Günter Graf (SPD): Hiermit erkläre ich ausdrück lich, daß ich dem Gesetzentwurf meine Zustimmung Der mit Recht eingeforderte Solidarpakt sollte zu aus ganz persönlichen Gründen versage. allererst bei den Regierenden und den Politikern des Ich merke an, daß ich nicht verkenne, daß es Landes umgesetzt werden. grundsätzlich richtig ist, auch das Einkommen und die Aufwandsentschädigung der Abgeordneten an die Auch wenn ich, wie bereits bei meiner Ablehnung allgemeine Einkommensentwicklung anzupassen. der Diätenerhöhung 1991, nicht verkenne, daß Ein- kommen und Aufwandsentschädigung der Abgeord- In einer Zeit, in der die Finanznot immer deutlicher neten an die allgemeine Lohnentwicklung angepaßt wird, in der die Belastungen der Bürgerinnen und werden sollten, so kann ich doch angesichts steigen- Bürger in unserem Lande ständig steigen, halte ich es der Lebenshaltungskosten, steigender Mieten, dra- allerdings für ein schlechtes Signal — zumal die Frage matischen Anstiegs der Arbeitslosenzahlen und wei der Diäten in der Öffentlichkeit sehr negativ diskutiert terer sozialer Probleme in unseren Neuen Bundeslän- und bewertet wird —, zu diesem Zeitpunkt eine dern und in Berlin auch diese Diätenerhöhung poli-- derartige Erhöhung vorzunehmen. Ich bin mir dar- tisch nicht vertreten. über im klaren, daß die Diskussion auch in anderen Jahren durchweg negativ in der Öffentlichkeit geführt Deshalb möchte ich als Bundestagsabgeordneter wird. Dennoch meine ich, daß es gerade in der eines Berliner Wahlkreises ein Zeichen der Solidarität augenblicklichen Situation notwendig ist, durch einen mit allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern set- Verzicht ein Zeichen zu setzen. Einzig und allein dies zen. ist meine Absicht. Da ich davon ausgehe, daß dem Gesetzentwurf mit Hinzu kommt, daß angesichts der um sich greifen- Mehrheit zugestimmt wird, erkläre ich hiermit aus- den Politikverdrossenheit dieses politische Signal drücklich, daß ich die Erhöhung für allgemein nützli- eine Vorbildhaltung zum Ausdruck bringt. che Zwecke verwenden werde, so wie ich es auch im Jahr 1991 getan habe. Sollte der Deutsche Bundestag mehrheitlich — ge- gen meine Stimme — eine Diätenerhöhung beschlie- ßen, erkläre ich, daß ich diese Erhöhung in vollem Susanne Kastner, Walter Kolbow (SPD): Wir wer Umfange für soziale Zwecke zur Verfügung stellen den einer Erhöhung der Abgeordnetendiäten in die- werde, so wie ich dies bereits mit der letzten Erhöhung sem Jahr nicht zustimmen. der Bezüge gehandhabt habe. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11551*

Anlage 3 Gesetz zu dem Vertrag vom 18. Januar 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kap Verde über Amtliche Mitteilungen die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- gen Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 18. Dezember 1992 Gesetz zu dem Vertrag vom 5. April 1990 zwischen der beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Swasiland Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen oder einen Einspruch über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapital- gem. Art. 77 Abs. 3 GG nicht einzulegen: anlagen Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Gesetz zu dem Vertrag vom 6. Dezember 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kooperativen Republik Gesetz zur Anpassung von Verbrauchsteuer- und anderen Guyana über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Gesetzen an das Gemeinschaftsrecht sowie zur Änderung ande- Kapitalanlagen rer Gesetze (Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetz) Gesetz zur Verlängerung der Wartefristen für Eigenbedarfs- Zollrechtsänderungsgesetz kündigungen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich genannten Gebiet zwischen Bund und Ländern Gesetz zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz — KfbG) Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzli chen Krankenversicherung (Gesundheits-Strukturgesetz) Gesetz zur Sicherung und vorläufigen Fortführung der Daten- sammlungen des „Nationalen Krebsregisters" der ehemaligen Erstes Gesetz zur Änderung des Fischwirtschaftsgesetzes Deutschen Demokratischen Republik Erstes Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetz- (Krebsregistersicherungsgesetz) buch Gesetz zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Forst- Viertes Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer absatzfondsgesetzes Stiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Gesetz zur Ausführung des Abkommens vom 2. Mai 1992 über Lebens" den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Ausführungsgesetz) Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Erhaltung der Gesetz zu dem Abkommen vom 2. Mai 1992 über den Europäi- Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft schen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) (Gräbergesetz) Gesetz zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen und Union anderer Vorschriften über Kreditinstitute Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Drittes Gesetz zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungs- Haushaltsjahr 1993 (Haushaltsgesetz 1993) gesetzes Gesetz über die Statistiken der öffentlichen Finanzen und des Zu den sieben letztgenannten Gesetzen hat der Bundesrat folgende Personals im öffentlichen Dienst Entschließungen gefaßt: (Finanz- und Personalstatistikgesetz — FPStatG) 1. Zum Gesetz zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen Gesetz zur Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz — KfbG) Gesetz zur Förderung der anderweitigen Verwendung von 1. Zu Artikel 2 Nr. 2 (§ 234 Abs. 4 LAG) Berufssoldaten und Beamten (Verwendungsförderungsgesetz) Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, die Länder Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer alsbald über ihre Vorstellungen zu unterrichten, wie in der Gesetze (FGO-Änderungsgesetz) Endphase des Lastenausgleichs Bewilligung und Auszah- lung von Kriegsschadenrente rechtlich und verwaltungs- Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege technisch geregelt werden sollen, damit die Länder ihre Behördenorganisation rechtzeitig an die künftige Aufga- Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerli- benstellung anpassen können. chen Gesetzbuche Begründung Achtes Gesetz zur Änderung des Unterhaltssicherungsgeset- zes Bei der Kriegsschadenrente wird sich die Zahl der Renten- empfänger aufgrund des neuen Stichtags in § 234 Abs. 4 Gesetz zur Verlängerung der Regelung über die Anmietung LAG n. F. und der Altersstruktur der Rentenempfänger von Kraftfahrzeugen im Werkverkehr nach dem Einigungsver- weitaus stärker als bisher reduzieren; bereits jetzt sind 63,2 trag vom Hundert der Rentenempfänger über 80 Jahre alt. Die Zweites Gesetz zur Änderung des Filmförderungsgesetzes Betreuung der Rentenempfänger wird nicht mehr bei jedem Ausgleichsamt erfolgen können, sondern konzen- Gesetz zur Änderung von Gesetzen auf dem Gebiet des Rechts triert werden müssen. Die Änderung der Behördenorgani- - der Wirtschaft sation muß rechtzeitig geplant werden. Gesetz über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP 2. Änderung des Bundeszentralregistergesetzes Sondervermögens für das Jahr 1993 Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, den Entwurf (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1993) des Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralre- Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Verwaltung gistergesetzes (3. BZRÄndG) schnellstmöglich einzubrin- des ERP-Sondervermögens gen. Gesetz zu dem Abkommen vom 13. Mai 1992 zwischen der Begründung Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung In § 41 Abs. 1 BZRG ist geregelt, daß unbeschränkte der Vereinigten Staaten von Amerika über die Regelung Auskunft aus dem Bundeszentralregister nur von obersten bestimmter Vermögensansprüche Bundes- und Landesbehörden eingeholt werden kann. In Gesetz zu dem Vertrag vom 18. Dezember 1991 zwischen der dem zur Zeit in Vorbereitung befindlichen Dritten Gesetz Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn über zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes ist die die gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen Erteilung von unbeschränkten Auskünften auch an untere HHG-Behörden vorgesehen. Die Erteilung der Auskünfte Gesetz über die Ermächtigung des Gouverneurs für die Bundes- unmittelbar an die für die Durchführung des Häftlingshil- republik Deutschland in der Internationalen Finanz-Corporation fegesetzes (HHG) zuständigen Behörden ist datenschutz- zur Stimmabgabe für eine Änderung des Abkommens über die rechtlich erforderlich und sachlich sinnvoll, da diese Internationale Finanz-Corporation Auskünfte vor der Gewährung von Vergünstigungen die (IFC-Abkommensänderungsgesetz) Prüfung ermöglichen, ob Ausschließungsgründe nach § 2 11552* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Abs. 1 Nr. 3 HHG gegeben sind. Im Hinblick auf die Der Bundesrat ist der Auffassung, daß bei der Initiative zur zahlreichen Anfragen ist auch eine Beschleunigung erfor- Änderung des Absatzfondsgesetzes für den Bereich Holz die derlich. Abgabepflicht auf alle Holzprodukte ausgedehnt werden sollte. 