Deutscher Bundestag

Stenographischer Bericht

77. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Inhalt:

Wiederwahl des Abg. Dr. Czaja und des Fortsetzung der Beratung des Dritten Im- Herrn Walter Haack (Bonn) zu Mitgliedern missionsschutzberichts der Bundesregie- des Verwaltungsrats der Lastenausgleichs- rung bank 5575A hier: Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN (Abstimmung) Wahl des Abg. Zierer zum Mitglied der Par- — Drucksache 10/1587 — lamentarischen Versammlung des Europa- Schmidbauer CDU/CSU 5585 C rates 5575 B Dr. Hauff SPD 5586 B Baum FDP 5587 A Änderung des Beschlusses betr. Überwei- Dr. Ehmke (Ettlingen) GRÜNE 5587 C sung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 10/147 (neu) (Benzinbleigesetz) an Aus- schüsse Eidesleistung des Bundesministers für Erweiterung der Tagesordnung . . 5575 B, 5701 A Wirtschaft Präsident Dr. Barzel 5588 C Dr. Bangemann, Bundesminister für Wirt Aktuelle Stunde betr. die Ausweitung des schaft 5588 D Golfkrieges und die Verantwortung der Rüstungsexportländer Schily GRÜNE 5575 D Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- Repnik CDU/CSU 5576 B rung zu den Ergebnissen des Weltwirt- schaftsgipfels in London und zum EG-Gip-- Wischnewski SPD 5577 B fel in Fontainebleau Schäfer (Mainz) FDP 5578 A Petersen CDU/CSU 5578 D in Verbindung mit Brück SPD 5579 B Genscher, Bundesminister AA 5580 A Dr. Soell SPD 5581 A Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu den Klein (München) CDU/CSU 5581 D Unterrichtungen durch die Bundesregie- Gansel SPD 5582 B rung Schwarz CDU/CSU 5583 A Mitteilung der Kommission der Europäi- schen Gemeinschaften — Die zukünftige Reents GRÜNE 5583 D Finanzierung der Gemeinschaft — Stobbe SPD 5584 D Vorlage der Kommission der Europäischen Klein (München) CDU/CSU 5585 A Gemeinschaften II Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Die zukünftige Finanzierung der Gemein- Dr. Wittmann CDU/CSU 5669 B schaft: Vorschlag für einen Beschluß über Jungmann SPD 5673 B die eigenen Mittel Bastian fraktionslos 5676 C — Drucksachen 10/358 Nr. 48, 10/329, 10/1583 — Horn SPD 5678 A Dr. Kohl, Bundeskanzler 5589 B Francke (Hamburg) CDU/CSU 5680 B Schmidt (Hamburg) SPD 5596 D Dr. Vogel SPD 5684 B Hauser (Krefeld) CDU/CSU 5604A Rühe CDU/CSU 5686 D Frau Kelly GRÜNE 5607 D Beratung der Sammelübersicht 35 des Pe- Dr. Haussmann FDP 5610 B titionsausschusses über Anträge zu Peti- Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMF . 5613 D tionen Roth SPD 5621 C — Drucksache 10/1556 — Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 5624 D in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Beratung der Sammelübersicht 36 des Pe- eines Gesetzes zur Errichtung einer Stif- titionsausschusses über Anträge zu Peti- tung „Mutter und Kind — Schutz des un- tionen geborenen Lebens" — Drucksache 10/1557 — — Drucksache 10/1369 — Reuter SPD 5687 D Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Dr. Göhner CDU/CSU 5688 B schusses für Jugend, Familie und Gesund- heit Krizsan GRÜNE 5689 A — Drucksache 10/1603 — Neuhausen FDP 5689D, 5693 A Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Kirschner SPD 5690 C § 96 der Geschäftsordnung Jagoda CDU/CSU 5691 C — Drucksache 10/1605 — Frau Nickels GRÜNE 5692 B Frau Männle CDU/CSU 5645 C Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 5647 C Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- Eimer (Fürth) FDP 5650 B brachten Entwurfs eines Elften Gesetzes Dr. Geißler, Bundesminister BMJFG . 5651C zur Änderung des Wehrsoldgesetzes Frau Schoppe GRÜNE 5654 D — Drucksache 10/1475 — Beschlußempfehlung und Bericht des In- Beratung der Beschlußempfehlung und des nenausschusses Berichts des Verteidigungsausschusses als 1. Untersuchungsausschuß nach Arti- — Drucksache 10/1592 — kel 45 a Abs. 2 des Grundgesetzes Bericht des Haushaltsausschusses gemäß zu den Anträgen § 96 der Geschäftsordnung — der Fraktion der SPD und des An- — Drucksache 10/1593 — schlußantrages der Fraktion DIE GRÜ- Berger CDU/CSU 5694 C NEN vom 20. Januar 1984 zur Untersu- Heistermann SPD 5696 A chung der tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Entscheidung des Bun- Kleinert (Marburg) GRÜNE 5697 C desministers der Verteidigung Dr. Wörner, Dr. Weng FDP 5699 A General Dr. Kießling zu entlassen Dr. Wörner, Bundesminister BMVg . . 5699 C — der Fraktion der CDU/CSU und des An- schlußantrages der Fraktion der FDP vom Frau Nickels GRÜNE (Erklärung nach § 31 20. Januar 1984 zur Rechtmäßigkeit der GO) 5700 C vorzeitigen Zurruhesetzung des Generals a. D. Dr. Kießling Beratung des Antrags der Fraktion der — Drucksache 10/1604 — SPD Wimmer (Neuss) CDU/CSU 5657 B Initiativen zur Abrüstung und Rüstungs- kontrolle Dr. Klejdzinski SPD 5660 C — Drucksache 10/1298 — Ronneburger FDP 5663 A Vogt (Kaiserslautern) GRÜNE 5666 A in Verbindung mit Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 III

Beratung des Antrags der Fraktion der Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- SPD schusses für Arbeit und Sozialordnung Abrüstungsinitiative aus vier Kontinenten — Drucksache 10/1658 — — Drucksache 10/1573 — Müller (Wesseling) CDU/CSU 5718 C Glombig SPD 5720 B in Verbindung mit Frau Dr. Adam-Schwaetzer FDP . . . 5721 C Beratung des Antrags der Fraktion DIE Frau Potthast GRÜNE 5722 B GRÜNEN Höpfinger, Parl. Staatssekretär BMA . 5723 D Nichtaufhebung der WEU-Rüstungsbe- schränkungen — Drucksache 10/1624 — Fragestunde — Drucksachen 10/1656 vom 22. Juni 1984 in Verbindung mit und 10/1682 vom 27. Juni 1984 — Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Situation der Ständigen Vertretung der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik Bundesrepublik Deutschland bei der DDR — Drucksache 10/1674 — DringlAnfr 27.06.84 Drs 10/1682 Bahr SPD in Verbindung mit Antw PStSekr Dr. Hennig BMB . . . 5627 A Beratung des Antrags des Abgeordneten ZusFr Bahr SPD 5627 A Reents und der Fraktion DIE GRÜNEN ZusFr Werner CDU/CSU 5627 D Aufhebung der Herstellung von weitrei- ZusFr Schulze (Berlin) CDU/CSU . . . 5627 D chenden Raketen und strategischen Bom- bern auf dem Gebiet der Bundesrepublik ZusFr Hiller (Lübeck) SPD 5628 A Deutschland ZusFr Reddemann CDU/CSU 5628 A — Drucksache 10/1685 — ZusFr Heimann SPD 5628 B Dr. Scheer SPD 5701 B ZusFr Jäger (Wangen) CDU/CSU . . . 5628 C Wilz CDU/CSU 5703 A ZusFr Hauck SPD 5628 C Gansel SPD 5705 C ZusFr Menzel SPD 5628 D Dr. Feldmann FDP 5708 B ZusFr Böhm (Melsungen) CDU/CSU . 5629A Reents GRÜNE 5710 B ZusFr Büchler (Hof) SPD 5629 A Möllemann, Staatsminister AA 5713A ZusFr Frau Reetz GRÜNE 5629 B Zur Geschäftsordnung ZusFr Dr. Hupka CDU/CSU 5629 C Dr. Bötsch CDU/CSU 5716 B ZusFr Lutz SPD 5629 D Reents GRÜNE 5716 B ZusFr Becker (Nienberge) SPD 5630 A Gansel SPD 5717A Unterschied zwischen einem „Anhänger Erste Beratung des von der Bundesregie- der Todesstrafe" und einem „Befürworter rung eingebrachten Entwurfs eines Steu- der Wiedereinführung der Todesstrafe"; erbereinigungsgesetzes 1985 Bestellung von Dr. zum — Drucksache 10/1636 — Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Gattermann FDP (zur GO) 5718A Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen Erste Beratung des von der Bundesregie- MdlAnfr 26, 27 22.06.84 Drs 10/1656 rung eingebrachten Entwurfs eines Straf- Klein (Dieburg) SPD verfahrensgesetzes 1984 Antw StMin Dr. Mertes AA 5630 B — Drucksache 10/1313 — ZusFr Klein (Dieburg) SPD 5630 C Zweite und dritte Beratung des von der ZusFr Lambinus SPD 5630 D Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ZusFr Reddemann CDU/CSU 5631 C eines Gesetzes zur Verbesserung des Wahlrechts für die Sozialversicherungs- ZusFr Böhm (Melsungen) CDU/CSU . 