Plenarprotokoll 19/152

Deutscher

Stenografischer Bericht

152. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Inhalt:

Begrüßung des neuen Abgeordneten Bernd c) Antrag der Abgeordneten , Siebert ...... 18925 A , Dr. André Hahn, weiterer Abge- Wahl des Abgeordneten Michael Brand (Ful- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: da) zum stellvertretenden Mitglied des Ge- Rassismus bekämpfen – Rechten Terror meinsamen Ausschusses gemäß Artikel 53a aufhalten – Opfer schützen Grundgesetz ...... 18925 B Drucksache 19/17770 ...... 18926 A Wahl der Abgeordneten und in Verbindung mit Bärbel Bas zu Mitgliedern des Stiftungsrates der Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen“ . . . . 18925 B Zusatzpunkt 2: Wahl des Abgeordneten zum Antrag der Abgeordneten , Mitglied des Stiftungsrates der Bundesstif- , , weiterer tung Baukultur ...... 18925 B Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ak- tionsplan zur Bekämpfung des Rechtsextre- Wahl des Abgeordneten Christian Hirte zum mismus und rechtsextremer Gewalt stellvertretenden Mitglied des Stiftungsrates Drucksache 19/17743 ...... 18926 B der Bundesstiftung Bauakademie ...... 18925 B Änderungen der Tagesordnung ...... 18925 C in Verbindung mit Absetzung der Tagesordnungspunkte 18 c und 25 a ...... 18925 D Zusatzpunkt 3: Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Tagesordnungspunkt 7: Dr. , Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion a) Erste Beratung des von den Fraktionen der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hass und Het- CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- ze wirksam bekämpfen, Betroffene stärken wurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung und Bürgerrechte schützen des Rechtsextremismus und der Hass- Drucksache 19/17750 ...... 18926 B kriminalität Drucksache 19/17741 ...... 18925 D in Verbindung mit b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Manuel Höferlin, Stephan Thomae, Zusatzpunkt 15: , weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der FDP eingebrach- Erste Beratung des von den Abgeordneten ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- , Dr. , Roman rung des Bundesmeldegesetzes – Johannes Reusch, weiteren Abgeordneten Auskunftssperren für politische Man- und der Fraktion der AfD eingebrachten Ent- datsträger in Bund, Ländern und Kom- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bun- munen desmeldegesetzes – Schutz von politischen Drucksache 19/17252 ...... 18926 A Mandatsträgern, Richtern, Soldaten, eh- II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 renamtlichen Richtern und Schöffen sowie Beteiligung bewaffneter deutscher Angestellten und Beamten im öffentlichen Streitkräfte an dem Hybriden Einsatz Dienst der Afrikanischen Union und der Ver- Drucksache 19/17785 ...... 18926 C einten Nationen in Darfur (UNAMID) Drucksachen 19/17033, 19/17636 ...... 18953 B in Verbindung mit – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Zusatzpunkt 16: § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 19/17591 ...... 18953 B Antrag der Abgeordneten Stephan Brandner, , , weiterer (SPD) ...... 18953 B Abgeordneter und der Fraktion der AfD: (AfD) ...... 18954 A Bewerber für politische Ämter schützen – Dr. (CDU/CSU) ...... 18955 A Bundeswahlordnung anpassen Drucksache 19/17784 ...... 18926 C Christian Sauter (FDP) ...... 18955 C Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV . . 18926 C (DIE LINKE) ...... 18956 B Roman Johannes Reusch (AfD) ...... 18927 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18956 D Georg Eisenreich, Staatsminister (Bayern) . . . . 18928 C (CDU/CSU) ...... 18957 C Dr. Jürgen Martens (FDP) ...... 18929 C Dr. (SPD) ...... 18958 B Petra Pau (DIE LINKE) ...... 18930 C Dr. (CDU/CSU) ...... 18959 A Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18931 C (SPD) ...... 18933 A Tagesordnungspunkt 10: Stephan Brandner (AfD) ...... 18933 D – Beschlussempfehlung und Bericht des (CDU/CSU) ...... 18934 B Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Konstantin Kuhle (FDP) ...... 18935 B Beteiligung bewaffneter deutscher (CDU/CSU) ...... 18936 A Streitkräfte an der Mission der Verein- ten Nationen in der Republik Südsudan Uli Grötsch (SPD) ...... 18937 B (UNMISS) (CDU/CSU) ...... 18938 A Drucksachen 19/17032, 19/17635 ...... 18959 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Zusatzpunkt 4: § 96 der Geschäftsordnung Antrag der Abgeordneten Dr. , Drucksache 19/17590 ...... 18959 D , Dr. , weiterer Dr. (SPD) ...... 18960 A Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Grenzen sichern Gerold Otten (AfD) ...... 18960 D Drucksache 19/17780 ...... 18939 C Nikolas Löbel (CDU/CSU) ...... 18961 C Dr. Gottfried Curio (AfD) ...... 18939 D (FDP) ...... 18962 B (Weil am Rhein) (CDU/CSU) 18940 C Tobias Pflüger (DIE LINKE) ...... 18962 D (FDP) ...... 18942 B Dr. (BÜNDNIS 90/ Uli Grötsch (SPD) ...... 18943 A DIE GRÜNEN) ...... 18963 C Dr. André Hahn (DIE LINKE) ...... 18944 B (CDU/CSU) ...... 18964 B (BÜNDNIS 90/ Siemtje Möller (SPD) ...... 18964 D DIE GRÜNEN) ...... 18945 C (CDU/CSU) ...... 18965 C (CDU/CSU) ...... 18947 B Armin-Paulus Hampel (AfD) ...... 18948 B Tagesordnungspunkt 11: (SPD) ...... 18949 A Antrag der Abgeordneten , Benjamin Strasser (FDP) ...... 18950 C , Matthias W. Birkwald, wei- (CDU/CSU) ...... 18951 B terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- KE: Jetzt bedarfsgerechte Personalbemes- (CDU/CSU) ...... 18952 A sung in Krankenhäusern einführen Drucksache 19/17544 ...... 18966 D Tagesordnungspunkt 9: Harald Weinberg (DIE LINKE) ...... 18966 D – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Alexander Krauß (CDU/CSU) ...... 18968 A der Bundesregierung: Fortsetzung der (AfD) ...... 18969 A Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 III

Dr. (SPD) ...... 18971 A Fraktion DIE LINKE: Teilhabe von Frauen in der Landwirtschaft und den Dr. (FDP) ...... 18972 A ländlichen Räumen Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ Drucksache 19/17778 ...... 18980 D DIE GRÜNEN) ...... 18973 A Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) ...... 18974 B in Verbindung mit (FDP) ...... 18975 D (SPD) ...... 18976 C (CDU/CSU) ...... 18977 A Zusatzpunkt 5: Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Bettina Stark- DIE GRÜNEN) ...... 18978 C Watzinger, Christian Dürr, Dr. Florian (SPD) ...... 18979 B Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Regelungen für nach- richtenlose Vermögenswerte schaffen – Innovative Zukunftsideen fördern Tagesordnungspunkt 24: Drucksache 19/17708 ...... 18981 A a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- b) Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen zes zur Entlastung bei den Heizkosten Martens, Stephan Thomae, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der im Wohngeld im Kontext der CO2-Be- preisung (Wohngeld-CO -Bepreisungs- Fraktion der FDP: Zu Unrecht Inhaftierte 2 angemessen entschädigen entlastungsgesetz – WoGCO2Be- prEntlG) Drucksache 19/17744 ...... 18981 A Drucksache 19/17588 ...... 18980 B c) Antrag der Abgeordneten Dr. Florian b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Toncar, Christian Dürr, Frank Schäffler, Katrin Helling-Plahr, Stephan Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Grigorios Aggelidis, weiteren Abgeordne- der FDP: Basel III-Finalisierung – Kre- ten und der Fraktion der FDP eingebrach- ditversorgung Deutschlands erhalten ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Drucksache 19/17745 ...... 18981 A rung des Embryonenschutzgesetzes – Kinderwünsche erfüllen, Eizellspenden d) Antrag der Abgeordneten , legalisieren , , weiterer Abge- Drucksache 19/17633 ...... 18980 C ordneter und der Fraktion der FDP: Luft- verkehrsteuer aussetzen c) Antrag der Abgeordneten Dr. Christoph Drucksache 19/17746 ...... 18981 B Hoffmann, Alexander Graf Lambsdorff, , weiterer Abgeordneter e) Antrag der Abgeordneten Norbert Müller und der Fraktion der FDP: Entwicklungs- (Potsdam), Dr. , Doris zusammenarbeit zur effektiven Verhin- Achelwilm, weiterer Abgeordneter und derung des weltweiten Eintrags von der Fraktion DIE LINKE: Kinderarmut Plastikmüll in die Meere nutzen überwinden, Kindergrundsicherung Drucksache 19/17632 ...... 18980 C einführen Drucksache 19/17768 ...... 18981 B d) Antrag der Abgeordneten Dr. , Eva-Maria Schreiber, f) Antrag der Abgeordneten Dr. Manuela Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter Rottmann, , , und der Fraktion DIE LINKE: Pflanzen- weiterer Abgeordneter und der Fraktion schutz konsequent auf Schutz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kapitalan- biologischer Vielfalt und Imkerei aus- leger-Musterverfahrensgesetz verlän- richten gern – Notwendige Reform angehen Drucksache 19/17767 ...... 18980 C Drucksache 19/17751 ...... 18981 C e) Antrag der Abgeordneten , g) Unterrichtung durch die Bundesregierung: , -Förster, Bericht der Bundesregierung zur Wirk- weiterer Abgeordneter und der Fraktion samkeit des Gesetzes zur Förderung der DIE LINKE: Gleichwertige Lebensver- Entgelttransparenz zwischen Frauen hältnisse in starken Kommunen und Männern sowie zum Stand der Um- Drucksache 19/17772 ...... 18980 D setzung des Entgeltgleichheitsgebots in f) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Betrieben mit weniger als 200 Beschäf- Tackmann, , Cornelia tigten Möhring, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 19/11470 ...... 18981 C IV Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Tagesordnungspunkt 25: Zusatzpunkt 7: b) Zweite und dritte Beratung des von der Antrag der Abgeordneten , Jürgen Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Pohl, Ulrike Schielke-Ziesing, weiterer Abge- eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes ordneter und der Fraktion der AfD: Auszah- über Finanzhilfen des Bundes zum Aus- lungen von Sozialleistungen auf ausländi- bau der Tagesbetreuung für Kinder und sche Konten des Kinderbetreuungsfinanzierungsgeset- Drucksache 19/17787 ...... 18985 D zes , Parl. Staatssekretärin BMAS . 18985 D Drucksachen 19/17293, 19/17587, 19/17818 ...... 18981 D Jörg Schneider (AfD) ...... 18987 A Torbjörn Kartes (CDU/CSU) ...... 18987 D c)–o Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelüber- (FDP) ...... 18989 A sichten 497, 498, 499, 500, 501, 502, (DIE LINKE) ...... 18989 D 503, 504, 505, 506, 507, 508 und 509 zu Petitionen Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 19/17570, 19/17571, DIE GRÜNEN) ...... 18990 C 19/17572, 19/17573, 19/17574, 19/17575, (SPD) ...... 18991 A 19/17576, 19/17577, 19/17578, 19/17579, 19/17580, 19/17581, 19/17582 ...... 18982 A (CDU/CSU) ...... 18991 D

Zusatzpunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Zusatzpunkt 6: schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur a) Zweite und dritte Beratung des von den – zu dem Antrag der Abgeordneten Leif-Erik Abgeordneten Roman Johannes Reusch, Holm, Matthias Büttner, , Stephan Brandner, Marcus Bühl, weiteren weiterer Abgeordneter und der Fraktion Abgeordneten und der Fraktion der AfD der AfD: Wirksame Maßnahmengeset- eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes ze – Beschleunigung durch echte Betei- zur Änderung des Bundeswahlgesetzes ligung der Öffentlichkeit erzielen Drucksachen 19/15074, 19/17583 ...... 18983 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Torsten b) Beratung der Beschlussempfehlung des Herbst, Frank Sitta, , weite- Ältestenrates: Zeitplan des Deutschen rer Abgeordneter und der Fraktion der Bundestages für das Jahr 2021 – 1. FDP: Verkehrsprojekte schneller reali- Halbjahr sieren – Ein modernes Planungsrecht Drucksache 19/17734 ...... 18983 B für das 21. Jahrhundert schaffen Stephan Brandner (AfD) ...... 18983 C Drucksachen 19/16861, 19/17093, 19/17735 . . 18993 A (CDU/CSU) ...... 18993 A Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18984 C Dr. (AfD) ...... 18994 B (SPD) ...... 18995 B Bernd Reuther (FDP) ...... 18996 B (DIE LINKE) ...... 18997 A Tagesordnungspunkt 14: (BÜNDNIS 90/ a) Erste Beratung des von der Bundesregie- DIE GRÜNEN) ...... 18997 C rung eingebrachten Entwurfs eines Sieb- ten Gesetzes zur Änderung des Vierten Florian Oßner (CDU/CSU) ...... 18998 C Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze Drucksache 19/17586 ...... 18985 C Tagesordnungspunkt 15: b) Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Antrag der Abgeordneten Tabea Rößner, Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, Dr. , Dr. Konstantin von weiterer Abgeordneter und der Fraktion Notz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hürden bei der Anerken- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit einem nung von Berufskrankheiten abbauen Klick – Kündigungsbutton und weitere Ver- Drucksache 19/17769 ...... 18985 D besserungen im elektronischen Geschäfts- verkehr für Verbraucherinnen und Ver- braucher in Verbindung mit Drucksache 19/17449 ...... 19000 A Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 V in Verbindung mit b) Antrag der Abgeordneten , , Hansjörg Zusatzpunkt 17: Müller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Nutzung des Potentials Antrag der Abgeordneten Katharina der Digitalisierung zur Schaffung von Willkomm, Stephan Thomae, Grigorios dezentralen Arbeitsplätzen und zur Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der wirtschaftlichen Stärkung der Kommu- Fraktion der FDP: Durchschnittspreisanga- nen und ländlichen Räume ben bei Langzeitverträgen mit Verbrau- Drucksache 19/17527 ...... 19014 A chern einführen Drucksache 19/17451 ...... 19000 A Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 19014 A Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 19000 B (CDU/CSU) ...... 19014 D (CDU/CSU) ...... 19001 A Enrico Komning (AfD) ...... 19016 A Dr. Lothar Maier (AfD) ...... 19002 B Dr. (SPD) ...... 19016 D (SPD) ...... 19003 A Johannes Vogel (Olpe) (FDP) ...... 19017 C (FDP) ...... 19004 B (DIE LINKE) ...... 19018 C (DIE LINKE) ...... 19004 D Mark Helfrich (CDU/CSU) ...... 19019 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 19005 C Bernd Rützel (SPD) ...... 19020 B (CDU/CSU) ...... 19021 A Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Fabio De Masi, Nächste Sitzung ...... 19022 C Jörg Cezanne, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- KE: Steuerbetrug durch Umsatzsteuer- Anlage 1 Karusselle stoppen Entschuldigte Abgeordnete ...... 19023 A Drucksache 19/17135 ...... 19006 B b) Antrag der Abgeordneten Dr. , , Lisa Paus, weiterer Anlage 2 Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstim- NIS 90/DIE GRÜNEN: Umsatzsteuerbe- mung über die Beschlussempfehlung des Aus- trug wirksam bekämpfen wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bun- Drucksache 19/17748 ...... 19006 C desregierung: Fortsetzung der Beteiligung Fabio De Masi (DIE LINKE) ...... 19006 C bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Fritz Güntzler (CDU/CSU) ...... 19007 B Hybriden Einsatz der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen in Darfur (UN- (AfD) ...... 19008 D AMID) Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 19009 D (Tagesordnungspunkt 9) ...... 19024 B (FDP) ...... 19010 C (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 19024 C Dr. Danyal Bayaz (BÜNDNIS 90/ Dr. Rainer Kraft (AfD) ...... 19024 D DIE GRÜNEN) ...... 19011 A (CDU/CSU) ...... 19012 A Anlage 3 () (SPD) ...... 19013 A Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Aus- Tagesordnungspunkt 17: wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bun- desregierung: Fortsetzung der Beteiligung a) Antrag der Abgeordneten Beate Müller- bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Mis- Gemmeke, Anja Hajduk, , sion der Vereinten Nationen in der Republik weiterer Abgeordneter und der Fraktion Südsudan (UNMISS) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Recht auf (Tagesordnungspunkt 10) ...... 19025 A Homeoffice einführen – Mobiles Arbei- ten erleichtern Canan Bayram (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 19025 A Drucksache 19/13077 ...... 19013 D Dr. Rainer Kraft (AfD) ...... 19025 C

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Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Bauakademie gewählt werden. Stimmen Sie auch dem Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte zu? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der Kollege nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Hirte auch zum stellvertretenden Mitglied des Stiftungs- rats der Bundesstiftung Bauakademie gewählt. Vor Eintritt in die Tagesordnung begrüße ich für den ausgeschiedenen Kollegen als Mitglied des Interfraktionell sind folgende Änderungen der Tages- Deutschen Bundestages den Kollegen Bernd Siebert. ordnung vereinbart worden: Mit dem Tagesordnungs- All denjenigen, die dem Bundestag schon eine Zeit lang punkt 7 sollen der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung angehören, kommt er nicht als neuer Kollege vor. Wir des Bundesmeldegesetzes auf Drucksache 19/17785 so- freuen uns, dass Sie wieder hier sind. Herzlich willkom- wie der Antrag „Bewerber für politische Ämter men im Namen des ganzen Hauses! schützen – Bundeswahlordnung anpassen“ auf Drucksa- che 19/17784 aufgerufen werden. Der Antrag „Durch- (B) (Beifall) schnittspreisangaben bei Langzeitverträgen mit Verbrau- (D) Jetzt müssen wir einige Wahlen durchführen. Die Frak- chern einführen“ auf Drucksache 19/17451 soll mit dem tion der CDU/CSU schlägt vor, den Kollegen Michael Tagesordnungspunkt 15 aufgerufen werden. Mit dem Zu- Brand als Nachfolger des ausgeschiedenen Kollegen satzpunkt 10 soll der Antrag „Berufliche Weiterbildung Oswin Veith zum stellvertretenden Mitglied des Ge- stärken – Weiterbildungsgeld einführen“ auf Drucksa- meinsamen Ausschusses gemäß Artikel 53a Grund- che19/17753 beraten werden. Die Tagesordnungspunk- gesetz zu wählen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich te 18 c und 25 a sollen abgesetzt werden. – Sind Sie mit höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Brand all dem einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. zum stellvertretenden Mitglied des Gemeinsamen Aus- Dann ist das so beschlossen. schusses gewählt. Ich weise daraufhin, dass sich die Fraktionen darauf Es sollen auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU die verständigt haben, die zu den Tagesordnungspunkten 9 Kollegin Karin Maag und auf Vorschlag der Fraktion der und 10 und zum Zusatzpunkt 8 angekündigten nament- SPD die Kollegin Bärbel Bas für die am 31. Juli 2020 lichen Abstimmungen nicht durchzuführen. Das gilt im beginnende Amtszeit jeweils zum Mitglied des Stif- Übrigen nur für diese drei Abstimmungen und hat an- tungsrates der Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch sonsten keinerlei weitere Wirkungen. Blutprodukte HIV-infizierte Personen“ gewählt wer- Damit rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c den. Stimmen Sie dem zu? – Das ist offensichtlich der sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 sowie 15 und 16 auf: Fall. Dann sind die Kolleginnen Maag und Bas zu Mit- gliedern im Stiftungsrat gewählt. 7 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs Des Weiteren schlägt die Fraktion der CDU/CSU vor, eines Gesetzes zur Bekämpfung des den Kollegen Christian Hirte als Nachfolger des Kol- Rechtsextremismus und der Hasskrimina- legen zum Mitglied des Stiftungsrats lität der Bundesstiftung Baukultur zu wählen. Stimmen Sie auch dem zu? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann Drucksache 19/17741 ist der Kollege Hirte zum Mitglied des Stiftungsrats der Überweisungsvorschlag: Bundesstiftung Baukultur gewählt. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Inneres und Heimat Schließlich soll ebenfalls auf Vorschlag der Fraktion Ausschuss für Wirtschaft und Energie der CDU/CSU der Kollege Christian Hirte als Nach- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- folger des Kollegen Volkmar Vogel zum stellvertreten- zung den Mitglied des Stiftungsrats der Bundesstiftung Ausschuss für Kultur und Medien 18926 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ausschuss Digitale Agenda Drucksache 19/17785 (C) Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Manuel Höferlin, Stephan Thomae, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Grigorios Aggelidis, weiteren Abgeordneten Federführung strittig und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Brandner, Marc Bernhard, Peter Boehringer, wei- Bundesmeldegesetzes – Auskunftssperren terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD für politische Mandatsträger in Bund, Ländern und Kommunen Bewerber für politische Ämter schützen – Bundeswahlordnung anpassen Drucksache 19/17252 Drucksache 19/17784 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss Digitale Agenda Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Federführung strittig c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Für die Aussprache ist eine Dauer von 60 Minuten be- Martina Renner, Petra Pau, Dr. André Hahn, schlossen. weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Das Wort hat – er steht schon bereit – der Parlamenta- rische Staatssekretär Lange. Rassismus bekämpfen – Rechten Terror aufhalten – Opfer schützen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Drucksache 19/17770

Überweisungsvorschlag: Christian Lange, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Ausschuss für Inneres und Heimat (f) ministerin der Justiz und für Verbraucherschutz: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kolleginnen und Kollegen! Vor einer Woche haben wir Benjamin Strasser, Konstantin Kuhle, Stephan an gleicher Stelle über die Folgen der rassistischen Morde Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion von Hanau debattiert. Den Menschen, die sich vor Ras- (B) der FDP sismus und Rechtsextremismus fürchten, haben wir da- (D) mals eines versprochen: Wir nehmen den Kampf gegen Aktionsplan zur Bekämpfung des Rechtsext- diese Bedrohung auf! Meine Damen und Herren, heute remismus und rechtsextremer Gewalt zeigen wir, dass wir es ernst meinen. Drucksache 19/17743 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Überweisungsvorschlag: der CDU/CSU) Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Gemeinsam wollen wir das Gesetz gegen Rechtsextre- ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate mismus und Hasskriminalität auf den Weg bringen. Wenn Künast, Dr. Irene Mihalic, Dr. Konstantin von ich „wir“ sage, dann meine ich nicht nur die Bundesre- Notz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gierung und die Regierungsfraktionen, die den Entwurf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemeinsam vorlegen; ich baue auch auf ein großes „wir“, auf ein „wir“ aller demokratischen Fraktionen in diesem Hass und Hetze wirksam bekämpfen, Betrof- Haus. fene stärken und Bürgerrechte schützen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Drucksache 19/17750 der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Wir können den Kampf gegen Hass und Hetze nur ge- Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) winnen, wenn wir an einem Strang ziehen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Weil das so ist, freue ich mich ganz besonders über den Ausschuss Digitale Agenda großen politischen und gesellschaftlichen Rückenwind, Federführung strittig den wir bei unserem Vorhaben bekommen. Der Herr Bun- ZP 15 Erste Beratung des von den Abgeordneten despräsident, der Herr Bundestagspräsident, die großen Stephan Brandner, Dr. Lothar Maier, Roman Kommunalverbände, der Deutsche Richterbund wie auch Johannes Reusch, weiteren Abgeordneten und der Deutsche Juristinnenbund, der Zentralrat der Juden der Fraktion der AfD eingebrachten Entwurfs ei- oder die Diakonie und nicht zuletzt die vielen zivilgesell- nes Gesetzes zur Änderung des Bundesmelde- schaftlichen Organisationen, die tagtäglich gegen Hass gesetzes – Schutz von politischen Mandatsträ- kämpfen, alle sind sich im Grundsatz einig: Der Hass gern, Richtern, Soldaten, ehrenamtlichen ist ein Angriff auf unsere Meinungsfreiheit, unsere De- Richtern und Schöffen sowie Angestellten mokratie. Er bildet den Nährboden für die furchtbaren und Beamten im öffentlichen Dienst rechtsextremistischen Gewalttaten. Dem müssen wir Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18927

Parl. Staatssekretär Christian Lange (A) dringend Einhalt gebieten, und deswegen sind die Maß- und Kommunalpolitikern. Wie brisant die Situation ist, (C) nahmen, die wir ergreifen, richtig. zeigt eine ganz aktuelle Untersuchung: Zwei Drittel aller Bürgermeister wurden bereits beleidigt, beschimpft oder (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie tätlich angegriffen. Das ist unfassbar! Unser Bundesprä- bei Abgeordneten der LINKEN) sident hat es auf den Punkt gebracht – ich zitiere ihn –: Meine Damen und Herren, ich weiß, unser Gesetzent- Wir dürfen nicht zulassen, dass Kommunalpolitiker- wurf ist keine Wunderwaffe. Wir werden den Rechtsext- innen und -politiker in unserem Land zu Fußabtre- remismus nicht von heute auf morgen besiegen. Dafür ist tern der Frustrierten werden. die rechtsterroristische Bedrohung zu groß, und dafür ist der Rassismus zu weit in unsere Gesellschaft vorgedrun- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der gen. Aber wir geben unseren Sicherheitsbehörden ein LINKEN) wirksames Mittel an die Hand, um den Hass und die Ge- walt wirksam einzudämmen. Zwei Punkte sind wesent- Darum reagieren wir: Wer Unwahrheiten oder Lügen lich: über Kommunalpolitikerinnen und -politiker verbreitet, um diese herabzuwürdigen und verächtlich zu machen, Erstens. Wir sorgen dafür, dass Hasskriminalität kon- muss künftig mit sehr viel schwereren Strafen rechnen. sequent strafrechtlich verfolgt werden kann. Die Mei- Die Städte und Gemeinden sind – auch da hat der Bun- nungsfreiheit endet dort, wo das Strafrecht beginnt. Das despräsident recht – „die Wurzel unserer Demokratie“. muss der Rechtsstaat durchsetzen – auch im Internet. Mit unserem Gesetz gegen Rechtsextremismus und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hasskriminalität geht es uns genau darum: Wir werden der CDU/CSU) unsere Demokratie mit allen Mitteln des wehrhaften Rechtsstaates verteidigen. Darum bitte ich Sie um Unter- Daher müssen die sozialen Medien, müssen die sozialen stützung. Netzwerke Postings mit besonders üblem Hass künftig nicht nur löschen, sondern auch dem BKA melden. Wir Herzlichen Dank. sprechen von Volksverhetzungen, von Mord- und Verge- waltigungsdrohungen. Außerdem können die Strafverfol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gungsbehörden von Internetplattformen künftig die He- der CDU/CSU) rausgabe von Daten verlangen, die sie brauchen, um die Täter zu identifizieren. Es ist wie im echten Leben, meine Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Damen und Herren: Straftäter haben kein Recht auf Ano- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Roman nymität! (B) Reusch, AfD. (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD) Zweitens. Wir ermöglichen es den Gerichten, härter gegen Gewalthetze vorzugehen. Öffentliche Beleidigun- Roman Johannes Reusch (AfD): gen, gerade im Netz, sind besonders laut und aggressiv. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als dieser Deshalb werden sie künftig schärfer bestraft. Gesetzentwurf im Vorfeld mehrfach von verschiedenen Seiten angekündigt wurde, teils mit durchaus martialisch Außerdem bieten wir jedem Einschüchterungsversuch klingenden Ausführungen, war ein Gesetz zur AfD-Be- die Stirn. Rechtsextremisten drohen allen, die ihnen nicht kämpfung zu erwarten, vielleicht sogar die Wiederein- passen, mit körperlicher Gewalt oder damit, ihre Autos führung des Tatbestands der staatsfeindlichen Hetze. und Häuser zu demolieren. Nicht einmal vor Familien Ein Blick in den Gesetzentwurf zeigt: Nichts davon. und Kindern machen sie halt. Und in ihrem Hass gegen Die strafrechtlichen Änderungen im StGB sind teilweise Frauen drohen sie mit sexuellen Übergriffen. Diese wi- völlig in Ordnung, teilweise jedenfalls vertretbar. Durch- derwärtigen Drohungen stellen wir nun unter Strafe. greifenden Bedenken begegnen Sie jedenfalls nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dies verhält sich völlig anders mit dem zentralen Punkt der CDU/CSU) dieses Gesetzentwurfs: der Anzeigepflicht. Die Beurtei- Schließlich setzen wir ein deutliches Zeichen gegen lung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, ist eine klassische den wachsenden Antisemitismus. Antisemitische Motive Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, beschrieben in machen wir zu einem eigenständigen Strafschärfungs- § 152 Absatz 2 StPO. Hier wird sie vorverlagert auf merkmal. Private – ein merkwürdiger Vorgang. Die Anzeigepflicht ist ein Bruch mit unserer Rechtstradition. Grundsätzlich Doch wir fokussieren uns nicht nur auf die Täter. Wir ist niemand in Deutschland verpflichtet, eine begangene wollen auch die Opfer des Hasses besser schützen. Es Straftat anzuzeigen. Niemand! Nicht einmal einen Mord. kann nicht sein, dass Adressen von gesellschaftlich und politisch engagierten Menschen als Drohkulisse im Netz (Beifall bei der AfD) kursieren. Daher ändern wir das Melderecht. Jetzt soll hier für Telemedienbetreiber – so ekelhaft die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bedrohungen im Einzelfall sind; aber das ist ein Massen- delikt – Ganz besonders schützen werden wir die Menschen, die sich in vorderster Reihe für unser Gemeinwesen enga- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gieren. Ich spreche von den Kommunalpolitikerinnen NEN]: Ja, deshalb!) 18928 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Roman Johannes Reusch (A) eine Anzeigepflicht eingeführt werden. Das ist ein Wer- Hasspostings gibt es nicht nur innerhalb der Politik in (C) tungswiderspruch, den Sie mir bitte mal erklären müssen. allen Lagern; die gibt es auch außerhalb der Politik reich- lich. Schauen Sie sich mal den Fußball an. Schauen Sie (Beifall bei der AfD) sich mal Privatfehden an. Das ist also ein ubiquitäres Das ist zudem auch völlig unnötig. Denn gerade im Phänomen und keineswegs eine Domäne des Rechtsext- Internetbereich ist es so leicht wie sonst was, eine Anzei- remismus. ge zu erstatten: Screenshot, URL-Kopie, rein in die Ein- gabemaske der nächsten Internetwache, einen Satz dazu (Beifall bei der AfD) schreiben, Entertaste – zack, die Anzeige ist erstattet. Das Also: Ich bin gespannt, was die Sachverständigen dazu dauert fünf Minuten. Das kann jeder Mann, jede Frau, sagen werden. sogar jedes Kind. Danke für die Aufmerksamkeit. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das sind doch schon wieder Private! (Beifall bei der AfD) Was reden Sie da?) Mit der Einrichtung einer Zentralstelle kreiert man ei- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: nen Flaschenhals, der besonders gefährlich wird in den Jetzt erteile ich das Wort Herrn Staatsminister Georg Fällen, in denen es um die Ermittlung derjenigen geht, die Eisenreich. hinter bestimmten IP-Adressen stecken. Da haben wir ja, (Beifall bei der CDU/CSU) weil es keine Vorratsdatenspeicherung gibt, ein ganz klei- nes Zeitfenster von wenigen Tagen. Wenn ich jetzt bun- desweit Tausende Fälle auf einen Schreibtisch lege, kann Georg Eisenreich, Staatsminister (Bayern): ich nur sagen: Gute Nacht, Marie. Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren Abgeord- nete! Hass und Hetze haben in der Zwischenzeit ein er- (Dr. Jens Zimmermann [SPD]: 300 Schreibti- schreckendes Ausmaß angenommen. Insbesondere im sche!) Internet braut sich etwas zusammen, was eine echte Ge- - 300 Schreibtische. Toll. fahr für unsere Demokratie darstellt. Geistige Brandstif- ter, Demagogen und Mitläufer machen gemeinsam Stim- Dann suchen Sie sich auch noch das BKA aus. Das mung gegen Minderheiten, gegen Andersdenkende, BKA hat ganz andere Aufgaben. Da sind hochqualifizier- gegen Politiker und gegen unsere Demokratie. Deswegen te und hochspezialisierte Kriminalbeamte am Werk. Die muss unser Rechtsstaat wehrhaft sein. Er muss hin- als Poststelle zu missbrauchen, ist Verschwendung von schauen, und er muss durchgreifen. (B) Ressourcen. (D) Ich freue mich, dass der Konsens unter den demokrati- Zu den Passwörtern. Wir müssen gucken, wie sich das schen Parteien hier so groß ist. Hass im Netz vergiftet das mit der Verschlüsselungspflicht nach der DSGVO ver- gesellschaftliche Klima und unterdrückt die Meinungs- trägt. Das werden wir alles im Ausschuss sehen. freiheit anderer. Ich will das klar sagen: Wer strafbaren Insgesamt ist dieser Gesetzentwurf eine Mogelpa- Hass bekämpft, schränkt die Meinungsfreiheit nicht ein; ckung. Denn es wird bei den Antrags- und Privatklage- er schützt sie. delikten nichts unternommen. Die bleiben außen vor. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zur bloßen Erhöhung der Höchststrafe: Es ist ein alter, ordneten der FDP) unausrottbarer Politikerirrglaube, dass sich dadurch in Für mich ist die Bekämpfung von Hass zugleich Ext- der Praxis irgendwas ändert. Nichts ändert sich da in remismusbekämpfung. Die Länder können hier bei der der Praxis. Das haben wir x-fach gehabt. Das ist typisch: Strafverfolgung viel tun. In Bayern machen wir vieles: Wenn Politiker mal wieder ein Zeichen setzen wollen, Wir haben zum Beispiel die Ermittlungsstrukturen opti- dann erhöhen sie die Höchststrafen. – Danke für das Ge- miert. Wir haben bei allen Staatsanwaltschaften speziali- spräch. Das bringt nichts. sierte Sonderdezernate zur Bekämpfung von Hass einge- Mehr hätte es gebracht, wenn man sich die RiStBV, die richtet. Ich habe zudem einen Hate-Speech-Beauftragten Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren, ange- bei der Generalstaatsanwaltschaft ernannt. Und: In schaut hätte. – Der ehemalige Justizminister lächelt kun- Bayern ist die Strafverfolgung im öffentlichen Interesse – dig. – In den Nummern 86 f., 229 RiStBV ist nämlich das ist bereits angeordnet worden –; denn wir wollen geregelt, wann die Staatsanwaltschaft das öffentliche In- Hasskriminalität mit Nachdruck verfolgen. teresse anzunehmen hat und wann nicht. Da könnte man Für gute Strafverfolgung brauchen wir allerdings auch einige klarstellende Formulierungen reinsetzen, und gute Rahmenbedingungen. Ich begrüße daher ausdrück- schon würde man die Zahl der Anklagen in solchen Be- lich, dass der Bundesgesetzgeber jetzt handelt. Heute reichen spürbar erhöhen können – alles ohne Gesetz. Da liegt ein sehr guter Gesetzentwurf vor, der Entschlossen- reicht eine einfache Richtlinie. Da reicht es, dass sich die heit zeigt. Herzlichen Dank dafür! Justizministerin mit ihren Länderkollegen zusammen- setzt und das vereinbart, und schon wird das Wirklichkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Die Überschrift – und deshalb „Mogelpackung“ – lau- tet: Rechtsextremismus. – Ich habe nichts gesehen, wo- Ein Thema ist unserem Ministerpräsidenten Dr. Markus mit Rechtsextremismus bekämpft wird. Hasstiraden und Söder und mir persönlich besonders wichtig: Es ist unsere Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18929

Staatsminister Georg Eisenreich (Bayern) (A) Verantwortung, den Judenhass an den Rändern, aber auch Demokratie und Rechtsstaat sozialisiert werden, meine (C) in der unserer Gesellschaft und auch unter den zu sehr geehrten Damen und Herren. uns Geflüchteten zu erkennen, zu benennen und zu be- kämpfen. Es ist daher unser Ziel, dass antisemitische (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Straftaten härter bestraft werden. Eine antisemitische ordneten der SPD) Motivation des Täters wird nun im Gesetz ausdrücklich Deshalb möchte ich die Bundesregierung bitten, über als strafschärfend genannt. Das ist nicht nur ein klares diesen sehr guten Gesetzentwurf hinaus die sozialen Me- Signal gegen Judenfeindlichkeit und Ausgrenzung. Ich dien noch viel stärker in die Pflicht zu nehmen. bin mir sicher: Diese Wertung des Gesetzgebers wird auch zu härteren Strafen führen. Ich freue mich, dass Zum Abschluss noch mal herzlichen Dank für diesen die Bundesregierung den bayerischen Vorschlag, der im wirklich hervorragenden Gesetzentwurf und den breiten Bundesrat einstimmig beschlossen worden ist, in den Konsens, der hier im Hohen Haus besteht. Wir müssen Gesetzentwurf aufgenommen hat. gegen Extremismus und Hasskriminalität entschlossen vorgehen, und wir müssen dabei gemeinsam handeln. Es ist auch gut und richtig, dass der Gesetzentwurf das Beleidigungsstrafrecht nachschärft. Insbesondere die Be- Herzlichen Dank. leidigungen im Internet müssen dabei im Fokus sein, und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der Strafrahmen muss angehoben werden. Ich fordere das schon länger. Denn in der Anonymität des Netzes sind Beleidigungen oft viel enthemmter. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens, Nach meiner Überzeugung wäre aber statt punktueller FDP. Änderungen eine umfassende Modernisierung des Belei- digungsstrafrechts notwendig. Zum Beispiel müssen (Beifall bei der FDP) auch Fälle von Hasskriminalität – Beleidigungen von Politikern, die ja auch einen Angriff auf unsere Demo- Dr. Jürgen Martens (FDP): kratie darstellen, Cybermobbing – besser erfasst und auch Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- härter geahndet werden können. Ich habe dazu letztes ren! Hasskriminalität und Rechtsextremismus gehören in Jahr einen Diskussionsentwurf vorgelegt. der Tat heute leider oft zusammen. Wir alle können nur friedlich zusammenleben, wenn jeder von uns sich sicher (Beifall bei der CDU/CSU) sein kann, dass ihm ein Mindestmaß an Respekt entge- Ich bedanke mich bei den Abgeordneten Frei und gengebracht wird. Leider fällt es Mitbürgerinnen und Mitbürgern zunehmend schwer, anderen diesen so zwin- (B) Luczak und der CSU-Landesgruppe, dass sie diesen Dis- (D) kussionsentwurf unterstützen. Ich würde mich sehr gend notwendigen Respekt entgegenzubringen. freuen, wenn Sie in Ihren Beratungen diese Vorschläge Es wird die Verrohung in der Sprache beklagt. Aus ihr berücksichtigen könnten. folgt Hass. Er schlägt um in Bedrohung, und hieraus wird In der Praxis läuft die Zusammenarbeit zwischen un- dann, so müssen wir feststellen, immer häufiger Gewalt. seren Ermittlern und den Plattformen, den sozialen Netz- Dieser Gewalt müssen wir entgegentreten, aber auch vor- werken, unbefriedigend; das muss ich leider klar sagen. her schon den Mechanismen, die zu solcher Gewalt füh- Teilweise werden die Anfragen verspätet, teilweise gar ren: der Bedrohung, der Beschimpfung, dem Schüren von nicht, teilweise unvollständig beantwortet. Das muss sich Ängsten. ändern; denn wir wollen Hasskriminalität bekämpfen, Meine Damen und Herren, Hass fällt nicht vom Him- und dazu brauchen wir die Urheber. mel. Die Änderungen im Telemediengesetz sind gut. Offen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bleibt aber: Was ist, wenn der Firmensitz oder die Server der CDU/CSU und der SPD) im Ausland sind? Ich habe dazu eine klare Haltung – eine alte Forderung von mir –: Auskunftsverlangen der Staats- Man kann ihn erzeugen. Es heißt so schön: Nichts ist anwaltschaften müssen ohne Wenn und Aber beantwortet schneller erzeugt als Empörung. – Man kann Ängste werden, egal wo der Firmensitz ist und egal wo die Server schüren, man kann sie instrumentalisieren, man kann stehen. sie nutzbar machen für seine politischen Zwecke. Das Internet potenziert die Wirkung von Fake News, von Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schimpfungen, Verleumdungen und Bedrohungen. Dass ordneten der SPD) dagegen der Gesetzgeber einschreitet, ist notwendig und angemessen; es ist geboten. Dazu sollten wir zum Beispiel das Marktortprinzip ein- führen. (Beifall des Abg. Benjamin Strasser [FDP]) Die sozialen Medien müssen ihrer Verantwortung noch Wir als Liberale sehen positiv die Vorschriften zur stärker gerecht werden. Wir brauchen hier eine höhere schärferen Ahndung von öffentlichen Beleidigungen Kooperationsbereitschaft. Die sozialen Medien verdie- und die Erweiterung des Kataloges von Straftaten, deren nen viel Geld – sehr viel Geld –; das ist auch in Ordnung, Androhung strafbar sein soll. Es ist auch nicht einzuse- sofern die Folgen, die Kosten, die Probleme nicht haupt- hen, warum Telemedien nicht die gleiche Qualifikation sächlich Staat und Gesellschaft tragen müssen. Was nicht erfahren wie Telekommunikation. Und – das ist leider geht, ist, dass Gewinne privatisiert, aber Probleme für notwendig –: Auch die Ausweitung des Schutzes von 18930 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Dr. Jürgen Martens (A) Kommunalpolitikern ist geboten, so leid einem das tun Petra Pau (DIE LINKE): (C) mag. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Besucher! Schauen Sie mit mir zurück – nicht weit, ledig- der CDU/CSU und der SPD) lich vier Wochen. In nur zehn Tagen im Februar 2020 Auch die FDP hat hierzu im Gesetzgebungsverfahren den kam es zu folgenden rechtsextremen, rassistisch moti- Vorschlag eingebracht, das Melderechtsrahmengesetz vierten Gewalttaten: In Hanau wurden zehn Menschen des Bundes und die Meldegesetze der Länder entspre- ermordet. Zwölf militante Nazis planten Anschläge auf chend anzupassen, sodass Auskunftssperren auch für Politiker, Geflüchtete und Moscheen. Ein versuchtes kommunalpolitisch tätige, ehrenamtlich tätige Mitbürger Sprengstoffattentat auf die KZ-Gedenkstätte Mittelbau- ausgesprochen werden können. Dora. Eine Drohmail gegen eine Moschee in Bremen. Hakenkreuze an einer Moschee in Emmendingen. Schüs- (Beifall bei der FDP) se auf eine Shishabar in . Ein Brandanschlag auf eine Shishabar und einen Dönerimbiss in Döbeln. Bom- Gleichwohl gibt es auch einige Punkte, über die man bendrohungen gegen Moscheen in Essen, Unna, Hagen, noch diskutieren muss. So möchte ich dem Eindruck ent- Bielefeld. Eine Bombendrohung gegen eine Moschee in gegentreten, dass nur durch die ausdrückliche Benennung . – All das ereignete sich innerhalb von zehn antisemitischer Motive in § 46 des Strafgesetzbuches Tagen im Jahr 2020. Hinzu kommen Attacken zum Bei- eine besonders harte Verfolgung antisemitischer Strafta- spiel gegen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpo- ten erfolgen könne. Nein, diese Wertung ist längst ge- litiker. Das alles ist rechtsextremer Alltag und nicht hin- troffen, und die Gerichte treffen sie auch. Ich möchte hier nehmbar. noch mal betonen: Antisemitische Straftaten sind welche, die auf einem besonders niedrigen sittlichen Niveau ste- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem hen und deswegen zu Recht schon immer in besonderer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Weise die Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehör- ordneten der CDU/CSU und der FDP) den nach sich gezogen haben, meine Damen und Herren. Spuren rechtsextremer Täter und militanter Gruppen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ziehen sich durch die Geschichte der Bundesrepublik der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) von Beginn an. Ich erinnere nur an das Oktoberfestatten- tat in München 1980 und an die bundesweite NSU-Nazi- Problematisch sehen wir die Meldepflicht für Platt- mord-, -überfall- und -anschlagserie inklusive unserem formbetreiber. Hier wird eine zusätzliche Komplikation Versagen, inklusive dem Staatsversagen von 1998 bis (B) eingebaut, die der Verfolgung solcher Taten nicht unbe- 2011. (D) dingt dienlich ist, wenn nicht zugleich auch bei den Ver- folgungsbehörden der Flaschenhals der personellen Ka- Gleichwohl deutet vieles darauf hin, dass die rechts- pazität vergrößert wird, meine Damen und Herren. extreme Gefahr und die Attentatsdichte aktuell zuneh- men. Dem gilt es aktiv zu wehren, von Staats wegen Die Passwortherausgabe ist in der Tat ein sehr schwe- und in der Gesellschaft. rer Eingriff in die Rechte von Nutzern von Plattformen. Vor allen Dingen sehen wir kritisch, dass sie jetzt generell (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie anwendbar sein soll und nicht nur im Bereich der Hass- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE kriminalität und des Rechtsextremismus. GRÜNEN) Aber eins ist wichtig – das hat Herr Lange in der Ein- Bundesinnenminister Seehofer hat jüngst betont – ich bringungsrede hier klargemacht –: Wir müssen zeigen, zitiere –: „die höchste Bedrohung in unserem Lande geht dass wir es ernst meinen. Verbote auszusprechen, ist vom Rechtsextremismus aus“, vom Rechtsterrorismus. leicht. Sie durchzusetzen, ist das Schwierige. Und: Es Es macht mich nicht glücklich, dass Die Linke das seit gäbe nichts Schlimmeres, als wenn Bürger von einer Langem sagt; aber umso mehr begrüße ich, wenn es nun Anzeige wegen Bedrohungen und Beleidigungen absä- auch in der Bundesregierung diese Einschätzung gibt. hen aus der „Erwartung“ – in Anführungszeichen –, es käme am Ende eh nichts dabei heraus. (Beifall bei der LINKEN) Nun gilt allerdings auch, dass dieser Erkenntnis, dass den (Beifall bei der FDP) Worten Taten folgen müssen. Das wäre in diesem Fall ein schlimmes Versagen des Rechtsstaates. Heute liegen dem Bundestag zahlreiche Anträge zu diesem Thema vor. Auch Die Linke fordert in zehn Punk- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten Maßnahmen; diese sind nachlesbar. Deshalb möchte der CDU/CSU) ich hier nur fünf hervorheben: Erstens. Fälle von rechtsextremem Terror dürfen nicht Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: vorschnell als Einzelfälle und die Täter nicht als Einzel- Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Die Lin- täter verharmlost werden. ke. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem (Beifall bei der LINKEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18931

Petra Pau (A) Zweitens. In Abstimmung mit den Bundesländern ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) die Neonazi-Szene zu entwaffnen, und Reichsbürgern und anderen sind waffenrechtliche Erlaubnisse zu entzie- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- leginnen und Kollegen! Rechtsextremismus tötet! Er hat (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem seit 1990, also seit der Einheit, fast 200 Menschen ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tötet. Es hat nicht erst in Kassel, in Halle, in Hanau an- Drittens. Gegen demokratiefeindliche Tendenzen in gefangen, sondern es hat im November 1990 mit der staatlichen Behörden ist konsequent vorzugehen. Ermordung von Amadeu Antonio in Eberswalde ange- fangen. Es gab die Brandanschläge in Mölln, in Solingen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Es gab den NSU, der zehn Menschen in ganz Deutsch- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- land getötet hat, und vielleicht gibt es diesen NSU heute ten der SPD) immer noch. 2016 gab es 995 registrierte Anschläge auf Viertens. Wir brauchen eine unabhängige Beobach- Flüchtlingsunterkünfte. Die Bedrohung ist also weitaus tungsstelle gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus größer; Frau Pau hat es auch gesagt. und Rassismus; diese muss endlich eingerichtet werden. Das sind nur die wenigen registrierten Fälle, die öffent- Und fünftens – Sie kennen das schon von mir –: Zivil- lich bekannt sind. Tatsache ist: Jeden Tag werden in die- gesellschaftliche Initiativen, die sich im Alltag für Demo- sem Land rassistische, antisemitische, antiziganistische, kratie und Toleranz engagieren, müssen ausreichend und antimuslimische, frauenfeindliche, homo- und transpho- verlässlich gefördert werden, auch finanziell; sie müssen be und behindertenfeindliche Diskriminierungen und wertgeschätzt werden. Übergriffe getätigt. Jeden Tag findet Entmenschlichung statt, und dem müssen wir alle gemeinsam entgegentre- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ten. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- Ich erinnere zudem an den Abschlussbericht aus dem ordneten der CDU/CSU und der FDP) ersten und zweiten Untersuchungsausschuss des Bundes- Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschen- tages zur NSU-Nazimordserie. Der erste enthielt 48 Maß- feindlichkeit sind nicht wirklich neu. Neu ist nur ihr Ge- nahmen, die fraktionsübergreifend beschlossen, aber bis- wand. Sie kommen nicht mehr mit Bomberjacken und lang mitnichten vollständig umgesetzt wurden. Mit Springerstiefeln daher, sondern mit weißem Kragen und anderen Worten: Wir sollten uns selbst ernster nehmen, (B) Tweedjacket. Sie haben gelernt, das Netz strategisch zu (D) und die Bundesregierung sollte den Bundestag ernst neh- nutzen, sich zu vernetzen, um zu rekrutieren. Das reicht men. von Reden in Parlamenten bis hin zu Organisationen wie der Bundeswehr mit ihren Spezialeinheiten. Sie alle ha- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ben sich miteinander vernetzt, und ihr Ziel ist, die Demo- Frau Kollegin Pau, gestatten Sie eine Zwischenfrage? kratie zu zerstören. Unser Ziel ist, nun endlich gemein- sam dagegenzuhalten. Petra Pau (DIE LINKE): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Von wem? bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- ordneten der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Es trifft nicht nur uns als Politikerinnen, sondern viele Von dem Kollegen aus der AfD-Fraktion. engagierte Menschen, denen wir übrigens danken müs- sen, weil sie seit Jahrzehnten gegen Rechtsextremismus Petra Pau (DIE LINKE): arbeiten und Schutz aufbauen. Nein, gestatte ich heute nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der LINKEN) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Abschließend: Rechtsextremismus ist eine Gefahr für Leib und Leben und für die Demokratie. Das gilt für die Sie selbst sind auch persönlicher Gefahr ausgesetzt und Täter, aber genauso für deren rassistische und nationali- leiden darunter. Das betrifft auch demokratische Institu- stische Stichwortgeber – auf der Straße und auch in den tionen, es trifft Journalistinnen und Journalisten. Das, Parlamenten. was da passiert, bietet den Nährboden für Taten: Es fängt mit Worten an und endet mit Taten, die manche Men- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem schen das Leben kosten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- In diesem Lichte müssen wir heute auch die Gesetz- ordneten der FDP) entwürfe und unsere Maßnahmen diskutieren. Wenn ich mir den Gesetzentwurf ansehe, muss ich sagen, dass er Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: leider noch zu kurz greift. Ich will Ihnen sagen, warum. Jetzt hat das Wort die Kollegin Renate Künast, Bünd- Wir haben eine ganzheitliche Strategie dem gegenüber- nis 90/Die Grünen. gestellt. Wir dürfen nicht nur die Folgen bekämpfen mit 18932 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Renate Künast (A) der Ultima Ratio Strafrecht und BKA; vielmehr müssen den Auskunftsanspruch für zivilrechtliche Maßnahmen (C) wir mehr tun, als nur den Täter zu bestrafen. Wir müssen erleichtern. Aber es braucht noch mehr. Es braucht mehr die Opfer und die NGOs, die heute aktiv sind, in den als Strafrechtsänderungen. Es braucht eine breite Struk- Mittelpunkt stellen. tur, damit sich die Menschen, die Gesellschaft wehren können; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb brauchen wir im Kampf gegen Rechtsextre- Denn das Sich-Wehren passiert im Alltag. Denken wir an mismus Prävention und Opferschutz. Lassen Sie uns den Satz von Herrn Böckenförde, dem Verfassungsrich- doch damit anfangen, dass wir ein Zeichen setzen und ter, der gesagt hat, dass der demokratische Rechtsstaat das Wort „Rasse“ aus der Verfassung streichen. von Voraussetzungen lebt, die er selber nicht herstellen kann; das ist eine Zivilgesellschaft, die sich engagiert, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die müssen wir institutionell und in Beratungen un- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten terstützen. der SPD und des Abg. Dr. Jürgen Martens [FDP]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Warum? Es gibt keine Menschenrassen. Wir sind alle Wir werden Ihren Gesetzentwurf auch im Hinblick auf Menschen. Es gibt aber rassistische Diskriminierung das Strafrecht und das BKA kritisch begleiten. Ich sage und rassistische Übergriffe. Ihnen: Es gibt für Strafrechtsverschärfungen gar keine kriminologischen Daten, die besagen, dass dadurch Straf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN taten verhindert werden. Strafrahmenerhöhungen helfen sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- nicht, wenn es erst gar nicht zu Anklagen kommt, sondern KEN) Ermittlungsverfahren eingestellt werden. Deshalb meine Wir brauchen ein Demokratiefördergesetz. Ich bin es, ich, dass wir die Strafverfolgungsbehörden, Polizei, ehrlich gesagt, leid, dass wir seit Jahrzehnten dafür kämp- Staatsanwälte, Gerichte ermutigen und ertüchtigen müs- fen, dass NGOs und Antifagruppen, die sich engagieren, sen, in diesem Bereich gruppenbezogener Menschen- nicht immer um ihr Geld ringen müssen und nur auf ein feindlichkeit tatsächlich auch einmal Anklageschriften Jahr befristete Arbeitsverträge abschließen können. zu verfassen. Wir müssen sie qualifizieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- der SPD) KEN) (B) (D) Das reicht nicht. Sie brauchen eine verlässliche Finanzie- Das Einzige, was ich dazu gefunden habe, ist die Bro- rung. Wir sind es leid, dass zwischendurch einigen das schüre „Rassistische Straftaten erkennen und verhan- Geld gestrichen wird, dann wird es wieder angeglichen, deln“. Wir brauchen diese Fortbildung. Wir brauchen dann reden Sie über ein Demokratiefördergesetz. Wir aber keine Vorverlagerung von Strafbarkeit, wie Sie es wollen endlich dieses Gesetz. Es gehört zur Bekämpfung bei den §§ 140 oder 241 StGB machen. Die bayerischen des Rechtsextremismus dazu. Vorschläge im Hinblick auf Beleidigung sind übrigens sogar besser. Wir brauchen beim BKA – das will ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durchaus loben – eine zentrale Stelle – Herr Reusch hat sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- es nicht verstanden; das wundert mich nicht –, KEN) (Lachen des Abg. Dr. Christian Wirth [AfD]) Wir brauchen Institutionen, die unabhängig wissen- schaftlich arbeiten. Wir brauchen ein restriktives Waffen- die eben keine Poststelle ist, die weiterleitet, sondern die recht. selber Lagebilder und Analysen erstellt, wo sich das Zentrum des Rechtsextremismus befindet. Das ist richtig. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Haben wir schon!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Da geht es eben nicht nur um Sport und sportliche Inte- KEN) ressen. Es geht um Menschenleben, meine Damen und Herren! Und diese zu schützen, ist unsere Pflicht. Falsch ist, dass sämtliche Daten – am Anfang noch ein- schließlich der Passwörter – sofort von jedem übermittelt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden dürfen, meine Damen und Herren. Wir brauchen und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten eine Klarstellung dazu, was Bestandsdaten sind. Wir der SPD) brauchen ein zweistufiges System. Wir brauchen eindeu- Wir brauchen Anlaufstellen und Beratungsstellen, weil tige Löschungspflichten an dieser Stelle. Warum? Menschen, die Opfer von Rechtsextremismus und Hass sind, alleingelassen werden – im wahrsten Sinne des Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Wortes. Frau Kollegin Künast. Ich will auch einmal eines loben in Ihrem Gesetzent- wurf, in dem so vieles fehlt: Das Melderecht ist jetzt Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): immerhin drin – gut so. Ich will auch loben, dass Sie Mein letzter Satz – wirklich! Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18933

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: zurückzunehmen. Aber bei einem Elternabend, bei (C) Danke sehr. dem es um ein Schulfest mit Flüchtlingen geht, re- den sie rassistischen Klartext. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen, darum geht es eben Wir müssen Rechtsextremismus mit allen Mitteln be- auch, dem Alltagsrassismus, der sich einschleicht durch kämpfen. Wir müssen die Opfer stärken, aber die Bürger- solche Ideologien, durch Hass und weil Menschen das rechte erhalten. Unsagbare herauskrakeelen, um andere herabzuwürdi- gen, ein Ende zu bereiten. Ich bin froh, liebe Kolleginnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Kollegen, dass es eine breite Mehrheit in diesem und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Hause gibt, die das in diesen Tagen so sieht, und dass LINKEN) wir uns einig sind, dass wir den Rechtsextremismus eben nicht unterschätzen dürfen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Jetzt hat das Wort die Kollegin Ute Vogt, SPD. (Beifall bei der SPD) Mit dem heutigen Maßnahmenpaket zeigt unser (Beifall bei der SPD) Rechtsstaat klare Kante. Ich finde, liebe Kollegin Künast, das ist auch ein Signal an die Justiz, und so wollen wir das Ute Vogt (SPD): auch verstanden wissen. Wir haben klare Gesetze ge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es macht und Strafverschärfungen vorgesehen, damit das ist vielleicht kein Zufall, dass ich ähnlich wie die Kolle- Signal, dass es uns damit ernst ist, auch in die Gesell- gin Künast beim Blick auf dieses Thema an Amadeu schaft geht. Wir schweigen nicht und schützen die Men- Antonio gedacht habe. Am 24. November 1990 wurde schen, und zwar gerade die, die sich in der Zivilgesell- er in Eberswalde so zusammengeschlagen, dass er nach schaft und als Kommunalpolitiker für unsere Demokratie elf Tagen im Koma am 6. Dezember 1990 gestorben ist. einsetzen. Amadeu Antonio steht stellvertretend für über 200 Opfer rechtsextremistischer Gewalt, die den Tod fanden, da- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra Pau durch dass Rechtsextremisten als Andersdenkende, als [DIE LINKE]) Menschen anderer Herkunft oder einfach als Menschen Wir schauen nicht weg; wir schauen hin. Wir schweigen mit anderer Meinung und Grundhaltung erkannt worden nicht länger und nutzen alle Mittel des demokratischen sind und entsprechend getötet wurden. Rechtsstaates, um dem Rechtsextremismus und den Es ist nicht allein diese erschreckende Zahl von Todes- Rechtsextremisten, die ihn tragen, keinen Fuß breit in (B) (D) fällen, die uns bewegt, wenn wir in diesen Tagen diese unserer Gesellschaft zu überlassen. Gesetzesinitiative ergreifen. Es ist auch die Tatsache, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass über diese Rechtsradikalen und rechtsextremisti- der LINKEN) schen Ideologien Gift in unsere Gesellschaft sickert. Herr Reusch hat vorhin gesagt: Hasskommentare gibt es über- all. – Dazu sage ich Ihnen: Drei Viertel der von der Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Polizei registrierten Hasskommentare sind von Rechts- Nächster Redner ist der Kollege Stephan Brandner, extremisten und Rechtsradikalen verursacht. AfD. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der AfD)

Das Thema ist in der Tat nicht neu; es beschäftigt uns Stephan Brandner (AfD): seit Jahrzehnten. In der „taz“ war im Dezember letzten Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Jahres ein interessanter Artikel, in dem das Stichwort Herren! Das Ziel, die Bekämpfung des Extremismus, ist „Baseballschlägerjahre“ genannt wird. Ich will ausdrück- dringend und zwingend. Sie dient dem Schutz unseres lich sagen, die „Baseballschlägerjahre“ waren sicherlich Staates, der freiheitlichen Gesellschaft und der freiheit- im Osten extrem, aber es ist nicht so, dass es im Westen lich-demokratischen Grundordnung. nicht auch rechtsextremistische und rechtsextreme Grup- pen gab und gibt. Viele von denen, die wir heute im Osten Das Ziel der Bekämpfung muss aber auch sein, die erleben, sind übrigens aus dem Westen dorthin gewan- Personen zu schützen, und zwar in besonderem Maße, dert, um dort ihr Unwesen zu treiben. Das, glaube ich, die sich in besonderer Weise für unser Gemeinwesen ein- muss man der Redlichkeit halber sagen, wenn man das setzen und deshalb täglich Gefahren durch Angriffe von diskutiert. Kriminellen, psychisch Auffälligen und Extremisten aus- gesetzt sind. Beispielhaft genannt seien hier vor allem Die „taz“ schreibt unter dem Titel „Sie waren nie zunächst die Ehrenamtlichen, die ehrenamtlichen Rich- weg“ – ich möchte aus dem Artikel zitieren –: ter, die Schöffen, die Kommunalpolitiker, denen ich von Jene, die als Gewaltakteure in den 1990ern agierten, hier aus meinen Dank ausspreche und die ich ermutige, sind heute erwachsen und Eltern geworden. Allzu weiterzumachen. sichtbare Bezüge zum Neonazismus sind ver- schwunden. Ihre rassistische Gesinnung aber ist ge- (Beifall bei der AfD) blieben. Diese geben sie an ihre Kinder und deren Aber auch die hauptamtlich Tätigen, Richter, Staats- Umfeld weiter. Sie haben gelernt, sich öffentlich anwälte, Soldaten, Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, 18934 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Stephan Brandner (A) müssen geschützt werden. Deshalb legen wir unseren fene Gesellschaft. Sie hassen alles, was sie selbst als (C) Gesetzentwurf vor, der den Gesetzentwurf der Bundesre- fremd identifizieren. Deshalb müssen wir diesem Hass gierung in sinnvoller Art und Weise ergänzt und auswei- etwas entgegensetzen. Wir können ihn nicht per Gesetz tet; denn das, was die Bundesregierung und die FDP verbieten. Diesen Anspruch hat dieses Artikelgesetz auch jeweils aufgeschrieben haben, geht nicht weit genug. überhaupt nicht. Wir haben aber sehr wohl die Chance, Sie vergessen die Richter, sie vergessen die Soldaten, mit unserem Rechtsrahmen und unserer Rechtsordnung sie vergessen die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, letztlich Wert- und Unwerturteile zu sprechen und darü- und sie vergessen vor allem auch die Angehörigen, über ber hinaus den Raum für Hass und Hasskriminalität so die ja – quasi über Bande – herausgefunden werden kann, weit wie irgend möglich einzuengen. Genau das tun wir. wo wer wohnt. Es stimmt natürlich: Hass äußert sich in unterschiedli- Unser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, soll cher Art und Weise. Hass ist ein Gift, das langsam in die diesem betroffenen Personenkreis zusätzlich ermögli- Gesellschaft geträufelt wird. Deshalb ist es richtig, dass chen, vereinfacht Schutz durch Melderegisterauskunfts- wir die Prävention in den Mittelpunkt rücken. Dafür sperren zu erhalten. Zugegeben, Herr Lange, unser Ge- brauchen wir kein Demokratiefördergesetz. Wir haben setzentwurf ist auch keine Wunderwaffe – ich war schon Programme, die wir finanziell gestärkt haben, wie „Zu- etwas erstaunt, dass Sie den Begriff „Wunderwaffe“ hier sammenhalt durch Teilhabe“ oder „Demokratie leben!“. vorne überhaupt erwähnen –; aber unser Gesetzentwurf Schauen Sie sich die Bundeszentrale für politische Bil- ist ein wichtiges Mosaiksteinchen im Bereich der inneren dung, unseren präventiven Verfassungsschutz, an. Sie Sicherheit. Das sind wir – ich denke, das sollte uns alle wurde in den vergangenen Jahren sowohl personell auf- hier im Deutschen Bundestag einen – den Personen, die gestockt als auch mit erheblichen zusätzlichen Mitteln täglich, auch ehrenamtlich, Leib und Leben – auch ihrer versehen. Das ist unser Beitrag zum präventiven Verfas- Familien – aufs Spiel setzen, schuldig. sungsschutz. Deshalb bitte ich Sie herzlich, unserem Gesetzentwurf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und dem Antrag zur Änderung der Bundeswahlordnung zuzustimmen. Unser Antrag füllt eine Lücke und sorgt Das ist eine Aufgabe, die wir nicht nur als Bund, sondern dafür, dass man als Bewerber für Mandate die Anschrift auch als Länder, als Kommunen und – das ist richtig – seines Hauptwohnsitzes nicht mehr offenlegen muss. Ich auch als Zivilgesellschaft haben. Von dieser Aufgabe bitte Sie um Zustimmung. Ich denke, das dürfte im Sinne kann sich keiner von uns frei machen. aller Bürger unseres Landes sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vielen Dank. ordneten der SPD) (B) (D) (Beifall bei der AfD) Und wir erleben, dass Gedanken des Hasses zu Worten des Hasses werden. Aus Worten des Hasses werden schlimme und schlimmste Straftaten. Hier müssen wir Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mit den Möglichkeiten unseres Strafrechts und der Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/ Rechtsordnung insgesamt unmissverständlich klarma- CSU. chen, wo wir die Grenze ziehen. Deswegen haben wir beispielsweise personell die notwendigen Voraussetzun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen geschaffen, übrigens nicht nur beim Bundeskriminal- Thorsten Frei (CDU/CSU): amt und beim Verfassungsschutz, sondern mit dem Pakt für den Rechtsstaat zwischen Bund und Ländern auch im Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Bereich der Justiz, der Richter und Staatsanwälte. Es ist ist in der Tat ein starkes Zeichen dieses Hauses, dass wir natürlich zwingend notwendig, dass wir hier Gesetze nicht nur in der letzten Woche über das schreckliche Ver- nicht nur verabschieden, sondern dass sie am Ende auch brechen in Hanau diskutiert haben, sondern dass wir auch durchgesetzt werden. Nur dann ist der Rechtsstaat glaub- gemeinsam als Koalitionsfraktionen – SPD, CDU und würdig. Dafür haben wir die Voraussetzungen geschaf- CSU – heute diesen Gesetzentwurf zur Bekämpfung des fen. Rechtsextremismus und der Hasskriminalität einbringen. Natürlich ist es richtig, dass die Dinge, die wir in (Beifall der Abg. [CDU/ diesem Artikelgesetz zusammengefasst haben, für alle CSU]) Phänomenbereiche des Extremismus und des Terroris- Wir haben derzeit vier Sicherheitsgesetze auf dem mus gelten. Aber es stimmt eben tatsächlich – Sie, liebe Tisch liegen. Ich will nur ein Beispiel nennen. Der Bun- Frau Vogt, haben es gesagt –: Die größte Bedrohung desinnenminister hat im März 2019 einen Ressortentwurf unseres Staates, unseres Landes geht vom Rechtsextre- für ein Verfassungsschutzgesetz vorgelegt. Auch hier will mismus und vom Rechtsterrorismus aus. Deswegen ist es ich nur einen Punkt herausgreifen, nämlich die Einbezie- richtig, das auch in der Überschrift dieses Gesetzes zu hung von Einzeltätern in die Beobachtung durch den Ver- adressieren. fassungsschutz. Hier müssen wir die Hürden absenken. Die Beispiele von Halle und Hanau zeigen, dass Radika- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lisierungsverläufe ruhig und introvertiert vonstattenge- ordneten der SPD) hen. Wir müssen dafür sorgen, dass der Verfassungs- Rechtsextremisten hassen. Sie hassen unsere freiheit- schutz auch die Informationen besorgen kann, die wir lich-demokratische Grundordnung. Sie hassen unsere of- von ihm verlangen. Das ist unsere Pflicht. Deswegen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18935