2. Zum Gesetz zur Sicherung und vorläufigen Fortführung der Datensammlung des „Nationalen Krebsregisters" der ehe- Der Bundesrat behält sich entsprechende Initiativen zur maligen Deutschen Demokratischen Republik (Krebsregi- Novellierung des Absatzfondsgesetzes vor. stersicherungsgesetz) 4. Zum Gesetz zur Ausführung des Abkommens vom 2. Mai Der Bundesrat weist darauf hin, daß gegen die von der 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Ausfüh- Bundesregierung reklamierte Gesetzgebungskompetenz für rungsgesetz) das Krebsregisterversicherungsgesetz erhebliche Bedenken Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, bei der weiteren bestehen, die der Bundesrat nur angesichts der einigungsbe- Umsetzung des EWR-Abkommens darauf zu achten, daß die dingten Ausnahmesituation und der zeitlich befristeten Gel- EG- und deutschen Verbraucherschutzstandards nicht ver- tungsdauer des Gesetzes zurückstellt. mindert werden. Zwar wird mit dem Abkommen über den Eine allgemeine Gesetzgebungskompetenz für die epidemio- Europäischen Wirtschaftsraum das Recht der EFTA-Staaten logische Erfassung von Krebsdaten hat der Bund nicht. Dabei weitgehend dem EG-Recht angepaßt, jedoch treten die hält der Bundesrat bevölkerungsbezogene Krebsregister im notwendigen Änderungen mit Übergangsfristen in Kraft, die Interesse der besseren Erforschung und Verhütung von nur eine formalrechtliche Anpassung zulassen. Darüber hin- Krebserkrankungen für erforderlich, ohne daß diese in allen ausgehende erforderliche gesundheitlich relevante Anpas- Ländern bestehen oder errichtet werden müssen. sungen in den Bereichen Zusatzstoffregelungen, Höchstmen- gen für Schädlingsbekämpfungsmittel und Umweltchemika- Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes besteht nicht, lien können im Rahmen dieser Fristen noch nicht vorgenom- weil men werden. Für die Durchführung der Bestimmungen kommt erschwerend hinzu, daß die EFTA-Staaten nicht alle der Begriff der „gemeingefährlichen Krankheiten" in 1. im Bereich des Veterinärrechts geltenden Bestimmungen der Artikel 74 Nr. 19 des Grundgesetzes so auszulegen ist, wie EG übernommen haben, so daß sie für bestimmte Produkte er in den im Jahr 1949 geltenden Rechtsvorschriften weiterhin wie Drittländer zu behandeln sind. gebraucht wurde. Damals wurden als „gemeingefährliche Krankheiten" bestimmte, besonders schwerwiegende Außerdem bittet der Bundesrat die Bundesregierung dafür übertragbare Krankheiten bezeichnet. Krebs ist keine Sorge zu tragen, daß schnellstmöglich ausreichende Informa- übertragbare Krankheit und ist deshalb keine gemeinge- tionen über die geltenden Lebensmittelrechtsbestimmungen fährliche Krankheit im Sinne von Artikel 74 Nr. 19 des und über die Organisation der Lebensmittelüberwachung in Grundgesetzes; den EFTA-Staaten vorliegen, damit ein ausreichender Ver- braucherschutz gewährleistet werden kann. 2. nach Artikel 74 Nr. 19 des Grundgesetzes nur Maßnah- men" gegen bestimmte Krankheiten geregelt werden 5. Zum Gesetz zu dem Abkommen vom 2. Mai 1992 über den können. Die Registrierung von Krebserkrankungen ist in Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) diesem Sinne keine „Maßnahme",„ weil sie sich nicht Der Bundesrat nimmt Bezug auf seine Stellungnahme vom unmittelbar gegen die Krankheit Krebs richtet, sondern 10. Juli 1992 — BR-Drucksache 368/92 (Beschluß) — und lediglich dazu dient, Kenntnisse über die Krankheit zu verweist darauf, daß das parallele Verfahren nach der Lin- gewinnen, um in Zukunft Krebserkrankungen besser dauer Vereinbarung noch nicht abgeschlossen ist. Er bekräf- verhüten zu können. tigt seine Feststellung, daß die Ratifikationsurkunde für die 3. Zum Gesetz zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Bundesrepublik Deutschland erst dann hinterlegt werden Forstabsatzfondsgesetzes kann, wenn sämtliche Länder einzeln ihr Einverständnis mit dem Abkommen erklärt haben. Der Bundesrat ist der Auffassung, daß der zunehmende Konkurrenzdruck im gemeinsamen Markt ein offensives 6. Zum Gesetz zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Marketing für deutsche Agrarprodukte erforderlich macht. Europäische Union Die durch die Änderung des Absatzfondsgesetzes künftig I. Allgemeines höheren Beitragsaufkommen der Landwirtschaft müssen gezielter und wirksamer zur Absatzförderung heimischer 1. Bundesrat und Länder sind stets für die Idee eines landwirtschaftlicher Produkte eingesetzt werden. Vereinten Europas eingetreten und haben von Anfang an den europäischen Einigungsprozeß konstruktiv beglei- Der Bundesrat hält es für erforderlich, baldmöglichst die bei tet. Sie haben die Unterstützung der deutschen Einheit allen Absatzförderungsmaßnahmen bestehende Verpflich- durch unsere europäischen Partner als Verpflichtung und tung zur Wettbewerbsneutralität zu überprüfen und die Auftrag gesehen, auch künftig ihren Beitrag zu einem Voraussetzungen für eine stärkere Ausrichtung der Absatz- politisch vereinten Europa zu leisten. Sie haben dabei förderungsmaßnahmen auf die Interessen der Landwirtschaft unterstrichen, diese historische Aufgabe weiterhin zu schaffen. So erscheint es beispielsweise erforderlich, die Erzeugergemeinschaften hinsichtlich ihrer Absatzbemühun- — solidarisch mit den anderen europäischen Ländern, gen zu unterstützen. Regionen und autonomen Gemeinschaften, Eine Möglichkeit bieten nach Auffassung des Bundesrates — partnerschaftlich mit dem Bund, die erfolgsversprechend angelaufenen Maßnahmen des Zen- — in konstruktivem Dialog mit den europäischen Institu- tral-Regional-Marketing. Diese Maßnahmen müssen nach tionen, insbesondere dem Europäischen Parlament, Maßgabe der Lage auf den Märkten fortgesetzt und ausge- dem Rat und der Kommission der Europäischen weitet werden. Den regionalen Werbemaßnahmen muß künf- Gemeinschaft, tig eine größere Bedeutung zukommen. nach Kräften zu gestalten. Der Bundesrat ist der Auffassung, daß die Beitragszahler besser als bisher über das Mittelaufkommen und die Mittel- Der Bundesrat erklärt für die Bürger in den deutschen verwendung informiert werden müssen. Insbesondere ist Ländern, daß die Zustimmung zu dem Vertrag von sicherzustellen, daß die einzelnen Absatzförderungsmaßnah- Maastricht dem tief empfundenen Wunsch entspricht, men stärker auf die Interessen der heimischen Landwirtschaft gemeinsam mit den Bürgern in den anderen Regionen ausgerichtet werden. Europas auf der Grundlage gemeinsamer Grundwerte die Zukunft unseres Kontinents zu unserer aller Wohle zu Die Mittelverwendung muß stärker als bisher in einem gestalten. ausgewogenen Verhältnis zum Mittelaufkommen der einzel- nen Sparten stehen. Der Bundesrat ist der Auffassung, daß Der Bundesrat sieht in der Europäischen Union nicht nur kurzfristig zu prüfen ist, ob die Ins trumente des Absatzfonds einen Handlungsrahmen, sondern einen Gestaltungsauf- und der CMA unter den Bedingungen des EG-Binnenmark- trag. Die strukturelle Offenheit der Europäischen Union tes noch zeitgemäß sind. Eventuelle Defizite müssen durch ermöglicht die Entwicklung eines Europas der Regionen baldmögliche Novellierung des Absatzfondsgesetzes beho- auf der Grundlage einer dreistufig-föderalen Struktur ben werden. und des Grundsatzes der Subsidiarität. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11553*