5632A wahlen ZusFr Heyenn SPD 5632 A — Drucksache 10/1162 — ZusFr Frau Blunck SPD 5632 A IV Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Freigabe des Films „Die weiße Rose" für ZusFr Dr. Czaja CDU/CSU 5637 C Aufführungen in Goethe-Instituten ZusFr Becker (Nienberge) SPD 5637 D MdlAnfr 28 22.06.84 Drs 10/1656 Dr. Rose CDU/CSU Unterbindung der Einfuhr von Meeres- Antw StMin Dr. Mertes AA 5632 B schildkröten und -produkten aus Frank- reich in die Bundesrepublik Deutschland; ZusFr Dr. Rose CDU/CSU 5632 C Einfuhr von Meeresschildkrötenprodukten ZusFr Schwenninger GRÜNE 5632 D von der Karibik-Insel La Réunion nach ZusFr Würtz SPD 5633 A Frankreich MdlAnfr 65, 66 22.06.84 Drs 10/1656 Frau Blunck SPD Derzeitiger Aufenthalt und Gesundheitszu- stand des Ehepaares Sacharow-Bonner; Antw PStSekr Gallus BML 5638 B Reaktion sowjetischer Behörden auf die ZusFr Frau Blunck SPD 5638 C Forderungen nach Genehmigung der Aus- reise ZusFr Frau Dr. Hartenstein SPD . . . 5638 D MdlAnfr 29 22.06.84 Drs 10/1656 ZusFr Dr. Ehmke (Ettlingen) GRÜNE . 5639 B Jäger (Wangen) CDU/CSU ZusFr Frau Reetz GRÜNE 5639 C Antw StMin Dr. Mertes AA 5633 B Einhaltung des Einfuhrverbots für Meeres- ZusFr Jäger (Wangen) CDU/CSU . . . 5633 B schildkröten und -produkte beim Wegfall ZusFr Dr. Hupka CDU/CSU 5633 D der Grenzkontrollen in der EG MdlAnfr 67 22.06.84 Drs 10/1656 Verstoß Staatsministers Möllemann gegen Dr. Weng FDP die Bestimmungen des Bundesministerge- Antw PStSekr Gallus BML 5639 D setzes durch seine geschäftlichen Aktivitä- ZusFr Dr. Weng FDP 5640 A ten ZusFr Frau Blunck SPD 5640 B MdlAnfr 30 22.06.84 Drs 10/1656 Würtz SPD ZusFr Frau Dr. Hartenstein SPD . . . 5640 B Antw StMin Dr. Mertes AA 5633 D Strafandrohung für die illegale Einfuhr ZusFr Würtz SPD 5634 B von Tieren und Pflanzen der vom Ausster- ZusFr Dr. Weng FDP 5634 C ben bedrohten Arten im Rahmen der No- vellierung des Artenschutzgesetzes ZusFr Klein (Dieburg) SPD 5634 C MdlAnfr 68 22.06.84 Drs 10/1656 ZusFr Bahr SPD 5634 C Dr. Weng FDP ZusFr Frau Blunck SPD 5634 D Antw PStSekr Gallus BML 5640 C ZusFr Herterich SPD 5635 A ZusFr Dr. Weng FDP 5640 C ZusFr Verheugen SPD 5635 B ZusFr Frau Blunck SPD 5640 D

Verletzung der KSZE-Schlußakte durch Einfuhrverbot für Meeresschildkröten und Störungen von Sendungen der Deutschen -produkte in die Bundesrepublik Deutsch- Welle durch sowjetische, bulgarische und land tschechoslowakische Sender MdlAnfr 69, 70 22.06.84 Drs 10/1656 MdlAnfr 31 22.06.84 Drs 10/1656 Frau Dr. Hartenstein SPD Dr. Hupka CDU/CSU Antw PStSekr Gallus BML 5641 A Antw StMin Dr. Mertes AA 5635 B ZusFr Frau Dr. Hartenstein SPD . . . 5641A ZusFr Dr. Hupka CDU/CSU 5636 B ZusFr Frau Blunck SPD 5641 C ZusFr Dr. Ehmke (Ettlingen) GRÜNE . 5642 C Rückgang der Zahl genehmigter Familien- zusammenführungen für Deutsche aus den Durchführung von Kontrollen zur Verhin- Oder-Neiße-Gebieten derung der Einfuhr von Meeresschildkrö- MdlAnfr 32 22.06.84 Drs 10/1656 ten und -produkten innerhalb der EG Dr. Hupka CDU/CSU MdlAnfr 72 22.06.84 Drs 10/1656 Antw StMin Dr. Mertes AA 5636 C Dr. Ehmke (Ettlingen) GRÜNE ZusFr Dr. Hupka CDU/CSU 5637 A Antw PStSekr Gallus BML 5642 D ZusFr Jungmann SPD 5637 B ZusFr Dr. Ehmke (Ettlingen) GRÜNE . 5642 D ZusFr Jäger (Wangen) CDU/CSU . . . 5637 C ZusFr Frau Blunck SPD 5643 A Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 V

Ökologische Auswirkungen der durch Ver- Antw PStSekr Gallus BML 5644 A ringerung der Milchproduktion verursach- ZusFr Verheugen SPD 5644 B ten Betriebsstillegungen im bayerischen Grenzland Entwicklung der Waldschäden in Ost- MdlAnfr 74 22.06.84 Drs 10/1656 bayern Verheugen SPD MdlAnfr 76 22.06.84 Drs 10/1656 Antw PStSekr Gallus BML 5643 B Stiegler SPD ZusFr Verheugen SPD 5643 B Antw PStSekr Gallus BML 5644 C ZusFr Frau Blunck SPD 5643 C ZusFr Frau Blunck SPD 5644 D ZusFr Eigen CDU/CSU 5643 D ZusFr Dr. Ehmke (Ettlingen) GRÜNE . 5644 D ZusFr Frau Dr. Hartenstein SPD . . . 5643 D Nächste Sitzung 5725 D

Situation der Forstwirtschaft in den vom Waldsterben betroffenen Gebieten Ost- bayerns Anlage MdlAnfr 75 22.06.84 Drs 10/1656 Verheugen (Kulmbach) SPD Liste der entschuldigten Abgeordneten . 5726* A

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77. Sitzung

Bonn, den 28. Juni 1984

Beginn: 8.00 Uhr

Präsident Dr. Barzel: Die Sitzung ist eröffnet. den. — Ich stelle fest, daß Sie damit einverstanden Meine Damen und Herren, ich habe zunächst ei- sind. Die Tagesordnung ist um diesen Zusatzpunkt nige amtliche Mitteilungen zu verlesen. ergänzt. Erstens. In Kürze läuft die Amtsdauer von zwei Mitgliedern des Verwaltungsrates der Lastenaus- Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatz- gleichsbank aus, die vom Bundestag auf Vorschlag punkt 1 zur Tagesordnung auf: der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD gewählt Aktuelle Stunde worden sind. Die Fraktion der CDU/CSU hat den Die Ausweitung des Golfkrieges und die Ver Abgeordneten Dr. Czaja und die Fraktion der SPD antwortung der Rüstungsexportländer Herrn Walter Haack (Bonn) zur Wiederwahl vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Kein Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 c der Widerspruch. Damit sind der Abgeordnete Dr. Czaja Anlage 5 unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle und Herr Walter Haack gemäß § 7 Abs. 4 des Geset- Stunde verlangt. zes über die Lastenausgleichsbank erneut als Mit- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab- glieder des Verwaltungsrates der Lastenausgleichs- geordnete Schily. — Ich weise darauf hin, daß die bank gewählt. Redezeit von fünf Minuten strikt einzuhalten ist. Zweitens. Für den aus dem Bundestag ausge- schiedenen Abgeordneten Hartmann schlägt die Fraktion der CDU/CSU als seinen Nachfolger in der Schily (GRÜNE.): Herr Präsident! Meine Damen Parlamentarischen Versammlung des Europarates und Herren Kollegen! den Abgeordneten Zierer vor. Sind Sie damit ein- (Zuruf von den GRÜNEN: Kolleginnen!) verstanden? — So beschlossen. Damit ist der Abge- Der amerikanische Verteidigungsminister Weinber- ordnete Zierer als Mitglied in die Parlamentarische ger hat vor wenigen Tagen geäußert, im Golfkrieg Versammlung des Europarates gewählt. zwischen Iran und Irak werde es möglicherweise Drittens. Der von dem Abgeordneten Drabiniok bald eine der schlimmsten Infanterieschlachten seit und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachte Ent- dem Ersten Weltkrieg geben. Damit treibt einer der wurf eines Gesetzes zur Änderung des Benzinblei- blutigsten und grausamsten Kriege der Gegenwart gesetzes — Drucksache 10/147 (neu) — wurde in der einem weiteren Höhepunkt zu. Mehr als 500 000 22. Sitzung des Deutschen Bundestages am 15. Sep- Tote und nahezu 1 Million Verwundete sind in die- - tember 1983 zur federführenden Beratung an den sem mörderischen Massaker zu beklagen. Viele Ju- Finanzausschuß, zur Mitberatung an den Innenaus- gendliche und Kinder gehören zu den Opfern dieses schuß, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß entsetzlichen Geschehens. für Verkehr sowie zur Mitberatung und gemäß § 96 Der Deutsche Bundestag — und ich schließe in der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß diese Kritik ausdrücklich meine eigene Fraktion überwiesen. Nach einer interfraktionellen Verein- ein — barung soll nunmehr der Innenausschuß federfüh- rend sein unter Beibehaltung der bisher vorgesehe- (Zustimmung des Abg. Vogt [Kaiserslau nen Mitberatung. Die Beteiligung des Finanzaus- tern] [GRÜNE]) schusses soll entfallen. Sind Sie damit einverstan- hat leider bisher wenig unternommen, um sich mit den? — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlos- einer Mahnung zum Frieden in dieser Region Ge- sen. hör zu verschaffen. Auch an die Friedensbewegung Viertens. Nach einer weiteren interfraktionellen ist herbe Kritik zu richten, daß angesichts dieser Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die schrecklichen Ereignisse nennenswerte Aktivitäten Eidesleistung des Bundesministers für Wirtschaft vollständig unterblieben sind. erweitert werden. Dieser Punkt der Tagesordnung (Zustimmung des Abg. Vogt [Kaiserslau soll nach Beratung des Punktes 2 aufgerufen wer- tern] [GRÜNE]) 5576 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Schily Allenfalls hat die Friedensbewegung ein paar matte — Richtig. Dieses Thema ist außerordentlich ernst. Presseerklärungen zustande gebracht. Wer aber ge- Die Bilanz des Krieges ist grausam. Dieses Thema gen künftige Kriege, von denen er selber betroffen ist aber zu ernst, Herr Kollege Schily, als daß man sein könnte, protestieren will, kann die Kriege der versuchen sollte, hier heute vor der Öffentlichkeit Gegenwart nicht aus dem Blickfeld lassen. innenpolitisches Kapital aus diesem Krieg zu schla- Vor allem aber trifft die Bundesregierung, die ei- gen. nen Staat vertritt, der mit den kriegführenden Staa- (Widerspruch bei den GRÜNEN — Schily ten in besonderer Weise verbunden ist, eine beson- [GRÜNE]: Wer hat denn das getan?) dere Verantwortung. Der Krieg, der dort mit unver- Herr Kollege Schily, der Versuch wird Ihnen nicht minderter Heftigkeit anhält, kann j a überhaupt nur gelingen, die Verantwortlichkeiten in bezug auf weitergeführt werden, weil er mit den Waffenliefe- diese Auseinandersetzungen umzukehren oder gar rungen aus den Industrieländern gefüttert wird. die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesregie- Das ist — man mag dieses Wort eigentlich nicht rung in diese Verantwortlichkeit mit einzubezie- mehr in den Mund nehmen — einer der schlimm- hen. sten Skandale der Gegenwart. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Beifall bei den GRÜNEN) Horacek [GRÜNE]: Sind Sie schon ausge Wir meinen daher — auch wenn manchen ein schlafen? — Weitere Zurufe von den GRÜ Anflug von Hilflosigkeit und Ohnmacht ankommen NEN und der SPD) mag, wenn er sein Augenmerk auf die dortigen Er- — Herr Kollege Ehmke, der Herr Kollege Schily eignisse richtet — , daß der einzige realistische An- hat wider besseres Wissen behauptet, daß die Bun- satzpunkt sein muß, sämtliche direkten oder indi- desrepublik Deutschland in diesen Konflikt mit ein- rekten Waffenexporte — diese Forderung richten bezogen sei. Er weiß ganz genau, daß sich die Bun- wir an die Bundesregierung — aus der Bundesrepu- desregierung in diesem Konflikt stets neutral ver- blik in das Krisengebiet zu unterbinden, halten hat und daß zu keinem Zeitpunkt dieser (Beifall bei den GRÜNEN — Klein [Mün kriegerischen Auseinandersetzungen — ich betone: chen] [CDU/CSU]: Welche Exporte?) zu keinem Zeitpunkt — Waffenlieferungen aus der Bundesrepublik Deutschland in dieses Gebiet gelei- sich für ein internationales Waffenembargo gegen- über dem Iran und dem Irak einzusetzen. Ich meine stet wurden. auch, daß es notwendig ist, Druck auf den Iran aus- (Jungmann [SPD]: Rüstungsgüter gehören zuüben, der sich weigert, auf den gemeinsamen auch dazu!) Friedensvertragsvorschlag des iranischen Nationa- Wie ist die Lage tatsächlich? Wir beklagen zu- len Widerstandsrates, dem der Irak zugestimmt hat, tiefst die Hunderttausende von Toten, zunehmend einzugehen, Druck auf den Iran durch einen befri- Kinder von iranischer Seite. Die Lage ist so, daß steten Öleinfuhrstopp der beteiligten Erdölimport- mittlerweile Hunderte von Milliarden DM an direk- länder auszuüben. ten und indirekten Kriegskosten und mittelbaren Die Bundesregierung hat nach meiner Einschät- Schäden zu beklagen sind. Des weiteren sind eine zung längst nicht alle sich ihr bietenden politischen Bedrohung und Destabilisierung einer ökonomisch Möglichkeiten ausgeschöpft, um einen sofortigen wie geostrategisch wichtigen Region gegeben. Die Waffenstillstand und einen Friedensschluß zu errei- Bilanz dieses seit fast vier Jahren andauernden chen. Ich denke, wir sollten diese Stunde heute mor- Krieges ist schrecklich, eines Krieges, der vom Irak gen nutzen, um diese Forderungen gemeinsam an angefangen wurde und den heute der Iran, der ihn die Bundesregierung zu richten. nicht begonnen hat, nicht beenden will. Ich danke Ihnen. Die eigentlichen Kriegsursachen, nämlich politi- sche, ethnische, religiöse Motive weichen immer (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord neten der SPD) mehr irrationalen Handlungsweisen. Die Art der Kampfführung und die eingesetzten Waffen eska- lieren zu unvorstellbarer Brutalität. - Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Herr Abge- Gestatten Sie mir noch einen wichtigen Hinweis. ordnete Repnik. In dieser Region wird ein Krieg geführt, der es bei- den Seiten ermöglicht, unter grausamster Mißach- tung der Menschenrechte nicht nur den kriegeri- Repnik (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr schen Gegner, sondern auch den politisch Anders- verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, denkenden und den Andersgläubigen im eigenen daß ich zu Beginn darauf hinweise, daß dieses Land zu vernichten. Thema gestern im Auswärtigen Ausschuß gründ- lich und intensiv beraten wurde. Ich frage mich, Dieser Krieg aber und die ihn führenden Politi- ker haben sich jeder Einflußnahme durch auslän- was die Fraktion DIE GRÜNEN veranlaßt hat, heute morgen, also kaum einen Tag, nachdem die- dische Mächte entzogen. ses Thema gestern ausführlich beraten wurde, eine (Zurufe von den GRÜNEN) Aktuelle Stunde zu diesem Thema zu beantragen. Der greise Ayatollah Khomeini — und hier liegt der (Dr. Marx [CDU/CSU]: Mit einer völlig offe Schlüssel dieser Auseinandersetzung — ist keiner nen Information durch die Bundesregie Beeinflussung zugänglich. Wenn Sie die Bundesre- rung!) gierung hier auffordern, an die waffenliefernden Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5577

Repnik Nationen zu appellieren, dann kann ich nur sagen, Wir müssen uns darum bemühen, in Europa diesem der Iran, der sich einem Friedensschluß entzieht, Konflikt gegenüber eine möglichst einheitliche Hal- bekommt keine Waffen von den Vereinigten Staa- tung einzunehmen, um so mehr Gewicht zu bekom- ten, keine Waffen von Frankreich, sondern es sind men, um Einfluß nehmen zu können, den Krieg zu Nationen wie Syrien und Libyen, die diese Waffen beendigen. Wir müssen diejenigen unterstützen, die liefern. Ich darf Sie, Herr Kollege Schily, bei Ihrem in harter Arbeit darum bemüht sind, in diesem besonders guten Verhältnis, das Sie zum Obersten Kriege zu vermitteln. Das gilt in diesen Tagen ins- Ghaddhafi haben, fragen, ob Sie jemals versucht besondere für den Generalsekretär der Vereinten haben, auf die libysche Regierung einzuwirken, daß Nationen, sie endlich diese Waffenlieferungen, die Unterstüt- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) zung des Iran beendet, und auf eine friedliche Ent- wicklung hinweist. der einen ersten wesentlichen Schritt erreicht hat, nämlich, daß sich beide Seiten verpflichtet haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — auf die Bombardierung ziviler Ziele zu verzichten. Schily [GRÜNE]: Unverschämtheit!) (Dr. Marx [CDU/CSU]: Wenn sie es nur ein- Hier liegt der Schlüssel und nicht bei den Groß- halten würden!) mächten. Ich möchte ausdrücklich begrüßen, daß beide Lassen Sie mich abschließend für meine Fraktion Kriegsparteien nun zugestimmt haben, daß Beob- an die kriegführenden Nationen appellieren, dieses achter der Vereinten Nationen für die Einhaltung grausame Gemetzel zu beenden. Wirtschaftliche dieser Vereinbarung tätig sein können. Sanktionen, die Sie hier vorgeschlagen haben, hel- fen uns nicht weiter. Wertvolle Fäden der Kontakte Dieser Krieg ist kein Bestandteil des Ost-West und damit auch der möglichen Einflußnahmen wür- Konflikts. Deshalb müssen wir erwarten, daß die den abgeschnitten. Wir, die Bundesrepublik Vereinigten Staaten und die Sowjetunion in dieser Deutschland, die EG, aber auch die Vereinigten Konfliktfrage in Kontakt miteinander sind und blei- Staaten sind bereit, bei einem Wiederaufbau dieser ben, um dafür Sorge zu tragen, daß das auch für die Nationen mitzuhelfen. Zukunft nicht Bestandteil des Ost-West-Konflikts wird. Gestatten Sie mir aber noch ein abschließendes Wort. Neben den vielen zu beklagenden Toten ist Wir sind absolut gegen Waffenlieferungen in die die Tragik dieses Krieges, daß mutwillig ein Modell beiden kriegführenden Staaten, für die Entwicklung einer Region zerstört wurde. (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei Dieser Krieg gibt uns aber auch wiederum ein Bei- Abgeordneten der CDU/CSU) spiel dafür, daß nicht nationale, isolierte Sicher- und zwar gleichgültig, von welcher Seite auch im- heitsinteressen einen Frieden retten, sondern daß mer. nur Modelle Wir haben besonderes Verständnis für die wach- (Glocke des Präsidenten) senden Sorgen der Staaten des Golfrates, also Sau- für regionale Sicherheitsstrategien