Thorsten Frei (A) sollten wir alles dafür tun, dass dieses Gesetz durch das und Hanau wieder zur Tagesordnung übergegangen sind. (C) Hohe Haus bis zur Sommerpause verabschiedet ist. Deswegen gilt neben der Debatte über das materielle Recht auch ein ganz wichtiges Augenmerk der tatsäch- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lichen Durchsetzung des Rechts, deswegen braucht es ordneten der SPD) nach diesen Taten nach wie vor einen Sicherheitsdialog Zum Gesetz, über das wir heute sprechen, sind viele mit den Menschen, die sich besonders bedroht fühlen. richtige Punkte genannt worden. Ich finde es richtig, dass Das sind in erster Linie die Juden und Muslime in wir die geltende Rechtslage, dass antisemitische Motive Deutschland. Wir brauchen einen Sicherheitsdialog mit bei Straftaten besonders strafschärfend berücksichtigt diesen Gruppen. Es darf uns nie wieder passieren, dass werden, noch einmal klarstellen. Es ist auch eine Antwort die Sicherheitsbehörden, dass die Politik und dass die darauf, dass in Deutschland die Zahl antisemitischer Mitte der Gesellschaft unterschätzen, was solche Taten Straftaten seit 2013 um 40 Prozent gestiegen ist. Dem bei diesen Gruppen auslösen, meine Damen und Herren. müssen wir etwas entgegensetzen. (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie Wir haben darüber hinaus die Beleidigungstatbestände bei Abgeordneten der SPD und des Abg. im Bereich der Kommunalpolitiker neu geordnet, damit Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]) die Qualifikation von übler Nachrede und Verleumdung Der zentrale Gegenstand des heute vorliegenden Ge- auch für Kommunalpolitiker gilt. Ich unterstütze, Herr setzentwurfes der Koalition ist eine Meldepflicht für Staatsminister Eisenreich, mit unserer Fraktion ausdrück- Straftaten, die in den sozialen Netzwerken begangen wer- lich den sehr guten Bundesratsvorschlag des Freistaats den. Wir sind skeptisch, ob eine solche Meldepflicht der Bayern, im Bereich der Beleidigungstatbestände weiter richtige Weg ist; denn es mangelt in der Praxis nicht an zu nachzuschärfen, aber vor allen Dingen auch, dieses alt- wenigen Anzeigen, es mangelt an zu wenig Richtern und ehrwürdige Gesetz in diesem Bereich systematisch wie- Staatsanwälten, um diese zu bearbeiten. der in eine gute Ordnung zu bringen. Es sind gute Vor- schläge. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir es (Beifall bei der FDP) schaffen, das auch in diesem Gesetzgebungsverfahren noch einmal klarzustellen und deutlich zu machen. Es ist kein Wunder, wenn Tweets ausgedruckt, abgeheftet und mit dem Aktenwagen durch die Gegend geschoben (Beifall bei der CDU/CSU) werden, dass diese Verfahren länger dauern als notwen- Im Bereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes geht dig und dass Dinge gar nicht mehr zur Anzeige kommen. es darum, dass wir das, was im analogen Bereich selbst- Deswegen ist es schön, lieber Kollege Frei, dass Sie verständlich strafbar ist, auch im digitalen Bereich straf- (B) den Pakt für den Rechtsstaat erwähnen. Aber es nützt (D) bar machen. Es ist mir vollkommen klar, dass es mit der nichts, nur zusätzliche Stellen zu schaffen; diese Stellen Ausleitungsverpflichtung allein nicht getan ist, sondern müssen auch besetzt werden. Erst dann kommen wir da- dass wir darüber hinaus schauen müssen, dass die Justiz zu, dass die bestehenden Gesetze angewandt werden und in den Ländern auch in die Lage versetzt wird, diese dass das Vollzugsdefizit beseitigt wird. Das gilt für den Herausforderung zu bewältigen. Wenn man davon aus- Bereich der Justiz. Das gilt aber auch für den gesamten geht, dass beim Bundeskriminalamt zusätzlich 250 000 Bereich der inneren Sicherheit. Wir als Parlament haben bis 300 000 Hass-Postings auflaufen und sich daraus etwa im Bereich des Bundeskriminalamtes und im Bereich des 150 000 Ermittlungsverfahren ergeben, dann ergibt sich Bundesamtes für Verfassungsschutz neue Stellen ausge- daraus bei den Ländern ein finanzieller Aufwand von wiesen, auch mit Unterstützung der Freien Demokraten. etwa 40 Millionen Euro. Es ist unsere gemeinsame Ver- Wenn ich aber sehe, dass wir – Stand Anfang des Jahres – pflichtung, dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz nicht nur knapp 500 offene Haftbefehle im Bereich des Rechts- schön auf dem Papier steht, sondern dass es am Ende extremismus haben, dann stelle ich fest: Wir haben hier auch mit Leben erfüllt wird. ein Vollzugsdefizit. Das muss dringend angegangen wer- Herzlichen Dank. den, wenn wir dieser Gefahr Herr werden wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. ordneten der SPD) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich bin Ihnen, lieber Kollege Frei, auch dankbar – ich Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: habe es ehrlicherweise gehofft –, dass Sie das Thema Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Konstantin „Verfassungsschutzgesetz und Bundespolizeigesetz“ an- Kuhle, FDP. sprechen. Wir werden es nicht mitmachen, dass man nach solchen Taten wie in Hanau, in Halle oder wie der Ermor- (Beifall bei der FDP) dung Walter Lübckes die Aufregung in der Gesellschaft nutzt, um den Souverän mit Bürgerrechtseinschränkun- Konstantin Kuhle (FDP): gen zu überrumpeln. Der Souverän muss überzeugt wer- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir spre- den von Eingriffen in die Bürgerrechte, aber nicht nach chen heute über die Themen „Rechtsterrorismus“ und solchen Taten überrumpelt werden. Es hätte nichts, rein „Hasskriminalität“. Natürlich hängt beides miteinander gar nichts gebracht, bei einem Täter, der dem Verfas- zusammen und muss gemeinsam diskutiert werden. Wäh- sungsschutz nicht bekannt war, eine Quellen-TKÜ oder rend wir das tun – das muss ich schon sagen –, beküm- eine Onlinedurchsuchung wie in Hanau zu machen. Das mert es mich, wie schnell wir nach den Taten von Halle gehört auch zur Wahrheit. Deswegen müssen wir das 18936 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Konstantin Kuhle (A) besonnen miteinander besprechen, aber nicht nutzen, um ist eigentlich ein Wahnsinn. Aber es gibt tatsächlich (C) im Schnellverfahren, am besten noch vor der Sommer- Rechtsprechung, die sich an der Stelle nicht so ganz si- pause, die Bürgerrechte einzuschränken. Darauf werden cher war. – Das ist wirklich mehr als überfällig. wir achten. Das muss man sich vielleicht manchmal vergegenwär- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Tabea tigen, auch gerade hier im Bundestag: Das politische Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Leben ist nicht immer so wie hier – mit den schönen blauen Stühlen, den tollen Büros, dem schicken Redner- Eine letzte Bemerkung muss noch gemacht werden. pult und dem Bundesadler hier im Rücken. Die, die unser Wir unterstützen die Ausdehnung des strafrechtlichen demokratisches Zusammenleben, dieses ganze System, Schutzes von Kommunalpolitikern. Auch im Melderecht die Repräsentation bis in die tiefste Ebene erhalten, sind muss es zu Veränderungen kommen. Die Kommunalpoli- am Ende andere. Und da sieht es manchmal anders aus. tiker müssen auch wissen, an wen sie sich wenden kön- Wer schon mal in einer Stadtverordnetenversammlung in nen. Sie wissen teilweise gar nicht, ob sich hinter einer einer Kleinstadt war, der weiß, wie es da abläuft: meis- Drohung eine tatsächliche Gefahr verbirgt. Deswegen tens miefige Verhandlungsräume, fünf Stunden Tages- brauchen wir eine Ombudsstelle. Wir brauchen eine nied- ordnung, 25 Euro Sitzungsgeld, schwierige Themen und rigschwellige Anlaufstelle, damit wir herausfinden kön- im Zuschauerraum die drei, die immer da sitzen. nen, ob sich dahinter tatsächlich eine Gefahr verbirgt, damit sich wieder mehr Menschen in der Kommunalpo- (Heiterkeit des Abg. Uli Grötsch [SPD]) litik engagieren und nicht durch Hass und Hetze davon Und es gibt trotzdem welche, die sich alle drei Wochen da abgehalten werden. hinsetzen und das machen, weil sie es aus Überzeugung Vielen Dank. tun, nicht weil sie dafür irgendwas kriegen oder was wiederbekommen. Wenn es am Ende dazu kommt, dass (Beifall bei der FDP) die, die unser demokratisches Zusammenleben an der Basis aufrechterhalten, irgendwann keine Lust mehr ha- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ben, weil sie bedroht werden, weil sie Hass und Hetze Ingmar Jung, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ausgesetzt sind, dann haben wir was falsch gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und der Abg. Britta Haßelmann Ingmar Jung (CDU/CSU): [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Deswegen ist es richtig, dass wir genau an der Stelle so (B) ren! Ich darf als elfter Redner, wenn ich richtig gezählt deutlich reagieren. (D) habe, vor Ihnen stehen. Ich gebe offen zu: Ich bin vom bisherigen Verlauf der Debatte positiv überrascht. Nach Ich gebe ganz offen zu: Natürlich gibt es in dem Ge- den Zuschriften, die ich in den letzten Tagen zu diesem setzentwurf noch ein, zwei Dinge, bei denen man genauer Gesetzentwurf bekommen habe, die teilweise außeror- hinschauen muss. Wir haben eben von Herrn Kuhle die dentlich kritisch waren, in denen vorgeworfen wurde: Frage der Meldepflicht gehört. Lassen Sie uns im Ver- „Ihr wollt die Meinungsfreiheit einschränken“, „Ihr wollt fahren darüber reden, ob man das anders gestalten kann. als Staat zensieren“, „Ihr wollt als Staat klarmachen, dass Lassen Sie uns darüber reden, wie wir denn auf andere nur eure Meinung gesagt werden darf“, bin ich über- Weise die Straftaten tatsächlich in die Verfolgung krie- rascht, wie breit der Konsens in diesem Hause ist und gen. Dann brauchen wir aber auch eine bessere Lösung. dass dieser Laden an wichtigen Stellen zusammenhält Ich gebe auch zu: Bei dem einen oder anderen mate- und wir wissen, dass wir gemeinsam etwas tun müssen. riellen Straftatbestand habe ich zumindest einen gewissen Aufklärungsbedarf. Was ist denn eine Billigung von Meine Damen und Herren, man kann eines nicht be- Straftaten nach § 140 StGB am Ende genau? Ist es der streiten – wir haben einige Beispiele gehört; nehmen Sie Klick auf den Like-Button, oder muss ich dafür noch was nur den Fall um Walter Lübcke oder das, was wir in anderes tun? Oder: Wann erfüllt man denn jetzt den neuen Hanau und Halle erlebt haben –: Es mögen Taten sein, Bedrohungstatbestand im Bereich der Gefährdung der bei denen kein innerer Zusammenhang besteht, aber alle körperlichen Unversehrtheit oder von bedeutenden Sach- diese Taten eint doch eins: Sie fußen auf einem Funda- werten? Das sind Sachen, da habe ich auch noch die eine ment von Hass, von Hetze, von einem gesellschaftlichen oder andere Frage. Klima, das solche Taten erst möglich macht. Da sind wir gefragt. Wir müssen gemeinsam agieren. Ich bin positiv (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- überrascht und erfreut, wie groß der Zusammenhalt in NEN]: Das ist gut, dass Sie da Fragen haben!) diesem Hause ist und dass wir dieses Thema gemeinsam angehen. Herzlichen Dank dafür. Aber genau dafür ist doch dieses parlamentarische Ver- fahren da. Die Fragen können wir dort gemeinsam klären. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wir werden mit Sicherheit zu einer guten Lösung kom- ordneten der SPD) men. Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der aus mei- Wenn Sie die Verfolgung ansprechen, dann muss ich ner Sicht besonders wichtig ist. Wir haben ihn schon, ein- sagen: Es ist ein wichtiges Signal, dass Herr Staatsminis- , zweimal gehört. Dass wir jetzt gesetzlich klarstellen, ter Eisenreich bis eben da war und der Debatte nicht nur dass wir mit „Politik“ auch die Kommunalpolitik meinen, gefolgt ist, sondern auch als Landesminister klargemacht Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18937

Ingmar Jung (A) hat, dass wir hier nicht in die üblichen Mechanismen (Beifall bei der SPD) (C) zwischen Bund und Ländern zurückfallen dürfen, wie Dieses Gesetz ist ein Nulltoleranzgesetz gegen rechts. es so oft bei diesen Fragen geschieht, und durch seine Anwesenheit und seine Rede hier dokumentiert hat, dass Löschen war gestern, liebe Kolleginnen und Kollegen. es eine gemeinsame Aufgabe ist und wir da hoffentlich Künftig sind Facebook, Twitter und YouTube verpflich- nicht in die klassischen Bund-Länder-Diskussionen ver- tet, diese widerlichen Neonazi-Postings und Mord- und fallen werden, sondern es gemeinsam angehen wollen, Vergewaltigungsdrohungen dem Bundeskriminalamt zu weil es alle so sehen und die Unterstützung der Länder melden. Hier werden 300 Beamtinnen und Beamte in da ist. Das ist eine wichtige Sache. der Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität die gemeldeten Posts prüfen und gegebenenfalls an die Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab- Staatsanwaltschaften weiterleiten. Denn Morddrohung schluss noch eines sagen, weil mich die Zuschriften, die ist eben Morddrohung, egal ob in der analogen Welt oder ich dazu kriege, massiv ärgern: Es heißt da, wir wollten in der digitalen Welt. Deshalb wird das künftig auch hier zensieren und die Meinungsfreiheit und Ähnliches gleich behandelt. Das Internet ist kein straffreier Raum. einschränken, immer unter dem Stichwort: Man wird doch wohl noch mal was sagen dürfen. – Wissen Sie, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten was das Besondere an diesem Rechtsstaat ist? Man darf der CDU/CSU) hier wirklich jeden Unsinn sagen; das sollten sich einige mal gelegentlich vergegenwärtigen. Nur, eine Grenze ist Dieses Gesetz zeigt auch, dass wir als Staat schnell und da zu ziehen, wo man andere bedroht, wo man andere konsequent handlungsfähig sind. einschüchtert, (Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD]) (Ute Vogt [SPD]: Herabsetzt!) Wir wollen und werden die sozialen Netzwerke nicht sodass die am Ende vielleicht nicht mehr bereit sind, sich rechten Trollen überlassen, weil sich sonst normale Nut- zu engagieren und was zu tun. Da ist die Meinungsfrei- zer womöglich aus Angst zurückziehen. heit bedroht – so und nicht umgekehrt, meine Damen und Wir erleben eine beispiellose Spirale von Hass und Herren. Ich bin froh, dass der Konsens im Haus offenbar Gewalt in einem durch Rechte vergifteten Klima. Jeden so groß ist, und freue mich auf die Beratungen. Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen – jeden Tag! –, gibt Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. es zwei rechte Gewalttaten in Deutschland. Wir werden bei der Präventionsarbeit und der Deradikalisierung von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Rechten besser werden und mehr Geld in die Hand (B) neten der FDP und des Abg. nehmen müssen. Denn wie aus Worten Taten werden, (D) [Erfurt] [SPD]) mussten wir alle beim durch einen Rechtsterroristen er- mordeten Kasseler Regierungspräsidenten erfahren. Ich Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wünschte mir, wir hätten schon damals einen besseren Schutz von Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpo- Nächster Redner ist der Kollege Uli Grötsch, SPD. litikern gegen Diffamierungen und Anfeindungen gehabt. (Beifall bei der SPD) So etwas – da sind wir uns alle einig – darf nie wieder passieren. Das sind wir auch Herrn Dr. Lübcke schuldig. Uli Grötsch (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Kollegen! Ich möchte aus einer aktuellen Morddrohung NISSES 90/DIE GRÜNEN) gegen unsere SPD-Vorsitzende zitieren. „Das Todesschwadron88“ schreibt: Für die einen – das sei am Ende gesagt – ist das Gesetz nicht gut genug, für die anderen gibt es datenschutzrecht- Mit einem schönen scharfen Beil werden wir Dir ein liche Probleme bei der Passwortherausgabe an die Sicher- Hakenkreuz in Dein Gesicht schneiden. Deine Lip- heitsbehörden. Ich sage Ihnen: Es ist fünf vor zwölf. pen werden wir dir auch entfernen … (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich würde den Briefkasten vor deiner Tür abbauen NEN]: Gut, dass Sie es merken!) lassen. Nicht dass sich dort eine Rohrbombe wieder- findet … Und wenn sich herausstellt, dass an der einen oder ande- ren Stelle sinnvoll nachjustiert werden muss, dann lassen Auch Deine Angestellten im Abgeordnetenbüro ste- Sie uns darüber reden. Dafür bringen wir das Gesetz hen auf unserer Liste. heute in den Bundestag ein, und dafür gibt es das parla- mentarische Verfahren. Auch ich und viele Kolleginnen und Kollegen hier im Saal kennen solche Morddrohungen. Mehr als zwei Drit- Am Ende möchte ich sagen: Ich bin Bundesjustizmi- tel aller von der Polizei registrierten Hasskommentare nisterin und allen, die an diesem sind rechtsextremistisch. Unser Gesetz zur Bekämpfung Gesetz beteiligt waren, sehr dankbar, dass sie das Gesetz des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, das wir so schnell erarbeitet und so klar formuliert haben. Ich hier heute beraten, soll diesen Spuk beenden. Denn wer bitte Sie alle um Unterstützung für ein zügiges Verfahren, im Netz künftig hetzt und droht, wird härter bestraft und wegen nichts Geringerem als dem Schutz unserer frei- effektiver verfolgt. heitlichen Demokratie. 18938 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Uli Grötsch (A) Vielen Dank. Meldesystem, ein Kernstück des Regierungsentwurfs. (C) § 3a Absatz 4 Nummer 2 NetzDG-Entwurf sieht für die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Übermittlung der Anbieter unter anderem vor, die IP- der CDU/CSU und des Abg. Dr. Jürgen Adressen einschließlich der Portnummern, die der Nutzer Martens [FDP]) verwendet hat, an das BKA zu übermitteln. Diese Daten sind herauszugeben, bevor überhaupt das Vorliegen eines Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Anfangsverdachts von einer Strafverfolgungs- oder Poli- Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der zeibehörde geprüft wurde. Ich denke, diese Regelung Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU. müssen wir im Gesetzgebungsverfahren sehr kritisch durchleuchten. Der Vorschlag des Bundesdatenschutz- (Beifall bei der CDU/CSU) beauftragten, dass die Plattform die IP-Adressen einfriert und nur deren Inhalt erst einmal weiterleitet und erst nach Tankred Schipanski (CDU/CSU): Feststellung eines Anfangsverdachts die IP-Adresse an Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Las- die Ermittlungsbehörden bzw. Strafverfolgungsbehörden sen Sie mich zum Schluss der Debatte die digitalpoliti- weiterleitet, ist dringend zu prüfen. sche Sichtweise auf diesen Gesetzentwurf aufzeigen. Der Ein weiterer berechtigter Kritikpunkt ist die unklare Gesetzentwurf dient auch der Anpassung des sogenann- Formulierung mit Blick auf die Löschverpflichtung auf- ten Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, eines Gesetzes, das seiten des BKA. Ich verweise hier auf die unzureichenden die Große Koalition 2017 auf den Weg gebracht hat. Wir Ausführungen auf Seite 16 der Gesetzesbegründung so- haben im Koalitionsvertrag verabredet, dass wir dieses wie wiederum auf die Stellungnahme des Bundesdaten- Gesetz evaluieren und dann novellieren. Nunmehr erfolgt schutzbeauftragten. Fraglich ist, wie das BKA mit den eine erste Anpassung. Die zweite Novelle liegt bereits als Meldungen der Anbieter eigentlich weiter verfahren soll. Referentenentwurf vor. Ich zitiere mit der Erlaubnis des Präsidenten aus der Stel- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in mehreren lungnahme des Bundesdatenschutzbeauftragten: Fachgesprächen mit den vom Netzwerkdurchsetzungsge- Das BKA könnte auf der einen Seite nur kurz prü- setz betroffenen Akteuren den Reformbedarf beim soge- fen, welche Landesbehörde zuständig ist, den Sach- nannten NetzDG herausgearbeitet und aufgezeigt, in wel- verhalt an das Land abgeben und gleichzeitig die chen Punkten wir dieses Gesetz nachbessern müssen. Daten aus dem eigenen Bestand löschen. Auf der Daraus haben wir ein Positionspapier entwickelt. Die Ge- anderen Seite könnte das BKA die Daten aber nach setzentwürfe, die vorliegen, müssen sich daran messen … § 18 Abs. 3 BKAG … lassen. Das heißt natürlich auch, dass wir die sozialen (B) Netzwerke mit Augenmaß regulieren. – als Prüffall – (D) Es bleibt festzuhalten, dass das NetzDG wirkt, dass das in das Informationssystem eingeben und Querver- befürchtete Overblocking nicht stattfindet und dass die bindungen suchen. Systematik dieses Gesetzes vielen anderen Ländern als Vorbild dient, um Hasskriminalität und Verletzungen des Das zeigt, dass eine Klarstellung der Löschungsver- allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu bekämpfen. Wich- pflichtung explizit im Gesetz erfolgen muss. tig ist – das möchte ich noch mal betonen –: Das NetzDG Meine Damen und Herren, ich habe für die Unions- begründet keine neue Strafbarkeit, sondern es befördert fraktion noch offene Punkte angesprochen. Lassen Sie die Rechtsdurchsetzung. mich zum Abschluss auf einen Punkt eingehen, der in (Beifall bei der CDU/CSU) der Öffentlichkeit besonders kritisch betrachtet wird: die Passwortherausgabe. Ich möchte ausdrücklich sagen, Meine Damen und Herren, es ist lobend zu erwähnen, dass der Gesetzentwurf für die Passwortherausgabe einen dass in einigen Bundesländern Zentralstellen zur Be- Richtervorbehalt vorsieht. Das ist meines Erachtens auch kämpfung der Internetkriminalität bei den Staatsanwalt- erforderlich und richtig. Es handelt sich um einen schaften gebildet wurden. Es sind Hessen, NRW und schweren Grundrechtseingriff, und wir werden uns über selbstverständlich auch der Freistaat Bayern zu erwäh- die genauen Voraussetzungen der Passwortherausgabe in nen; der Staatsminister hat es bereits ausgeführt. Ein aus- den Beratungen zu verständigen haben. drückliches Lob geht an diese Bundesländer; denn es geht, wie der Name des NetzDG schon ausdrückt, um Sie sehen: Es gibt viele konkrete Punkte, die wir ge- eine bessere Rechtsdurchsetzung, die letztendlich in den meinsam diskutieren wollen. Von daher freue ich mich Zuständigkeitsbereich der Bundesländer fällt. Von daher auf die Beratungen in den Ausschüssen und danke für ist es grundsätzlich zu begrüßen, wenn der Bund im Be- Ihre Aufmerksamkeit. reich der Rechtsdurchsetzung nunmehr mithilfe des BKA (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- unterstützen möchte. Es ist jedoch zu beachten, dass sich ordneten der SPD) diese Hilfe in das bestehende System der Strafverfolgung einfügt. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Der Branchenverband Bitkom wie auch der Bundesbe- Damit schließe ich die Aussprache. auftragte für den Datenschutz und die Informationsfrei- heit legen bei ihren Stellungnahmen zu diesem Gesetz- Zu den Tagesordnungspunkten 7 a bis 7 c sowie zum entwurf den Finger in die Wunde. Es geht um das Zusatzpunkt 2 wird interfraktionell die Überweisung der Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18939

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Vorlagen auf den Drucksachen 19/17741, 19/17252, dieser Vorschlag gegen die Stimmen der Fraktion der (C) 19/17770 und 19/17743 an die in der Tagesordnung auf- AfD mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Zusatzpunkt 16. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD: Federfüh- verfahren wir wie vorgeschlagen. rung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Zu den Zusatzpunkten 3, 15 und 16 wird interfraktio- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält nell die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen sich? – Der Vorschlag ist gegen die Stimmen der AfD mit 19/17750, 19/17785 und 19/17784 an die in der Tages- den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Damit lasse ich abstimmen über den Überweisungs- Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder- CDU/CSU und SPD wünschen Federführung jeweils führung beim Ausschuss für Inneres und Heimat. Wer beim Ausschuss für Inneres und Heimat, die Fraktionen stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält der AfD und Bündnis 90/Die Grünen wünschen Feder- sich? – Dann ist dieser Vorschlag gegen die Stimmen führung jeweils beim Ausschuss für Recht und Verbrau- der AfD mit den Stimmen des übrigen Hauses angenom- cherschutz. men. Zusatzpunkt 3. Ich lasse zuerst abstimmen über den Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Federführung beim Ausschuss für Recht und Beratung des Antrags der Abgeordneten Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überwei- Dr. Gottfried Curio, Martin Hess, Dr. Bernd sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Baumann, weiterer Abgeordneter und der Frak- sich? – Dann ist dieser Überweisungsvorschlag gegen die tion der AfD Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen, FDP und AfD – – Grenzen sichern (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Drucksache 19/17780 NEN]: Passt zum Thema! Sehr demokratisch!) Überweisungsvorschlag: – Bitte? Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Auswärtiger Ausschuss (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten NEN]: Ich meine nicht Sie!) beschlossen. – Aber, Frau Kollegin Künast: Wenn ich dabei bin, das (B) Wer an dieser Aussprache nicht teilnehmen will, den (D) Abstimmungsergebnis zu verkünden, dann sollten Sie bitte ich, zügig den Plenarsaal zu verlassen. Diejenigen, nicht gerade in die Feststellung der Mehrheiten hinein- die teilnehmen wollen, bitte ich, Platz zu nehmen. rufen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (Armin-Paulus Hampel [AfD], an Abg. Renate Kollegen Dr. Gottfried Curio, AfD. Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] ge- wandt: Quatsch´ mal nicht dazwischen!) (Beifall bei der AfD) Wenn Sie das bitte berücksichtigen würden. – Also, ich Dr. Gottfried Curio (AfD): versuche mich noch einmal zu erinnern, dass der Über- Sehr geehrter Herr Präsident! In die Augen, in den weisungsvorschlag abgelehnt worden ist mit den Stim- Sinn: Plötzlich bringen die Bilder von der türkischen men der Koalition und der Fraktion Die Linke gegen Grenze das Problem wieder ins Bewusstsein: die perma- die Stimmen der übrigen Fraktionen. nente illegale Migration, die Verweigerung des Grenz- schutzes. Wir erinnern uns: Alle, die europäische Gren- Damit lasse ich nun abstimmen über den Überwei- zen verletzen, kommen vorher über sichere Drittstaaten, sungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: sind beim Grenzübertritt ohne Anspruch auf Schutzauf- Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat. nahme. Schon im Irak und in Afghanistan gibt es Flucht- Wer stimmt für diesen Vorschlag? – Wer stimmt dage- alternativen, und der Krieg in Syrien, wo ein Erdogan ihn gen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieser Vorschlag nicht befeuert, ist längst weitgehend aus. mit den umgekehrten Mehrheiten angenommen. (Beifall bei der AfD) Zusatzpunkt 15. Wir stimmen zunächst ab über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD: Federfüh- 2017 sagte der türkische Außenminister: Heilige Krie- rung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. ge werden bald in Europa beginnen. – Und Erdogan zur Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Das ist EU: Wenn ihr euch weiter so benehmt, wird morgen kein die AfD. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – einziger Europäer irgendwo auf der Welt sicher einen Dann ist dieser Vorschlag gegen die Stimmen der AfD Schritt auf die Straße setzen können. – Jetzt sammeln mit den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt. sie sich aus Idlib, dem letzten Widerstandsnest der isla- mistischen Aggression, und es sammeln sich Migranten, Damit kommen wir zum Überweisungsvorschlag der die schon lange in der Türkei leben und sich dort ver- Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Federführung beim sorgen. Alle wollen sich absetzen ins gelobte Land, ins Ausschuss für Inneres und Heimat. Wer stimmt dafür? – Sozialparadies Europa, ins Schlaraffenland Deutschland. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist Vor Ort befragt, erzählen sie: Ihr Ziel ist schlicht, hier 18940 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Dr. Gottfried Curio (A) besser zu leben. – Fluchtursachen bekämpfen? Die schneidern. Wollen wir diese gewalttätigen Leute hier (C) Fluchtursache heißt Deutschland: opulentes Sozialsystem haben? bei laxen Asylbedingungen. Und wer will wieder am besten alle reinholen? Die Grünen, mit denen die Union (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Oh Gott! – demnächst dieses Land lenken will. Schwarz-Grün, das Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Widerwärtig!) Wort „Gruselkabinett“ bekommt da eine ganz neue Be- Kein Durchwinken, dieses Mal Griechenland unterstüt- deutung. zen, die Türkei raus aus Syrien, Wiederaufbau beginnen, klare Signale an unseren Grenzen: Illegale Migration (Beifall bei der AfD) zahlt sich nicht aus. – Und wenn die jetzt so lautstarke Nur da, wo jetzt die Migrationsbewegung wieder op- Migration an der EU-Grenze zu verhindern ist, dann bitte tisch sichtbar wird: da gibt man sich mal zugeknöpft – vor so was auch nicht heimlich, still und leise täglich an der einer bayerischen Kommunalwahl. Aber gleichzeitig deutschen Grenze. Wenn 13 000 an der griechischen schreibt man genau diese Politik im Koalitionsvertrag Grenze schlimm sind – und sie sind schlimm –, dann bitte fest, wo man 200 000 Illegale pro Jahr erwartet. Was für auch keine 13 000 an der deutschen Grenze, und das ein verlogener doppelter Standard! Auf einmal ist man jeden Monat. sehr wohl bereit, auch robusten Grenzschutz gutzuhei- Bleiben Sie gesund. ßen, während gleichzeitig die deutsche Grenze wegen angeblicher Unzumutbarkeit solcher Bilder widerrecht- (Beifall bei der AfD) lich ungeschützt bleibt. Wo es dem Bürger ins Auge fällt, gibt man sich hart; wo er es nicht sieht, ist Polen offen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Was für ein verlogener doppelter Standard, was für eine Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Armin unehrliche Politik! Schuster, CDU/CSU. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Türkei forciert den Syrien-Krieg, fördert islamis- tische Kämpfer. Sie hat die Flüchtlingsströme mit hervor- Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): gerufen, für die wir zahlen sollen. Deutschland lässt sich Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- von Erdogan am Gängelband führen, wird zum Spielball ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mit fremder Interessen. Der deutsche Steuerzahler darf Mil- Corona, Börsenabsturz, Türkei/Syrien – was soll ich alles liarden blechen für Merkels Weigerung, die eigenen aufzählen? – nun wirklich schwere Zeiten, krisenhafte Grenzen zu sichern. Billiger wäre: effektiver Zeiten. Welche Antwort hat die AfD? Sicherung der (B) Grenzschutz, nur Sachleistungen, schnellere Abschie- Grenzen. (D) bungen. Das nähme Deutschland seine falsche Anzie- (Beifall bei der AfD) hungskraft. Das hielte Wirtschaftsmigranten von der Rei- se ab. Kollegen, Ihre inhaltliche Hilflosigkeit erzeugt eigentlich bloß noch Mitleid. Das Beste, was wir tun können, ist, (Beifall bei der AfD) Ihren Antrag aus Mitleid abzulehnen. ( [CDU/CSU]: Bloß kein Mit- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: leid! – Norbert Kleinwächter [AfD]: Werden Herr Kollege Curio, erlauben Sie eine Zwischenfra- Sie mal nicht emotional!) ge? – Keine Zwischenfrage? Meine Damen und Herren – vor allem Sie auf den Tribünen und an den Fernsehschirmen –, es gibt Hoff- Dr. Gottfried Curio (AfD): nung in diesen ganzen Krisen. Die Union regiert seit Nein. – Niemand von denen steckt irgendwo fest. Sie 14 Jahren dieses Land. Ich habe das Gefühl, wir managen alle können zurück in ihre Heimatregion. Und auch geh- permanent Krisen, und das mit großem Erfolg. olfen wird vor Ort hundertmal effektiver. Und wen immer wir von den Inseln holen: Neue Kinder werden vorge- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Sie sind die schickt, neuer Familiennachzug schon geplant. Warum Krise! Seit 14 Jahren!) gibt es da wohl überhaupt unbegleitete Kinder? Wer hat Egal was in den letzten 14 Jahren passiert ist, Deutsch- sie wofür dahingelotst? Unsere Regierung fällt Griechen- land ging aus diesen Krisen immer stärker hervor. land in den Rücken, erzeugt per Abnahme neuen Migra- tionsdruck. Wir machen wieder den Tugendweltmeister, (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der andere dürfen den bösen Grenzschützer geben. Wir sa- AfD – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Märchen- gen: Familienzusammenführung ja, aber richtig: Die Kin- stunde!) der, missbraucht als Quartiermacher – für die Tränendrü- Ja, die europäische Außengrenze steht unter Stress, senbilder –, zurück zu ihren Familien, in ihre heimische aber sie steht. Kultur, zu ihren Verwandten. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Sie wackelt!) (Beifall bei der AfD) Und dass sie steht, liegt daran, dass Deutschland eine Jetzt rennen sie gegen die Grenze an, mit Steinen und klare Haltung hat. Die ist in den letzten Wochen von Brandflaschen, mit Tränengasgranaten und Bolzen- Bundesminister Seehofer ganz klar formuliert worden, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18941

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) auch von der Unionsfraktion: Wir stehen hinter den Grie- gebenenfalls nicht so agieren werden, wie wir das schon (C) chen. getan haben, damit Frankreich, damit Spanien, damit Dä- nemark, damit die Beneluxstaaten kapieren: (Lachen bei Abgeordneten der AfD) Ich möchte die Griechen mal loben für das, was sie da (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Die Dänen ha- tun. ben das schon längst kapiert!) Die Deutschen lösen es für uns nicht mehr; wir müssen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der uns mit ihnen arrangieren, und das Zauberwort heißt „Ge- SPD und der AfD – Zuruf von der AfD: Wir meinsames Europäisches Asylsystem“. stehen hinter den Griechen!) Die neue griechische Regierung verfolgt eine andere Po- Wir machen flexible, lageangepasste Schwerpunkt- litik, und das spürt man. kontrollen auf der Grenzlinie schon seit November. Über 400 Zurückweisungen von Menschen mit Aufenthalts- Was wir tun – das werden Sie heute und wahrschein- oder Einreiseverbot sind eine klare Sprache. Wir haben lich auch in den nächsten Jahren nicht verstehen –, ist ein Asylzahlen, die relativ normal sind, nur gering über dem, Fächer von Maßnahmen: Vor-Ort-Hilfen für Griechen- was Deutschland sonst hat. Bitte, außer dem ganz großen land, ob Bundespolizei, THW, Frontex, Hilfsgüter. Es Kaliber gibt es auch noch das feine Florett, geht um Kinder, ja, und das Kontingent, das wir jetzt vorsehen, ist ein europäisches. Und genau das ist das (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Mit Steckna- Signal, das Deutschland erzeugen wollte: deln erreicht man nichts!) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das erzeugen und wenn man alles richtig macht, dann erreicht man mit die Griechen! Deutschland ermöglicht gar einer Politik der Mitte das, was wir gerade erreichen: nichts!) hohe Aufgriffszahlen, Asylzahlen, die fallen. Kein Alleingang, keine deutsche Initiative; wir wollen, ( [AfD]: Die fallen nicht, die dass Europa funktioniert. – Und das ist ein Erfolg. Wir steigen!) haben es geschafft; vielleicht werden es zwei Handvoll Meine Damen und Herren, ich will noch einen Satz zu Länder sein. Corona sagen. Ich komme aus einer Region, in der jetzt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) viele nach Grenzschließungen rufen – übrigens ein Wort, das auch im Parlament inflationär oft gebraucht wird. Ich Ja, wir haben auch Erdogan gegenüber eine klare Hal- darf Sie mal daran erinnern, dass Grenzschließungen (B) tung gezeigt. Nordkorea macht, vielleicht auch Trump. (D) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Donnerwetter!) (Stephan Brandner [AfD]: Wir bauen einen Es wird eine Fortsetzung dieses Abkommens geben. Aber Graben um den Bundestag!) Erdogan hat eine klare Sprache. Jetzt sage ich mal ans Das kann nicht die Methode sein, die wir jetzt aus dem ganze Haus: Alle Fraktionen haben Innenpolitiker und Köcher holen, auch nicht bei Corona. Ich setze mich, Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Es lieber Herr Staatssekretär, seit Montag intensiv dafür wäre wichtig, sich künftig, ehe man emotionalisiert – das ein, dass wir die Grenzkontrollen zu den Hochrisiko- haben viele getan –, bei den Fachpolitikern zu informie- gebieten an der deutsch-österreichischen, deutsch- ren: Was für Bilder sind das eigentlich wirklich, die da schweizerischen und deutsch-französischen Grenze in- gezeigt werden? Und wie viel Choreografie steckt dahin- tensivieren, ja, auch mit Coronabezug. ter? Dann könnte man viel cooler an manche Dinge he- rangehen. (Stephan Brandner [AfD]: Und konkret heißt Das Gemeinsame Europäische Asylsystem: Großes das was? Was heißt das konkret?) Lob an den Bundesinnenminister. Wir geben nicht nach; Aber das gesamte Land oder gar Europa lahmzulegen, die wir wollen dieses Europäische Asylsystem – für mich Börsen auf Talfahrt zu schicken, indem ich Grenzen überhaupt die Lösung aller Probleme. Auch bezüglich schließe, das fiele mir angesichts der momentanen Lage der deutschen Grenze ist die Sprache der Unionsfraktion nicht ein. Ich bin der festen Überzeugung: Intensive und des Bundesinnenministers vollkommen kompro- Grenzkontrollen, ja; aber bitte nicht Grenzen schließen. misslos: Sollte die Außengrenze nicht halten, dann wird Der Kollateralschaden wäre immens. es an der deutschen Binnengrenze ein bestimmtes Re- gime geben, Letzte Bemerkung. kümmert sich um die wirtschaftlichen Folgen. macht einen (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Hört! Hört! – Bombenjob als Krisenmanager Gesundheit. [AfD]: So ein Quatsch! Hören Sie auf, zu lügen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP) und das wird in jedem Fall auch Zurückweisungen bedeu- ten. Diese Aussage mache ich aber nicht in Richtung ist seit einem Dreivierteljahr fast nur noch Flüchtlinge. Diese Aussage mache ich in erster Linie an mit dem Thema befasst, um das es in dem Antrag geht; er unsere europäischen Partner. Wir müssen ein klares Sig- hat damit viel, viel früher als die meisten hier im Haus nal senden, dass wir an der deutschen Binnengrenze ge- angefangen. Auch er hat die Lage im Griff. 18942 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) (Stephan Brandner [AfD]: Merkel müssen Sie tere Migranten auf den Weg nach Europa machen und (C) auch noch loben! Die haben Sie vergessen!) Tausende dabei ihr Leben riskieren und verlieren. – wissen Sie, wo sie herkommt? - (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aus Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD] und Niedersachsen!) Dr. [AfD] – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Gut erkannt!) ist an Klarheit im Moment nicht zu überbieten. Und, meine Damen und Herren, nur weil nicht Wir brauchen eine Weiterentwicklung des Abkommens jeden Tag jedem hier das Köpfchen streichelt, müssen Sie mit der Türkei, die aber klar macht: Provokationen und nicht unterstellen, dass sie die Fäden nicht in der Hand Aggressionen an der Grenze werden nicht hingenommen. hat. Ich glaube – das besagt ja auch das Wort „Union“ –, Und: Vereinbarungen müssen eingehalten werden. wir stehen in Krisen zusammen, Wer aber glaubt, seine Vorstellungen von ungesteuerter (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Auf dem Par- Migration unseren europäischen Nachbarn aufdrücken zu teitag!) können, der gefährdet wiederum das Projekt Europa; denn für die Naivität, die da von einigen – auch hier im wir werden sie meistern. Das ist auch mein Tipp an die Haus – gepflegt wird, gibt es nicht nur in Warschau und Bevölkerung: Wie die Union in diesen Zeiten zusammen- Budapest, sondern auch in Paris, Madrid, Stockholm und stehen! Amsterdam kein Verständnis. Wir müssen mit den Part- ( [DIE LINKE]: Ja, innerparteilich nern den Kompromiss suchen, die eine gemeinsame eu- vor allem! Ja, klar!) ropäische Migrationspolitik wollen, und wir dürfen die nicht durch Alleingänge aus der Verantwortung entlas- Danke schön. sen, die sich dem noch versperren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Wenn sich 2015 nicht wiederholen darf, wenn dieser Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Satz auch 2020 stimmen soll, dann dürfen wir eben keine Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, deutschen Sonderwege einschlagen. Wir müssen eine Ar- FDP. beitsteilung auch in Europa haben, wo alle für Ordnung (Beifall bei der FDP) und Humanität zuständig sind und wir nicht darauf hof- fen, dass andere uns unangenehme Aufgaben abnehmen. (B) Linda Teuteberg (FDP): (D) Stichwort „Arbeitsteilung“, da lohnt auch ein Blick Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nach Österreich: Die Grünen sind heute schnell dabei, Kollegen! Die Ereignisse, die Bilder, die wir derzeit se- das Wort „Ordnung“ in Überschriften immer wieder zu hen, der Zynismus Präsident Erdogans, der mit dem Le- benutzen. Aber wenn es konkret wird, Vorschläge zur ben, dem Schicksal Tausender Migranten spielt – das ist rechtsstaatlichen Ordnung zu machen und vor allem mit- traurig und erschütternd. Und die Antwort auf diese men- zumachen bei sinnvollen Maßnahmen, dann schlagen sie schenverachtende Provokation kann nicht sein, dass wir, sich in die Büsche. Den Bereich Ordnung kann man nicht Deutschland und Europa, dieser erpresserischen Politik wie in Österreich als koalitionsfreien Raum definieren – nachgeben. Die Antwort muss sein, dass wir endlich die Humanität und Ordnung gehören auch im Handeln zu- notwendigen Konsequenzen ziehen. sammen, liebe Kollegen von den Grünen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Denn die Wahrheit ist auch: Für das, was wir heute er- leben müssen, tragen auch Europa, auch Deutschland, Wir brauchen da einen humanitären Realismus. Das auch die Bundesregierung Verantwortung. Das gilt zum heißt, Flüchtlingen zum Beispiel in Syrien und der Türkei einen außen- und sicherheitspolitisch: Deutschland und schnell und wirksam zu helfen. Das heißt, legale Wege Europa stehen am Seitenrand, während Assad, Putin und für Migration zu schaffen. Es heißt aber gleichzeitig, Erdogan Fakten schaffen. Es gilt aber auch für die Haus- unsere europäischen Partner und gerade Griechenland aufgaben der Bundesregierung in der Innenpolitik und in diesen Tagen konkret und tatkräftig zu unterstützen. beim Gemeinsamen Europäischen Asylsystem. Union Kritik an Griechenland ist angebracht, was die Zustän- und SPD haben es seit 2015 nicht geschafft, in Europa de in den Lagern angeht. Aber beim Schutz der Außen- die notwendigen Reformen anzuschieben, das europä- grenzen, da verdient Griechenland in Wort und Tat unsere ische Asylsystem zu reformieren, Frontex auszubauen Solidarität. und mit einem gewichtigeren Mandat auszustatten. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Spätestens jetzt muss die Bundesregierung endlich mit Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD]) einem neuen Realismus an die Migrationspolitik heran- gehen, und zwar sowohl aus humanitären Gründen als Denn es gibt keinen völkerrechtlichen Anspruch auf ge- auch aus europäischer Verantwortung. Wir dürfen illegale waltsame Grenzdurchbrüche. Wir müssen an einem Migration, wir dürfen die Erpressung Erdogans nicht hin- rechtsstaatlichen wirksamen Außengrenzschutz arbeiten, nehmen oder gar belohnen. Denn hier nachzugeben, wür- gerade wenn wir nicht wollen, dass sich die Frage nach de erst recht dazu führen, dass sich Hunderttausende wei- Zurückweisung an der deutschen Grenze stellt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18943

Linda Teuteberg (A) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (Beifall bei der SPD – Michael Grosse-Brömer (C) AfD) [CDU/CSU]: Im Rahmen einer europäischen Lösung!) Wir wollen Freizügigkeit in Europa. Deshalb brauchen wir einen wirksamen Schutz der Außengrenzen. Lassen Sie uns deshalb an allen Stellen alles dafür tun, damit wir lieber gestern als heute diese Kinder aus dieser (Jan Korte [DIE LINKE]: Mauern bauen!) Misere befreien; denn sie können rein gar nichts dafür, dass sie zum Spielball eines geopolitischen Konfliktes 2020 muss das Jahr werden, in dem wir in Deutschland geworden sind. und in Europa mit einer verantwortungsvollen Migra- tionspolitik endlich Ernst machen – frei von Naivität, Am Ende noch ein Satz zu Ihrem Antrag: Sie bedienen dafür mit Realismus, mit Humanität und Ordnung. naturgemäß, schon wieder, Ihre rechte Klientel: „An- sturm“, „Migrantenströme“, „gefährliche Migranten- Vielen Dank. gruppen“, „Kämpfer“ usw.; das ist blanker Unsinn. (Beifall bei der FDP – Armin-Paulus Hampel (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Sie haben doch [AfD]: Sehr gut!) die Bilder gesehen, haben Sie gerade gesagt!) Frontex verzeichnet weniger unerlaubte Grenzübertritte Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: nach Europa, wir reden von 92 Prozent weniger als zu Uli Grötsch, SPD, hat als Nächster das Wort. Hochzeiten der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 – 92 Prozent weniger! (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der AfD: Alle illegal!) Uli Grötsch (SPD): Auch in Deutschland sinkt die Zahl der unerlaubten Ein- Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und reisen. Wir haben immer weniger Asylanträge zu ver- Kollegen! Erstens. In den hier vorliegenden drei Seiten zeichnen. AfD-Text steht das Wort „illegal“ an sage und schreibe (Beatrix von Storch [AfD]: Wir haben immer 19 Stellen, mehr!) (Beatrix von Storch [AfD]: Ganz richtig!) Aber Fakten interessieren Sie nicht, ich weiß. 19-mal auf drei Seiten, und das im Zusammenhang mit (Beatrix von Storch [AfD]: Jeder ist einer Menschen. Lassen Sie mich deshalb gleich zu Beginn (B) mehr!) (D) meiner Rede in aller Deutlichkeit eines sagen: Menschen sind nicht illegal, Was Sie versuchen, ist einfach nur billig und schäbig, und es gelingt Ihnen auch dieses Mal nicht. (Beatrix von Storch [AfD]: Aber illegal hier!) (Beifall bei der SPD) niemals und nirgendwo auf der Welt. Vor allem ist das, was Sie da schreiben, schlichtweg (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem unwahr. Sie hätten gestern im Innenausschuss aufpassen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beatrix von sollen; da haben Ihnen der Staatssekretär im Bundesin- Storch [AfD]: Die sind illegal hier! – Gegenruf nenministerium und der Vertreter des Auswärtigen Amtes von der SPD: Ruhe!) noch erklärt, dass sich die Situation an der Grenze seit einigen Tagen komplett beruhigt hat, und dass kein ein- Die Bilder der letzten Tage – von wem auch immer sie ziger Asylsuchender auf den griechischen Inseln neu an- erzeugt wurden – von der türkisch-griechischen Grenze gekommen ist, und dass die Türkei wieder das EU-Tür- haben uns alle erschüttert. Wer da nicht Gänsehaut be- kei-Abkommen anwendet und die rückgeführten kommt, wen das kalt lässt, der ist kein Mensch, liebe Migranten aufnimmt. Kolleginnen und Kollegen. Ich sage es Ihnen ganz klar: Ich habe mich nicht an solche Bilder gewöhnt, und ich (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Haben Sie ja will mich nicht an solche menschenunwürdigen Zustände nichts dafür getan!) gewöhnen, wie sie seit einigen Tagen an der türkisch- Wir haben außerdem zehn Beamte vor Ort zur Unterstüt- griechischen Grenze zu sehen sind. zung von Frontex. Auch an der bulgarisch-türkischen Grenze war und ist wieder Ruhe eingekehrt. Warum sollte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frontex also diese Grenze sichern? Die Beamten haben der LINKEN – Martin Hess [AfD]: Das ist Ihre sicherlich Besseres zu tun, als an menschenleeren Grenz- Politik!) übergängen auf einen Migranten zu warten. Deshalb bin ich sehr froh, dass auf Druck der SPD am Was Sie schreiben, ist deshalb einfach Unsinn. Deshalb letzten Wochenende im Koalitionsausschuss beschlossen fordere ich Sie auf, gerade in diesen Zeiten verbal abzu- wurde, dass Deutschland schwerkranke und unbegleitete rüsten – wenn das bei Ihrem Geschäftsmodell überhaupt Kinder – und sehr zum Erschrecken der AfD auch deren möglich ist. Eltern – von den griechischen Inseln und aus dem Grenz- gebiet zwischen Griechenland und der Türkei aufnehmen (Beifall bei der SPD – Beatrix von Storch wird, weil es buchstäblich um Leben und Tod geht. [AfD]: Sie haben aufgerüstet!) 18944 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Uli Grötsch (A) Mein letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte: nach Europa geschafft haben, ohne Prüfung der Flucht- (C) Wir haben immer gesagt: Zur Sicherung eines Europas gründe zurück in die Türkei abschieben. ohne Grenzen gehört ein wirksamer Schutz der europä- ischen Außengrenzen. Wir wollen daher Frontex stärken Dieses Vorgehen der griechischen Regierung ist zu- und zu einer echten, leistungsfähigen Grenzschutzpolizei tiefst inhuman, weil es die Not der betroffenen Men- weiterentwickeln. Richtig verstandener Schutz bedeutet schen, die erst auf Geheiß des türkischen Präsidenten aber nicht das Abriegeln von Grenzen. Wir brauchen Erdogan an die Grenze verbracht wurden, ignoriert und mehr Kontrolle und Ordnung bei der Bekämpfung von sie weiter in die Verzweiflung treibt. Menschenschmugglern und Schleusern. Ein besserer (Beifall bei der LINKEN) Grenzschutz muss mit Partnerschaften mit den Transit- ländern und den Herkunftsstaaten einhergehen, unter an- Das Vorgehen Griechenlands ist zudem eklatant derem über legale Zuwanderungsmöglichkeiten und wirt- rechtswidrig, und die Bundesregierung weiß das ganz schaftliche Hilfen. genau. Ich zitiere aus einer vom Innenministerium erstell- ten Weisung vom 4. März für den Sonderrat der EU für Auch bei mehr Grenzschutz werden Menschen aus Justiz und Inneres. Dort heißt es – Zitat –: Sorge um ihr Leben oder ihre Freiheit berechtigterweise Schutz suchen. Für Verfolgte und Flüchtlinge aus Krisen- Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeits- gebieten muss Europa offen bleiben; denn Asyl ist ein weise der EU stellt aus deutscher Sicht keine Menschenrecht. Rechtsgrundlage für einseitige Maßnahmen der Mit- gliedstaaten dar (hier: Aussetzung der Annahme von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Asylanträgen). Humanitäres Völker- und Unions- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE recht gebietet das Recht auf Asyl. GRÜNEN) Griechenland bricht also EU-Recht. Doch anstatt das öf- Für diese Fälle brauchen wir gemeinsame Anstrengungen fentlich oder wenigstens diplomatisch zu kritisieren, aller, aber mindestens der willigen Mitgliedstaaten der nennt Innenminister Seehofer das Vorgehen Griechen- Europäischen Union. Wir zählen auf das Bundesinnenmi- lands an der Grenze „sehr gut“ und bezeichnet die Aus- nisterium und alle beteiligten Ressorts, dass sie den Koa- setzung des Asylrechts wider besseres Wissen gar als „in litionsbeschluss deshalb zügig umsetzen. Ordnung“. Das ist völlig inakzeptabel. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unsere Forderung als Linke ist ganz eindeutig: Die (B) (D) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: EU-Kommission muss endlich auf die Einhaltung euro- Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn, Die päischer und internationaler Regeln drängen. Die illega- Linke. len Zurückweisungen an der griechischen Grenze müssen sofort gestoppt werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Beatrix von Storch Dr. André Hahn (DIE LINKE): [AfD]: Vor dem illegalen Übertritt!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vor- Mein erkrankter Fraktionskollege , der liegende Antrag der AfD zeigt einmal mehr, wofür diese heute eigentlich auch reden wollte, war gerade vor Ort Partei im Kern steht. und hätte Ihnen mit Sicherheit schlimme Schicksale von dort schildern können. Höchst dramatisch ist nach wie (Beatrix von Storch [AfD]: Grenzschutz, ge- vor auch die Situation auf den griechischen Ägäis-Inseln. nau!) Das Flüchtlingslager Moria war ursprünglich für 3 000 Die AfD steht für Ausgrenzung, Menschen ausgelegt. Derzeit leben dort circa 25 000 Menschen unter unwürdigen Bedingungen – ohne abseh- (Lachen bei Abgeordneten der AfD) bare Perspektive, ohne ausreichenden Zugang zu medi- Abschottung und Rassismus, und nicht nur Die Linke, zinischer Versorgung, zu Lebensmitteln oder zu Strom. In sondern die große Mehrheit in diesem Haus stellt sich einer Reportage der ZDF-Sendung „Frontal 21“ von die- dem entschieden entgegen. ser Woche erklärte eine Frau: „Wir leben hier wie die Tiere. Ach, nicht einmal Tiere leben so wie wir.“ Ich sage: (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Wir dürfen vor diesem Leid nicht länger die Augen ver- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schließen. Fakt ist: An der türkisch-griechischen Grenze spielen sich gegenwärtig dramatische Szenen ab: Familien mit (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- kleinen Kindern werden von der griechischen Polizei NIS 90/DIE GRÜNEN) mit Tränengas und Blendgranaten beschossen. Die Auf Lesbos kontrolliert ein rassistischer Mob Teile der griechische Küstenwache gibt, anstatt zu helfen, Warn- Insel. Schulen und Unterkünfte werden angezündet. schüsse auf Flüchtlingsboote ab und riskiert mit gefähr- Rechtsextreme machen Jagd auf Journalisten und huma- lichen Manövern, dass diese kentern. In einem beispiello- nitäre Helfer. Manche Hilfsorganisationen haben schon sen Vorgang setzt die griechische Regierung das aufgegeben und ihre Mitarbeiter evakuiert. Es sind in- Asylrecht außer Kraft und lässt Schutzsuchende, die es zwischen eine Handvoll Leute, linke Humanisten, die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18945

Dr. André Hahn (A) ehrenamtlich versuchen, auf Lesbos das letzte bisschen menarbeit mit den aufnahmebereiten Kommunen suchen. (C) Menschlichkeit zu wahren. Ein guter Bekannter von mir, Die Zustände auf den Inseln und an der griechischen der dort mithilft, wurde kürzlich von einem achtjährigen Grenze sind unhaltbar. Die Aufnahme der dort Gestran- Jungen gefragt, ob er nicht sein Vater sein wolle. Ich finde deten gebieten das Recht und die Menschlichkeit. das erschütternd. (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der AfD: Ja!) Der Antrag der AfD dagegen ist frei, frei von jeglicher Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Empathie für die Situation der Schutzsuchenden und Nächste Rednerin ist die Kollegin Annalena Baerbock, rückt diese sogar noch pauschal in die Nähe von kriminel- Bündnis 90/Die Grünen. len oder terroristischen Organisationen. Dass die AfD so argumentiert, überrascht mich nicht. Bei anderen erwarte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ich jedoch mehr Sensibilität. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) NEN): Deshalb sage ich auch in Richtung von Frau von der Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Leyen: Fliegen Sie nicht mit dem Hubschrauber über die Kollegen! Dass Sie hier als Rechtsaußen die größte Lehre Grenze und die Flüchtlingslager, sondern informieren Sie aus unserer Geschichte kaputtmachen wollen, Demokra- sich persönlich vor Ort. tie, die allgemeine Verbindlichkeit von Menschenrech- ten, das wissen wir leider alle. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie war doch da!) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Reden Sie kei- Dann werden auch Sie begreifen, dass die Zustände dort nen Quatsch, Frau Baerbock! Reden Sie keinen schlichtweg unhaltbar sind und die EU ihre Strategie Blödsinn!) korrigieren muss. Wir hier gemeinsam im Parlament – das ist der Auftrag (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- unseres Grundgesetzes – wollen genau das Gegenteil: ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was er- Armin-Paulus Hampel [AfD]: Lesen Sie das zählen Sie denn da?) Grundgesetz!) Unsere Position als Linke ist klar: Der sogenannte dieses gemeinsame Europa als Einheit in Vielfalt, als (B) Flüchtlingsdeal war ein schwerer Fehler. Wir dürfen uns (D) Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bewah- von Erdogan weder erpressbar machen noch erpressen ren und schützen. Aber dafür, meine sehr verehrten Da- lassen. Schon deshalb verbietet sich jede Neuauflage oder men und Herren, reicht es in diesen Tagen auch in einer Überarbeitung dieses Abkommens. solchen Debatte nicht, sich selber auf die Schulter zu (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie klopfen und zu sagen: Es ist schon alles gut. – Nichts müssen Ihre Rede noch mal überarbeiten!) ist gut, gerade an der europäischen Außengrenze. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis: Trotz aller, zum Teil Schauen Sie sich die Bilder an – ja, man muss sie sich auch rechtswidriger Bestrebungen, Geflüchtete vom Zu- anschauen –: Nicht nur die griechischen Inseln, sondern gang nach Europa abzuhalten, ist die Hilfsbereitschaft in auch das Wertefundament dieser gemeinsamen Europä- Deutschland weiterhin erfreulich groß. Rund 140 Kom- ischen Union stehen dieser Tage in Flammen. Das Ge- munen in Deutschland haben sich zu sicheren Häfen und waltmonopol des Staates ist ausgesetzt, und zwar auf der damit zur weiteren Aufnahme von Geflüchteten bereit Grundlage dessen, dass Versprechen, die wir als Deut- erklärt. sche, als Europäer zu geordneten Strukturen gegeben ha- ben, nicht eingehalten wurden. Die Zusage von 2016, von (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- den griechischen Inseln immer wieder Kontingente zu NIS 90/DIE GRÜNEN) übernehmen, wurde nicht eingehalten. Das ist Teil dieses Allein die rot-rot-grün regierte Bundeshauptstadt hat ak- Problems der heutigen Tage. tuell 2 000 Plätze angeboten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das passt!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dagegen ist das Geschacher der Großen Koalition um die Journalisten, NGOs, Geflüchtete werden auf Lesbos Anzahl und Aufnahme unbegleiteter Kinder, die von den angegriffen. griechischen Inseln geholt werden sollen, einfach nur unwürdig. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Nein! Nein!) (Beifall bei der LINKEN) Wenn die Polizei angerufen wird, dann wird aufgelegt. „One Happy Family“, ein Familienzentrum, in dem Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht warten, bis Schulbildung, Gesundheitsversorgung geleistet wurde, es irgendwann vielleicht eine europäische Lösung und stand vor Tagen in Flammen. eine Verteilung gibt, die immer wieder gefordert wird. Die Bundesregierung muss jetzt handeln und die Zusam- (Karsten Hilse [AfD]: Wer hat es angezündet?) 18946 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Annalena Baerbock (A) In Moria auf Lesbos leben 20 000 Menschen im Dreck, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C) ausgelegt war das Lager für 3 000 Menschen. Traumati- Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das müssen Sie sierte Kinder spielen zwischen Müllbergen, etliche sind sich anhören, Frau Baerbock!) suizidgefährdet. Eigentlich müsste diese ganze Insel an- gesichts der dortigen Sicherheitslage evakuiert werden. Dieses Urteil macht mehr als deutlich: Schutzbedürftig- keit nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN konvention bedeutet einen effektiven Zugang über Ein- und bei der LINKEN – Zuruf von der AfD: In reisewege. Lesen Sie die Randnummern 201 und 212! Da ihre Heimat!) steht ganz explizit drin: Auch an der europäischen Au- Wir haben daher hier letzte Woche vorgeschlagen, ßengrenze darf es kein Niemandsland und rechtsfreie 5 000 Kinder als deutschen Anteil aufzunehmen, und Räume geben, meine sehr verehrten Damen und Herren. zwar nicht nur aus Gründen der Humanität – alle zitieren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier ja gerne „Humanität und Ordnung“ –, sondern auch sowie bei Abgeordneten der LINKEN) aus Gründen der Sicherheit, der Rechtsstaatlichkeit und der geordneten Strukturen vor Ort. Daher hätte ich von Ihnen als Regierungsfraktion in dieser Debatte erwartet, hätte ich von dieser Bundesre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gierung erwartet, dass sie klar und deutlich macht: Eine Lachen bei Abgeordneten der AfD) komplette Abriegelung der Grenzübergänge, systemati- Humanität und Ordnung: Das ist kein Gegensatz, das sche Push-Backs, Aussetzung des Asylrechts, da sagt bedingt einander. Das sehen wir nicht nur auf Lesbos, man nicht: Da stehen wir in Sympathie daneben, sondern: das sehen wir auch an der griechisch-türkischen Grenze. Das ist nicht vereinbar mit dem Grundsatz der Zurück- Das menschenverachtende Spiel von Herrn Erdogan weisung aus der Genfer Flüchtlingskonvention. funktioniert doch vor allem, weil die EU deswegen in Angst und Schrecken verfällt und weil sie in einer sol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen Situation mit Tränengas und Blendgranaten auf und bei der LINKEN) Männer, Frauen und Kinder schießt. Das ist das Gegenteil Die Europäische Menschenrechtskonvention wird hier von Ordnung. Das ist Chaos, meine sehr verehrten Da- gebrochen. Es ist nicht vereinbar mit der EU-Grund- men und Herren. Das ist ein massiver Verstoß gegen rechtecharta. Grundrechte. Das ist beschämend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Frau Kollegin Baerbock, gestatten Sie eine Zwischen- (B) (D) Ja, ich sage es hier ganz deutlich, weil Sie – auch in frage der Kollegin von Storch? Teilen der Regierungsfraktionen – gerne die intellektuelle Fähigkeit nicht nur von uns Grünen – das können wir Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verkraften –, sondern auch von vielen Menschen in die- NEN): sem Land offensichtlich unterschätzen. Nein. – Und es ist nicht vereinbar mit Ihrer viel zitier- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ten Frontex. Artikel 36 und 43 der Frontex-Verordnung können wir nicht unterschätzen! – Armin- basieren darauf, dass die Europäische Menschenrechts- Paulus Hampel [AfD]: Bei Ihnen können wir konvention eingehalten wird, meine sehr verehrten Da- gar nichts unterschätzen!) men und Herren von der CDU. Niemand sagt: Das heißt offene Grenzen. – Grenzschutz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist wichtig und richtig. Europa ohne Binnengrenzen funk- und bei der LINKEN) tioniert nur mit einer Kontrolle der gemeinsamen Außen- grenze. Ich sage an dieser Stelle auch deutlich: Wer das Recht ignoriert, weil es politisch nicht opportun ist, der verab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – schiedet sich von einem Rechtsstaat und stärkt den Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr Rechtsstaat an dieser Stelle nicht. richtig!) Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wesen einer Grenze, dass es legale Grenzübergänge und bei der LINKEN) gibt. Es wird ja dieser Tage auch vonseiten der Regierung Diese Äußerung hätte ich mir von der EU-Kommissions- hier immer wieder das Urteil des Europäischen Gerichts- präsidentin gewünscht, von Ihnen als Regierungsfraktio- hofs für Menschenrechte zitiert. Bitte lesen Sie das ein- nen gewünscht. mal genau! Wir sind ein Rechtsstaat. Da kann man das Recht nicht auslegen, wie es einem gerade passt. Was sagt der, der heute Artikel 18 der Europäischen Grundrechtecharta aussetzt, wenn morgen Artikel 14 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder Artikel 12 ausgesetzt wird, wenn das Recht auf und bei der LINKEN – Armin-Paulus Hampel Meinungsfreiheit ausgesetzt wird? Wir können den viel [AfD]: Das machen Sie doch permanent in Ih- beschworenen Rechtsstaatsmechanismus der EU in die rer Gutmenschenpolitik!) Tonne treten, meine sehr verehrten Damen und Herren, – Können Sie einmal den Mund halten, meine Güte? wenn wir anfangen, Grundrechte einseitig auszusetzen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18947

Annalena Baerbock (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) und bei der LINKEN) Armin-Paulus Hampel [AfD] – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Sehr schön!) Wir haben zahlreiche Vorschläge gemacht, heute zu handeln. Es reicht nicht, ein neues Asylsystem zu be- Das jüngste Verhalten darf uns aber nicht über eines schwören. Sie müssen im Hier und Heute mit der Türkei hinwegtäuschen: Die Türkei leistet bei der Bewältigung darüber sprechen, dass die Versorgung vor Ort gesichert der Migrationsströme Großartiges. Sie leistet bei der wird, dass wir fixe Kontingente aufnehmen und dass wir Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen einen zu unserem Grundrecht stehen. großen Beitrag, nach Angaben der Vereinten Nationen fast 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge und fast Ich sage an dieser Stelle abschließend auch sehr deut- 330 000 Flüchtlinge aus anderen Ländern. Die Unterstüt- lich: Dieses Wegschauen hat auch dramatische innenpo- zung der EU hat geholfen, dass über 100 Projekte auf den litische Sicherheitsfolgen. Es sind gerade Rechtsextreme Weg gebracht werden konnten: Flüchtlingszentren, auf die Inseln nach Griechenland gefahren. Einer hat auf 180 Schulen wurden neu gebaut, 179 Krankenhäuser Facebook gepostet: Gebt mir ein M60 und ausreichend und Gesundheitszentren sind bereitgestellt, und weitere Munition. Ich werde den ganzen menschlichen Ab- Infrastruktur ist entwickelt. schaum an der Grenze abknallen. Aber trotz erheblicher Eigenleistung der Türkei rei- Liebe Bundesregierung, wie kann es sein, dass Identi- chen die finanziellen Mittel nicht aus, um allen Kindern täre, dass Rechtsextreme in diesen Tagen nach Lesbos Bildung zu ermöglichen, was aufgrund der Perspektiv- ausreisen dürfen? losigkeit natürlich ein großes Maß an Radikalisierungs- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dafür gefahr bedeutet. Hier muss dringend nachgebessert wer- ist die Bundesregierung aber nicht verantwort- den. lich!) Diejenigen, die behaupten, dass das EU-Türkei-Ab- Wir brauchen in diesen Tagen Ausreisesperren für Extre- kommen tot sei, sollten sich vor Augen halten: In letzter misten, die gewaltbereit sind. Konsequenz würden wir alle Flüchtlinge, die sich zurzeit in der Türkei aufhalten, im Stich lassen, und wir würden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – große zusätzliche Migrationsströme in Bewegung setzen. Armin-Paulus Hampel [AfD]: Immer!) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Aber in die an- Das ist unsere Verantwortung als Deutscher Bundestag dere Richtung!) und als deutsche Bundesregierung. Meine Damen und Herren, das jüngste Verhalten der (B) Herzlichen Dank. Türkei hat uns aber auch nochmals deutlich und zum (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wiederholten Male vor Augen geführt, wie schnell sich die Verhältnisse an der EU-Außengrenze ändern können. Wenn man einmal genau hinschaut – ich habe hier heute Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wieder die Begriffe „Schutzsuchende“ und „Flüchtlinge“ Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Detlef Seif, so oft gehört –, handelte es sich nach den vorliegenden CDU/CSU. Erkenntnissen zumindest weit überwiegend bei den 16 000 Menschen vor Ort um Menschen, die in der Tür- (Beifall bei der CDU/CSU) kei bereits Schutz gefunden hatten und versorgt wurden. Es sind keine Flüchtlinge, es sind keine Personen, die Detlef Seif (CDU/CSU): nach dem Geist Europas bei uns Schutz beanspruchen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- sollen. Nennen wir es beim Namen: Es handelt sich ganz ne Damen und Herren! In einem Punkt ist dem vorliegen- überwiegend um Menschen, die ihre Lebenssituation ver- den Antrag natürlich recht zu geben: Das Verhalten der bessern wollen, um Menschen, die Wirtschaftsmigration Türkei ist unzumutbar. betreiben wollen. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU und der AfD – Es ist nicht hinnehmbar, dass die Türkei den Grenzschutz Armin-Paulus Hampel [AfD]: So ist es! Rich- zur griechischen Grenze vorübergehend aussetzte und tig!) aktiv – wir haben Erkenntnisse darüber – an der Verbrin- Das können wir nicht unterstützen. Wir wollen diejenigen gung von Migranten an die türkisch-griechische Grenze unterstützen, die unseren Schutz brauchen und die tat- mitwirkte. Aber nicht akzeptabel ist genauso auch, dass sächlich verfolgt sind. Sie merken nicht, dass Sie durch fortdauernde Beleidigungen und Rhetorik gegenüber das Übermaß verhindern, dass die tatsächlich Verfolgten Griechenland erfolgen, vor allem die Aufforderung an diesen Schutz erhalten. die Griechen, die Migranten ziehen zu lassen; denn sie wollten ja ohnehin nicht in Griechenland bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Sehr gut, Herr Seif!) Herr Erdogan, lassen Sie diese Rhetorik, lassen Sie diese Beleidigungen, diese Bedrohungen und diese nicht Bei den Menschen, die nicht verfolgt sind, wollen wir, hinnehmbaren Maßnahmen, und kommen Sie zurück zu will die Europäische Union entscheiden, wer zu uns einem Verhalten, das wir unter Freunden und Partnern kommt, in Deutschland zum Beispiel nach dem Fach- erwarten dürfen! kräfteeinwanderungsgesetz und nach der Blue-Card- 18948 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Detlef Seif (A) Richtlinie. Wir entscheiden das – und nicht die Men- Hirnrissiger kann die deutsche Politik nicht handeln, mei- (C) schen, die ihre Lebenssituation verbessern wollen. ne Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der AfD – Dr. Konstantin von Notz Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unterkom- NEN]: Das hat nichts mit dem Recht auf Asyl plex!) zu tun!) Es wurde eben zu Recht mehrfach erwähnt: Sie können Die EU-Kommission sollte prüfen und ihr sei dringend das in allen deutschen Sendern sehen. Da werden von den anzuraten, dem positiven Vorschlag der Bundesregie- Journalisten die Migranten interviewt, und sie sagen es rung, dem Konzeptpapier, zu folgen. Denn nur mit einer offen: Keiner sagt, er kommt als Flüchtling. Jeder sagt, er verbindlichen, vollständigen Erfassung, Registrierung, möchte in Deutschland arbeiten, er hätte keine schöne Vorprüfung an den Grenzen und auch Zurückschiebung Ausbildung, man könnte gut wohnen in Deutschland. derjenigen Menschen vor Ort, die erkennbar keinen Nicht einer beruft sich auf den Asylartikel des Grund- Schutzanspruch haben, können wir dem Missbrauch gesetzes. Lernen Sie von den Flüchtlingen und lernen wirksam begegnen. Sie ihre Ziele kennen. Sie selber definieren es so. Dann ist in der Tat zwanghaft für die Bundesregierung, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU) zum einen die Griechen unterstützen müssen und natür- Eigentlich – da werden Sie von der AfD mir jetzt nicht lich zum anderen auch unsere eigenen Grenzen, sollte es zustimmen – ist die Bundesregierung auf einem guten nicht funktionieren, sichern müssen. Weg und macht bereits das, was Sie hier als Kernforde- Allerdings müssen wir sehen, was wir derzeit in Grie- rungen aufstellen. Deutschland wird selbstverständlich chenland leisten. Wir waren dort gewesen. Wir waren in Griechenland weitere, zusätzliche Unterstützungsleistun- Kroatien, wir waren in Bosnien und waren zum Schluss gen zukommen lassen. Der Bundesinnenminister hat mit auf Samos in Griechenland. Da konnten Sie sehen, was seinem Tweet, dass die Grenzen Europas für die Flücht- die Deutschen derzeit leisten, mit einem Boot aus Ros- linge aus der Türkei nicht geöffnet sind und dass das auch tock, deutsche Bundespolizisten, ganz wackere Kerle, die für Deutschland gilt, ein klares und wirkungsvolles Sig- das da gesteuert haben, aber eingeschränkt von all den nal gesendet. Wir wissen, wie groß sich kleine Botschaf- Restriktionen, die sie akzeptieren mussten. Sie haben uns ten in der heutigen Welt entfalten und entwickeln können. genau erklärt, dass von der türkischen Grenze, 1,6 Kilo- Das war genau der richtige Hinweis. meter – das ist knapp eine Seemeile – von den griechi- Bei fortdauernden Mängeln – das hat der Kollege schen Inseln entfernt, die Flüchtlinge herübertransportiert Schuster auch schon gesagt – werden wir natürlich inner- werden, morgens und abends. 40 000 Dollar ist ein Trans- (B) (D) halb Deutschlands, wenn Mängel bei der EU-Außengren- port mit 40 Personen; manchmal sind es auch 70 bis 80, ze bestehen, die Maßnahmen fortführen. Wir wissen, die und dann ist es noch mehr Geld. Die türkischen Behörden Kommission kritisiert das – wir haben Freizügigkeit –; kassieren mit. Das ist die Realität derzeit in der Türkei. aber dennoch geht das klare Signal an die Kommission: Wir unterstützen nicht nur Herrn Erdogan, wir unterstüt- Wir sind auf einem guten Weg, aber wir erwarten, dass zen die Schlepperbanden und Kriminellen mit unserer die EU-Außengrenzen insgesamt wirksam geschützt wer- hinhaltenden Politik. den. (Beifall bei der AfD) Deshalb abschließende Bemerkung: Die Bundesregie- Dann ist es unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, rung leistet gute Arbeit und braucht nun wirklich keine die Griechen viel stärker zu unterstützen: mit Hundert- Unterstützung durch die AfD und Aufrufe. schaften der Bundespolizei, mit Bundesbooten, die dort unten mit den Griechen gemeinsam zum Einsatz kom- Vielen Dank, meine Damen und Herren. men, um diesen Ansturm abzuwehren. (Beifall bei der AfD) Ich kann Ihnen nur eines sagen: Die Griechen sind ein weltoffenes Volk, eine alte Seefahrernation. Die haben Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: uns erzählt: Am Anfang haben sie viele Flüchtlinge auf- Nächster Redner ist der Kollege Armin Hampel, AfD. genommen. Sie kennen das seit ein paar Tausend Jahren; das muss man noch dazusagen. Heute sagen sie: Wir (Beifall bei der AfD) können das nicht mehr. Wir sind völlig überlastet, auf Lesbos, auf Samos und anderswo. – Dann sehen Sie bei Armin-Paulus Hampel (AfD): den Griechen nicht irgendwelche radikalen Gruppen. Es Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- sind die Menschen auf den Inseln, die auf die Straße ren! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Die Bundes- gehen und sagen: Nein, wir wollen diese Migrationsflut regierung, meine Damen und Herren, muss mit dem nicht mehr auf unseren Inseln haben. – Da haben sie Klammerbeutel gepudert sein, überhaupt noch mit Herrn völlig recht, und das müssen wir unterstützen, meine Da- Erdogan zu verhandeln, wenn wir uns die Situation vor- men und Herren. stellen, dass ein türkischer Staatspräsident militärisch und völkerrechtswidrig in einem Nachbarland interve- (Beifall bei der AfD) niert, dadurch einen Flüchtlingsstrom erzeugt und wir Last, not least: Es hat schon einmal ein Land gegeben, diese Flüchtlinge jetzt auch noch mit Milliardenunterstüt- das genau diese Migrationspolitik sehr erfolgreich ver- zung für Herrn Erdogan in Europa aufnehmen sollen. hindert hat. Das ist Australien. Der Slogan lautete: You Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18949