Der Bundesrat wird an der Ausgestaltung der Europäi- Der Bundesrat und die deutschen Länder sehen es als schen Union auf der Grundlage des Vertrages von eine zentrale Aufgabe an, insbesondere im Ausschuß der Maastricht im Sinne eines „immer engeren Zusammen- Regionen über die Einhaltung der Subsidiarität zu schlusses der europäischen Völker" (Präambel des Ver- wachen, damit die Vielfalt in Europa erhalten bleibt. trages von Rom) mitwirken. 4. Ausschuß der Regionen Der Bundesrat sieht in dem neuen A rtikel 23 des Grund- gesetzes und in dem Gesetz über die Zusammenarbeit Eine tragende Säule der Europäischen Union muß der von Bund und Ländern eine unabdingbare innerstaatli- „Ausschuß der Regionen" werden. Er bietet die Chance, che Voraussetzung für die Fortentwicklung der Europäi- Anliegen und Erfahrungen der Regionen und der Bürger schen Gemeinschaft zu einer Europäischen Union. Mit aus ihrem unmittelbaren Lebensumfeld in die europäi- der Zustimmung zu dem Ratifikationsgesetz verbindet schen Entscheidungsprozesse einzubringen. Er leistet der Bundesrat die Hoffnung, daß die Europäische Union damit sowohl einen Beitrag zur Demokratisierung der in unserem Zeitalter dynamischer Veränderungen und Gemeinschaft als auch zu ihrer Bürgernähe. Umbrüche — mit denen auch unwägbare Risiken einher- Es müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, die gehen — für Europa im ganzen den Frieden und die Stimme der europäischen Regionen im europäischen Freiheit erhalten, den Rechtsstaat sichern sowie Wohl- Einigungsprozeß zu Gehör zu bringen. Bei der nächsten stand und soziale Sicherung in ökologischer Verantwor- Regierungskonferenz sollten weitere Schritte unternom- tung fördern wird. men werden, diesen Ausschuß in Richtung auf eine II. Institutionelle Fragen Regionalkammer als „dritter Kammer" neben Minister- rat und Europäischem Parlament weiter zu entwickeln. 2. Zu den Prioritäten und Inhalten der Umsetzung der Verfassungsmodelle des Nationalstaats des 19. Jahrhun- neuen Vertragsbestimmungen erklärt der Bundesrat fol- derts, die die Vorstellung vom Zwei-Kammer-System gendes: geprägt haben, können nicht auf die EG übertragen 3. Subsidiarität werden. Gesucht werden muß ein neues Gleichgewicht und eine neue Teilung der Gewalten im europäischen Der Grundsatz der ist ein elementares politisches und gesellschaftliches Handlungsprinzip. Maßstab. Seine Durchsetzung und Anwendung in der europäi- Bis dahin werden die deutschen Länder mit ihrer enga- schen Integration verhindern Zentralismus, sichern die gierten Arbeit im Ausschuß der Regionen die Notwen- Identität der Regionen und bewirken Bürgernähe der digkeit und Nützlichkeit der Mitwirkung der Regionen Entscheidungen. Der Bundesrat begrüßt die Aufnahme am europäischen Meinungsbildungsprozeß unter Beweis des Subsidiaritätsprinzips als rechtsverbindlichen stellen. Dazu ist allerdings erforderlich, daß der Aus- Grundsatz in den EG-Vertrag, insbesondere in dessen schuß der Regionen über einen selbständigen admini- Artikel 3 b. strativen Unterbau und über eine ausreichende Finanz- Ziel und Entstehungsgeschichte des Artikels 3 b EG- ausstattung verfügt. Vertrag unterstreichen zwar das Handlungsprimat der 5. Mitwirkung der Länder im Rat Mitgliedstaaten bzw. ihrer Regionen. Die Formulierung im einzelnen gibt jedoch noch Anlaß zu einander wider- Die Mitwirkung nach Artikel 146 EG-Vertrag i. V. m. sprechenden Interpretationsversuchen. Sie ist daher Artikel 23 Abs. 5 Grundgesetz ermöglicht den Ländern, noch unbefriedigend. Sie wird den Vorstellungen der die Verhandlungen im Ministerrat zu führen, wenn Länder von Subsidiarität noch nicht voll gerecht. Sie muß Länderzuständigkeiten betroffen sind. Der Bundesrat deshalb bei nächster Gelegenheit verbessert werden. weist auf die grundsätzliche Verpflichtung der Bundes- Dem Subsidiaritätsprinzip, zu dem die erste Formulie- regierung hin, die Rechte, die Deutschland als Mitglied- rung aufgrund von Vorschlägen des Bundesrates in die staat zustehen, in solchen Fällen auf die vom Bundesrat Regierungskonferenz eingebracht wurde, wird eine benannten Vertreter der Länder zu übertragen. überragende Bedeutung zukommen. Damit wird für die 6. Artikel 23 des Grundgesetzes und Gesetz über die Europäische Union festgeschrieben, daß die jeweils Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegen- sachnähere, untere Ebene in erster Linie zum Handeln heiten der Europäischen Union aufgerufen ist. Mit der Einführung des Artikels 23 in das Grundgesetz Der Bundesrat bekräftigt in diesem Zusammenhang wird die Europäische Union auf eine eigene verfassungs- seine Forderung, daß eine nach föderativen Grundsätzen rechtliche Grundlage mit eindeutiger Ausrichtung an errichtete Europäische Union den Werten unseres Grundgesetzes gestellt. Die Veran- — die europäische Ebene als Feld aller künftigen euro- kerung der Beteiligungsrechte der Länder schreibt den päischen Ordnungs- und Strukturpolitik zur Lösung deutschen föderalen Staatsaufbau konsequent in den übergreifender Aufgaben, europäischen Bereich hinein fort. — die nationalstaatliche Ebene als Bereich nationaler Voraussetzung für die Geltung der in Artikel 23 Grund- Gesetzgebung und Ordnung, gesetz und in den Zusammenarbeitsgesetzen festgeleg- — die regionale Ebene als Bereich für die Gestaltung der ten Beteiligungsregelungen ist die Europäische Union. vielfältigen und differenzierten Lebensbedingungen Der Bundesrat bekräftigt die im Bericht des Sonderaus- unserer Bürger schusses „Europäische Union (Vertrag von Maas tricht)" des Bundestages niedergelegte und im Ausschuß von klar unterscheiden muß. Vertretern der Bundesregierung bestätigte Auffassung, Dem Bundesrat ist bewußt, daß das Verständnis der daß diese Voraussetzung bereits dann vorliegt, wenn sich Subsidiarität in den Mitgliedstaaten von einem histori- die heute bestehende Integrationsgemeinschaft gegen- schen und kulturell unterschiedlich gewachsenen Staats- über dem gegenwärtigen Integrationsstand durch ver- verständnis geprägt ist. Er geht davon aus, daß Subsi- tragliche Regelungen, durch die das Grundgesetz sei- diarität nach der gegenwärtigen Vertragsdefinition zu nem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche einem ständigen Ringen in einem dynamischen Prozeß Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, in anhand von konkreten Sachfragen führen wird. Fest Richtung auf eine Europäische Union weiterentwickelt. steht allerdings die Verpflichtung zur Anwendung der Der Bundesrat bedauert jedoch, daß eine Regelung über Subsidiarität durch alle EG-Organe bei allen Maßnah- eine verstärkte Mitwirkung der Länder an EG-Angele- men. genheiten im Finanzbereich noch aussteht. Der Bundes- Der Bundesrat hält es für erforderlich, daß sich die rat erinnert insoweit auch an den Zusatz in den Protokoll- Gemeinschaftsorgane verbindlich verpflichten, jede EG- notizen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Maßnahme nach einem — mit den Ländern und den Bundesrat und Deutschem Bundestag zum Thema Regionen in den übrigen Mitgliedstaaten abgestimmten „Grundgesetz und Europa". Der Bundesrat ist der Auf- — Kriterien-Katalog auf ihre Vereinbarkeit mit der Sub- fassung, daß bei der Rechtsetzung der Europäischen sidiarität zu überprüfen und diese Prüfung zu dokumen- Union über Steuern, deren Aufkommen nach dem tieren. Grundgesetz den Ländern oder Gemeinden ganz oder 11554* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