den Frieden si- di-Arabien, Kuwait, Oman, die Emirate Katar und chern können. Bahrain. Wir erwarten, daß die Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ihre Möglichkeiten in der Europäischen Gemein- schaft nutzt, um gerade jetzt die Kontakte zwischen der Gemeinschaft und dem Golfrat zu intensivie- Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- ren. nete Wischnewski. Wir wollen keine Forschungen darüber anstellen, wer schuld ist an diesem Konflikt. Der eine hat Wischnewski (SPD): Herr Präsident! Meine sehr begonnen, und der andere will nicht aufhören. Jetzt verehrten Damen und Herren! Die Welt, in der wir ist die Stunde gekommen, wo beide aufhören müs- leben, ist voller Konflikte, voller Krisen und voller sen im Interesse der Menschlichkeit. Kriege. Der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten- ist besonders gefährlich und besonders unmensch- der GRÜNEN) lich. Hunderttausende von Menschen sind getötet oder verwundet worden, und in grausamster Weise Wir Sozialdemokraten werden streng darüber sind mehr als bei jedem anderen Konflikt Kinder in wachen, daß wir weder direkt noch indirekt in die- diesen Krieg einbezogen worden. Die Ölversorgung sen Konflikt hineingezogen werden. Wir werden ist beeinträchtigt, der Schiffsverkehr im Golf ist be- diejenigen unterstützen, die darum bemüht sind, in troffen, die Gefährlichkeit und Unmenschlichkeit diesem grausamen Konflikt vermittelnd tätig zu dieses Konfliktes ändert überhaupt nichts an seiner werden. Wir fordern beide Seiten auf, diesen grau- Unsinnigkeit. samen und absolut unnützen Krieg endlich einzu- stellen. Welche Haltung soll in dieser Situation die Bun- Vielen Dank. desrepublik einnehmen? Wir haben mit beiden Staaten sowohl diplomatische als auch wirtschaftli- (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei che Beziehungen. Wir müssen sie jetzt in erster Abgeordneten der CDU/CSU) Linie nutzen, um auf beide Seiten im Interesse der Beendigung des Krieges einzuwirken. Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- (Beifall des Abg. Schily [GRÜNE]) nete Schäfer (Mainz). 5578 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Schäfer (Mainz) (FDP): Herr Präsident! Meine Da- einmal auf ein Dilemma hinweisen, in dem wir uns men und Herren! Das, was heute morgen zu früher alle befinden. Auf der einen Seite, Herr Schily, ha- Stunde über den Krieg am Golf gesagt worden ist, ben Sie zu Recht gefordert: keine Waffenlieferun- ist sicher dazu angetan, deutlich zu machen, daß wir gen in diese Region. Wir erinnern uns an die Debat- alle in diesem Bundestag der gleichen Auffassung ten, die wir über Waffenlieferungen an Saudi-Ara- sind, daß wir alle hoffen, daß es möglich sein wird, bien geführt haben. Auf der anderen Seite, Herr diesen Krieg zu beenden, vor allem aber auch, daß Wischnewski, wird gesagt, wir müßten die Golfstaa- wir hoffen, daß der Krieg nicht noch weitere Aus- ten unterstützen. Die Golfstaaten wünschen keine wirkungen auf Nachbarstaaten annehmen wird. direkte Intervention der Großmächte und lehnen Diese Gefahr ist ja täglich gegeben. Ich habe gerade wohl auch die Stationierung europäischer Truppen heute morgen neben den innenpolitischen Nach- in diesem Gebiet ab. richten aus der Bundesrepublik gehört, daß wieder Die Folgerung für uns muß dann sein: Wir sollten ein Tanker der Schweiz vom Irak angegriffen wor- uns überlegen, wie wir diesen Staaten anderweitig den ist. Die Befürchtungen, daß der Höhepunkt die- helfen können. Dann sind wir genau in dem Dilem- ses Krieges noch nicht erreicht worden ist, haben ma, über das wir schon oft genug gesprochen ha- meine Vorredner j a schon zum Ausdruck gebracht. ben: Wir müssen den gemäßigten Staaten Waffen Ich glaube, Herr Schily, daß Ihr Appell an Frie- geben — nicht unbedingt die Bundesrepublik, aber densbewegung, Bundestag, an die internationale andere europäische Mächte —, damit sie sich selbst Öffentlichkeit, von hier aus einen entscheidenden verteidigen können, oder aber die Alternative bleibt Einfluß auf die beiden Staaten zu nehmen, leider nur die Intervention der Großmächte. verpuffen wird. Denn dieser Krieg dauert schon Ich meine, wir müssen uns bei den Auseinander- dreieinhalb Jahre. Solche Versuche sind schon un- setzungen, die wir führen, einmal ehrlich über die ternommen worden. Auch die Vereinten Nationen Analyse in dieser Gegend und über die Folgerun- haben versucht, Wirkung auszuüben, damit der gen, die wir zu treffen haben, klarwerden. Gemein- Waffenexport in diese Region unterbleibt. Wie Herr same Appelle an die Menschlichkeit sind zwar sehr Repnik zu Recht ausgeführt hat, sind es keineswegs wichtig, aber reichen vermutlich nicht aus, um in nur uns nahestehende Industriestaaten, die Waffen dieser Region Frieden zu schaffen. dorthin geliefert haben, sondern es ist erkennbar, daß z. B. die Sowjetunion und die Vereinigten Staa- Vielen Dank. ten sich in ihrer Unterstützung gemeinsam dem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Irak etwas stärker zugewandt haben. Insofern finde ich, daß unser Appell bei unseren guten Kontakten nach West und Ost vor allem da- Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- hin gehen sollte — eine bisher leider nicht aufge- nete Petersen. griffene Möglichkeit —, daß in einem Konflikt, der ganz eindeutig nicht ost-west-orientiert ist, sich die beiden Großmächte einmal zusammensetzen könn- Petersen (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Da- ten, um so etwas wie ein Krisenmanagement zu men und Herren! Wenn wir dieser Debatte folgen — betreiben. Hier ist eine große Chance vertan wor- das kam auch gerade bei Ihnen, Herr Schily, sehr den. Ich glaube, hier kann keiner den anderen ver- deutlich zum Ausdruck —, dann spüren wir alle ein dächtigen, er führe sozusagen Böses ins Spiel. hohes Maß an Hilflosigkeit und Ratlosigkeit ange- sichts eines der grausamsten Kriege, die überhaupt Ich halte die Absicht des Bundesaußenministers, seit dem Zweiten Weltkrieg irgendwo in der Welt noch im Verlauf dieses Jahres, wenn dazu die Mög- stattgefunden haben. lichkeit gegeben ist, den Iran zu besuchen und den irakischen Außenminister hier zu empfangen, für Ich warne vor Uberschätzungen unserer Einfluß- richtig, weil ich glaube, daß Gespräche nach beiden möglichkeiten. Man muß einmal stundenlang mit Seiten notwendig sind. Mullahs im Iran zusammengesessen haben, um zu sehen, was da für Kräfte am Werk sind, die uns mit (Sehr gut! bei der CDU/CSU) unseren rationalen, kühlen, nüchternen Analysen So gering unser Einfluß auf diese Staaten ist, so überhaupt nicht erfaßbar erscheinen. Dort ist etwas gering vor allen Dingen unser Einfluß auf das ist, explodiert, was kein Mensch mehr im Griff hat. Da was Herr Repnik die irrationalen Kräfte in dieser sind Mahnungen und Deklamationen bei den Ver- Region genannt hat, so sehr, meine ich, sollten wir einten Nationen — oder wo auch immer — schön; alle Register ziehen, unser Ansehen in diesem dagegen ist gar nichts zu sagen. Nur liegt da nicht Raum auch dazu zu verwenden, mäßigend zu wir- die Lösung. ken. Ich glaube aber kaum, daß es gelingen kann — alle Erfahrungen sprechen dafür —, auf den Ayatol- Jetzt gibt es viele Mitbürger — nicht nur in die- lah Khomeini und auf die Vorstellungen seiner isla- sem Hause und nicht nur in einer Partei —, die mei- mischen Revolution von uns aus ernsthaft Einfluß nen, das Problem seien Waffen. zu nehmen. Wir wissen, daß alle Versuche in diese (Zuruf von der CDU/CSU: Die Menschen Richtung gescheitert sind, daß man es sich in Tehe- sind es!) ran verbeten hat, in dieser Angelegenheit zu inter- Ja, glauben Sie denn nicht, daß die sich mit Dresch- venieren. flegeln oder mit Spießen totschlagen würden, wenn Wenn wir auch alle erkennen, daß dieser Krieg sie keine Schießgewehre hätten? Das haben wir in grausame Folgen hat, so darf ich doch auch noch unserer europäischen Geschichte doch auch schon Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5579 Petersen erlebt, nämlich dort, wo Kriege und Konflikte reli- uns erst jetzt wieder mit dem vergessenen Krieg giös, ideologisch begründet waren. zwischen dem