Armin-Paulus Hampel (A) will never make Australia home. – Das hat man im ge- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (C) samten asiatischen Raum verstanden, nachdem man alle Brauchen Sie eine Therapiesitzung, oder was?) zurückgeschickt hat, die einmal versucht haben, an aust- Ich finde, dass diese Art der Auseinandersetzung einem ralischen Gestaden zu landen. Man hat es in den Ländern gemeinschaftlichen Ergebnis nicht zwingend förderlich propagiert. Es wäre eine Aufgabe der deutschen Bot- und zuträglich ist. Das ist meine Wahrnehmung. schaften, die Kunde zu tun, im Nahen Osten, in allen Ländern: You will never make your home. – (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Armin Dann funktioniert das auch, meine Damen und Herren. Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU]) Das wäre die Politik der Bundesregierung. Sie dient durchaus der Selbstprofilierung, aber sie ist ein Danke schön. Bärendienst gegenüber denen in der SPD-Fraktion und auch in der Unionsfraktion, die natürlich inhaltlich mit (Beifall bei der AfD) dieser Frage ringen. Wie sollte es auch anders sein? Jeder in diesem Raum muss in dieser Situation mit sich ringen. Vizepräsident : Es gibt eben nicht die einfache rettende Antwort darauf. Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Helge Lindh. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Jetzt aber zur Grenzziehung in Bezug auf die AfD- Fraktion und ihren Antrag, der ja trunken ist von Formu- Helge Lindh (SPD): lierungen wie „Ansturm“, „Menschenströme“ und in dem Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! systematisch „Flüchtlinge“ durch „illegale Migranten“ Grenzen und damit auch Grenzsetzungen und Grenzöff- ersetzt sind. nungen sind vielleicht die zentralen Fragen dieser Tage. Deshalb erlauben Sie mir, bevor ich eine entsprechende (Armin-Paulus Hampel [AfD]: 19-mal!) Grenzziehung gegenüber der AfD vornehme, kurz noch etwas zu den Ausführungen von Frau Baerbock zu sagen. Man schaue sich einmal den offiziellen AfD-Film zur Zwei Anmerkungen. Vorstellung dieses Antrages „Grenzen sichern“ an. Dann guckt man in die Kommentare: Da findet sich unter an- Erstens. Sie erweckten leicht den Eindruck, dass die derem die Formulierung eines Schreibers namens Stoer- Bundesregierung irgendwie dafür verantwortlich sei, tebekerxyz, der darin deutlich ausführt: Was soll der dass Rechtsextreme aus Deutschland und Europa auf Blödsinn mit den Kindern? Die holen doch sowieso ihre die griechischen Inseln reisen. Ich halte das für ein nicht (B) ganzen Clans nach. Familienzusammenführung für Mus- (D) legitimes Argument, lime heißt nicht nur Ehefrau, Mann und Kinder, sondern Neffen, Nichten, Großeltern usw. – So führt er das aus. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Annalena Das ist eine eindeutige Verlängerung Ihrer Diktion. Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Da hat er voll- zumal beispielsweise auch in Dortmund gerade die Poli- kommen recht!) zei alles tut, um Gruppen daran zu hindern. Wenn jemand Ich fasse zusammen: Die AfD ist mit diesem Antrag der in einen Verantwortungszusammenhang gebracht werden parlamentarische Vorhof von Hasskriminalität. Insofern kann, dann bei Reden wie der von der AfD, wie wir sie ist dieser Antrag auch in einem direkten Zusammenhang gerade gehört haben, und bei solchen Anträgen, wie wir mit unserer vorherigen Debatte zu sehen. sie gerade beraten. Das ist die Kausalkette. (Beifall bei der SPD – Armin-Paulus Hampel (Beifall bei der SPD – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Hat er doch recht, dieser Mann!) [AfD]: Darauf habe ich gewartet!) Dann verweise ich noch auf einen zweiten Kommen- Das Zweite. Sie führten ja aus, was Sie sich von den tar – er ist nicht gelöscht worden –, von Gunfighter. Er Koalitionsfraktionen und von der Regierung gewünscht lautet folgendermaßen – bezogen auf die Ausführungen und erwartet haben, und haben viele richtige humanitäre von Herrn Curio –: Schicken wir doch 30 000 Soldaten und auch rechtliche Forderungen genannt. Ich erinnere nach Griechenland. – Ich zitiere: Knallen Sie das ganze mich gut, wie wir bei dem Thema der Seenotrettung über- Gelumpe ab! Wenn millionenfach illegal die Grenze fraktionell zusammengearbeitet haben, um gegen die Kri- durchbrochen wird, dann rechtfertigt das den Einsatz minalisierung der Seenotrettung anzukämpfen und für von Napalm, Maschinengewehr und Panzern, egal ob einen Verteilungsmechanismus zu arbeiten. Ich hätte Baby, Frau oder feiger Kerl. – So etwas steht unter dem von Ihnen erwartet, dass Sie diese Form der Kollegialität Video zum Antrag der AfD-Fraktion. im Parlament auch in Bezug auf die Situation in Grie- chenland ausüben. Stattdessen verlangt die Grünenfrak- (Zuruf: Widerlich!) tion eine namentliche Abstimmung. Wer jetzt noch als besorgter Bürger diese Partei unter- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: stützt und wählt, der tritt auch in eine Verantwortungsge- Man nennt das „Parlamentarismus“!) meinschaft mit denen, die solche Ausführungen machen. Und nicht nur das: Sie haben dann auch in Schaubildern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kenntlich gemacht, wer wie abgestimmt hat. der CDU/CSU und der LINKEN) 18950 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Helge Lindh (A) Insofern sollten wir ernsthaft eine Gesetzgebung zur Be- Vielen Dank. (C) kämpfung der Untergrabung der Demokratie und der Menschlichkeit innerhalb des Parlaments beraten. (Beifall bei der SPD)

(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Thomas Oppermann: GRÜNEN]: Und was macht jetzt die Bundes- Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der regierung?) FDP der Kollege Benjamin Strasser. Noch Weiteres dazu. Mit dieser Diktion befördern Sie ja geradezu jede Form der Verhetzung auch in diesem (Beifall bei der FDP) Land. Sie beschleunigen all das Denken, was Sie ver- meintlich anprangern wollen. Sie sagen: Grenzen si- Benjamin Strasser (FDP): chern. – Aber Sie wünschen sich doch: Grenzen öffnen. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Und Sie schicken heimlich doch Dankesbriefe an Herrn Kollegen! Meine Kollegin Linda Teuteberg hat in ihrer Erdogan. Denn das ist doch, was Sie wollen: Sie wollen Rede sehr richtig den Zusammenhang zwischen offenen diese Bilder in Griechenland, und Sie wollen Flüchtlinge Grenzen innerhalb Europas und dem Schutz der EU-Au- in diesem Land, damit Sie Ihre Hetzpolitik weiter- ßengrenze herausgestellt. Es ist richtig, dass wir heute betreiben können. noch mal intensiv über dieses Thema diskutieren. (Beifall bei der SPD – Armin-Paulus Hampel Offene Grenzen innerhalb Europas sind eine zentrale [AfD]: Jetzt wird er völlig bekloppt! Holen Sie Errungenschaft der Europäischen Union. Sie sind aber den Arzt!) auch eine zentrale Errungenschaft für meine Generation. Hier in diesem Haus sitzen Kolleginnen und Kollegen Wir aber – das habe ich betont – können es uns nicht wie ich, die mit solchen offenen Grenzen aufgewachsen einfach machen. Wir sind tatsächlich als Koalition nicht sind. Ich mag verstehen, dass alte weiße Männer am rech- der Meinung, dass Freizügigkeit global ist, weil wir glau- ten Rand nicht begreifen wollen, was offene Grenzen für ben, dass Freizügigkeit ein Bürgerrecht ist – bezogen auf die Lebenschancen von Jugendlichen hier in Deutschland Deutschland, auf die EU –, aber kein Menschenrecht. Das bedeuten. Aber dass diese Bundesregierung in den letzten bedeutet aber auch, dass solche Grenzen, wenn wir sie Jahren so zögerlich war bei einer gemeinsamen europä- setzen, durchlässig sein müssen in Bezug auf ein gelten- ischen Strategie, dass sie so zögerlich ist, wenn es um die des Asylrecht und auch durchlässig in Bezug auf Arbeits- Steuerung und Ordnung von Migration geht, und dass sie migration. Das ist genau die Aufgabe. Deshalb können so zögerlich ist, wenn es um den Erhalt offener Binnen- wir nicht dauerhaft akzeptieren und werden auch nicht grenzen geht, das ist für mich wirklich unverständlich. (B) akzeptieren, dass zuerst in Ungarn und jetzt auch in Grie- (D) chenland das Asylrecht außer Kraft gesetzt wird, dass das (Beifall bei der FDP) Verbot kollektiver Ausweisung, dass das Gebot, Asylver- Die Situation, die wir in Griechenland erleben, hängt fahren durchzuführen, und dass Rechtsschutz nicht gel- auch damit zusammen, dass man in den letzten Jahren ten. offensichtlich untätig war, was europäische Lösungen an- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) geht. Schon vor 2015 war klar, dass Dublin III reformbe- dürftig ist. Seit fünf Jahren ist uns klar, dass wir dringend Wenn wir das nicht tun, verkauft Europa in der Tat seine eine gemeinsam abgestimmte europäische Migrations- Seele und sein Gewissen. Genau deswegen arbeiten wir – und Flüchtlingspolitik brauchen. Geschehen ist aber lei- das ist keine triviale Aufgabe – für ein funktionierendes der kaum etwas, und dort, wo etwas geschieht, dauert es Europäisches Asylsystem. Deshalb haben die Regie- mindestens zehn Jahre, bis wir in die Umsetzung kom- rungsfraktionen sich zu einem Aufnahmeprogramm für men. 1 500 Personen entschlossen, das aber nicht die abschlie- ßende Antwort sein kann. Und deshalb ringen wir darum, Lieber Herr Kollege Schuster, Sie haben vorhin auf die dass wir sichere Außengrenzen haben, aber solche, an Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit innerhalb der denen die Menschenrechte gelten, und dass die Binnen- Unionsfraktion rekurriert. Wenn ich noch mal erinnern grenzen in diesem Land offen bleiben. darf: 2018, so viel war da nicht mit Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit, wenn wir gucken, was für einen bizar- (Beifall bei der SPD) ren Streit wir innerhalb der Unionsfraktion erlebt haben, mit einem Innenminister Seehofer, der ja Ihre Fraktions- Herr Schuster sprach von Corona. Wir sind ja alle ge- gemeinschaft verlassen wollte und wenige Monate nach trieben davon. Die AfD schämt sich nicht mal, sogar das Antritt der Bundesregierung diese wieder sprengen woll- Thema Corona in Bezug auf Flüchtlinge zu instrumenta- te wegen einer Handvoll Flüchtlinge an der deutschen lisieren. Aber täuschen wir uns nicht: Die größte Heraus- Binnengrenze. Aber beide haben ja danach betont – so- forderung, der gefährlichste Virus in diesem Land bei wohl die Frau Bundeskanzlerin als auch der Bundesin- allen Bedrohungen, die wir haben, ist nicht Corona. Das nenminister –: Wir wollen in Europa jetzt ein GEAS, wir ist der Virus des Hasses, den solche Anträge und solche wollen jetzt eine Weiterentwicklung von Dublin, wir wol- Reden, wie wir sie gerade gehört haben, verbreiten. Wenn len jetzt den Aufbau einer gemeinsamen Grenzschutz- wir gegen diesen Virus nicht ein Schutzprogramm ent- agentur Frontex. wickeln, dann ist es um Europa geschehen, wegen der Rechtsextremisten in diesem Parlament, in diesem Land Was ist denn in den letzten zwei Jahren passiert, wenn und in vielen anderen europäischen Ländern. wir uns mal Ihre Leistungsbilanz anschauen nach diesem Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18951

Benjamin Strasser (A) Sturm im bayerischen Wasserglas? Fehlanzeige! Ge- hen für mich von diesen Wochen drei zentrale Botschaf- (C) meinsames Europäisches Asylsystem: Fehlanzeige! Dub- ten aus. lin IV: Fehlanzeige! Aufbau Frontex: fast Fehlanzeige! Sie haben sich jetzt darauf verständigt, bis 2027 eine Die erste Botschaft lautet: Auf Europa rollt eben keine volle Mannstärke von 10 000 Kräften zu installieren; neue Flüchtlingswelle zu, und die Grenzen sind eben wir müssen aber in der gleichen Innenausschusssitzung nicht offen. Das hätte die AfD zweifellos gerne gesehen, noch aus Reihen der Unionsfraktion hören, eine Abord- Linke und Grüne auch, zugegebenermaßen aus ganz an- nung von Bundespolizisten in Richtung Frontex sei eine deren Beweggründen. Schwächung der Sicherheit Deutschlands. Das Gegenteil (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ist richtig: Die Abordnung ist eine Stärkung Deutsch- GRÜNEN]: Was ist das denn für ein Niveau- lands. Es ist in unserem Interesse, dass Frontex gestärkt verlust? – Zuruf von der LINKEN: So ein wird. Quatsch!) (Beifall bei der FDP) Die zweite zentrale Botschaft: Europa hat sich nicht Wir erwarten, dass die europäische Ratspräsident- von Präsident Erdogan erpressen lassen. Eine wichtige schaft im Herbst dazu genutzt wird, endlich eine gemein- Botschaft dieser Woche! same europäische Linie zu finden. Die Vorzeichen sind schlecht. Wir haben eine Bundeskanzlerin, die im Jahr Und die dritte Botschaft: Europa verschließt nicht die 2015 unabgestimmt gehandelt hat; das hängt uns bis heu- Augen vor der Not der Menschen und hilft aktuell insbe- te nach. Wir haben an den entscheidenden Stellen im sondere den Kindern. Kanzleramt und im Innenministerium Personen, die jetzt schon angekündigt haben, in einem Jahr gar nicht mehr in Das sind drei ganz zentrale und bedeutsame Botschaf- diesen Positionen sein zu wollen. Unter diesen Bedingun- ten dieser Phase. gen eine Lösung zu erreichen, ist schwierig. Sie haben (Beifall bei der CDU/CSU) uns aber an Ihrer Seite. Es ist dringender denn je. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Leidtragenden Vielen herzlichen Dank. sind die Menschen, die verzweifelt versuchen, nach Eu- (Beifall bei der FDP) ropa zu gelangen. Und wer sind die Schuldigen für diese Entwicklung? Ganz bestimmt nicht die Griechen, ganz bestimmt nicht die Europäische Union und erst recht Vizepräsident Thomas Oppermann: nicht Deutschland. Schuldig ist die perfide Politik der Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Josef (B) türkischen Regierung, die den Zustrom, wie wir gesehen (D) Oster für die Fraktion der CDU/CSU. haben, von Flüchtlingen und Migranten ganz gezielt or- (Beifall bei der CDU/CSU) ganisiert hat. Und ursächlich ist der Krieg in Syrien. Das menschenverachtende Handeln vor allem von Putin und Josef Oster (CDU/CSU): Erdogan führt zu den Zuständen, die wir jetzt in Grie- chenland erleben. Auch diese Verantwortlichkeiten ge- Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen hören zu dieser Debatte dazu, und die unsägliche Rolle und Kollegen! Dieser Antrag bringt für mich vor allem Russlands blendet insbesondere die AfD ja sehr gerne eines zum Ausdruck: Enttäuschung, Enttäuschung der aus. AfD darüber, dass es eben nicht zu einer neuen großen Flüchtlingsbewegung in die Europäische Union gekom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. men ist, und Enttäuschung darüber, dass Griechenland Linda Teuteberg [FDP]) seine Grenze konsequent geschützt hat. Das sind Erfolge, meine sehr geehrten Damen und Herren, die der AfD Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol- nicht gefallen können. legen, die letzten beiden Wochen haben gezeigt, wie wichtig der konsequente Schutz der europäischen Außen- (Beifall bei der CDU/CSU) grenzen ist. Nur wenn der Schutz unserer Außengrenzen Die Zahlen sind eindeutig: Weniger als 100 Menschen wirklich funktioniert, können europäische Werte wie haben in dieser Phase die türkisch-griechische Grenze Asylrecht und Genfer Flüchtlingskonvention eine sinn- illegal überschritten. Die konsequente Haltung Griechen- volle Anwendung finden. Das Thema Migration – davon lands war notwendig, und ich gebe zu: Das hätte ich in bin ich überzeugt – wird mittel- und langfristig die viel- dieser Form den Griechen gar nicht zugetraut. Aber sie leicht größte Herausforderung für Europa sein. Daher ist verdienen dafür unseren Respekt und unseren Dank, eine starke und handlungsfähige Grenzschutzagentur Frontex von immenser Bedeutung für die Zukunft der (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der gesamten Europäischen Union. Frontex muss stark wer- AfD: Und Sie lassen sie allein dabei!) den durch mehr Personal, und Frontex muss handlungs- auch wenn die Bilder uns alle bewegen und teilweise fähig werden durch mehr Befugnisse. Deshalb muss der sicherlich auch erschrocken haben. Nur so war es mög- europäische Grenzschutz – das ist meine Überzeugung – lich, dass Präsident Erdogan schnell eingelenkt hat. bei der kommenden Finanzplanung der Europäischen Union eine ganz herausgehobene Rolle spielen, und dafür Meine Damen und Herren, zu dieser schnellen Beruhi- muss Deutschland sich mit Nachdruck einsetzen. gung der Lage hat ganz maßgeblich die geschlossene Haltung der Europäischen Union beigetragen. Daher ge- (Beifall bei der CDU/CSU) 18952 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Josef Oster (A) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die beste Grenz- das –: Es gibt 55 Lkws mit Hilfsgütern – Zelte, Betten –, (C) sicherung aber ist für mich ein Gemeinsames Europä- einen großen Einsatz des THW, von Polizeibeamten aus isches Asylsystem mit klaren Regeln und schnellen Ver- Bund und Ländern, von Zollbeamten, von Polizeibooten fahren. und demnächst wahrscheinlich von Helikoptern. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gut, GRÜNEN]: Dann mal los! Machen Sie es!) dass das mal jemand gesagt hat!) Dann wird der Druck illegaler Migration nachlassen, und Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Bilder wie die der vergangenen Wochen bleiben uns hof- zeigt vor allem auch eines: Es ist keineswegs so, dass fentlich erspart. Wenn Asylsystem und Grenzschutz eu- die einzige humanitäre Lösung immer nur darin besteht, ropäisch funktionieren, dann kann sich die EU auch wie- Menschen nach Deutschland zu lassen der mehr auf andere Schwerpunkte konzentrieren. Dazu gehört für mich eine noch stärkere humanitäre Hilfe in (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den Krisengebieten vor Ort, und dazu gehört für mich Hat doch keiner behauptet! Das ist Quatsch, auch eine viel aktivere Außen- und Sicherheitspolitik. was Sie da erzählen! – Annalena Baerbock Unser wichtigstes Ziel muss es doch sein, humanitäre [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Legale We- Katastrophen wie jetzt in Syrien gar nicht erst entstehen ge“ nennt man das!) zu lassen. oder, so wie Sie es am liebsten hätten, auch noch nach Vielen Dank. Deutschland zu holen! (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Zum Antrag der AfD nur mit einigen knappen Worten. Vizepräsident Thomas Oppermann: Sie wollen, dass wir der türkischen Regierung unmissver- ständlich klarmachen, dass wir die Grenzöffnung verur- Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die teilen. Sie wollen, dass die Bundesregierung klarmacht, Fraktion der CDU/CSU der Kollege Michael Kuffer. dass ab sofort keine illegale Einwanderung über die Bun- (Beifall bei der CDU/CSU) desgrenze mehr zugelassen wird. Was soll ich dazu sa- gen? Die Bundeskanzlerin hat sich Anfang der Woche Michael Kuffer (CDU/CSU): klar geäußert, hat das Verhalten der Türkei als inakzepta- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! bel verurteilt und hat über den Außenminister Herrn Meine Damen und Herren von der AfD, es ist für Ihr Erdogan ausrichten lassen, dass er mit unserem Wider- (B) politisches Hauptgeschäftsmodell, nämlich der Pflege stand rechnen könne. Die Kanzlerin hat bei dem Treffen (D) von Empörung, natürlich irgendwie blöd, aber ich glaube, mit Ministerpräsident Mitsotakis nochmals ausdrücklich Sie merken selber, dass es zu Empörung heute einfach den Schutz der Außengrenze betont. Der Regierungsspre- keinen Anlass gibt. cher hat am 2. März – auch an die Adresse potenzieller Migrantinnen und Migranten gerichtet – in die Welt hi- Die richtige Lösung besteht darin, zwischen Hilfe in naus gesagt, der Weg in die EU sei nicht offen. der Not und illegaler Migration sauber zu trennen und dies möglichst an der EU-Außengrenze zu klären. Genau (Zurufe von der AfD) das passiert aktuell. Griechenland hat bereits 37 000 ille- Jetzt wollen Sie auch noch – so schreiben Sie –, dass gale Grenzübertritte verhindert. Die EU-Innenminister durch Erklärung der Bundeskanzlerin klargemacht wer- haben die Linie letzte Woche noch einmal sehr klar for- den solle, „dass ab sofort keine illegale Einwanderung“ muliert – ich zitiere –: „Illegale Grenzübertritte werden mehr zugelassen werde. Das „ab sofort“ können Sie strei- nicht toleriert.“ Es werden „alle nötigen Maßnahmen“ chen. Illegale Einwanderung wird nicht zugelassen. Da ergriffen, um die EU-Grenzen zu schützen. Richtig ist brauchen wir nicht nur die Erklärungen der Bundesregie- auch, dass wir uns innerhalb der EU nicht mehr auseinan- rung und der Bundeskanzlerin zu zitieren, die hier keinen derdividieren lassen. Genau das passiert aktuell ebenfalls. Interpretationsspielraum lassen, sondern eine noch deut- Deutschland handelt in enger Abstimmung mit den euro- lichere Sprache sprechen die ergriffenen Maßnahmen der päischen Partnern. Die EU vertritt in dieser Frage ge- letzten zwei Jahre und deren Erfolge. schlossen eine Position. Damit sind auch Ihre restlichen Fragen beantwortet. Und dies führt, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Wir haben die Binnengrenzkontrollen vorübergehend einem weiteren wichtigen Punkt, der unser aktuelles Vor- wieder eingeführt und erhalten sie aufrecht. Wir haben gehen kennzeichnet. Und ich sage ganz deutlich – das die Möglichkeit der Zurückweisung im Transitverfahren schreiben wir auch unserem Rumpelstilzchen am Bospo- eingeführt und werden auf dieses Instrument rekurrieren, rus ins Stammbuch –: Wir werden diesem Versuch, die wenn sich die Notwendigkeit dazu ergibt. Das ist genau EU und Deutschland zu erpressen, nicht nachgeben. das, was Sie postulieren. Das ist aber bereits alles herge- stellt. Wir haben im Dezember die Grenzkontrollen auf (Beifall bei der CDU/CSU) alle Luft-, Land- und Seegrenzen ausgeweitet. Auf dieser Es ist weiterhin richtig, Griechenland in einer gemein- Basis wurden bereits in wenigen Wochen über 1 000 Zu- samen europäischen Anstrengung mit allen Mitteln zu rückweisungen ausgesprochen. Nebenbei gab es noch unterstützen. Auch hier zeigt sich Deutschland vorbild- sogenannten Beifang, indem Personen festgenommen lich – ich muss das jetzt nicht alles vorbeten; Sie wissen werden konnten, zu denen offene Haftbefehle und der- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18953

Michael Kuffer (A) gleichen vorlagen. Wir haben eine Reihe von effektiven seres Engagements bei der Militärmission UNAMID. Ich (C) Instrumenten eingeführt, die sozusagen als Back-up zum möchte den Blick noch einmal zurücklenken auf deren Schutz der EU-Außengrenzen national greifen werden. Beginn. Als 2007 der Sicherheitsrat der Vereinten Natio- nen und die Afrikanische Union gemeinsam beschlossen (Beifall bei der CDU/CSU) haben, diese Mission auf den Weg zu bringen, waren wir Sie wissen vielleicht, dass eine sagenumwobene Partei schockiert von den Bildern aus Darfur, von den grausa- aus Bayern daran nicht ganz unmaßgeblich beteiligt men Auseinandersetzungen, vom Leiden der Zivilbevöl- war, wenn ich das an dieser Stelle sagen darf. kerung. UNAMID war die Antwort darauf, dieses Leiden zu beenden. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Ich möchte zum Schluss – und damit komme ich zum Ich danke allen, die sich dort eingesetzt haben. Sie haben Ende – noch einen Punkt ansprechen, den Sie in Ziffer 4 unsere Unterstützung verdient. Sie haben dafür gesorgt, Ihres Antrags nur andeuten, aber Gott sei Dank nicht dass in den vergangenen Jahren viele, viele Menschen- aussprechen. Bei den 1 000 bis 1 500 Kindern, die sich leben gerettet werden konnten. Deutschland zusammen mit anderen europäischen Part- nern bereit erklärt hat aufzunehmen, handelt es sich um (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kinder, die entweder wegen einer schweren Erkrankung der CDU/CSU) dringend behandlungsbedürftig sind oder unbegleitet und Inzwischen hat im vergangenen Jahr im eine jünger als 14 Jahre alt sind, die meisten davon Mädchen. friedliche Revolution stattgefunden. Die Menschen sind Es geht um 1 000 Kinder! Wir haben in Deutschland auf die Straße gegangen und haben den Diktator verjagt, 11 000 Gemeinden. Was das bedeutet, können Sie sich eine zivile Übergangsregierung ist in Verantwortung. ausrechnen. Deshalb sage ich Ihnen zum Schluss: Die Diese Übergangsregierung hat uns gebeten, dieses Man- Grenze muss hart sein – und das wird sie auch –, aber dat fortzusetzen, aber gleichzeitig auch, das Mandat neu das Herz nicht! zu verhandeln. Dazu gibt es im Moment intensive Ge- Vielen Dank. spräche. Mir ist ganz wichtig, dass die Fortführung des Mandats – es wird ein eher politisch ausgestaltetes Man- (Beifall bei der CDU/CSU) dat sein – zu zwei Dingen einen Beitrag leistet: Das eine ist die Absicherung des innersudanesischen Friedens- Vizepräsident Thomas Oppermann: prozesses, eine der Prioritäten der neuen Regierung. Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht Das andere ist die Unterstützung des politischen und ge- vor. Ich schließe deshalb die Aussprache. sellschaftlichen Transformationsprozesses im Sudan. Beides muss das neue Mandat leisten. Dazu braucht es Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (B) auch die deutsche Unterstützung. (D) Drucksache 19/17780 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Weitere Überwei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sungsvorschläge sehe ich nicht. Dann verfahren wir wie der CDU/CSU) vorgeschlagen. Wie fragil die Situation im Sudan ist, hat sich in den Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 9: letzten Tagen noch einmal gezeigt, als es einen Anschlag auf Premierminister Hamdok gegeben hat. Er ist bei die- – Beratung der Beschlussempfehlung und des sem Anschlag zum Glück nicht verletzt worden. Aber es Berichts des Auswärtigen Ausschusses war ein Signal, dass dieser politische Prozess, dieser Ver- (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesre- änderungsprozess unsere Unterstützung braucht. Wir ha- gierung ben hier schon häufiger darüber diskutiert, dass Frieden und gesellschaftliche Stabilität ganz viel mit Entwick- Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter lung, mit den Lebenschancen der Menschen zu tun haben. deutscher Streitkräfte an dem Hybriden Deshalb war es richtig, dass wir hier im Bundestag im Einsatz der Afrikanischen Union und der letzten Monat den Antrag beschlossen haben, die offiziel- Vereinten Nationen in Darfur (UNAMID) le Entwicklungszusammenarbeit mit Sudan wieder auf- Drucksachen 19/17033, 19/17636 zunehmen; denn es geht nicht nur um die militärische Absicherung von Friedensprozessen, sondern auch um – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- die ökonomische Unterstützung und die Verbesserung schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung der konkreten Lebenssituation. Drucksache 19/17591 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- der CDU/CSU) schlossen. In solchen Umbruchsphasen ist es aber auch wichtig, Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die Frak- dass die politische Kommunikation funktioniert. Deshalb tion der SPD ist der Kollege Christoph Matschie. will ich an dieser Stelle sagen: Ich bin sehr dankbar, dass Deutschland hier sehr klare Signale gesetzt hat. Heiko (Beifall bei der SPD) Maas war der erste europäische Außenminister, der un- mittelbar nach der friedlichen Revolution und nach dem Christoph Matschie (SPD): Amtsantritt der neuen Regierung im Sudan war und Un- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir terstützung signalisiert hat. Bundesentwicklungsminister diskutieren heute abschließend über die Fortsetzung un- Müller war inzwischen im Land. Vor zwei Wochen war 18954 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Christoph Matschie (A) Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Khartum Schutzauftrag zu erfüllen, noch konnte sie den Zugang zu (C) und hat deutlich gemacht, dass Deutschland diesen Pro- monetärer Hilfe gewährleisten. Nicht einmal das Doku- zess unterstützt. Ich finde das gut; das möchte ich aus- mentieren von Verbrechen war möglich. drücklich sagen. Die Verringerung der Stärke der bis dahin größten und (Beifall bei der SPD) teuersten Mission im Jahr 2018 sowie deren geplantes Ende in diesem Jahr waren folglich ein Eingeständnis Am Ende ist es wichtig, dass wir bei den positiven der Realitäten vor Ort. Aus diesem Blickwinkel gesehen Entwicklungen, die wir auf unserem Nachbarkontinent ist das Urteil des ehemaligen Stellvertretenden Gemein- Afrika sehen – sei es im Sudan oder in Äthiopien –, nicht samen Sonderbeauftragten verständlich. Aber gilt es auch am Rand stehen und abwarten, ob es gut ausgehen wird, heute noch? Ich glaube, es herrscht hier weitgehende sondern dass wir unsere Möglichkeiten nutzen, diese Einigkeit, dass nun ein hoffnungsvoller Prozess begon- Demokratisierungsprozesse, diese gesellschaftlichen nen wurde. Es besteht Vertrauen in die Bereitschaft der Veränderungsprozesse mit aller Kraft zu unterstützen. neuen Regierung des Sudan, der Mission nicht mehr im UNAMID ist ein Baustein im Rahmen dieser Unterstüt- Wege zu stehen, Unterstützung anzunehmen und ein de- zung. Deshalb stimmt die SPD der Verlängerung dieses mokratisches, säkulares politisches Gemeinwesen auf- Mandats zu. bauen zu wollen. Wir sind bereit, die bisher funktion- Herzlichen Dank. ierende Kooperation zwischen Übergangsregierung und Souveränitätsrat zu unterstützen, um den demokratischen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Übergang im Sudan zu begleiten. Eine Sache möchte ich aber nicht unerwähnt lassen: Vizepräsident Thomas Oppermann: Immer wieder wird betont, wie wichtig die Schaffung Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der von Stabilität im Sudan für die Region insgesamt ist. AfD der Kollege Gerold Otten. Im Fokus steht dabei die Migrationspolitik. In der ersten (Beifall bei der AfD) Beratung haben zwei Redner dasjenige aufgegriffen, wo- rauf ich schon im Jahr 2018 hingewiesen hatte: dass Gerold Otten (AfD): Deutschland nämlich der einzige Staat Europas ist, der Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- sich innerhalb der Strukturen von UNAMID engagiert. gen! Die Hybride Mission der Vereinten Nationen und Was von Ihnen besonders lobend erwähnt wird, ist in der Afrikanischen Union in Darfur ist für die Bundeswehr meinen Augen ein Armutszeugnis für die EU und die eher eine Kleinstmission. Gegenwärtig erfüllen drei Offi- allseits betonte deutsch-französische Partnerschaft. (B) ziere und ein Unteroffizier, darunter eine Soldatin, den Meine Damen und Herren, es ist nicht die Verantwor- (D) Auftrag, der ihnen mit dem aktuellen Mandat übertragen tung Deutschlands, sich alle Not der Welt auf die wurde. Sie erfüllen in den Strukturen von UNAMID Füh- Schultern zu laden. Das Diktum grenzenloser Verantwor- rungs-, Beobachtungs- und Unterstützungsaufgaben. tung ist grenzenlos verantwortungslos gegenüber den Am 15. Februar meinte der ehemalige Stellvertretende Menschen in unserem Land. Das gilt nicht nur für dieses Gemeinsame Sonderbeauftragte von UNAMID, Peter Mandat. Schumann, in einem Interview mit der Deutschen Welle – Wenn das Schicksal des Sudan angeblich so wichtig ist ich zitiere –: für die Stabilität der Region und für eine Beendigung der Es gibt keinen Grund, die Mission einen Tag länger Migrationsproblematik, dann ist auch mehr Engagement laufen zu lassen. Sie hat in den vergangenen Jahren unserer Nachbarn gefragt, insbesondere vonseiten Frank- keinen einzigen Übergriff gegen die Zivilbevölke- reichs. Setzen Sie sich dafür ein! Sonst könnte leicht der rung behindert. Eindruck entstehen, Frankreich interessiere sich nur für die Sahelzone, sofern rein französische Interessen in de- Das ist ein vernichtendes Urteil, noch dazu von jeman- ren früheren Kolonien betroffen sind. dem, der weiß, wovon er spricht. Noch vernichtender ist die folgende Aussage: Selbst der Sturz al-Baschirs habe, Noch sind das Land und die Region Darfur nicht be- so Schumann, daran nichts geändert. Er resümierte: „Das friedet. Selbst wenn ein umfassender Friedensvertrag ab- Regime ist weg. Dann muss auch diese Mission weg.“ geschlossen wird, ist es ein langer Weg zu stabilen politi- schen und ökonomischen Verhältnissen. Um dies zu (Beifall bei Abgeordneten der AfD) erreichen, braucht es Beharrungsvermögen, ökonomische In der Tat: UNAMID hatte den Auftrag, bei der Um- Weitsicht und militärische Begleitung. Daher werden wir setzung des Friedensabkommens von Mai 2006 zu hel- der Verlängerung des Mandats zustimmen. fen. Außerdem sollte UNAMID Schutzaufgaben erfüllen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. und humanitäre Aufgaben und Maßnahmen unterstützen, damit Flüchtlinge sicher in ihre Heimatregionen zurück- (Beifall bei der AfD) kehren können. UNAMID konnte die Gewalt und die Massaker aber nicht beenden. Schlimmer noch: Das al- Vizepräsident Thomas Oppermann: Baschir-Regime hatte UNAMID den Zugang zu Orten Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der und Regionen wiederholt verwehrt, wollte beispielsweise CDU/CSU der Kollege Dr. Andreas Nick. den Funkverkehr mithören und verweigerte Überflug- rechte. Dadurch war die Mission weder imstande, ihren (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18955

(A) Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zentrum unserer (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! UN- Politik muss auch künftig die Beilegung des Konflikts AMID ist eine gemeinsame Mission der Vereinten Natio- zwischen der Regierung und den bewaffneten Gruppen nen und der Afrikanischen Union. Sie hat den Auftrag, in Darfur und darüber hinaus stehen. Nur so können wir die Zivilbevölkerung in Darfur zu schützen, humanitäre einem Wiederaufflammen des Konflikts nach dem Ende Hilfe zu gewährleisten und zwischen den Konfliktpar- der Mission UNAMID vorbeugen. Dazu ist die heutige teien im Sudan zu vermitteln. Seit 2012 beteiligt sich Mandatsverlängerung ein wichtiger Schritt. Die CDU/ Deutschland daran mit Führungs-, Verbindungs-, Bera- CSU-Fraktion stimmt der Verlängerung des Mandates tungs- und Unterstützungsaufgaben und Hilfe bei techni- daher zu. scher Ausrüstung und Ausbildung. Unser herzlicher Dank gilt unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Einsatz vor Ort unter durchaus schwierigen Rahmenbe- ordneten der SPD) dingungen. Vizepräsident Thomas Oppermann: (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort für die Frak- Dr. Daniela De Ridder [SPD]) tion der FDP der Kollege Christian Sauter. Unsere heutige Entscheidung erfolgt zu einem kriti- schen Zeitpunkt für den Sudan. Knapp ein Jahr nach (Beifall bei der FDP) dem Sturz des langjährigen Diktators Omar al-Baschir, der Übernahme der politischen Kontrolle durch den Sou- Christian Sauter (FDP): veränen Rat und die zivil-technokratische Regierung un- Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- ter Premierminister Hamdok stehen zwei Ziele im Vor- gen! Die Bundeswehr beteiligt sich infolge der Mandate dergrund: die Überwindung der wirtschaftlichen und derzeit mit mehreren Tausend Soldaten an internationalen institutionellen Krise und der Abschluss der Friedensver- Einsätzen. Wenn in der öffentlichen Debatte über die handlungen mit den bewaffneten Gruppierungen in der Auslandseinsätze der Bundeswehr gesprochen wird, ste- Region Darfur. hen häufig die truppenstarken Einsätze wie die in Mali und Afghanistan im Vordergrund. Doch wenngleich die- Unser deutsches und europäisches Interesse ist dabei sen Einsätzen mehr Aufmerksamkeit zuteilwird, schmä- deutlich: Wir wollen zu einer nachhaltigen Stabilisierung lert dies nicht den Wert der zahlenmäßig kleineren Betei- in Darfur beitragen und die demokratische Transition im ligungen. gesamten Sudan begleiten und unterstützen. Mit unserer heutigen Entscheidung übernehmen wir konkret Verant- UNAMID ist einer dieser kleinen Auslandseinsätze der (B) wortung, indem wir den Vereinten Nationen durch die Bundeswehr. Bei UNAMID sind derzeit eine Soldatin (D) Bereitstellung von Personal auch Planungssicherheit für und drei Soldaten für Deutschland im Rahmen dieser ein Folgemandat geben. Mission im Sudan im Einsatz, im Hauptquartier in Zalin- gei und im rückwärtigen al-Faschir. Die Reduzierung der Denn wie der Sudan selbst befindet sich auch die Mis- Obergrenze von 50 auf 20 im Mandatstext ist deshalb sion UNAMID derzeit in einer entscheidenden Umbruch- folgerichtig. phase. Bis zum 31. März will der UN-Sicherheitsrat über eine weitere Verkleinerung sowie eine Folgemission mit Dennoch leisten diese Experten dort eine wichtige Un- politischem Schwerpunkt entscheiden. Diesen Übergang terstützung, hier vor allen Dingen die Wahrnehmung von gestalten wir als verantwortungsbewusstes Mitglied des Führungs-, Verbindungs- und Unterstützungsaufgaben in UN-Sicherheitsrates mit. Dort hat Deutschland gemein- den Führungsstäben sowie Hilfestellung in Technik und sam mit Großbritannien die Federführung für das Dossier Ausbildung für andere Nationen und der UN im Bedarfs- Sudan inne. fall. Das sind wichtige Aufgaben, die in hervorragender Weise durch die Soldatinnen und Soldaten vor Ort ge- Eine Folgemission muss drei Zielen gerecht werden: leistet werden und wurden. An dieser Stelle unser aller den Transitionsprozess zur Demokratie begleiten, zur Dank dafür! Konsolidierung des Friedensprozesses in Darfur beitra- gen, aber auch dort, wo es in Darfur weiterhin notwendig (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ist, den Schutz von Zivilisten gewährleisten. Letzteres Mit Masse sind an diesem UN-Einsatz jedoch mit der- wird nach heutigem Stand wohl eher eine polizeiliche zeit mehreren Tausend beteiligten Kräften vor allem die als eine rein militärische Aufgabe sein. afrikanischen Nachbarstaaten beteiligt. Deutschland ist Meine Damen und Herren, der Sudan bleibt einer der jedoch das einzige europäische Land – das ist eben schon ärmsten Staaten der Welt. Zugleich ist er aber das viert- deutlich geworden –, welches sich an UNAMID militä- größte Aufnahmeland von Geflüchteten weltweit. Auch risch beteiligt. Unser Einsatz hat deswegen auch eine deshalb ist der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von europäische Bedeutung. Im Sudan wird das geschätzt. UNAMID in den vernetzten Ansatz eingebettet. Mit dem Umso positiver ist es, dass nach 13 Jahren UN-Frie- Beschluss des Bundestages vom 13. Februar haben wir densmission in der jüngeren Vergangenheit Erfolge in die Bundesregierung aufgefordert, die bilaterale Ent- Darfur erzielt werden konnten, auch durch friedliche Pro- wicklungszusammenarbeit mit dem Sudan wiederaufzu- teste der Bevölkerung. nehmen. Das BMZ und das Auswärtige Amt sind nun gefordert, gemeinsam Konzepte und Strategien für die Neben den Friedensgesprächen in Katar, an deren Er- Umsetzung dieser Entscheidung zu entwickeln. möglichung Deutschland beteiligt war, ist vor allen Din- 18956 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Christian Sauter (A) gen die beschlossene Auslieferung des ehemaligen Dik- Errungenschaften dieser Revolution zurückdrängen. Eine (C) tators al-Baschir an den Gerichtshof in Den Haag ein Außenpolitik, die das nicht klar und deutlich sieht, droht deutliches Zeichen in die richtige Richtung. die alten Kräfte zu stärken. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Unser Anspruch sollte es deswegen auch in Zukunft Und das passt gewissermaßen auch ins Bild. Zur Wahr- sein, diesen Friedensprozess vor Ort zu unterstützen; heit gehört: In den letzten Jahren vor seinem Sturz ist denn es liegt auch im deutschen Interesse, den Sudan in Diktator al-Baschir vom Feind zum Partner des Westens seiner geografischen Lage angesichts der Migrationsbe- geworden. EU und Bundesregierung haben Zigmillionen wegungen zu stabilisieren. Euro lockergemacht, damit das sudanesische Regime das dreckige Geschäft der Flüchtlingsabwehr für sie verrich- Die Ablösung der UNAMID-Mission durch eine tet. Damit muss Schluss sein. Nachfolgemission wird derzeit vorbereitet und ist folge- richtig. Die verkürzte Mandatsverlängerung um neun (Beifall bei der LINKEN) Monate statt, wie üblich, um zwölf Monate wird hoffent- Es gibt einiges zu tun, um die zivilen Kräfte im Sudan lich ausreichend sein, um einen geordneten Übergang zu zu unterstützen. Wir fordern die Bundesregierung und die schaffen. EU erstens auf, weder direkt noch indirekt mit dem Mi- Unsere Fraktion wird dem Antrag der Bundesregie- litär und der Nachfolgeorganisation der Dschandscha- rung zur Verlängerung des Mandates UNAMID zustim- wid-Milizen, die ja an der Regierung sind, zu kooperie- men als einem Baustein für einen möglichst langfristig ren. anhaltenden Frieden im Sudan. (Beifall bei der LINKEN – Christoph Matschie Vielen Dank. [SPD]: Die Leute im Stich lassen! Das wollt ihr! Ihr lasst die Leute im Stich!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Zweitens. Das Auswärtige Amt darf die Lage vor Ort nicht beschönigen, um die richtigen Schlüsse für ihr po- litisches Handeln zu ziehen, aber auch um sudanesische Vizepräsident Thomas Oppermann: Flüchtlinge hierzulande zu schützen. Das niedersächsi- Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion sche Innenministerium zum Beispiel beruft sich auf die Die Linke die Kollegin Christine Buchholz. Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes, um den Ab- (Beifall bei der LINKEN) schiebestopp in den Sudan aufzuheben. Diese Entschei- (B) dung ist ein Schlag gegen die Demokratiebewegung. Wir (D) Christine Buchholz (DIE LINKE): sagen: Der Abschiebestopp in den Sudan darf nicht auf- gehoben werden! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war nicht die UNAMID-Militärmission, an der sich die Bun- (Beifall bei der LINKEN) deswehr beteiligt, die die Schrecken des Baschir-Regi- mes im Sudan beendet hat. Es war die Revolution von Drittens braucht es einen umfassenden Schuldenerlass 2019, die Baschir gestürzt hat. Die sudanesische Bevöl- und gerade keine neoliberalen Strukturanpassungspro- kerung hat gezeigt, was Die Linke seit Beginn der Mili- gramme, die die soziale Lage im Sudan weiter verschlim- tärmission wiederholt hat: Frieden und Freiheit wird es mern würden. nicht durch Militär geben; Frieden und Freiheit können (Beifall bei der LINKEN) nur von innen wachsen. Viertens. Die Verlängerung des UNAMID-Mandates (Beifall bei der LINKEN) stärkt nicht die zivilen Kräfte im Sudan. UNAMID ist einer der teuersten UN-Einsätze aller Wir lehnen die Mandatsverlängerung ab. Zeiten. Gleichzeitig ist die Lage in Darfur weiterhin nicht stabil und nicht sicher. Auch das haben wir immer wieder (Beifall bei der LINKEN – Christoph Matschie kritisiert. [SPD]: Sie wissen das besser als die Regierung dort!) Um UNAMID und die Beteiligung der Bundeswehr daran zu rechtfertigen, behauptete Außenminister Maas in der ersten Lesung vor einem Monat, in dem derzeitigen Vizepräsident Thomas Oppermann: Übergangsprozess im Sudan würden – Zitat – „Militär, Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Kollegin alte Eliten und die junge Zivilgesellschaft zusammenar- Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen. beiten“. Ich finde, diese Einschätzung ist naiv und zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gleich gefährlich. Erst vor drei Tagen gab es einen Mordanschlag auf Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Abdalla Hamdok, den zivilen Ministerpräsidenten der Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Übergangsregierung. Noch laufen die Ermittlungen, wer und Kollegen! Mit Blick auf die aktuelle Weltpolitik gibt den Anschlag verübt hat. Aber eins ist klar: Das sudane- es nicht allzu viele positive Entwicklungen, die man be- sische Militär und die alten Eliten haben sich nicht mit grüßen kann. Umso mehr müssen und sollten wir auch Hamdok und der Revolution arrangiert. Sie wollen die über die Good News sprechen. Es waren im Sudan vor Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18957

Agnieszka Brugger (A) allem die jungen Menschen und die Frauen, die monate- ponente aus. Der Schutz der Zivilbevölkerung – es wird (C) lang auf der Straße protestiert haben. Sie haben die Dik- nämlich weiter gekämpft, es wird weiter vertrieben – tatur von Omar al-Baschir friedlich gestürzt, der über bleibt eine wichtige Aufgabe. Hören Sie da auf die Stim- 30 Jahre lang das Land unterdrückt und in Darfur einen men der klugen Expertinnen und Experten, meine Damen mörderischen Krieg geführt hat. Sie haben die Machttei- und Herren! lung und eine zivile Übergangsregierung erreicht, und das war ein extrem wichtiger Schritt für alle Menschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) im Sudan. Gerade Deutschland hat durch seine Rolle die Mög- Meine Damen und Herren, nun hat die Übergangsre- lichkeit, die Menschen im Sudan zu unterstützen, die gierung beschlossen, al-Baschir endlich an den Interna- diesen beeindruckenden Wandel in den letzten Jahren tionalen Strafgerichtshof auszuliefern. Das ist schon auf den Weg gebracht haben. Nutzen Sie diese Chance! lange überfällig. Es ist aber auch eine mahnende und wichtige Botschaft an alle Kriegsverbrecher dieser Welt. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD) Die nächsten Monate und Jahre im Sudan werden die entscheidenden sein. Das Militär bleibt ja weiter mächtig, Vizepräsident Thomas Oppermann: die Machtteilung ein politischer Drahtseilakt. Viele Stüt- Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der zen des alten Regimes sind immer noch in mächtigen CDU/CSU der Kollege Markus Koob. Positionen und hoffen nur darauf, dass die zivile Über- (Beifall bei der CDU/CSU) gangsregierung scheitert. Aber ein Zurück zu Diktatur und Menschenrechtsverletzungen kann und darf doch niemand wollen. Markus Koob (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gerkriege gehören zweifelsohne zu den übelsten, verhee- Die Versorgungslage im Sudan ist nach wie vor sehr rendsten und verlustreichsten Arten von Kriegen, die wir schlecht. Wir haben ja in der letzten Sitzungswoche, als kennen. Vergewaltigungen, Vertreibungen, Verschlep- wir über das Mandat gesprochen haben, auch mit einem pungen, Massenmorde, wirtschaftliche Einbrüche, Ar- Antrag begrüßt, dass die Entwicklungszusammenarbeit mut, Hunger und Tod – schlicht eine Katastrophe für wieder aufgenommen werden soll. Zwei Dinge sind für den betroffenen Staat, für die Wirtschaft, für die Region (B) (D) den Sudan aber von besonderer Bedeutung: Die Bundes- und vor allem für die Menschen, die es betrifft. Wir alle regierung muss sich dafür einsetzen, dass dem Sudan die kennen aus der Vergangenheit viele – in meinen Augen: Schulden erlassen werden, damit diese Regierung über- zu viele – Beispiele solcher Bürgerkriege: Ruanda, Sri haupt eine Chance bekommt. Lanka, Liberia, Bosnien, Sierra Leone, Kosovo, Syrien und eben auch Darfur. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Christine Buchholz [DIE LIN- Das Schwierigste an der Bewältigung von Bürgerkrie- KE]) gen sind dabei nicht in erster Linie die materiellen Die positiven Entwicklungen im Sudan müssen aber auch Schäden, die ergangen sind, wie der Verlust von Hab international von allen anerkannt werden. Setzen Sie sich und Gut oder des eigenen Arbeitsplatzes, sondern es sind deshalb gegenüber den USA dafür ein, dass der Sudan die seelischen Wunden, die aktuell bestehen und die in von der US-Terrorliste gestrichen wird! der Regel über viele Jahre bei den Menschen anzutreffen sind. Verluste im eigenen Leben, das erfahrene Leid, die Meine Damen und Herren, die Friedensmission UN- familiäre Situation führen über Jahre hinweg zu Konfron- AMID, über die wir heute hier beraten, soll in diesem tationen mit den eigenen Mitbürgern. Bei Nachbarn, Jahr enden. Die zivile Übergangsregierung hat um diese Freunden und Familie weiß man nicht mehr: Waren sie internationale Unterstützung gebeten; das muss man an Teil des Geschehens? Sind sie betroffen? der Stelle auch mal zur Kenntnis nehmen. Es ist richtig, dass Deutschland bei diesem letzten Mandat noch mal Bürgerkriege ruinieren diese Gesellschaft nachhaltig, einen – wenn auch bescheidenen – personellen Beitrag weil das Vertrauen einfach nicht mehr vorhanden ist. Es leistet. Wir sind uns auch alle einig: Konflikte können ist deshalb ein mühsamer, schwerer und für viele auch ein nicht militärisch gelöst werden. Deshalb kommt es ja ent- riesengroßer Schritt, wieder Vertrauen zu schaffen, um scheidend auf die zivilen, auf die politischen und diplo- eine Gesellschaft nach einem Bürgerkrieg wieder zu be- matischen Beiträge an. Der Sudan und seine Regierung frieden und zu einen. brauchen in diesem Bereich viel Unterstützung, die Zivil- gesellschaft ebenso. In Darfur, worüber wir heute reden, dem Ort des Bür- gerkriegs im westlichen Sudan, wurde dieser Schritt vor Trotzdem bitte ich die Bundesregierung, die gemein- mittlerweile gut zehn Jahren nach einer langen Über- sam mit Großbritannien für das Dossier verantwortlich gangsphase gegangen. Seit mittlerweile 13 Jahre befin- ist, das die Nachfolgemission von UNAMID ausgestaltet: den sich Truppen der UN-Mission UNAMID in Darfur, Prüfen Sie sehr genau, wie diese Mission aufgestellt wird. um die Region zu sichern und zu stabilisieren. Wenn Sie Schließen Sie nicht von Vornherein eine Blauhelmkom- mich fragen: Sie tun das mit Erfolg. 18958 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Markus Koob (A) Auch wenn man aus heutiger Sicht sagen kann, dass Klimawandels im Sudan abwenden. Er kann nicht die (C) damals zu lange gezögert wurde, so wird heute mehr als Auswirkungen des US-Embargos kompensieren. UN- deutlich, dass es richtig war, dort auch militärisch einzu- AMID trägt nur marginal zur Bekämpfung der Korrup- greifen, um Menschenleben zu retten. Zum damaligen tion im Lande bei. Und dieser Einsatz war und ist nicht in Zeitpunkt waren einfach schon zu viele Menschen ge- der Lage, die Gewaltexzesse in Darfur zu beenden. Und storben. Das zeigt die Tatsache, dass Darfur mit seinen dennoch: In Erwartung eines verbesserten Folgemandats, 300 000 Todesopfern auch heute noch für einen der nämlich der Special Political Mission, durch die Verein- schlimmsten Bürgerkriege der jüngsten Geschichte steht. ten Nationen wäre es fahrlässig, jetzt den demokratischen Kräften des Landes und den Vereinten Nationen die Un- UNAMID hat eine Rückkehr zur Sicherheit in Darfur terstützung für einen fragilen Friedensprozess zu verwei- ermöglicht und damit die Basis für die positive Entwick- gern. lung geschaffen, die von den Vorrednern hier auch schon betont worden ist. Mittlerweile werden die Lager von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten UNAMID sukzessive an die sudanesische Regierung zu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rückgegeben. Auch die politische Entwicklung im Sudan Nun haben Sie von der Linkspartei einige Argumente stimmt mich positiv. Die Absetzung des langjährigen gegen eine weitere deutsche Beteiligung an UNAMID Staatschefs al-Baschir schafft Vertrauen in der vom Bür- vorgetragen; das war ja die Wiederholung dessen, was gerkrieg betroffenen Gesellschaft und ermöglicht einen Sie schon in der ersten Lesung gesagt haben. Aber wie politischen Neuanfang. sollen wir Ihnen glauben, dass Sie heute aufgrund Ihrer Aber – auch das haben die Vorredner bereits richtiger- Einwände mit Nein stimmen? Sie haben doch mit einem weise angesprochen – wir sehen, wie fragil das Ganze ist. Parteitagsbeschluss von 2013 gegen jegliche Friedens- Das Attentat auf den sudanesischen Ministerpräsidenten einsätze der Bundeswehr gestimmt und das Ganze noch Hamdok vor wenigen Tagen hat uns deutlich vor Augen mal mit einem fraktionsinternen Papier bekräftigt. geführt, wie gefährlich die Sicherheitslage nach wie vor (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ich fin- ist und wie fragil die politische Lage im Sudan auch heute de die Strategiedebatten noch viel besser bei noch ist. den Linken!) Deshalb ist es richtig, dass im Anschluss an die Prä- Das nährt doch den Verdacht, dass Sie diese Grundsätze senz von UNAMID darüber geredet wird, wie es im Su- heute zur Grundlage Ihres Abstimmungsverhaltens ma- dan weitergeht. Ohne eine Folgepräsenz besteht die Ge- chen und nicht Ihre Argumente, die Sie heute vorgetragen fahr, dass dieses zarte Pflänzchen, das in Darfur zu sehen haben, als ausschlaggebend betrachten. ist, wieder zertrampelt wird, dass diese positive Entwick- (B) lung keine Fortsetzung findet. Es ist unser aller Aufgabe, (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Setzen Sie (D) dafür zu sorgen, dass dieses Schicksal Darfur erspart sich doch mal mit meinen Argumenten ausei- bleibt. nander!) Im Moment – darauf ist ebenfalls schon hingewiesen Nehmen Sie doch endlich wahr, was deutsche Solda- worden – verrichten vier deutsche Soldatinnen und Sol- tinnen und Soldaten für eine Befriedung innerstaatlicher daten ihren Dienst. Die Höchstgrenze ab April auf 20 Konflikte weltweit bislang geleistet haben! Lösen Sie abzusenken, ist deshalb logisch und folgerichtig. Ich sich doch endlich von der abstrusen Behauptung einer möchte an dieser Stelle, wie viele meiner Vorredner auch, Militarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspo- die letzten Worte dafür nutzen, den Soldatinnen und Sol- litik! daten, die dort unten ihren Dienst tun, sehr herzlich für (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der ihren Einsatz zu danken, mit dem sie nicht nur in Darfur, FDP – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Weil sondern der ganzen Region und damit auch Afrika ein der Militärhaushalt ständig steigt!) Stück Hoffnung in schwierigen Zeiten geben. Wir werden dem Antrag zustimmen. – Ich verstehe ja Ihre Erregung. – Verstehen Sie doch endlich, dass Ihre Verweigerungshaltung bei Blauhel- Vielen Dank. meinsätzen und Ihre gleichzeitige Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus der NATO auf eine Renationa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ordneten der SPD und der FDP) hinauslaufen.

Vizepräsident Thomas Oppermann: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Ganz schlechtes Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der Niveau!) SPD der Kollege Dr. Eberhard Brecht. Da haben Sie natürlich eine gewisse Parallelität zu einer (Beifall bei der SPD) anderen Fraktion in diesem Haus.

Dr. Eberhard Brecht (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wi- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und derspruch des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE Kollegen! Ich gebe zu: Eine Zustimmung zum heutigen LINKE) UNAMID-Mandat fällt mir nicht ganz leicht. Dieser UN- Folgen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Einsatz kann eben nicht die verheerenden Folgen des Linksfraktion, doch Paul Schäfer, und Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18959

Dr. Eberhard Brecht (A) , die für sich in Anspruch nehmen, eine immer, dass sich die Vereinten Nationen viel stärker en- (C) Einzelfallprüfung vorzunehmen und danach zu entschei- gagieren müssen. Wir sind mit einer der größten Zahler; den, ob sie einer Blauhelmmission zustimmen wollen deswegen ist es auch wichtig, dass wir uns personell oder nicht. sichtbar engagieren. Wenn Sie mich persönlich fragen: Unser Einsatz bei UNAMID und auch bei UNMISS, (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Worüber den wir jetzt gleich debattieren, könnte auch noch deut- reden Sie eigentlich? Reden Sie eigentlich über lich größer sein. Aber wichtig ist: Wir sind dabei. Und wir das UNAMID-Mandat? – Tobias Pflüger [DIE sind auch diejenigen, die jetzt gemeinsam mit Groß- LINKE]: Ihnen geht es gar nicht um die Sache britannien im UN-Sicherheitsrat in den nächsten Wochen hier!) darüber verhandeln, wie die Mission ausgestaltet werden Erst dann sollten wir uns mit Ihren Argumenten auseinan- kann. dersetzen. Wenn wir jetzt aussteigen würden, dann wäre das ein Ich bedanke mich und danke auch den Kräften in Dar- Signal an die ganze Welt und auch an die Region, dass wir fur, die für uns in Deutschland die Fahne hochhalten. nicht an den Erfolg und nicht an die Zukunft des Sudans glauben. Das wäre das falsche Signal; deswegen sollten Vielen Dank. wir heute zustimmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vizepräsident Thomas Oppermann: ordneten der SPD) Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die Fraktion CDU/CSU. Vizepräsident Thomas Oppermann: Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht (Beifall bei der CDU/CSU) vor. Deshalb schließe ich die Aussprache. Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! fehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bei UNAMID in Darfur sind im Moment drei bis vier Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung deutsche Soldaten eingesetzt. Wenn ich das in Veranstal- bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Hybriden Ein- tungen vorstelle, kommt sofort die Frage: Lohnen sich satz der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen (B) dieser Einsatz, der Aufwand, die Abstimmung heute, in Darfur (UNAMID). (D) die Parlamentsdebatte überhaupt? Ich möchte Ihnen drei Dazu liegen schriftliche Erklärungen vor; darauf Gründe nennen, warum es sich lohnt. möchte ich hinweisen.1) Der Ausschuss empfiehlt in sei- Der erste Grund ist: Mit dieser Debatte rücken wir die ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/17636, den Situation im Sudan und insbesondere in Darfur wieder in Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 19/17033 die Öffentlichkeit. In dem Land sind im Moment 1,8 Mil- anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lionen Menschen binnenvertrieben. Es ist eine humanitä- lung? – Das sind die Fraktionen der SPD, der Grünen, re Katastrophe, die sich jeden Tag dort abspielt; darüber der CDU/CSU, der FDP und der AfD. Gegenstimmen? – wird in Deutschland kaum berichtet. Die Flüchtlinge sind Das sind die Stimmen der Fraktion Die Linke. Enthaltun- so arm, sie kommen gar nicht bei uns an. Es gab im gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit der Mehr- Januar, glaube ich, 36 Asylbewerber aus dem Sudan. heit des Hauses gegen die Stimmen der Grünen bei einer Wir müssen uns darum kümmern. Es ist gut, dass wir Enthaltung in der AfD-Fraktion angenommen. heute auch diskutieren, dass das BMZ die Entwicklungs- zusammenarbeit mit dem Sudan wieder aufnimmt. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 10: Der zweite Grund ist: UNAMID, die Mission, ist wich- – Beratung der Beschlussempfehlung und des tig für die Stabilität in Darfur. Die Entwicklung in Darfur Berichts des Auswärtigen Ausschusses ist wichtig und entscheidend dafür, wie es im Sudan ins- (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesre- gesamt weitergeht. Es ist vielfach angesprochen worden: gierung Der Sudan ist im Moment in einer Transition. Der Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter schreckliche Machthaber al-Baschir, der international ge- deutscher Streitkräfte an der Mission der sucht worden ist, wurde letztes Jahr gestürzt. Im Moment Vereinten Nationen in der Republik Süd- gibt es eine Balance zwischen Militär und ziviler Über- sudan (UNMISS) gangsregierung. Die Frage, ob es im Sudan tatsächlich zu einem Systemwechsel im Sinne eines inklusiven partizi- Drucksachen 19/17032, 19/17635 pativen Systems kommt, wird auch davon abhängen, ob es gelingt, die Region Darfur zu befrieden und mit den – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Rebellen dort zu einer Übereinkunft zu kommen. Dazu schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung leistet Darfur einen wichtigen Beitrag. Drucksache 19/17590 Drittens. Die Mission in Darfur ist auch wichtig als Symbol für das Engagement Deutschlands. Wir fordern 1) Anlage 2 18960 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Vizepräsident Thomas Oppermann (A) Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten vor- Blick auf die junge Republik Südsudan im Sicherheitsrat (C) gesehen. immer wieder ansprechen. Ich finde, dafür gebührt Ihnen ein ausdrücklicher Dank. Danke, Herr Maas, dass Sie Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste sich dafür so einsetzen. Die Frauen, die jungen Mädchen, Rednerin für die Fraktion der SPD die Kollegin Daniela aber auch die Männer, die unter patriarchaler Gewalt De Ridder. leiden, haben dies verdient. Danke, dass Sie ihren Blick (Beifall bei der SPD) genau auf diese Thematik lenken.