zum Teil zufließt, die Stellungnahme des Bundesrates bei halts- und finanzpolitischer Solidität der teilnehmenden einem Handeln der Bundesregierung auf EG-Ebene Mitgliedstaaten getroffen werden. Sie darf sich nicht an „maßgeblich" zu berücksichtigen ist. Opportunitätsgesichtspunkten, sondern muß sich an den realen ökonomischen Gegebenheiten orientieren. Die Soweit die Beteiligungsrechte des Bundesrates davon Natur der Kriterien bedingt es, daß ihre Erfüllung nicht abhängen, daß der Bund ein Recht zur Gesetzgebung hat nur statistisch gesichert werden kann. Ihre dauerhafte (nicht ausgeübte konkurrierende Gesetzgebungsbefug- Erfüllung muß vielmehr auch aus dem Verlauf des nis des Bundes), ist jeweils auf die konkrete EG-Vorlage Konvergenzprozesses glaubhaft sein. Die künftige euro- abzustellen. Der Bund muß im Einzelfall dartun, daß ihm päische Währung muß so stabil sein und bleiben wie die im nationalen Recht das Recht zur Gesetzgebung nach Deutsche Mark. Artikel 72 Abs. 2 Grundgesetz zustehen, also ein Bedürf- nis nach bundeseinheitlicher Regelung bestehen Der Bundesrat wird sich jedem Versuch widersetzen, die würde. Stabilitätskriterien aufzuweichen, die in Maast richt ver- einbart worden sind. Er wird darüber wachen, daß der 7. Zum Ratifikationsgesetz Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Wäh- Die Formulierung des Artikels 2 des Gesetzes zum rungsunion sich streng an diesen Kriterien orientiert. Vertrag über die Europäische Union ist unbefriedigend. Der Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Der Bundesrat bedauert, daß der Bundestag den vom Währungsunion erfordert auch eine Bewertung durch Bundesrat gemachten Vorschlag (BR-Drs. 500/92, Zif- den Bundesrat. Die Bundesregierung bedarf demgemäß fer 11) nicht übernommen hat. Für die im Bereich der für ihr Stimmverhalten bei Beschlüssen des Rates nach Haushaltswirtschaft erforderliche Abstimmung zwischen Artikel 109j Abs. 3 und Artikel 109j Abs. 4 des EG- Bund und Ländern reicht nach Überzeugung des Bun- Vertrages des zustimmenden Votums des Bundesrates. desrates das bestehende Instrumentarium (Finanzpla- Das Votum des Bundesrates bezieht sich auf dieselbe nungsrat) vollkommen aus. Artikel 104c des EG-Vertra- Materie wie die Bewertung des Rates der Wirtschafts- ges darf auf keinen Fall dazu führen, die bislang ausge- und Finanzminister und die Entscheidung des Rates in wogene Regelung der Abstimmung zwischen Bund und der Zusammensetzung der Staats- und Regierungs- Ländern zu Lasten der Länder zu verschieben. Der chefs. Bundesrat hat gleichwohl auf die Anrufung des Vermitt- lungsausschusses verzichtet, um die Ratifizierung des Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf zu erklä- Vertrages über die Europäische Union nicht zu verzö- ren, daß sie dieses Votum des Bundesrates respektieren gern. Der Bundesrat geht dabei von folgendem aus: wird. — Die in Artikel 2 des Gesetzes zum Vertrag über die Er fordert die Bundesregierung auf, diese Vorgehens- Europäische Union enthaltene Formulierung „in den weise den Vertragspartnern sowie der Europäischen Haushalten von Bund und Ländern ... zu erfüllen" Kommission und dem Europäischen Parlament mitzutei- beinhaltet keine abschließende rechtliche Verpflich- len. tung der Länder, sich an der Umsetzung der EG- Der Bundesrat fordert die Bundesregierung ferner auf, Vorgaben zu beteiligen. Artikel 2 des Gesetzes enthält ihm ab 1994 jährlich einen Bericht über die Entwicklung insoweit nur einen Programmsatz. Dem Bund steht der Konvergenz in der Europäischen Union vorzulegen, jedenfalls keine Kompetenz zur rechtlichen Verpflich- inwieweit von den einzelnen Mitgliedstaaten der Euro- tung der Länder im Bereich der Haushaltswirtschaft päischen Union die in dem Maastrichter Vertrag und dem zu. Die weitere Umsetzung etwaiger EG-Vorgaben entsprechenden Protokoll niedergelegten Konvergenz- nach Artikel 104 c des EG-Vertrages bedarf vielmehr kriterien erfüllt sind. einer gesetzlichen und gegebenenfalls verfassungs- rechtlichen Präzisierung. Die Wahrung eines eigenständigen wirtschaftspoliti- schen Handlungsspielraumes der Länder darf durch die — Die nach Artikel 2 des Gesetzes zum Vertrag über die wirtschaftspoli tischen Leitlinien zur Verwirklichung der Europäische Union erwähnte „Abstimmung zwischen Ziele der Gemeinschaft nicht beeinträchtigt werden. Aus Bund und Ländern" hat im Rahmen des bestehenden diesem Grund ist eine Beteiligung der Länder an der Koordinierungsinstrumentariums (Finanzplanungs- Erarbeitung der Modalitäten für das Verfahren der mul- rat) zu erfolgen. tilateralen Überwachung zwingend notwendig. Der Bun- III. Wirtschafts- und Währungsunion desrat betont vorsorglich, daß unter Hinweis auf Empfeh- lungen des Rates ein Durchgriff des Bundes auf die 8.Der Bundesrat begrüßt, daß im Rahmen der Europäi- Wirtschaftspolitik der Länder abgelehnt wird. schen Union die Schaffung einer Wirtschafts- und Wäh- rungsunion als Stabilitätsgemeinschaft vorgesehen ist. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich mit Die Wirtschafts- und Währungsunion ist ein wichtiger Nachdruck für Frankfurt am Main als Sitz der Europäi- Schritt zur Vertiefung der Integration im Rahmen der schen Zentralbank einzusetzen. Europäischen Union, die so bald wie möglich zur Politi- IV. Einzelne Politikbereiche schen Union ausgestaltet werden sollte. Die Wirtschafts- und Währungsunion dient auch der Vervollständigung 9. Kohäsionspolitik, Beihilfenaufsicht und Regionalpoli- des Binnenmarktes, der die internationale Wettbewerbs- tik fähigkeit Europas für die Herausforderungen der näch- Der hohe Stellenwert und die Bedeutung des Zieles des sten Jahrzehnte stärken wird. wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts für die Der Bundesrat nimmt die Besorgnisse in der Bevölkerung Gemeinschaft kommen im Vertrag über die Europäische über die Einführung einer gemeinsamen europäischen Union u. a. durch die Gründung des neuen Kohäsions- Währung ernst. Es muß daher alles getan werden, damit fonds zum Ausdruck. Der Bundesrat teilt die Auffassung, sich diese Sorgen als gegenstandslos erweisen. Die daß der Gemeinschaft eine besondere Verpflichtung für Stabilität der Währung muß unter allen Umständen die Unterstützung ihrer wirtschaftlich am wenigsten gewährleistet sein. entwickelten Regionen zukommt. Er betont jedoch, daß die bestehenden und neuen Fonds nicht zu einem Instru- Der Bundesrat erkennt an, daß der Vertrag über die ment des innergemeinschaftlichen Finanzausgleichs Europäische Union eine Grundlage für eine stabile werden dürfen. europäische künftige Währung schafft, insbesondere durch die Sicherung der Unabhängigkeit der Europäi- Die Lösung der regional- und strukturpolitischen Pro- schen Zentralbank und die Vereinbarung von Stabilitäts- bleme in den strukturschwachen Gebieten bleibt auch kriterien für die teilnehmenden Mitgliedstaaten. künftig vorrangig Aufgabe der Mitgliedstaaten, Länder und Regionen. Sie benötigen daher stets einen eigenen Dabei werden beim Übergang zur dritten Stufe der wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum zur Förde- Wirtschafts- und Währungsunion die Stabilitätskriterien rung und Ausrichtung ihrer regionalen Wirtschaftsent- eng und strikt auszulegen sein. Die Entscheidung für den wicklung. Der Bundesrat erwartet deshalb, daß die Übergang zur dritten Stufe kann nur auf der Grundlage EG-Kommission die eigenständige Regionalpolitik der erwiesener Stabilität, des Gleichlaufs bei den wirtschaft- Länder respektiert und sich im Rahmen der Beihilfenkon- lichen Grunddaten und erwiesener dauerhafter haus- trollpolitik auf die Beihilfen konzentriert, die wegen ihrer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11555*

hohen Intensität und ihrer sektoralen Zielsetzung ten, bei der Mittelfestsetzung im Bereich transeuropäi- wesentliche Wettbewerbsverfälschungen im europäi- scher Netze auf eine restriktive Anwendung von Arti- schen Binnenmarkt erwarten lassen. Die Beihilfevor- kel 129c EG-Vertrag hinzuwirken. schriften im EG-Vertrag haben die Aufgabe, den Wett- bewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfäl- 13. Europäische Industriepolitik schungen zu schützen. Der Bundesrat sieht europäische Industriepolitik primär als Rahmen-, Infrastruktur- und Dialogpolitik an. Er ist Auch Gemeinschaftsbeihilfen können den Wettbewerb der Auffassung, daß die Bundesregierung das Erforder- verzerren und sind daher den für die Kontrolle nationaler nis der Einstimmigkeit im Rat nutzen sollte, um spezifi- Beihilfen geltenden Vorschriften zu unterwerfen. sche Maßnahmen auf diesen Bereich zu beschränken. Der Bundesrat erwartet, daß die strikte Anwendung des Gemeinschaftsinitiativen müssen weiterhin ho rizontal Subsidiaritätsprinzips den regionalpolitischen Erforder- ausgerichtet sein und dürfen den Wettbewerb nicht nissen der Länder Rechnung trägt, indem die Auswahl beeinträchtigen. Dieser Ansatz ermöglicht auch die der Fördergebiete und die Differenzierung der Förder- Unterstützung von Schlüsseltechnologien, die branchen- sätze bis zu einem von der EG-Kommission festgelegten übergreifend Innovationen auslösen. Der Bundesrat bit- maximalen Fördersatz den für die nationale Regionalpo- tet die Bundesregierung, bei weiteren industriepoliti- litik zuständigen Institutionen überlassen wird. Die EG- schen Verhandlungen und bei der Konzipierung beson- Fördergebiete dürfen nicht auf den nationalen Förderge- derer industriepolitischer Maßnahmen im Einzelfall auf bietsplafond angerechnet werden. Der Bundesrat be- die Einhaltung dieses marktwirtschaftlich orientierten fürchtet, daß die Einschränkung des nationalen Hand- Politikansatzes zu dringen. Der Bundesrat wird die Frage lungsspielraums in der Strukturpolitik auch durch die der Aufhebung der EG-Kompetenz für Industriepolitik neue Entwicklung in der Beihilfenkontrollpolitik ver- (Artikel 130 EG-Vertrag) bei der nächsten Vertragsände- schärft wird. rung im Lichte der Anwendungserfahrungen prüfen. 