Irak und dem Iran beschäftigt. Die (Frau Nickels [GRÜNE]: Mit Dreschflegeln Überschriften in unseren Zeitungen sprechen ja können Sie nicht so schnell die Welt in auch nicht in erster Linie von dem Krieg selbst, Brand schießen!) sondern sie sprechen von der Bedrohung unserer Ölversorgung. — Das ist völlig richtig. Deshalb begrüßt auch nie- mand von uns diesen Konflikt. Niemand von uns (Zustimmung bei der SPD) begrüßt auch die Anhäufung von Waffen in diesen In den Stellungnahmen aller Europäer der unter- Räumen. Nur, wer glaubt, daß, wenn es keine Waf- schiedlichsten politischen Richtungen wird davon fen mehr gäbe, automatisch der Friede ausbräche, gesprochen, daß jetzt auch unsere Interessen be- der kennt nicht die Natur des Menschen und die troffen sind. fanatischen, ideologischen Impulse, die dahinter- stecken. Ich sage das ohne Vorwurf an andere, auch ohne Vorwurf an die Fraktion der GRÜNEN, die jetzt die- Deshalb müssen wir uns doch fragen — — sen Antrag gestellt hat und von der Ausweitung des (Zuruf des Abg. Schily [GRÜNE]) Golfkrieges gesprochen hat. Herr Schily, ich — Moment! Ich sage genausowenig, daß die Lösung stimme Ihnen ausdrücklich zu, der Vorwurf muß darin bestünde, möglichst viele Waffen irgendwohin uns alle treffen. zu schicken. Es gibt auch Zeitgenossen, die meinen, (Beifall des Abgeordneten Schily [GRÜ der Friede sei dadurch gewährleistet, daß man mög- NE]) lichst viele Waffen habe. Der Irrsinn des nun schon 45 Monate tobenden Die Frage sitzt sehr viel tiefer, und mit der sollten Kreuzzuges zwischen dem Irak und dem Iran dau- wir uns auseinandersetzen: denn in der Explosion ert an. Er offenbart schreckliche Menschenverach- des Islams werden geistige Kräfte sichtbar, auf die tung hüben wie drüben. Er forderte bisher Hundert- wir keine Antwort wissen. Ich erinnere mich daran, tausende von Toten, Verwundeten und Krüppeln. daß der Herr Bundestagspräsident vor einigen Jah- So beginnt Andreas Kohlschütter einen Artikel in ren einmal ein Seminar mit Experten veranstaltet der „Zeit" vor zwei Wochen über den Golfkrieg. Der hat, die versuchten, diese islamische Revolution, die Artikel trägt die Überschrift „Kein Grund zur Pa- ja nicht nur in diesem Raum explodiert ist, zu ana- nik". Haben wir wirklich keinen Grund zur Panik? lysieren. Auch da war ein hohes Maß an Hilflosig- keit. Deshalb meine ich, was wir tun können und (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) tun müssen, ist — und da würde ich unterstützen, Vielleicht brauchen wir nicht um unsere Ölversor- was der Kollege Schäfer und auch der Kollege Rep- gung zu fürchten, weil genügend Quellen sonstwo nik gesagt haben —, daß wir alle Kontakte mit den sprudeln; das mag so sein. Aber erfaßt uns nicht alle moderaten Kräften, die es in beiden Ländern gibt, Mitleid, Schrecken, wenn wir im Fernsehen die Bil- sorgfältig pflegen, um die zu stärken, also nicht der von den Menschen sehen, die dort sterben? In irgend etwas durch Blockaden abblocken und dabei allen, die zu meiner Generation gehören, müssen bitte, meine Damen und Herren, unseren Einfluß Erinnerungen an ihre Kindheit wach werden. Aber nicht überschätzen. Innerhalb der Interparlamenta- man muß j a einen Krieg nicht selbst miterlebt ha- rischen Union haben Parlamentarier anwesenden ben, um die Bilder in unserem Fernsehen von den Iranern und Irakis massiv zugeredet; aber im Mo- toten Menschen, seien sie nun 14, 16, 18 oder 20 ment — — Jahre alt, als bedrückend zu empfinden. Ob sich die- (Schily [GRÜNE]: Wer macht denn Ge jenigen, die aus Europa oder von sonstwoher Waf- schäfte mit dem Iran? — Schwenninger fen während des Krieges an die Länder verkaufen, [GRÜNE]: Was halten Sie vom Wirtschafts diese Bilder im Fernsehen angesehen haben? — boykott?) Wohl kaum. Sie könnten sonst die Waffen nicht ver- — Ich halte gar nichts vom Wirtschaftsboykott, kaufen. Herr Kollege Petersen, vielleicht denken Sie über das nach, was Sie eben über Waffenliefe- Herr Kollege Schwenninger, aus einem ganz einfa- - chen Grunde: Ich kann nur Einfluß haben, wenn die rungen gesagt haben. Türen offenbleiben. Durch diese Türen müssen wir (Klein [München] [CDU/CSU]: Er hat vor die richtige Haltung dort hineinbringen. her nachgedacht!) Danke schön. Ich glaube nicht an das, was über die Kampfbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) reitschaft der jungen Iraner und Iraker gesagt wird. Ich glaube nicht an das, was über die Opferbereit- der Mütter berichtet wird. Die Mütter im Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- schaft nete Brück. Iran, die Mütter im Irak, sie trauern genauso um ihre gefallenen Söhne, wie die Mütter bei uns es im letzten Krieg getan haben, Brück (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehr- ten Damen und Herren! Über die Ausweitung des (Klein [München] [CDU/CSU]: Keine Ah Golfkrieges und die Verantwortung der Rüstungs- nung, was da läuft!) länder reden wir heute morgen in dieser Aktuellen auch wenn damals in den Todesanzeigen oft von Stunde. Wir beschäftigen uns mit der Ausweitung der „stolzen Trauer" gesprochen worden ist. Auch in des Golfkrieges so, wie sich die Öffentlichkeit bei diesem Krieg gibt es nur Trauer. 5580 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Brück Es ist über die Zahl der Toten gesprochen wor- anderen Teilen der Welt zu erkennen. Europa ist in den. Wir kennen sie nicht genau, aber es sind Hun- seiner Geschichte oft Ausgangspunkt von Kon- derttausende. Es liegen nur Schätzungen vor, aber flikten nicht nur auf dem eigenen Kontinent gewe- wie groß die Zahl auch immer sein mag, es sind sen, sondern auch von Konflikten, die, von europäi- schon zu viele gestorben, und deshalb muß der schen Gegensätzen ausgehend, in andere Teile der Krieg ein Ende finden. Welt getragen wurden. Heute hat Europa die Ver- Vielleicht könnten wir alle dafür sorgen, daß die antwortung, Initiativen des Friedens zu ergreifen. Kriegführenden die Waffen nicht mehr bezahlen Wir können feststellen, daß die erste Aufgabe können, dann nämlich, wenn sie ihr 01 nicht mehr sein muß, eine Ausweitung dieses Konflikts, eine bei uns verkaufen können. Internationalisierung dieses Konflikts zu verhin- (Klein [München] [CDU/CSU]: Sie haben dern. Darauf sind die Bemühungen der Bundesre- doch keine Ahnung, Herr Brück! Worüber gierung, unserer Partner in der Europäischen Ge- reden Sie eigentlich?) meinschaft und auch der Teilnehmer an den Bera- tungen beim Weltwirtschaftsgipfel in London ge- Vielleicht wird das Öl bei uns dann ein bißchen richtet gewesen. knapper, Herr Kollege Klein, vielleicht auch ein biß- chen teurer, aber das wäre ein niedriger Preis für In der Tat, es ist dies nicht ein Krieg, der seine einen Frieden. Ursache im Ost-West-Gegensatz hat. Das ist auch der Grund dafür, daß West und Ost in allen Gesprä- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — chen, die wir führen, gemeinsam nach Lösungen für Klein [München] [CDU/CSU]: Wir kriegen diesen Konflikt suchen. keinen Tropfen 01 aus Persien! So ein Blödsinn! — Weitere Zurufe von der CDU/ Die Bundesregierung hat, wie es ihrer Rüstungs- CSU) exportpolitik seit eh und je entspricht, dafür Sorge getragen, daß aus unserem Lande in die kriegfüh- renden Länder keine Waffen exportiert werden. Das Wort hat der Bundesmi- Präsident Dr. Barzel: Das muß hier klar und eindeutig festgestellt wer- nister des Auswärtigen. den. (Jungmann [SPD]: Und Rüstungsgüter, Genscher, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Herr Minister?) Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren! Der irakisch-iranische Krieg tobt seit fast vier Das ändert nichts daran, daß dieser Krieg mit den Jahren, und niemand wird sich den schrecklichen zur Verfügung stehenden, mit den von anderen Bildern, von denen hier die Rede war, entziehen Ländern gelieferten Waffen geführt wird und daß können, dem schrecklichen Leid, das dieser Krieg diejenigen, die Waffen liefern, diese Waffen den bei- über zwei Völker gebracht hat, und der Aussichtslo- den kriegführenden Staaten aus ganz unterschiedli- sigkeit, die hinter dem Krieg steckt. chen Richtungen und aus ganz unterschiedlichen Motiven zur Verfügung stellen. Niemand wird die tiefen Ursachen dieses Krieges übersehen wollen, bei dem es j a nicht um die Verle- Nur, meine Damen und Herren, die Sie hier für gung einer Grenze in die eine oder die andere Rich- eine Einstellung der Wirtschaftsbeziehungen plä- tung geht; hier ist eine tiefgebende, auch religiös dieren, etwa des Exports von zivilen Gütern oder motivierte Entwicklung gegeben, die in Europa auf des Imports von 01 — wir importieren nur einen wenig Verständnis stoßen mag, für die es aber auch geringen Anteil unserer Energieversorgung —, in der europäischen Geschichte Beispiele gegeben (Zuruf von der SPD: Ein Fünftel!) hat. Ihnen möchte ich sagen: Wer Länder, die sich in Ich denke, daß der Wert dessen, was heute hier einer solchen Lage befinden wir der Irak oder der im Deutschen Bundestag gesagt worden ist, darin Iran, auch noch zusätzlich politisch und wirtschaft- besteht, daß alle Redner zuallererst über die Men- lich in die Isolierung treibt, der beraubt sich des schen gesprochen haben und nicht über wirtschaft- letzten Mittels der politischen Einflußnahme auf liche Interessen. die Begrenzung des Krieges und auf seine schließli- (Zustimmung des Abg. Schily [GRÜNE]) che Überwindung. In der Tat, hier liegt unsere Verantwortung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vielleicht wird uns beim Blick auf diesen Krieg Aus diesem Grunde wird die Bundesregierung und auf andere Kriege, die in anderen Teilen der wie in den zurückliegenden dreieinhalb Jahren Welt — in Kambodscha, in Afghanistan — noch auch in Zukunft an ihrer Politik der strikten Neu- toben, tralität in diesem Kriege, aber der aktiven Einfluß- (Jungmann [SPD]: In Nicaragua auch, Herr nahme auf die Beteiligten festhalten, einer aktiven Außenminister! Und in El Salvador!) Einflußnahme, die sich zuerst gegen die Auswei- deutlich, was in Europa durch eine verantwortliche tung des Krieges richtet und die zugleich darauf Friedenspolitik für diesen Kontinent gewonnen ist. gerichtet ist, diesen Krieg zu überwinden. Das ver- bietet Parteinahme in der einen oder anderen Rich- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tung, es verbietet aber auch, sich der Mittel der poli- Diese Sicherung des Friedens in Europa gibt uns tischen Einflußnahme durch Verkürzung und Be- die Aufgabe, nicht nur an uns in Europa zu denken, schränkung der Beziehungen zu den beiden kriegs- sondern unsere Verantwortung für die Völker in beteiligten Ländern zu berauben. Deshalb unser ak- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5581

Bundesminister Genscher tives Bemühen, durch die Nutzung der politischen Natürlich ist Kritik an den gerade in den letzten und wirtschaftlichen Beziehungen zur Konflikt- Wochen immens zunehmenden sowjetischen Waf- überwindung beizutragen, deshalb unser Bemühen, fenlieferungen an den Irak notwendig, genauso wie Einfluß zu nehmen auf alle, die in der Gefahr sind, Kritik an den anderen Waffenlieferanten notwen- in den Krieg hineingezogen zu werden, deshalb un- dig ist, zu denen j a auch Verbündete der Bundesre- ser Bemühen, auch in Kontakten mit der Sowjet- publik, etwa Frankreich, gehören. Dennoch gibt es union und den anderen Staaten des Warschauer hinsichtlich des Golf-Krieges das Fazit, um noch Pakts dafür zu sorgen, daß dieser ohnehin schon einmal Rosenfeld zu zitieren, daß es der Sowjet- schlimme Krieg nicht noch zum Teil einer Ost union hier weniger um einen strategischen Terrain- West-Auseinandersetzung werden möge. Damit, gewinn, sondern darum geht, strategische Verluste meine Damen und Herren, werden wir unserer Ver- zu vermeiden. antwortung für den Frieden gerecht, aber zualle- Das, was wir brauchen, ist nicht eine Internatio- rerst auch unserer Verantwortung vor den leiden- nalisierung des Konfliktes — da stimme ich dem den Menschen im Irak und im Iran. Außenminister zu; allerdings haben wir sie schon (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — als Internationalisierung der Rüstungslieferungen Zuruf des Abg. Schwenninger [GRÜNE]) und auch als Internationalisierung von Machtpro- jektion —, sondern wir brauchen eine Internationa- Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- lisierung von Konfliktlösungen durch Politik und nete Dr. Soell. Diplomatie, aber auch durch flankierende Maßnah- men der Rüstungskontrolle, zu denen auch die Wie- (SPD): Herr Präsident! Meine Damen deraufnahme amerikanisch-sowjetischer Gesprä- Dr. Soell che über den Indischen Ozean gehört. Insoweit und Herren! Der Kollege Petersen hat von der Hilf- losigkeit gesprochen, in der wir uns, was die Situa- stimme ich dem Kollegen Schäfer zu: Appelle, um tion am Golf angeht, befinden. Dies gilt teilweise dort Frieden oder zumindest Waffenruhe zu stiften, auch für die Großmächte, aber eben auch nur zum reichen nicht aus. Es braucht eine Reihe von Maß- nahmen, zu denen auch solche gehören, von denen Teil. ich gerade gesprochen habe. Ich möchte auf einen Aspekt aufmerksam ma- (Beifall bei der SPD) chen, der häufig aus dem Horizont unserer Betrach- tungen ausgeblendet bleibt. Ich hatte mit Kollegen der CDU und der FDP in der letzten Woche Gele- Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- genheit, in Moskau mit der sowjetischen Seite zu nete Klein (München). sprechen. Gerade wenn wir der sowjetischen Seite vorhalten, daß sie, was ihre Rüstungen in Europa, Klein (München) (CDU/CSU): Herr Präsident! atomar und konventionell, angeht, häufig überzieht, Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr ist doch ein Vorwurf, den die sowjetische Seite uns Bundesaußenminister hat für die Bundesregierung gegenüber erhebt, immer wieder bedenkenswert. erklärt: Wir halten uns an strikte Neutralität bei Sie sagt mit dem Blick auf den Golf, daß 1978, also aktiver Einflußnahme auf die Konfliktüberwin- lange vor Afghanistan, die amerikanisch-sowjeti- dung. Das ist eine Haltung, die von der Fraktion der schen Gespräche über die Begrenzung der Rüstung CDU/CSU voll unterstützt wird. Die Bundesrepu- im Indischen Ozean unterbrochen worden seien blik Deutschland hat keinen, aber auch gar keinen und daß diese Tatsache ihr, der Sowjetunion, sehr Anlaß, in diesem Konflikt für eine der beiden Seiten zu denken gegeben habe. Ich sehe da einen mittel- Partei zu ergreifen. In beiden Ländern werden die baren Zusammenhang mit dem, was sich am Golf Menschenrechte seit Jahr und Tag in einem unvor- abspielt, zumindest was die Einflußgrößen angeht. stellbaren Ausmaß mit Füßen getreten. Aber der Wir sollten uns auch einmal in die Situation hinein- Krieg — und auch das gehört zu einer nüchternen versetzen, in der die Sowjetunion steht. Die ameri- Lagebeurteilung — hat die Position von Ayatollah kanische Seite, die jetzige Administration, tut dies Khomeini im Iran und von Saddam Hussein im leider weniger, wohl aber amerikanische Journali- Irak eher gefestigt. - sten und Wissenschaftler, die über viele Jahre hin- Die Bundesrepublik Deutschland liefert an kei- weg die Lage und die Entwicklung in diesem Raum nen der beiden Kriegsgegner Waffen. Sie hat aller- verfolgt haben. Ich darf hier einmal einen der Mit- dings auch mit keinem von beiden den friedlichen herausgeber der „Washington Post" zitieren, Ste- Wirtschaftsverkehr abgebrochen. Wir sollten in ei- phen Rosenfeld, der vor wenigen Tagen geschrie- ner solchen Debatte — wer immer daran interes- ben hat: Wenn die amerikanische Öffentlichkeit siert sein mag — auch durch noch so kryptische einmal in den Blick nehme, daß die Amerikaner der Bemerkungen und Feststellungen wie „Wir werden Sowjetunion durch halbpermanente Basen be- streng darüber wachen, daß keine Waffen geliefert trächtlich näher seien als Mittelamerika den Verei- werden" nicht den Anschein, den Eindruck erwek- nigten Staaten und dies außerdem eine Region be- ken, daß aus der Bundesrepublik Deutschland eine treffe, die in strategischer Hinsicht einen erheblich der beiden Seiten mit Waffen unterstützt wird. größeren Gewinn ausmache als etwa Mittelameri- ka, dann brauche man, wenn dies einmal umge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kehrt so sei, wenn die Sowjetunion