Dr. Daniela De Ridder (SPD): (Beifall bei der SPD) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Das ist gerade im Südsudan besonders notwendig. Es Kollegen! Wir haben heute darüber zu beschließen, ob ist ein ermutigendes Beispiel, dass auch Frauen – das wir das sogenannte UNMISS-Mandat um ein weiteres reklamieren auch wir immer wieder für uns – an diesen Jahr verlängern wollen. Bei diesem UN-Mandat, das Friedensprozessen und Missionen ganz besonders betei- auf den Resolutionen 2057 und 2132 beruht, geht es ligt werden, anfangs etwa Hilde Johnson, die Norwege- darum, ob wir unsere Bundeswehr mit maximal 50 Solda- rin, die die Missionsleitung übernommen hatte, und ihr tinnen und Soldaten in die noch junge Republik Südsudan folgend ihre dänische Kollegin Ellen Loj, die das mit entsenden wollen. unterstützt hat. Worum geht es bei diesem Mandat? Was sind die Ziele Ich freue mich darauf, dass wir – so ist jedenfalls die und Aufgaben dieser Mission? Es geht zunächst, liebe Planung – vielleicht mit einer kleinen Frauendelegation Kolleginnen und Kollegen, um den Schutz von Zivilper- den Südsudan noch in diesem Jahr besuchen können. sonen vor Gewalt. Es geht aber auch um die Abschre- Deshalb habe ich abschließend eine Bitte, liebe Kollegin- ckung und die Verhütung – dieser Punkt ist mir besonders nen und Kollegen: Lassen Sie uns im Interesse von leid- wichtig – von sexualisierter und geschlechtsspezifischer enden Menschen überall auf der Welt, deren Konflikte Gewalt. Es geht außerdem um humanitäre Hilfe, und – und Not wir nicht vergessen dürfen, gesund bleiben. Bitte das sage ich in meiner Funktion als stellvertretende Vor- lassen Sie sich nicht in Panik versetzen! Ernähren Sie sich sitzende des Unterausschusses für Zivile Krisenpräven- gut! Trinken Sie viel Wasser! Schlafen Sie viel! Wir brau- tion, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln – es chen Sie! geht um die Unterstützung bei der Entwicklung von Ab- kommen zum Abbau von Feindseligkeiten. Wir als Bun- Danke schön. destag haben ja nicht nur eine Verantwortung für die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Prävention von Krisen, sondern auch für die Nachsorge der CDU/CSU und des Abg. Ulrich Lechte (B) in Postkonfliktländern. [FDP]) (D) Ich habe, wenn ich auf den Südsudan blicke, Hoffnung, nicht nur, weil der Präsident Salva Kiir dem Oppositions- Vizepräsident Thomas Oppermann: führer Riek Machar zum Friedens- und Versöhnungspro- Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für zess die Hand gereicht hat, nein, die beiden haben sich die AfD der Kollege Gerold Otten. sogar umarmt – zugegeben: Das war, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Corona. (Beifall bei der AfD)

Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass die Welt dort Gerold Otten (AfD): nicht in Ordnung ist – kein Konflikt darf vergessen wer- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- den –; denn es gibt hier 200 000 Binnenvertriebene, die gen! Die meisten Redner in der heutigen Beratung wer- der humanitären Hilfe bedürfen. Deshalb will ich – Ihr den genügend Argumente anführen, warum sie einer er- Einverständnis voraussetzend – nicht nur unseren Solda- neuten Verlängerung des Mandats zustimmen wollen. tinnen und Soldaten dort Dank sagen, sondern auch den Die Kollegin De Ridder hat ja bereits damit begonnen. Hilfs- und Mittlerorganisationen, die dort tätig sind. Wir werden über die katastrophale humanitäre Lage im (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Südsudan hören, von der Not der Binnenvertriebenen und Beyer [CDU/CSU]) der Flüchtlinge, von den Verteilungskämpfen zwischen Ich bin stolz darauf, dass wir vor Ort Hilfe bei der Dinka und Nuer, die trotz Friedensvertrags andauern Nahrungsmittelversorgung und vor allem bei der Trink- und nicht zuletzt in sexualisierter Gewalt und Morden wasserversorgung leisten können, dass wir einen Beitrag enden. Sicher werden auch der Friedensvertrag von zur Wiederbelebung der Landwirtschaft leisten; denn es 2018 und die Hoffnung, die durch die jüngsten Ereignisse ist essenziell, dass die Menschen sich dort ernähren kön- geweckt werden, Erwähnung finden. Es wird dann hei- nen. Damit leisten wir ergänzend zu dem World Food ßen, UNMISS sei zentraler Beitrag, um den Friedens- Programme, das dort hilft, einen substanziellen Beitrag. prozess zu begleiten, die Lage der Einwohner zu verbes- sern und die Situation der Flüchtlinge zu stabilisieren. Lassen Sie mich auf einen Punkt, den ich erwähnt Das alles ist richtig und wird auch von unserer Fraktion habe, kurz zurückkommen. Ja, es geht um den besonde- nicht bezweifelt. ren Schutz von Frauen, Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Si- Eines sollten wir aber nicht unbeachtet lassen: De facto cherheit“. Ich bin sehr dankbar, lieber Außenminister hat der Friedensvertrag zunächst nur den Status quo ante , dass Sie dieses zentrale Thema auch mit wiederhergestellt. Bereits nach der Unabhängigkeit war Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18961

Gerold Otten (A) Salva Kiir Präsident und Machar der Vizepräsident, ein geht? Beschränkt sich hier etwa Frankreichs Interesse nur (C) Dinka als Präsident und ein Nuer als Vize; das war der auf die vormaligen französischen Kolonien und ihre Roh- Kompromiss von 2011. stoffe? Verteilungskämpfe zwischen den Volksgruppen sind Wenn das Schicksal des Südsudans so eng mit der allerdings nicht beendet. Im Gegenteil: Die gegenwärtig Sicherheit der EU verbunden ist, dann setzen Sie sich unterhalb der politischen Ebene lodernde Glut ethnischer dafür ein, auch weitere Staaten mit ins Boot zu holen. Spannungen kann sich jederzeit wieder entzünden. Die Unsere Stimme für die Fortsetzung des Mandats haben jüngsten Kämpfe im Bundesstaat Jonglei zeugen davon. Sie. Damit aber eine positive Entwicklung im Land vorange- trieben werden kann, ist ein internationales Engagement Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. im Südsudan weiterhin richtig und wichtig. (Beifall bei der AfD) Doch ich meine, wir sollten uns vor allem damit be- schäftigen, welchen Auftrag wir unseren Soldaten mit Vizepräsident Thomas Oppermann: diesem Mandat erteilen und ob dieser Auftrag mit militär- Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der ischen Mitteln umsetzbar ist. Gegenwärtig sind zwölf CDU/CSU der Kollege Nikolas Löbel. Soldaten im Südsudan im Einsatz. Vier Soldaten nehmen Stabsaufgaben wahr; die übrigen sind als UN-Militärbe- (Beifall bei der CDU/CSU) obachter eingesetzt. Sie sollen dort unter anderem Bera- tungs-, Beobachtungs- und Unterstützungsaufgaben Nikolas Löbel (CDU/CSU): wahrnehmen sowie Hilfe bei der technischen Ausrüstung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit und Ausbildung leisten. Dieser Beitrag ist innerhalb der 2011 ist der Südsudan unabhängig, und dennoch herrscht Führungsstruktur der Mission wichtig. Daher ist der mi- seit 2013 ein gewaltsamer Konflikt, der bereits viel zu litärische Auftrag ebenso sinnvoll wie die politische Ab- viele Menschen das Leben gekostet und Millionen Men- sicht, die mit UNMISS verfolgt wird. schen zu Flüchtlingen gemacht hat. Die erste Euphorie Kritik am Mandat wurde bei der ersten Beratung aus über die Unabhängigkeit ist leider der Ernüchterung ge- zwei Richtungen angebracht. Die Linke meint, für die wichen, dass eine Unabhängigkeit allein nicht reicht, um humanitäre Hilfe brauche man keine Soldaten. Die Grü- den etwa 12 Millionen Menschen Sicherheit vor Verfol- nen wollen mehr Soldaten mit einem robusten Mandat gung und Gewalt zu garantieren. zur Demilitarisierung des Südsudans. Der Südsudan kommt einfach nicht zur Ruhe. Da kön- nen auch die bislang halbwegs haltende Waffenruhe und (B) Die Position der Linken in ihrer klassenkämpferischen (D) Traumwelt zwischen dem Weltfrieden und der Liquidie- vermutlich auch die gerade erst unter langen Verhandlun- rung von 1 Prozent der Kapitalisten war vorhersehbar. gen gebildete Regierungskoalition erst einmal keine gra- Wenn Sie aber wollen, dass humanitäre Hilfe auch bei vierenden Veränderungen hervorbringen. Korruption, denen ankommt und denen zugutekommt, für die sie be- Inflation, hohe Ausgaben für das Militär und ein unge- stimmt ist, ist militärische Rückendeckung unumgäng- bremstes Bevölkerungswachstum sind die gravierendsten lich. Probleme, denen sich dieses Land ausgesetzt sieht, zumal der Südsudan doppelt so groß ist wie Deutschland. Hinzu Der Vorschlag der Grünen dagegen ist an Heuchelei kommen eine katastrophale wirtschaftliche Lage, Man- kaum zu überbieten. Ich zweifle daran, ob sie den militär- gelernährung – etwa 50 Prozent der Menschen im Land ischen Auftrag wirklich durchdacht haben und am Ende leben unterhalb der Armutsgrenze und sind akut von bereit sind, die Verantwortung für die Opfer zu überneh- Hunger bedroht – und mangelnde Infrastruktur; beson- men, die ein solcher Auftrag mit Sicherheit fordern wür- ders der Zugang zu Wasser und zu Sanitärversorgungen de. Dieser Vorschlag kommt ausgerechnet aus der politi- sind einfach katastrophal. schen Ecke, die sonst kein Problem hat, Soldaten als Mörder zu bezeichnen und den Soldaten das militärische Eine friedliche Beilegung von Konflikten lässt sich Wesen zu nehmen, indem die Bundeswehr mit marodem leider nur schwerlich zwischen den unterschiedlichen Material ausgestattet bleibt. Volksgruppen durchsetzen. Nur ein Drittel der Bevölke- rung kann überhaupt lesen und schreiben. Das sind die (Beifall bei der AfD) Bedingungen, die in diesem Land vorherrschen und die Die Bundesregierung hebt zu Recht das militärische, für eine Befriedung des Landes nicht wirklich günstig zivile und nicht zuletzt das finanzielle Engagement sind. Dabei ist das Land eigentlich reich an Öl und ande- Deutschlands hervor. Aus dem Failed State Südsudan soll ren Rohstoffen. Doch es leidet unter dem berühmten Roh- bestenfalls ein funktionierendes politisches Gemeinwe- stofffluch. Es kommt einem so vor, als ob der Südsudan sen werden. Bekanntlich hat die Sahelzone aber auch eine aktuell nichts hat außer seiner Unabhängigkeit. Denn an strategische Priorität der EU. Neben Deutschland beteili- der nötigen Stabilität, die es braucht, um den eigenen gen sich unsere skandinavischen Nachbarn sowie Polen, Reichtum zum Wohle der Bevölkerung zu nutzen, fehlt Rumänien und Großbritannien militärisch und bzw. oder es leider. Um diese Stabilität geht es beim UNMISS- zivil an UNMISS. Mandat. Was ich vorhin für den Sudan gesagt habe, gilt auch für Der Friedensprozess von 2018 und die lange verscho- den Südsudan: Wo sind diejenigen, die es als Erste an- bene, aber nun endlich im Februar geglückte Bildung gehen müsste, wenn es um die Stabilität der Sahelzone einer Regierung erscheinen nach langer Zeit wie ein klei- 18962 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Nikolas Löbel (A) ner Hoffnungsschimmer. Doch wie stabil die Koalition regierung sind die Gräben tief. In Kürze: Der Südsudan (C) zwischen den eigentlichen Rivalen – Kiir als Präsident ist zu fragil, als dass er von der internationalen Gemein- und Machar als Vizepräsident – sein wird, muss sich auf schaft alleingelassen werden könnte. Deshalb ist es wich- Zeit zeigen. Experten sind einigermaßen pessimistisch. tig und richtig, dass die internationale Gemeinschaft im Das Panel of Experts on South Sudan der Vereinten Na- Rahmen des UN-Mandates den Schutz der Zivilbevölke- tionen war lange der Meinung, dass die Unterzeichner des rung gewährleistet und humanitäre Hilfe möglich macht. Friedensabkommens gar keinen politischen Willen besit- zen, den Konflikt wirklich beenden zu wollen und Kom- (Beifall bei der FDP) promisse herbeizuführen. Auch Deutschland leistet einen wichtigen Beitrag für Frieden und Sicherheit, den die Konfliktparteien in sie- Friedenssicherung und Konfliktbeobachtung bedürfen ben Jahren Bürgerkrieg nie leisten konnten, aber hoffent- also der Präsenz von Friedenssicherungstruppen der UN- lich im Zuge dieser Einheitskoalition endlich leisten wer- MISS-Mission. Die deutschen Soldaten leisten dabei ei- den. Doch die Vergangenheit scheint alle Parteien früher nen ganz wesentlichen und wichtigen Beitrag. Der UN- oder später einzuholen. So sprach die Vorsitzende der MISS-Einsatz leistet einen Beitrag, und er sichert fast Menschenrechtskommission im Südsudan in ihrem am 200 000 Menschen, zumeist vor Gewalt geflohenen Men- 9. März vorgestellten Gutachten davon, dass Tötungen, schen, eine sichere Unterkunft in UN-Lagern. UNMISS Folter, Vergewaltigungen, Einschüchterungen, Vertrei- sichert den Zugang zu humanitärer Hilfe. UNMISS über- bung, Entführungen und Korruption immer noch die wacht die Einhaltung von Menschenrechten. Dies gilt es, Norm in dem jahrelang vom Bürgerkrieg gezeichneten auch künftig zu unterstützen. Staat sind. Darüber hinaus hätten sich beide Konfliktpar- Uns in Deutschland ist dabei klar, dass wir in der Welt teien der gezielten Herbeiführung von Hungersnöten ver- eine immer stärkere Rolle spielen müssen und wollen und antwortlich gemacht; quasi Hunger als Waffe. Rechtlich mehr Verantwortung übernehmen müssen. Deshalb ist mag es zwar noch eine Auseinandersetzung geben – un- UNMISS unser Beitrag für einen kontinuierlichen Ein- glaublicherweise –, ob gezielt herbeigeführte Hungersnö- satz für mehr Frieden. te als Kriegsverbrechen einzustufen sind, aber sicherlich nicht menschlich. Für mich waren, sind und bleiben diese Ich bin froh, dass dieser UNMISS-Einsatz unserer Taten verabscheuenswürdige Kriegsverbrechen gegen Bundeswehr fast über alle Fraktionen hier im Haus eine die Zivilbevölkerung. Unterstützung erfährt. An dieser Stelle einen herzlichen Dank an die zwölf Soldatinnen und Soldaten, die im (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Rahmen dieses UNMISS-Mandats ihren Dienst leisten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Das Mandat ist es wert, dass wir es heute um ein Jahr Abg. Dr. Andreas Nick [CDU/CSU]) (B) (D) verlängern. Für das internationale Rechtssystem wird es höchste Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Zeit, dass das gezielte Herbeiführen von Hungersnöten in kriegerischen Auseinandersetzungen nicht nur vage (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- in anderen Paragrafen als Kriegsverbrechen wiederzufin- ordneten der SPD) den ist, sondern unmissverständlich als Kriegsverbrechen anerkannt wird. Der Herr Außenminister hat das be- Vizepräsident Thomas Oppermann: stimmt gehört. Hoffentlich könnten wir mit unseren Part- nern in der Welt entsprechend vorgehen und die Para- Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der grafen ändern. FDP der Kollege Ulrich Lechte. Es darf nicht das Zeichen ausgehen, dass man straflos (Beifall bei der FDP) und ungeschoren mit seinen Taten davonkommt. Hieran muss die gesamte internationale Gemeinschaft arbeiten. Ulrich Lechte (FDP): Die Freien Demokraten stimmen für die Fortsetzung von Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und UNMISS und dies unmissverständlich. Kollegen! Werte Gäste auf den Tribünen! Der Frieden zwischen den Konfliktparteien im Südsudan ist keine Vielen Dank. Selbstverständlichkeit. Wir müssen uns stets vor Augen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten halten, dass der Frieden im Südsudan nicht deswegen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zustande kam, weil die Bürgerkriegsparteien diesen woll- ten, sondern weil sich die internationale Gemeinschaft eingesetzt hat und den Druck auf die Konfliktparteien Vizepräsident Thomas Oppermann: erhöht hatte, dass dieser Konflikt endlich aufhören müs- Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion Die se. Doch obwohl die Kampfhandlungen zwischen Dinka Linke ist der Kollege Tobias Pflüger. und Nuer aufgehört haben, ist der Südsudan immer noch (Beifall bei der LINKEN) in einem verheerenden Zustand, und das Friedensabkom- men steht auf wackligen Beinen. Tobias Pflüger (DIE LINKE): Ein Drittel der Bevölkerung ist auf der Flucht, die Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Hälfte der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe ange- Bundeswehrmission im Südsudan soll heute erneut um wiesen, Naturkatastrophen gefährden die Lebensgrundla- ein Jahr verlängert werden. Als Linke haben wir bei den gen der Menschen vor Ort, und innerhalb der Einheits- vorherigen Debatten immer wieder zivile Hilfe ange- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18963

Tobias Pflüger (A) mahnt und betont, dass es eine politische Lösung braucht. trägt. Das ist der falsche Ansatz. Wir werden gegen die- (C) Das gilt heute umso mehr. sen UNMISS-Einsatz stimmen. Er hilft den Menschen vor Ort nicht. (Beifall bei der LINKEN) Am 22. Februar – es war schon die Rede davon – ist die Vielen Dank. Übergangsregierung der nationalen Einheit gebildet wor- (Beifall bei der LINKEN – [CDU/ den, ein wichtiger Schritt. Wir bleiben skeptisch. Aller- CSU]: Nichts dazu gesagt, welches die alter- dings ist es eine wichtige Voraussetzung, damit das 2018 nativen Vorschläge wären!) geschlossene Friedensabkommen endlich umgesetzt wird. Wir begrüßen, dass es zu diesen Schritten gekom- men ist. Wir werden sie politisch unterstützen. Vizepräsident Thomas Oppermann: Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Sehr gut!) Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Frithjof Schmidt. Der Bürgerkrieg im Südsudan hat allerdings zu nichts (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) anderem geführt als zu Hunger und Tod und muss endlich beendet werden. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der LINKEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Um aber einen dauerhaften Frieden zu erreichen, braucht Kollegen! Ich möchte mich in den drei Minuten auf drei es mehr, als die jetzt 35 Ministerien zu besetzen und die Punkte konzentrieren. Bundesstaaten neu zu ordnen, was offensichtlich gerade auf der Tagesordnung steht. Vor allem muss das Militär Erstens. Auch wenn bei der UNMISS-Mission viele reformiert werden, das heißt konkret, die verschiedenen Fehler gemacht wurden, war und ist sie absolut notwen- Armee- und Rebellenverbände müssen zusammengeführt dig. Über 7 Millionen Menschen, rund zwei Drittel der und zugleich abgerüstet werden. Das Land muss nach Bevölkerung des Südsudans, sind nach wie vor auf hu- Jahren des Bürgerkrieges endlich demilitarisiert werden. manitäre Hilfe angewiesen. Die Sicherheitslage dieser Menschen ist prekär. Deshalb ist meine Fraktion dafür, (Beifall bei der LINKEN) dass Deutschland diese Mission weiter unterstützt, und wird dem Mandat zustimmen. Das alles reicht aber nicht, der Staat muss auch drin- gend reformiert werden. Ende Februar ist eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dreiköpfige Expertenkommission des UN-Menschen- sowie bei Abgeordneten der SPD und des (B) rechtsrates, die UN-Kommission für Menschenrechte Abg. Ulrich Lechte [FDP]) (D) im Südsudan, in das Land gereist. Was sie herausfand, ist erschütternd. Die Menschen im Südsudan sind vom An die Kollegen der Linken: Ich habe nicht gehört, ob Hunger bedroht, weil korrupte Eliten ihnen gezielt Nah- Sie denn jetzt die UN-Mission überhaupt unterstützen rungsmittel vorenthalten. Hunger wird als Waffe in politi- oder nicht. Sie mögen ja zur deutschen Beteiligung noch schen und ethnischen Konflikten eingesetzt. Das ist uner- eine andere Meinung haben; aber es wäre doch wichtig, träglich. das mal von Ihnen in Erfahrung zu bringen. Dann müss- ten Sie gegebenenfalls immer noch erklären, warum Sie (Beifall bei der LINKEN) an einer sinnvollen Mission, die Sie unterstützen, nicht 6,5 Millionen Menschen leiden unter Hunger, besagen teilnehmen wollen. die neuesten Zahlen. Da ist es von zentraler Bedeutung, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass gegen die Regierungsbeamten, die sich offensicht- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und lich die Millionen zuschustern, endlich vorgegangen der SPD und des Abg. Ulrich Lechte [FDP]) wird. Ich zitiere die Vorsitzende der Kommission, die Menschenrechtsanwältin Yasmin Sooka: Zweitens. Dass es vor Kurzem gelungen ist, sich auf eine Einheitsregierung zu einigen, bietet die Chance, die Korrupte Staatsangestellte haben schamlos Millio- Kämpfe des schrecklichen Bürgerkriegs einzudämmen nen von Dollar geraubt und damit Millionen südsu- und vielleicht auch dauerhaft zu beenden. Dafür ist die danesische Zivilisten um den Zugang zur Grund- Fortsetzung von UNMISS unbedingt notwendig. versorgung gebracht; sie sind strengem Hunger ausgeliefert, während die Korruption eine kleine Zugleich schafft diese Situation für die internationale Gruppe von Staatsbediensteten extrem reich ge- Gemeinschaft aber auch ein politisches Dilemma. Präsi- macht hat. dent Kiir und Vizepräsident Machar, auf denen einerseits Das ist eine traurige Bilanz – fast neun Jahre nachdem die Hoffnung auf Frieden ruht, sind andererseits beide die der Südsudan unabhängig wurde; übrigens mit großer schlimmsten Schurken und Kriegsverbrecher des Bürger- Unterstützung des Westens, auch der deutschen Regie- kriegs. Sie sind als Chefs der Kriegsparteien verantwort- rung. lich für Vertreibungen und Massaker und den Einsatz des Hungers als Waffe. Die Vereinten Nationen müssen mit Die Bundeswehr ist im Moment im Rahmen von UN- ihnen kooperieren, um jede Chance auf Frieden für die MISS mit zwölf Soldaten im Einsatz; möglich wären 50. geschundene Bevölkerung zu nutzen. Zugleich ist aber Wir sehen, dass dieser Militäreinsatz nichts zur konkreten klar, dass diese beiden Warlords vor den Internationalen Verbesserung der Situation der Menschen vor Ort bei- Strafgerichtshof gehören. 18964 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Dr. Frithjof Schmidt (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schreckenplage: 7 Millionen Menschen sind weiterhin (C) sowie bei Abgeordneten der SPD) auf humanitäre Hilfe angewiesen. Deswegen muss sich die Bundesregierung – drittens – Zweitens: die fragile Sicherheitslage. Es kommt immer in der UNO für eine Doppelstrategie gegenüber der neuen wieder zum Ausbruch ethnischer Gewalt. Einheitsregierung einsetzen. Straflosigkeit für die beiden Kriegsverbrecher, die vor den Internationalen Strafge- Drittens: die Stabilität der neuen Einheitsregierung. richtshof gehören, darf es nicht geben. Es ist auch symbo- Präsident Kiir und Vizepräsident Machar müssen erst lisch von höchster Bedeutung, dass wir in solch einer mal dauerhaft akzeptieren, dass militärische Gewalt nicht Situation nicht sagen: Das können wir jetzt nicht händeln; zur Bewältigung der Herausforderungen führt. Sie müs- es gibt halt Straflosigkeit. sen die nationale Armee vereinen, sie müssen Streitig- keiten um Bundesstaaten, um die Kontrolle wichtiger (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Städte lösen, Frieden mit Rebellengruppen schließen, Auch wenn die beiden diejenigen sind – oder vielmehr: die sich dem 2018 geschlossenen Friedensabkommen gerade weil sie es sind –, die die Geschicke des Südsu- verweigert haben. Gleichzeitig werden beide von Hardli- dans und des Friedensprozesses in der Hand haben, ist es nern ihrer jeweiligen Ethnie unter Druck gesetzt, Pfründe von zentraler Bedeutung, dass wir die Kritik an ihnen zu sichern. nicht aus diplomatischen Gründen unter den Tisch fallen Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn der Süd- lassen. Diese Kritik muss international aufrechterhalten sudan über 5 000 Kilometer von uns entfernt liegt – bei und fortgeführt werden. Man hat auch lange im Sudan der geschilderten Lage können und wollen wir uns wei- darüber diskutiert, wie man damit umgeht, dass Baschir terer Unterstützung nicht verschließen. Kriegerische vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht wurde. Auseinandersetzungen, Not, Elend, mangelnde Perspek- Man hat jetzt gesehen: Er wird ausgeliefert. – Das ist tiven – das kann nicht das Bild dieser Region bestimmen. von hoher symbolischer Bedeutung. Es liegt in unserem Interesse, die Schaffung von Frieden Wir sollten in diesem Sinne aktiv weiter Politik ma- und Sicherheit in der Region zu unterstützen. Wir müssen chen. Ich erwarte auch von der Bundesregierung, dass sie die Sahel-Sahara-Region stabilisieren, Gewalt, Terroris- sich dafür einsetzt. Die hungernde und kriegsmüde Be- mus, Migration und humanitäre Katastrophen bekämpfen völkerung des Südsudans hat es verdient, dass es einen und verhindern. Wir unterstützen ja nicht nur militärisch gerechten Friedensprozess gibt. bei UNMISS, sondern auch umfassend auf ziviler Seite, mit humanitärer Hilfe und zum Beispiel beim Aufbau Danke für die Aufmerksamkeit. rechtsstaatlicher Strukturen, im Lichte unseres vernetzten Ansatzes. (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) sowie der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD] Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ostafrika befindet und Ulrich Lechte [FDP]) sich insgesamt in einem positiven Wandel. Der Ausgang im Südsudan ist jedoch noch offen. Wir brauchen weiter- Vizepräsident Thomas Oppermann: hin politischen Druck der internationalen Gemeinschaft Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion auf alle Konfliktparteien. Wir brauchen weiterhin UN- der CDU/CSU der Kollege Thomas Erndl. MISS, weil die humanitäre Versorgung der Bevölkerung gesichert werden muss und ein Sicherheitsrahmen vor- (Beifall bei der CDU/CSU) handen sein muss. Die Präsenz der Blauhelmsoldaten verhindert eine Wiederentfesselung der Gewalt und Thomas Erndl (CDU/CSU): schützt die Zivilbevölkerung. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ich danke allen Soldatinnen und Soldaten im Einsatz Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Die Hoff- nung nie aufgeben – dieser Ausspruch ist bezeichnend und bitte um Zustimmung zur Verlängerung des Mandats. für den Südsudan. Nach dem jahrelangen Bürgerkrieg Herzlichen Dank. mit über 400 000 Opfern wurde Ende Februar eine Ein- heitsregierung gebildet. Es ist der 13. Versuch. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Ulrich Lechte [FDP]) Zur Wahrheit gehört: Die Einheitsregierung kam nur auf internationalen Druck zustande. Hoffentlich gelingt dieses Mal eine positive Wende für die kriegsmüde Be- Vizepräsident Thomas Oppermann: völkerung. Die Südsudanesen hegen die Hoffnung, dass Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der blutige Machtkampf um Einfluss und Ressourcen nun der SPD die Kollegin Siemtje Möller. endgültig beigelegt werden kann. Und wir geben nicht auf, wir unterstützen diese Hoffnung weiterhin aktiv. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jens Lehmann [CDU/CSU]) (Beifall der Abg. Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]) Siemtje Möller (SPD): Dabei sind die Herausforderungen zahlreich: Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Erstens: eine immer noch katastrophale humanitäre Die Vereinten Nationen sind ein zugegebenermaßen Versorgungslage. Überschwemmungen, jetzt die Heu- nicht perfektes, aber unersetzliches Instrument für Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18965

Siemtje Möller (A) die gemeinsame Arbeit der Nationen an einer ge- Lassen Sie uns in diesem Sinne gute Nachbarn sein, (C) rechteren und sichereren Weltordnung. lassen Sie uns diesen kleinen, aber feinen Beitrag weiter- hin im Südsudan leisten, um der jüngsten Nation zu einer Das sagte niemand Geringeres als Dag Hammarskjöld, hoffnungsvolleren Zukunft zu verhelfen. Friedensnobelpreisträger und Generalsekretär ebendieser Vereinten Nationen. Vielen Dank. Diese unersetzlichen Vereinten Nationen versuchen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ihrem Auftrag über unterschiedliche Instrumente gerecht der CDU/CSU) zu werden. Ein Instrument sind die friedensbildenden oder sogar friedensschaffenden Maßnahmen in Kriegsge- Vizepräsident Thomas Oppermann: bieten. Denn Frieden stellt sich nicht von allein her. Er ist mühsam erarbeitet, in kleinstteiligen Gesprächen und Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Verhandlungsrunden aufgebaut. Er will gebildet oder ge- Fraktion der CDU/CSU der Kollege Jens Lehmann. schaffen werden. Er muss erhalten und stabilisiert wer- (Beifall bei der CDU/CSU) den. Frieden, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kol- legen, fällt leider nicht vom Himmel. Frieden muss von Jens Lehmann (CDU/CSU): uns Menschen ermöglicht, er muss von uns gemacht wer- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ent- den. scheiden wir über die Fortsetzung des Bundeswehreinsat- (Beifall bei der SPD) zes im Südsudan. Nach Jahren des Bürgerkriegs gibt es nun zaghafte Anzeichen auf Frieden. Die Bildung einer Die sogenannten Missionen der Vereinten Nationen neuen Regierung der nationalen Einheit unter Einbezie- haben einen solchen friedensbildenden Charakter. Frie- hung der bisherigen Oppositionsführer ist ein Lichtstrei- den und Sicherheit für die Bevölkerung zu schaffen, ist fen am Horizont. dabei oberste Priorität. Mittel und Wege sind zum Bei- spiel die Schaffung rechtsstaatlicher Strukturen und der Wie mein Kollege Nikolas Löbel bereits erläutert hat, Schutz der Zivilbevölkerung. leidet das Land massiv unter den Folgen des jahrelangen Bürgerkriegs. Die Wirtschaft ist trotz großer Erdölvor- Eine ebensolche Mission ist UNMISS im Südsudan, kommen nahezu vollständig zerstört, auf vielen Ebenen eine jahrzehntelang von Diktatur und Bürgerkrieg zerf- herrscht Korruption im Land. Millionen Menschen sind ressene Region, ein Land, das sich nun hoffentlich auf vor dem Bürgerkrieg geflohen. Dies alles schafft keine den Weg zu machen scheint zu einem friedlicheren Zu- Stabilität. Der einzige stabilisierende Faktor im Südsudan sammenleben, wo das tägliche Leben noch immer von (B) ist die UN-geführte Mission UNMISS. Es ist deshalb (D) bitterster Armut und Hunger geprägt ist. Es ist wichtig wichtig, dass wir unseren Beitrag zur Stabilisierung der und richtig, unseren Beitrag im Rahmen von UNMISS Lage im jüngsten Staat der Erde leisten. Ich möchte Ihnen weiterhin zu leisten, damit wir dazu beitragen, dass es auch sagen, warum. den Menschen vor Ort ein kleines bisschen bessergeht. Auf Vermittlung und Druck der internationalen Staa- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tengemeinschaft regieren Präsident Kiir und der bisherige Unser Beitrag besteht darin, mit bis zu 50 Soldatinnen Oppositions- und Rebellenführer Machar zusammen und und Soldaten vor Ort den Friedensprozess zu begleiten, bilden jetzt die lang erwartete Einheitsregierung. Das ist zu beraten, auszubilden und die Konfliktparteien zu be- ermutigend. Doch nicht nur mit der neuen Einheitsregie- obachten. Es handelt sich vorrangig um Einzelpersonal, rung, sondern vor allem auch mit den Soldaten der UN- das in Stäbe und Hauptquartiere der Vereinten Nationen MISS-Mission verbinden die Menschen die Hoffnung auf entsandt wird. Das Mandat soll unter anderem dafür sor- Stabilität und Sicherheit im Südsudan; denn sie sind er- gen, dass die Menschenrechte gewahrt werden, die Be- schöpft vom jahrelangen Krieg, sie sind erschöpft von der völkerung geschützt wird, ein sicheres Umfeld für Ge- bitteren Armut im Land, und sie sind erschöpft von den flüchtete geschaffen wird. Es soll außerdem der instabilen Verhältnissen. Die Menschen wollen endlich Rechtsstaat aufgebaut werden und die Regierung unter- eine Perspektive. Sie wollen eine gute Regierungsfüh- stützt werden. Diese hier im Mandatstext festgelegten rung. Sie wollen vor allen Dingen Sicherheit. Aufgaben gehören zur Kernarbeit der Vereinten Nationen Dies alles geht natürlich nicht von heute auf morgen. und der Friedensarbeit. Sie beschreiben, wie Frieden ge- Die Ausbalancierung der Interessen der unterschiedli- schaffen werden kann, und sie beschreiben auch den Kern chen Bevölkerungsgruppen im Land ist und bleibt ein unseres eigenen Anspruchs an unsere Friedensarbeit. Kraftakt für die Regierung, an der sie in der Vergangen- Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor fünf Jahren sagte heit zu oft gescheitert ist. Deshalb ist es umso wichtiger, der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier an- den Menschen im Südsudan zu zeigen: Wir unterstützen lässlich 70 Jahre Vereinte Nationen – ich zitiere mit Ihrer euch, wir unterstützen die Regierung, damit Frieden im Erlaubnis, Herr Präsident –: Land Einzug hält. Das Beispiel Kosovo zeigt, dass eine internationale Mission ein Land befrieden, stabilisieren Heute, wo die Welt zwar kleiner, aber die Krisen und innerstaatliche Konflikte beilegen kann. eher größer geworden sind, ist es an der Zeit, aufs Neue zu bekräftigen: Wir Deutschen wollen ein (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – Volk guter Nachbarn sein, für die nahen und die Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das war jetzt fernen gleichermaßen. das schlechteste Beispiel!) 18966 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Jens Lehmann (A) Dies alles ist auch in unserem Interesse; Da hat die Mehrheit des Hauses, bestehend aus SPD, (C) Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU, FDP und AfD ab- (Zuruf des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE züglich einer Enthaltung bei der AfD, gestimmt gegen die LINKE]) Fraktion Die Linke und damit die Beschlussempfehlung denn der Bürgerkrieg hat zu Tausenden Binnenflüchtlin- angenommen. gen geführt, weitere Tausende Menschen sind aus dem Jetzt kommen wir zur Beschlussempfehlung des Aus- Land geflohen. Mit dem Einsatz vor Ort können wir die wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregie- Lage verbessern und somit den Menschen eine Rückkehr rung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- in ihre Heimat ermöglichen. scher Streitkräfte an der Mission der Vereinten Nationen in der Republik Südsudan (UNMISS). Das ist Tagesord- Mir ist bewusst, dass das kleine Kontingent der Bun- nungspunkt 10. deswehrsoldaten bei UNMISS keine Wunder bewirken kann. Aber auch wenn die Höchstgrenze von bislang 50 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Soldaten noch nicht ausgeschöpft ist – wobei ich die lung auf Drucksache 19/17635, den Antrag der Bundes- Bundeswehr im Übrigen dazu ermuntere –, sind die Bun- regierung auf Drucksache 19/17032 anzunehmen. Wer deswehrsoldaten im Südsudan wichtig für die Mission stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die und bewirken viel. Die dort eingesetzten Stabsoffiziere SPD, die Grünen, CDU/CSU, FDP und AfD. Gegenstim- führen Männer und Frauen der internationalen Truppe men? – Wiederum die Fraktion Die Linke. Enthaltun- und tragen somit Stück für Stück zur Verbesserung der gen? – Wieder bei einer Enthaltung der AfD hat die Lage im Land bei. Dafür möchte ich mich ausdrücklich Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion bei den Soldaten bedanken. Die Linke die Beschlussempfehlung angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Ich muss noch darauf hinweisen, dass zu dieser Ab- der Abg. Christian Sauter [FDP] und stimmung eine Reihe von Kollegen von der Möglichkeit, Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ihr Abstimmungsverhalten zu dokumentieren, Gebrauch NEN]) gemacht hat und eine Erklärung nach § 31 der Ge- schäftsordnung abgegeben hat.1) Deswegen, meine Damen und Herren, unterstützen wir diesen Einsatz. Stimmen auch Sie für die Verlängerung Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf: der Mission! Es ist noch ein langer Weg, bis das Land Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald befriedet ist und sich die Situation vor Ort verbessert. Mit Weinberg, Susanne Ferschl, Matthias W. Ihrer Zustimmung zur Mission nutzen wir den Schwung Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak- (B) im Friedensprozess, der durch die Bildung der nationalen tion DIE LINKE (D) Einheitsregierung entstanden ist. Stimmen Sie zu! Jetzt bedarfsgerechte Personalbemessung in Danke schön. Krankenhäusern einführen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Drucksache 19/17544 ordneten der SPD) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Vizepräsident Thomas Oppermann: Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht beschlossen. vor. Deshalb ist die Aussprache beendet. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich noch Redner der Kollege Harald Weinberg für die Fraktion einmal auf den Tagesordnungspunkt 10 zurückkommen. Die Linke. Bei der Abstimmung sind unterschiedliche Sachen gehört worden. Deshalb stelle ich noch einmal klar: Die Be- (Beifall bei der LINKEN) schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu Harald Weinberg (DIE LINKE): UNMISS, Tagesordnungspunkt 10, ist mit – – Tagesord- nungspunkt 9! Entschuldigung, wir sind jetzt bei Tages- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- ordnungspunkt 10, und das betrifft Tagesordnungspunkt ne Damen und Herren! Gestern bei der Debatte über die 9, aber ich habe ja gesagt, es geht um die Mission UN- Krankenhausfinanzierung hatte ich so ein Déjà-vu-Erleb- MISS. nis: Nur wenige Rednerinnen konnten zugeben, dass da in der Krankenhauspolitik der letzten 15 Jahre doch eini- (Zurufe: UNAMID!) ges heftig schiefgelaufen ist und die Politik daran einen erheblichen Anteil hatte und hat. – Sorry. Ich habe die Unterlagen zu Punkt 10 noch vor mir liegen. Der Personalnotstand in den Krankenhäusern, der durch die Zange von Finanzierung mit diagnosebezoge- Jetzt geht es um UNAMID, Tagesordnungspunkt 10. nen Fallpauschalen und mangelhafter Investitionsförde- rung der Länder herbeigeführt worden ist, wird nach wie (Zurufe: Tagesordnungspunkt 9!) vor in seiner Dramatik unzureichend wahrgenommen. Zwar ist ein simples Leugnen, so wie ich es noch in den 1) Anlage 3 Debatten 2010 erlebt habe, nicht mehr möglich – dafür Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18967

Harald Weinberg (A) haben die Proteste und Aktionen der Betroffenen inzwi- Maßnahmen wie die Pflegepersonaluntergrenzen-Ver- (C) schen zum Glück gesorgt –, ordnung und das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz zeigen, dass die Bundesregierung und die Koalition das Problem (Beifall bei der LINKEN) inzwischen erkannt haben und reagieren. Beide Maßnah- aber die Maßnahmen kommen zu zaghaft und sehr zöger- men decken jedoch zunächst einmal die Probleme in den lich. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen je- Krankenhäusern schonungslos auf, die aus der jahrelan- doch jetzt durchgreifend verbessert werden. Die Bezah- gen Wirkung der erwähnten Zange entstanden sind. Die lung muss jetzt deutlich nach oben. Anteile in den DRGs, die für die Pflege vorgesehen wa- ren, sind über die Jahre zweckentfremdet worden, um (Beifall bei der LINKEN) mangelnde Finanzierung der Investitionen durch die Län- Das ist jetzt notwendig – im Wortsinne: um die Not zu der zu kompensieren. Wenn jetzt die Pflegekosten aus wenden –, damit der „Pflexit“, die Flucht aus dem Beruf, den DRGs rausgerechnet werden, wird dieser Umstand gestoppt und Pflegekräfte wiedergewonnen werden kön- zunächst einmal in Form einer Finanzierungslücke in den nen, die bereits weggegangen sind. Krankenhäusern sichtbar, und das bringt Krankenhäuser natürlich in schwierige Situationen. Wichtige pflegein- (Beifall bei der LINKEN) tensive Stationen in den Krankenhäusern werden mit viel Und ein Baustein, der die Bedingungen positiv beeinflus- zu wenig Pflegepersonal betrieben, Patientengefährdung sen kann, ist die Pflegepersonalregelung 2.0, die in un- inklusive. Das darf nicht so weitergehen! serem Antrag im Mittelpunkt steht. (Beifall bei der LINKEN) Es ist doch ein bemerkenswerter Vorgang gewesen, Vor inzwischen sechs Wochen hat Staatssekretär wie man immer wieder betonen muss, dass eine Gewerk- Dr. Gebhart auf eine Frage von mir geantwortet – ich schaft, nämlich Verdi, ein Interessenverband der Arbeit- zitiere –: „Die Bundesregierung wird das … vorgestellte geberseite, nämlich die Deutsche Krankenhausgesell- Pflegebedarfsbemessungsinstrument PPR 2.0 einer zeit- schaft, und eine berufsständische Organisation, nämlich nahen und umfassenden Prüfung unterziehen“, und – ich der Deutsche Pflegerat, sich im Rahmen der Konzertier- zitiere –: „die Ergebnisse der Prüfung werden zeitnahe ten Aktion Pflege auf ein gemeinsames Konzept für eine kommuniziert.“ bedarfsgerechte Pflegepersonalbemessung haben einigen können. (Heike Baehrens [SPD]: Also!) Dass es überhaupt so weit gekommen ist, ist der Erfolg Ich habe großes Verständnis dafür, dass angesichts der der Kämpfe und Aktionen gegen den Pflegenotstand, die Coronapandemie aktuell die Prioritäten anders gesetzt (B) in den letzten Jahren vor allem von den Pflegekräften werden – nicht dass ich da falsch verstanden werde: Ich (D) selbst geführt worden sind. habe großes Verständnis dafür. – Aber ich habe auch (Beifall bei der LINKEN) erlebt, dass die mit Corona begründete generelle Ausset- zung der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung bei Das Motto des ersten Streiks an der Charité „Mehr von den betroffenen Pflegekräften überhaupt nicht gut ange- uns ist besser für alle!“ ist inzwischen landauf, landab kommen ist. Deshalb wäre es ein wichtiges und starkes gegangen. Mittlerweile sind in 18 Krankenhäusern Tarif- Signal an die Pflegekräfte, wenn unser Antrag von allen verträge oder vergleichbare Vereinbarungen erzielt wor- demokratischen Fraktionen dieses Hauses und auch der den, die die Entlastung der Beschäftigten und damit eine Bundesregierung wohlwollend und ernsthaft beraten und bessere Patientenversorgung festschreiben. In Berlin, beschieden würde. , Bremen und Bayern hat es Volksentscheide und Volksbegehren gegeben, die diese Forderung nach (Beifall bei der LINKEN) einem bedarfsgerechten Pflegepersonalbemessungsin- Die Pflegekräfte in diesem Land sind jetzt, angesichts der strument in den Krankenhäusern zum Inhalt hatten. Und Pandemie, zusätzlich gefordert. Sie haben es verdient, auch wenn sie am Ende in der Mehrheit rechtlich ver- dass jetzt ernsthaft darüber geredet wird. hindert worden sind, so gab es doch insgesamt über 200 000 Menschen, die das mit ihrer Unterschrift unter- (Beifall bei der LINKEN) stützt haben, alleine in diesen drei Städten und einem Flächenland. Und ein Letztes: Wir müssen der fortschreitenden Pri- vatisierung und Kommerzialisierung von Gesundheits- (Beifall bei der LINKEN) und Pflegedienstleistungen ein Ende setzen. Daseinsvor- Erinnert sei auch an die Petition von Verdi vor fünf Jahren sorge gehört in die öffentliche Hand! zu dieser Frage, die mit über 190 000 Mitzeichnungen Vielen Dank. eine der erfolgreichsten Petitionen gewesen ist. Nun direkt zu unserem Antrag. Als Weiterentwicklung (Beifall bei der LINKEN) der bis 1996 geltenden Pflegepersonalregelung wäre die PPR 2.0 unmittelbar einsatzfähig, zumal sie als alte PPR Vizepräsident Thomas Oppermann: in vielen Häusern im Hintergrund immer noch angewen- Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der det wird. Und dass dies geht, bestätigt die Testphase, die CDU/CSU der Kollege Alexander Krauß. im November 2019 in bundesweit 44 Krankenhäusern durchgeführt wurde. (Beifall bei der CDU/CSU) 18968 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

(A) Alexander Krauß (CDU/CSU): Wir müssen uns auch mal anschauen, wie die Situation (C) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- jetzt in den Krankenhäusern ist. Laut Deutschem Kran- ren! Die Arbeit der Krankenschwestern in unserem Land kenhausinstitut gab es im Dezember 17 000 unbesetzte Stellen in der Pflege im Krankenhausbereich. Und einen (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Monat später kam die Deutsche Krankenhausgesellschaft GRÜNEN]: Krankenpflegefachkräfte!) mit dem Vorschlag, 40 000 bis 80 000 neue Stellen zu hat in den vergangenen Monaten eine deutlich größere schaffen. Wir müssen schon mal gucken, wie wir das Wertschätzung erfahren; das war auch notwendig. Das übereinanderbringen. Deswegen erwarte ich von der ist gut so, das ist richtig so; denn die Krankenschwestern Deutschen Krankenhausgesellschaft, dass sie ein stimm- bei uns im Land machen einen Spitzenjob. Sie gehören zu iges Konzept vorstellt, wie sie diese Stellen besetzen den Leistungsträgern in unserer Gesellschaft. möchte. Seit vorigem Jahr greift unser Sofortprogramm Pflege. (Beifall des Abg. Dr. Andrew Ullmann [FDP]) Wir haben ja beschlossen, dass jede zusätzliche Pflege- Und dieses Konzept – das sage ich auch ganz deutlich in kraft voll finanziert wird. Einerseits wird jede Kranken- Richtung der Deutschen Krankenhausgesellschaft – darf schwester, die zusätzlich eingestellt wird, voll finanziert, nicht im Elfenbeinturm in Berlin erstellt werden, sondern und auf der anderen Seite wird jede Tarifsteigerung eins das muss mit den Krankenhäusern vor Ort abgestimmt zu eins finanziert. Das war die einschneidendste Verbes- werden, die die Praxis wirklich kennen. Das ist der Auf- serung in den vergangenen Jahren im Krankenhausbe- trag an die Deutsche Krankenhausgesellschaft. reich. Ich möchte nicht verhehlen, was meine Priorität bei Wie war die Situation vorher? Auf der einen Seite dem Ganzen ist. Wenn jetzt 17 000 Stellen in den Kran- haben die Krankenhäuser über die Jahre mehr und mehr kenhäusern unbesetzt sind, dann erwarte ich, dass diese Ärzte eingestellt, weil die Ärzte diejenigen sind, die Leis- 17 000 Stellen zuerst besetzt werden, dass man Anstren- tungen abrechnen können. Auf der anderen Seite ist der gungen unternimmt, um das hinzubekommen. Wir haben Umfang des Pflegepersonals bestenfalls gleich geblieben, dazu auch Anregungen durch die Konzertierte Aktion zum Teil aber auch reduziert worden, weil manche Kran- Pflege erhalten; so wurde gesagt, dass wir durch die Aus- kenhäuser in den Krankenschwestern eine Kostenstelle bildungsoffensive Pflege die Zahl der Auszubildenden mit zwei Ohren gesehen haben. erhöhen wollen. Das ist sinnvoll. Das sind aber nur (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE 2 400 pro Jahr. Da bleibt eine kleine Lücke bis 80 000. GRÜNEN]: Krankenpflegefachkräfte!) Wir haben auch gesagt, dass wir mehr ausländische Bil- dungsabschlüsse anerkennen wollen. Da hat sich die Zahl (B) (D) Das war eine vollkommen falsche Einschätzung, ange- binnen zwei Jahren auf 10 000 pro Jahr verdoppelt. Aber sichts der wir gesagt haben: Wir müssen hier korrigierend das reicht alles nicht aus. Wir müssen insofern schon auf eingreifen. – Das haben wir getan, und ich glaube, das die Zahlen schauen und das durchrechnen. war auch richtig so. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich muss (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) leider auch noch auf einen kleinen Schönheitsfehler des Vorschlags hinweisen: Es hängt kein Preisschild dran. – Jetzt liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, wie man den Ich finde, dass die Arbeitnehmer, dass die Arbeitgeber, Bedarf an Pflegepersonal bemessen kann. Ich danke den dass auch die Krankenkassen ein Recht haben, wenn Vor- Akteuren, die daran mitgewirkt haben; das war ja ein schläge unterbreitet werden, zu erfahren, wie viel die Auftrag aus der Konzertierten Aktion Pflege. Wir sind kosten. aufgerufen, diesen Vorschlag zu prüfen, und wir werden ihn auch, Herr Kollege Weinberg, wohlwollend prüfen; (Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE LIN- dem steht selbstverständlich nichts entgegen. Das heißt KE]) aber noch lange nicht, dass wir Ihrem Antrag dann auch wirklich zustimmen. Wenn mir jemand ein Auto verkaufen möchte, dann möchte ich nicht nur wissen, inwieweit die Kosten für Wir müssen zuerst eine Frage klären: Woher nehmen die Serviceleistungen steigen, sondern auch, was das Au- wir die Pflegekräfte? to eigentlich kostet. Insofern möchte ich auch hier wis- sen, was es kostet. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: 300 000 sind weggegangen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Der Vorschlag besagt, dass man bis zu 80 000 neue Pfle- des Abg. Dr. Andrew Ullmann [FDP] – Maria gekräfte braucht. Ich sage ganz deutlich: Woher nehmen, Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ohne zu stehlen? Ich möchte nicht, dass wir Pflegekräfte NEN]: Ein Signal an die Pflege!) aus Rehaeinrichtungen oder der Altenpflege absaugen, Der Kollege Weinberg hat richtigerweise darauf ver- wo wir 15 000 unbesetzte Altenpflegestellen haben. wiesen, dass 1993 die Pflegepersonalregelung 1.0, so könnte man sagen, eingeführt worden ist. Sie ist nach drei (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Jahren beerdigt worden, weil es erhebliche Mehrkosten GRÜNEN]: Das wäre ja noch schöner!) gab, die man nicht gesehen hat. Das darf uns nicht noch Das möchte ich nicht; vielmehr müssen wir uns da schon einmal passieren. Es muss, wenn man eine Reform ein bisschen mehr Gedanken machen. macht, solide durchgerechnet werden, was sie kostet. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18969

Alexander Krauß (A) Lassen Sie mich zusammenfassen: Meine sehr geehr- kommt oder von der AfD, muss es abgelehnt werden. Das (C) ten Damen und Herren, wir werden den Vorschlag der kennen wir ja. Krankenhausgesellschaft, des Pflegerates und der Ge- werkschaften sehr gern prüfen, weil es gut ist, dass Vor- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schläge gemacht werden. Bislang handelt es sich um ei- Das sollte Ihnen zu denken geben!) nen Wunschzettel. Die Forderung der Linken ist jetzt, Jetzt meine Stellungnahme zu dem, was Sie hier vor- dass wir den Wunschzettel eins zu eins in Gesetzesform schlagen. Die Einführung dieser neuen Regelung würde gießen. Da wir aber weder Weihnachtsmann noch Oster- aus unserer Sicht voraussichtlich mehr Personal kosten, hase sind, wird das nicht so einfach gehen, sondern wir was entweder zur Folge hat, dass bei der gleichen Anzahl müssen uns da ein bisschen mehr Gedanken darüber ma- von Patienten mehr Pflegepersonal eingestellt werden chen: Was ist wirklich realistisch? Was ist machbar? muss – aber wie? – oder, im Umkehrschluss, bei der gleichen Anzahl von Pflegepersonal weniger Patienten Ich erwarte jetzt, dass zuerst die Krankenhausgesell- behandelt werden können. Die Nachteile der jetzigen schaft ihre Aufgaben macht, dass sie uns ein Konzept Untergrenzen würden womöglich bestehen bleiben, wo- vorlegt, wie sie die 17 000 unbesetzten Stellen besetzen bei die Behandlung von weniger Patienten in unserem will und woher sie das Personal nehmen will. Dann kön- Gesundheitssystem – ich denke, da sind wir uns einig – nen wir auch gern über die Weiterentwicklung sprechen. nicht vorgesehen ist. Auf die entsprechende Diskussion freue ich mich. Wir sehen es so, dass die Problematik des Personal- Vielen Dank und Glück auf! bedarfs sich nicht nur auf die Kliniken bezieht, sondern (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. auf alle bettenführenden Einrichtungen, zum Beispiel Dr. Andrew Ullmann [FDP]) auch auf die Altenpflege. Hierzu gibt es zahlreiche Be- richte von Pflegeverbänden, welche eine zu hohe Belas- tung des Pflegepersonals beklagen. Weiterhin müssen die Vizepräsident Thomas Oppermann: Einrichtungen auch in der Lage sein, hausinterne Engpäs- Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für se selbstständig und flexibel zu lösen. Der Präsident der die Fraktion der AfD der Kollege Detlev Spangenberg. DKG, Gerald Gaß, sprach sich für das sogenannte Ganz- hauskonzept aus. Es gibt viele andere Berufsgruppen in (Beifall bei der AfD) den Krankenhäusern, auf welche die Personalbemessung ebenfalls angewendet werden müsste. Detlev Spangenberg (AfD): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Be- (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (B) darfsgerechte Personalbemessung in Krankenhäusern Meine Damen und Herren, allerdings ist eine zeitnahe (D) einführen, so der Antrag der Linken. Die Linke greift, Umbesetzung dieser neuen Personalregel für die Pflege es wurde eben gesagt, ein Konzept der Deutschen Kran- in allen Klinikbereichen mit Vorbehalt zu betrachten. Es kenhausgesellschaft, des Deutschen Pflegerats und der kann kein benötigtes Personal eingesetzt werden, wel- Gewerkschaft Verdi auf. ches auf dem Arbeitsmarkt nicht vorhanden ist; wir haben ja keines. Für mich stellt sich die Frage, warum dieser Antrag überhaupt eingebracht wird, obwohl doch Mitte Januar (Harald Weinberg [DIE LINKE]: 300 000 sind offiziell die Pflegepersonalregelung im Rahmen der Kon- rausgegangen!) zertierten Aktion Pflege, KAP, vorgestellt wurde. Das Bundesministerium für Gesundheit hat doch bereits, wie – Ich komme noch dazu. – Der Pflegemarkt ist deutsch- eben auch gehört, eine Überprüfung bzw. Mitarbeit ange- landweit leergefegt, so ebenfalls Präsident Gerald Gaß, kündigt. Insofern ist es nicht nachvollziehbar, warum Sie und es ist fraglich, ob diese von Ihnen vorgeschlagene das jetzt hier einbringen. Regelung eine sinnvolle Alternative zur jetzigen Pflege- personaluntergrenzen-Regelung darstellt. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Aha! Wir Die Einführung einer generellen Personalbemessung sind kein Gesetzgeber? – Maria Klein- in den Kliniken ist stufenweise – wenn Sie es überhaupt Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: machen wollen – umzusetzen, um den Arbeitgebern die Da haben Sie etwas nicht verstanden, Herr Möglichkeit zu geben, Personal neu zu gewinnen bzw. Spangenberg!) bedarfsgerecht auszubilden. Sie fordern dabei auch noch, dass eine Verordnungser- Meine Damen und Herren, sieht man sich das geplante mächtigung durch das Bundesministerium mit eingeführt Regelwerk an, drängt sich der Eindruck auf, dass bei werden soll. Damit können Sie ja nur leichte Regelungen dieser Regelung ein erheblicher Teil der Arbeitszeit des durchführen. Ich kann auch dabei den Sinn nicht erken- Pflegepersonals für bürokratische Formalien aufgewen- nen. det werden muss. Ich möchte darauf hinweisen, dass die AfD auf Druck- sache 19/15790 vom 11. Dezember bereits einen Antrag (Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. Harald eingebracht hat, aufgabengerechte Personalvorgaben für Weinberg [DIE LINKE]) alle im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen einzuführen. Zu nennen ist hier vor allem ein sehr hoher Aufwand für Diesen Antrag haben Sie natürlich auch schon wieder Dokumentationspflichten. Dieser verkürzt die effektive abgelehnt. Das ist ja typisch: Wenn es nicht von Ihnen Arbeitszeit mit den Patienten. Ich habe Ihnen einmal 18970 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Detlev Spangenberg (A) das Blatt mitgebracht; das kennen Sie ja. Also ich finde (Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ (C) das ganz doll. Ich bin Diplom-Betriebswirt und kriege die DIE GRÜNEN]) Krise, wenn ich das lese – sage ich ganz ehrlich –: Wir haben über 2 Millionen, ich glaube 2,4 Millionen, Es erfolgt eine tägliche Einstufung der Patienten in Arbeitslose in Deutschland. Vielleicht können wir mit 4 Leistungsstufen der allgemeinen Pflege (A1 denen einmal reden, vielleicht kann man denen eine Per- Grundleistungen bis A4 hochaufwändige Leistun- spektive aufzeigen. Allemal besser als das, was Sie im- gen) sowie in 4 Leistungsstufen der speziellen Pfle- mer so vorschlagen. ge (S1 bis S4). Jeder A- und S-Leistungsstufe sind entsprechende Minutenwerte zugeordnet. Zudem (Beifall bei der AfD – gibt es für jeden Patienten einen Grundwert pro [SPD]: Sie haben doch echt keine Ahnung! Tag und einen einheitlichen Fallwert. Aber wirklich keine Ahnung!) Die allgemeine Pflege umfasst dabei die Leistungs- Meine Damen und Herren, wir sehen es so, dass zuerst bereiche der Körperpflege, Ernährung, Ausschei- sämtliche Mittel der Hilfe zur Selbsthilfe im Inland aus- dungen und Mobilisation. genutzt werden sollten, und erst wenn diese ausgeschöpft worden sind, dann können wir über weitere Maßnahmen – Sagen Sie mal, Sie müssen ja drei Leute haben, die nur nachdenken. mit dem Zettel herumrennen und das alles auflisten. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sie waren NEN]: Wo leben Sie denn?) lange nicht mehr im Krankenhaus, oder?) Man sollte bedenken, dass die Anwerbung von Pflege- Das ist doch Wahnsinn, was hier los ist! kräften aus dem Ausland einen Pflegekräftemangel in (Beifall bei Abgeordneten der AfD) denjenigen Ländern hervorruft, aus denen Sie die Pflege- kräfte abziehen. Was Sie da machen, ist Neokolonialis- Also, meine Damen und Herren, dem, der so etwas mus: Wir schicken Entwicklungshilfe hin und holen die auflegt, kann ich nur sagen: Katastrophal! Arbeitskräfte raus. – Das ist doch völlig sinnlos, was Sie (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Reden Sie hier aufziehen. doch einmal mit Pflegekräften!) (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Zuruf der Sie haben anscheinend noch nie in der Wirtschaft gear- Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ beitet. Das System muss ja pleitegehen, das kann ja gar DIE GRÜNEN]) (B) nicht klappen, wenn Sie so etwas machen. (D) Meine Damen und Herren, im Kosovo beispielsweise (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der ist laut Medienberichten – und wir wissen ja, die Medien AfD und des Abg. Dr. Andrew Ullmann [FDP]) sagen nur Wahres; „Lügenpresse“ gibt es ja nicht – in- zwischen ein tiefgreifender Mangel an medizinischen Meine Damen und Herren, wünschenswert wäre ein Sys- Fachkräften entstanden. Das ist Folge Ihrer Politik: Ent- tem, welches weniger Bürokratie erfordert. wicklungshilfe rein und dafür Arbeitskräfte wieder raus. Mit der Kritik an der von der Bundesregierung bisher Meine Damen und Herren, wir dürfen die Schwierigkei- bevorzugten Lösung, ausländische Arbeitskräfte anzu- ten bei uns nicht auf Kosten anderer Länder beheben. werben, steht die AfD nicht allein da. Erfahrungen zeigen Letzter Satz. Zu berücksichtigen ist auch, dass die an- inzwischen, dass diese scheinbare Lösung nicht hält, was geworbenen Pflegekräfte vorrangig wegen der besseren sie bringen soll; Andreas Mogwitz, Universitätsklinikum Bezahlung nach Deutschland kommen. Das ist klar. Aber Dresden, Marco Schüller, Universitätsklinikum , hier stehen wir in Konkurrenz mit der Schweiz, mit Ös- bestätigen diese Ansicht. terreich, mit Skandinavien, mit Holland. Die haben teil- (Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ weise noch bessere Entlohnung und bessere Bedingun- DIE GRÜNEN]) gen. Das heißt also, die angeworbenen Kräfte könnten gegebenenfalls nur kurz bei uns bleiben und gehen dann Zielführend ist primär eine Verbesserung der Arbeits- in diese Länder oder zurück in die Heimat. situation für die Pflegekräfte – da können Sie ja wenigs- tens einmal zustimmen – und damit der Erhalt von akti- Ich muss noch einmal eines sagen: Was wir hier haben, ven Pflegekräften im Land, meine Damen und Herren. Es ist – da gebe ich Ihnen recht – hausgemacht; es ist ja gibt immer noch zu viele aktive Pflegekräfte, welche aus schon seit vielen Jahren Thema. Ich frage mich, was Sie dem Beruf herausgehen. überhaupt bisher gemacht haben, wo Sie regiert haben. Wir haben Universitäten, wir haben Hochschulen, wir (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE haben doch Statistikerlehrstühle; die können Prognosen GRÜNEN]: Ja, warum denn?) erstellen, die können genau ausrechnen anhand der Be- Sie brechen die Ausbildung ab und stehen damit nicht völkerungsentwicklung, wie alt die Leute werden, was mehr zur Verfügung. für Krankheiten sie bekommen, was sie brauchen. Das gleiche Problem wie bei Lehrern: Sie sind unfähig, den Es sollte vorrangig – das ist unsere Meinung – die Laden zu regieren. Nutzung der potenziellen Ressourcen im eigenen Land mal geprüft werden. Vielen Dank, meine Damen und Herren. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18971

Detlev Spangenberg (A) (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Marianne bedeutet: Egal wie viele Pflegekräfte eingestellt werden, (C) Schieder [SPD]) sie werden von den Kassen bezahlt. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Das sind Versicher- Vizepräsident Thomas Oppermann: tengelder! Nicht von den Kassen, sondern von Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der den Versicherten!) SPD der Kollege Dr. Edgar Franke. Das ist gut, und das ist richtig. Aber wir brauchen auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Tino ein Korrektiv, sonst haben wir einen Vertrag zulasten Sorge [CDU/CSU]: Professor Doktor! So viel Dritter. Die Kassen sollen ja nur die bedarfsnotwendige Zeit muss sein!) Pflege bezahlen müssen. Das, glaube ich, ist nachvoll- ziehbar. Insofern könnte die an den tatsächlichen Bedürf- Dr. Edgar Franke (SPD): nissen der Pflege ausgerechnete Personalbemessung ein ideales Korrektiv sein, um das zu begrenzen. Auch des- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- wegen, aber nicht nur deswegen begrüßen wir als SPD- ren! Gute Pflege im Krankenhaus braucht immer einen Fraktion grundsätzlich den Vorschlag der Pflegepersonal- fairen Rahmen. Eine bedarfsgerechte Pflegepersonalbe- regelung, die PPR 2.0. messung könnte Teil eines solchen Rahmens sein – das sage ich ausdrücklich Richtung Harald Weinberg –; denn Der Vorschlag – auch das hat Harald Weinberg gesagt – Pflegekräfte, das ist so, stehen in unseren Krankenhäu- wurde gemeinsam von der Deutschen Krankenhausge- sern unter großem Druck. Warum ist das so? Auch Harald sellschaft, dem Deutschen Pflegerat und Verdi entwi- Weinberg hat es angesprochen: Weil die Einnahmen der ckelt – eine überraschende Koalition. Man fragt sich Krankenhäuser aus den Fallpauschalen tatsächlich schon, wie der Hintergrund ist. Auf jeden Fall lohnt es zweckentfremdet werden, und zwar für Investitionen; sich, auf diesen Vorschlag einen Blick zu werfen. ich habe es gestern gesagt. Und zuständig für Investitio- nen sind eigentlich die Bundesländer. Für diese Investi- Wir wissen ja, dass der Pflegebedarf im Krankenhaus tionen sind die Fallpauschalen nämlich nicht gedacht – auf Basis von Minutenwerten gemessen wird. Das ist und trotzdem muss aus diesen viel Geld dafür erwirt- sicherlich sinnvoll. Diese Minutenwerte sollen auch den schaftet werden. Das ist ein Strukturproblem. individuellen Pflegebedarf der Patienten ermitteln, und sonstige Aufgaben ohne direkten Patientenbezug sollen Meine sehr verehrten Damen und Herren, man rechnet hier eingerechnet werden. ungefähr, dass dieses Jahr oder letztes Jahr 4 Milliarden Euro im Jahr fehlten; hochgerechnet auf die letzten zehn Wir haben schon gehört, liebe Kolleginnen und Kol- (B) Jahre fehlten 30 Milliarden Euro. Diese Unterfinanzie- legen: Dem Gesundheitsministerium liegt der Vorschlag (D) rung haben in der Vergangenheit – auch das muss man vor. Das Gesundheitsministerium hat dankenswerterwei- ausdrücklich sagen – die Mitarbeiterinnen und Mitarbei- se festgestellt, dass es sich mit diesen Vorschlägen aus- ter in den Krankenhäusern und die Patienten ausbaden einandersetzen will. Wir Sozialdemokraten jedenfalls müssen. Deshalb müssen die Länder endlich mehr Geld sind der Meinung: Der Vorschlag geht zumindest in die in die Hand nehmen. Und wir müssen dafür sorgen, dass richtige Richtung. Wir müssen sicherlich immer aufpas- sich die Länder um eine bedarfsnotwendige Finanzierung sen, dass solche Instrumente nicht zu unnötiger Bürokra- der Krankenhäuser nicht drücken können. Sonst – das tie führen. Aber man braucht auch ein Stück weit Büro- sage ich hier auch – ist die duale Krankenhausfinanzie- kratie, um zu dokumentieren, Herr Spangenberg. rung nicht mehr zu halten; das muss man hier im Bundes- Es ist so, dass wir klären müssen, ob wir die Personal- tag ganz klar sagen. untergrenzen, die rote Haltelinie, vor Ort noch brauchen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Verdi mahnt Das muss sicherlich geprüft werden. Sie wissen: Aktuell zu Recht an: Viele Pflegekräfte haben mit enormer Ar- haben wir diese Untergrenze ausgesetzt, um die Kranken- beitsverdichtung zu kämpfen. Wir als Politik, auch wir als häuser im Zusammenhang mit dem Coronavirus zu unter- Große Koalition, wir als Bund, wenn Sie so wollen, ha- stützen, um möglicherweise, wenn es ernst wird, einen ben – Herr Krauß hat es gesagt – gehandelt. Wir haben die flexiblen Pflegeeinsatz zu gewährleisten. Das ist voraus- Pflegekosten aus den Fallpauschalen herausgelöst. Wir schauend und hat nichts mit der täglichen Praxis zu tun. finanzieren komplett die Tarifsteigerung. Auch jede neue Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist Pflegestelle wird zu 100 Prozent refinanziert. Wir haben richtig, wenn wir uns alle an einen Tisch setzen, wenn zusätzlich in allen bettenführenden Abteilungen Perso- wir zusammen Pflegepersonalbemessungsinstrumente naluntergrenzen eingeführt. Also, es lohnt sich in Kran- diskutieren; denn Pflegekräfte brauchen etwas, was ihnen kenhäusern nicht mehr, auf Kosten des Personals zu im Pflegealltag oftmals fehlt, nämlich Zeit; Zeit, um dem sparen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Patienten mehr Zuwendung entgegenzubringen. Ich muss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eins ganz klar sagen: Empathie, menschliche Zuwendung der CDU/CSU und der LINKEN und des Abg. lassen sich nicht durch Effizienz, nicht durch Standardi- Dr. Andrew Ullmann [FDP]) sierungen und auch nicht durch noch so genaue Pauscha- len ersetzen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Auch dafür haben wir als Große Koalition gesorgt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Liebe Kolleginnen und Kollegen, inzwischen refinan- der FDP und der LINKEN und des Abg. zieren wir also die Pflege ab diesem Jahr komplett. Das Dr. Roy Kühne [CDU/CSU]) 18972 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: sind demnach in diesen hochtourig laufenden Hamsterrä- (C) Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. dern gefangen. Doch durch die zunehmende Arbeitsverdichtung drif- Dr. Edgar Franke (SPD): ten für viele im Krankenhaus Tätige das persönliche Be- Ich komme zum Schluss. – Wir Sozialdemokraten wol- rufsverständnis und die medizinische wie auch pflege- len die Rahmenbedingungen in der Pflege weiter verbes- rische Realität immer weiter auseinander. Es bleibt sern. Mehr Pflegekräfte, bessere Arbeitsbedingungen und kaum noch Zeit für die Patienten, keine Zeit für spreche- auch mehr Geld in der Pflege: Das ist und bleibt der rote nde und zuwendende Medizin. Da hat Edgar Franke Faden sozialdemokratischer Gesundheitspolitik, aber das recht: Daran ist sicherlich auch die duale Finanzierung ist auch, denke ich, ein roter Faden unserer Koalitions- mit schuld. Das müssen wir gemeinsam ändern. Ich habe arbeit, die wesentlich besser ist, als sie manchmal darge- mich gefreut, als ich die Signale von der SPD gerade stellt wird. gehört habe. Danke schön. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Edgar (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Franke [SPD]) der CDU/CSU) Durch die Personaluntergrenzen hat sich die Versor- gungssituation verschlechtert. Pflegebereiche kannibali- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: sieren sich gegenseitig. Pflegekräfte werden aus der am- Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP-Fraktion hat bulanten Versorgung in Krankenhäusern abgeworben. das Wort der Kollege Professor Dr. Andrew Ullmann. Andere Krankenhäuser bekommen keine Bewerbungen. Intensivbetten, und das gerade in der Coronakrise, wer- (Beifall bei der FDP) den wegen der Nichteinhaltung der Personaluntergrenzen geschlossen. Dr. Andrew Ullmann (FDP): (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Jetzt wieder Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- geöffnet! – Tino Sorge [CDU/CSU]: Das haben ren! Ja, wir brauchen mehr Pflegekräfte. Der Mangel ist wir jetzt doch ausgesetzt!) groß. In der Coronapandemie wird dies noch deutlicher werden. Gerade Pflegekräfte auf der Intensivstation brau- – Schauen wir mal. Das zeigt, wie unflexibel das System chen wir dringend, um diese noch anlaufende Pandemie mit sturen planwirtschaftlichen Elementen ist. zu meistern. (Zuruf des Abg. Tino Sorge [CDU/CSU]) (B) (D) Doch wo stehen wir heute? Das PpSG ist meiner Mei- – Wenn Sie eine Frage haben, können Sie eine Frage nung nach bereits gescheitert. Der Personalnotstand in stellen. Ansonsten möchte ich gerne weitermachen. der Pflege hat sich in Deutschland nicht ausreichend ge- ändert; denn die Gründe des Pflegenotstands wurden Per se ist die PPR 2.0 brauchbar. In der Planung ist es nicht beseitigt. Seit Jahren klagen die Pflegekräfte über gut, zu wissen, welches Personal notwendig ist, um eine unhaltbare Zustände in den deutschen Krankenhäusern, qualitativ hochwertige gesundheitliche Versorgung zu und geändert hat sich bislang nichts. gewährleisten. Doch wir gehen nicht an die Ursache. Auf dem freien Markt fehlen Fachkräfte. Herr Krauß Kolleginnen und Kollegen, als ich vor zwei Jahren in hat es richtig gesagt: Bis zu 80 000 Fachkräfte fehlen in den Bundestag gewählt wurde, wurde ich von meiner den Krankenhäusern und für die Pflegestellen. Station mit den Worten verabschiedet: Bitte vergiss uns nicht. – Das kam vor allem von den Pflegekräften. Mir ist Meine Frage ist: Woher sollen wir diese Kräfte neh- sehr bewusst, auch als Arzt: Die machen einen Superjob, men? Das PpSG war bisher nicht erfolgreich. PPR 2.0 arbeiten bis an ihre Leistungsgrenze. Es ist an der Zeit, wird diesen Mangel auch nicht kompensieren. Regelun- dass wir endlich Danke sagen; denn diese Menschen hal- gen mit solchen planwirtschaftlichen Elementen, meine ten dieses marode System aufrecht. Damen und Herren, sind zum Scheitern verurteilt. Es gilt vielmehr, das Grundübel zu beseitigen. (Beifall bei der FDP) Mutig müssen wir die Herausforderungen anpacken; (Marianne Schieder [SPD]: Was würden Sie denn drängt. Hauptursache dieser Probleme im denn tun? Dann sagen Sie mal was anderes!) stationären Sektor sind die zu hohen Fallzahlen und zu – Wenn Sie eine Frage haben, dann fragen Sie bitte. – Das viele Leistungen in zu vielen deutschen Kliniken. Die seit sind die fehlende Krankenhausstrukturreform, schlechte Jahren – Herr Franke hat es gerade angesprochen – un- Finanzierung der Krankenhäuser, fehlende Fachkräfte genügende Finanzierung seitens der Länder, die auch die und fehlende Ausbildungsinitiativen. Was wir jetzt brau- Unikliniken betrifft, wurde durch Mengenausweitungen chen, liebe CDU, ist eine echte Pflegeausbildungsoffen- und Personaleinsparungen, insbesondere bei Pflegekräf- sive. Die Pflegeausbildungsoffensive, die wir bisher ha- ten und anderen nichtärztlichen Kräften, kompensiert. ben, ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Wer wirklich Das geschah in den Kliniken freilich nicht in böser Ab- eine nachhaltige Gesundheitsversorgung haben will, sicht, sondern um Standorte am Leben zu erhalten, die für muss sich von den liebgewonnenen Planelementen ver- die medizinische Versorgung vielfach nicht ausreichend abschieden und muss neben einer Krankenhausstruktur- ausgestattet sind. Ausgelaugte und an ihren Kapazitäts- reform in die Ausbildung eines attraktiven und zukunfts- grenzen arbeitende ärztliche und nichtärztliche Kräfte orientierten Berufes investieren. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18973