10. Außenwirtschaft 14. Bildung, Kultur, Forschung und Technologie Der Bundesrat hält nationale Schutzmaßnahmen nach Der Vertrag von Maastricht regelt auch die Aufgaben der Artikel 115 EG-Vertrag mit dem Prinzip des Gemeinsa- Europäischen Gemeinschaft in den Bereichen Bildung men Marktes für nicht vereinbar. Er erwartet, daß die und Kultur und bestätigt gleichzeitig die zentrale Verant- EG-Kommission ihre erweiterten Kompetenzen in die- wortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Bildungs- und sem Zusammenhang sachgerecht und mit der gebotenen die Kulturpolitik. Der Bundesrat begrüßt diese Regelung. Zurückhaltung einsetzt. Der Bundesrat ist der Auffas- Bildung und Kultur bilden auf allen Ebenen einen sung, daß diese Vorschrift bei der nächsten Vertragsän- wesentlichen Bestandteil der Europäischen Integration. derung aufgehoben werden sollte. Es ist deswegen angemessen, der Gemeinschaft eine ergänzende und unterstützende Förderkompetenz in Der Bundesrat bekräftigt, daß handelspolitische Schutz- einzelnen grenzüberschreitenden Bereichen einzuräu- maßnahmen im Sinne eines freien Welthandels auf das men. Weitergehende Gemeinschaftskompetenzen in den unbedingt erforderliche Maß beschränkt werden müs- Bereichen der beruflichen Bildung und der anwendungs- sen. Er tritt Bestrebungen entgegen, die Zuständigkeit und industriebezogenen Forschung sind wegen des für Entscheidungen über handelspoli tische Schutzmaß- direkteren Wirtschaftsbezuges sachgerecht, solange die nahmen der Gemeinschaft auf die EG-Kommission zu generelle Verantwortung der Mitgliedstaaten auch für übertragen. diese Bereiche erhalten bleibt. 11. Verbraucherschutz Für die künftige Entwicklung der Europäischen Gemein- schaft wird es auf die gemeinschaftsfreundliche Koope- Die erweiterte Gemeinschaftskompetenz im Bereich des ration der Europäischen Gemeinschaft und der Mitglied- Verbraucherschutzes darf nicht dazu führen, daß das staaten und zwischen den Mitgliedstaaten darauf hohe Verbraucherschutzniveau in der Bundesrepublik ankommen, daß die Gemeinschaftskompetenzen im Gei- Deutschland gefährdet wird. Aktivitäten der Gemein- ste föderativer Zusammenarbeit und unter Beachtung schaft dürfen das plurale System der Verbraucherbera- der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Bildungs-, tung nicht beeinträchtigen und sollten sich nur auf eine Kultur- und Forschungspolitik und des Subsidiaritäts- Verbesserung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten prinzips angewandt werden. Einer solchen Entwicklung richten. wäre abträglich, wenn der Versuch unternommen wer- 12. Transeuropäische Netze den sollte, die Neuregelungen unter Strapazierung des acquis communautaire und des Prinzips der dynami- Der Bundesrat erkennt die Notwendigkeit einer Koordi- schen Interpretation „leerlaufen" zu lassen. nierung nationaler Verkehrsnetze in einem zusammen- Nach Auffassung des Bundesrates sollte sich die Europäi- wachsenden Europa. Die Gestaltung transeuropäischer sche Gemeinschaft in den Bereichen Bildung und Jugend Verkehrswegenetze für die Bereiche Hochgeschwindig- auf ausreichend finanzierte Mobilitätsprogramme kon- keitsbahnen, Straßennetze, Binnenschiffahrt und kombi- zentrieren, wobei das Verhältnis zu den Programmen der nierter Verkehr kann nur in Abstimmung mit nationalen Mitgliedstaaten und ihren Förderorganisationen besser Ausbauplänen der Mitgliedstaaten erfolgen. Für die als bisher abzustimmen wäre. In diesem Zusammenhang Bundesrepublik Deutschland enthält der Bundesver- weist der Bundesrat darauf hin, daß nach Wortlaut und kehrswegeplan 1992 ein integriertes Gesamtverkehrs- Entstehungsgeschichte des Artikels 126 EG-Vertrag konzept, das auch den Zielen einer koordinierten Ver- Maßnahmen für den Hochschulbereich nur nach Maß- kehrsplanung und Vernetzung der Verkehrssysteme gabe dieser Vorschrift erlassen werden können. Für den Rechnung trägt. Die Realisierung von Verkehrsinfra- Bereich der Kulturpolitik kann es nach Auffassung des strukturnetzen muß nach dem Subsidiaritätsprinzip Bundesrates schon wegen der begrenzten Mittel nur grundsätzlich in nationaler Verantwortung bleiben. Im darauf ankommen, Veranstaltungen und Einrichtungen übrigen betont der Bundesrat die Notwendigkeit einer von herausragender europäischer Bedeutung gemein- stärkeren Koordinierung der Aktivitäten der Gemein- schaftlich zu fördern. schaft (Strukturfonds, Kohäsionsprogramm und Aktions- programm). Der Bundesrat betont im Bereich der beruflichen Bildung die Notwendigkeit der Beachtung des Subsidiaritätsprin- Im Energiebereich hält es der Bundesrat für erforderlich, zips. Er bekräftigt seinen Standpunkt, daß die berufliche daß in der Frage des Zuganges zu den S trom- und Bildung eine Aufgabe der Wirtschaft und, soweit sie in Gasnetzen den hier bestehenden Besonderheiten unter berufsbildenden Schulen durchgeführt wird, eine Auf- den Gesichtspunkten des Wettbewerbs und Verbrau- gabe des Staates ist. cherschutzes angemessen Rechnung getragen wird. Er ist weiterhin der Auffassung, daß Errichtung, Finanzie- Der Bundesrat unterstreicht das Interesse an einer Ver- rung und Betrieb der Energieleitungen primär Sache der besserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen ist. Allenfalls in begründeten Ausnahme- Volkswirtschaften durch die Förderung von Forschung fällen kommen begrenzte Fördermaßnahmen der Ge- und technologischer Entwicklung. Allerdings sollten die meinschaft in Be tracht. Die Bundesregierung wird gebe- spezifischen Forschungsprogramme stärker gebündelt, 11556* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. 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auf Schlüsseltechnologien mit branchenübergreifender fung und Ergänzung der sozialen Dimension konsequent Wirkung konzentriert und unter Beachtung des Subsidi- zu nutzen. Denn europäische Regelungen im Bereich des aritätsprinzips auf den vorwettbewerblichen Bereich Arbeits- und Sozialrechts, vor allem gleiche soziale beschränkt werden. Die Durchführung der Gemein- Mindestrechte, die einen gemeinsamen Standard absi- schaftsprogramme ist ferner zu vereinfachen und zu chern, sind für die weitere Integration Europas zwingend dezentralisieren. Für Maßnahmen der Mitgliedstaaten, notwendig. Die aktuelle Diskussion über die Ausgestal- Länder und Regionen, die die Bedürfnisse insbesondere tung des Subsidiaritätsprinzips, das auch in der europäi- kleiner und mittlerer Unternehmen und der Forschungs- schen Arbeits- und Sozialpolitik strikt eingehalten wer- einrichtungen auf Grund der größeren Orts- und Sach- den muß, darf nicht dazu mißbraucht werden, der nähe besonders berücksichtigen können, muß genügend Gemeinschaft vom Grundsatz her zuerkannte Kompe- Spielraum bleiben. Die Grundlagenforschung muß tenzen wieder zugunsten der Mitgliedstaaten abzuer- grundsätzlich in der Verantwortung der Mitgliedstaaten kennen und damit die Schaffung gemeinsamer sozialer verbleiben, sofern sie nicht auf Grund der Größenord- Mindeststandards in Europa zu blockieren. Ziel muß es nung der Projekte Maßnahmen auf EG-Ebene erforder- vielmehr sein, daß die Gemeinschaft ihre Zuständigkeit lich macht. sinn- und maßvoll ausfüllt; dies gilt insbesondere auch für die Regelungsdichte. Zum Stillstand oder gar Rückschritt Der Vertrag von Maas tricht gibt der Europäischen in der Europäischen Sozialpolitik darf es ebenso wenig Gemeinschaft Zuständigkeiten in Bereichen der Kultur- kommen wie zu einer vollständigen Harmonisierung der hoheit der Länder, für die innerstaatlich keinerlei Rege- Sozialsysteme der Mitgliedstaaten. lungskompetenz des Bundes besteht. Die stärkere Mit- wirkung der Länder im Bundesratsverfahren und in den Ferner gilt es, die auf Grund der Verweigerungshaltung Organen der Europäischen Gemeinschaft kann die darin eines Mitgliedstaates drohende Gefahr unterschiedli- liegende qualitative Veränderung und Verringerung der cher Sozialstandards in der Gemeinschaft zu verhindern. Rechte der Länder nicht voll kompensieren. Verfassungs- Sozialpolitik muß soweit wie möglich auf der Grundlage politisch zwingend ist deswegen, daß Artikel 23 des des für alle Mitgliedstaaten geltenden EG-Vertrages Grundgesetzes und das Ausführungsgesetz länder- gestaltet werden, um möglichen Fehlentwicklungen, wie freundlich ausgeführt und daß die noch offenen Fragen, z. B. Wettbewerbsverzerrungen, entgegenzuwirken. Der vor allem im Forschungsbereich, in der vorgesehenen Bundesrat hält es für erforderlich, daß die Bundesregie- Ausführungsvereinbarung alsbald befriedigend geregelt rung sich intensiv dafür einsetzt, daß möglichst ein werden. gemeinsamer Weg in der Sozialpolitik beschritten wird. Das Abkommen der Elf sollte nur angewandt werden, 15. EG-Binnenmarkt wenn der Verhandlungsspielraum ausgeschöpft ist. Der Bundesrat vertritt die Auffassung, daß der mit der Der Bundesrat fordert, daß die Vollzugskompetenzen bevorstehenden Vollendung des EG-Binnenmarktes auch in der Sozialpolitik grundsätzlich bei den Ländern erreichte wirtschaftliche Integrationsstand der Gemein- und Regionen verbleiben. Ihnen muß ein möglichst schaft gesichert und gestärkt werden muß. Er geht davon weiter Gestaltungsspielraum erhalten bleiben. Nur wenn aus, daß hierfür die Übertragung weiterer wirtschaftsna- in der Europäischen Arbeits- und Sozialpolitik auch her Zuständigkeiten an die Gemeinschaft nicht erforder- - weiterhin die regionalen Besonderheiten berücksichtigt lich ist. Dies schließt eine klarere Kompetenzabgrenzung werden können, wird sie den Interessen der Bürger zwischen EG, Mitgliedstaaten, Ländern und Regionen gerecht. — möglichst in der Form eines abschließenden Zustän- digkeitskataloges für die Gemeinschaft bei Verzicht auf Im übrigen weist der Bundesrat darauf hin, daß die funktionale Kompetenznormen — nicht aus. Unter nächste Vertragsrevision die obligatorische Beteiligung Berücksichtigung der besonderen Regionalbezogenheit des Regionalausschusses im Bereich der Sozialpolitik des Bereiches Fremdenverkehr sollte dieses in Artikel 3 und eine Erweiterung der Rechte des Europäischen Buchstabe t des EG-Vertrages neu aufgenommene Ziel Parlaments auch bei dem Erlaß von Sozialbestimmungen bei nächster Gelegenheit gestrichen werden. mit sich bringen muß. Eine verstärkte Beteiligung dieser Institutionen in der Europäischen Arbeits- und Sozialpo- 16. Arbeits- und Sozialpolitik litik erhöht die demokratische Legitimität und die Bür- Der Bundesrat begrüßt, daß durch die Aufnahme der gernähe und vergrößert damit die Akzeptanz von Maß- sozialpolitischen Aufgabenstellung in die Tätigkeits- nahmen der Europäischen Gemeinschaft. beschreibung der Gemeinschaft die Möglichkeit zu einer sozialpolitischen Gestaltung des Binnenmarktes deutlich 17. Umweltschutz verbessert und damit ein unumkehrbarer Einstieg in die Angesichts der globalen Dimension der Umweltpro- Sozialunion erreicht wurde. bleme, die vor nationalen Grenzen nicht haltmachen und Der Bundesrat begrüßt es ferner, daß zumindest elf daher nur in grenzüberschreitender Zusammenarbeit Mitgliedstaaten beschlossen haben, sich zu einer aktiven gelöst werden können, wird eine wirksame Umweltpoli- Sozialpolitik zu bekennen und deshalb auf dem von der tik der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung für „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der die Zukunft sein. Das Ausmaß der drohenden Zerstörung Arbeitnehmer" von 1989 vorgezeichneten Weg weiter- erfordert eine erhebliche Steigerung der Anstrengun- gehen wollen. Mit dem zwischen den elf Mitgliedstaaten gen, den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte vereinbarten Abkommen über die Sozialpolitik ist eine Umwelt zu erhalten. arbeitsfähige Grundlage zur Schaffung einheitlicher Der Bundesrat hält an dem Ziel einer Umweltunion fest. sozialer Mindeststandards sowie zur Ausdehnung der Er sieht in dem Vertrag von Maas tricht einen Fortschritt Arbeitnehmerschutzrechte erreicht worden, wenngleich bei der Verankerung des Prinzips einer nachhaltigen, sich bei seiner Anwendung Schwierigkeiten ergeben ressourcenschonenden und umweltverträglichen Ent- werden. Der Bundesrat erkennt aber an, daß eine Rege- wicklung. Er ist aber der Auffassung, daß dieses Prinzip lung gefunden wurde, mit deren Hilfe (partielles) in die übrigen Politikbereiche noch unzureichend inte- Gemeinschaftsrecht gesetzt werden kann. griert ist. Der Bundesrat stellt allerdings mit Bedauern fest, daß mit Der Bundesrat ist der Auffassung, daß Umweltschutz als den Regelungen in den Vertragstexten von Maastricht im integrierter Bestandteil anderer Politikbereiche die Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik noch nicht der besten Durchsetzungschancen hat. Integrationsfortschritt erzielt worden ist, der vom Bun- desrat in seiner Entschließung vom 8. November 1991 Es bleibt Aufgabe zukünftiger Vertragsgestaltung, die gefordert worden war. Es ist nicht gelungen, die Gleich- Gleichrangigkeit ökologischer Ziele mit anderen Zielen wertigkeit der sozialen Aspekte neben den wirtschaftli- der Gemeinschaft durchzusetzen. chen im Unionsvertrag zu verankern. Dies wird die Er spricht sich dafür aus, daß sich die Umweltschutzpo- Aufgabe der nächsten Regierungskonferenz sein. litik insbesondere an Maßnahmen zur Vorbeugung Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die gegen Umweltbeeinträchtigungen und am Verursacher- durch den Vertrag und das ihm beigefügte Protokoll über prinzip ausrichtet, und sieht dabei Umweltschutzforde- die Sozialpolitik geschaffenen Möglichkeiten zur Vertie rungen stets im gesamtpolitischen Zusammenhang. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11557*

Die in Artikel 2 des EG-Vertrages festgelegten Ziele Der Vertrag über die Europäische Union bleibt eine eines beständigen umweltverträglichen Wachstums und Antwort auf die umweltpolitischen Herausforderungen einer Hebung der Lebensqualität lassen sich nur dann des kommenden Binnenmarktes schuldig. Im Gegenteil erreichen, wenn Mindeststandards auf hohem Niveau wird sich in Zukunft die Tendenz noch verstärken, unter sowohl für produkt- wie für anlagenbezogene Umwelt- Berufung auf den Binnenmarkt mühsam errungene normen festgelegt werden. Sie sind auch für das Funk- umweltpolitische Vorreiter-Leistungen durch eine über- tionieren des gemeinsamen Marktes unverzichtbar. triebene Harmonisierung zu vereiteln oder durch Befrei- ung der Importe von Umweltregeln zu unterlaufen. Bei der gemeinschaftlichen Umweltpolitik ist den Bedürfnissen und Besonderheiten der Mitgliedstaaten Mitgliedstaaten mit einem hohen Umweltschutzniveau und ihrer Region Rechnung zu tragen. Hierfür bildet das dürfen nicht zu einer Absenkung ihrer Anforderungen in Artikel 3 b des Vertrages über die Europäische Union gezwungen werden, weil sonst die Umweltpolitik in der verankerte Subsidiaritätsprinzip die rechtliche Grund- gesamten Gemeinschaft zum Stillstand kommt. Soweit lage. eine Harmonisierung unerläßlich ist, hat sie auf einem hohen Schutzniveau zu erfolgen. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt, daß sich die Gemein- schaft bei ihren Rechtssetzungsakten auf die Festlegung 18. Landwirtschaft gemeinschaftlicher Ziele und Rahmenbedingungen für Der Bundesrat widerspricht der Auffassung der EG die Umweltpolitik beschränkt. Dabei ist die Wahl des Kommission, die Agrarpolitik in ihrer Gesamtheit vom politischen Instruments nach Möglichkeit den Mitglied- Grundsatz der Subsidiarität im engeren Sinne, wie er in staaten zu überlassen. Auf bestehende Regelungen der Artikel 3 b Abs. 2 EG-Vertrag niedergelegt ist, auszuneh- Mitgliedstaaten und auf deren gewachsene Verwal- men. Nach Auffassung des Bundesrates ist Artikel 43 tungsstrukturen ist Rücksicht zu nehmen. EG-Vertrag wegen der Weite des Aufgabenfeldes der Bereits in Kraft gesetzte Regelungen auf EG-Ebene im Agrarpolitik nicht als eine im Sinne von Artikel 3 b Abs. 2 Umweltbereich sind daraufhin zu überprüfen, ob das mit EG-Vertrag ausschließliche, sondern als eine konkurrie- ihnen verfolgte Ziel durch nation ale Regelungen besser rende Zuständigkeitszuweisung anzusehen. oder ebenso gut erreicht werden kann. Der Bundesrat weist darauf hin, daß der Bereich der Landwirtschaft in hohem Maße von EWG-Durchfüh- Subsidiarität im Rahmen der künftigen Regelungen rungsvorschriften betroffen ist, die insbesondere im durch die Gemeinschaft muß heißen, daß einerseits die Zusammenhang mit der EG-Agrarreform eine Fülle von Gemeinschaft Regelungen überall dort trifft, wo ohne Detailregelungen enthalten. Ausdruck des Subsidiari- gemeinschaftsweiten Regelungswillen Ziele, wie z. B. tätsprinzips muß es sein, den besonderen Gegebenheiten Ziele des Umweltschutzes, vernachlässigt würden. der Mitgliedstaaten und Regionen Rechnung zu tragen Der Bundesrat hält darüber hinaus einen einheitlichen und diesen die legislative Durchführung insoweit zu Vollzug der Umweltschutzvorschriften der Gemeinschaft überlassen, wie daraus keine Wettbewerbsverzerrungen in allen Mitgliedstaaten für dringend erforderlich. oder Handelshemmnisse erwachsen. Deshalb muß auch in Zukunft die Kommission für alle Der Bundesrat ist nachdrücklich der Auffassung, daß die - umweltrelevanten Tatbestände grundlegende Regelun- verwaltungsgemäße Durchführung des EG-Rechts gen entwickeln, die dazu führen, daß Umweltschutzziele grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten ist. Ihnen muß in allen Ländern der Gemeinschaft umgesetzt werden. vorbehalten bleiben, Regelungen zu erlassen be treffend Verwaltungsverfahren, Benennung der zuständigen Be- Andererseits sind Gemeinschaftsregelungen insoweit hörden, Überwachungs- und Kontrollkompetenzen, entbehrlich, als bereits nationale Vorschriften vorhanden Vollstreckungsverfahren und Sanktionen. sind oder aber Regelungen auf nationaler oder regionaler Der Bundesrat hält es zur Vermeidung von unkalkulier- Ebene getroffen werden sollten. Diese Regelungen baren Anlastungsrisiken für dringend erforderlich, den könnten unter dem Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit Mitgliedstaaten bei der Durchführung von EG-Rechtsak- an die Stelle von EG-Vorschriften treten, wie z. B. beim ten einen größtmöglichen Gestaltungsspielraum zu las- Vollzug von Maßnahmen. sen. Mit Blick auf den föderativen Staatsaufbau der Dieses Prinzip der Gleichwertigkeit findet sich bereits Bundesrepublik Deutschland muß gelten, daß bei der heute in Ansätzen im Sekundärrecht der EG, z. B. Durchführung und Kontrolle von EG-Vorschriften die übergeordnete Gemeinschaft gegenüber ihren Mitglied- — in der Richtlinie vom 4. Mai 1976 betreffend die staaten nicht mehr Rechte haben kann, als der Bund Verschmutzung infolge der Ableitung bestimmter gegenüber den Ländern. gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemein- schaft, Die vertraglich geregelte Mitwirkung des Regionalaus- schusses sollte sich künftig auch auf den Titel II „Land- — in der Richtlinie über die Behandlung von kommuna- wirtschaft" des EG-Vertrages erstrecken. lem Abwasser, Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, bei den näch- — in der Richtlinie über Grenzwerte und Leitwerte der sten Beratungen über den Vertrag zur Europäischen Luftqualität für Schwefeldioxid und Schwebstaub. Union eine Überarbeitung des Artikels 39 des EG Vertrages vorzusehen. Die derzeitige und künftige Fas- Hier regelt das Gemeinschaftsrecht, daß Meßmethoden sung des Artikels 39 entspricht in der Gewichtung nicht und Grenzwerte, wie sie das nationale Recht vorsieht, den derzeitig und zukünftig zu fordernden Schwerpunk- angewandt werden können. ten der gemeinsamen Agrarpolitik und Rolle der Land- wirtschaft im ländlichen Raum. Für andere Bereiche im Gewässerschutz und in der Luftreinhaltung, für die Abfallverbringung, die integrier- 19. Forstwirtschaft ten Anlagegenehmigungen werden mit der EG-Kommis- sion Absprachen zu treffen sein, wann und in welchen Die Bestrebungen der EG-Kommission nach einer ein- Fällen nationales Recht als gleichwertig an die Stelle von heitlichen EG-Forstpolitik sind abzulehnen. Die bisheri- EG-Recht treten kann. Dies muß auch für die Fälle gelten, gen Erfahrungen zeigen, daß sich eine Forstpolitik auf in denen bereits nationales Recht eine umfassendere nationaler bzw. regionaler Ebene bewährt hat und kein Regelung als das zu erwartende Gemeinschaftsrecht Bedarf für EG-Regelungen besteht. darstellt. 20. Innenpolitik Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips erfordert, daß Obwohl im Vertrag über die Politische Union für den der Vollzug der gemeinschaftlichen Umweltpolitik Sache Bereich der Innenpolitik die erhofften Ziele nicht oder der Mitgliedstaaten und ihrer Regionen bleibt. Die Kom- nur unvollständig erreicht wurden, enthält das Vertrags- mission sollte dabei nur insoweit tätig werden, als sie werk positive Ansätze, auch die Probleme der inneren Informationen über den Stand der Umsetzung des Sicherheit und der Asyl-, Flüchtlings- und Einwande- Gemeinschaftsrechts in den einzelnen Mitgliedstaaten rungspolitik in der Gemeinschaft auf Dauer in den Griff benötigt. zu bekommen. 11558* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993

Der Bundesrat begrüßt die Einführung einer Unionsbür- V. Fortentwicklung der Europäischen Union gerschaft. Die mit dem Status verbundenen Rechte und 22. Regierungskonfernz Pflichten müssen schrittweise und parallel zur Fortent- wicklung der Gemeinschaft zu einer Europäischen Union Der Bundesrat ist sich darüber im klaren, daß der Vertrag verwirklicht werden. über die Europäische Union im Hinblick auf eine Vertie- fung und eine Erweiterung der EG der Fortentwicklung Auch die Einführung des Kommunalwahlrechts für EG bedarf. Angehörige wird grundsätzlich begrüßt. Es muß dabei Angesichts der zahlreichen, in der öffentlichen Diskus- das Prinzip der Gegenseitigkeit Beachtung finden. Im sion des Vertragswerkes deutlich gewordenen Fragen, übrigen kommt bei der Ausübung des Wahlrechts einer tritt der Bundesrat für eine Vorziehung der für 1996 angemessenen Aufenthaltsdauer im Mitgliedstaat und vorgesehenen nächsten Regierungskonferenz ein. Die- am Ort der Wahl eine entscheidende Bedeutung zu, da ser Regierungskonferenz muß jedoch eine umfassende die Kenntnis der allgemeinpolitischen und örtlichen öffentliche Debatte auf allen Ebenen der Gemeinschaft Gegebenheiten Legitimationsgrundlage für die Teil- vorausgehen, in der die Grundentscheidungen für das nahme an der Wahl ist. künftige Europa geklärt werden. Die bisherige Art und Der Bundesrat weist darauf hin, daß die Ausgestaltung Weise der Weiterentwicklung der Europäischen Ge- des Wahlrechts nach Artikel 8b Abs. 1 Satz 2 EG-Vertrag meinschaft muß dabei überdacht und Grundprinzipien durch die Organe der Gemeinschaft nach dem Subsidi- für eine künftige europäische Ordnung herausgearbeitet aritätsprinzip nur allgemeine Grundsätze enthalten werden. kann. Die Festlegung der weiteren Einzelheiten bleibt Der Bundesrat erwartet von dieser Regierungskonfe- Sache der Mitgliedstaaten. renz, Der Bundesrat geht davon aus, daß die Wahrnehmung — eine institutionelle Reform zur Sicherung der Hand- der Rechte der Bundesrepublik Deutschland bei der lungsfähigkeit der Gemeinschaft bei Aufnahme wei- Ausgestaltung des Wahlrechts nach Artikel 8b Abs. 1 terer Mitglieder sowie zur besseren Transparenz der Satz 2 EG-Vertrag den Ländern obliegt, da das Kommu- Entscheidungen und Verantwortung ihrer Organe; nalwahlrecht ausschließlich in die Gesetzgebungskom- — eine klare Aufgabenabgrenzung zwischen EG und petenz der Länder fällt. Mitgliedstaaten; Der Bundesrat spricht sich für eine rasche Vergemein- eine endgültige Behebung des weiterbestehenden schaftung der Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspo- Demokratiedefizits hinsichtlich der Rechte, aber auch litik aus. zur besseren Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl; Der Bundesrat begrüßt es, daß im Vertrag über die Europäische Union eine engere Zusammenarbeit bei der — die Fortschreibung der Definition der Subsidiarität Bekämpfung der internationalen Kriminalität vereinbart und und zu diesem Zweck die Einrichtung einer Zentralstelle — die Umwandlung des Ausschusses der Regionen zu (Europol) vereinbart wurde. Er setzt sich nachdrücklich einer Regionalkammer mit echten Mitentscheidungs- dafür ein, daß Europol sobald als möglich zu einer- rechten. Einrichtung der Gemeinschaft wird. Der Bundesrat ist der Auffassung, daß die Europäische Der Bundesrat wendet sich gegen Bestrebungen, den Union mit einer solchen Reform in die Lage versetzt Katastrophenschutz zu vergemeinschaften. Er forde rt die werden kann, diejenigen Zukunftsaufgaben, die auf Bundesregierung auf, weiteren Aktivitäten der EG- europäischer Ebene gelöst werden müssen, erfolgreich Kommission auf diesem Gebiet unter Hinweis auf das zu bewältigen. Subsidiaritätsprinzip energisch entgegenzutreten. Der Bundesrat geht davon aus, daß er in die Beratungen der Regierungskonferenz rechtzeitig und umfassend ein- Der Bundesrat bedauert, daß dem Wunsch der Länder bezogen wird. nach Verankerung des Kommunalen Selbstverwaltungs- rechts im Vertrag über die Europäische Union nicht 23. Erweiterung der Gemeinschaft Rechnung getragen wurde. Er fordert, daß im Rahmen Der Bundesrat befürwortet die zügige Aufnahme der des weiteren europäischen Integrationsprozesses das Beitrittsverhandlungen mit allen Staaten der EFTA, die Kommunale Selbstverwaltungsrecht im Kern unangeta- die Mitgliedschaft der Europäischen Gemeinschaft bean- stet bleibt. tragt haben. Er sieht in ihrer Aufnahme eine politische 21. Gesundheitspolitik und wirtschaftliche Stärkung der Gemeinschaft und ist der Auffassung, daß diese Staaten auf Grund ihres Der Bundesrat begrüßt die Aufnahme von Regelungen wirtschaftlichen Standes kurzfristig integriert werden zum Gesundheitswesen (Artikel 3 und 129 des EG können. Gleichzeitig wird sich jedoch eine institutionelle Vertrages), weil das Ziel eines hohen Gesundheits- Reform der Gemeinschaft zur Sicherung ihrer Hand- schutzniveaus Bestandteil der europäischen Integration lungsfähigkeit als notwendig erweisen. sein muß. Dabei wird in Artikel 129 EG-Vertrag der Der Bundesrat bekennt sich zur besonderen Verantwor- subsidiäre und komplementäre Charakter der Gemein- tung der Gemeinschaft für die politische und wirtschaft- schaftsmaßnahmen besonders betont. liche Umgestaltung in den mittel- und osteuropäischen Der Bundesrat begrüßt des weiteren, daß die Notwendig- Staaten. Er vertritt die Auffassung, daß diese Herausfor- derung eine Konzentration der finanziellen und techni- keit, Drogenabhängigkeit zu verhüten, besonders betont schen Hilfe der Gemeinschaft im Rahmen ihrer außenpo- wird. litischen Aktivitäten erfordert. Diese Staaten sind in ihren Angesichts der vom Grundgesetz vorgenommenen prin- Reformbemühungen durch eine enge institutionelle zipiellen Zuweisung des Gesundheitswesens zur gesetz- Anbindung an die Gemeinschaft mit der Perspektive geberischen Länderkompetenz kommt im Zusammen- eines späteren Beitritts zu unterstützen; die Assoziations- hang mit Artikel 129 EG-Vertrag der Anwendung des abkommen mit einem Teil dieser Staaten weisen in die Subsidiaritätsprinzips große Bedeutung zu. Die dort neu richtige Richtung. geregelten Handlungsmöglichkeiten müssen unter 7. Entschließung des Bundesrates zum Gesetz über die Feststel- grundsätzlicher Wahrung der Regelungs- und Vollzugs- lung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1993 kompetenzen der Länder ziel- und maßvoll genutzt (Haushaltsgesetz 1993) werden. 1. Der Bundesrat stellt fest, daß es in der jetzigen Situation Die Länder benötigen weiterhin Gestaltungsspielraum vor allem darum geht, solide Fundamente der Wirtschafts- für eine wirksame Gesundheitspolitik auf der Grundlage kraft Deutschland zu sichern, damit auf dieser Basis der der besonderen Organisations- und Rechtslage des notwendige weitere Aufbau in den neuen Ländern ermög- Gesundheitswesens, zumal Gesundheitsverhalten und licht werden kann. Unabgestimmte Kürzungsmaßnahmen gesundheitliche Versorgung stark von regionalen Ver- des Bundes zu lasten wichtiger Bereiche in den westdeut- hältnissen und Überzeugungen geprägt sind. schen Ländern sind deshalb nicht hinnehmbar. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11559*

So ist z. B. die vorgesehene Einstellung der Bundesförde- Gesetz zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes zur Kenntnis rung für den Städtebau abzulehnen. genommen hat. Auch lassen die im Bundeshaushalt 1993 enthaltenen anteiligen Haushaltssperren für den Bundesanteil an der Gemeindeverkehrsfinanzierung und an der Gemein- Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der schaftsaufgabe „Ausbau und Neubau von Hochschulen" Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer mit dem Ziel der Umschichtung die notwendige vorherige Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Abklärung mit den Ländern vermissen. Der Bundesrat erwartet, daß die — insbesondere auch bei den im Rahmen Ausschuß für Verkehr des geplanten Nachtragshaushalts des Bundes für 1993 — Drucksache 12/3222 insoweit zu treffenden Entscheidungen mit den Ländern abgestimmt und einvernehmlich ge tragen werden. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 12/2677 2. Der Bundesrat stellt weiter fest, daß es angesichts der durch die gesamtwirtschaftliche Abschwächung beding- EG-Ausschuß ten Mehrbelastungen und Mindereinnahmen erforderlich Drucksache 12/1366 war, im Bundeshaushalt alle Spar- und Umschichtungs- Drucksache 12/1787 möglichkeiten auszuschöpfen, um die Neuverschuldung Drucksache 12/2024 zu begrenzen. Der Bundesrat bedauert allerdings, daß Drucksache 12/2218 deshalb seine im Beschluß vom 25. 9. 1992 (Drucksache Drucksache 12/2386 470/92 — Beschluß) vorgetragenen Anliegen, insbeson- dere zugunsten besserer Dotierung für gesamtwirtschaft- lich wichtige investive Bereiche und gemeinsam getra- Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der gene Finanzierungen, nahezu völlig unberücksichtigt Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen, geblieben sind. Er erwartet weiterhin, daß im Rahmen der bzw. von einer Beratung abgesehen hat: Planungen zu einem Nachtragshaushalt des Bundes für 1993 sowie in den folgenden Haushaltsjahren angemes- sene, den dringenden Erfordernissen entsprechende Finanzausschuß Drucksache 12/3240 Nr. 3.3 Änderungen, insbesondere für ein Infrastrukturprogramm Drucksache 12/3449 Nr. 2.1 zugunsten der neuen Länder, vorgenommen werden. 3. Die Länder sind im übrigen bereit, an der Ausgestaltung Ausschuß für Wirtschaft des von der Bundesregierung vorgeschlagenen „födera- Drucksache 12/3407 Nrn. 3.3, 3.4 len Konsolidierungsprogramms" mitzuwirken. Der Bun- desrat erwartet in diesem Zusammenhang von der Bun- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten desregierung Vorschläge und Unterstützung für Maßnah- Drucksache 12/3240, Nrn. 3.17, 3.19-3.26, 3.28 men, insbesondere durch Korrekturen bundesgesetzlich Drucksache 12/3407 Nrn. 3.6, 3.8 festgelegter Leistungsnormen, die zu deutlichen finanziel- Drucksache 12/3449 Nrn. 2.3-2.11 len Entlastungen der Länder und Kommunen beitragen. Drucksache 12/3584 Nrn. 3.7-3.12, 3.14 Drucksache 12/3654 Nrn. 2.5-2.8 Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat mit Schrei- Drucksache 12/3747 Nr. 2.1 ben vom 11. Januar 1993 in sinngemäßer Anwendung des § 30 Drucksache 12/3867 Nrn. 2.7, 2.8, 2.10-2.14 Absatz 4 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 den Ausschuß für Verkehr Wirtschaftsplan der Deutschen Reichsbahn für das Geschäfts- Drucksache 12/2774 Nrn. 2.31, 2.32 jahr 1992 einschließlich Anlagen Drucksache 12/2867 Nr. 2.19 Drucksache 12/3182 Nr. 63 mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Drucksache 12/3449 Nr. 2.12 Drucksache 12/3654 Nr. 2.9 Drucksache 12/3867 Nrn. 2.16-2.22 Der Bundesminister für Verkehr hat den Wirtschaftsplan 1992 im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Finanzen genehmigt. Ausschuß für Post und Telekommunikation Drucksache 12/3584 Nr. 3.18 Die Unterlagen liegen im Parlamentsarchiv zur Einsichtnahme aus. Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Drucksache 12/2636 Nr. 2.18 Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses hat mitgeteilt, daß der Ausschuß die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stel- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit lungnahme des Bundesrates (Drucksache 12/3754) zum Achten Drucksache 12/3317 Nr. 2.4