Dr. Andrew Ullmann (A) Ich wünsche Ihnen: Bleiben Sie bitte gesund. (Alexander Krauß [CDU/CSU]: Die waren (C) vielleicht bei der Rede von den Grünen schon (Beifall bei der FDP) eingeschlafen!) Deswegen müssen wir daran arbeiten, dass es bessere Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Arbeitsbedingungen gibt. Deswegen bin ich so froh, dass Vielen Dank, Herr Kollege. – Die nächste Rednerin: Bündnis 90/Die Grünen jetzt die 35-Stunden-Woche bei die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die vollem Lohnausgleich fordert. Ich glaube, wir müssen Grünen. endlich ernsthaft darangehen; denn wir brauchen ein gan- zes Bündel von Maßnahmen – dazu gehören auch Fach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kräfte aus dem Ausland –, wenn wir den Pflegenotstand endlich beenden wollen. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN): sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ganze KEN) Welt redet heute darüber, wie wir die Coronaepidemie in den Griff bekommen. Nun kann man tatsächlich nicht sagen, dass diese Re- gierung nichts getan hat, um dagegen etwas zu unterneh- (Tino Sorge [CDU/CSU]: Pandemie! – men. Ein Beispiel ist das, worüber wir gerade reden bzw. Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Pandemie!) worauf sich der Antrag der Linken bezieht, nämlich die Personaluntergrenzen in den Krankenhäusern für be- Ich glaube, wir werden dafür alle zusammenwirken. Aber stimmte Fachabteilungen. ein wichtiger Teil, um dieses Problem zu lösen, ist Solida- rität; Solidarität mit den betroffenen Menschen; Solidari- Kollege Weinberg, ich bin ein bisschen verwundert, tät aber auch mit den Menschen, die im Gesundheitsbe- weil ich mich gut erinnern kann: Als wir das Gesetz hier reich arbeiten. Das gilt auch ganz besonders für die beraten haben, haben Sie das auch sehr kritisch gesehen. Pflegekräfte; denn das sind die Personen, die am meisten Heute haben Sie es verteidigt. Das fand ich jetzt etwas Kontakte mit den Patienten und Patientinnen haben. erstaunlich. Meiner Meinung nach ist das ein falscher Ansatz; denn wir haben gesehen, dass die Personalunter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN grenzen zum faktischen Standard bei der Personalbe- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der darfsbestimmung wurden, und das ist genau das Problem, CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) das wir mit diesen Untergrenzen haben. (B) (D) Meine Damen und Herren, die besondere Rolle der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesundheitsberufe müssen wir tatsächlich ansprechen, insbesondere die Pflege, insbesondere die Fachpflege, Meine Damen und Herren, wir brauchen keine Unter- und zwar nicht nur die in den Krankenhäusern, sondern grenzenfestlegung, keine Verschiebung zwischen einzel- auch diejenige in den Heimen und im häuslichen Bereich. nen Fachbereichen und Berufsgruppen in der Pflege, Meine Damen und Herren, ohne eine gute Pflege werden sondern wir brauchen dringend eine ganz konkrete Per- wir es nicht schaffen, die demografischen und auch un- sonalbemessung, die sich am tatsächlichen Pflegebedarf sere aktuellen Probleme zu lösen. Wir brauchen starke orientiert. Dafür gibt es Instrumente, und diese Instru- Pflegekräfte. mente müssen jetzt schnell eingeführt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- sowie bei Abgeordneten der FDP) KEN – Tino Sorge [CDU/CSU]: Da sind wir Der Standard, den wir brauchen, ist nicht die Unter- uns alle einig!) grenze; der Standard, den wir brauchen, ist gute Pflege. Ich – aber nicht nur ich – beklage hier an diesem Pult (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – seit Jahren, dass die Pflege nicht ernst genommen wird, Harald Weinberg [DIE LINKE]: Genau das dass die Pflegekräfte nicht mehr ausreichen. Ich habe eine steht doch im Antrag!) Kollegin, die mir gerade erzählt hat, dass sie gestern bei einer Veranstaltung mit 1 000 Pflegeschülern war. Wir werden dem Antrag der Linken zustimmen, (Dr. Roy Kühne [CDU/CSU]: Was? In der (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Tat? – Dr. Edgar Franke [SPD]: 999!) weil wir der Meinung sind, dass im Rahmen der Konzert- – Entschuldigung, mit 100 Pflegeschülern. ierten Aktion Pflege tatsächlich das Ziel war, Vorschläge zu entwickeln. Wir haben hier einen Vorschlag vorliegen, (Heiterkeit) der jetzt von der Linken per Antrag eingebracht wird. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das ist nicht die Lösung, aber – Sonst hätten wir ein Problem; Entschuldigung. – Auf es ist ein wichtiger Zwischenschritt, und deswegen wer- die Frage, wer von diesen Pflegefachschülern überhaupt den wir ihm zustimmen. in den Beruf gehen will, haben sich nur 10 Prozent der Anwesenden gemeldet. Das ist die Situation, die wir im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Moment haben. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 18974 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Kordula Schulz-Asche (A) Wir müssen doch endlich begreifen, dass wir in diesem (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, (C) Bereich nicht mehr weiter reden können, sondern dass der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE wir handeln müssen. Das heißt, dass wir auch sicherstel- GRÜNEN) len, dass die Finanzierung der Pflege auf eine andere Bei näherer Betrachtung, liebe Kolleginnen und Kol- Grundlage gestellt wird, als wir das bisher haben. Wir legen, kann ich sagen, dass der Antrag einige Dinge ent- haben das Problem, dass jede Qualitätsverbesserung, hält, die wir sicherlich bedenkenlos unterschreiben kön- wenn wir sie dann durchbekommen, im Moment in be- nen. Aber bei vielen Dingen birgt er auch Gefahren. Ich stimmten Bereichen ausschließlich von den Pflegebe- will es einmal so formulieren: Vielleicht ist er auf der dürftigen bezahlt wird. Auch das ist eine Verwerfung in einen Seite zu kurz gedacht, vielleicht auf der anderen der Finanzierung unseres Systems, also nicht nur die un- Seite aber auch falsch gedacht. Es wurde schon mehrfach zureichende Finanzierung der Krankenhäuser, sondern gefragt – die von mir sehr geschätzte Kollegin Kordula auch die unglaublich ungerechte Finanzierung der Pflege Schulz-Asche hat das eben auch gesagt –: Was ist mit in Pflegeheimen und in der häuslichen Pflege. dem Rest? Auf wessen Kosten wird eine solche Personal- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN untergrenze, also diese Personalreserve, denn gemacht? und bei der LINKEN) Wir sehen es draußen. Es treibt wirklich verschiedenste Blüten. Ich möchte in diesem Zusammenhang ganz kurz Deswegen brauchen wir eine grundsätzliche Debatte über aus dem Antrag zitieren: „Hierbei ist besonders zu be- die Finanzierung von guter Pflege. achten, dass die vollständige Refinanzierung der Pflege- Meine Damen und Herren, die Gesellschaft braucht personalkosten sichergestellt wird …“ Das ist natürlich nicht nur beste Pflegefachkräfte – das gilt immer, aber löblich, führt aber wiederum zu der zweiten Frage – auch erst recht in der aktuellen Situation –, sondern wir brau- das wurde bereits gesagt –: Wie soll das bezahlt werden? chen als ganze Gesellschaft gute Pflege. Wir haben Stilblüten. Ich möchte aus dem Internet Ich danke Ihnen. zitieren, ohne jetzt den Namen der Klinikkette zu nennen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN …-Kliniken kämpfen mit Geldprämien gegen Per- sowie des Abg. Dr. Roy Kühne [CDU/CSU]) sonalmangel Suche Pfleger, biete 8 000 Euro Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Und weiter: Der Kollege Dr. Roy Kühne hat das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. Die Willkommensprämie ist gestaffelt von 2 000 bis (B) 8 000 Euro. Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger (D) (Beifall bei der CDU/CSU) erhalten bis zu 8 000 Euro, Krankenpfleger bis zu 6 000 Euro, Altenpfleger bis zu 2 000 Euro, medizi- Dr. Roy Kühne (CDU/CSU): nisch-technische Assistenten und operationstechni- Lieber Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! sche Assistenten bis 4 000 Euro und Arzthelfer und Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gleich zu Anfang medizinische Fachangestellte im OP bis zu 2 000 Eu- möchte ich ganz deutlich betonen: Ich bin dankbar für ro. den Antrag der Linken, weil er sich mit einem Thema Demjenigen, der wirbt, winkt ein „Kopfgeld“ von beschäftigt, das draußen nicht mehr wegzudiskutieren 1 000 Euro. ist und das unmittelbar sehr viele Menschen betrifft. Ich glaube, jeder spürt in seinem unmittelbaren Umfeld täg- Das will ich nicht – das sage ich Ihnen ganz offen –, lich: Mangel an Pflege, demotivierte Pflegekräfte, Pfle- weil das natürlich zu einer Verschiebung führt. Wenn gekräfte, die nach fünf bis acht Jahren, statistisch gese- dann der Wettbewerb auf Kosten der Ambulanz stattfin- hen, zu 50 Prozent diesen Beruf verlassen und lieber det, müssen wir uns selbstverständlich auch die Frage ungelernt irgendwo weitermachen, anstatt sich einem zu- gefallen lassen: Wer ergreift denn hier die Initiative für künftigen Burn-out hinzugeben. Deshalb sehe ich diesen Frau Meier, die nach einer Hüftoperation zu Hause ambu- Antrag erst einmal als sehr löblich. lant versorgt werden will? Frau Meier ist 80 Jahre und hat einen Mann gleichen Alters und möchte ganz gern zu Ich finde ihn auch deshalb gut, weil wir – ich sage es Hause gepflegt werden, noch dazu in einer ländlichen noch einmal – gar nicht aufhören können, uns mit diesem Region. Es ist keiner da, weil vorher der ambulante Pfle- Thema zu beschäftigen, solange wir nicht sicherstellen gedienst seine Fachpflegekräfte aufgrund solcher Wer- können, dass draußen die Pflege für unsere Angehörigen, bung an Akutkrankenhäuser verloren hat. für unsere Eltern gewährleistet ist, und solange nicht aus- geschlossen ist, dass am Ende des Tages dann wieder eine Weiterhin nenne ich die junge Frau, 35 Jahre, doppelte Pflegekraft zu ihrem Arbeitgeber geht und sagt: Schluss, Brustamputation wegen einer Krebserkrankung. Sie kann aus, ich will hier nicht weitermachen. nicht Auto fahren und lebt ebenfalls in einer ländlichen Region: Wer versorgt diese Frau mit Pflege? Ganz ehr- Deshalb sage ich hier noch einmal explizit: Danke für lich: Ich möchte keinen Wettstreit zwischen der ambulan- den Antrag, aber auch in aller Öffentlichkeit ein Dank an ten und der stationären Versorgung haben. alle fleißigen Pflegekräfte draußen, die in dieser politisch wie medizinisch momentan sicherlich schwierigen Situa- Natürlich verstehe ich es, wenn Krankenhäuser, Verdi tion bewunderungsvoll ihren Job machen, an vielen Pa- und DKG sagen: Jawohl, wir wollen die Pflegepersonal- tienten arbeiten, natürlich auch im Kontext von Corona. regelung, wir wollen diese Zahlen haben. -Aber noch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18975

Dr. Roy Kühne (A) mal: Ich bitte, bis zum Schluss zu denken und zu gucken, im stationären Bereich arbeiten. Wir müssen irgendwel- (C) welcher Dominostein denn am Ende umfällt. Dies hier – che Anreize setzen, dass Leute nicht immer nur sagen: und es findet täglich statt – ist übrigens nicht das Ergebnis „Ich bleibe jetzt im Krankenhaus“ oder „Ich gehe nur ins von heute, sondern einer Praxis in der Vergangenheit, Krankenhaus“, sondern wir müssen auch wertvolle An- nämlich dass seit ein paar Jahren schon aktiv Kopfgeld reize monetärer Art setzen, damit Leute sagen: Ich bleibe gezahlt wird. in der ambulanten Versorgung, ich möchte nicht dieses Kopfgeld kriegen. – Dabei geht es natürlich darum – das Wir müssen aufpassen, dass es da nicht eine stationäre wurde gestern auch gesagt –, sozusagen gleich lange Versorgung auf Kosten der ambulanten gibt. Bei allem Spieße zu setzen. Respekt: Die Versorgung im Krankenhaus ist immens wichtig; aber wir können nicht den Schritt machen, dass Ich bin unserem Ministerium dankbar, dass hierüber wir in den Bereich Krankenhaus investieren und im am- wirklich die verschiedensten Ansätze diskutiert werden. bulanten Bereich die Kräfte verlieren. Sie können drau- Sprich: Das Gehör ist dafür offen. Es wurde auch schon ßen niemandem erklären, dass Telefonanrufe für Betrof- mehrfach diskutiert, in welche Richtung wir gehen wol- fene so enden: Tut uns leid, wir haben leider keine len. Lieber Edgar Franke, ich rede jetzt nicht von einem Pflegekräfte; die sind übrigens gestern ins Krankenhaus roten Faden, sondern ich rede von einem Faden, den wir gewechselt. im Rahmen der Arbeit der Großen Koalition durch das Gesundheitssystem ziehen wollen. Darüber gibt es natür- 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in lich auch eine entsprechende Diskussion mit den Län- Deutschland werden in der ambulanten Pflege versorgt. dern. Ja, vor dieser Diskussion mit den einzelnen Landes- Wir sind ein ländlich geprägtes Land. Ja, wir haben Bal- fürsten dürfen wir uns auch nicht scheuen. Na klar ist das lungszentren, München etc. pp. Aber viele wohnen halt immer in der Diskussion: Wie viel investieren wir jetzt in schlichtweg in der ländlichen Region, und da gehört die Infrastruktur der Krankenhäuser? Fahrzeit dazu. Und deshalb müssen wir genau diesen An- satz fahren, für einen fairen Wettbewerb zu sorgen. Ich Ein weiterer Punkt ist – das wird auch getan, dafür bin frage mal: Wer ist denn der sogenannte Lobbyist? Offen- ich auch dem Minister sehr dankbar – die Anerkennung sichtlich sind es nicht die Krankenhausgesellschaft, Verdi ausländischer Fachkräfte. Es wurde mehrfach gesagt: Da und Co, die für die ambulante Versorgung von Frau Meier müssen wir schneller werden, unbürokratischer werden. – und der Oma eintreten. Hier muss ebenfalls eine gerechte Wir müssen auch Anreize setzen und uns um die Aner- Lösung gefunden werden. kennung für die ausländischen Fachkräfte hier kümmern. Motivation für Rückkehrer: Ja, natürlich, lassen Sie uns Wir müssen auch weiter dem Umstand Rechnung tra- über Arbeitsstrukturen reden. Arbeitsstrukturen bedingen gen, dass natürlich Wettbewerb stattfindet. Bestes Bei- Entbürokratisierung mit; das wurde bereits gesagt. (B) spiel: Die Mutter arbeitet im Krankenhaus, ist dort ent- (D) sprechend auch gut situiert, kriegt entsprechend TVöD- Fazit: Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass wir Gehalt. Die Tochter hat diesen Beruf über die Mutter sicherlich ganzheitlich dieses Thema angehen müssen. kennengelernt, übt ihn ebenfalls aus, findet aber nur in Es wurden jetzt mehrere Aspekte genannt, und wir wol- der ambulanten Versorgung einen Arbeitsplatz. Wie ist len ja in die Richtung gehen. Ich glaube wirklich – darü- dort die Frage der Rechtfertigung? Beide treffen sich, ber sind wir uns einig –, dass das die entscheidende Frage reden über Ausbildung, reden über Fortbildung, reden ist. Wir müssen jetzt gucken, dass wir zeitnah einen Plan über Gehalt. Ich kann verstehen, dass irgendwann die festlegen, nicht morgen und nicht übermorgen. Irgend- Tochter sagt: Na ja, Schluss, aus – wie soll es hier denn welche parteiinternen Streitigkeiten oder parteiexternen weitergehen? Streitigkeiten sollten uns nicht davon abhalten, einen ge- Ich möchte meinen lieben und von mir geschätzten meinsamen Weg zu finden. Kollegen Erwin Rüddel zitieren. Erwin, wir sprachen Ich danke Ihnen, Herr Präsident. gestern über Krankenhausfinanzierung. Da hast du ge- sagt: Ich möchte keinen ruinösen Wettbewerb zwischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. den Krankenhäusern. – Dieses würde ich ganz gern er- Dr. Edgar Franke [SPD]) weitern: Ich möchte keinen ruinösen Wettbewerb zwi- schen ambulanter und stationärer Versorgung. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der CDU/CSU) Es war mir ein Vergnügen. – Kollegin Nicole Westig, FDP-Fraktion, ist die nächste Rednerin. Ich verweise weiterhin auf . Was ist ge- sagt worden? Wir haben gestern ebenfalls über das FKG (Beifall bei der FDP) geredet, also über das Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz. Wir reden dort über Wettbewerbsverzerrungen. Wir reden Nicole Westig (FDP): dort ganz gezielt über Punkte, bei denen Krankenkassen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! uns die Türen einrennen und sagen: Die kriegen mehr, die Auch wir begrüßen, dass die Forderungen von Verdi, kriegen weniger, das Risiko ist dort höher, dort weniger der DKG und dem Deutschen Pflegerat heute hier disku- hoch. – Lassen Sie uns doch bitte darüber nachdenken, tiert werden. Die alten Personaluntergrenzen führen ge- wie wir über diese faire Gestaltung mal grenzüberschrei- nau dazu, wovor wir Freie Demokraten immer gewarnt tend diskutieren können, also nicht nur über eine faire hatten: Pflegepersonal wird innerhalb der Abteilungen Gestaltung zwischen Krankenhäusern, sondern wirklich verschoben, um die Vorgaben zu erfüllen. Statt Pflege- zwischen den Leistungsanbietern, die im ambulanten und kräfte in festen Arbeitsbereichen zu binden, müssen sie 18976 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Nicole Westig (A) nun oftmals rotieren. Das haben sich die Pflegenden an- Heike Baehrens (SPD): (C) ders vorgestellt. Das dient auch nicht dem Patienten- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe schutz. Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir brauchen mehr Pfle- gekräfte in unseren Krankenhäusern, und das nicht nur Aktuell sind die Untergrenzen aufgrund der Corona- auf den sogenannten bettenführenden Stationen. pandemie ausgesetzt. Wir unterstützen die Bundesregie- rung bei ihren pragmatischen Maßnahmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten GRÜNEN) der CDU/CSU) Jeder, der persönliche Erfahrungen gemacht hat, weiß Aber – da gebe ich Harald Weinberg recht – wir sagen um die wichtige Rolle der Pflege im Krankenhaus, weiß auch ganz deutlich: Die Aussetzung darf nicht von Klini- um die sehr unterschiedlichen Bedarfe auf den Stationen, ken ausgenutzt werden, die bislang gar nicht von Corona weiß um das so wichtige Zusammenspiel unterschiedli- betroffen sind. Denn dies führt zu Frust bei den Pflegen- cher Berufsgruppen im Team und hat schon ganz unmit- den, und den, meine Damen und Herren, können wir uns telbar erlebt, was es bedeutet, wenn man auf Hilfe ange- momentan nun gar nicht leisten. wiesen ist und eben lange warten muss. (Beifall bei der FDP) Mit viel Einsatz und Kreativität überbrücken Pflege- Wir brauchen statt der starren und willkürlichen Per- kräfte so manche Mangelsituation. Das kann zum Bei- sonaluntergrenze ein evidenzbasiertes Bemessungsin- spiel ein Löffel sein, der von außen auf die Türklinke strument. Wir brauchen eine flexible Regelung, die sich gelegt wird, damit der Nachtdienst hört, wenn die Patien- am tatsächlichen Bedarf echter Patientinnen und Patien- tin mit fortgeschrittener Demenzerkrankung desorientiert ten orientiert statt am Bedarf kalkulierter Musterpatien- das Zimmer verlässt. Aber wenn zum Beispiel eine Pa- ten. tientin mit einem Oberarmbruch auf die Operation wartet, reicht die Zeit nicht, in der Nacht Orientierung zu geben (Beifall bei der FDP) und sie durch die Nacht zu begleiten. Wenn man als An- gehörige eine solche Nacht oder auch mehrere Nächte im Dieses Instrument darf kein neues bürokratisches Mons- Krankenhaus mit einer demenzerkrankten Frau verbringt, ter werden und muss auf der Basis der digitalen Pflege- dann sieht man nicht nur in diesem Einzelfall, sondern planung stetig weiterentwickelt werden. darüber hinaus, wie schwierig die Personalsituation im Ihr Antrag, liebe Linke, beschreibt jedoch nur die halbe Krankenhaus ist. Miete. Denn das beste Personalbemessungsinstrument ist (B) Eine andere Situation habe ich vor Augen: drei Monate (D) wirkungslos, wenn die Fachkräfte dafür fehlen. Da hilft in der Kinderkardiologie, wo um das Leben eines neuge- dann auch keine Refinanzierung, wie wir beim Pflege- borenen Kindes gerungen wurde, von Ärzten, von He- personal-Stärkungsgesetz sehen. Dieses sogenannte So- bammen und vielen sehr qualifizierten Kinderkranken- fortprogramm hat die Erwartungen bei Weitem nicht er- schwestern, die sich Tag und Nacht gekümmert haben, füllt. wo ganz oft der Schichtplan nicht eingehalten werden (Beifall bei der FDP) konnte, weil die Personaldecke zu knapp bemessen war. Der Pflegeberuf muss attraktiver werden. Nur so kön- Das waren nur zwei Beispiele vom Anfang und vom nen wir genügend Menschen dafür gewinnen. Wir brau- Ende des Lebens, die zeigen, wie wichtig es ist, gut aus- chen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, flexible gebildetes Personal in ausreichender Zahl zuverlässig im Arbeitszeitmodelle für Familien, mehr Karrierechancen Einsatz zu haben. Internationale Studien belegen seit für Pflegende. All das müssen wir besser vorantreiben; Langem den engen Zusammenhang zwischen guter Per- dies alles unterstützt durch die Möglichkeiten der Digita- sonalausstattung und qualitativ hochwertiger Versor- lisierung, um mehr Entlastung und mehr Zeit für Zuwen- gung. Mehr qualifiziertes Personal bedeutet weniger To- dung zu schaffen. desfälle, weniger Komplikationen nach Operationen, weniger Decubiti, weniger Lungenentzündungen; man Daher: Bedarfsgerechte Personalbemessung ist ein könnte die Liste fortsetzen. wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber lassen Darum ist für uns als SPD klar: Pflege im Krankenhaus Sie uns auch den Kern des Problems endlich angehen, darf kein Spielball sein, mit dem man je nach Kassenlage damit daraus keine Sackgasse wird, nämlich endlich beliebig jonglieren kann. Pflege ist maßgeblicher Be- Sorge dafür zu tragen, dass wir mehr Menschen für den standteil des Leistungsgeschehens und unverzichtbar für Pflegeberuf gewinnen. Qualität und Erfolg der Krankenhausbehandlung. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP) Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz war ein wichtiger Schritt, um zusätzliche Personalstellen zeitnah in den Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Krankenhäusern besetzen zu können. Aber auf Dauer Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Heike hilft nur eine verbindliche und gerechte Personalbemes- Baehrens. sung für alle Leistungsbereiche des Krankenhauses. Des- halb ist es gut, dass die Deutsche Krankenhausgesell- (Beifall bei der SPD) schaft, Verdi und der Deutsche Pflegerat gemeinsam Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18977

Heike Baehrens (A) einen Vorschlag als Übergangslösung, sozusagen als auch bei den pflegeentlastenden Maßnahmen nachjus- (C) Zwischenschritt, gemacht haben. Da schließe ich mich tiert; das heißt, hier gibt es noch mal 150 Millionen Euro den Ausführungen von Kordula Schulz-Asche an: Es ist mehr für die Kliniken. Nicht zu vergessen: das Pflege- ein Zwischenschritt auf dem Weg hin zu einem wissen- personal-Stärkungsgesetz, in dem wir festgeschrieben ha- schaftlich fundierten, am Versorgungsbedarf der Patien- ben, dass jede neue Pflegestelle im Krankenhaus refinan- tinnen und Patienten orientierten Personalbemessungs- ziert werden soll. verfahren, das aber alle Professionen einbeziehen muss, Ja – es ist hier in der Debatte auch angeklungen –, wir die am Gelingen des Pflegeprozesses beteiligt sind. können uns Pflegefachkräfte nicht backen, leider. Wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ müssen aber dafür sorgen, dass wir in den Diskussionen – DIE GRÜNEN) da geht es auch um Sachlichkeit – nicht den Eindruck erwecken, als würden wir hier untätig sitzen und da nichts Ja, wir brauchen mehr Pflegekräfte in unseren Kran- verbessern wollen. Das machen Sie als Opposition, ge- kenhäusern, und dafür kämpfen wir als SPD. Insofern rade Sie von der linken Seite, ja sehr gern. Aber Sie freuen wir uns auf die Diskussion über diesen Antrag. wissen ja auch: Wir als Union und unser Minister Jens Vielen Dank. Spahn sind die, die liefern – selbstverständlich mit un- serem Koalitionspartner, der SPD. Insofern: Lassen Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten uns da ein bisschen sachlicher bleiben. der CDU/CSU und der Abg. Kordula Schulz- Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema Personal- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: bemessung ist ein Thema, über das wir häufig zu Recht Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: der sehr konstruktiv, gleichzeitig aber auch sehr kontrovers Kollege Tino Sorge, CDU/CSU-Fraktion. diskutieren; denn das ganze System lebt natürlich auch davon, dass man es laufend anpasst, dass man es weiter- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) entwickelt. Das ist der Ansatz, den wir als Union ver- folgen, und das ist auch ganz konkret der Ansatz unseres Tino Sorge (CDU/CSU): Bundesgesundheitsministers. Wir sehen es in der jetzigen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr Situation: Die Pflegepersonaluntergrenzen sind nicht sta- geehrte Damen und Herren! Wir sehen es dieser Tage tisch, sondern wir haben sie wegen der aktuellen Corona- sehr deutlich: Unser Land braucht eine leistungsfähige situation ausgesetzt, und das ist auch gut. Krankenhaus- und Pflegelandschaft, gerade in der jetzi- (B) gen Situation mit dem neuen Coronavirus. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche (D) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich möchte deshalb zuerst einmal einige Worte jenen Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es ist widmen, die im Gesundheitswesen in diesen Tagen wirk- ja immer ganz nett und gut gemeint, wenn Sie die Bun- lich Außergewöhnliches leisten, die mit aller Kraft daran desregierung in Anträgen auffordern, neue Ideen zur arbeiten, das Coronavirus zu bekämpfen: in Kranken- Pflegepersonalbemessung in die Praxis umzusetzen. häusern, in Pflegeeinrichtungen, in Pflegediensten, in Aber Sie sind leider – wie meist – zu spät. Das BMG, Laboren, in Arztpraxen, in Apotheken, im Öffentlichen das Bundesgesundheitsministerium, ist bereits seit Januar Gesundheitsdienst und ebenso in vielen anderen Berei- dabei – das wissen Sie auch –, die Vorschläge zu einem chen. Ein ganz großes Lob an Sie alle! Wir alle schauen neuen Instrument zu bewerten. Das, was Sie hier fordern, auf Sie, wir sehen, was Sie leisten, und Sie haben unsere sind mal wieder nur Schnellschüsse, und das ist das Letz- volle Unterstützung. Herzlichen Dank! te, was die Kliniken brauchen, das ist das Letzte, was die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Pflegekräfte brauchen. Das erzählen Ihnen und uns im neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Übrigen auch die Pflegekräfte vor Ort. GRÜNEN und des Abg. Harald Weinberg [DIE Liebe Kolleginnen und Kollegen, um es mal grund- LINKE]) sätzlich zu sagen: Gute Krankenhauspolitik besteht auch Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der heutigen De- darin, dass man das bestehende System kontinuierlich batte geht es aber ganz konkret um das Personal in den feinjustiert und nachbessert. Das, was Sie hier fordern, Krankenhäusern. Da gibt es diejenigen, die die Dinge bedeutete natürlich auch einen überstürzten Wechsel von sehr gern schlechtreden, und es gibt diejenigen, die die einem System zum nächsten. Das hilft weder den Kran- Dinge anpacken, die Probleme lösen wollen. Und weil kenhäusern noch den Pflegerinnen und Pflegern vor Ort. die Kollegen der Linken es sehr gern verdrängen: Erin- Das ist leider wieder nur Aktionismus. nern wir uns mal, wie sehr wir die Situation in den Kran- kenhäusern allein in den letzten Monaten verbessert (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Immer die haben. Wir haben mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Ge- gleiche Leier!) setz den Krankenhäusern zusätzlich 250 Millionen Euro Insofern geht es darum, dass wir gerade auch bei der zukommen lassen, das heißt eine Viertelmilliarde, mit der Frage der DRGs – darüber haben wir hier auch diskutiert; Tarifsteigerungen in der Pflege aufgefangen werden sol- das ist völlig richtig – in Richtung Länder sagen: Die len. Wir haben mit dem MDK-Reformgesetz die Abrech- Länder müssen ihren Investitionskostenverpflichtungen nung tagesbezogener Entgelte erhöht; das heißt, der Pfle- nachkommen, damit wir eben nicht die Situation haben, gebasisentgeltwert steigt auf fast 150 Euro. Wir haben dass aus diesen Fallpauschalen letztendlich die Investi- 18978 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Tino Sorge (A) tionskosten herausgepresst werden. Da kann ich nur sa- Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) gen: Das betrifft nahezu jedes Bundesland. – Herr NEN): Weinberg, da erwarte ich auch, dass Sie mit Ihren Kolle- Danke sehr für die Zulassung der Frage. – Welches ginnen und Kollegen in Berlin und mit Herrn Ramelow in Signal geben Sie als Vertreter der Unionsfraktion denn Thüringen sprechen, damit man das, was Sie hier immer den Nachwuchspflegekräften, wenn diese Sie fragen, was wohlfeil fordern, letztendlich dann auch in den Ländern, Sie ihnen zusichern können, was sich verändert, damit sie wo Sie mit in Regierungsverantwortung sind, umsetzt. in diesem Beruf bleiben können? Dass nur 10 von 100 Das wäre – der Ehrlichkeit halber – wichtig. einer ganzen Jahrgangsstufe anschließend in diesem Be- ruf arbeiten wollen, hat mich gestern sehr erschüttert, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und muss ich sagen. Ich habe auch nachgedacht: Was sagen der Abg. Nicole Westig [FDP]) wir denen denn? Was ist an Sicherheit da, damit sich Um es ganz klar zu sagen: Der Antrag ist auch hand- tatsächlich etwas in diesem Berufsfeld verändern wird? werklich unausgegoren. Da behaupten Sie zum Beispiel, Was sagen Sie? dass die bisherigen Pflegepersonaluntergrenzen ohne pflegerische Expertise erarbeitet worden seien. Nur mal Tino Sorge (CDU/CSU): zur Erinnerung: Daran waren der Deutsche Pflegerat, der Wie gesagt, ich war selbst letzte Woche bei mir im GKV-Spitzenverband, die Krankenhausgesellschaft, das Wahlkreis auf einer Veranstaltung. Magdeburg ist eine BMG, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Patienten- der ersten Städte bzw. Sachsen-Anhalt neben Hamburg vertreter und Fachverbände beteiligt. eines der ersten Bundesländer, die auf die generalistische Pflegeausbildung setzen. Ich war bei einer Veranstaltung, (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Unser Vor- auf der eine Menge Pflegefachkräfte und Azubis waren. schlag stammt von einem ausgewiesenen Pfle- Natürlich geht es denen darum, Wertschätzung zu be- gewissenschaftler!) kommen. Das ist ja genau das, was wir wollen. Wir sa- Wollen Sie hier ernsthaft sagen, von all diesen Akteuren gen: Wer in die Pflege geht, wer als Pflegefachkraft arbei- hätte nicht ein einziger pflegerische Expertise? Deshalb ten will, der ergreift einen super Beruf. Das ist ein Beruf jetzt ganz konkret meine Frage: Wo sehen Sie denn pfle- mit Zukunft; das ist ein Beruf, bei dem man Empathie gerische Expertise? Sehen Sie die bei Ihren Strategiekon- braucht; das ist ein krisenfester, zukunftssicherer Beruf. ferenzen, die Sie durchführen, oder wo sehen Sie die? Wir helfen diesen Menschen nicht, wenn wir hier immer alles schlechtreden und sagen: Die Pflege ist schlecht; in (Kerstin Kassner [DIE LINKE]: Oh! Ganz, der Pflege läuft alles schief. – Das ist nicht der richtige ganz dünnes Eis!) Weg. (B) (D) Insofern: Morgen ist zwar Freitag, der 13., aber lassen Sie Was wir machen müssen, ist natürlich, die Verhältnisse uns doch ein bisschen sachlich bleiben und das nicht auf in der Pflege zu verbessern. Da geht es um die Verein- die Spitze treiben. barkeit von Familie und Beruf. Da geht es um Planbar- keit, um die Frage: Werde ich ständig aus meiner Freizeit Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wahrheit gehört geholt? Da geht es auch darum: Haben wir genug Pflege- auch dazu: Wir können noch so viel über die Bemessung fachkräfte? Aber das eine bedingt das andere. Da gehört von Personalbedarf sinnieren, aber angesichts der Reali- eine gute Bezahlung dazu. Da haben wir – Frau Klein- täten des Arbeitsmarktes muss es uns doch auch darum Schmeink, das wissen Sie doch auch; wir sind ja gar nicht gehen, dass wir die Priorität da setzen, wo es drauf an- weit auseinander – in den letzten Jahren doch viele gute kommt, nämlich bei der Personalgewinnung. Insofern Dinge auf den Weg gebracht. Also, lassen Sie uns darüber arbeiten wir als Union mit Hochdruck daran, die Perso- sprechen, was Gutes geschehen ist, und gleichzeitig auch nalgewinnung gerade in der Pflege voranzutreiben. darüber, was wir an den jeweiligen Stellen verbessern können, anstatt immer nur zu sagen: Alles ist schlecht, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir müssen das System komplett ändern, und das, was Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser klares Ziel ist gemacht worden ist, ist sowieso nicht zielführend. dabei natürlich, möglichst viele junge Auszubildende, Insofern lade ich Sie gern dazu ein: Arbeiten Sie weiter aber auch den einen oder anderen erfahrenen Rückkeh- mit uns zusammen. Wir sind in vielen Bereichen über- rer – das ist genau die Diskussion, die wir führen – für haupt nicht weit auseinander. Wir alle wollen eine gute diese Berufung zu gewinnen. Ja, das ist die entscheidende Pflege. Wir alle sind den Pflegefachkräften sehr, sehr Stellschraube. dankbar, –

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Herr Kollege Sorge, gestatten Sie eine Zwischenfrage Okay. der Kollegin der Grünen? (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Tino Sorge (CDU/CSU): GRÜNEN]: Klein-Schmeink!) – und ich hoffe, dass viele junge Menschen sich für diesen Job entscheiden; denn es ist ein toller Job. Tino Sorge (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Von Maria Klein-Schmeink natürlich, sehr gern. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18979

Tino Sorge (A) GRÜNEN]: Sie haben immer noch nicht ge- muss ich eins für meine Fraktion aber ganz deutlich sa- (C) sagt, wann das Ganze passiert!) gen: Für uns ist das, was hier vorgelegt wurde, keines- wegs eine Wunschliste – ich finde auch den Begriff Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: „Wunschliste“ an dieser Stelle völlig deplatziert –, Frau Klein-Schmeink, Sie können sich wieder hinset- (Marianne Schieder [SPD]: Ja!) zen. sondern das ist eine klare, strukturierte und vernünftige Forderung, Tino Sorge (CDU/CSU): Insofern darf ich noch mal darauf hinweisen – das war (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- ja auch das Petitum –, dass wir letztendlich die eine Seite KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- bespielen und sagen: Natürlich braucht es Wertschätzung NEN) und gleichzeitig die entsprechende Regelung; da sind wir und sie richtet sich eben auch keineswegs an den Oster- momentan dabei. Da geht es um Personalgewinnung im hasen oder den Weihnachtsmann – auch das zu behaup- Ausland genauso wie im Inland, und daran arbeiten wir ten, finde ich sehr deplatziert –, sondern sie richtet sich an mit Entschlossenheit, aber auch mit der nötigen Beson- uns als Gesetzgeber – das scheint der eine oder andere nenheit. Dazu lade ich Sie alle ein – sehr gern auch Sie, nicht zu wissen, oder er scheint sich als Gesetzgeber nicht liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken und von in der Pflicht zu sehen –, und natürlich müssen wir da was der ganzen Opposition –, und dann werden wir da sicher- tun. Vor diesem Hintergrund ist es auch richtig, den Fin- lich auch zu einem guten Ergebnis kommen. Mehr Men- ger in die Wunde zu legen. schen, gerade junge Menschen, in die Pflege zu bekom- men, das ist unser aller Ziel; das wollen wir alle. Insofern: Das schmälert übrigens nicht, dass das Bundesministe- Herzlichen Dank für Ihre Mithilfe! rium – davon gehe ich aus – bereits intensiv dabei ist, genau diese Frage auch anzugehen, und hoffentlich in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kürze auch einen Zeitplan und eine klare Struktur dazu vorlegen wird. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank, Herr Kollege Sorge. – Der letzte Redner GRÜNEN]: Genau, das wäre gut!) zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion. Trotzdem ist es richtig und gut, wenn auch wir als Parla- ment uns mit dieser Frage beschäftigen. Insofern freue (Beifall bei der SPD) ich mich. (B) (D) Kollege Weinberg, Sie können sicher sein: Wir werden Dirk Heidenblut (SPD): das wohlwollend miteinander diskutieren. Ob wir das Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- dann wohlwollend in genau Ihrem Sinne abschließen nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu- werden: Schauen wir noch mal. – Aber wir werden es nächst mal bin ich ganz froh, weil ich den Eindruck habe, diskutieren – vor allen Dingen wohlwollend im Interesse dass wir uns in einem Punkt alle einig sind, nämlich der Fachkräfte und der Patientinnen und Patienten; das darin, dass die Menschen, über die wir hier reden – die darf ja nie vergessen werden – und müssen da auch zu Pflegefachkräfte in den unterschiedlichsten Bereichen einer Lösung kommen. des Gesundheitswesens –, ein zentraler Teil des Gesund- heitswesens – wenn nicht das Rückgrat, der Kopf und das Ich möchte die kurze Redezeit, die mir noch bleibt, Herz des Gesundheitswesens – sind, und das ist ja erst gern für einen kleinen Seitenweg benutzen; denn wir mal ganz entscheidend. haben bei diesem ganzen Paket einen großen Bereich von Kliniken nicht berücksichtigt, nämlich die psychiat- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie rischen und psychosomatischen Kliniken. Da haben wir bei Abgeordneten der FDP) noch mal ein anderes System. Auch da gibt es eine Eini- gung, allerdings eine nicht so breite Einigung; denn die Vor diesem Hintergrund bin ich auch sehr dankbar für DKG war daran nicht beteiligt, oder zumindest war sie den Antrag, der hier vorgelegt wurde. Ich bin auch dank- damit nicht sehr einverstanden. bar dafür, dass sich der Deutsche Pflegerat, die DKG und Verdi auf so etwas wie das, was hier vorliegt, verständigt Aber es gibt zumindest – das haben wir als Koalition haben, weil ich das für eine richtige, eine gute, eine ver- durchgesetzt – eine verbindliche Folgeregelung für die nünftige und eine wegweisende Verständigung halte. Psych-PV. Sie ist also nicht einfach, wie das vorgesehen war, ausgelaufen. An dieser Stelle müssen wir aber zwin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gend auch noch mal ansetzen. Auch da ist es wichtig, ein Wenn ich hier höre, dass alle auch Dank aussprechen – Personalbemessungsinstrument zu schaffen, das alle Be- dem ich mich übrigens ausdrücklich anschließe; übrigens rufsgruppen berücksichtigt. Insbesondere müssen auch nicht nur in Bezug auf die Bewältigung der Coronakrise, noch mal die Fragen – ich finde, das wird aus dieser sondern auch für das, was die Pflegekräfte und die Men- Richtung zu Recht immer wieder vorgebracht – im Zu- schen im Gesundheitswesen insgesamt leisten und tun –, sammenhang mit den Psychotherapeutinnen und Psycho- therapeuten beleuchtet werden; denn die sind tatsächlich (Dr. Roy Kühne [CDU/CSU]: Ich möchte auch schon in der alten Psych-PV nicht vernünftig abgebildet, Ihnen danken!) und das Problem wird auch jetzt noch nicht wirklich ge- 18980 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Dirk Heidenblut (A) löst. Hier müssen wir vorgehen, und ich würde mir wün- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des (C) schen, dass wir den G-BA sehr schnell und sehr konse- Embryonenschutzgesetzes – Kinderwün- quent beauftragen, in vernünftige Richtungen weiter- sche erfüllen, Eizellspenden legalisieren zugehen. Es gibt hierzu aus den Fachkreisen ja gute Drucksache 19/17633 Expertisen und auch vernünftige Vorlagen. Überweisungsvorschlag: (Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE LIN- Ausschuss für Gesundheit (f) KE]) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich wünsche mir natürlich auch, dass man sich das, was c) Beratung des Antrags der Abgeordneten wir als Koalition schon auf den Weg gebracht haben – das Dr. Christoph Hoffmann, Alexander Graf steht auch als Auftrag schon im Gesetz –, bezogen auf die Lambsdorff, Olaf in der Beek, weiterer Ab- Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten noch ein- geordneter und der Fraktion der FDP mal sehr genau anguckt und bei der Personalausstattung und insgesamt im Bereich der Psychotherapie vernünftig Entwicklungszusammenarbeit zur effekti- mit berücksichtigt. ven Verhinderung des weltweiten Eintrags von Plastikmüll in die Meere nutzen In diesem Sinne freue ich mich auf die weiteren Dis- kussionen. Ich glaube, wir tun alle gut daran, wenn wir Drucksache 19/17632 uns mit dem Personal im Gesundheitswesen gut und in- Überweisungsvorschlag: tensiv beschäftigen. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung (f) Übrigens: Wenn es darum geht, dass das Fachpersonal Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit nicht da ist und ob wir dieses oder jenes machen, ist es ein d) Beratung des Antrags der Abgeordneten bisschen wie bei dem Problem „Was kam zuerst: Henne Dr. Kirsten Tackmann, Eva-Maria Schreiber, oder Ei?“. Wenn wir nicht das Signal senden, dass es auf Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter der Arbeitsstelle besser wird, dann wird auch das nicht und der Fraktion DIE LINKE dazu führen, dass wir mehr Fachkräfte bekommen. Inso- fern: Packen wir es an! Pflanzenschutz konsequent auf Schutz von biologischer Vielfalt und Imkerei aus- Danke schön. richten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Drucksache 19/17767 der CDU/CSU) (B) Überweisungsvorschlag: (D) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aus- sprache zu Tagesordnungspunkt 11. e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Kassner, Fabio De Masi, Heidrun Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Bluhm-Förster, weiterer Abgeordneter und Drucksache 19/17544 an den Ausschuss für Gesundheit der Fraktion DIE LINKE vorgeschlagen. Gibt es weitere Überweisungsvorschlä- ge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vor- Gleichwertige Lebensverhältnisse in star- geschlagen. ken Kommunen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 f und die Drucksache 19/17772 Zusatzpunkte 5 a bis 5 g auf: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommu- 24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung nen (f) Finanzausschuss eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Haushaltsausschuss Entlastung bei den Heizkosten im Wohn- geld im Kontext der f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Doris Achelwilm, CO2– Bepreisung Cornelia Möhring, weiterer Abgeordneter (Wohngeld-CO2– Bepreisungsentlas- und der Fraktion DIE LINKE tungsgesetz – WoGCO2BeprEntlG) Drucksache 19/17588 Teilhabe von Frauen in der Landwirt- schaft und den ländlichen Räumen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommu- Drucksache 19/17778 nen (f) Finanzausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Erste Beratung des von den Abgeordneten ZP 5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Helling-Plahr, Stephan Thomae, Bettina Stark-Watzinger, Christian Dürr, Grigorios Aggelidis, weiteren Abgeordneten Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- und der Fraktion der FDP Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18981

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Regelungen für nachrichtenlose Vermö- Drucksache 19/17751 (C) genswerte schaffen – Innovative Zu- Überweisungsvorschlag: kunftsideen fördern Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 19/17708 g) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- Überweisungsvorschlag: desregierung Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Bericht der Bundesregierung zur Wirk- samkeit des Gesetzes zur Förderung der b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Entgelttransparenz zwischen Frauen und Dr. Jürgen Martens, Stephan Thomae, Männern sowie zum Stand der Umsetzung Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter des Entgeltgleichheitsgebots in Betrieben und der Fraktion der FDP mit weniger als 200 Beschäftigten Zu Unrecht Inhaftierte angemessen ent- Drucksache 19/11470 schädigen Überweisungsvorschlag: Drucksache 19/17744 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Es geht dabei um Überweisungen im vereinfachten c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Verfahren ohne Debatte. Dr. Florian Toncar, Christian Dürr, Frank Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Schäffler, weiterer Abgeordneter und der die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Fraktion der FDP überweisen. Gibt es andere Überweisungsvorschläge? – Basel III-Finalisierung – Kreditversor- Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschla- gung Deutschlands erhalten gen. Drucksache 19/17745 Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 25 b bis 25 o sowie die Zusatzpunkte 6 a und 6 b. Es handelt sich um Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aus- Ausschuss für Wirtschaft und Energie sprache vorgesehen ist. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (B) Haushaltsausschuss Tagesordnungspunkt 25 b: (D) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Bernd Reuther, Frank Sitta, Torsten Herbst, regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes weiterer Abgeordneter und der Fraktion der zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen FDP des Bundes zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und des Kinderbetreuungsfinan- Luftverkehrsteuer aussetzen zierungsgesetzes Drucksache 19/17746 Drucksachen 19/17293, 19/17587 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss (13. Ausschuss) e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Drucksache 19/17818 Norbert Müller (Potsdam), Dr. Petra Sitte, Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter gend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf und der Fraktion DIE LINKE Drucksache 19/17818, den Gesetzentwurf der Bundesre- Kinderarmut überwinden, Kindergrund- gierung auf Drucksachen 19/17293 und 19/17587 in der sicherung einführen Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Drucksache 19/17768 wollen, um das Handzeichen. – Das sind SPD, CDU/ CSU, FDP, Grüne und Linke. Wer stimmt dagegen? – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Das ist die AfD-Fraktion. Enthaltungen? – Keine. Der Finanzausschuss Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom- Ausschuss für Arbeit und Soziales men. f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wir kommen zur Dr. Manuela Rottmann, Lisa Paus, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der dritten Beratung Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und zur Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – verlängern – Notwendige Reform angehen Das sind alle Fraktionen des Hauses mit Ausnahme der 18982 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) AfD. Gegenstimmen? – Es stimmt dagegen die Fraktion Tagesordnungspunkt 25 h: (C) der AfD. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti- tionsausschusses, Tagesordnungspunkte 25 c bis 25 o. Sammelübersicht 502 zu Petitionen Drucksache 19/17575 Tagesordnungspunkt 25 c: Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD, Grüne, AfD und Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- FDP. Wer stimmt dagegen? – Die Linke stimmt dagegen. tionsausschusses (2. Ausschuss) Enthaltungen? – Keine. Die Sammelübersicht 502 ist an- Sammelübersicht 497 zu Petitionen genommen. Drucksache 19/17570 Tagesordnungspunkt 25 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des Hau- tionsausschusses (2. Ausschuss) ses. Gegenstimmen? – Keine. Enthaltungen? – Keine. Die Sammelübersicht 497 ist damit angenommen. Sammelübersicht 503 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 25 d: Drucksache 19/17576 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD, Grüne, AfD, tionsausschusses (2. Ausschuss) Linke. Wer stimmt dagegen? – Das ist die FDP-Fraktion. Enthaltungen? – Keine. Die Sammelübersicht 503 ist an- Sammelübersicht 498 zu Petitionen genommen. Drucksache 19/17571 Tagesordnungspunkt 25 j: Wer stimmt dafür? – Das sind wieder alle Fraktionen Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- des Hauses. Gegenstimmen? – Keine. Enthaltungen? – tionsausschusses (2. Ausschuss) Keine. Die Sammelübersicht 498 ist damit ebenfalls an- Sammelübersicht 504 zu Petitionen genommen. Drucksache 19/17577 Tagesordnungspunkt 25 e: Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen mit Aus- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- (B) nahme der AfD. Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Frak- (D) tionsausschusses (2. Ausschuss) tion. Enthaltungen? – Keine. Die Sammelübersicht 504 Sammelübersicht 499 zu Petitionen ist angenommen. Drucksache 19/17572 Tagesordnungspunkt 25 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wer stimmt dafür? – Das sind wieder alle Fraktionen tionsausschusses (2. Ausschuss) des Hauses. Gegenstimmen? – Keine. Enthaltungen? – Keine. Die Sammelübersicht 499 ist angenommen. Sammelübersicht 505 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 25 f: Drucksache 19/17578 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD, FDP, AfD. Wer tionsausschusses (2. Ausschuss) stimmt dagegen? – Grüne und Linke. Enthaltungen? – Keine. Die Sammelübersicht 505 ist damit angenommen. Sammelübersicht 500 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 25 l: Drucksache 19/17573 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wer stimmt dafür? – Das sind AfD, FDP, CDU/CSU tionsausschusses (2. Ausschuss) und SPD. Gegenstimmen? – Linke. Enthaltungen? – Grü- Sammelübersicht 506 zu Petitionen ne. Die Sammelübersicht 500 ist damit angenommen. Drucksache 19/17579 Tagesordnungspunkt 25 g: Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD, Grüne und AfD. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wer stimmt dagegen? – Die FDP und Die Linke. Ent- tionsausschusses (2. Ausschuss) haltungen? – Keine. Die Sammelübersicht 506 ist damit angenommen. Sammelübersicht 501 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 25 m: Drucksache 19/17574 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke tionsausschusses (2. Ausschuss) und FDP. Wer stimmt dagegen? – Die AfD. Enthaltun- gen? – Keine. Die Sammelübersicht 501 ist angenom- Sammelübersicht 507 zu Petitionen men. Drucksache 19/17580 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18983

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne. Ich eröffne die Aussprache, und das Wort hat der Kol- (C) Wer stimmt dagegen? – Die Linke und die AfD. Ent- lege Stephan Brandner, AfD-Fraktion. haltungen? – Keine. Die Sammelübersicht 507 ist ange- nommen. (Beifall bei der AfD)

Tagesordnungspunkt 25 n: Stephan Brandner (AfD): Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Guten Tag, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! tionsausschusses (2. Ausschuss) Bevor wahrscheinlich gleich wieder einer für alle von Ihnen redet, wie es immer so ist, wenn Ihnen die Sache Sammelübersicht 508 zu Petitionen peinlich ist, lassen Sie mich einige Dinge zu diesem The- Drucksache 19/17581 ma sagen. Es geht um den Entwurf für die Sitzungswo- chen des ersten Halbjahres 2021. Ich muss Ihnen sagen: Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD und AfD. Wer Ich war, gelinde gesagt, überrascht, als ich diesen Ent- stimmt dagegen? – FDP, Grüne und Linke. Enthaltun- wurf das erste Mal gesehen habe. Ich habe festgestellt, gen? – Keine. Sammelübersicht 508 ist damit ebenfalls dass im ersten Halbjahr 2021 von 26 Kalenderwochen angenommen. lediglich 12 Sitzungswochen vorgesehen waren, und ich Tagesordnungspunkt 25 o: war noch überraschter, als ich dann gesehen habe, dass in den Monaten Januar und Februar, also in zwei kompletten Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Monaten, im kommenden Jahr nur drei Sitzungswochen tionsausschusses (2. Ausschuss) vorgesehen waren. Sammelübersicht 509 zu Petitionen Ich muss Ihnen sagen: Das hat uns etwas unterfordert. Drucksache 19/17582 Wir haben gefragt: Warum ist das denn so? Da wurde uns gesagt, ja, in der zweiten Kalenderwoche könne man Wer stimmt dafür? – CDU/CSU und SPD. Wer stimmt nicht anfangen, weil traditionell die Altfraktionsmitglie- dagegen? – Das ist die gesamte Opposition. Enthaltun- der da Skiurlaub machten und Skiferien eingeplant hät- gen? – Keine. Sammelübersicht 509 ist damit angenom- ten. Das war die Argumentation für dieses Jahr. Ich denke men. mal, im nächsten Jahr werden Sie wieder genauso argu- mentieren. Wir kommen zu Zusatzpunkt 6 a: Dann wurde gesagt: Nee, zwei bis drei Wochen Kar- Zweite und dritte Beratung des von den Abge- nevalspause sollten auch schon sein. - ordneten Roman Johannes Reusch, Stephan (B) (D) Brandner, Marcus Bühl, weiteren Abgeordneten (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, und der Fraktion der AfD eingebrachten Ent- selbstverständlich! Was denken Sie denn? Hal- wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bun- lo!) deswahlgesetzes Das ist ein Relikt aus der Bonner Republik. Dabei ver- Drucksache 19/15074 kennen Sie natürlich, dass in Berlin Karneval oder Fa- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- sching überhaupt gar keine Rolle spielt. ses für Inneres und Heimat (4. Ausschuss) ( [CDU/CSU]: Aber da geht es Drucksache 19/17583 doch auch um den Wahlkreis!) Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in Ich glaube, Sie haben alle noch nicht begriffen, dass die seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/17583, Bonner Republik passé ist und nun die Musik hier in den Gesetzentwurf der Fraktion der AfD auf Drucksache Berlin spielt. 19/15074 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- (Beifall bei der AfD – [FDP]: setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Deutschland ist nicht nur Berlin!) Die AfD stimmt dem Gesetzentwurf zu. Wer stimmt da- gegen? – Das sind alle übrigen Fraktionen des Hauses. Deshalb sagen wir Ihnen: Eine Karnevalspause von drei Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Wochen muss nicht sein. Beratung abgelehnt. Es gibt keine weitere Beratung nach unserer Geschäftsordnung. Dann kam das Argument aus der CDU: Ja, ihr seid ja gegen Karneval, ihr seid ja gegen deutsches Brauchtum, Wir kommen zum Zusatzpunkt 6 b: gegen deutsche Traditionen. Beratung der Beschlussempfehlung des Ältesten- (Michaela Noll [CDU/CSU]: Stimmt doch!) rates Nein! Ich kann Sie beruhigen: Dagegen sind wir nicht. Es Zeitplan des Deutschen Bundestages für das geht hier ja auch nicht darum, den Karneval zu verbieten, Jahr 2021 – 1. Halbjahr sondern es geht hier einfach um eine nüchterne Abwä- Drucksache 19/17734 gung, was uns wichtiger ist: Lustbarkeiten im Karneval oder vernünftige parlamentarische Arbeit? Wir haben uns Für die Aussprache wurde eine Runde mit jeweils drei halt für vernünftige parlamentarische Arbeit entschieden. Minuten beschlossen. Das sollten Sie auch tun, meine Damen und Herren. 18984 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Stephan Brandner (A) (Beifall bei der AfD – [SPD]: Sie Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) und vernünftige parlamentarische Arbeit? Be- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und stimmt nicht! – Weitere Zurufe) Kollegen! Der Deutsche Bundestag ist ein Arbeitsparla- ment. In Sitzungswochen haben wir Plenum wie heute – Was schreien Sie denn so? Sie fühlen sich wohl alle hier. Wir haben Ausschusssitzungen. Wir haben Anhö- getroffen hier, oder? Lassen Sie mich doch in Ruhe aus- rungen zu Gesetzentwürfen. Wir führen Fachgespräche. führen. Ganz ruhig! Sonst muss ich auch lauter werden. Die Untersuchungsausschüsse tagen. Wir führen Berich- Das schaukelt sich doch nur hoch. terstattergespräche zwischen den Fraktionen über we- Dann wurde gesagt, Sie brauchten sehr viel Zeit für sentliche Fragen in Vorbereitung auf die Ausschüsse Ihre Wahlkreisarbeit. Die brauche ich auch. Aber dann und die Gesetzgebungsverfahren. Wir haben Gespräche sollten doch 11 Wochen für Wahlkreisarbeit im ersten mit Bürgerinnen und Bürgern, mit Verbänden und Insti- Halbjahr reichen. Wir brauchen nicht unbedingt 14. tutionen. (Stephan Brandner [AfD]: Ganz toll!) Wir wollen die 12 Sitzungswochen, die Sie vorgesehen haben, angemessen erhöhen auf 15 Sitzungswochen im Das alles gehört zu unseren Aufgaben, meine Damen und kommenden ersten Halbjahr. Warum? Weil wir meinen: Herren. Und: Wir Abgeordnete des Deutschen Bundes- Die Skiferien können entfallen; die brauchen wir nicht tages – das sage ich jetzt mal für die Fraktionen der CDU/ unbedingt. Wir können die Karnevalspause um eine Wo- CSU, der FDP, der Linken, der Grünen und der SPD – che kürzen, und wir können auch die Pfingstpause um eine Woche kürzen. Wir brauchen nicht zwei Wochen (Stephan Brandner [AfD]: Ach! Sind Sie die Pfingstpause, sondern eine reicht völlig, meine Damen Klassensprecherin, oder was?) und Herren. brauchen uns an dieser Stelle nicht zu verstecken, Hinzu kommt ja noch, dass im zweiten Halbjahr die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Anzahl der Sitzungswochen wahrscheinlich noch mal bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der deutlich abnimmt, weil ein Bundestagswahlkampf ge- LINKEN) führt werden muss. Zudem leben wir mit dem Risiko, schon gar nicht hinter dieser AfD. dass möglicherweise coronabedingt in diesem Jahr noch Sitzungswochen ausfallen, sodass ich Sie darum bitte, Meine Damen und Herren, viele von Ihnen machen draußen nicht den Eindruck zu erwecken, wir würden hier diese Arbeit hier im Parlament mit großem Engagement, mehr Freizeit und Pausen machen, als uns zustünden. (Stephan Brandner [AfD]: Sind Sie jetzt die (B) Den Eindruck haben Sie ja schon mal erweckt, als Sie (D) einfach die Redezeiten um 20 Prozent gekürzt haben. Sie Sprecherin der Nationalen Front geworden, haben aber nicht daran gedacht, die Diäten um 20 Prozent oder was?) zu kürzen. Also: Arbeiten Sie vernünftig, meine Damen mit großer Leidenschaft, mit großer Energie und großem und Herren, wie man es von Abgeordneten verlangen Einsatz, weil wir finden, dass die parlamentarische De- kann, die vom deutschen Volk gewählt sind. mokratie etwas Wunderbares ist, wofür es sich einzuset- zen gilt. Deshalb mein Appell an Sie: Lassen Sie uns nicht streiten. Lassen Sie uns nicht brüllen. Bleiben Sie ganz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gelassen. Ziehen Sie die Drucksache einfach zurück. bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN – Stephan Brandner [AfD]: Und des- halb so wenige Sitzungswochen, ja?) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Herr Kollege, es sind drei Minuten beschlossen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Sie werden es nicht schaffen, Zwietracht zu säen

Stephan Brandner (AfD): (Stephan Brandner [AfD]: Nationale Front!) Lassen Sie uns im Ältestenrat noch mal in Ruhe darü- zwischen den Abgeordneten, zwischen diesen Parlamen- ber reden. Wir finden bestimmt einen vernünftigen Kom- tarierinnen und Parlamentariern, promiss. (Stephan Brandner [AfD]: Sie wollen doch nur Vielen Dank. Ihre Skiferien! Sie wollen doch nur Ihre Kar- nevalspause! Sie wollen doch nur Ihre Pfingst- (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Mit pause!) der AfD bestimmt nicht!) so unterschiedlich unsere Auffassung bei manchen Sach- fragen auch ist. Aber lassen wir uns nicht einreden von Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dieser Truppe, dieses Parlament hätte in irgendeiner Art Die nächste Rednerin ist die Kollegin Britta und Weise nicht genug zu tun, würde nicht arbeiten oder Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. sonst etwas. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18985

Britta Haßelmann (A) Meine Damen und Herren, Kreuz gerade! Und nun alle aufstehen! Alle aufstehen und (C) klatschen! Unglaublich!) Ich sage Ihnen eins: Sie wollen die demokratischen Institutionen – ob Bundespräsident, Bundesverfassungs- gericht oder Parlament – mit Dreck überziehen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Ab- (Stephan Brandner [AfD]: Hallo? Es sind drei stimmung über die Beschlussempfehlung des Ältesten- Sitzungswochen mehr!) rats, die sich auf der Drucksache 19/17734 befindet. Das machen wir nicht mit. Dem stellen wir uns klar ent- Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte gegen, meine Damen und Herren. ich um das Handzeichen. – Das sind alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. Gegenprobe! – Dagegen stimmt die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, AfD-Fraktion. Enthaltungen? – Keine. Die Beschluss- bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der empfehlung des Ältestenrates ist damit angenommen. LINKEN – Stephan Brandner [AfD]: Sie schmeißen mit Dreck! Sie wollen nicht arbeiten Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b sowie und schmeißen mit Dreck!) Zusatzpunkt 7 auf: An einer Stelle versucht doch jetzt der Abgeordnete 14 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Brandner, eingebrachten Entwurfs eines Siebten Ge- setzes zur Änderung des Vierten Buches (Ulli Nissen [SPD]: Gerade der!) Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze hier so zu tun, als hätten wir nicht das ständige Span- Drucksache 19/17586 nungsfeld zwischen Tagungen hier, unseren Aufgaben Überweisungsvorschlag: hier und unseren Aufgaben im Wahlkreis. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (Stephan Brandner [AfD]: Hat sie auch die Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fünffache Redezeit, wenn sie für alle redet?) Ausschuss Digitale Agenda Denn wir sind alle auch Abgeordnete in einem Wahlkreis, b) Beratung des Antrags der Abgeordneten und dort arbeiten wir. Deshalb, meine Damen und Her- Jutta Krellmann, Susanne Ferschl, Matthias ren, teilen wir auch die Wochen in Sitzungswochen mit W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Präsenz im Arbeitsparlament und in Wochen, in denen Fraktion DIE LINKE wir im Wahlkreis arbeiten. (B) Hürden bei der Anerkennung von Berufs- (D) (Stephan Brandner [AfD]: Haben Sie alle Ihre krankheiten abbauen Redezeiten zusammengelegt, oder warum darf sie so lange reden?) Drucksache 19/17769 Dazu gehören Bürgergespräche, Besuche von Institutio- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) nen, Gespräche mit Initiativen und Verbänden. All das Ausschuss für Wirtschaft und Energie gehört dazu. Ausschuss für Gesundheit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Witt, Jürgen Pohl, Ulrike Schielke-Ziesing, wei- LINKEN) terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Und dann wird ein Schuh daraus. Auszahlungen von Sozialleistungen auf aus- ländische Konten Wir nehmen unsere Arbeit sehr ernst. Wir tagen im Jahr 2021, wenn die nächste Bundestagswahl stattfindet, Drucksache 19/17787 sogar eine Sitzungswoche mehr hier in Berlin Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) (Stephan Brandner [AfD]: Hui!) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union als bei der letzten Wahl 2017. Das ist längst vereinbart. Hier ist eine Aussprache von 30 Minuten beschlossen. (Stephan Brandner [AfD]: Was Sie alles wis- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die sen! Da weiß ich aber nichts von!) Parlamentarische Staatssekretärin Kerstin Griese. Bitte Also: Lassen Sie sich hier nichts einreden! Dieses Parla- schön. ment ist ein Arbeitsparlament, und ich bin froh, so viele Kolleginnen und Kollegen zu kennen, die in aller Ernst- (Beifall bei der SPD) haftigkeit dieser Aufgabe nachkommen. Da könnten Sie sich eine Scheibe von abschneiden. Kerstin Griese, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- minister für Arbeit und Soziales: (Lebhafter Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD, der Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heu- FDP und der LINKEN – Stephan Brandner te bringen wir den Entwurf eines Siebten Gesetzes zur [AfD], an die übrigen Fraktionen gewandt: Änderung des SGB IV in den Bundestag ein, das sich 18986 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Parl. Staatssekretärin Kerstin Griese (A) auf viele Bereiche der Sozialversicherung auswirkt und Auch die Arbeitgeber sparen kräftig; es sind jährlich (C) damit auf vieles, womit Menschen im Laufe ihres Lebens mittelfristig 139 Millionen Euro an Entlastungen. Dazu in Kontakt kommen: die Krankenversicherung, die Un- kommen noch dauerhafte Entlastungen für die Verwal- fallversicherung, die Arbeitslosenversicherung, die Ren- tungen des Bundes, der Sozialversicherungsträger und tenversicherung und die Pflegeversicherung. Im Sozial- der Länder. gesetzbuch IV geht es um einheitliche Vorschriften für diese fünf großen gesetzlichen Sozialversicherungen. Das, meine Damen und Herren, ist für mich auch ein Stück Sozialstaat der Zukunft. Es geht um die digitale Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stellen wir Sozialversicherung, die Papierkram und Anträge erspart die Sozialversicherungen so auf, dass sie zur immer digi- und die damit Freiraum schafft, sich um die Menschen zu taler und flexibler werdenden Arbeitswelt passen; denn kümmern, die Unterstützung brauchen. die Digitalisierung gibt uns die Chance, Sozialversiche- rungsleistungen effektiver zu gestalten und vor allem mit Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein ganz wichtiger weniger Bürokratie auszukommen. Deshalb wollen wir Bereich dieses Gesetzes ist die Fortentwicklung des Be- bestehende Verfahren in der Sozialversicherung verbes- rufskrankheitenrechtes in der gesetzlichen Unfallversi- sern, vereinfachen und vor allem entbürokratisieren. Da- cherung. Damit werden wir die Grundlagen schaffen, bei nutzen wir die Chancen der Digitalisierung und legen dass mehr Berufskrankheiten anerkannt werden und die konkrete Maßnahmen vor, um – das ist das Ziel – den Verschlimmerung von Krankheiten erfolgreich durch Sozialstaat einfacher, zugänglicher, näher an den Men- Prävention bekämpft werden kann. Dabei geht es um schen und für die Menschen zu gestalten. den Wegfall des sogenannten Unterlassungszwangs bei bestimmten Berufskrankheiten, der oft dazu geführt hat, (Beifall bei der SPD) dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar keine Ich gebe zu: Vieles, was auf den 175 Seiten steht, Leistung bekommen haben. klingt erst einmal sehr kleinteilig und technisch. Ich danke allen Abgeordneten, die sich intensiv damit be- Und noch eine wichtige Änderung – Sie sehen, das ist schäftigen und das durcharbeiten. Ich danke auch den ein großer Omnibus oder sogar ein Güterzug, wie meine Sozialversicherungsträgern, die viele dieser Vorschläge Kollegin Hiller-Ohm gesagt hat –: Wir wollen, dass Ju- entwickelt haben, und natürlich dem Ministerium. „Ent- gendliche nach der Schule die nötige Unterstützung beim bürokratisierung“ heißt eben, sich gerade mit Details zu Übergang in den Beruf erhalten. Dafür ermöglichen wir beschäftigen, um die Verfahren effektiver und einfacher den Datenaustausch zwischen der Bundesagentur für Ar- zu gestalten. Das tun wir hier in acht Sozialgesetzbü- beit und den Bundesländern, sodass Jugendliche, die chern. noch keine berufliche Anschlussperspektive haben, kon- (B) taktiert und über bestehende Beratungsleistungen der (D) Der öffentliche Fokus unserer Gesetze liegt ja oft auf Bundesagentur für Arbeit informiert werden können. den Änderungen, die die Lebenslagen der Bürgerinnen und Bürger gerechter und besser machen sollen. Viel- Noch ein Punkt: die Schließung des sogenannten leicht mag dieser Gesetzentwurf nicht so spannend wir- Dienstordnungsrechtes. Da blicke ich in viele überraschte ken; aber wir schaffen damit eine echte, große Bürokra- Gesichter; denn viele wussten nicht, dass es diese Sonder- tieentlastung für die Bürgerinnen und Bürger, für die form des privatrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses Arbeitgeber und für die Verwaltung. im öffentlichen Dienst noch gibt. Das zeigt, dass es rich- tig ist, nach der gesetzlichen Rentenversicherung und der Zahlreiche Bescheinigungs- und Antragsverfahren, die Krankenkasse auch in der Unfallversicherung diese Son- heute auf Papier ablaufen, werden durch ein elektron- derform abzuschaffen und – wie auch in anderen Sozial- isches Datenaustauschverfahren ersetzt. Ich nenne Ihnen versicherungszweigen – vor allem auf gute Tarifverträge ein Beispiel: Heute müssen Arbeitnehmerinnen und Ar- zu setzen. beitnehmer ihrem Arbeitgeber eine Bescheinigung über ihre Krankenkassenmitgliedschaft vorlegen. Zukünftig Zusammenfassend: Mit diesem umfangreichen und müssen sich die Bürgerinnen und Bürger darum nicht langen Gesetzentwurf setzen wir ein wichtiges Zeichen mehr selbst kümmern; denn dieses Papierverfahren wird für den Sozialstaat der Zukunft. Es profitieren die Wirt- durch ein digitales Meldeverfahren zwischen Arbeitgeber schaft, die Verwaltungen, die Sozialversicherungen, und und Krankenkasse ersetzt. es profitiert nicht zuletzt jeder einzelne Bürger und jede Ein anderes Beispiel zeigt, dass es auch eine gute Än- einzelne Bürgerin, deren Anliegen im Sozialstaat schnell, derung für Kleinstarbeitgeber gibt. Für die 450 000 Ar- sicher und zuverlässig behandelt werden. beitgeber mit bis zu zehn Beschäftigten wird kostenlos Vielen Dank. ein Datenspeicher für ihre Entgeltunterlagen durch die Sozialversicherungsträger zur Verfügung gestellt. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist eine echte Unterstützung. Diese und weitere Erleichte- der CDU/CSU) rungen führen zu einer Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von perspektivisch rund 4 Millionen Stunden. 4 Millionen Stunden Zeit für wichtigere Dinge, und das Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Jahr für Jahr! Das ist doch wirklich eine gute Sache. Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Der nächste Red- ner: der Kollege Jörg Schneider, AfD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18987

(A) Jörg Schneider (AfD): lichen Erkenntnisgewinn bringen, weil es einfach sehr (C) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- unscharf ist. ren! Liebe Zuschauer! So ein Änderungsgesetz enthält immer sehr viele Punkte. Da sind natürlich auch einige (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- dabei, die durchaus gut sind. Zum Beispiel ergibt es Sinn, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das, was Sie da ma- dass zukünftig Schulen Informationen über Schulabgän- chen, ist Rassismus! Sie sind ein Rassist! – Zu- ger an die Bundesagentur für Arbeit weiterreichen sollen; ruf von der AfD: Ruhe auf den billigen denn es gibt viele Menschen, die ihre Schulausbildung Plätzen!) abbrechen oder auch die Schule verlassen, ohne eine – Ich wurde hier gerade als Rassist bezeichnet, Herr Prä- klare berufliche Perspektive zu haben. Dass wir hier eine sident. Das finde ich unverschämt angesichts dessen, engmaschige berufliche Beratung aufrechterhalten, ist gut. (Beifall bei der AfD) dass ich hier einfach nur aus meinem beruflichen Erfah- Nur: Es ist doch heute so, dass viele der Jugendlichen, rungsschatz erzähle. Das finde ich unerträglich! Immer die dort tatsächlich Probleme haben, aus Haushalten diese Vorwürfe von Ihnen. Sie sollten sich schämen, so stammen, die von Sozialleistungen, sprich: von Hartz IV, was ständig zu sagen. Ich bin alles andere als ein Rassist! leben. Da gibt es schon heute eine sehr engmaschige Be- Nehmen Sie das mal endlich zur Kenntnis! treuung durch die Jobcenter. Ich weiß tatsächlich nicht, ob wir diesen Jugendlichen einen Gefallen damit tun, (Beifall bei der AfD – Dr. Wolfgang wenn wir sie nun aus dem Betreuungsumfang der Jobcen- Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ter herausnehmen und ihre Betreuung bei der Bundes- NEN]: Sie haben es doch gesagt!) agentur für Arbeit ansiedeln. Sie möchten in einem weiteren Punkt Zahlungen ver- (Beifall bei der AfD – Torbjörn Kartes [CDU/ einfachen. Zukünftig soll man entscheiden können, auf CSU]: Falsch!) welches Konto Sozialleistungen gezahlt werden können. Die Jobcenter haben heute schon Ausstände in Höhe von Sie möchten das Kriterium „Migrationshintergrund“ in ungefähr 3 Milliarden Euro. Diese Ausstände sind dann die Arbeitslosenstatistik einfügen. Ich habe bis zu meiner besonders schwer zurückzufordern, wenn sich die Kon- Wahl in den Bundestag als Lehrer an einem Berufskolleg ten im Ausland befinden. Jetzt mögen Sie fragen: Was hat gearbeitet und hatte dort durchaus auch Klassen in der das eine mit dem anderen zu tun? In der Tat kann ich Berufsvorbereitung. Das sind Schüler, die keinen guten Ihnen das nicht beantworten. Es ist wirklich so, dass nicht Schulabschluss gemacht haben, oft auch gar keinen, die erfasst wird, wie viel Prozent dieser Außenstände von (B) keinen Ausbildungsplatz haben, die dann vorbereitet wer- ausländischen Konten zurückgefordert werden müssen. (D) den und deswegen noch mal ein Jahr die Schulbank drü- Deswegen stellen wir den Antrag, dies doch bitte zukünf- cken. Wenn ich in diese Klassen kam, hatte ich den Ein- tig in die Statistik aufzunehmen. Ich denke, das ist eine druck: „Ups, die haben ja alle Migrationshintergrund“, sinnvolle Ergänzung, die sicherlich noch in dieses Ände- bis ich dann irgendwann mal eine Statistik dieser Klassen rungspaket hineinpasst. Dafür bitte ich Sie um Ihre Zu- sah: Knapp 50 Prozent hatten tatsächlich einen Migra- stimmung. tionshintergrund. – Das hängt damit zusammen: Wir ha- Ich danke Ihnen ganz herzlich. ben im Ruhrgebiet – ich komme aus Gelsenkirchen – die dritte Generation der Zuwanderer; da haben schon die (Beifall bei der AfD) Eltern – zumindest die meisten – einen deutschen Pass gehabt. Aber sie wohnen eben in ihren Parallelgesell- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schaften, zu Hause wird die Herkunftssprache gespro- chen. Der nächste Redner ist der Kollege Torbjörn Kartes, CDU/CSU-Fraktion. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh Mann! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Torbjörn Kartes (CDU/CSU): eine Beleidigung für alle Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener mit türkischem Hinter- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- grund! Unverschämtheit ist das!) nen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Wir bringen heute den Entwurf eines Siebten Gesetzes zur – Regen Sie sich nicht auf, ich bespreche das, was ich Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch in den tatsächlich in meinem beruflichen Leben erlebt habe. Deutschen Bundestag ein. Das hört sich zunächst sehr technisch an. Wir sprechen damit über 51 Seiten Gesetz- (Beifall bei der AfD – Markus Kurth [BÜND- entwurf, 86 Seiten Gesetzesbegründung, 18 betroffene NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich komme aus dem Gesetze, 8 geänderte Verordnungen, insgesamt 164 ein- Ruhrgebiet! Ich kenne diese Leute!) zelne Paragrafen, die geändert, hinzugefügt oder gestri- chen werden. Ich habe andererseits auch Schüler erlebt, die nicht hier in Deutschland geboren waren und die perfekt deutsch Die Bürgerinnen und Bürger werden somit pro Jahr um sprachen. Alles, was ich damit sagen möchte, ist: Neh- circa 12 Millionen Euro an Sachkosten und insbesondere men Sie das Kriterium „Migrationshintergrund“ ruhig in 4 Millionen Arbeitsstunden entlastet. Die jährliche Ent- die Statistik auf; aber ich glaube, es wird kaum wesent- lastung der Wirtschaft beläuft sich auf circa 140 Millionen 18988 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Torbjörn Kartes (A) Euro ; die jährliche Entlastung der Verwaltungen des vom Jobcenter betreut werden. Das sollten Sie bei Ge- (C) Bundes und der Länder beträgt in etwa 55 Millionen legenheit vielleicht einmal nachlesen. Euro – alles in einem Gesetzgebungsverfahren, und das meiste davon wird wahrscheinlich mit großer Einigkeit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hier im Haus beschlossen werden. Bei 8 Prozent der Langzeitarbeitslosen in Ludwigsha- Meine Damen und Herren, das ist solide Gesetzge- fen unter 25 Jahren kann ich nur sagen: Wir müssen die bungsarbeit. Das ist teilweise echte Fleißarbeit; auch da- jungen Menschen eben da abholen, wo sie gerade stehen, für steht diese Koalition. Mit diesem Gesetzgebungsver- und vor allem viel früher, nämlich bevor sie in der Grund- fahren wollen wir Deutschland ein bisschen schneller, sicherung landen. Das ermöglichen wir mit dieser Neu- digitaler, bürgernäher und kosteneffizienter machen. Die- regelung. ses gute Gesetz bringen wir heute gemeinsam auf den Zweitens. Wir schaffen die Voraussetzungen, dass die Weg. nächsten Sozialversicherungswahlen bei den Kranken- (Beifall der Abg. Michaela Noll [CDU/CSU] kassen 2023 digital werden. Neben der herkömmlichen und [SPD]) Stimmabgabe per Briefwahl soll fakultativ die Möglich- keit eröffnet werden, auch online zu wählen. Dieser Vor- Hinter diesem Gesetzgebungsverfahren verbergen sich schlag geht in die richtige Richtung. Wir werden uns aber also Änderungen an diversen Sozialgesetzbüchern, An- weiter dafür starkmachen – das sage ich auch ganz deut- passungen im Sozialgerichtsgesetz, im Arbeitsgerichts- lich –, dass auch die Sozialwahlen bei der Rentenversi- gesetz und im Berufskrankheitsrecht sowie bei der Al- cherung und die Betriebsratswahlen zukünftig online terssicherung. Gesetzgebung findet eben häufig im möglich werden. Detail statt: kleine Änderungen, die wenig Aufmerksam- keit erregen, die aber für diejenigen Menschen, die davon (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. betroffen sind, konkrete Verbesserungen bedeuten. So Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE wird zum Beispiel die elektronische Übermittlung von GRÜNEN]) Mitgliedsbescheinigungen der Krankenkassen an Arbeit- Wir dürfen also nicht nur über Digitalisierung reden; wir geber allen Bürgern, der Verwaltung und auch der Wirt- müssen sie auch gemeinsam weiter vorantreiben. schaft viel Zeit und Geld ersparen. In diesem Sinne gibt es viele ganz kleine Schritte, die in die richtige Richtung Drittens wollen wir den Migrationshintergrund als gehen. Merkmal der Arbeitsmarktforschung nutzbar machen. Die Zuwanderung aus den EU-Staaten und Drittstaaten Es gäbe viele Punkte, die ich an diesem Gesetzentwurf nimmt zu. Entsprechend steigt auch das arbeitsmarktpo- (B) hervorheben könnte; aber ich will mich auf drei beschrän- litische Interesse an Erkenntnissen zur Gruppe der Men- (D) ken: schen mit Migrationshintergrund. Diese Erkenntnisse Erstens. Wir sorgen dafür, dass Schülerinnen und gibt es so bislang nicht, weil die Arbeitsagentur die Schüler, die schwierige Jobperspektiven haben, besser Staatsbürgerschaft und den Aufenthaltsstatus dokumen- betreut werden, wenn sie von der Schule abgehen. Ich tiert, nicht aber den Migrationshintergrund. Diese Er- kenne das Problem auch aus meiner Heimatstadt Lud- kenntnislücke schließen wir jetzt. Dabei geht es nicht wigshafen. Dort sind 8 Prozent der Langzeitarbeitslosen um Stigmatisierung, im Gegenteil: Es geht darum, dass unter 25, und mittlerweile sind fast 15 Prozent der jungen wir zielgerichtet Erkenntnisse gewinnen und damit helfen Menschen ohne Schulabschluss. Das ist fast doppelt so können. Vor allen Dingen können wir so auch zeigen, wie viel wie im Landes- und Bundesdurchschnitt. Natürlich viele Menschen schon heute erfolgreich in den Arbeits- habe ich mit der Bundesagentur für Arbeit in Ludwigs- markt integriert sind und einen unersetzbaren Beitrag hafen darüber schon mehrfach gesprochen. Sie haben mir zum Erfolg unserer Wirtschaft in Deutschland leisten. gesagt: Wir bekommen überhaupt nicht mit, wer von der Abschließend möchte ich aus dem Bericht des Nor- Schule abgeht, und wir bekommen erst recht nicht mit, menkontrollrates zitieren; das ist ein Expertengremium, wer ohne Schulabschluss von der Schule abgeht. Das ist das bei jedem einzelnen Gesetzgebungsvorhaben bewer- deutscher Datenschutz. So ist das bisher. Deswegen wol- tet, welcher Aufwand mit der Einführung verbunden ist. len wir es den Bundesländern ermöglichen, Daten von Dieser Rat stellt der SGB-IV-Reform ein Gütesiegel aus. Schulabgängern an die Bundesagenturen für Arbeit zu Ich zitiere: übermitteln, damit diese sich dann direkt an die jungen Menschen wenden und für sie Brücken in die Arbeitswelt Im Gesetzentwurf wird die Digitalisierung einer bauen können. Vielzahl bestehender Verfahren und Kommunika- tionswege im Bereich der Sozialversicherung voran- (Beifall bei der CDU/CSU) getrieben, dabei effektiver gestaltet und entbürokra- Uns ist dabei wichtig, dass wir die Aufgaben zwischen tisiert. Jobcentern und Arbeitsagenturen vor Ort weiter klar ab- grenzen. Auch das – Herr Kollege Schneider, da muss ich Dem ist, denke ich, nicht viel hinzuzufügen. Ich wünsche Sie korrigieren – gewährleisten wir mit dieser nun ge- uns in diesem Sinne gute Beratungen. fundenen Regelung. Es besteht eine klare Abgrenzung: Vielen Dank. Diejenigen, die heute vom Jobcenter betreut werden, wer- den auch weiterhin vom Jobcenter betreut. Die Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- agentur kümmert sich um diejenigen, die bisher nicht ordneten der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18989

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall der Abg. Stephan Thomae [FDP] und (C) Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kolle- Jutta Krellmann [DIE LINKE]) ge Till Mansmann. Sie haben im System der Unfallversicherung eine ganz (Beifall bei der FDP) wichtige Funktion, nicht zuletzt als unabhängige Kon- trolleure der Gutachter. Hier müssen wir unbedingt eine intensive Diskussion darüber führen, wie der Bund die Till Mansmann (FDP): Länder bei der Aufrechterhaltung, ja eigentlich beim Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen Ausbau dieser Institution unterstützen kann. und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf ist ausge- sprochen umfangreich. In Anbetracht der Kürze der Zeit (Beifall bei der FDP) greife ich drei für uns wichtige Aspekte heraus. In diesem Zusammenhang nehme ich gerne noch Be- Beginnen wir mit den §§ 95a bis c SGB IV: Sie sehen zug auf den Antrag der Linken; den angekoppelten An- darin eine Entbürokratisierung. Das ist im Ansatz richtig, trag der AfD können wir nach kurzer Prüfung rechts aber im vollen Umfang bezweifeln wir das. Natürlich liegen lassen. begrüßen wir, wenn Sie mithilfe der Digitalisierung ver- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der war suchen, bürokratische Hürden abzumildern. Aber das gut!) heißt eben gerade nicht, einfach nur komplexe, ja oft ge- radezu unverständliche Papierformulare genauso kom- Liebe Kollegen der Linken, ja, es ist eine andauernde und plex und unverständlich auf den Bildschirm zu verschie- schwierige Frage, welche Schwellenwerte, welche Zei- ben. Natürlich kann Digitalisierung dabei helfen, Bürger träume usw. beruflich bedingte Erkrankungen von ande- und Unternehmen von Bürokratie zu entlasten, aber nur, ren abgrenzen. Es ist wichtig, dass wir uns damit aus- wenn man die Prozesse insgesamt verbessert, nicht nur einandersetzen. Aber man muss einfach sehen, dass es den Bearbeitungsweg. am Ende immer auch Fälle geben wird, die auf der ande- ren Seite der Abgrenzung landen. Auf dem Weg dahin Das gilt auch für die geplanten Änderungen des § 28a geradezu eine Front zwischen Arbeitgebern und Arbeit- im SGB IV. In der vorgeschlagenen Form könnte ein nehmern aufzubauen, erscheint uns nicht als sinnvoll. Unternehmer zwar weiterhin Dritte beauftragen, sie aber nicht mehr voll in die Pflicht nehmen, also die Haftungs- (Beifall bei der FDP) risiken übertragen. Das halten wir angesichts der bereits Die gesetzliche Unfallversicherung hat den Auftrag des genannten und weiterhin leider zunehmenden Komplexi- Ausgleichs und der Risikominimierung, dem sie im tät des Sozial- und Abgabenrechts wie auch im Hinblick Grunde ganz gut nachkommt. Laden wir das nicht unnö- (B) auf unsere erfolgreiche arbeitsteilige Gesellschaft für tig ideologisch auf. (D) problematisch. Vielen Dank. (Beifall des Abg. [FDP]) (Beifall bei der FDP) Nehmen wir eine der wichtigsten Berufsgruppen in die- sem Zusammenhang: die Steuerberater. Wenn ich einem solchen Spezialisten diese Aufgabe übergebe, dann för- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dert es die Qualität. Das bedeutet aber auch, dass ich Die Kollegin Jutta Krellmann hat das Wort für die diesen Dienstleister in die Pflicht nehmen kann, indem Fraktion Die Linke. ich ihm auch die Haftung für seine Arbeit übergeben darf. Das ist geradezu Sinn und Zweck der Beauftragung eines (Beifall bei der LINKEN) solchen Profis. Jutta Krellmann (DIE LINKE): (Beifall bei der FDP) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Wenigstens bei hochqualifizierten Berufsgruppen ist es Kollegen! Arbeit darf nicht krank machen. sinnvoll, die bisherigen Haftungsübertragungen unange- (Beifall bei der LINKEN) tastet zu lassen. Deshalb rede ich hier über Berufskrankheiten. Tausende In einem wichtigen Bereich schlagen Sie einige Ände- Beschäftigte erkranken jedes Jahr durch ihre Arbeit. Zu rungen vor, die auch wir für richtig halten: die Unfallver- Beginn meiner beruflichen Tätigkeit als Chemielaboran- sicherung. Sie muss angepackt werden. Wir begrüßen es, tin war das Thema „Benzol als krebserregendes Lösungs- dass Sie den medizinischen Sachverständigenrat profes- mittel“ überall präsent und wurde hoch und runter disku- sionalisieren wollen, auch wenn wir über Details im Aus- tiert. Aber Arbeit kann auch anders krank machen, zum schuss noch einmal sprechen müssen. Wir sehen die Ver- Beispiel durch das Tragen schwerer Lasten, durch Lärm besserungen bei Berufskrankheiten. Auch über den und durch Stress. Unterlassungszwang zu sprechen, halten wir für sinnvoll. In Deutschland haben wir ein System, das die Folgen Bedauerlich ist aber, dass eines der drängendsten Pro- gesundheitlicher Einschränkungen durch die Arbeit im bleme der Unfallversicherung nicht angepackt werden Betrieb entschädigt. Dafür zuständig sind die gesetzli- soll: die systematische Schwäche der Gewerbeärzte im chen Unfallversicherungen. Deren Beiträge bezahlt nur ganzen Land. Deren Zahl hat sich in den letzten Jahren der Arbeitgeber, und das, Kolleginnen und Kollegen, ist praktisch halbiert. auch gut so. 18990 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Jutta Krellmann (A) (Beifall bei der LINKEN) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) NEN): Allerdings wird es Betroffenen schwer gemacht, ihre Erkrankungen anerkannt zu bekommen. Daran werden Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- die Reformpläne der Bundesregierung leider nichts än- gen! Sehr geehrte Gäste! Auch ich konzentriere mich auf dern. Das Berufskrankheitenverfahren gleicht praktisch die Berufskrankheiten, weil sie auch uns ein besonderes einem Hürdenlauf. Nur jede vierte angezeigte Berufs- Anliegen sind. Hier besteht schon lange Handlungsbe- krankheit wird überhaupt anerkannt. darf. Es geht darum, dass Beschäftigte bei arbeitsbeding- ten Krankheiten verlässlich entschädigt werden. Jetzt Versetzen Sie sich in die Lage einer Betroffenen. Sie ist kommt endlich eine Reform, und diese ist dringend not- Krankenschwester und durch ihre Arbeit schwer er- wendig. krankt, körperlich angegriffen, ausgebrannt und nicht mehr in der Lage, zu arbeiten. Sie will eine Berufskrank- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heit anerkannt bekommen. Jetzt steht sie vor drei großen Hürden. Die erste Hürde ist: Ihr Leiden kann nur aner- Bei den neun häufigsten Berufskrankheiten gab es kannt werden, wenn es auf der sogenannten Berufskrank- bisher keine Entschädigung, wenn die Betroffenen wei- heitenliste steht. Doch diese Liste hat viele Lücken; sie ist tergearbeitet haben. Dieser sogenannte Unterlassungs- noch lange nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Die zwang entfällt jetzt. Es wurde auch Zeit; denn wer gibt Aufnahme neuer Krankheiten dauert viel zu lange. Psy- schon seinen Job auf, ohne zu wissen, ob er tatsächlich chische Erkrankungen wie Burn-out sucht man verge- Anspruch beispielsweise auf eine Rente hat. Mit dieser bens, und das muss sich ändern. Änderung werden hoffentlich mehr erkrankte Beschäftig- te entschädigt. Das ist eine echte Verbesserung. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. [CDU/CSU]) Wir brauchen mehr unabhängige Forschung. Auch Fachleute wie Psychologen müssen über moderne Be- Positiv ist auch, dass der ärztliche Sachverständigenrat rufskrankheiten mitentscheiden. Ein sozialpolitischer professionalisiert wird. Er bekommt eine eigene Ge- Ausschuss aus Arbeitgebern, Gewerkschaftern und Ver- schäftsstelle, und seine Arbeit wird transparenter. Auch tretern von Sozialverbänden muss einbezogen werden. das unterstützen wir; auch das ist überfällig.

(Beifall bei der LINKEN) Was jedoch bei dieser Reform fehlt, ist eine Härtefall- Das hilft unserer Betroffenen jedoch nicht, wenn sie regelung; denn manche arbeitsbedingte Krankheiten (B) eine sehr seltene Berufskrankheit hat. Damit komme ich kommen sehr selten vor und werden deshalb dann eben (D) zur zweiten großen Hürde: Seltene Krankheiten schaffen nicht regulär als Berufskrankheit anerkannt. Die Folgen es kaum auf die Liste der Berufskrankheiten. Die weni- der Krankheiten sind aber für die Betroffenen gravierend. gen Fälle erschweren den wissenschaftlichen Nachweis. Es geht hier schlichtweg um Einzelfallgerechtigkeit. Die- Hier brauchen wir dringend eine Härtefallregelung. Wir se Leerstelle kritisieren auch die Arbeits- und Sozialmi- brauchen sie auch für Krankheiten, die durch mehrere nister der Länder. Für seltene Krankheiten braucht es eine Ursachen ausgelöst werden. Härtefallregelung; alles andere ist nicht gerecht. Die dritte große Hürde für die Krankenschwester ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Berufskrankheitenverfahren an sich. Es dauert oft sowie der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE]) Jahre. Schwerkranke überfordert das absolut. Hier brau- chen wir mehr Fairness und Transparenz. Deshalb schla- Wir kritisieren auch, dass die anerkannten Berufs- gen wir als Linke vor: Gutachter müssen finanziell unab- krankheiten noch immer stark durch industrielle Berufe, hängig von der Unfallversicherung sein. Runter mit den also männlich, geprägt sind. Es fehlt der Blick auf die Hürden! Dienstleistungsarbeit, insbesondere auf die Arbeit im Ge- sundheits- und Sozialwesen, und damit auf Frauen. Es Doch am besten ist es, wenn Berufserkrankungen über- reicht nicht, dass Daten geschlechtsspezifisch erfasst haupt nicht mehr entstehen. werden. Notwendig ist endlich auch eine Auseinander- setzung mit den Belastungen in frauendominierten Be- (Beifall bei der LINKEN) rufen, beispielsweise in der Pflege, und damit, wie Hier sind in erster Linie die Arbeitgeber in der Pflicht. Sie Frauen auf Belastungen reagieren. Auch bei den Berufs- müssen endlich für mehr Arbeitsschutz und Prävention in krankheiten muss endlich die Geschlechterperspektive den Betrieben sorgen. berücksichtigt werden. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE]) (Beifall bei der LINKEN) Das Berufskrankheitenrecht beschäftigt sich außerdem Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: zu wenig mit den Krankheitsbildern der heutigen Zeit. Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Bei 43 Prozent der Frühverrentungen geht es um psychi- Beate Müller-Gemmeke. sche Erkrankungen. In der Liste der Berufskrankheiten gibt es aber diese Erkrankungen nicht, und das muss sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ändern. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18991

Beate Müller-Gemmeke (A) Es geht hier immerhin um Menschen, die arbeiten und Anerkennung von Bestandsfällen sowie eine erhöhte (C) die wegen ihrer Arbeit krank werden. Wenn sich die Transparenz in der Berufskrankheitenforschung. Ich be- Arbeitswelt verändert, dann verändern sich auch die Er- grüße diese Schritte ausdrücklich. krankungen der Beschäftigten, und dann muss das auch bei den Berufskrankheiten berücksichtigt werden, und (Beifall bei der SPD) zwar heute und nicht erst in 10, 15 oder 20 Jahren. Insbesondere den Wegfall des Unterlassungszwangs Vielen Dank. bewerte ich positiv. Das wird dazu führen, dass mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihr Recht auf Ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schädigung einfordern bzw. erstmals einfordern können. und bei der LINKEN) Der Preis der bisherigen Regelung ist hoch. Wer die krankmachende Tätigkeit aufgeben muss, fragt sich, wo- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: von er bzw. sie leben soll. Keine Arbeit – kein Lohn. Ein Vielen Dank, Frau Kollegin. – Meine sehr verehrten anderer Job findet sich nicht von heute auf morgen, und Damen und Herren, im Laufe der Aussprache hat der auch Umschulungen sind ein langer Weg. In meiner Zeit Kollege Strengmann-Kuhn von den Grünen den Kollegen als Betriebsrat habe ich viele erkrankte Kolleginnen und Schneider von der AfD als Rassisten bezeichnet. Lieber Kollegen im Anerkennungsverfahren begleitet. Zusätz- Herr Strengmann-Kuhn, ich erteile Ihnen für diese per- lich zu den Krankheitssymptomen und den Existenzsor- sönliche Herabwürdigung des Kollegen Schneider einen gen ist dann für viele Betroffene vor allem das Warten auf Ordnungsruf. eine Entscheidung sehr langwierig. (Beifall bei der AfD) Mir ist klar, dass es vonseiten der Sozialverbände und Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kolle- Gewerkschaften weiter gehende Forderungen zur Verbes- ge Michael Gerdes. serung des Berufskrankheitenrechts gibt. Damit werden wir uns im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens (Beifall bei der SPD) selbstverständlich auseinandersetzen. Meiner Meinung nach haben wir eine große Baustelle bei den Faktoren Michael Gerdes (SPD): „Stress“ und „psychische Belastungen am Arbeitsplatz“. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Hier kommt es immer häufiger zu Krankheitstagen. Ich Zuschauer auf den Tribünen! Wir beraten heute einen meine, das ist eine Entwicklung, die uns nicht ruhig blei- Gesetzentwurf mit unterschiedlichsten Inhalten. Vieles ben lassen kann, die uns nicht gefallen kann, eine Ent- davon ist sicher etwas für Bürokratiekenner und Digita- wicklung, die sich aus dem Wandel der Arbeitswelt er- (B) lisierungsspezialisten. gibt. Sie bringt neue Krankheitsbilder mit sich. Hier (D) brauchen wir dringend mehr Erkenntnisse. Ich möchte mich in meiner kurzen Redezeit auf die greifbaren Veränderungen im Bereich der Unfallversi- (Beifall der Abg. [Wetzlar] cherung konzentrieren; denn hier sehe ich erhebliche Ver- [SPD]) besserungen, die sehr im Sinne der Arbeitnehmerinnen Abschließend – wir haben es gerade gehört –: Bei den und Arbeitnehmer sind und offenbar auch hier in diesem Sozialwahlen im Jahr 2023 soll das Onlinewahlverfahren Hause Konsens finden. modellhaft erprobt werden. Wir werden auf Barrierefrei- Die gesetzliche Unfallversicherung hat bei uns eine heit, mehr Wahlbeteiligung und damit Stärkung der lange und gute Tradition. Wer durch seine Arbeit krank Selbstverwaltung achten. wird, hat Anspruch auf Entschädigung. Gleichzeitig ha- ben wir aber auch das Recht, vor gesundheitsschädlicher (Beifall bei der SPD) Tätigkeit geschützt zu werden. Die gesetzliche Unfallver- Ich finde, das sind gute Ideen. sicherung steht somit nicht nur für Rentenleistungen, son- dern auch für Rehabilitationen und Reintegration ins Herzlichen Dank und Glück auf! Arbeitsleben. Das sind wichtige und sinnvolle Errungen- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe schaften in unserem Sozialstaat. Schummer [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD) Bei allem Lob: Selbstverständlich muss jedes System Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: auf seine Tauglichkeit überprüft und gegebenenfalls ver- Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist ändert werden, und genau das tun wir mit dem vorliegen- der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion. den Gesetzentwurf. Wir überarbeiten die Regeln zur Fest- stellung und Anerkennung von Berufskrankheiten. (Beifall bei der CDU/CSU) Zentrale Punkte sind der Wegfall des Unterlassungs- zwangs – darauf ist hier schon mehrfach hingewiesen Max Straubinger (CDU/CSU): worden –, die Stärkung der präventiven Maßnahmen Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir zur Vermeidung von Berufskrankheiten, die rechtliche beraten heute das SGB-IV-Änderungsgesetz in der ersten Verankerung des ärztlichen Sachverständigenbeirats, die Lesung. Der Inhalt wurde vielfältigst dargestellt. Es sind Beweiserleichterungen durch gesetzlich geregelte Ge- hier sehr viele Änderungen im Sozialrecht und in den fährdungskataster, die Möglichkeiten zur rückwirkenden einzelnen Sozialgesetzbüchern vorhanden, die sehr posi- 18992 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Max Straubinger (A) tiv aufzunehmen sind und einen Fortschritt in unserem (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (C) Sozialstaat bedeuten. GRÜNEN]: Es geht um seltene Krankheiten! – Dr. [BÜNDNIS 90/DIE Die Vorredner haben insbesondere die Veränderungen GRÜNEN]: Es geht um Härtefälle!) im Berufskrankheitenrecht – das ist auch wichtig; das ist eine sehr positive Weiterentwicklung –, die Abschaffung – Ja, das Sozialrecht mag manchmal schwierig sein. Von des Unterlassungszwanges und die besseren Anerken- daher können und werden wir im Ausschuss darüber nungsmöglichkeiten, die vorgesehen sind, herausgestellt. diskutieren. Ich persönlich habe möglicherweise nicht Ich begrüße dies ausdrücklich für unsere Fraktion. Das die Offenheit für dieses Thema wie Sie. bedeutet auch – das möchte ich herausstellen –, dass die Sozialpartner dies in Einigkeit beraten und herbeigeführt (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE haben und wir dies im Gesetzgebungsverfahren dement- GRÜNEN]: Das klären wir im Ausschuss!) sprechend auch übernehmen. Das ist im Sinne der Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich bin überzeugt, dass Ein weiterer Punkt: der Antrag der Linken. Mir geht es dies ein großartiger Fortschritt ist. hier um die Sprache und die Unterstellungen gegen Un- ternehmen. Ich lese, dass sich die Unternehmen mit der Wir als Union bedauern – darüber müssen wir noch Haftungsregelung, die sie haben, ihrer sonstigen weiteren diskutieren, auch bei den anschließenden Beratungen – Aufgabe „entledigen“. Seien wir doch stolz darauf, dass die Abschaffung des Dienstordnungsrechtes bezüglich wir die Unfallversicherungsgenossenschaften haben und der DO-Angestellten. Es ist wichtig, dass die übertrage- dass sie von den Unternehmen getragen werden. Die nen Aufgaben auch wirkungsvoll erledigt werden kön- „entledigen“ sich nicht nen. Unfallversicherungsschutz ist eine wesentliche Auf- gabe, die wir den Betrieben geben. Die damit betrauten (Widerspruch des Abg. Matthias W. Birkwald Personen müssen das auch wirkungsvoll tun können; [DIE LINKE]) denn es kann zu Betriebsschließungen führen. Dafür be- – ja, Sie schreiben, dass sie sich „entledigen“ –, sondern darf es meines Erachtens einer besonderen Stellung. Des- sie nehmen diese Aufgabe aktiv wahr, Herr Kollege halb müssen wir überlegen, ob wir den Unternehmen Birkwald. Das ist das Entscheidende auch mit Blick auf nicht die Dienstordnungsfähigkeit geben. Denn wir müs- sozialstaatliche Prinzipien. sen feststellen: Bei den Unfallversicherungsträgern in Bayern bzw. in Nordrhein-Westfalen übernehmen diese Tätigkeiten auch Beamte. Ich bin überzeugt, dass dies auf Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: alle Unfallversicherungsträger auszuweiten ist. Das wol- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. (B) len wir in die Beratungen einbringen. (D) Uns als Union ist es wichtig, zwei weitere Dinge auf- Max Straubinger (CDU/CSU): zunehmen, die derzeit nicht vorgesehen sind. Es geht um Ja. – Dass möglicherweise Anträge abgelehnt werden, die Aufnahme der Bergarbeiter im Rückbau. Es ist nicht gibt es auch im Sozialrecht. Nicht jeder Wegeunfall ist nachzuvollziehen, dass Bergarbeiter, die jetzt den Rück- dem Beruf zuzuordnen. Darüber gibt es Rechtsstreite und bau durchzuführen haben, untertage arbeiten und Siche- möglicherweise dann auch Ablehnungen. Das ist aber in rungsmaßnahmen einleiten, nicht in die Knappschaft auf- unserem Rechtsstaat meines Erachtens die richtige Ant- genommen werden. Ihre Aufnahme wollen wir in dieses wort. Gesetzgebungsverfahren einbringen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Was mir und uns allen ein wichtiges Anliegen ist: Wir (Beifall bei der CDU/CSU) haben derzeit eine befristete Regelung für ehrenamtliche Bürgermeister. Wenn sie einer beruflichen Tätigkeit Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: nachgehen, sind sie, wenn sie frühzeitig in Rente gehen, Vielen Dank, Kollege Straubinger. – Ich schließe die bei der Zuverdienstmöglichkeit beschränkt. Der Zuver- Aussprache. dienst soll für die ehrenamtlichen Bürgermeister auch weiter möglich sein. Die jetzige Sonderregelung, die Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf wir ja bereits haben, soll zum 30. September entfristet den Drucksachen 19/17586, 19/17769 und 19/17787 an werden, sodass sie ab 1. Oktober unbefristet weiterläuft. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich schlagen. Gibt es andere Überweisungsvorschläge? – Das auch noch mit dem Berufskrankheitenrecht befassen. ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so. Frau Kollegin Müller-Gemmeke hat vorgeschlagen, hier Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: eine Härtefallregelung zu finden. Natürlich kann man sich eine solche Härtefallregelung vorstellen und sie viel- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- leicht auch machen. Aber es ist schon richtig, dass es in richts des Ausschusses für Verkehr und digitale der Sozialstaatlichkeit Grenzen gibt. Das müssen letzt- Infrastruktur (15. Ausschuss) endlich Gerichte entscheiden. Es kann nicht sein, dass zuerst ein Gericht bemüht wurde und wir dann mit einer – zu dem Antrag der Abgeordneten Leif-Erik Härtefallregelung daherkommen. Das kann es nicht sein, Holm, Matthias Büttner, Frank Magnitz, wei- Frau Kollegin. terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18993

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Wirksame Maßnahmengesetze – Be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) schleunigung durch echte Beteiligung der der SPD) Öffentlichkeit erzielen Prioritär ist für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion das – zu dem Antrag der Abgeordneten Torsten Thema Präklusion. Wenn also jemand mit einem Ein- Herbst, Frank Sitta, Oliver Luksic, weiterer wand verspätet kommt oder ein Einwand abgearbeitet Abgeordneter und der Fraktion der FDP ist, dann ist man juristisch präkludiert und kann mit dem gleichen Einwand später das Verfahren nicht noch Verkehrsprojekte schneller realisieren – einmal aufleben lassen. Präklusion bewirkt eine wesent- Ein modernes Planungsrecht für das liche Beschleunigung von Genehmigungs- und Gerichts- 21. Jahrhundert schaffen verfahren. Sie ist quasi ein Planungs- und Baurechtstur- bo. Drucksachen 19/16861, 19/17093, 19/17735 Allerdings ist hier zeitliches Augenmaß gefragt. Denn Es ist eine Aussprache von 30 Minuten beschlossen. aktuell läuft zu einer entsprechenden Regelung aus den Niederlanden ein Verfahren vor dem Europäischen Ge- Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt die Kollegin richtshof. Wir tun gut daran, das Urteil abzuwarten, um Veronika Bellmann, CDU/CSU-Fraktion. dann darauf aufbauend eine europarechtskonforme Prä- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) klusionsregel hier bei uns im Lande aufzustellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Veronika Bellmann (CDU/CSU): des Abg. Mathias Stein [SPD]) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- Sehr geehrte Damen und Herren, wir bekommen dank men und Herren! Nach dem Planungsbeschleunigungsge- des beharrlichen Einsatzes unserer Verkehrsminister setz aus dem Jahr 2018 hat die Regierungskoalition be- Dobrindt und Scheuer gegenüber dem Bundesfinanzmi- reits im Januar dieses Jahres weitere Schritte zur nisterium und der Beschlüsse des Koalitionsausschusses schnelleren Realisierung von Verkehrsprojekten vorge- zusätzlichen finanziellen Rückenwind von 8 Milliarden nommen. Das ist ein sehr dynamischer Prozess, den wir Euro für die verkehrliche Infrastruktur und 3 Milliarden auch ohne die Anträge von AfD und FDP in Gang gesetzt Euro für die digitale Infrastruktur. Mehr Geld alleine aber haben. nützt nichts, und der Investitionshochlauf kann auch nur gelingen, wenn Planungs- und Baurecht sowie die Um- Beide Anträge bestehen letztendlich aus Vorschlägen, setzung im vernünftigen zeitlichen Verhältnis zueinander die entweder schon lange auf dem Tisch liegen, sich be- stehen. (B) reits in der Umsetzung befinden, durch ihre vagen, nicht (D) rechtskonformen Formulierungen keinerlei praktische Konkret bedeutet das, dass beim Ausbau von Schie- Lösungsvarianten enthalten, wie zum Beispiel der AfD- nenwegen Planfeststellungsverfahren entfallen können, Vorschlag zur Einrichtung einer Zentralstelle, oder die dass Anträge zum Glasfaserausbau schneller geprüft wer- hauptsächlich auf europäischer Ebene entschieden wer- den oder dass bei kleineren Projekten und Ersatzinvesti- den. Hier nenne ich das Stichwort „Verbandsklagerecht“. tionen keine Umweltverträglichkeitsprüfungen mehr not- Es ist ein weiteres Mal, dass beide Fraktionen schnell wendig sind, aber insbesondere, dass Dopplungen noch auf den Zug aufspringen wollen, der von uns schon vermieden werden, Verfahren vereinfacht und miteinan- längst mit der richtigen Weichenstellung auf die richtige der verzahnt werden. Schiene gesetzt wurde. Stichworte sind hier das Raumordnungs- und das Plan- (Beifall bei der CDU/CSU – Otto Fricke feststellungsverfahren. Es ist nicht einzusehen, warum im [FDP]: Der fährt aber rückwärts!) Raumordnungs- und später im Planfeststellungsverfahren erneut fast identische Verfahrensschritte doppelt nachei- – Nicht rückwärts, Herr Kollege. – Nach Bauernprotesten nander ablaufen und dann auch doppelt so viel Zeit benö- und Landwirtschaft hat offenbar insbesondere die FDP tigen. Es gilt also, hier Abläufe durch Prozessintegration die Verkehrsinfrastruktur als neue Bühne für einigerma- zu straffen. ßen durchsichtige Schauspielereien für sich entdeckt. Am deutlichsten wird dies an der Forderung nach mehr Per- Planung und Bau müssen für die Menschen in greif- sonal für die Genehmigungsbehörden; denn die Regie- barem Zusammenhang sichtbar bleiben. Dabei gilt für die rungskoalition hat schon Ende 2019 mit dem Bundes- Bürgerbeteiligung: so viel, aber so früh wie möglich und haushalt 2020 für das Eisenbahn-Bundesamt 109 und danach nur noch so viel wie nötig. Beispiel Sachsen: Ich für die Wasserstraßenverwaltung 152 zusätzliche Stellen nenne die Bürgerdialoge der Deutschen Bahn zu den beschlossen, Schienenverkehrsprojekten – Leipzig oder auch Dresden – Prag. Das waren gut besuchte Veranstal- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tungen mit sehr kreativen und initiativen Vorschlägen. der SPD – Otto Fricke [FDP]: Keine ist be- Wir müssen endlich wieder zeigen, dass Deutschland setzt!) ein Land ist, das in einem realistischen Zeitraum – vom Beschluss des Projektes über die Planung bis hin zum einem Bundeshaushalt, den Sie als Oppositionsfraktionen Bau – Projekte für Infrastruktur und die Mobilität der komplett abgelehnt haben. Aber jetzt gleichlautende For- Zukunft umsetzen kann. derungen zu stellen, grenzt schon an Beschäftigungsthe- rapie, und die brauchen wir wahrlich nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) 18994 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Veronika Bellmann (A) Deshalb begrüßen wir, dass Bundesverkehrsminister dafür sorgen, dass der Bauzeitraum und auch die volks- (C) an Ergänzungen arbeitet, die beim wirtschaftlichen Kosten sehr oft aus dem Ruder laufen. Bau von Radwegen und bei der Elektrifizierung von Sonst gäbe es ja diese Änderungen gar nicht. Bahnstrecken nur noch vereinfachte Planverfahren vor- sehen. Wir erinnern uns noch alle an das Chaos um Stutt- gart 21. Ich betone hier noch einmal: Die AfD-Fraktion (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und ich stehen diesem Bahnhofsprojekt kritisch gegen- des Abg. Mathias Stein [SPD]) über, aus verschiedenen Gründen, und sicherlich hätte es dieses Projekt mit uns so nicht gegeben. Aber man muss Ich hoffe, dass er dafür das zustimmende Votum des auch einmal festhalten, dass die Umweltverbände, die Bundeskabinetts und im Bundesrat die notwendige Mehr- Grünen und auch einige Gewerkschaften die Bevölke- heit auch bei grün regierten bzw. grün mitregierten Bun- rung mit teilweise fadenscheinigen Begründungen gegen desländern bekommt. Dann werden wir bis Ende des den Bahnhofsbau aufgehetzt haben. Wochenlang hat die- Jahres das Investitionsbeschleunigungsgesetz auf den ses Land über Juchtenkäfer diskutiert, und heute sind sie Weg bringen können – das immerhin vierte Planungsbe- alle vergessen. schleunigungsgesetz in dieser Legislatur. Die vorliegen- den Anträge von AfD und FDP enthalten dazu weder (Beifall bei Abgeordneten der AfD) neue Ansätze noch einen inhaltlichen Mehrwert. Das ist leider so. Ein solches Verhalten ist für eine moderne Industriena- tion im Einzelfall peinlich, und im Wiederholungsfall Jetzt schlage ich noch mal einen Bogen zur Präklusion. untergräbt es den Anspruch dieses Landes, eine führende Industrienation zu sein. Diesen Weg gehen wir nicht mit. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der AfD) Aber sehr kurz, bitte. In Anbetracht des Infrastrukturstaus der letzten Jahre (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) und Jahrzehnte können wir es uns in diesem Land einfach nicht mehr leisten, dass Planungs- und Genehmigungs- verfahren verzögert werden. Um die gesellschaftliche Veronika Bellmann (CDU/CSU): Akzeptanz zu erhöhen – und das ist sehr wohl ein Unter- Genau, mache ich. – Sie erinnern sich: Präklusion be- schied zu Ihrem heutigen Wirken –, brauchen wir ver- deutet, dass man, wenn ein Einwand bereits abgearbeitet nünftige Einspruchsmöglichkeiten. Wir müssen den ist, mit dem gleichen Einwand später das Verfahren nicht Menschen in diesem Land vermitteln, warum wir das (B) mehr unterbrechen oder gar aufhalten kann. Mit den An- jeweilige Infrastrukturprojekt brauchen. (D) trägen von FDP und AfD verhält es sich genauso: Sie sind kein Fall juristischer, wohl aber einer von politisch-po- Andere Industrieländer mit hohen Umweltschutzstan- pulistischer Präklusion. dards wie beispielsweise Dänemark zeigen, dass sich Infrastrukturprojekte schnell realisieren lassen. Übrigens Vielen Dank. gilt in Dänemark genau das gleiche EU-Recht wie in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Wir als AfD-Fraktion haben ja gehofft, dass die Bun- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: desregierung endlich ideologiefrei Vielen Dank, Frau Kollegin Bellmann. – Für die AfD- Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Dirk Spaniel. (Zuruf der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]) (Beifall bei der AfD) die drängenden Themen im Verkehrsbereich angehen wird. Doch leider zeigt sich mal wieder, dass Vernunft Dr. Dirk Spaniel (AfD): und Weitsicht mit dieser Regierung ohne Weiteres nicht Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und möglich sind. Die geplanten Modellvorhaben mit Geset- Herren! Die heutige Debatte befasst sich mit der Be- zesrang beschränken sich auf acht Schienen- und fünf schleunigung von Infrastrukturprojekten. Das ist ja Wasserstraßenprojekte, und die Straße fehlt komplett. sicherlich mal etwas, bei dem wir weitgehend einer Mei- nung sind. Wir sehen einen erheblichen Verbesserungs- (Beifall des Abg. Enrico Komning [AfD] – La- bedarf bei der schnellen und effizienten Realisierung von chen der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE] – Straßen-, Schienen- und Wasserstraßenprojekten. Sabine Leidig [DIE LINKE]: Großer Beifall!) Wenn man sich die Gesamtsituation in unserem Land Das ist, gemessen an der verkehrspolitischen Bedeutung anguckt, dann kann man zusammenfassend sagen, dass von Straßen – da darf ich noch mal daran erinnern, dass zu viel Verwaltung, fehlende Transparenz und ein aus- 92 Prozent unseres Verkehrsaufkommens im Personen- uferndes Klagewesen durch sogenannte Umweltverbände verkehr auf der Straße abgewickelt werden –, völlig un- verständlich. (Ulli Nissen [SPD]: „Sogenannte“ können Sie sich sparen!) (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18995

Dr. Dirk Spaniel (A) Selbst das Bundesverkehrsministerium erwartet in der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) Verkehrsprognose bis 2030 einen noch stärkeren Verkehr Konkret schreiben Sie in Ihrer Begründung: auf der Straße. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, dass dem Straßenbau endlich die Priorität eingeräumt Verbandsklagen sind ein bekanntes Problem, das be- wird, die ihm zusteht. ständig die Fertigstellung von Infrastrukturprojekten verzögert. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf: Damit erwecken Sie den Eindruck, dass das Verbandskla- Oh, peinlich!) gerecht das zentrale Problem in Deutschland sei. Die Regierung hat die Chance verpasst, Straßenprojek- (Zuruf von der AfD: Ein zentrales Problem!) te per Gesetzesvorhaben vor ideologischen Umweltver- bänden zu schützen, die mit allen Mitteln den Ausbau der So ärgerlich es ist, wenn beim Planen und Bauen das Straßeninfrastruktur in diesem Land verhindern wollen. Verbandsklagerecht zur Anwendung kommt: Nach einer Wir fordern daher: Die Regierung muss endlich die ideo- Studie des Sachverständigenrats für Umweltfragen sind logischen Scheuklappen ablegen und der Realität ins Ge- lediglich – jetzt halten Sie sich fest – 0,04 Prozent aller sicht sehen. Die Straße ist und bleibt für viele Jahre der Verfahren vor Verwaltungsgerichten auf Verbandsklagen wichtigste Transportweg für die Bürger und die Wirt- zurückzuführen. Das ist also nicht das zentrale Problem. schaft in diesem Land. (Otto Fricke [FDP]: Was ist denn das für ein (Beifall bei der AfD) Argument?) Wir brauchen jetzt endlich eine Investitionsoffensive Die Frage, wie wir schneller Schienen, Wasserstraßen für die Straße. Deutschland ist eine Autofahrernation, und Straßen erhalten, ausbauen und sanieren können, pa- und wir sind die Interessenvertretung der Autofahrer. cken wir als Koalition an. Wir haben bereits zwei Pla- nungsbeschleunigungsgesetze, ein Maßnahmengesetz- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) vorbereitungsgesetz sowie einen Entschließungsantrag Vielen Dank. in diesem Haus beschlossen. Damit aber überhaupt ge- baut und geplant werden kann, benötigen wir ausreichen- (Beifall bei der AfD – Dr. Kirsten Tackmann de finanzielle Mittel, sprich: Investitionen, für unsere [DIE LINKE]: Das war öffentlicher Lobbyis- Verkehrswege. Dabei bin ich besonders stolz, dass wir mus! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beim Koali- NEN: Büttenrede!) tionsausschuss am Sonntag durchgesetzt haben, die In- vestitionen des Bundes in den nächsten Jahren deutlich (B) (D) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: zu erhöhen. Bis zum Jahre 2024 werden wir allein für die Verkehrswege 8 Milliarden Euro zusätzlich im Bundes- Der nächste Redner ist der Kollege Mathias Stein, haushalt bereitstellen. SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Gleichzeitig ermuntern wir die Länder und Kommu- Mathias Stein (SPD): nen, in einer Nationalen Investitionsallianz dafür zu sor- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- gen, dass marode Brücken saniert, Straßen und Schienen be Bürgerinnen und Bürger! Vor einem Monat berieten wieder fit gemacht und Wasserstraßen nachhaltig entwi- wir in diesem Haus bereits den vorliegenden Antrag der ckelt werden. Denn gerade in den Jahren, als nicht ge- FDP-Fraktion mit dem Titel „Verkehrsprojekte schneller nügend Geld im Bundeshaushalt für Verkehrswege be- realisieren – Ein modernes Planungsrecht für das 21. Jahr- reitstand, wurden Planungen gestreckt, verzögert oder hundert schaffen“, vor sechs Wochen den Antrag der verstaubten gar in Aktenschränken. Dieses und der Per- AfD-Fraktion mit dem Titel „Wirksame Maßnahmenge- sonalabbau in den öffentlichen Infrastrukturverwaltun- setze – Beschleunigung durch echte Beteiligung der Öf- gen begründen im Wesentlichen den Sanierungsstau fentlichkeit erzielen“. Seinerzeit habe ich mich bereits und auch die langen Bau- und Planungsphasen. Deshalb ausführlich mit dem Antrag der FDP auseinandergesetzt. ist es so wichtig, dass wir in den letzten Jahren das Per- Es bleibt dabei: Ihre Überschrift verspricht mehr, als der sonal bei der Bahn, beim Eisenbahn-Bundesamt, bei den Inhalt Ihres Antrages halten kann. Mal übernehmen Sie Wasserstraßen und der Autobahngesellschaft aufgebaut, unsere Forderungen, mal bewirken Sie mit Ihren Forde- neue Stellen geschaffen und mit ordentlichen Tarifver- rungen Verzögerung statt Beschleunigung. Mit der For- trägen für anständige Arbeitsbedingungen gesorgt haben. derung nach der Einschränkung der Rechte der Umwelt- verbände reißen Sie neue Gräben in der Gesellschaft auf. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Leni Breymaier [SPD] – Für unser Ziel des schnellen und nachhaltigen Bauens Bernd Reuther [FDP]: Ach, Quatsch!) liegen noch ein paar Brocken mehr im Weg. Das haben Die Legende, dass das Verbandsklagerecht alle Infra- wir erkannt, und deshalb handeln wir. Die Bundesregie- strukturprojekte verzögert, schimmert auch beim AfD- rung wird bis Juli 2020 ein Investitionsbeschleunigungs- Antrag durch, und bei der Rede von Herrn Spaniel eben gesetz in den Bundestag einbringen. Dort werden wir schimmerte das nicht nur durch, sondern das war über- Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren besser deutlich. verzahnen, um Doppelarbeit zu vermeiden. Wir wollen 18996 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Mathias Stein (A) für eine positive Beteiligungs- und Planungskultur sorgen schnellstmöglich ertüchtigt werden; ansonsten drohen (C) und beim Naturschutz besser werden. Außerdem werden den ansässigen Industriestandorten Lieferengpässe. Der- wir dafür sorgen, dass die Bundesregierung Maßnahmen lei Beispiele finden Sie überall in dieser Republik: Gott- ergreift, um beim Vollzug der Gesetze besser und schnel- hardtunnel, Rheintalbahn, Fehmarnbeltquerung. Ich ler zu werden. glaube, jeder von Ihnen kann in seinem Wahlkreis ein Projekt nennen, dessen Planung bzw. Bau sich über Jahre Die Bundeskanzlerin wird das Thema „Planungs- und verzögert haben. Investitionsbeschleunigung“ regelmäßig mit den Minis- terpräsidenten erörtern und darauf drängen, dass die In- Wir müssen Tempo aufnehmen. Eine Exportnation wie strumente für Beschleunigung aktiv genutzt werden. die unsere ist auf eine bestmögliche Infrastruktur ange- Ebenso wird die Bundesregierung auf europäischer Ebe- wiesen. Wenn wir also weiterhin wettbewerbsfähig sein ne Vorschläge einbringen, wie dort das Planungsrecht wollen, müssen wir wichtige Infrastrukturprojekte vereinfacht werden kann. schneller planen und bauen. Wir haben in den letzten Monaten also mächtig etwas (Beifall bei der FDP) geschafft, und wir haben auch noch mehr vor. Wir werden das auch schaffen. In diesem Sinne freue ich mich auf den Dabei ist das eigentliche Problem von den meisten Entwurf des Investitionsbeschleunigungsgesetzes der erkannt: Das derzeitige Planungs- und Genehmigungs- Bundesregierung. Im Sommer dieses Jahres packen wir recht ist der Flaschenhals. Es geht also nicht mehr um das an und beseitigen die Hürden im Bereich Planen und zusätzliche Mittel, sondern darum, diese zu verbauen. Bauen. Zum Glück hat das auch der Koalitionsausschuss erkannt und Sonntagnacht sieben Seiten zur Planungsbeschleuni- Vielen Dank. gung verfasst. Besonders freuen wir Freie Demokraten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten uns über die beinahe wortgleiche Übernahme von insge- der CDU/CSU) samt acht unserer Forderungen. Diese Art des Plagiats- versuchs finden wir ausdrücklich gut. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der FDP) Vielen Dank, Herr Kollege Stein. – Der Kollege Bernd Reuther hat das Wort für die FDP-Fraktion. Wir begrüßen die Forderung nach einer frühen Bürger- beteiligung. Dadurch wird die Akzeptanz von Infrastruk- (Beifall bei der FDP) turmaßnahmen stark erhöht.

(B) Bernd Reuther (FDP): Ein weiterer Punkt ist die Digitalisierung von Pla- (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nungs- und Genehmigungsprozessen. Hier kann wertvol- spreche heute in Vertretung für meinen Kollegen Torsten le Zeit zielgenau eingespart werden. Im 21. Jahrhundert Herbst. Keine Sorge, es geht ihm gut. Es handelt sich um dürfen keine Akten mehr versandt werden. Es gibt eine eine reine Vorsichtsmaßnahme. Erfindung namens E-Mail, die häufig und gerne genutzt werden sollte. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der FDP) GRÜNEN]) Unser Antrag enthält aber noch mehr Forderungen, die Liebe Kolleginnen und Kollegen, mitten durch meinen nicht aufgenommen wurden. Konkret meine ich die Ver- Wahlkreis geht die sogenannte Betuwe-Linie. Seit fast meidung von Umweltdoppelprüfungen oder von neuen 30 Jahren reden wir über dieses Projekt. Erst am Montag gerichtlichen Zuständigkeiten. Das sind Maßnahmen, gab es im Verkehrsministerium eine Runde mit den be- die für die Umsetzung von Schienen- und Straßenprojek- troffenen Bürgermeistern und dem Kollegen Enak ten enorm wichtig sind. Ferlemann. Auf niederländischer Seite ist dieses wichtige Schienenprojekt seit 15 Jahren fertig, in Deutschland sind (Beifall bei der FDP) Teile noch immer nicht planfestgestellt. Das ist die Rea- Wir haben die Hoffnung, dass vielleicht beim vierten lität in diesem Land. Anlauf eine grundlegende Reform für schnelleres Bauen (Beifall bei der FDP – Otto Fricke [FDP]: Eine gelingt. Wir wollen in der Sache vorankommen und wer- Schande!) den, wenn es vernünftig ist, die Bundesregierung hierbei unterstützen. In meinem Wahlkreis beginnt das Westdeutsche Ka- nalnetz. Die dortigen maroden Schleusen sind ein weite- Herzlichen Dank. res Indiz für die schleppende Planung in unserem Land. Seit Jahren wurden diese Wasserstraßen von der Bundes- (Beifall bei der FDP) regierung sträflich vernachlässigt. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der FDP) Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion Die Nun müssen Nadelöhre wie der Wesel-Datteln-Kanal – Linke hat das Wort die Kollegin Sabine Leidig. ich bin ausdrücklich dankbar, dass die Bundesregierung ihn in ihr Maßnahmengesetz aufgenommen hat – (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18997

(A) Sabine Leidig (DIE LINKE): (Bernd Reuther [FDP]: Quatsch! Unsinn!) (C) Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Lie- Ich hoffe, Sie lernen da um und erkennen, dass gute Ver- be Gäste! Der Linken ist es nicht egal, was gebaut wird, waltungen und gute öffentliche Dienste wichtig sind. Da sondern wir sind ganz stark daran interessiert, dass die sind wir dabei. Verkehrsinfrastruktur umgebaut wird und dass wir mehr Kapazität auf der Schiene kriegen, damit wir von der (Beifall bei der LINKEN) Straße auf die Schiene verlagern und Klimaschutzziele einhalten können und damit wir die Menschen in den hochbelasteten Städten, zum Beispiel die Anwohnerin- Vizepräsidentin Petra Pau: nen an den Straßen, entlasten können. Das Wort hat der Kollege Stefan Gelbhaar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Damit Bahnprojekte schneller vorankommen, gibt es ganz unterschiedliche Maßnahmen. Einen Teil hat die Bundesregierung bzw. die Koalition jetzt in die Wege Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geleitet. Ich gebe Frau Bellmann an dieser Stelle recht, Sehr geehrte Damen und Herren! Sie kennen sicher dass der Antrag der FDP irgendwie hinterhergeklappert den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ von 1993. wirkt und man nicht so richtig weiß, warum das Fass In dem Film wiederholt sich derselbe Tag wieder und eigentlich noch mal aufgemacht werden muss. wieder. So ist es auch hier: Erst im Januar haben wir zwei Tatsächlich ist es so, dass die Schienenprojekte in der Gesetzentwürfe zu genau demselben Thema hier im Bun- Vergangenheit vor allen Dingen nicht vorangekommen destag beraten und abgestimmt. sind, weil zu wenig Geld investiert wurde. Der sogenann- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE te Investitionshochlauf für die Schiene ist ja noch gar GRÜNEN]: Ich habe auch ein Déjà-vu!) nicht alt. Wir haben da in den letzten 30 Jahren wirklich ein Desaster erlebt, weil die jeweiligen Bundesregierun- Wenn ich Sie von der FDP und von der AfD daran er- gen viel zu wenig in die Schiene gesteckt haben. innern darf: Sie haben diesen Gesetzentwürfen zuge- stimmt. Sie haben sie nicht abgelehnt, Sie haben sich Ich will an einem Beispiel verdeutlichen, was unter nicht enthalten, anderem auch zu Verzögerungen führt: Die Mitte- Deutschland-Verbindung soll elektrifiziert werden. Dafür (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE ist ein Zeitraum von zehn Jahren vorgesehen. Davon sind GRÜNEN]: Hört! Hört!) (B) allein vier Jahre für die europaweite Ausschreibung ein- (D) geplant, nur eineinhalb Jahre für das eigentliche Planfest- Sie haben keine Änderungsanträge gestellt, nein, Sie ha- stellungsverfahren. – Allein das zeigt, dass es viel zu kurz ben zugestimmt. gesprungen ist, nur Verbändebeteiligungen oder Bürger- beteiligungen als Grund für Verzögerungen anzusehen. (Ulli Nissen [SPD]: Schon wieder vergessen!) Diesen Punkt möchte ich betonen. Und jetzt rufen Sie das Thema wieder auf. Das erschließt Bei der Rheintalstrecke – das ist eine andere total wich- sich mir nicht. tige Bahnstrecke, sozusagen die Verlängerung der Betu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN we-Linie – ist der Erfolg eingetreten, als die Vorschläge sowie bei Abgeordneten der SPD) der Bürgerinitiativen endlich umgesetzt werden konnten, weil mehr Geld für die Maßnahmen bereitgestellt wurde. Noch eines: Das war vor der Hamburg-Wahl. Sie ha- Es ist eben total unsinnig, Güterverkehrsstrecken durch ben Ihre Spitzenfrau aus Hamburg, , hierhin- kleine Ortschaften zu leiten und große landwirtschaftli- gestellt, die hat das vorgetragen. che Bereiche zu zerstören. Die Bürgerinitiativen haben sehr konkrete und gute Vorschläge erarbeitet. Wenn (Stephan Thomae [FDP]: Es bleibt richtig, Herr man früher auf sie gehört hätte, hätte man diese Maß- Kollege!) nahmen zehn Jahre früher abschließen können. Dann ist sie an der Fünfprozenthürde gescheitert, und (Beifall bei der LINKEN) jetzt ist Katja Suding nicht hier. Das Thema scheint für sie doch nicht so relevant zu sein. Deshalb ist aus unserer Sicht Folgendes wichtig – das ist mein zweiter Punkt –: Die Beteiligung von Bürgern, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beschäftigten und Naturschutzverbänden hilft, gute Pro- Grigorios Aggelidis [FDP]: Was ist das denn jekte zu realisieren. Sie ist keine Hürde und kein Hinder- für eine Argumentation?) nis. Wir wollen mehr Demokratisierung, und wir wollen nicht nur frühe Bürgerbeteiligung, sondern auch gute Diese beiden Anträge sind ebenso wie der Film irgend- Bürgerbeteiligung. Die dafür geltenden Kriterien werden wie 90er-Jahre. Wenigstens von der FDP, den sogenann- ganz oft noch nicht eingehalten. ten digitalen Vorreitern, hätte ich da ein bisschen mehr Schwung erwartet oder, wie man in den 90ern sagte, Mein letzter Punkt. Wir brauchen mehr Personal bei etwas „Peppiges“. den Bahnunternehmen, aber auch in den Planungsbehör- den. Die FDP hat sich in der Vergangenheit wirklich nicht (Bernd Reuther [FDP]: So wie in Berlin! Da dadurch ausgezeichnet, dass sie das befördert hat. läuft es ja!) 18998 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Stefan Gelbhaar (A) Unter Punkt 3 fordern Sie beispielweise mehr Digitalisie- Als Fraktion, die lieber die Zukunft gestalten will, als die (C) rung. Nur das steht da, keine weiteren Ideen, nichts In- Vergangenheit zu verwalten, lehnen wir diesen und den spirierendes, nichts Ausführliches. anderen Antrag ab. (Grigorios Aggelidis [FDP]: Das sieht man ja Vielen Dank. bei Rot-Rot-Grün in Berlin! Da wird gar nichts gebaut!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wie sieht die Digitalisierung von Verkehrsprojekten im 21. Jahrhundert aus Sicht der FDP aus? Fehlanzeige! Da- Vizepräsidentin Petra Pau: zu ist nichts zu lesen. Smart ist das nicht. Da steht nichts Das Wort hat der Abgeordnete Florian Oßner für die zu offenen Daten, nichts zu Open Source, nichts zu neuen CDU/CSU-Fraktion. Messtechniken. Die Chance wurde einfach verpasst. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Florian Oßner (CDU/CSU): In geradezu epischer Breite, ganz im Stil des vergan- genen Jahrhunderts, widmen Sie sich dann den Prüfungen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und im Bereich Umwelt- und Naturschutz. Die halten Sie für Kollegen! Geschätzte FDP, langsam wird es wirklich ein überflüssig; die wollen Sie gerne abschaffen. Ich frage Kasperltheater mit Ihren Schaufensteranträgen. mich wirklich, ob Sie den ökologischen Wandel der letz- (Beifall bei der CDU/CSU) ten 30 Jahre völlig verpasst haben. Vor vier Wochen haben wir bereits über diesen Antrag Dann kommt die ewige Leier – wir haben es gerade debattiert. Damals wie heute gilt: Die Große Koalition wieder gehört – von den bösen Verbänden. Ich sage hat mit den verabschiedeten Planungsbeschleunigungs- Ihnen: Die ohnehin sehr wenigen Verbandsklagen – Herr gesetzen I und II alle Punkte abgearbeitet, weswegen Stein hat es schon ausgeführt – sind in der Hälfte der Fälle Ihr Antrag völlig überflüssig ist und bleibt. sogar erfolgreich. Das heißt, in diesen Fällen haben die Planungsbehörden Recht gebrochen. Dieser Rechtsbruch (Beifall bei der CDU/CSU) wird durch diese Klagen behoben. Und das wollen Sie von der FDP abschaffen. Das ist doch irre! Da bringt es auch nichts, ihn völlig identisch ein zweites Mal auf die Tagesordnung zu setzen und auch noch eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN namentliche Abstimmung zu beantragen, die heute aller- und bei der LINKEN) dings entfällt. Ein überholter Antrag bleibt ein überholter (B) Antrag. Das wird auch durch ständige Wiederholung (D) Der richtige Weg ist die frühzeitige verbindliche Bür- nicht besser. gerbeteiligung. „Beteiligen“ heißt, sich mit Alternativen ernsthaft auseinanderzusetzen. Hier fehlt es bisher gänz- (Grigorios Aggelidis [FDP]: Da haben Sie lich an Standards, was echte, transparente, auch digitale wenigstens abschreiben können!) Bürgerbeteiligung bedeutet. Aber auch dazu kein Wort von Ihnen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Mir ist die Planungs- beschleunigung wirklich wichtig. Da ich selber aus der Sie wollen schneller planen und umsetzen. Das wollen Baubranche komme, ist das eine Herzensangelegenheit wir auch. für mich; das dürfen Sie mir glauben. (Grigorios Aggelidis [FDP]: Das halte ich für (Grigorios Aggelidis [FDP]: Das hat aber nicht ein Gerücht! Da sollten Sie sich mal an Ihr viel genutzt die letzten Jahre!) Land Berlin wenden!) Was ich aber nicht mag, sind unnötige Debatten. Wenn Dafür braucht es aber nicht mehr Buchstaben auf Papier. man über ein Thema spricht, sollte das sinnvoll und vor Dafür braucht es mehr Personal in den Ämtern und in den allem ziel- und lösungsorientiert sein. Das hier gleicht Gerichten. Das ist vielleicht der einzig wirklich überra- eher einer Verzweiflungstat von FDP und AfD, um in schende Punkt in Ihrem Antrag: Sie von der FDP bekla- der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Ich kann gen den schlanken Staat. – Das ist überraschend. Da reibt mir gut vorstellen, wie verdreht das in den sozialen Netz- man sich die Augen. Aber wir sind beruhigt; denn es wird werken dargestellt werden wird. Hören Sie bitte endlich trotzdem kein Vorschlag zur Abhilfe gemacht. auf, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land derart an der Nase herumzuführen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dann mussten Sie überlegen: Wie lassen wir diesen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Antrag enden? Sie haben sich einen krönenden Abschluss neten der SPD – Bernd Reuther [FDP]: Ei, ei, überlegt: Straßenbauprojekte sollen künftig per Gesetz ei!) beschlossen werden können. Sie wollen auch hier der Für parteitaktische Spielchen, um von den eigenen Un- Überprüfung vor Gericht entgehen. zulänglichkeiten bzw. Einflusslosigkeit abzulenken, ist Herr Reuther, Sie haben das sehr wacker vorgetragen, das Thema wirklich zu wichtig und die Zeit hier im Ple- aber der Antrag ist inhaltlich so alt, dass er schon staubt. num einfach zu kostbar. Zudem sollte der Bundestag wahrlich nicht für diese Spielchen missbraucht werden. (Bernd Reuther [FDP]: Oh!) An die FDP gerichtet kann ich nur sagen: Sie hätten die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 18999

Florian Oßner (A) Chance gehabt, mitzuregieren; aber Sie haben sich dage- CDU/CSU, der gesamten Koalitionsfraktionen sehr gut (C) gen entschieden, aufgehoben. (Beifall bei der CDU/CSU – Stephan Thomae (Lachen bei Abgeordneten der AfD und der [FDP]: Sie wollten uns ja nicht haben!) FDP) weil Sie nicht den Mut dazu gehabt haben. Jetzt schlaue Vielen Dank an dieser Stelle noch einmal an unser Bun- Sprüche aus der Opposition heraus zu klopfen, finde ich desverkehrsministerium für die hervorragende Vorarbeit mehr als unangemessen. zu diesem eingeleiteten Reformprozess. (Beifall bei der CDU/CSU – Stephan Thomae Die beiden Anträge von AfD und FDP wirken vor all [FDP]: Wir dachten, Sie könnten regieren! Hät- diesem Hintergrund daher völlig sinnentleert. ten wir das geahnt! Noch mal zur Sache, Kolle- Herzliches Dankeschön fürs Zuhören. ge!) Gerne stelle ich Ihnen nochmals die Maßnahmen der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Regierungskoalition vor. Mit den Planungsbeschleuni- ordneten der SPD) gungsgesetzen haben wir eine entscheidende Reform zur schnelleren Realisierung von Verkehrsprojekten ein- Vizepräsidentin Petra Pau: geleitet – das ist ein Paradigmenwechsel –: Planungsver- Ich schließe die Aussprache. fahren für Ersatzneubauten bei Straßen und Schienen werden verschlankt, auch im Zuge der Digitalisierung. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- Die Kommunen werden von Finanzierungsbeiträgen fehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infra- nach dem Eisenbahnkreuzungsgesetz entlastet. Die neuen struktur auf Drucksache 19/17735. Der Ausschuss emp- Regelungen werden auf Straßen und U-Bahnen nach dem fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Personenbeförderungsgesetz übertragen. Und wir haben Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Druck- die Möglichkeit der Genehmigung von Verkehrsprojek- sache 19/16861 mit dem Titel „Wirksame Maßnahmen- ten per Gesetz eingeführt. Das bedeutet im Klartext: Für gesetze – Beschleunigung durch echte Beteiligung der 13 Infrastrukturmaßnahmen haben wir Baurecht gesetz- Öffentlichkeit erzielen“. Wer stimmt für diese Beschluss- lich geschaffen und diese aus dem sonst üblichen Ver- empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die waltungsverfahren herausgelöst. Damit sind langwierige Fraktion Die Linke und einzelne Abgeordnete – – Also, Klageverfahren vor den Verwaltungsgerichten in diesen ich bitte darum, dass die Grünen deutlich machen, wie sie Fällen ausgeschlossen, und die Baumaßnahmen können abstimmen. Wie stimmt die Fraktion Bündnis 90/Die (B) zügig vorangebracht werden. Für mich ist das ein absolut Grünen? (D) entscheidender Punkt. Allen verantwortlichen Verkehrs- politikern möchte ich dafür herzlich danken. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir stimmen der Empfehlung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zu! – Weiterer Zuruf) ordneten der SPD) – Ich habe deutlich erklärt, dass es um Buchstabe a der Mit der im Gesetz verankerten sehr frühen Öffentlich- Beschlussempfehlung des Ausschusses geht, diese be- keitsbeteiligung haben wir zudem sichergestellt, dass zieht sich auf den Antrag der Fraktion der AfD auf rechtzeitig über das jeweilige Vorhaben informiert wird Drucksache 19/16861, und ich habe gefragt, wer für diese und sich die betroffenen Bürgerinnen und Bürger hierzu Beschlussempfehlung stimmt. – Aha. Das sind die Koa- äußern können. Für unsere Kommunalpolitiker, die die litionsfraktionen, die FDP-Fraktion, die Fraktion Die Verantwortung zu Hause tragen, ist das ein Riesenschritt Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer nach vorne, gerade auch was die Bahnkreuzungsbereiche stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion. Wer enthält sich? – anbelangt. Man sieht auch daran, wie eng die Bundes- Niemand. Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim- politik mit der Kommunalpolitik verbunden ist. men der AfD-Fraktion mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Ich kann also nur nochmals unterstreichen: Wir spre- chen nicht nur die Probleme an, sondern schaffen kon- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- krete Lösungen vor Ort. Dies sollte auch der Maßstab für schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- derartige zukünftige Projekte sein. Ich kann nur jeden tion der FDP auf Drucksache 19/17093 mit dem Titel hier in diesem Haus dazu auffordern, hier mitzumachen, „Verkehrsprojekte schneller realisieren – Ein modernes um unser Land vom ewigen Diskussionsmodus in den Planungsrecht für das 21. Jahrhundert schaffen“. Wer Umsetzungsmodus zu schalten. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koali- tionsfraktionen, die Fraktion Die Linke und die Fraktion (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die neten der SPD – Grigorios Aggelidis [FDP]: FDP-Fraktion und die AfD-Fraktion. Wer enthält sich? – Wer hat denn die letzten 20 Jahre regiert? Das Niemand. Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim- würde mich mal interessieren bei dem men der FDP und der AfD bei Zustimmung der übrigen Quatsch!) Fraktionen angenommen. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das The- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 sowie den Zusatz- ma „schnelles Planen und Bauen“ ist in den Händen der punkt 17 auf: 19000 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Tabea es denn politisch gewollt wäre; aber genau da, meine (C) Rößner, Dr. Manuela Rottmann, Dr. Konstantin Damen und Herren, liegt der Hase im Pfeffer. von Notz, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Niema Movassat [DIE LIN- Mit einem Klick – Kündigungsbutton und wei- KE]) tere Verbesserungen im elektronischen Ge- schäftsverkehr für Verbraucherinnen und Faire Verbraucherverträge hat sich das Verbraucher- Verbraucher schutzministerium angeblich auf die Fahnen geschrieben. Seitdem folgt eine Ankündigung der anderen, aber es Drucksache 19/17449 liegt bisher kein abgestimmter Gesetzentwurf vor. Das

Überweisungsvorschlag: unionsgeführte Bundeswirtschaftsministerium blockiert Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) den Vorschlag des SPD-Ministeriums. Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss Digitale Agenda (Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Ist doch ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten schon lange freigegeben, Frau Kollegin!) Katharina Willkomm, Stephan Thomae, Es wäre ja auch verwunderlich, wenn Verbraucherschutz Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und auf der Prioritätenliste der Bundesregierung plötzlich vor der Fraktion der FDP dem Schutz der Wirtschaft stehen würde – vorher lernen Durchschnittspreisangaben bei Langzeitver- Schweine fliegen. Bis dahin müssen wir Grüne uns für trägen mit Verbrauchern einführen die Verbraucherrechte einsetzen. Drucksache 19/17451 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Das stimmt ja Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) gar nicht! Der Entwurf ist schon lange freige- Ausschuss für Wirtschaft und Energie geben!) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Der Referentenentwurf ist nicht einmal mutig. Da fehlt Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- zum Beispiel eine allgemeine Bestätigungslösung für schlossen. Verträge, die einem am Telefon aufgeschwatzt werden, Sobald alle Kolleginnen und Kollegen ihren Platz ge- Sie wollen nur eine Branchenlösung. So wird das zum funden haben, können wir auch die Aussprache eröff- Verschiebebahnhof. Gerade der Telekommunikationssek- tor müsste aber dringend einbezogen werden; denn da (B) nen. – Ich wäre dankbar, wenn auch in der Unionsfraktion (D) in den hinteren Reihen die notwendige Aufmerksamkeit bestehen die größten Probleme. hergestellt wird. Es gibt also ganz eklatante Lücken. Der Kündigungs- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin button ist auch so eine. Dabei wäre eine solche Lösung Tabea Rößner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. doch sehr naheliegend. Zu diesem Ärgerthema gab es bereits mehrere Petitionen an den Bundestag. Die Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) desregierung hat dieses Thema wieder einmal komplett verschlafen. Wir wollen sie mit unserem Antrag aufwe- Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): cken. Setzen Sie unsere Lösung um, und stärken Sie die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher! ren! Es ist nicht schwer, online einen Vertrag abzuschlie- ßen; das geht mit einem Klick. Seit 2012 müssen Unter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nehmen auf ihrer Webseite einen Bestellbutton für den Wir Grüne haben uns des Themas angenommen und Vertragsabschluss vorsehen. So weiß ich: Wenn ich jetzt eine qualitative Studie in Auftrag gegeben, die zeigt: Der hier klicke, dann gilt der Vertrag. – Das ist eine sinnvolle Kündigungsprozess wird unnötig erschwert. Die Unter- Regelung; die haben wir damals auch gefordert. nehmen stellen perfide, ausgeklügelte Hürden auf, da sie Nicht so einfach ist es, aus einem so geschlossenen die Kunden nicht aus den Verträgen entlassen wollen. Zeitungsabo oder Handyvertrag wieder herauszukom- Das ist aus Sicht der Unternehmen nachvollziehbar. Aber men, schon gar nicht online. Viele Unternehmen bauen ich finde immer noch, Verbraucherinnen und Verbraucher da zahllose Hürden auf oder verlangen eine schriftliche sollten von der Qualität der Produkte überzeugt werden. Kündigung. Das ist absurd, und das wollen wir ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir Grüne stellen uns an die Seite der Verbraucher- Einige Unternehmen bieten online einen Kündigungs- innen und Verbraucher und fordern, dass Unternehmen vermerk an. Das heißt aber nicht, dass der Vertrag tat- auf ihren Webseiten einen einfach auffindbaren, barriere- sächlich gekündigt wird. Nein, da meldet sich dann je- freien und leicht verständlichen Kündigungsbutton vor- mand vom Callcenter und zwingt dem Kunden einen sehen müssen, wenn dort für den Vertragsabschluss auch unfreiwilligen Dialog auf, nach dem Motto: Wollen Sie ein Bestellbutton vorhanden ist. Zudem schlagen wir wei- wirklich kündigen? – Der Kündigungsprozess wird so zu tere Verbesserungen im elektronischen Geschäftsverkehr einem unerwünschten Kundenbindungsprogramm. Die- vor, wie eine klar ersichtliche Empfangsadresse und eine ser Spießrutenlauf wäre ganz einfach zu vermeiden, wenn automatische Empfangsbestätigung. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19001

Tabea Rößner (A) Meine Damen und Herren, das alles ist kein Hexen- (Beifall bei der CDU/CSU – Axel Müller (C) werk und wäre auch alles leicht umzusetzen. Wenn jetzt [CDU/CSU]: Wir haben zwei Schritte voraus!) aber von Ihnen wieder hanebüchene Ausflüchte kommen, Dort haben wir zum Beispiel formuliert, welche For- warum Sie diese Initiative nicht unterstützen können, manforderungen die Verwender durch Bestimmungen in dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn in Umfragen AGBs, besonders in Verbraucherverträgen, vereinbaren auch in Zukunft uns Grünen immer das stärkste Engage- können. Durch vorformulierte Vertragsbedingungen soll ment für die Verbraucherinnen und Verbraucher zuge- mit Verbrauchern nur noch Textform für Erklärungen ver- standen wird. einbart werden können, die der Verbraucher gegenüber Vielen Dank. dem Verwender oder einem Dritten abzugeben hat. Ein Unternehmer benötigt Kündigungen, andere Erklärun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen, Widerrufe oder Anzeigen eines Verbrauchers nach § 309 BGB danach nicht mehr in Schriftform. Vizepräsidentin Petra Pau: Ob diese Bestimmungen so ausreichen – da kommen Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege wir zusammen –, ist in der Tat zweifelhaft, wie die Praxis Sebastian Steineke das Wort. leider häufig zeigt. Das kann jeder, der selber kündigt, nachvollziehen. Wir haben dazu übrigens auch eine Re- (Beifall bei der CDU/CSU) gelung im Koalitionsvertrag. Die lautet: Sebastian Steineke (CDU/CSU): Wir erleichtern Verbraucherinnen und Verbrauchern Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Rechtsdurchsetzung durch Digitalisierung, ins- Liebe Zuhörer! Die hier vorliegenden Anträge von Bünd- besondere bei smart contracts. Deshalb werden wir nis 90/Die Grünen und FDP sind ein bisschen spät ge- die Entwicklung der automatischen Vertragsent- kommen. Wir müssen in den Ausschussberatungen se- schädigung fördern und rechtssicher gestalten. hen, wie wir damit zurande kommen. Der Kollege Ullrich sagt dazu nachher noch ein paar (Katharina Willkomm [FDP]: So kompliziert Worte. ist der Antrag jetzt auch nicht!) Der Antrag greift damit auch unbestritten eine Forde- – Wir haben noch nicht alles durchgearbeitet. – Die An- rung von uns auf. Wir als CDU/CSU verstehen unter träge bieten uns grundsätzlich die Möglichkeit, uns zum dieser Formulierung ausdrücklich auch deutliche Erleich- Thema „Verbraucherschutz im Vertragsrecht“ auszutau- terungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher bei schen. den Kündigungen. Dort haben wir mit Sicherheit Nach- (B) holbedarf; soweit sind wir uns einig. Wir könnten uns (D) Wir haben, glaube ich, alle das Ziel und die Auffas- auch hier als CDU/CSU eine deutlich stärkere Initiative sung, dass Verbraucherinnen und Verbraucher vor unlau- des Ministeriums vorstellen; das können wir so klar sa- teren Geschäftsmethoden geschützt werden müssen. Wir gen. Da hätte man auch bei den fairen Verbraucherver- haben das Thema Inkasso. Wir haben das Thema Telefon- trägen schon einen Punkt setzen können. Da können wir werbung, und wir haben Themen wie Wucherpreise und durchaus mehr Verbraucherschutz wagen. sonstige Dinge. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eine große Zahl von diesen Punkten werden wir zum Beispiel in den nächsten Wochen und Monaten in dem Nun direkt zum Antrag der Grünen. Der Ansatz, den Gesetz für faire Verbraucherverträge beraten. Die Minis- Sie verfolgen – das habe ich schon gesagt –, ist grund- terien haben sich weitgehend geeinigt, zumindest auf die sätzlich zu begrüßen. Sie fordern eine Verpflichtung für Freigabe. Insofern: So schlimm, wie das die Kollegin Unternehmen, einen einfachen und verständlichen Kün- beschrieben hat, ist es dann auch nicht. digungsbutton analog zum Bestellbutton aufzunehmen. Unternehmen, die einen Vertragsabschluss im elektron- In dem jetzt von den Grünen insbesondere angespro- ischen Geschäftsverkehr anbieten und ermöglichen, sol- chenen Themenbereich haben wir bereits 2011, übrigens len zudem eine E-Mail-Adresse als Empfangsvorrichtung unter einer von CDU/CSU und SPD geführten Bundes- für Kündigung oder Widerruf klar und verständlich an- regierung, den Button für den Abschluss kostenpflichti- bieten. Das ist durchaus nachzuvollziehen. ger Verträge eingeführt, also schon einen enormen Schritt im Verbraucherschutz gemacht. 2016 haben wir den Ja, der Kündigungsablauf oder die Kündigungswege nächsten Schritt gemacht und haben das Gesetz zur Ver- sind zum Beispiel im Bereich des Mobilfunks laut Daten besserung der zivilrechtlichen Durchsetzung von ver- der Marktwächter – dazu gibt es eine repräsentative Um- braucherschützenden Vorschriften des Datenschutzrechts frage – eines der Hauptärgernisse der Kunden. Das ist bei beschlossen. einer hohen Vertragswechselquote von bis zu 30 Prozent der Befragten im Telekommunikationsbereich schon eine (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erhebliche Anzahl. NEN]: Da Sie den ersten Schritt gemacht ha- Wir haben aber neben der Kündigungshandlung sel- ben, können Sie den zweiten ja auch noch ma- ber – Sie haben es auch angesprochen – noch weiter- chen!) gehende Probleme, die vielleicht noch größer sind, zum Auch da haben wir schon eine Menge Erleichterungen Beispiel die Fragen: Was ist mit einem Sonderkündi- auf den Weg gebracht. gungsrecht? Wann greift das genau? Was ist mit den Ab- 19002 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Sebastian Steineke (A) läufen nach der Kündigung? Ich nenne hier nur einmal durchsehen, um die korrekte E-Mail-Adresse herauszu- (C) die Portierung von Nummern, ein ewiges Thema. Was ist finden. mit dem Widerruf von Kündigungen, die man gemacht hat, weil man jetzt ein besseres Angebot vom alten An- (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bieter bekommen hat? Oder wie ist es mit den Beweis- NEN]: Wenn es überhaupt eine gibt!) pflichten in all diesen Fällen? Insofern greift Ihr Antrag Deshalb ist der Gedanke, Verbrauchern, die mit Unter- eben nur einen Teilaspekt des ganzen Themas Kündigung nehmen auf elektronischem Wege ein Dauerschuldver- auf. hältnis eingegangen sind, die Möglichkeit zur Kündigung ihres Vertrages per Kündigungsbutton zu verschaffen, (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dem Grunde nach richtig. Auch der Pflicht für Unterneh- NEN]: Immerhin! Immerhin!) men, die Vertragskündigung elektronisch zu bestätigen, – Ja, das wollen wir Ihnen zugestehen: Einen Teilaspekt stehen wir aufgeschlossen gegenüber. haben Sie aufgegriffen. Leider ist nun der Forderungskatalog, den die Grünen Deswegen gilt natürlich, liebe Kolleginnen und Kol- hier aufstellen, so schlampig abgefasst, dass er den Res- legen: Auch wenn der Antrag diesen wichtigen Aspekt pekt vor der Befassung durch dieses Hohe Haus vermis- herausgreift und auch diskutabel ist – das ist ohne Wei- sen lässt. teres so –: Ob jede einzeln formulierte Forderung der Grünen an die Bundesregierung zielführend ist, müssen (Beifall bei der AfD) wir diskutieren und müssen wir abwarten. Hier ist erstens zu bemängeln, dass die Forderung, die (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Pflicht zum Vorhalten eines Kündigungsbuttons vor- NEN]: Nicht abwarten! Zustimmen!) sieht, so dilettantisch formuliert ist, dass sie keine Unter- scheidung trifft zwischen Vertragsverhältnissen von ers- Insbesondere brauchen wir zu diesen anderen Punkten tens Unternehmen mit Verbrauchern, zweitens Verträgen zeitnahe und rechtssichere Lösungen, gerade zum Thema zwischen Verbrauchern, drittens Verträgen zwischen Un- Vertragswechsel. Ob der Antrag all dem gerecht wird, ternehmen. muss man sehen. Natürlich steht es auch Verbrauchern frei, den Ab- Wir sind aber zuversichtlich, dass wir zu diesem The- schluss von Verträgen über einen Onlinebutton anzubie- ma in diesem Hause noch vernünftige Vorschläge beraten ten. Ebenso können Unternehmer gegenüber anderen werden. Wir haben das Thema „faire Verbraucherverträ- Unternehmern diese Art des Vertragsabschlusses ermög- ge“. Wir haben auch noch andere Gesetzentwürfe. Wir lichen. Was wir aber nicht brauchen, sind weitere büro- (B) können im Rahmen dieses Gesetzentwurfes darüber dis- kratische Hürden für den Geschäftsverkehr zwischen Un- (D) kutieren. ternehmen. Da passt dann aus unserer Sicht auch das Thema des Zweitens ist aus dem Antragstext nicht ersichtlich, ob FDP-Antrages wieder dazu, der im Rahmen der Laufzeit- er sich nur auf Verträge bezieht, bei denen das Recht zur verträge zu diskutieren sein wird. Gerade bei diesem Ge- ordentlichen Kündigung gegeben ist. Dies ist bei Verträ- setzesvorhaben sollten wir die Vorschläge gemeinsam gen zwischen Unternehmen, also Business-to-Business, diskutieren. Ich denke, wir werden dann auch zu guten aber nicht immer gegeben, sondern oftmals nur eine Kün- Ergebnissen kommen. digung aus wichtigem Grund nach § 314 BGB. Der Ver- (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- such, allein durch die Begründung, die ja nicht Bestand- NEN]: Hoffentlich bald!) teil des Gesetzes wird, der Antragsforderungen eine Einschränkung zu erreichen, kann diesen Fehler nicht Vielen Dank. beheben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD) Drittens scheint den Antragsstellern nicht klar zu sein, Vizepräsidentin Petra Pau: dass ein einfach auffindbarer Kündigungsbutton ein Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lothar Maier für die Missbrauchspotenzial in sich birgt. Es kann nicht sein, AfD-Fraktion. dass Dritte in meinem Namen einen Vertrag kündigen, wenn sie nur meinen Namen eingeben und einen Knopf (Beifall bei der AfD) drücken. Erforderlich wäre es gerade zum Schutz von Verbrauchern, dass diese sich über geheime Zugangsda- Dr. Lothar Maier (AfD): ten einloggen, bevor ein Klick zur Kündigung führen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- kann. Davon ist im Antragstext nicht die Rede. Aber so ren! Allen Dauerschuldverhältnissen zwischen Verbrau- etwas muss in einem solchen Fall in ein Gesetz aufge- chern und Unternehmen ist gemein, dass die Verträge nommen werden. sich in der Regel automatisch verlängern, wenn der Ver- braucher nicht innerhalb einer bestimmten Frist diesen Viertens bleibt es das Geheimnis der Grünen, welche Vertrag kündigt. Will der Verbraucher kündigen, ist ihm Art von Sanktionen ihnen für einen Verstoß gegen die oftmals nicht ohne Weiteres ersichtlich, an welche kon- Pflicht zur Vorhaltung eines Kündigungsbuttons als krete E-Mail-Adresse er diese Kündigung zu senden hat. zweckmäßig erscheint. Wer Sanktionen fordert, sollte Er muss also seinen Vertrag und insbesondere die AGB zumindest angeben, ob er an Geldstrafen und, wenn ja, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19003

Dr. Lothar Maier (A) in welcher Höhe oder an Haftstrafen oder was sonst im- nicht richtig durchblickt worden sind. Man sieht das auch (C) mer denkt. daran, dass im Jahr 2018 27 Prozent aller Schuldnerinnen und Schuldner in der Schuldnerberatung jünger als Aus diesen zahlreichen Gründen werden wir Ihrem 25 Jahre waren. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, Antrag in den Ausschussberatungen nicht zustimmen zeigt doch ganz deutlich: Insbesondere für diese Ziel- können. Aber wenn Sie es noch einmal versuchen wollen: gruppe gibt es Handlungsbedarf. Wir können uns gerne zusammensetzen. Ich zeige Ihnen dann, wie es richtig geht. (Kay Gottschalk [AfD]: Das kann an schlechter Schulbildung und schlechten Mathematik- (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- kenntnissen liegen!) ten der SPD – Canan Bayram [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie haben ja unseren Antrag – Ja, wissen Sie, Hinweise von der AfD zur schlechten nicht verstanden!) Schulbildung lassen wir bei Ihrem Historienverständnis, das Sie hier an den Tag legen, beiseite, und zwar auf der rechten Seite. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Abgeordnete Falko Mohrs für die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- SPD-Fraktion. KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Es gibt aus dem Bundesjustizministerium einen Ge- setzentwurf; er ist angesprochen worden. Das Faire-Ver- Falko Mohrs (SPD): braucherverträge-Gesetz steht an, und es ist – das zeigt ja Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- auch die Vielzahl an Einwendungen, an Anmerkungen, ren! Ich bin dann auf die Ergebnisse des Gespräches ge- die gekommen sind – ein Gesetzentwurf, der nicht gerade spannt. Vielleicht bekommen wir ja einen kurzen Bericht unumstritten ist. Ich nehme das, was der Kollege Steineke darüber. hier sehr positiv angemerkt hat, auf: Wir sind im Ver- fahren bereit, noch Verbesserungen aufzunehmen, viel- Aber kommen wir zu den Anträgen zurück; denn in der leicht auch aus der Debatte heute. Der Parlamentarische Tat ist man – ich glaube, fast jeder von uns kennt es, und Staatssekretär Lange hat sich vorhin auf den Hinweis von das ist hier angesprochen worden – oft viel schneller drin, Herrn Steineke erfreut Notizen gemacht, in dem Fall in Verträgen – das haben schon andere fest- gestellt –, und dann wird es auf einmal kompliziert: Wie (Beifall des Abg. Dr. Volker Ullrich [CDU/ komme ich wieder raus? Wie sind vielleicht die kleinge- CSU]) (B) druckten Bedingungen? All das ist oft in der Realität dann dass wir alle bereit sind, noch mehrere Dinge aus der (D) nicht besonders verbraucherfreundlich. Debatte hier aufzunehmen. Es gibt komplizierte Wege, um einen online eigentlich Ich kann sagen: Wir sind offen dafür, nicht nur bei der sehr einfach abgeschlossenen Vertrag zu kündigen, wenn Frage von Laufzeiten von Verträgen, bei der Verkürzung man diesen Weg dann überhaupt versteht oder findet. Die von Kündigungsfristen und bei der Begrenzung von auto- Kollegin Rößner hat das, finde ich, sehr treffend be- matischen Verlängerungen. Wir haben vorgeschlagen, schrieben, was hier tatsächlich das Problem ist – ich dass die Verlängerung maximal drei Monate betragen glaube, die meisten von uns kennen es –, und das, obwohl darf. Wir sind eben auch bereit, darüber hinausgehende es doch so einfach war, den betreffenden Vertrag abzu- Verbesserungen für Verbraucherinnen und Verbrauer in schließen. Oder: Telefonisch wird einem ein super Ange- dieses Gesetz aufzunehmen. Ich freue mich da wirklich bot gemacht, und bei kritischer Durchsicht aller Details auf die Beratungen, die wir auch nach der heutigen Dis- im Anschluss stellt man fest: So richtig ultimativ gut war kussion hier führen können. das Angebot dann irgendwie doch nicht, wie man es viel- leicht vermutet hatte. Die tatsächlichen Kosten sind nicht Es gibt übrigens noch etwas, was in dem Vertrag vor- transparent; die Vertragsbedingungen sind es nicht usw. gesehen ist. Ich glaube, auch das ist wichtig, und wir können gerne über weitere Dinge sprechen, liebe Kolle- Oder – auch das ein Problem, das angesprochen und ginnen und Kollegen. Wir wollen eine Bestätigungslö- erkannt wurde –: Die Verträge laufen über zwei Jahre, sung einführen, wonach Verträge, die über Telefon mit haben Vertragskündigungsfristen von drei Monaten, ver- einem Strom- oder Gaslieferanten abgeschlossen wurden, längern sich locker mal um weitere zwölf Monate. Auch erst nach Vorliegen einer entsprechenden Schriftform das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht be- gültig werden. Wir hätten uns vorstellen können, dies sonders verbraucherfreundlich. übrigens auch für andere Branchen, in denen es Dauer- schuldverhältnisse gibt, einzuführen. Ich finde, auch das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist etwas, bei dem wir im parlamentarischen Verfahren der CDU/CSU] sowie des Abg. Niema durchaus noch nachlegen können. Ich freue mich auf Movassat [DIE LINKE] und der Abg. Tabea jeden Fall, wenn wir hier bis zur nächsten Beratung noch Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mehr Fleisch an den Gesetzentwurf bekommen. Das ist übrigens oft in der Folge ein Problem, das insbesondere junge Menschen trifft – wir sehen das –, (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Tabea die dann besonders häufig von Verschuldung betroffen Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sind, weil vielleicht die vertraglichen Pflichten von Also, meine Damen und Herren, wir wollen ganz klar Dauerschuldverhältnissen über lange Zeit angehäuft und bei der Transparenz von Verträgen, bei der Möglichkeit, 19004 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Falko Mohrs (A) diese zu kündigen, die Rechte und Pflichten, die mit Die Grünen wollen jetzt das Kündigen einfacher ma- (C) einem Vertragsabschluss verbunden sind, für Verbrau- chen. Ihr Kündigungsbutton ist tatsächlich ein vernünfti- cherinnen und Verbraucher stärken. Das Faire-Verbrau- ger Ansatz. cherverträge-Gesetz ist ein richtiger, ein wichtiger Schritt dazu. Wir sind bereit, da mit anzupacken. Ich freue mich (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auf die Beratungen. NEN]: Danke!) Einen solchen Button einzurichten, wird auch die Anbie- Eines sei vielleicht noch einmal gesagt, weil wir ja auf ter nicht überfordern. Bereits jetzt setzen etliche Unter- Ihren Antrag noch gar nicht so richtig eingegangen sind, nehmen, allen voran die Streaming-Dienste, solche Kün- liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP: Mit Ihrem An- digungsbuttons ein. trag haben wir zwei ganz wesentliche Probleme. Uns Freien Demokraten liegt neben einer verbraucher- Erstens wissen Sie vermutlich auch, dass wir mit dem, freundlichen und rechtssicheren Kündigung von Lang- was Sie hier ansprechen, dass Sie nämlich Durchschnitts- zeitverträgen aber noch etwas Wichtigeres am Herzen, preise am Anfang angeben wollen, so wie man im Super- nämlich die Frage: Was kostet der Spaß? Auf diese Frage markt die 100-Gramm-Preise für jedes Produkt nachvoll- bekommen Verbraucher meistens keine klare Antwort. In ziehen kann, ein rechtliches Problem haben. Es ist Werbeprospekten, auf Internetseiten oder Pappaufstellern national überhaupt nicht möglich, das einzuführen. Wir springen den Verbrauchern übergroße Preisangaben ins haben dort die Preisangabenrichtlinie; sie ist voll harmo- Auge, die den neuen Handy- oder Fitnessstudiovertrag nisiert. Insofern würde ich sagen: Da sollte man erst noch für eine Handvoll Euro im Monat bewerben. Das kleine einmal die Rahmenbedingungen klären. Sternchen – und das gibt es immer – übersieht man leicht. Das, was Sie dann wollen, sind aus meiner Sicht echt Im Kleingedruckten offenbart sich dann gerne, dass der nur Nebelkerzen. Wir wollen dafür mehr Transparenz. Preis nach den ersten drei oder sechs Monaten deutlich Wir sind bereit, das im Verfahren noch zu verbessern. ansteigt. Außerdem sind zusätzlich Einrichtungsgebüh- Ich freue mich auf die Beratungen. ren, Anschlussgebühren oder Gerätemieten zu zahlen. Alles Gute! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Mag der Anbieter auch gute Gründe haben, diese Ne- benkosten nicht einfach einzupreisen, so hat diese Praxis (Beifall bei der SPD) für Verbraucher zwei erhebliche Nachteile: Sie können nur schwer überblicken, welche Gesamtkosten auf sie Vizepräsidentin Petra Pau: zukommen, und sie können Verträge schlecht verglei- chen. Wir Freien Demokraten wollen daher mit unserem Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Katharina Antrag für Transparenz bei Langzeitverträgen sorgen. (B) Willkomm das Wort. (D) (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Dazu sollen Anbieter von Langzeitverträgen bei der Wer- Katharina Willkomm (FDP): bung und bei der Vertragsanbahnung einen monatlichen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Durchschnittspreis angeben müssen. Sprich: Alle Kosten, Kollegen! Die fortschreitende Digitalisierung unseres die beim Abschluss des Vertrages schon feststehen, wer- Alltags ist eine feine Sache. Viele Verträge können heute den zusammengerechnet und dann durch die Anzahl der schnell und unkompliziert im Internet geschlossen wer- Monate geteilt, die der Vertrag mindestens läuft. den. Auch wenn verständlicherweise nicht jeder Laden- Diese Durchschnittspreisangabe wird neben dem Wer- besitzer über diesen Umstand glücklich ist, so hat der bepreis angegeben. Genau wie am Supermarktregal ge- Onlinehandel doch etwas Wichtiges erreicht: Er sorgt nügt damit ein Blick für einen Vergleich, und man kann für mehr Wettbewerb. Verbraucherinnen und Verbraucher leicht einschätzen, ob man sich einen Vertrag wirklich haben dadurch ein breiteres Angebot und niedrigere Prei- leisten kann. se. Vielen Dank. Mit der Möglichkeit, Verträge bequem online zu schließen, stellt sich aber häufig das Kartoffelchipsprob- (Beifall bei der FDP) lem: Zugreifen ist einfach, Aufhören fällt schwer, Vizepräsidentin Petra Pau: (Zuruf von der CDU/CSU: Kennen Sie das Das Wort hat der Kollege Niema Movassat für die auch?) Fraktion Die Linke. vor allem, weil immer noch so viele Anbieter die Kündi- gung von Verträgen bewusst verkomplizieren. Wer mit (Beifall bei der LINKEN) Wechselboni und unvernünftig niedrigen Einstiegsprei- sen Neukunden gewonnen hat, der gibt sie ungern wieder Niema Movassat (DIE LINKE): her. Kundenbindung heißt aber nicht, Verbraucher durch Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nie war juristische Fallstricke und versteckte Kontaktdaten an ei- es einfacher, Handyverträge, Versicherungen oder Zei- nen Vertrag zu fesseln. Kunden bleiben, wenn gute Pro- tungsabos abzuschließen: Kurz ins Internet, und mit we- dukte einen dauerhaften Mehrwert bieten. nigen Klicks ist der Vertrag abgeschlossen. Während der Vertragsschluss kinderleicht ist, gestalten viele Unterneh- (Beifall bei der FDP) men den Weg zur Kündigung für die Verbraucher wie ein Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19005

Niema Movassat (A) Labyrinth. Ich musste das vor Kurzem selbst erleben. Ich auch Minderung oder Reklamation von Mängeln. Es geht (C) wollte meinen Telefonvertrag kündigen. Ich konnte die- um die Frage von Augenhöhe zwischen Unternehmen sen Kündigungswunsch zwar im Kundenportal hinterle- und Verbrauchern und darum, wie wir diese herstellen gen, aber ich musste zwingend innerhalb von zwei Wo- können. chen anrufen: Eine halbe Stunde in der Warteschleife des Anbieters, eine Diskussion mit dem Mitarbeiter des Un- Ich muss sagen: Ich fand diese Debatte sehr sachlich. ternehmens, und endlich war die Kündigung geschafft. Ich bin froh, dass die Große Koalition sich auch vorstel- Aber solche verbraucherfeindlichen Hürden müssen end- len kann, Verbesserungen vorzunehmen. Das ist ein guter lich weg. Schritt. Ich freue mich auf die weitere Debatte im Aus- schuss. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Danke schön. Wenn ein Kunde kündigen will, dann muss das mit einem (Beifall bei der LINKEN) Klick möglich sein. Die Kündigung muss genauso leicht sein wie der Vertragsabschluss. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Tabea Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) CDU/CSU-Fraktion. Die Realität sieht doch anders aus. Zwar bieten viele (Beifall bei der CDU/CSU) Telefon- und Versicherungsunternehmen mittlerweile Kundenportale im Internet an; aber kündigen kann man Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): da nicht. Und per E-Mail kündigen? E-Mail-Adressen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und geben viele Unternehmen erst gar nicht heraus, damit Herren! Im elektronischen Geschäftsverkehr brauchen man ihnen auch keine Kündigung per E-Mail schicken wir Fairness und Transparenz zwischen Unternehmen kann. Und wenn sie eine E-Mail-Adresse haben, dann und den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Es geht antworten sie nicht, wenn man per E-Mail kündigt. darum, dass Vertragsschluss und Vertragskündigung auf Und telefonisch kündigen? Während Verträge am Te- Augenhöhe stattfinden können, ohne größere Hürden, lefon meistens über kostenlose Hotlines schnell und nach sondern durch einfaches Zutun des Verbrauchers. Wir kurzer Wartezeit abgeschlossen sind, muss man bei der haben übrigens diesbezüglich bereits gehandelt. Bis Kündigung die teure Hotline anrufen und ganz lange in 2016 waren in Deutschland der Vertragsschluss und die der Warteschleife warten. Vertragskündigung nach unterschiedlichen rechtlichen (B) Regeln zulässig. Damals haben wir gesagt: Die Vertrags- (D) Bei vielen Unternehmen ist es nach dem Vertrags- kündigung muss nach den gleichen Regeln erfolgen wie schluss eine Tortur, mit ihnen in Kontakt zu treten. Be- der Vertragsschluss. Es darf kein strengeres Schriftfor- sonders Unternehmen mit einer marktbeherrschenden merfordernis geben, weil es oftmals so war, dass Sie Stellung wie die großen Telekommunikationsunterneh- mit einem einfachen Mausklick einen Vertrag schließen men sind ein Ausweis für schlechten Service und Kun- konnten; aber zur Kündigung mussten Sie einen Brief denfeindlichkeit. Solche marktbeherrschenden Unterneh- schreiben oder ein Fax schicken. Das haben wir bereits men haben eben keine Anreize, sich ihren Kunden 2016 geändert. gegenüber serviceorientiert zu verhalten. Denn die Kun- den müssen ja zu den Unternehmen, weil sie die Leistung Tatsache ist aber auch, dass sich seitdem die Entwick- brauchen. Hier braucht es endlich klare Regulierung! lung im elektronischen Geschäftsverkehr nicht in allen Bereichen so verbraucherfreundlich gezeigt hat, wie wir (Beifall bei der LINKEN) uns das damals erhofft haben. Deswegen gibt es hier Das gilt übrigens auch für das Widerrufsrecht beim einen Regelungsbedarf. Diesem Regelungsbedarf wollen Kauf von Waren im Internet. Auch hier bauen einige wir nachgehen. Wir wollen schlicht und einfach deutlich Unternehmen Barrieren ein, indem sie an den Kunden machen und zukünftig zum Gesetz erheben, dass auch die E-Mails mit E-Mail-Adressen schicken, auf die der Kun- Kündigung eines Vertrages, eines Dauerschuldverhältnis- de nicht antworten kann, sodass der Kunde sich fragen ses, mit den gleichen Möglichkeiten möglich sein muss muss: Wo muss ich jetzt den Widerruf hinschicken? – wie der Vertragsschluss. Das ist eine Frage der Augen- Auch hier gilt: Ein Klick muss für den Widerruf reichen. höhe und der Transparenz im Verbraucherbereich. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb, meine Damen und Herren, unterstützen wir den Es kann nicht sein, dass Verbraucherinnen und Ver- Antrag der Grünen. Ich will zwei zusätzliche Vorschläge braucher über ein einfaches Design einen Vertrag einge- machen, die der Antrag der Grünen nicht enthält. Die hen, dass aber die Vertragskündigung dann aufgrund einfache Kündigung mit einem Klick soll es laut Ihrem künstlich errichteter Barrieren nicht möglich ist und dass Antrag ja nur für solche Verträge geben, die online abge- Verbraucher oftmals, wenn sie versäumen, ihren Vertrag schlossen werden. Aber ich finde, im digitalen Zeitalter zu beenden, ihre Rechte nicht wahrnehmen, weil es eine sollte jeder Vertrag online kündbar sein, auch wenn er strukturelle Asymmetrie gibt zu Unternehmen, die viele offline abgeschlossen wurde. Und es sollte möglich sein, Zehntausende oder Hunderttausende Verträge abge- mit einem Klick alle Verbraucherrechte geltend zu ma- schlossen haben, und schließlich sagen: Na gut, die 10 chen, also nicht nur Kündigung und Widerruf, sondern oder 20 Euro mehr pro Monat nehme ich hin und kündige 19006 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Dr. Volker Ullrich (A) demnächst. – Auch diese Kleinschäden sind auf Dauer b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C) nicht hinnehmbar und stören das Verhältnis zwischen Dr. Danyal Bayaz, Anja Hajduk, Lisa Paus, Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie Unterneh- weiterer Abgeordneter und der Fraktion men. Deswegen sehen wir hier einen Regelungsbedarf. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Umsatzsteuerbetrug wirksam bekämpfen NEN]: Dann können Sie ja zustimmen!) Drucksache 19/17748 Ich bin optimistisch, dass wir das in absehbarer Zeit im Überweisungsvorschlag: Rahmen eines umfassenden Gesetzespaketes im Deut- Finanzausschuss (f) schen Bundestag besprechen werden. Ausschuss für Wirtschaft und Energie Aber wir sollten uns Gedanken machen, ob wir nicht Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- noch weitere Punkte aufnehmen. Eine Frage lautet, wie schlossen. wir denn bei Schädigungen und Erstattungen vorgehen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Gerade wenn ein Konzert oder eine Kinoveranstaltung Fabio De Masi für die Fraktion Die Linke. ausfallen, ein Flug oder eine Bahnfahrt nicht stattfinden können, bekommen Sie, wenn Sie mit einer Kreditkarte (Beifall bei der LINKEN) die entsprechende Leistung gebucht haben, nicht einfach eine Erstattung, sondern müssen meistens aufwendig mit Fabio De Masi (DIE LINKE): einem Formular oder einer E-Mail Ihren Erstattungsan- Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Ich ge- spruch deutlich machen. Auch das sollten wir ändern. Wir be zu: Es fällt mir schwer, in einer solchen Situation, in sollten darüber nachdenken, ob es nicht möglich ist, dass solchen Zeiten über Umsatzsteuern zu sprechen. Aber ich eine Erstattung überall dort, wo bereits Kreditkartendaten werde es trotzdem versuchen. hinterlegt sind, bei klarer Rechtslage automatisch erfolgt. Das wäre eine Entlastung des Rechtsverkehrs (Zuruf von der AfD: Müssen Sie nicht!) 50 Milliarden Euro Steuergelder stehlen Kriminelle (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mit Umsatzsteuerkarussellen in Europa jedes Jahr. Dabei neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden Handys oder Autoteile durch Unternehmen in und würde in der Tat sehr viel Ärger wegnehmen. verschiedenen EU-Staaten im Kreis verkauft; daher der Name „Karussell“. Ein Unternehmen in der Kette stellt Ich glaube, dass wir insgesamt in dem Bereich des die Umsatzsteuer auf seine Verkäufe zwar in Rechnung, Verbraucherschutzes durch ein kluges Design der Ver- führt die Steuer aber nicht ab. Bis der Staat dem Unter- (B) träge, durch ein In-die-Pflicht-Nehmen der Anbieter (D) nehmen auf die Schliche kommt, hat es sich zumeist in und durch Digitalisierung eine fairere Verteilung von Ri- Luft aufgelöst. Allein in Deutschland geht es um bis zu siken und Chancen zwischen Verbrauchern und Unter- 14 Milliarden Euro jährlich, die für Krankenhäuser und nehmern bekommen. Lassen Sie uns sehr konstruktiv Schulen fehlen. Wir müssen dagegen nationale Sofort- über diesen Antrag und über weitere Anträge im Rechts- maßnahmen in Angriff nehmen, aber auch Reformen ausschuss beraten. auf Ebene der EU; denn die Umsatzsteuerregeln werden Herzlichen Dank. auch in Brüssel gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Ein Münchner Staatsanwalt, der ein Experte für Um- Vizepräsidentin Petra Pau: satzsteuerkarusselle ist, hat in einer Anhörung des Ich schließe die Aussprache. Bundestages auf Einladung meiner Fraktion folgende einfache Vorschläge für den Kampf gegen diese Finanz- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf kriminalität gemacht. den Drucksachen 19/17449 und 19/17451 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Erstens. Gemäß dem Bürokratieentlastungsgesetz sol- Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht len neugegründete Unternehmen ab 2021 wie übrige Un- der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. ternehmen auch ihre Umsatzsteuern quartalsweise mel- den dürfen, sofern sie erwarten, dass sie weniger Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: Umsatzsteuern als 7 500 Euro im Jahr vereinnahmen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Der Staatsanwalt fürchtet aber, dass damit die Erweite- Fabio De Masi, Jörg Cezanne, Gökay rung eines Schlupfloches für Kriminelle einhergeht. Sie Akbulut, weiterer Abgeordneter und der verzeichnen dann Millionen Phoenix-Umsätze und ver- Fraktion DIE LINKE schwinden über Nacht wieder vom Markt. Der Schaden ist nach drei Monaten dann bereits enorm. Steuerbetrug durch Umsatzsteuer-Karus- Daher schlug der Staatsanwalt vor, dass nur die Fi- selle stoppen nanzämter vor Ort über solche Befreiungen von der mo- Drucksache 19/17135 natlichen Meldepflicht für neugegründete Unternehmen entscheiden sollten. Dies wäre ein minimalinvasiver Ein- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) griff in das Gesetz, würde aber Strafermittlern enorm Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz helfen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19007

Fabio De Masi (A) (Beifall bei der LINKEN) Bedeutung hat. Ich bin wirklich dankbar für die beiden (C) Zweitens. Wir brauchen einen einheitlichen Umgang Anträge, weil sie sehr sachkundig und auch sehr sachlich mit dem Entzug der Steuer- und Umsatzsteueridentifika- sind und konkrete Vorschläge aufgreifen, über die wir tionsnummer. Es darf nicht sein, dass Betrügern eine diskutieren sollten. Denn unser gemeinsames Ziel muss Nummer entzogen wurde, während sie die andere Num- sein: Umsatzsteuerbetrug muss verhindert werden. mer weiter nutzen dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Drittens. Staatsanwälte müssen von Banken schneller ordneten der SPD, der FDP und der LINKEN) Auskunft zu dubiosen Kontobewegungen erhalten. Wir Deshalb begrüße ich es auch sehr, dass sowohl in der wollen die Vorschrift in § 95 der Strafprozessordnung Rede des von mir auch fußballerisch geschätzten Kolle- schärfen und zwei Wochen als maximale Antwortfrist gen De Masi für Banken gegenüber Staatsanwälten setzen. Wir brau- chen ein kollektives Jagdfieber gegen Finanzkriminalität. (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) Italien macht vor, wie Technologie im Steuervollzug hel- als auch in den Anträgen auf die typische Rhetorik, die fen kann. Dort werden alle Umsatzsteuermeldungen Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen hätten elektronisch zentral erfasst und automatisiert geprüft, nichts gemacht, verzichtet wurde. Das stimmt ja auch gar um Betrug zu bekämpfen. nicht, sondern – das kann ich auch gleich sagen – wir Schließlich müssen wir in der EU mit den großen Re- haben einiges gemacht. Dennoch ist es immer wieder formen weiterkommen. Ein sogenanntes Reverse-Char- unser Auftrag, noch mehr zu tun und sich auf mögliche ge-Verfahren könnte viele Probleme eindämmen. Dabei Betrügereien einzustellen. Da gibt es immer neue Tricks, zahlt nur noch der Unternehmer Umsatzsteuer, der direkt auf die wir reagieren müssen, und die Bundesregierung, an den Endkunden verkauft. Erstattungsanträge unter die CDU/CSU und die SPD haben in der Vergangenheit Zwischenhändlern, die bei den Karussellen zum Betrug eines gemacht. Wir waren alles andere als untätig. genutzt werden, entfallen. Aber wo liegt das Problem? Wir haben seit 1969 die Die Vorschläge unseres Sachverständigen – des sogenannte Allphasen-Netto-Umsatzsteuer. Das heißt, Münchner Staatsanwalts – kommen aus der Praxis der auch bei einer gewissen Fertigungstiefe – also bei Liefe- Strafverfolgung. Leute wie er nehmen jeden Tag den rungen von Unternehmen zu Unternehmen – wollen wir Kampf gegen Umsatzsteuerkarusselle und Finanzkrimi- eine Umsatzsteuerbelastung letztendlich nur beim End- nalität auf. Seine Vorschläge wurden im Bundestag von kunden, also beim Konsumenten, erzielen. Er soll die allen Fraktionen als diskussionswürdig kommentiert. Wir Umsatzsteuer zahlen. Das funktioniert so, dass der Unter- bringen sie heute als Antrag ein und hoffen, unser Antrag nehmer, der von einem anderen Unternehmen etwas (B) (D) ist für Sie ebenso diskussionswürdig. erwirbt, die Umsatzsteuer, die er an dieses zahlt, als Vor- steuer wieder erstattet bekommt und nur die Umsatz- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. steuer abführt, die er wiederum dem nächsten Unterneh- mer in Rechnung gestellt hat. Das bedeutet eben: Der (Beifall bei der LINKEN) Unternehmer, der liefert, muss die Umsatzsteuer abfüh- ren, und ein anderer Unternehmer kann dann die gezahlte Vizepräsidentin Petra Pau: Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend machen. Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Fritz Güntzler das Wort. Das Problem ist nun, dass das zwei verschiedene Per- sonen sind, und das kennen wir aus einer anderen Situa- (Beifall bei der CDU/CSU) tion, nämlich aus den Cum/Ex-Fällen. Hier wird dann auch etwas erstattet, Fritz Güntzler (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE ren! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! GRÜNEN]: Was nie geleistet worden ist!) Beide Anträge sind eine gute Gelegenheit, heute wieder was nie gezahlt wurde, wenn das Karussellgeschäft funk- über ein wichtiges Thema zu debattieren. Herr Kollege tioniert. Herr Kollege De Masi hat auch darauf hinge- De Masi hat darauf hingewiesen, welches Ausmaß der wiesen: Das geschieht zumeist grenzüberschreitend. Stel- Umsatzsteuerbetrug europaweit erreicht. Er nannte len Sie sich Folgendes vor: Ein Unternehmer aus den 50 Milliarden Euro. Gewisse Schätzungen gehen sogar Niederlanden verkauft Mobiltelefone – es sind meistens weit darüber hinaus und sprechen von einem Schaden leichte, aber sehr werthaltige Waren; früher waren es von 60 Milliarden Euro. Man muss sich das mal vorstel- häufig Mobilfunktelefone – in die Bundesrepublik len: Das sind über 100 Euro pro EU-Bürger, die den Deutschland. Das nennt man „innergemeinschaftliche Staaten dadurch verloren gehen. Lieferung“, bei der keine Umsatzsteuer anfällt. Der Un- ternehmer in Deutschland verkauft die Mobiltelefone (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE weiter an den nächsten Unternehmer. Der Unternehmer, GRÜNEN]: Wahnsinn! Und das lassen Sie der die Umsatzsteuer abführen müsste – der erste in zu! Das lassen Sie einfach so zu!) Deutschland –, wird das nicht tun. Das ist letztendlich Wir haben in Deutschland Umsatzsteuereinnahmen Betrug, aber er tut es nicht. Das ist meistens ein Missing von circa 240 Milliarden Euro. Das ist ein großes Stück Trader, ein verschwundener Unternehmer; der wird spä- des gesamten Steuerkuchens von ungefähr 740 Milliarden ter nicht mehr da sein. Diese Kette geht letztendlich so Euro. Man sieht daran also, dass das Thema eine gewisse lange – Sie können das ganz lange so weitermachen –, bis 19008 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Fritz Güntzler (A) die Mobilfunktelefone wieder in den Niederlanden ge- Herr De Masi hat die Dinge vorgetragen, die uns ein (C) landet sind, und im Ergebnis fehlen dann einmal 19 Pro- Sachverständiger in der Anhörung vom 15. Januar 2020 zent Umsatzsteuer. genannt hat. Dort wurde auch die monatliche Abgabe von Umsatzsteuer-Voranmeldungen bei Neugründungen ge- Das Perfide an der ganzen Situation ist, dass es sogar nannt. Das ist der Regelfall. Im Bürokratieentlastungsge- Unternehmen geben kann, die an dem Karussell teilneh- setz III haben wir diesbezüglich eine begrenzte Ausnah- men, obwohl sie gar keine Fahrkarte für dieses Karussell memöglichkeit eingeführt, um zu beobachten, ob das zu gekauft haben. Sie wissen gar nicht, dass sie dabei sind, Missbräuchen führt. Hier befinden wir uns in einem und befinden sich dann in dieser Situation. Darum müs- Zwiespalt in Bezug auf die Bürokratie. Einerseits wollen sen wir überlegen, wie wir dieses Problems Herr werden. wir Start-up-Unternehmen entlasten. Andererseits müs- Wir werden weiterhin nationale Maßnahmen ergreifen sen wir die Sicherheit schaffen, dass die Umsatzsteuer- müssen. Wichtig ist aber, dass wir auch europäisch eine einnahmen fließen. Darum haben wir diese Übergangs- Lösung finden. Die Kommission hat ja schon im Jahre frist eingeführt und werden wir uns das angucken. 2017 Vorschläge unterbreitet. Dabei geht es um das Be- stimmungslandprinzip, um zertifizierte Steuerpflichtige. Ganz spannend finde ich folgenden Punkt – das ist Diese Dinge werden wir uns ansehen. auch der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte –, den der Sachverständige aus München angeführt hat: die ge- Die Zusammenarbeit in Europa ist besser geworden. setzliche Normierung der Erteilung und der Entziehung Wir haben das Mehrwertsteuerfrühwarnsystem TNA, von Umsatzsteuer-Identifikationsnummern. Es war mir woran sich die Bundesrepublik Deutschland, nachdem nicht klar, dass das so ist. Wir müssen darüber nachden- nun die Rechtsgrundlagen dafür geschaffen worden sind, ken, wie wir denjenigen, die mit einer solchen Identifika- auch beteiligen wird, und wir haben eine Datenbank beim tionsnummer durch die Gegend laufen, aber für Miss- Bundeszentralamt für Steuern, auf die die Finanzämter brauchsfälle bekannt sind, diese Nummer entziehen bei Betrugsfällen zugreifen können. Da läuft also eine können. Das werden wir tun. ganze Menge, und von daher sind wir auf einem guten Wege. Ich freue mich wirklich auf eine hoffentlich weiterhin sachliche Debatte im Finanzausschuss, und ich glaube, Wir müssen aber weitergehen. Wir haben verfahrens- wir können da etwas Gutes erreichen. rechtliche – Bußgelder – und materiell-rechtliche Maß- nahmen ergriffen. Ich will sie nicht alle aufzählen, aber Herzlichen Dank. ich nenne zum Beispiel die Umsatzsteuernachschau, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wir eingeführt haben. Dadurch haben die Finanzämter die ordneten der SPD und der LINKEN) (B) Möglichkeit, ziemlich zeitnah zu prüfen und (D) Scheinunternehmen aufzudecken. Vizepräsidentin Petra Pau: (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Das Wort hat der Abgeordnete Kay Gottschalk für die GRÜNEN]: Sagen Sie doch noch was zu den AfD-Fraktion. EU-Vorschlägen!) (Beifall bei der AfD) Das Entscheidende ist: Wir haben die Möglichkeit ge- nutzt und in § 13b Umsatzsteuergesetz das Reverse-Char- Kay Gottschalk (AfD): ge-Verfahren eingeführt, was eben das Problem, das ich Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und eingangs geschildert habe – dass der eine die Umsatz- Herren! Heute sprechen wir über Umsatzsteuerkarussel- steuer abführen muss und der andere sie erstattet be- le. Das klingt tatsächlich lustig, verehrte Damen und Her- kommt –, aushebelt. Man führt das zusammen. Die ren – vor allen Dingen da draußen –, ist es aber nicht. Steuerschuld liegt dann beim Leistungsempfänger. Er Kollege De Masi hat es angeführt: Es wird geschätzt, dass führt die Umsatzsteuer nicht an den leistenden Unterneh- hier für Deutschland ein hoher zweistelliger Milliarden- mer, sondern an das Finanzamt ab und hat gleichzeitig die betrag und europaweit über 50 Milliarden Euro verloren Möglichkeit des Vorsteuerabzugs. Wir bringen die Dinge gehen. Dieser Tatbestand ist aber, ähnlich wie viele an- also zusammen. dere Tatbestände, schon länger bekannt. Leider ist es derzeit nicht möglich, dieses Verfahren in Näher darauf eingehen möchte ich an dieser Stelle Europa generell einzuführen. Tschechien macht einen nicht, weil die Kollegen das perfekt beschrieben haben. Probeversuch. Es gibt gewisse Kriterien, nach denen Mir geht es um Lösungen, und die Debatte davor war man das beantragen kann. Diese Kriterien der Mehr- schon sehr zielführend – auch die zum Verkehr. Sie ken- wertsteuersystemrichtlinie wird die Bundesrepublik nen all die Probleme seit 20 Jahren, allein lösen tun Sie Deutschland – das ist jedenfalls meine Auffassung – der- sie nicht. Ich werde hier zum Schluss einen Lösungsvor- zeit nicht erfüllen können. Deshalb ist es gut, dass wir schlag machen, der für einige Herrschaften wahrschein- dort, wo wir Probleme erkennen – siehe § 13b UStG –, lich fast viel zu simpel ist. entsprechende Regelungen vornehmen. Zuletzt waren es die Ökozertifikate. Wir haben auch einen sogenannten Kommen wir aber noch mal auf die Anhörung, die der Schnellreaktionsmechanismus eingeführt, sodass wir Kollege Güntzler eben erwähnt hat, zu sprechen. Dort ganz schnell reagieren können, wenn Betrugsfälle in die- gab es nämlich einen Kollegen Eigenthaler und viele sen Bereichen auftreten. Von daher haben wir, glaube ich, andere Kollegen, die die Dimension und die Höhe gar eine ganze Menge gemacht. nicht greifbar machen konnten, auch das BZSt nicht. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19009

Kay Gottschalk (A) Komischerweise konnten es das Kieler Institut für Welt- Sie wollten einen konkreten Vorschlag. Bitte schön; (C) wirtschaft und viele andere. Das „Handelsblatt“ zitiere den können Sie haben. Seit 2006 – ich habe extra den ich hier mit Erlaubnis der Präsidentin vom 11. Februar Kommentar hier, falls Sie Schwierigkeiten haben, dem 2020: zu folgen – schlägt die deutsche Finanzverwaltung die IMEI vor. Die kennt jedes Kind. Die kennen Sie vom Umsatzsteuerkarusselle richten europaweit … einen Handy. Die kennen Sie von vielen elektronischen Gerä- gewaltigen Schaden an. Allein in Deutschland … ten. Und dort wird einfach und simpel vorgeschlagen, auf – ich habe es eben gesagt – allen Handelsstufen entsprechend diese IMEI in den Rechnungen und Dokumenten zu vermerken. Das würde eine zweistellige Milliardensumme. nämlich den größten Betrugstatbestand unterbinden, Meine Damen und Herren, es geht hier um einen zwei- nämlich dass Gegenstände mehrmals, wie Sie es eben stelligen Milliardenbetrag durch Cum/Ex, Cum-Fake, so schön – dafür bedanke ich mich, Herr Güntzler – be- Cum/Cum und viele andere Steuerhinterziehungen und schrieben haben, gedreht werden können. Dann kann -verkürzungen auf europaweiter Basis. Hier, meine Da- nämlich eine Uhr oder ein anderer Gegenstand nicht men und Herren, könnten wir schon längst gehandelt zehnmal von diesem Verkäufer in den Niederlanden, haben. Der Soli wäre Geschichte, und wahrscheinlich den Sie genannt haben, hier wieder aufschlagen. Denn könnten wir uns sogar darüber unterhalten, ob wir eine dann fällt den Finanzämtern auf, dass das Produkt zum Körperschaftsteuerreform angehen, wie es die Franzosen dritten oder vierten Mal nach Deutschland geliefert wird. gemacht haben, damit die deutsche Wirtschaft endlich Und wenn wir es, anstatt eine schwachsinnige Grund- wieder wettbewerbsfähig ist, verehrte Kollegen. steuerreform vom Zaun zu brechen, dann noch schaffen, (Beifall bei der AfD – Fritz Güntzler [CDU/ wie in den Niederlanden – auch dafür bin ich Ihnen dank- CSU]: Was wollen Sie denn konkret machen?) bar – unsere Beamten vielleicht nach drei, vier Wochen in neugegründete Unternehmen zu schicken – das schaffen – Ich komme gleich dazu. die Niederländer nämlich nach drei Wochen –, dann Die Anträge der Linken und Grünen – das muss ich könnte man vielleicht sogar schon sehr früh sehen, ob tatsächlich sagen – greifen viele Dinge aus dem Fachge- das ein Missing Trader ist oder nicht. spräch vernünftig und auch ordentlich und sachlich auf. Alles in allem: Seit über 14 Jahren liegen die Lösun- Der Frage, ob das Reverse-Charge-System, was ja der gen – simple Lösungen – auf dem Tisch. Aber wie beim amerikanischen Sales Tax sehr nahe ist, dann die Lösung Verkehr, wie bei anderen Steuern: Sie nehmen sie nicht bringt, stehen wir allerdings noch sehr kritisch gegen- wahr. Wir werden aber die Diskussion sehr kreativ und über. So sagte nämlich der Kollege Eigenthaler von der konstruktiv begleiten. (B) Deutschen Steuer-Gewerkschaft auch – ähnlich wie bei (D) einer anderen Sache, zu der ich gleich komme –: Es wird Ich bedanke mich. wieder die ehrlichen Unternehmer mit einem immensen (Beifall bei der AfD – Fritz Güntzler [CDU/ Umstellungs- und Verwaltungsaufwand treffen. CSU]: Sie sind ja immer für einfache Lösun- Denken Sie daran, was Sie mit der Bonpflicht für gen! Auch bei komplexen Sachverhalten!) Bäcker angerichtet haben. Sie vertagen es ja täglich im Ausschuss. Ähnlich wird es mit diesem Verfahren sein. Vizepräsidentin Petra Pau: Lassen Sie es! Machen Sie es simpel! Dazu komme ich Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Ingrid gleich noch. Arndt-Brauer das Wort. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD) Das Recherchenetzwerk Correctiv hat einen Bericht namens „Grand Theft Europe“ verfasst. Kommen wir Ingrid Arndt-Brauer (SPD): zu den Tatsachen: Großbritannien hat nämlich mit ein- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! schneidenden Maßnahmen reagiert und hat damit in den Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Es gibt nicht letzten Jahren den Umsatzsteuerbetrug von 3,5 Milliarden immer für schwierige Probleme einfache Lösungen. Des- Pfund auf derzeit 500 Millionen Pfund gedrosselt. Wa- wegen werde ich zu den Anträgen reden, die versuchen, rum? Weil man organisierten Mehrwertsteuerbetrug dort ein sehr schwieriges Problem zu lösen, und deswegen mit bis zu lebenslänglicher Haft bestraft. Und hier in bedanke ich mich bei der Opposition für diese Anträge. Deutschland – auch das hat der Staatsanwalt aus Mün- Der Antrag der Linken „Steuerbetrug durch Umsatz- chen gesagt – kommt so ein Gangster, so ein Steuerbe- steuer-Karusselle stoppen“ und der Antrag der Grünen trüger mit fünf Jahren weg, kommt bei unserer Gerichts- „Umsatzsteuerbetrug wirksam bekämpfen“ deuten schon barkeit nach dreieinhalb Jahren wegen guter Führung die Richtung an. raus, holt die 5 Millionen vom Panama-Konto und lacht sich auf Kosten der Steuerzahler schlapp und hat ein Allgemein gilt – mein Kollege Güntzler hat es schon schönes Leben. Die deutsche Gesetzgebung ist eben in gesagt –: Der sogenannte Karusselbetrug ist eine leider vielen Teilen – das gilt insbesondere für unsere Strafge- weitverbreitete schwere Form der Steuerhinterziehung, setzgebung – zu lasch. Das lädt geradezu zu Verbrechen bei der mehrere Unternehmen, meist in verschiedenen ein, liebe Kollegen. EU-Ländern, zusammenwirken und bestimmte Waren im Kreis handeln, wobei eines der beteiligten Unterneh- (Beifall bei der AfD) men die Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt abführt. 19010 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Ingrid Arndt-Brauer (A) Also obwohl man möchte, dass der Endkunde die Um- Markus Herbrand (FDP): (C) satzsteuer abführt, passiert das hier nicht. Wir rechnen Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- EU-weit mit 50 Milliarden Euro an Steuerausfällen per legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Viel zu oft reden anno. Die EU-Kommission hat das so geschätzt. Ich gehe wir in den letzten Monaten hier in diesem Parlament über mal davon aus, dass das richtig ist. organisierten Steuerbetrug. Für uns Freie Demokraten steht fest: Alle Arten von Steuerbetrug, ob Cum/Ex, Die systematische Schwachstelle ist, dass es zur Er- Cum/Cum, Cum-Fake oder jetzt eben die Umsatzsteuer- stattung der Vorsteuer kommt, obwohl das leistende Un- karusselle, haben eins gemeinsam: Sie gehören mit allen ternehmen vorab keine Steuer ans Finanzamt abgeführt Mitteln bekämpft, und zwar maximal schnell und auch hat. Die SPD-Fraktion bekennt sich stets zur möglichst maximal konsequent. effektiven Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug im na- tionalen und im europäischen Raum. Hier hat es schon (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Verschärfungen gegeben. Wir haben auch schon andere, der CDU/CSU und der SPD) sehr gute Gesetze gemacht, die dazu geführt haben, dass Beide Anträge bieten dafür eine sehr solide Grundlage. wir Steuern eingenommen haben, wo es vorher gar keine Dafür herzlichen Dank! einzunehmen gab. Ich erinnere mal an die sogenannte Plattformhaftung, mit der wir letztes Jahr dafür gesorgt Zunächst einmal ist es in der Tat so, dass schon alle haben, dass Plattformen nur noch mit Unternehmen Ge- erläutert haben, worum es sich bei Karussellgeschäften schäfte machen können, die eine Umsatzsteuernummer handelt. Das erspare ich uns dann ein weiteres Mal. haben. Da ist viel Umsatzsteuerbetrug bekämpft worden. (Dr. Danyal Bayaz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das war schon mal ein sehr gutes Gesetz in eine ähnliche NEN]: Einmal geht noch!) Richtung. Ich möchte aber schon darauf hinweisen, dass die Gauner (Beifall bei der SPD) meist grenzüberschreitende Geschäfte nutzen, und zwar aufgrund der mangelhaften Kontrollen und Abstimmun- Die Forderungen in den Anträgen sind teilweise sehr gen durch die Behörden in den verschiedenen Ländern. berechtigt und finden auch unsere Unterstützung. Wir Bevor man ihnen bei diesem unglaublich komplexen Sys- haben nach derzeitigem Umsatzsteuerrecht ja folgende tem auf die Schliche kommt, sind sie über alle Berge, und Situation: Der leistende Unternehmer, also der, der etwas zwar mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger. Und liefert, hat die Umsatzsteuer vom Kunden einzunehmen weil es sich um grenzüberschreitenden Betrug handelt, und an das Finanzamt abzuführen. Der Kunde wiederum muss das Problem nach unserer festen Überzeugung auch ist vorsteuerberechtigt, wenn er auch ein Unternehmen grenzüberschreitend bekämpft werden. (B) ist, und lässt sich vom Finanzamt die Steuer als Vorsteuer (D) auszahlen. Wenn die beiden aber jetzt nicht ordentlich Auch wir sehen im Übrigen, dass durch diese Machen- arbeiten und die ausgezahlte Vorsteuer nicht über den schaften in vielen Fällen die Marktwirtschaft geradezu Liefernden ans Finanzamt abgeführt wird, dann entsteht systematisch untergraben wird. Denn schon wenn sich ein Loch von 19 Prozent, und es entsteht Mehrwertsteuer- das Karussell nur einmal gedreht hat, entsteht ein be- betrug. trächtlicher Wettbewerbsvorteil gegenüber den steuerehr- lichen Unternehmern, und auch das kann niemand wol- Deswegen wird immer wieder das sogenannte Re- len. Wir stehen ja alle für fairen Wettbewerb. verse-Charge-Verfahren in die Diskussion geworfen. (Beifall bei der FDP) Hier findet eine Umkehrung der Steuerschuldnerschaft statt. Das heißt, es läuft genau umgekehrt: Nicht der Leis- Aber der geneigte Beobachter darf sich dann schon fra- tungsersteller, sondern der Leistungsempfänger schuldet gen, warum hier nicht schon längst mehr geschehen ist. die Umsatzsteuer. Wir werden dafür kämpfen, dass das Bisher wurden diese Probleme bestenfalls punktuell be- Programm wird, und ich bin optimistisch, dass wir das kämpft, beispielsweise beim Zertifikatehandel. schaffen. Wir werden ja die EU-Ratspräsidentschaft im Die Bundesregierung muss sich jetzt rechtfertigen – zweiten Halbjahr innehaben. Ich denke, das ist ein wich- aus meiner Sicht zu Recht –: Was ist eigentlich in den tiger Punkt für diese Verhandlungen, und ich bin ziemlich letzten Jahren unternommen worden, um dieses Miss- optimistisch, dass wir es schaffen. Mit Unterstützung der brauchs Herr zu werden? Jahr für Jahr fehlen – es wurde Opposition – ich bedanke mich jetzt schon dafür – wer- schon gesagt – circa 14 Milliarden Euro in den Kassen, den wir das hinkriegen. auch weil die Bundesregierung da nichts unternommen hat. Sie waren untätig; Sie haben aus meiner Sicht Ihre Vielen Dank. Hausaufgaben nicht gemacht. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Kay Gottschalk [AfD]) Vizepräsidentin Petra Pau: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden die Be- Das Wort hat der Abgeordnete Markus Herbrand für ratungen fachlich bereichern, wie Sie das von der FDP- die FDP-Fraktion. Fraktion im Finanzausschuss gewohnt sind. Aus Sicht der FDP gilt es, vor allem folgende drei Ziele zu berücksich- (Beifall bei der FDP) tigen: Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19011

Markus Herbrand (A) Erstens. Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Systemwechsel bei der Umsatzsteuererstattung, um Be- (C) Vorsteuerabzugs muss die Abführung der Umsatzsteuer trug endlich wirksam zu verhindern, meine Damen und aus diesem Geschäft sein. Dabei kann die generelle Um- Herren. kehr der Steuerschuldnerschaft, also die Vereinheitli- chung dieser beiden Vorgänge auf ein Unternehmen, eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Riesenrolle spielen. Das ist in beiden Anträgen auch rich- sowie des Abg. Fabio De Masi [DIE LINKE]) tig intoniert. Und ja, dagegen gibt es Einwände; die haben wir heute Zweitens. Wir müssen die bestehenden technischen gehört. Die EU muss sich auf einen grundsätzlichen Sys- Möglichkeiten zur effektiven Betrugsbekämpfung konse- temwechsel einigen. Herr Güntzler, vielen Dank, Sie ha- quenter nutzen; Stichwort „Datenaustausch in Echtzeit“. ben gesagt: Das war eine sehr sachliche Tonlage in den Anträgen. – Aber ein bisschen Kritik gehört eben auch Und drittens muss diese Reform genutzt werden kön- dazu; denn es gab Zeiten, in denen Deutschland der Mo- nen, um gleichzeitig Vereinfachungen bei der Anwen- tor für europäische Reformen und für eine vertiefte euro- dung von Vorschriften für alle Unternehmer erreichen päische Integration war. Ich finde, das ist uns gerade in zu können. Finanzfragen abhandengekommen. Bei der Bekämpfung Das alles geht gemeinsam, und das alles geht auch des Umsatzsteuerbetruges könnten wir ja endlich mal europäisch abgestimmt. Da freue ich mich auf die Bera- wieder die Vorreiterrolle einnehmen, meine Damen und tungen im Ausschuss. Herren. Herzlichen Dank. Statt des Einsatzes für eine reine Aktiensteuer würde ich mir zum Beispiel wünschen, dass die Bundesregie- (Beifall bei der FDP) rung beim Europäischen Rat für einen Systemwechsel bei der Umsatzsteuer wirbt – „Do the right things!“, wie ich Vizepräsidentin Petra Pau: anfangs gesagt habe. Und wenn sich der Rat nicht einigt – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kolle- Herr Güntzler, Sie haben das ja auch angesprochen –, ge Dr. Bayaz das Wort. weil das Einstimmigkeitsprinzip uns da zugegebenerma- ßen manchmal im Wege steht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Manchmal hilft es Dr. Danyal Bayaz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): uns auch!) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen dann könnten wir auch darum bitten, eine nationale Aus- (B) und Kollegen! Der US-Ökonom Peter Drucker hat mal nahmeregel zu bekommen. Die Tschechen machen das – (D) den Satz geprägt: Do the right things, not the things Sie haben das gesagt –, die Italiener machen das. Bei right. – Was meint er damit? Er hat gemeint: Es macht denen funktioniert es auch wirklich gut: Rechnungen wenig Sinn, sich mit Dingen zu beschäftigen, die zwar werden erst digital an das Finanzamt geschickt. Da wer- irgendwie effizient sind, die man aber eigentlich nicht den sie dann von Algorithmen überprüft, und danach ist braucht. Stattdessen soll man sich auf die Dinge konzent- eine Vorsteuererstattung möglich. – Ich finde, diesem rieren, die wirklich wichtig und richtig sind. Vorbild sollten wir folgen, meine Damen und Herren. Was heißt das bezogen auf den Umsatzsteuerbetrug? Das heißt, wir könnten uns viele der Einzelmaßnahmen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über die wir regelmäßig im Ausschuss sprechen, sparen, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wenn wir uns für die große, für die wirklich effektive Beim organisierten Umsatzsteuerbetrug geht es ja Lösung entscheiden würden. Das heißt bei der Umsatz- nicht nur um die auch heute wieder häufig zitierte zwei- steuer eben, dass wir sie von den Unternehmen zahlen stellige Milliardensumme, die die öffentlichen Haushalte lassen, die sie erstattet bekommen. So würden wir auch als Schaden tragen müssen. Es geht auch um einen verhindern, dass sich die organisierte Kriminalität auf Schaden für Unternehmen, die unter diesen Dumping- Kosten der Allgemeinheit bereichert, meine Damen und preisen leiden. Das zerstört Märkte, und das zerstört am Herren. Ende eben auch Arbeitsplätze. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lassen Sie uns da nicht länger tatenlos zusehen. Las- sowie des Abg. Fabio De Masi [DIE LINKE]) sen Sie uns das Richtige machen. Do the right things! Das Das haben wir heute ein paarmal gehört; neudeutsch heißt in dem Fall: Stimmen Sie unserem Antrag zu! nennt man das Reverse-Charge-Verfahren. Das nutzen wir mittlerweile in einzelnen Branchen; aber meistens Herzlichen Dank. ist es so, dass wir es zu spät nutzen und eben nicht überall. Deswegen ist der Schaden dann schon entstanden. Dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hase-und-Igel-Spiel zwischen Staat und Betrügern ver- lieren wir immer wieder. Wir in der Bundesrepublik be- Vizepräsidentin Petra Pau: schließen ein Reverse-Charge-Verfahren für eine einzel- Das Wort hat der Kollege Sebastian Brehm für die ne Ware oder Warengruppe, und die Betrüger weichen CDU/CSU-Fraktion. auf eine andere aus, oder sie weichen in ein anderes europäisches Land aus. Wir brauchen diesen generellen (Beifall bei der CDU/CSU) 19012 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

(A) Sebastian Brehm (CDU/CSU): Die deutsche Firma ist aber die Betrugsfirma und führt (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und überhaupt keine Steuer ab, sondern verkauft die Ware Kollegen! Steuerbetrug ist kein Kavaliersdelikt, und ich gleich wieder weiter. Derjenige, der in Deutschland diese denke, wir sind uns einig – das hat die Diskussion auch Ware kauft – das kann ein ganz unbescholtener Unter- gezeigt –, dass wir mit allen Mitteln des Rechts diesen nehmer sein –, macht den Vorsteuerabzug geltend – das Steuerbetrug bekämpfen müssen. Dabei kommt natürlich heißt, er lässt sich die 19 Prozent Mehrwertsteuer erstat- dem Umsatzsteuerbetrug eine erhebliche Bedeutung zu; ten – und verkauft sie dann weiter, zum Beispiel wieder in die Zahlen sind schon genannt worden. Es gibt immer die Niederlande. Das heißt, wenn bei der Firma in wieder neue Modelle des Steuerbetrugs, die es aufzude- Deutschland, die vielleicht nach drei Monaten in der In- cken gilt. Wir konnten dies in der öffentlichen Anhörung solvenz ist oder ihren Sitz ins Ausland verlegt hat, Betrug am 15. Januar dieses Jahres auch mit Sachverständigen begangen wird, muss man erst mal herausfinden, dass es aus der Wissenschaft, der Steuerfahndung und aus Ver- überhaupt ein Missing Trader ist. Das ist die Herausfor- bänden diskutieren. derung bei diesem Thema.

Ich glaube, so einfach, wie Sie sich das vorstellen, Wir haben einige Dinge auf den Weg gebracht. Es sind nämlich dass man einfach das Reverse-Charge-Verfah- Datenbanken beim BZSt eingerichtet worden, wo alle ren, also die Umkehr der Steuerschuldnerschaft, einführt, Umsatzsteuerbetrugsfälle kenntlich gemacht werden, so- geht es leider nicht. Es gibt den Artikel 199c der Mehr- dass man schnell reagieren kann. Dort gibt es auch eine wertsteuersystemrichtlinie. Da die Umsatzsteuer mate- Zentralstelle für Umsatzsteuersonderprüfungen. Wir riellrechtlich eine harmonisierte Steuer in der Europä- müssen die Fahnder und die Finanzämter in die Lage ischen Union ist, können wir keinen Alleingang versetzen, diese Karussellgeschäfte, diese Reihenge- machen. In Artikel 199c sind die Bedingungen der Um- schäfte schnell zu erkennen. Das ist die Herausforderung kehr der Steuerschuldnerschaft geregelt. Wenn Sie schon in den nächsten Monaten für uns als Deutscher Bundes- den Kommentar aufgeschlagen haben, Herr Gottschalk, tag: dass wir sie in ihren Möglichkeiten der Fahndung könnten Sie auch mal die wichtigen Dokumente lesen. stärken. (Beifall des Abg. [SPD]) Ich glaube, langfristig – da gebe ich Ihnen recht – muss Da steht nämlich drin, dass diese Einführung nicht mög- man auf das Reverse-Charge-Verfahren europaweit um- lich ist, sondern an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, switchen, aber dazu bedarf es europaweit dieser Möglich- die Deutschland leider nicht erfüllt. keiten und Voraussetzungen. Deswegen sollten wir die (Jörn König [AfD]: Die Regelung kann man Ratspräsidentschaft nutzen, genau dies einzuführen und (B) nicht ändern?) damit den Umsatzsteuerbetrug aktiv zu bekämpfen. (D)

Insofern muss es eine europäische Regelung geben. Übrigens haben wir gemeinsam schon im letzten Jahr und in vielen Jahressteuergesetzen Umsatzsteuerbetrug Die Bundesregierung hat übrigens schon im Jahr 2006 bekämpft. Denken wir zum Beispiel an die Umsatzsteuer- als Vorreiter versucht, ein generelles Reverse-Charge- meldungen auf elektronischen Plattformen, die wir im Verfahren in Europa einzuführen. Jahressteuergesetz 2018 geregelt haben. Herr Gottschalk, (Markus Herbrand [FDP]: Das ist sehr erfolg- wenn Sie so einfache Lösungen wollen: Dieser einfachen reich!) Lösung, die wir vorgeschlagen haben, haben Sie nicht einmal zugestimmt. Wenn Sie Umsatzsteuerbetrug über- – Das war damals nicht erfolgreich, weil nämlich die haupt aktiv bekämpfen wollen, dann müssen Sie auch europäischen Partner noch verschiedene Probleme gese- handeln, und dann müssen Sie auch zustimmen. Nur re- hen haben, zum Beispiel die Problematik der Abgrenzung den und nicht handeln – gut, das ist vielleicht Ihr Prinzip – zwischen Geschäftskunden und Privatkunden. Was pas- reicht nicht. Deswegen sollten Sie vielleicht im Kom- siert, wenn ein Privatkunde in einen Laden geht und sagt: mentar noch ein bisschen nachlesen. „Ich bin Geschäftskunde“? Dann müsste er keine Steuer zahlen. Das ist derzeit noch gar nicht machbar. Deswegen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) setzen wir auf digitale Lösungen, zum Beispiel auf eine zentrale Meldung aller Rechnungen, sodass man wirklich Wir kümmern uns darum. Wir werden gemeinsam in prüfen kann: Ist er Unternehmer, ist er nicht Unterneh- diesem Hause – ich glaube, übrigens mit allen Kräften, mer? Fällt er unter das Reverse-Charge-Verfahren oder die wir haben – die notwendigen Maßnahmen ergreifen, nicht? um kurz- und mittelfristig und dann langfristig mit dem Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wichtigste bei Reverse-Charge-Verfahren, der Umkehr der Steuer- diesen Umsatzsteuerkarussellgeschäften ist, diese aufzu- schuldnerschaft, Steuerbetrügereien endlich den Garaus decken. Das ist gar nicht so einfach. Der Kollege zu machen. Dafür setzen wir uns gemeinsam ein, und Güntzler hat es ja beschrieben; ich will es wiederholen. dafür lohnt es sich auch sich einzusetzen. Wenn zum Beispiel eine Firma aus den Niederlanden – er hat es erwähnt, dann erwähne ich das auch – eine Ware Herzlichen Dank. nach Deutschland liefert, ist es eine innergemeinschaft- liche Lieferung. Insofern muss die niederländische Firma (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- keine Mehrwertsteuer abführen. ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19013

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: doch gibt es immer noch Betrug, und wir müssen noch (C) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Lothar einen Fensterladen hinzufügen. Binding für die SPD-Fraktion. Das BZSt übrigens leitet den Eurofisc-Arbeitsbereich (Beifall bei der SPD) „Missing Trader Intra-Community Fraud“; also auch da wird der Karussellbetrug in den Blick genommen. Es passiert einiges. Trotzdem gibt es noch diesen Betrug, Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): und wir müssen mehr machen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Als ich in den Finanz- Vizepräsidentin Petra Pau: ausschuss kam, dachte ich eigentlich, wir machen im Kollege Binding, ich habe die Uhr angehalten, um Sie Schwerpunkt Steuergesetzgebung und Regulierung am zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung Finanzmarkt und kümmern uns um die Einnahmen des des Abgeordneten Gottschalk zulassen. Staates. Man muss sagen: Mit jedem trickreichen Betrug an den Ehrlichen, an der Gesellschaft, werden unsere Systeme komplexer, und wir kümmern uns viel mehr Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): darum, Betrug abzuwehren, als Steuern einzunehmen. Nein, ich denke, das werde ich nicht tun; denn das ist nicht zielführend. Das ist wie bei einem Wohnungseinbruch. Wenn in die eigene Wohnung eingebrochen wurde, dann erhöht man Ich wollte gerade die Anträge noch mal loben; sie die Sicherheitsmaßnahmen: ein besseres Schloss, elektro- wurden schon mehrfach gelobt. nische Sicherheitstechnik. Dann kommt es zu einem wei- teren Einbruch. Was macht man dann? Fensterläden, Vizepräsidentin Petra Pau: mehr elektronische Sicherung, Kameras – es wird kom- Ja, sechs Sekunden. plexer und komplexer. Darunter leiden wir sehr. Aber die Gleichen, die hier jetzt sagen: „Es muss alles ganz ein- fach sein“, sagen auf der anderen Seite: Man soll den Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Betrug verhindern. – Jede Verhinderung von Betrug hat Sie haben nur einen ganz kleinen Nachteil. Wenn wir aber bürokratischen Aufwand zur Folge, erfordert Maß- sie jetzt beschließen würden, müssten wir eine Änderung nahmen, so ähnlich wie ich, wenn ich meine Wohnung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie voraussetzen; das schützen will, auch komplizierte technische Vorrichtun- wurde schon mehrfach erklärt. Deshalb können wir heute gen brauche. nicht zustimmen. Trotzdem: Die Ideen sind gut, und da (B) können wir an einem Strang ziehen. Eine schöne Ge- (D) Wir haben schon viel über den Karussellbetrug gehört; meinsamkeit im Parlament ist ja auch etwas Nettes. das sind kriminelle Vereinigungen. Beim Kassenbetrug sind es viele kleine Betrüger; aber Hunderttausende von Vielen Dank. kleinen Betrügern verursachen jährlich einen riesengro- ßen Schaden. Bei den Schwarzarbeitgebern sind es ganz (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten viele; sie verursachen jährlich einen großen Schaden. Bei der CDU/CSU) Cum/Ex sind es gar nicht viele, nur einige Hundert. Sie verursachen einen riesigen Schaden – ganz wenige, mit Vizepräsidentin Petra Pau: hohen Beträgen. Es gibt auch Gewinnverlagerungen bei Ich schließe die Aussprache. Konzernen; das sind durchschnittlich viele. Sie verursa- chen einen riesengroßen Schaden. Insgesamt geht es um Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Hunderte von Milliarden Euro. den Drucksachen 19/17135 und 19/17748 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Das ZDF-Magazin „Frontal 21“ hat am 7. Mai 2019 Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sehr gut beschrieben, wie die Mehrwertsteuerbetrugssys- verfahren wir wie vorgeschlagen. tematik funktioniert, und unsere Aufgabe ist jetzt, Ge- setze zu machen, die die Ehrlichen schonen, aber die Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf: Gauner erwischen. Es ist gar nicht so einfach, das halb- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten wegs ohne Kollateralschäden zu organisieren. Jetzt muss Beate Müller-Gemmeke, Anja Hajduk, man überlegen: Ist eigentlich schon was passiert? – Es Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter gibt eine Taskforce, die gemeinsam mit der europäischen und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Polizeibehörde Europol diese Betrügereien beobachtet. NEN Es gibt eine Koordinierungsstelle für Umsatzsteuerbet- rugsbekämpfung beim Bundeszentralamt für Steuern. Recht auf Homeoffice einführen – Mobiles Sie machen schon sehr viel. Es gibt eine zentrale Daten- Arbeiten erleichtern bank für Betrugsfälle. Es gibt eine gesetzliche Regelung zur unangekündigten Umsatzsteuernachschau. Es gibt Drucksache 19/13077 das Reverse-Charge-Verfahren in Deutschland für Mobil- Überweisungsvorschlag: telefone, Tablets, Laptops, Spielkonsolen, Gas und Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Strom, Getreide und Rohstoffe, für Metalle, für CO2- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Zertifikate. Man sieht: Es ist schon viel passiert. Und Ausschuss Digitale Agenda 19014 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Deshalb ist es an der Zeit, dass die Beschäftigten, die (C) Enrico Komning, Tino Chrupalla, Hansjörg mobil arbeiten können und wollen, mit einem Rechtsan- Müller, weiterer Abgeordneter und der Frak- spruch gestärkt werden. Aber natürlich braucht es auch tion der AfD klare Regeln: Homeoffice muss immer freiwillig sein, verbunden mit einem Rückkehrrecht, wenn die Beschäf- Nutzung des Potentials der Digitalisierung tigten merken, dass für sie die mobile Arbeit nicht das zur Schaffung von dezentralen Arbeits- Richtige ist. Homeoffice soll es auch immer nur alter- plätzen und zur wirtschaftlichen Stärkung nierend geben, als Ergänzung zum festen Arbeitsplatz; der Kommunen und ländlichen Räume denn die Beschäftigten dürfen nicht unsichtbar werden, Drucksache 19/17527 wenn es um Weiterbildung oder Aufstiegsmöglichkeiten geht. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Natürlich gilt auch im Homeoffice das Arbeitszeitge- Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft setz; denn auch jede mobile Arbeitsstunde muss entlohnt Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur werden. Homeoffice darf auch nicht grenzenlos werden. Ausschuss Digitale Agenda Und deshalb muss auch mobile Arbeitszeit dokumentiert Federführung strittig werden. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- schlossen. – Sobald sich alle Kolleginnen und Kollegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN entschieden haben, ob sie an dieser Debatte teilnehmen, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) und Platz genommen haben, können wir sie auch führen. Gleichzeitig wollen wir aber auch die Hürden für die Unternehmen abbauen. Notwendig sind klare und vor Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin allem praktikable Regelungen, beispielsweise beim Ar- Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die beitsschutz, bei der gesetzlichen Unfallversicherung, bei Grünen. Haftungsfragen und Datenschutz. Alle Aspekte im Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sammenhang mit Homeoffice müssen klar geregelt wer- den. So erhalten die Beschäftigten Schutz und die Unter- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nehmen Sicherheit im Umgang mit Homeoffice und NEN): mobilem Arbeiten. Beides ist also notwendig, dann wird mobiles Arbeiten auch attraktiv, und zwar vor allem für Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- die Unternehmen. legen! Viele Beschäftigte wollen ihre Arbeit flexibler ge- (B) stalten. Sie wollen im Homeoffice und mobil arbeiten. In (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) der Realität gehen aber Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander: Mobiles Arbeiten ist immer noch ein Privi- Jetzt noch ganz kurz ein paar Worte zum Antrag der leg für Wenige, und genau das wollen wir mit unserem AfD. Wir reden heute über mobiles Arbeiten. Die AfD Antrag verändern. aber arbeitet sich am Telearbeitsplatz und an der Arbeits- stättenverordnung ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Viele Arbeitgeber zögern, obwohl auch sie davon pro- GRÜNEN]: Wahnsinn! Wie im letzten Jahr- fitieren können. Wenn sie mobiles Arbeiten ermöglichen, hundert! Telearbeit!) dann werden sie doch auch als Unternehmen attraktiv und Sie fragt auch nach Erfahrungen der Bundesverwaltung. können leichter Fachkräfte gewinnen und auch besser Lesen Sie doch einfach mal den Bericht zum Modellver- halten. Das Potenzial für mobiles Arbeiten ist groß. Es such Telearbeit, der von 1996 bis 1998 im Wirtschafts- muss endlich genutzt werden, und zwar nicht nur in Zei- ministerium durchgeführt wurde! Die AfD lebt in der ten von Corona. Vergangenheit. Wir wollen die Zukunft gestalten, damit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von der Digitalisierung eben nicht nur die Unternehmen, sondern vor allem auch die Beschäftigten profitieren; Homeoffice geht natürlich nicht bei allen Tätigkeiten, denn Arbeitszeit ist Lebenszeit. und auch nicht alle Beschäftigten wollen mobil arbeiten. Aber mindestens 30 Prozent der Beschäftigten wollen Vielen Dank. mehr Zeitsouveränität. Für sie bedeutet mobiles Arbeiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Es geht darum, dass Arbeit besser in ihr Leben passt. Dabei geht es um Familie, um Kinder oder Pflege, aber auch um Ehrenamt, Vizepräsidentin Petra Pau: politische Arbeit, Weiterbildung oder einfach nur um Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Abgeordnete Freizeit. Wer im Homeoffice arbeitet, hat auch keine lan- Jana Schimke das Wort. gen Fahrzeiten zum betrieblichen Arbeitsplatz. Das ist ökologisch sinnvoll. Außerdem haben die Beschäftigten (Beifall bei der CDU/CSU) weniger Stress und dafür mehr Zeit für Erholung. Alles zusammen erhöht die Lebensqualität und Zufriedenheit Jana Schimke (CDU/CSU): der Beschäftigten. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha- ben es heute wieder mit zwei interessanten Anträgen – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von der Grünenfraktion und von der AfD-Fraktion – zu Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19015

Jana Schimke (A) tun. Man macht sich weitreichende Gedanken über die an jedem Tag, auch durch Fortbildungen und die Vorbe- (C) Tiefen der betrieblichen Personalpolitik, über die Tiefen reitung auf digitale Veränderungsprozesse. unternehmerischen Handelns in Deutschland. Die Grünen beziehen sich auf einen Vergleich mit den Wie sieht es in Deutschland aus? Wir sind im Grunde Niederlanden. In den Niederlanden haben wir weitaus genommen sehr gut aufgestellt. Wir haben eine Vielzahl weniger Industrie als in Deutschland. an Gesetzen, die das Arbeiten regeln, so sehr regeln, dass man manchmal schon gar nicht mehr richtig arbeiten (Otto Fricke [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! kann, Kommen Sie aus Ihrer rein regionalen Sicht (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Mann, Mann, heraus!) Mann!) Da ist es natürlich klar, dass sie eine deutlich höhere dass man eher gucken muss, wo man eigentlich entlasten, Homeoffice-Rate als wir in Deutschland haben. entschlacken und entbürokratisieren kann. Worauf kommt es letztendlich an? Homeoffice ist ein Wir sind das Land in Europa, das mit anderen Ländern Instrument der betrieblichen Personalpolitik, bei dem es gemeinsam an der Spitze steht, wenn es um die Verein- im Wesentlichen darum geht, Interessen zwischen Arbeit- barkeit von Beruf und Familie und die Vielzahl von Ar- geber und Arbeitnehmer auszubalancieren. Machen wir beitszeitformen oder Arbeitszeitmodellen geht. Wir sind uns nichts vor: Natürlich ist das ein Konfliktfeld; das ist auch Vorreiter beim Thema „Unternehmenskultur und doch keine Frage. Diejenigen, die im Homeoffice sind, Führungskultur“. finden das auf der einen Seite gut, weil sie eine bessere (Falko Mohrs [SPD]: Dann stehen Sie dem Vereinbarkeit von Beruf und Familie und auch mehr Frei- nicht im Weg!) heit in ihrer persönlichen Arbeitsgestaltung haben. Meine Damen und Herren, eine Vielzahl von Unterneh- Aber auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Ängs- men in Deutschland, große Vereine und Verbände küm- te und Sorgen. Die Menschen sagen: Mensch, ich bin mern sich den ganzen Tag um nichts anderes. Wie viel in nicht bei meinem Team; Deutschland schon geschehen ist und wie unnötig solche Anträge wie die, die Sie heute einbringen, sind, können (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Sie in einer Vielzahl an Studien und in Berichten unserer GRÜNEN]: Alternierend! Antrag lesen!) Ministerien nachlesen. ich bin nicht in der Kaffeepause dabei; ich kann mit den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Kollegen nicht reden. – Auch das gehört zur Wahrheit; so (D) Ich sage: Sie lösen mit Ihren Anträgen Probleme, die es ist die Realität. Deswegen ist es gut, dass wir diese nicht gibt. Die Bereiche der Telearbeit, des mobilen Ar- Prozesse weiterhin in der Entscheidungsfreiheit der Un- beitens und der Bereich Homeoffice sind in der Daten- ternehmen belassen und kein Recht auf Homeoffice schutz-Grundverordnung, im Datenschutzgesetz, bei den schaffen. Letztendlich wollen das zwei Drittel der Be- gesetzlichen Regelungen zur Arbeitszeit und natürlich schäftigen, die kein Homeoffice nutzen, auch nicht an- auch zum Arbeitsschutz weitgehend geregelt. ders. Das ist gelebte Realität und der Wunsch der Be- schäftigten in Deutschland. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Absetzbewe- gungen von der Großen Koalition, Frau Ich möchte an unsere Kolleginnen und Kollegen appel- Schimke?) lieren: Meine Damen und Herren, vieles, was wir hier Und was machen Sie in Ihren Entwürfen? Sie schaffen machen, ist wünschenswert; aber nicht alles ist regulier- nichts anderes als Rechtsunsicherheit. Sie greifen wohl- bar. Es ist auch nicht sinnvoll, alles zu regulieren. Wir gemerkt auch in das sogenannte Weisungsrecht des Ar- können die Sorgen und Nöte, die das Leben, auch das beitgebers ein. Das ist in der Gewerbeordnung geregelt Arbeitsleben, mit sich bringt, manchmal nicht bis in das und verfassungsrechtlich abgesichert. Was soll das? letzte Detail regulieren bzw. lösen. Es gibt gewisse Din- ge, bei denen müssen wir versuchen, durch positive An- Meine Damen und Herren, last but not least: Offen- reize Einfluss zu nehmen. Ich erinnere beispielsweise an sichtlich wird auch Ihr sehr problematisches Verständnis das Elterngeld, ein Instrument, das man freiwillig in An- gegenüber unserer sozialen Marktwirtschaft. Die Frage spruch nehmen kann. Es hat dazu geführt, dass heute weit ist wirklich: Wie wichtig ist Ihnen der Wettbewerb in mehr als 30 Prozent der Männer in Deutschland Eltern- der deutschen Wirtschaft? Wie wichtig ist Ihnen die un- zeit nehmen und Elterngeld beziehen. ternehmerische Freiheit, die wir brauchen? Wie wichtig ist Ihnen schließlich der unternehmerische Erfolg in un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) serem Land? Das ist fortschrittliche Politik. Man muss nicht immer Die AfD – das ist besonders interessant – verfolgt alles vorschreiben oder verbieten. natürlich auch in diesem Antrag wieder das Ziel, Angst zu machen und Panik zu schüren, indem sie sagt: Oh, jetzt kommt die Digitalisierung, und ab morgen verlieren wir Vizepräsidentin Petra Pau: alle unsere Arbeitsplätze. – So ein Schwachsinn! Digita- Kollegin Schimke, ich muss Sie jetzt darauf aufmerk- lisierung findet in Deutschland seit sehr vielen Jahrzehn- sam machen, dass Sie demnächst das Kontingent Ihrer ten statt. Sie ist Gegenstand betrieblicher Personalpolitik Kollegen angreifen. 19016 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

(A) Jana Schimke (CDU/CSU): Wohnungsknappheit in großen Städten ist das ein echter (C) Meine Damen und Herren, unser Ansatz ist es, die Kostenfaktor. Wirtschaft zu unterstützen und nicht zu regulieren. Wir Die Mobilität der Arbeitnehmer wird virtuell und ver- brauchen weniger Bürokratie. Wir müssen etwas bei den lagert sich von der Straße ins Internet. Wir hätten eine Unternehmensteuern tun. Und wir brauchen vor allen Entlastung der Infrastruktur und weniger Abgase in der Dingen mehr Vertrauen in die deutsche Wirtschaft und Luft. Das, meine Damen und Herren von den Grünen, ist mehr Flexibilität bei allen arbeitsmarktpolitischen Instru- übrigens echte Umweltschutzpolitik. menten. (Beifall bei der AfD) Vielen Dank. Gerade in den strukturschwachen ländlichen Räumen (Beifall bei der CDU/CSU – Beate Müller- können den Mitarbeitern durch Telearbeit lange An- Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fahrtszeiten und damit der Zeitverlust durch die morgen- Genau! Für die Beschäftigten mehr Flexibili- dlichen und abendlichen Verkehrsstaus erspart werden. tät!) Ein weiterer Vorteil ist, dass sich Arbeitgebern durch mehr Telearbeit ganz neue Arbeitsmarktpotenziale er- Vizepräsidentin Petra Pau: schließen. Arbeitnehmer müssen nicht mehr notwendi- Das Wort hat der Abgeordnete Enrico Komning für die gerweise am Ort sein. Hier besteht eine Chance für länd- AfD-Fraktion. liche Räume, in denen es viel zu wenige Betriebe gibt. (Beifall bei der AfD) Junge Menschen ziehen gerade deshalb aus Dörfern und Kleinstädten massenhaft weg. Enrico Komning (AfD): Telearbeit kann dazu beitragen – dazu steht im Übrigen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- im Antrag der Grünen gar nichts –, Familie und Beruf ren Kollegen! Wir reden heute über ein Thema, dessen miteinander zu vereinbaren; denn, meine Damen und Relevanz sich vielleicht nicht auf den ersten Blick jedem Herren, wir brauchen in Deutschland dringend mehr Kin- erschließt. Bei meinen Vorrednern haben Sie es gehört. der. Ein Hindernis zur Entscheidung für eine Familie ist Frau Müller-Gemmeke, Sie werfen uns vor, die Ewig- häufig, dass potenzielle Eltern schlicht nicht wissen, wie gestrigen zu sein, wollen jedoch, dass wir in Berichte sie ein Familienleben neben ihrem Job schaffen sollen. oder Gutachten der Regierung von 1996 bis 1998 Telearbeit muss also attraktiv gemacht werden, darf schauen. Das passt irgendwie nicht zusammen. aber kein Bürokratiemonster sein. Deshalb lehnen wir (B) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE einen arbeitnehmerseitigen Anspruch auf Homeoffice, (D) GRÜNEN]: Das passt ganz gut zusammen! wie er im Grünenantrag gefordert wird, ab. Es geht um Sie haben es nicht verstanden!) mehr Arbeitsplätze, vor allem in Regionen, in denen es zu wenige gibt. Die Sozialverträglichkeit bleibt gewahrt; Frau Schimke, Sie haben von der Digitalisierung der denn die bestehenden, die Arbeitsnehmerrechte schützen- Wirtschaft und der Gesellschaft in Deutschland gespro- den Gesetze sind grundsätzlich – im Übrigen auch nach chen. Ich weiß ich nicht, wo Sie leben. Gucken Sie sich Ansicht des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen mal an, wo wir in den Rankings zur Digitalisierung der- Bundestages – ausreichend. zeit stehen! Es geht bei der Telearbeit um eine für Arbeitgeber wie (Beifall bei der AfD) Arbeitnehmer gleichermaßen attraktive Form der Ausge- Dennoch, meine Damen und Herren Kollegen, ist das staltung von Arbeitsverhältnissen. Diesem Ziel läuft der gerade heute hier ein Thema, das in der jetzigen Corona- Grünenantrag in großen Teilen zuwider, sodass wir unse- bedingt aufgeregten Zeit zur Lösung vieler Probleme bei- ren Antrag als bessere und ausgewogenere Alternative tragen kann und wie vieles andere auch von der Bundes- zur Abstimmung empfehlen. regierung verschlafen zu werden droht. Vielen Dank. Telearbeit oder auch mobiles Arbeiten – das ist eben (Beifall bei der AfD) nicht nur Homeoffice – können dazu beitragen, viele Missstände in unserem Land wenn nicht zu beseitigen, dann doch wenigstens abzumildern. Nach Auskunft des Vizepräsidentin Petra Pau: Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages Für die SPD-Fraktion hat nun Martin Rosemann das wäre bei 40 Prozent der Arbeitsstellen in Deutschland Wort. keine dauerhafte Anwesenheit erforderlich. Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht von ei- (Beifall bei der SPD) nem Potenzial von 40 Prozent Telearbeitsplätzen für ab- Dr. Martin Rosemann (SPD): hängig Beschäftigte aus. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Realität in Deutschland ist, dass gerade einmal ein Kollegen! Für mich sind Homeoffice und mobiles Arbei- Achtel aller Arbeitnehmer dauerhaft oder gelegentlich ten eine Chance; eine Chance für mehr Flexibilität und die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens nutzen. Dabei mehr Selbstbestimmung für die Beschäftigten und damit hat Telearbeit enorm viele Vorteile. Es werden beispiels- ein wichtiger Beitrag, um Familie und Beruf, um Beruf weise weniger Büroflächen gebraucht. Angesicht der und Privatleben besser zu vereinbaren und für Arbeit zu Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19017

Dr. Martin Rosemann (A) sorgen, die zum Leben passt. Natürlich bedeutet das dann dass in der Krise manchmal ein Umdenken stattfindet. (C) auch weniger Pendeln. Ich hoffe und wünsche mir, dass das dazu beiträgt, dass es ein Stück weit zu einem Kulturwandel in den Unter- Studien zeigen im Übrigen, dass Leute, die die Mög- nehmen in Deutschland kommt und uns voranbringt, um lichkeit haben, im Homeoffice zu arbeiten, zufriedener dann für alle eine Arbeit zu ermöglichen, die zum Leben und sogar leistungsfähiger sind. Studien zeigen aber passt. auch, dass das nicht ohne Gefahren ist, dass es zu mehr Arbeit und höherer Belastung kommen kann, weil die Herzlichen Dank. Arbeit schon zu Hause ist und manche nicht mehr zwi- schen Privatleben und Arbeit trennen können, nicht ab- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katharina schalten können. Deswegen ist für mich das Fazit: Home- Landgraf [CDU/CSU]) office und mobiles Arbeiten sind dann gut, wenn sie vernünftig organisiert sind und wenn die Rahmenbedin- Vizepräsidentin Petra Pau: gungen stimmen. Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Johannes (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Vogel das Wort. bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Worauf kommt es dabei an? Es kommt darauf an, dass wir Entgrenzung von Arbeit vermeiden, dass der Arbeits- Johannes Vogel (Olpe) (FDP): und Gesundheitsschutz gewährt wird, und vor allem Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! braucht es klare Regeln, insbesondere bei der Arbeitszeit. Mobiles Arbeiten, Homeoffice, Remote Life – das ist Deshalb wünsche ich mir noch mehr Tarifverträge und nicht erst seit der Diskussion um das Coronavirus Reali- Betriebsvereinbarungen in Bezug auf mobiles Arbeiten, tät, sondern heute schon in vollem Gange, und zwar nicht die das passgenau für ganze Branchen und einzelne Un- nur im Silicon Valley, sondern auch in Castrop-Rauxel. ternehmen regeln. Aber die aktuelle Lage führt uns vor Augen – viele Unter- nehmen gehen dazu über, verantwortungsbewusst zu sa- Aber wir stellen leider fest: So weit sind wir noch gen: „Geht ins Homeoffice, wenn es irgendwie geht.“ –, nicht. In Deutschland sieht es in der Praxis anders aus. wie veraltet der Rechtsrahmen in dieser Hinsicht ist. Es In Deutschland nutzen nur 11 Prozent der Beschäftigten sich so leicht zu machen wie die Koalition – die CDU/ mobiles Arbeiten. Spitzenreiter in der Europäischen CSU sagt: „Es gibt keinen Änderungsbedarf“, die SPD Union sind die Niederlande mit 37,5 Prozent. In den sagt: „Ja, wir regeln das alles“, hat seit drei Jahren dazu skandinavischen Ländern nutzt etwa jeder dritte Beschäf- aber keine wirkliche Initiative zustande gebracht –, ist zu tigte mobiles Arbeiten oder Homeoffice. Befragungen für (B) wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen. (D) Deutschland zeigen aber, dass zwischen 30 und 40 Pro- zent der Beschäftigten gerne mobil arbeiten würden. Das (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ heißt, wir haben eine große Kluft zwischen Wunsch und DIE GRÜNEN) Wirklichkeit. Leider scheitern Homeoffice und mobiles Arbeiten zu häufig am Widerstand der Arbeitgeber. Mei- So werden wir die im internationalen Vergleich gerin- ne Damen und Herren, das wollen wir ändern. ge Nutzung von Homeoffice auch nicht erhöhen können. Reden wir einmal ganz konkret darüber, woran es zum (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Beate Beispiel scheitert. Worüber müssen sich Unternehmen in Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland heute zuallererst Gedanken machen, wenn NEN]: Dann stimmt die SPD unserem Antrag sie ihre Beschäftigten wirklich rechtssicher ins Home- zu, wie ich höre!) office schicken wollen? Im Gesetz steht immer noch „Te- learbeit“, und mobiles Arbeiten ist im Gesetz nicht klar Deshalb wollen wir mobiles Arbeiten gesetzlich re- definiert. Nur ein Beispiel: Aktuell ist in diesen Tagen geln. Wir haben im Koalitionsvertrag verabredet, einen kollektives mobiles Arbeiten im Café eben nicht ange- Rechtsrahmen zu schaffen, einen Rechtsrahmen, der da- zeigt, sondern es geht um Arbeiten zu Hause. Wenn Un- für sorgt, dass sich mehr Arbeitgeber für Homeoffice ternehmen vor dieser Situation stehen, stellen sich fol- öffnen, dass es klare Regeln gibt und dass es auch mehr gende Fragen: Was müssen sie rechtlich sicherstellen? Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern gibt. Den richtigen Bürostuhl, den richtigen Bildschirm, den Wir werden dieses Jahr ein Gesetz zum mobilen Arbei- richtigen Lichteinfall der Schreibtischlampe? – Liebe ten auf den Weg bringen; denn uns geht es darum, dass Kolleginnen und Kollegen, so wird das nichts. Das zeigt, auch die Beschäftigten die Chancen der Digitalisierung dass wir in diesem Land eine Modernisierung des Rechts- nutzen können. Unser Ziel als SPD ist es, dass mehr Be- rahmens für digitales Arbeiten dringend brauchen. schäftigte, die wollen, auch mobiles Arbeiten und Home- office nutzen können. (Beifall bei der FDP) Ein zweites Beispiel, liebe Kolleginnen und Kollegen (Beifall bei der SPD) von der SPD – gehen wir einmal weg vom Homeoffice –: Meine Damen und Herren, in der aktuellen Situation Betriebsratsarbeit. Wissen Sie eigentlich, dass es heute aufgrund des Coronavirus erleben wir, dass mehr und rechtlich völlig unklar ist, ob Betriebsräte in Deutschland mehr Arbeitgeber ihre Beschäftigten aktiv ins Homeof- überhaupt eine digitale Sitzung abhalten können? Wie fice schicken, um sie zu schützen und eine weitere Ver- passt das in die heutige Zeit, wo wir vielleicht Kurzarbeit breitung des Virus zu verlangsamen. Man sieht daran, stärker nutzen müssen? Liebe Kolleginnen und Kollegen 19018 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Johannes Vogel (Olpe) (A) von der Koalition, die Modernisierung des Rechtsrah- (Beifall bei der LINKEN) (C) mens für digitales Arbeiten gehört endlich auf die Tages- ordnung, und Ihre Untätigkeit bei diesem Thema ist nicht Jessica Tatti (DIE LINKE): länger hinzunehmen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der FDP) Kollegen! Für viele ist die Vorstellung reizvoll, von zu Hause aus zu arbeiten, sich lange Wege zur Arbeit zu Wir fordern ganz konkret: Machen wir es so wie unsere ersparen, bei freier Zeiteinteilung in den eigenen vier niederländischen Nachbarn. Die haben unter dem klugen Wänden konzentriert zu arbeiten ohne die Hektik des liberalen Premier Mark Rutte in einer Reform drei Dinge Büroalltags. Die Realität sieht aber für viele anders aus. zusammengeführt: Beschäftigte im Homeoffice klagen deutlich häufiger über eine hohe Stressbelastung im Job, können weniger (Falko Mohrs [SPD]: Dann nehmen Sie sich gut von der Arbeit abschalten, machen weniger Pausen einmal ein Beispiel an den klugen Liberalen!) und arbeiten häufiger auch dann, wenn sie krank sind. Sie erstens ein Recht auf Homeoffice, zweitens eine Moder- machen zudem deutlich mehr Überstunden als Beschäf- nisierung des Arbeitsschutzes – passend für die heutige tigte, die nur im Betrieb arbeiten. Da Homeoffice oft mit Zeit, wenn es um Homeoffice und Arbeiten vor Ort geht – Vertrauensarbeit verbunden ist, werden viele Überstun- und drittens eine Modernisierung des Arbeitszeitgeset- den nicht erfasst und nicht vergütet. Das rechnet sich zes. Alle drei Themen gehören zusammen, liebe Kolle- für die Arbeitgeber; denn sie sparen Jahr für Jahr Milliar- ginnen und Kollegen. denbeträge durch unbezahlte Überstunden. Damit muss endlich Schluss sein. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) So, wie die Kollegen in den Niederlanden einen Kul- turwandel hinbekommen haben, ohne dass irgendetwas Nur knapp ein Drittel der Beschäftigten wünscht sich schlechter geworden ist, so können wir das in Deutsch- laut einer Studie des BMAS, gelegentlich von zu Hause land auch schaffen. zu arbeiten. Zwei Drittel wollen das nicht. Warum? Sie wollen eine klare Trennung von Arbeit und Privatleben. (Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE Das ist verständlich. LINKE]) (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist wirklich scha- de, dass wir von der Großen Koalition seit drei Jahren zu Daher braucht es klare gesetzliche Leitplanken, um diesem Thema gar nichts hören und sehen. Homeoffice zu einer Bereicherung für diejenigen Be- (B) schäftigten zu machen, die das wollen. Das heißt konkret: (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich Homeoffice muss dem ausdrücklichen Wunsch der Be- freue mich, dass wir bei einem arbeitsmarktpolitischen schäftigten entsprechen und darf nicht von Unternehmen Thema einmal gemeinsam streiten. Allerdings muss ich missbraucht werden, um zum Beispiel Büroflächen ein- sagen: Ihr Antrag springt ein bisschen kurz. zusparen. Erstens sind verschiedene Dinge unklar: Wichtige be- (Beifall bei der LINKEN) triebliche Gründe? Wie ist das rechtlich zu fassen? Sind das dringende betriebliche Gründe oder betriebliche Aus einem Recht auf Homeoffice darf keine Pflicht zum Gründe? Solche Fragen werden Sie beantworten müssen, Homeoffice werden. liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Zweitens. Die Themen „Homeoffice“ und „mobiles Dr. Martin Rosemann [SPD]) Arbeiten“ anzugehen, ist richtig, aber das Thema „Ar- beitszeitgesetz“ außen vor zu lassen, sagt leider mehr Homeoffice darf nur als Ergänzung zu einem festen Ar- über Ihre Lebenslügen als über einen zukunftsfähigen beitsplatz im Betrieb ermöglicht werden, Antrag. (Beifall der Abg. Jutta Krellmann [DIE LIN- KE]) Vizepräsidentin Petra Pau: damit Beschäftigte nicht isoliert werden und damit der Kollege Vogel. Betrieb als Ort des sozialen und kollegialen Austausches erhalten bleibt. Ein Recht auf Homeoffice muss mit ei- Johannes Vogel (Olpe) (FDP): nem Recht auf Nichterreichbarkeit nach Feierabend ver- Da müssen auch Sie weiter denken, liebe Kolleginnen knüpft werden, damit die Grenzen zwischen Arbeit und und Kollegen von den Grünen. Privatleben nicht immer mehr verschwimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Klar sein muss auch: Das Arbeitszeitgesetz ist ein Schutzgesetz und gilt auch für Beschäftigte im Home- office. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Jessica Tatti für die Fraktion (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Die Linke. neten der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19019

Jessica Tatti (A) Diese Regeln sind notwendig, um das Arbeiten von zu IAB knapp 50 Prozent der befragten Arbeitnehmer, dass (C) Hause aus zu einer attraktiven Option für Beschäftigte zu durch Heimarbeit die Grenze zwischen Arbeit und Frei- machen, um selbstbestimmter über die eigene Arbeit, den zeit verschwimmt. Arbeitsort und die Arbeitszeit zu entscheiden. In dieser Form begrüßt auch Die Linke ein Recht auf Homeoffice. Wir sollten aber genauso die Situation der Arbeitgeber in den Blick nehmen. Unsere Wirtschaft leidet bereits (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. jetzt unter einer sich abkühlenden Konjunktur. Die Coro- Dagmar Schmidt [Wetzlar] [SPD] und Beate nakrise bringt nicht nur weitere Einbußen bei Produktion Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Export mit sich. Nein, mit der steigenden weltweiten NEN]) Virusgefahr steigt auch das Risiko einer globalen Wirt- schaftskrise. Liebe Kolleginnen und Kollegen, forderte vor wenigen Tagen in Bezug auf das Coronavirus Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, denken ein Recht auf Homeoffice. Auch in dieser Debatte fiel Sie ernsthaft, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für noch dieses Argument. Ich finde, es ist unangebracht, dass hier mehr Auflagen, Bürokratie und zusätzliche Kosten für im Bundestag eine akute Ausnahmesituation genutzt unsere Unternehmen ist? wird, um parteipolitische Forderungen zu untermauern. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Beifall bei der LINKEN) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, jetzt ist der Zeit- Wir dürfen nicht in operative Hektik verfallen und müs- punkt für Homeoffice!) sen Krisenmaßnahmen klar von regulärer Gesetzgebung Das nämlich fordern Sie implizit mit Ihrem Antrag. Ich trennen. sage Ihnen: In diesen Zeiten brauchen Unternehmen ge- setzliche Entlastungen und unternehmerische Freiheiten. (Beifall bei der LINKEN) Selbstverständlich brauchen wir in der aktuellen Situa- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tion besonnene Lösungen. Das sollte eigentlich das ABC einer guten Wirtschafts- politik in Krisenzeiten sein, von der Sie offensichtlich (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Ja, genau!) nicht allzu viel halten. Und ja, Homeoffice kann jetzt vielen Beschäftigten hel- fen, sich und ihr Umfeld zu schützen. Daher müssen jetzt (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Regelungen auf betrieblicher Ebene geschaffen werden. NIS 90/DIE GRÜNEN]: In Krisenzeiten wie diesen ist Homeoffice genau die richtige Ant- (B) (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Aber das zeigt wort!) (D) doch, wie grotesk der Rechtsrahmen ist!) Zudem sind Homeoffice und mobiles Arbeiten bereits Arbeitgeber sollten daher dringend ins Gespräch mit ih- jetzt schon in vielen Unternehmen Realität aufgrund in- ren Belegschaften und mit den Betriebsräten gehen und dividueller Regelungen, Tarifvertrag oder Betriebsver- Homeoffice als Option anbieten, wo das möglich ist. einbarung. Laut Statistischem Bundesamt haben rund 40 Prozent der Unternehmen im Jahr 2018 Homeoffice (Beifall bei der LINKEN) angeboten, Tendenz steigend. Homeoffice ist somit kein Privileg für wenige, wie Sie von den Grünen in Ihrem Vizepräsidentin Petra Pau: Antrag schreiben. Das Wort hat der Kollege Mark Helfrich für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Für mich ist wichtig, dass die Sozial- und Betriebspart- ner vor Ort entscheiden, ob und wie sie den gesetzlichen Mark Helfrich (CDU/CSU): Rahmen nutzen, um den Interessen von Arbeitnehmern Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und und Arbeitgebern gerecht zu werden. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattie- ren heute über zwei Anträge der Opposition zum Thema (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Homeoffice. Die Grünen fordern in ihrem Antrag ein GRÜNEN]: Wir müssen doch erst mal einen Recht auf Homeoffice und mobiles Arbeiten für jeder- vernünftigen Rahmen hinbekommen!) mann. In Zeiten des Coronavirus klingt das erst einmal Das ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers. gut; denn Homeoffice und mobiles Arbeiten erleben ge- rade einen regelrechten Boom. Schließlich schützt die (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Arbeit daheim vor Ansteckung und reduziert zugleich GRÜNEN]: Natürlich!) Ausfallrisiken für die Unternehmen. Auch kommt es bei der Frage „Homeoffice – ja oder Die Vorteile von Homeoffice für den Arbeitnehmer nein?“ immer auf die digitale Organisation des Unterneh- liegen scheinbar auch auf der Hand – könnte man mei- mens an. So werden der klassische Mittelständler und nen –: Zeitersparnis durch ausbleibendes Pendeln, gute Kleinbetriebe nicht so leicht auf den außerbetrieblichen Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie mehr Selbst- Arbeitsplatz umschalten können. Ebenso außen vor wer- bestimmung und Flexibilität. Aber wie so oft gilt auch den Arbeitnehmer und Unternehmen bleiben, in denen hier: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. – So sagen laut die Präsenz von Beschäftigten unabdingbar ist. Dazu zäh- 19020 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Mark Helfrich (A) len das Baugewerbe, das Hotel- und Gaststättengewerbe, Mein Kollege Martin Rosemann hat in seiner Rede sehr (C) der Handel, das produzierende Gewerbe, das Gesund- ausführlich dargestellt, was wir dieses Jahr noch auf den heitswesen usw. usf. Weg bringen. Sie sehen also: Homeoffice ist bei Millionen Arbeit- Das ist auch der Unterschied zu den Grünen: Sie ma- nehmern gar nicht möglich. chen die Anträge (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es ist für Millionen von Be- GRÜNEN]: Genau!) schäftigten möglich! Was ist denn das für eine – und dieser Antrag ist gut; Argumentation?) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Vor diesem Hintergrund ist es nicht mehr als Aktionis- GRÜNEN]: Ja, ich weiß!) mus, ein Recht auf Homeoffice für jedermann zu fordern. da widerspreche ich nicht –, aber wir machen die Gesetze Meine Damen und Herren, wir brauchen keinen dazu. Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten und Homeoffice. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Was wir brauchen, ist ein flexibleres Arbeitszeitgesetz. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Zuruf von der FDP: Einfach beides!) GRÜNEN]: Wo ist das Gesetz?) Wir sollten die starren täglichen Arbeitszeiten durch eine Das ist der Unterschied, liebe Kolleginnen und Kollegen. flexible Wochenarbeitszeit ersetzen und so besser an das In der aktuellen Coronakrise können wir doch sehen, digitale Zeitalter anpassen. was alles möglich ist. Vor Kurzem ist Homeoffice noch mit Vehemenz bekämpft worden. Die Präsenzkultur, die (Beifall der Abg. Astrid Grotelüschen [CDU/ wir in Deutschland haben, ist nicht unbedingt förderlich. CSU] – Beate Müller-Gemmeke [BÜND- Andere Staaten sind uns da weit voraus. Es gilt jetzt, den NIS 90/DIE GRÜNEN]: Flexibilität ist keine Mut aufzubringen, einiges zu verändern. Allein wer die Einbahnstraße!) Möglichkeit hat, von zu Hause aus zu arbeiten, der ist Alles in allem lehnen wir die Anträge der Grünen und schon glücklicher und zufriedener als derjenige, der sie der AfD ab. nicht hat. Von daher ist es wichtig, dass wir das ausbauen. Die allermeisten Beschäftigten – das ist bei der Kolle- Vielen Dank. gin Tatti angeklungen – wollen gar nicht von zu Hause (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) aus arbeiten; nicht 100 Prozent freut es, zu Hause, in den eigenen vier Wänden, zu arbeiten. Denn sie wissen auch um die Nachteile, die es bei der Heimarbeit, im Home- Vizepräsidentin Petra Pau: office, gibt: Man ist sozial isolierter. Man hat weniger Das Wort hat der Abgeordnete Bernd Rützel für die Aufstiegschancen. In der Weiterbildung ist man oft der SPD-Fraktion. Gelackmeierte. Die geleistete Arbeit wird auch nicht im- mer von den Chefs richtig eingeschätzt. Und bei der (Beifall bei der SPD) Mitbestimmung ist Homeoffice mit Sicherheit auch nicht unbedingt förderlich. – Deswegen müssen wir beim Bernd Rützel (SPD): Homeoffice das richtige Maß finden. Maß ist eine der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sieben Tugenden – uralt, aber immer noch aktuell. Kollegen! Mobiles Arbeiten – aktueller als heute könnte (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) diese Debatte wohl nicht sein. Vier von zehn Beschäftig- ten würden gerne regelmäßig oder auch gelegentlich von Und es kommt auch auf den richtigen Rahmen an. Das hat zu Hause aus arbeiten. Das wurde schon 2016 im auch die Hans-Böckler-Stiftung in ihrem letzten „Im- Weißbuchprozess „Arbeiten 4.0“ unserer damaligen Ar- puls“ deutlich gemacht. Es muss geregelt werden, wann beitsministerin ganz klar herausgearbei- gearbeitet wird, wann die Kernzeiten sind, wann Feier- tet. abend ist. Sonst ist man schnell im Hamsterrad. Man wird ausgenutzt, aber man nutzt sich auch selber aus. Und (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Daraus ist eines ist auch klar: Jede Minute Arbeitszeit muss bezahlt nichts gefolgt!) werden. – Doch, Kollege Vogel. Aus diesem Prozess heraus haben Wer in der wunderbaren Natur leben darf – ich weiß, wir den Rahmen aufgebaut, der in den Koalitionsver- von was ich da spreche –, der weiß aber auch, wie schwie- handlungen beschlossen worden ist. rig es ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Städte zu kommen. Nach Frankfurt pendeln jeden Tag 1 Million (Lachen des Abg. Johannes Vogel [Olpe] Menschen. Wenn viele davon ein oder zwei Tage in der [FDP] – Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Schall Woche nicht dorthin pendeln müssten und zu Hause ar- und Rauch! – Beate Müller-Gemmeke beiten könnten, dann wäre viel für die Gesundheit, für die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist der Ge- Nerven, für die Ersparnis von Zeit, für die Umwelt getan. setzentwurf, der schon lange angekündigt wur- de?) (Beifall des Abg. Mark Helfrich [CDU/CSU]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19021

Bernd Rützel (A) Aber dazu bedarf es auch des schnellen Internets an jeder Wenn weniger Menschen auf den Straßen unterwegs sein (C) Milchkanne. müssen, kann dadurch sicherlich die eine oder andere Antwort gegeben werden. Aber abschließend sind die Vielen Dank. Probleme nicht alleine mit mobilem Arbeiten zu lösen. (Beifall bei der SPD) Dann, meine lieben Kollegen, zum Antrag der Grünen. Ich habe mich auch mit Ihrem Antrag sehr intensiv be- Vizepräsidentin Petra Pau: schäftigt. Ein Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten ist Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter nicht das Gelbe vom Ei; denn ein Rechtsanspruch spaltet Aumer für die CDU/CSU-Fraktion. zum Teil auch Belegschaften. (Beifall bei der CDU/CSU) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was?) Peter Aumer (CDU/CSU): Es gibt halt auch Arbeitsplätze in unserem Land, Herr Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollege Birkwald, bei denen mobiles Arbeiten nicht Kollegen! Mobiles Arbeiten ist wohl eines der großen möglich ist, zum Beispiel, wenn es um den Bereich der Megathemen unserer Zeit. Gerade im Zeitalter der Digi- Pflege geht oder wenn es um Kraftfahrer geht, und bei talisierung gibt es in diesem Bereich Chancen, die wir für vielen anderen Arbeitsplätzen gibt es keine Möglichkeit unser Land heben müssen. für einen Rechtsanspruch und wird es sie wahrscheinlich auch in Zukunft nicht geben, weil es Arbeit gibt, die nur Lieber Johannes Vogel, du hast von der Notwendigkeit von Menschen erledigt werden kann. eines Kulturwandels gesprochen. Diesen Kulturwandel gibt es schon in den Unternehmen in unserem Land. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das liegt dann jeweils in der Natur der Arbeit!) (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: Den braucht man auch in den Gesetzen, den Kulturwandel!) Deswegen ist es nicht fair, wenn ein Teil einen Rechts- Die Angabe, die ich gelesen habe, dass 61 Prozent der anspruch auf mobiles Arbeiten hat und der andere nicht. Unternehmen in Deutschland die Möglichkeit des mobi- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE len Arbeitens bieten, ist doch schon mal eine Hausnum- GRÜNEN]: Man muss ihnen andere Angebote mer. Von den Unternehmen mit über 250 Mitarbeitern machen, zum Beispiel mehr Einfluss auf die bieten mittlerweile 94 Prozent ihren Mitarbeiterinnen Arbeitszeit!) und Mitarbeitern die Option, mobiles Arbeiten in An- spruch zu nehmen. (B) Man sollte vielmehr auf Freiwilligkeit setzen. Das ent- (D) spricht auch dem Konzept der Union vor dem Hinter- (Johannes Vogel [Olpe] [FDP]: In der rechtli- grund, dass man die Möglichkeiten der sozialen Markt- chen Grauzone!) wirtschaft nutzt, die vorhanden sind. Wir müssen natürlich die damit verbundenen Herausfor- derungen gesetzlich begleiten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es soll doch niemand gezwungen werden, Herr Kolle- Mobiles Arbeiten ist aber auch kein Wundermittel. ge Aumer! Niemand soll gezwungen werden! Wenn man den Antrag der AfD durchliest, könnte man Da sind wir uns einig!) zu der Auffassung kommen, dass man mit mobilem Ar- beiten und mit Homeoffice alle Herausforderungen unse- Es gibt einiges zu tun. Wir müssen Gesetze ändern. Bei rer Zeit meistern kann. den Arbeitszeiten ist beispielsweise die Flexibilisierung der Arbeitszeit ein großes Thema; es muss auch das The- Sie sprechen in Ihrem Antrag beispielsweise über die ma Datenschutz angesprochen werden. Hier müssen wir Regionalpolitik in Deutschland. Sicherlich kann man ei- unsere Hausaufgaben machen. Wir brauchen aber auch nen kleinen Beitrag dazu leisten; aber Regionalpolitik ist eine Koalition der Mitte. Die Vorschläge aus den vor- schon breiter gefächert, als Sie sie in Ihrem Antrag dar- liegenden Anträgen der Grünen und der AfD geben keine stellen. Antworten auf die großen Zukunftsfragen. Wir werden Sie sprechen von Telearbeitszentren an den Heimat- hier unsere Hausaufgaben machen. Die Anträge lehnen orten. Ich bin gespannt, wie das aussehen soll. Sie haben wir ab. das in Ihrem Antrag nicht näher ausgeführt. Danke für die Aufmerksamkeit. Sie wollen Telearbeiter wie Selbstständige behandeln. Also näher an Scheinselbstständigkeit kann man wahr- (Beifall bei der CDU/CSU) scheinlich nicht sein. Gerade weil der Antrag im Aus- schuss für Arbeit und Soziales diskutiert werden soll, Vizepräsidentin Petra Pau: sollte man sich etwas mehr Gedanken darüber machen, Ich schließe die Aussprache. was man da schreibt. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf (Beifall des Abg. [DIE LINKE]) Drucksache 19/13077 an die in der Tagesordnung aufge- Klar kann man dadurch auf Herausforderungen im Be- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- reich der Regionalpolitik Antworten geben; das gilt ge- weisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ver- rade für die Themenbereiche Mobilität und Verkehr. fahren wir wie vorgeschlagen. 19022 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Die Vorlage auf Drucksache 19/17527 soll an die in der Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- (C) Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wer- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder- den, die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen führung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt Ausschuss für Arbeit und Soziales. Die Fraktion der dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand. Der Überwei- AfD wünscht Federführung beim Ausschuss für Wirt- sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak- schaft und Energie. tionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum AfD-Fraktion angenommen. das denn?) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- nung. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor- schlag der Fraktion der AfD: Federführung beim Aus- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- schuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen tages auf morgen, Freitag, den 13. März 2020, 9 Uhr, ein. Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen: Kom- enthält sich? – Niemand. Der Überweisungsvorschlag ist men Sie morgen früh gesund wieder! gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt. (Schluss: 17.05 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19023

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete

Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Bär, Dorothee CDU/CSU Kießling, Michael CDU/CSU Baumann, Dr. Bernd AfD Kiziltepe, Cansel SPD Biadacz, Marc CDU/CSU Klingbeil, Lars SPD Brandt, Michel DIE LINKE Klinge, Dr. Marcel FDP Braun, Dr. Helge CDU/CSU Kluckert, Daniela FDP Brunner, Dr. Karl-Heinz SPD Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Busen, Karlheinz FDP Lambrecht, Christine SPD Bystron, Petr AfD Lamers, Dr. Dr. h. c. Karl A. CDU/CSU Dilcher, Esther SPD Lauterbach, Dr. Karl SPD Domscheit-Berg, Anke DIE LINKE Meyer, Christoph FDP Dörner, Katja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Mieruch, Mario fraktionslos Ebbing, Hartmut FDP Mrosek, Andreas AfD Erndl, Thomas CDU/CSU Müller, Hansjörg AfD (B) (D) Esdar, Dr. Wiebke SPD Müller-Böhm, Roman FDP Fischer (Karlsruhe-Land), CDU/CSU Nord, Thomas DIE LINKE Axel E. Özdemir, Cem BÜNDNIS 90/ Föst, Daniel FDP DIE GRÜNEN Freihold, Brigitte DIE LINKE Petry, Dr. Frauke fraktionslos Frohnmaier, Markus AfD Pfeiffer, Dr. Joachim CDU/CSU Groß, Michael SPD Post, Florian SPD Hagl-Kehl, Rita SPD Radomski, Kerstin CDU/CSU Harder-Kühnel, Mariana Iris AfD Renner, Martin Erwin AfD Hardt, Jürgen CDU/CSU Rimkus, Andreas SPD Heil, Mechthild CDU/CSU Rossmann, Dr. Ernst Dieter SPD Helling-Plahr, Katrin FDP Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Högl, Dr. Eva SPD Roth (Heringen), Michael SPD Irlstorfer, Erich CDU/CSU Rottmann, Dr. Manuela BÜNDNIS 90/ Jongen, Dr. Marc AfD DIE GRÜNEN Jung, Dr. Christian FDP Rüthrich, Susann SPD Kaiser, Elisabeth SPD Scheer, Dr. Nina SPD Kamann, Uwe fraktionslos Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 19024 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020

(A) Canan Bayram (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heu- (C) Abgeordnete(r) te stimme ich gegen die Fortsetzung der Fortsetzung der Beteiligung der Bundeswehr an dem Hybriden Einsatz Schmidt, Stefan BÜNDNIS 90/ der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen in DIE GRÜNEN Darfur (UNAMID). Schreiber, Eva-Maria DIE LINKE Bei meinem Abstimmungsverhalten folge ich meiner klaren Linie gegen Bundeswehreinsätze im Ausland. Zu Sichert, Martin AfD dieser Auffassung komme ich, da die meisten Einsätze der Bundeswehr zu schnell als Mittel der internationalen Sommer, Helin Evrim DIE LINKE Politik in Erwägung gezogen werden. Das bedeutet, dass eher auf militärische Beteiligung gesetzt wird, als zivile Spaniel, Dr. Dirk AfD Krisenpräventionen und zivile Lösungsansätze zu verfol- Steffen, Sonja Amalie SPD gen und umzusetzen. Mehr noch werden zivile und de- mokratiefördernde Initiativen oft in den Militäreinsatz Steiniger, Johannes CDU/CSU integriert. Dieser Vermischung folgt fast immer, dass der zivile Part nicht zielführend umgesetzt wird. Strack-Zimmermann, FDP Dr. Marie-Agnes Des Weiteren beobachten wir bei den meisten Militär- einsätzen, dass nicht klar evaluiert wird, was Zwischen- Theurer, Michael FDP ziele und Ziele sind und wann diese erreicht sind oder eben auch nicht erreicht wurden. Dieser fehlenden Eva- Throm, Alexander CDU/CSU luation wird zu oft mit einem „Weiter so!“ begegnet. Fast nie werden Militäreinsätze abgebrochen, obwohl festge- Todtenhausen, Manfred FDP stellt wird, dass sie nicht zielführend sind. Vaatz, Arnold CDU/CSU Dieser rein militärischen Logik setze ich mein Nein entgegen. Vries, Christoph de CDU/CSU Im Gegenzug dazu bin ich sehr dafür, dass in den be- Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE troffenen Krisengebieten – wie hier in Darfur – zivile Projekte, Entwicklungshilfe und demokratiefördernde Wagner, Andreas DIE LINKE Initiativen massiv mit finanziellen Mitteln ausgestattet (B) Wagner, Daniela BÜNDNIS 90/ werden. Hier ist die Bundesrepublik Deutschland in der (D) DIE GRÜNEN Verpflichtung und muss ihren Beitrag leisten. Dabei muss es eine enge Zusammenarbeit mit den Regierungen und Weber, Gabi SPD den jeweiligen zivilen Projekten in den Ländern geben, damit das Geld auch da ankommt, wo es hin soll. Auch im Weeser, Sandra FDP Zuge internationaler Flüchtlingshilfe sollte die Bundesre- publik Deutschland noch mehr Verantwortung überneh- Weidel, Dr. Alice AfD men – gerade in diesem Bereich ist viel mehr möglich, als Weisgerber, Dr. Anja CDU/CSU derzeit unternommen wird. Werner, Katrin DIE LINKE Dr. Rainer Kraft (AfD): Ich habe heute aus prinzipiel- ler Sicht, aber gerade auch angesichts der konkreten Zeulner, Emmi CDU/CSU Sachlage, gegen den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- Zimmermann, Pia DIE LINKE kräfte an dem Hybriden Einsatz der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen in Darfur (UNAMID) ge- stimmt. Zum einen fehlt durch den Wegfall der nament- lichen Abstimmung jede moralische Bindung und Ver- pflichtung der einzelnen Abgeordneten zu ihrer Anlage 2 Entscheidung. Zudem steht der Nutzen der Einsätze in keinem Verhältnis zum Risiko für unsere Soldaten. Erklärungen nach § 31 GO

zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung Anlage 3 des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Hybri- Erklärungen nach § 31 GO den Einsatz der Afrikanischen Union und der Ver- zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung einten Nationen in Darfur (UNAMID) des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung (Tagesordnungspunkt 9) bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Mission Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. März 2020 19025

(A) der Vereinten Nationen in der Republik Südsudan Dieser rein militärischen Logik setze ich mein Nein (C) (UNMISS) entgegen. (Tagesordnungspunkt 10) Im Gegenzug dazu bin ich sehr dafür, dass in den be- troffenen Krisengebieten – wie hier im Sudan – zivile Canan Bayram (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heu- Projekte, Entwicklungshilfe und demokratiefördernde te stimme ich gegen die Fortsetzung der Fortsetzung der Initiativen massiv mit finanziellen Mitteln ausgestattet Beteiligung der Bundeswehr an der Mission der Verein- werden. Hier ist die Bundesrepublik Deutschland in der ten Nationen in der Republik Südsudan (UNMISS). Verpflichtung und muss ihren Beitrag leisten. Dabei muss es eine enge Zusammenarbeit mit den Regierungen und Bei meinem Abstimmungsverhalten folge ich meiner den jeweiligen zivilen Projekten in den Ländern geben, klaren Linie gegen Bundeswehreinsätze im Ausland. Zu damit das Geld auch da ankommt, wo es hin soll. Auch im dieser Auffassung komme ich, da die meisten Einsätze Zuge internationaler Flüchtlingshilfe sollte die Bundesre- der Bundeswehr zu schnell als Mittel der internationalen publik Deutschland noch mehr Verantwortung überneh- Politik in Erwägung gezogen werden. Das bedeutet, dass men – gerade in diesem Bereich ist viel mehr möglich, als eher auf militärische Beteiligung gesetzt wird, als zivile derzeit unternommen wird. Krisenpräventionen und zivile Lösungsansätze zu verfol- gen und umzusetzen. Mehr noch werden zivile und de- Dr. Rainer Kraft (AfD): Ich habe heute aus prinzipiel- mokratiefördernde Initiativen oft in den Militäreinsatz ler Sicht, aber gerade auch angesichts der konkreten integriert. Dieser Vermischung folgt fast immer, dass Sachlage, gegen den Antrag der Bundesregierung zur der zivile Part nicht zielführend umgesetzt wird. Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- Des Weiteren beobachten wir bei den meisten Militär- kräfte an der Mission der Vereinten Nationen in der Re- einsätzen, dass nicht klar evaluiert wird, was Zwischen- publik Südsudan (UNMISS) gestimmt. Zum einen fehlt ziele und Ziele sind und wann diese erreicht sind oder durch den Wegfall der namentlichen Abstimmung jede eben auch nicht erreicht wurden. Dieser fehlenden Eva- moralische Bindung und Verpflichtung der einzelnen Ab- luation wird zu oft mit einem „Weiter so!“ begegnet. Fast geordneten zu ihrer Entscheidung. Zudem steht der Nut- nie werden Militäreinsätze abgebrochen, obwohl festge- zen der Einsätze in keinem Verhältnis zum Risiko für stellt wird, dass sie nicht zielführend sind. unsere Soldaten.

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333