Machtprojek- Lassen Sie uns statt dessen — hier oder im Aus- tion in Mittelamerika in gleichem Umfang betreibe, wärtigen Ausschuß, in dem das zum Teil schon ge- nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was dann schehen ist; die Bundesregierung hat dort über die- in der amerikanischen Politik los sei. ses Thema sehr umfassend berichtet — über die 5582 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Klein (München) wirklichen Ursachen für Unrast und Revolutions- Wir haben an diesem Krieg mitgewirkt, und mein stimmung in jenem Teil der Welt, über den Jahr- Finger zeigt durchaus nicht in eine Richtung, son- tausende alten Kulturantagonismus zwischen dem dern in mehrere Richtungen, und er zeigt auch zu- persischen Hochland und dem Zweistromland rück, weil wir selbst vielleicht auch nicht genug ernsthaft diskutieren. Die unterschiedliche Staats- getan haben, um zu verhindern, daß diese Region in auffassung von Schiiten und Sunniten, die verschie- der Vergangenheit durch Waffenlieferungen von denen strukturellen Rückstände des kolonialen uns aufgerüstet worden ist. Wir liefern nicht mehr Einflusses, der kulturverändernde, ja kulturzerstö- seit Ausbruch des Krieges, aber wir haben vorher rende Aufprall westlicher Technik und Zivilisation die modernsten Waffensysteme in den Iran und in in diesem Teil der Welt und schließlich die direkten den Irak geliefert. und indirekten Auswirkungen des in die Ost-West (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Auseinandersetzungen eingebundenen Nahostkon- flikts, das sind die Themen, meine sehr verehrten Die Franzosen, die Briten, die Rumänen, die Tsche- Damen und Herren, über die wir sprechen sollten, chen, die Koreaner, die Syrier, die Amerikaner und wo es Ansatzpunkte für eine Beruteilung gibt. die Sowjets liefern noch heute. Aber das entschul- digt uns nicht. Da noch vor kurzem Exocet-Raketen Leider gehört zu unserer heutigen Wirklichkeit aus Frankreich in den Irak gekommen sind, frage beispielsweise das Phänomen, daß die internationa- ich, woher die Zünder für diese Raketen kommen. len Bemühungen um eine Beendigung des Krieges, Kommen sie aus der Bundesrepublik Deutschland, von denen hier heute schon mehrfach die Rede war, und bedarf es dazu nicht einer Genehmigung der erst in dem Augenblick wieder auflebten, als zu- Bundesregierung? nächst der Irak, dann aber auch der Iran neutrale Großtanker zu bombardieren begannen. Meine sehr (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) verehrten Damen und Herren, es ist eine der Wann zieht dieses Land — seine Politiker und schrecklichsten Erscheinungen unserer Zeit, daß seine Unternehmer — endlich die Konsequenzen erst durch Mord und Zerstörung einem Problem aus dem Unheil, das mit Kriegswaffenexporten in Aufmerksamkeit zugewandt wird. Länder angerichtet worden ist, in denen Waffen (Zurufe von der SPD) nicht benutzt werden, um Völker zu schützen, son- Es steht schon heute fest, daß es in diesem Krieg dern sie zu unterdrücken, nicht um Kriege zu ver- wie in vielen anderen Kriegen keinen Sieger, son- hindern, sondern sie zu führen und in ihnen zu sie- gen? Wann ziehen wir die Lehre daraus? dern nur Verlierer, Tote, Verletzte, Witwen, Waisen, Obdachlose, Flüchtlinge, Hungernde geben wird. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Herr Schily, ich gestehe Ihnen ehrlich: Ich war ent- Wir wissen spätestens seit 1980, daß der Golf die schlossen, mich sehr kritisch damit auseinanderzu- explosivste Region der Weltpolitik ist. Das hat setzen, daß Sie ein Thema, das im Auswärtigen meine Regierung und Ihre Regierung, Kolleginnen Ausschuß so gründlich behandelt worden ist, sozu- und Kollegen auf der Rechten, nicht davon abgehal- sagen noch einmal agitatorisch aufzubereiten ge- ten, in eine Diskussion über Waffenlieferungen dachten nach Saudi-Arabien zu geraten. Aber Ihre Regie- (Zurufe von den GRÜNEN) rung hat beschlossen, es zu tun. Ich frage: Können — Herr Reents, lassen Sie mich aussprechen —, Sie heute nicht Lehren aus dem schrecklichen aber ich bin nach dem Verlauf dieser Debatte, wenn Krieg am Golf ziehen? Ich frage Sie, Herr Außen- ich die paar polemischen Ausrutscher von Herrn minister: Machen Sie sich die Entscheidung über Schily abrechne, die Waffenlieferung an die Saudis wirklich schwer? Wird der Bundeskanzler zu seinem Wort stehen, (Zurufe des Abg. Schily [GRÜNE]) das er vor dem Auswärtigen Ausschuß auf eine der Auffassung, daß es doch richtig war, daß wir Frage der Kollegin Hamm-Brücher gegeben hat, über dieses Thema heute hier gesprochen haben. uns im Auswärtigen Ausschuß zu informieren, be- (Beifall bei der CDU/CSU) vor das alles in ein Entscheidungsstadium kommt? Muß das überhaupt in ein Entscheidungsstadium- kommen? Noch können wir lernen. Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Herr Abge- Wir können auch noch die Diskussion über eine ordnete Gansel. militärische Intervention in der Golfzone durch die USA im Falle einer Schließung der Straße von Hor- Gansel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und muz kommentieren. Noch ist Zeit zu warnen, daß Herren! Kollege Klein, lassen Sie uns da anknüp- man nicht militärisch reagieren muß, sondern wirt- fen, wo Sie aufgehört haben. Welche Lehren, welche schaftlich und politisch. Das Wichtigste bei einer Nutzanwendungen können wir aus diesem Krieg Schließung der Straße von Hormuz ist — um eine ziehen? Es ist gewiß ein Krieg, für dessen Ausbruch hysterische Reaktion der Erdöl verbrauchenden wir keine Mitverantwortung tragen, wohl aber für Länder zu verhindern —, die Erdölversorgung und seinen Verlauf, für seine Dauer, für seinen Blut- das Preissystem zu sichern: Krisenmanagement. durst. Ich weiß gewiß, daß ein Krieg nicht nur durch Präsident Reagan hat den Vorschlag gemacht, Waffen verursacht wird; aber jeder Krieg braucht daß die Industrieländer bereit sein sollten, dazu Waffen, um ausgetragen zu werden, und er ist um rechtzeitig ihre strategischen Reserven auf den so verlustreicher, je moderner und, wie es wertneu- Markt zu werfen. Dies ist der erste vernünftige Vor- tral heißt, effektiver Waffen sind. schlag. Herr Minister, ich möchte wissen, wie die Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5583

Gansel Bundesregierung dazu steht. Ich möchte wissen, ob meinen, daß sie zu leben hätten. Das ist eine andere Sie alle Ihre Kräfte verwenden werden, um den uns historisch-psychologische Welt. befreundeten Mächten deutlich zu machen, daß (Zurufe von den GRÜNEN) durch eine Intervention dort nichts gelöst wird, al- les schlimmer wird, kein Frieden kommt, sondern — Ach, was Sie sich dauernd aufregen! nur mehr Krieg. Es muß politisch gehandelt wer- Ich halte das, was Kollege Wischnewski gesagt den. hat, für einen hervorragenden Ansatzpunkt. Herr Wischnewski hat darauf hingewiesen, daß die Ira- Wir sollten uns bei den guten wirtschaftlichen ner jetzt zugestimmt haben, daß der Generalsekre- Beziehungen zu beiden kriegführenden Staaten tär der UNO dorthin Beobachter entsendet, und noch einmal fragen: Haben wir wirklich genug für sich der Iran zumindest im zivilen Bereich bereit eine politische und friedliche Lösung getan? Haben erklärt, daß etwas geschieht. Das zeigt aber doch, wir wirklich alle Möglichkeiten auch wirtschaftli- daß wir einen Schimmer von Hoffnung haben, daß chen Einflusses in der Region ausgeschöpft? Haben Appelle, Gespräche, Diskussionen vielleicht doch wir wirklich alles getan? Verfallen wir nicht in von beiden Seiten gehört werden. Wenn es auf der Selbstrechtfertigung und in Selbstgerechtigkeit! einen Seite keinen Schimmer von Hoffnung gäbe, Das ist ein Krieg, in dem Hunderttausende gestor- dann dürfte das doch für uns kein Grund sein, so zu ben sind und noch sterben können und der uns tun, als ob es überhaupt keine Hoffnung gäbe. nicht gleichgültig lassen darf. Hier ist deutlich geworden, daß die Möglichkeiten (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) des Gesprächs und insbesondere die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Beziehungen uns Brücken bie- ten, mit den Menschen dort zu reden. Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- nete Schwarz. Der Krieg ist kein Mittel der Politik. Er war es eigentlich nie. In unserer Zeit ist er überhaupt kein Mittel der Politik. Der Krieg zerstört, anstatt aufzu- Schwarz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr bauen. Aber beide Regierungen, beide Staaten be- geehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob die weisen doch durch ihr Interesse an wirtschaftlichen Bemerkungen, die der Kollege Gansel hier am Beziehungen, daß sie die sozialen und menschli- Schluß gemacht hat, genau das treffen, worüber wir chen Lebensbedingungen der Menschen in ihrer uns heute morgen zu unterhalten haben. Ich glaube, Region verbessern wollen. Hier, so glaube ich, ist es ist deutlich gemacht worden, daß es nicht die ein Ansatzpunkt. Die Ressourcen, die den beiden Waffen sind, die diesen Krieg vom Zaune gebrochen Ländern zur Verfügung stehen, wären viel besser haben, angewandt, um die Lebenbedingungen der Men- schen in dieser Region zu verbessern und zu gestal- (Jungmann [SPD]: Aber mit den Waffen ten, anstatt sie in einem Krieg zu vertun. Sie haben wird er geführt!) nun einmal das Glück, daß sie Rohstoffe haben. Es und wenn es nicht die Waffen wären, mit denen der ist nicht unsere Theorie, daß die Staaten dort die Krieg jetzt geführt wird, dann wären es andere Bedingungen der Menschen verbessern wollen, son- Waffen gewesen, mit denen der Krieg begonnen dern das beweisen die Wünsche des Iran und des und fortgeführt worden wäre. Irak zur Verbesserung der Infrastruktur in Städten (Zuruf der Abg. Frau Nickels [GRÜNE]) und Dörfern. Hier liegt unsere Möglichkeit, liegt unsere Chan- — Ich verstehe nicht, daß Sie nicht einmal in der ce, in Gesprächen mit den Regierungen beider Län- Lage sind zuzuhören, wenn man sich hier hinstellt der und mit befreundeten Staaten, die dort viel- und versucht, einen Gedanken zu fassen. Das ist leicht ein noch offeneres Ohr finden, als dies bei eigentlich das Mindeste, was man sich gegenseitig uns der Fall ist — ich weise darauf hin, daß der zugestehen könnte. Ministerpräsident der Türkei in beiden Ländern ge- Ich glaube, es sind die tiefen religiösen, psycholo- wesen ist, im Iran und im Irak als Nachbarländer —, gischen und historischen Hintergründe, die zum zum Frieden beizutragen und die Freunde, die wir Konflikt in dieser Region geführt haben, daß dieser haben, mit einzusetzen, mit den Menschen dort zu Krieg jetzt mit Waffen — stellen Sie sich vor, das ist reden: Macht Schluß mit dem Krieg und nützt die mir sogar auch bekannt — geführt wird. Aber wir Mittel, die ihr habt, zur Verbesserung der Lebensbe- wissen, daß wir den Konflikt in dem Zustand, in dingungen der Menschen in eueren Ländern! dem er sich jetzt befindet, nicht mit ganz konkreten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Boykottmaßnahmen, Embargomaßnahmen been- den können, weil — so auch in dieser Debatte — ein Stück der Hilflosigkeit, der Ohnmächtigkeit deut- Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat Herr Abgeord- lich geworden ist. In dem Zustand der Hilflosigkeit neter Reents. und der Ohnmächtigkeit befinden sich alle, die sich um die Beendigung dieses Konflikts bemühen. Reents (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen Wir dürfen eines nicht unterschätzen. Ob im Irak und Herren! Ich habe nur noch Zeit für ein paar oder im Iran: Ich glaube nicht, daß es uns hilft, zur kurze Anmerkungen. Lösung des Konflikts beizutragen, wenn wir hier Die erste Anmerkung zu Herrn Repnik. Herr lehrerhaft, oberlehrerhaft meinen, mit bestimmten Repnik, innenpolitisches Kapital schlagen aus die- Akzenten den Leuten sagen zu können, wie wir sem Krieg in der Golfregion diejenigen, die wie Sie 5584 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 Reents hier den Eindruck erwecken, als ob man angesichts hinstellt und im Blick auf die Sowjetunion sagt, wir solcher Kriege und angesichts der Verwicklung der müßten aufpassen, daß die das nicht zum Ost- hochindustrialisierten Staaten in solche Kriege zur West- — Tagesordnung übergehen könne (Klein [München] [CDU/CSU]: Libyen, —Präsident Dr. Barzel: Noch einen Satz, Herr Kolle- Nordkorea, Syrien!) ge. und als ob das Wichtigste nur sei, daß der Handel Reents (GRÜNE): Hiernach habe ich noch eine weiter floriert und daß die Menschen hier über sol- Minute. che Entwicklungen nicht beunruhigt werden und nicht darüber nachdenken, wo denn die tatsächli- Präsident Dr. Barzel: Nein, das ist falsch einge- chen Verbindungen zwischen Rüstungsexport und stellt. Das ist ein technischer Fehler. Ich bitte um solchen Kriegen in der Dritten Welt liegen. Entschuldigung für den technischen Fehler. (Beifall bei den GRÜNEN — Klein [Mün chen] [CDU/CSU]: Nordkorea!) Reents (GRÜNE): Entschuldigung, es liegt ein technischer Fehler in der Zeitangabe vor. Ich darf Eine zweite Anmerkung, und zwar zu Herrn nur noch einen Schlußsatz sagen. Schwarz und Herrn Petersen. Herr Schwarz sprach von tiefen religiösen und psychologischen Gründen, Ich möchte nur auf folgendes zur Frage des Rü- die dieser Krieg habe. Und Herr Petersen hat — stungsexports hinweisen. Es ist nicht einmal in die- nach dem Motto: so sind die Neger halt — darauf sem Haus, auch nicht im Auswärtigen Ausschuß, hingewiesen, daß sie sich dort, auch wenn sie bekannt, was denn beispielsweise aus Rüstungs- Dreschflegel hätten, umbringen würden. koproduktionen von seiten der Bundesrepublik und Frankreichs und der Bundesrepublik und Großbri- (Klein [München] [CDU/CSU]: Unerhört!) tanniens mit in diese Region hineinfließt. Die Bun- Ich habe vorhin in einem Zwischenruf bewußt ge- desrepublik ist Täter und Wiederholungstäter im sagt, daß das ein vornehmer Rassismus ist, der hier Rüstungsexport. Sie gehört deswegen auch zum von Herrn Petersen gepredigt wurde. Kreis der ersten Verdächtigen, an diesem Krieg mitzuwirken. (Klein [München] [CDU/CSU]: Ein billiger Agitator sind Sie!) (Beifall bei den GRÜNEN) Das ist genau die Haltung, die von den Verantwort- Präsident Dr. Barzel: Herr Kollege, das war schon lichkeiten ablenkt und so tut, als ob es nur an der der dritte Satz. Es tut mir leid. Die Regeln sind Natur der Menschen in der Dritten Welt liege, wenn streng. — Das Wort hat der Abgeordnete Stobbe. es zu solchen Kriegen kommt. (Beifall bei den GRÜNEN — Klein [Mün Stobbe (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehr- chen] [CDU/CSU]: Ein Polemiker und Agi ten Damen und Herren! Ich muß sagen, ich fand es tator sind Sie!) sehr gut, daß wir unter dem Stichwort Verantwor- Wenn man von historischen Gründen redet, Herr tung der Rüstungsländer hier heute morgen über Schwarz, dann muß man sie eben darlegen. Herr diesen Konflikt am Golf gesprochen haben. Auch Gansel hat ja schon Beispiele dafür gebracht. ich möchte sagen, daß ich angesichts der Dramatik des Konfliktes dort unten kein Verständnis für die (Klein [München] [CDU/CSU]: Sie verdre Meinung des Kollegen Repnik entwickeln kann, hen die Tatsachen!) dieses Thema sei politisch nicht aktuell und nicht Wer hat denn das Schah-Regime seinerzeit so wert, in einer Aktuellen Stunde diskutiert zu wer- aufgerüstet? Wer ist denn dafür verantwortlich, daß den. es im Iran heute ein solches Khomeini-Regime (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) gibt? Das kann es nur geben, weil es dort vorher das Was Herr Schily gesagt hat, verdient unser aller Schah-Regime mit all seinen Verbindungen von sei- Aufmerksamkeit. Ich finde, das kann eigentlich- je- ten auch der Bundesrepublik gegeben hat. Wer über der in diesem Hause unterstützen. Auch ich habe die historischen Gründe im Irak und sonstwo in die- nur wenige Sekunden Zeit, und ich möchte Sie des- ser Region spricht, der muß auch davon sprechen, wegen — — welche Hinterlassenschaften die ehemaligen Kolo- nialmächte in dieser Region zu verantworten ha- (Unruhe) ben. Die sind mit dafür verantwortlich, daß es zu solchen Situationen kommt. Präsident Dr. Barzel: Meine Damen und Herren, ich bitte — verzeihen Sie, Herr Stobbe, ich rechne (Beifall bei den GRÜNEN) das natürlich Ihrer Redezeit hinzu — um Ruhe auf Eine dritte Anmerkung. Das schwedische Frie- allen Seiten des Hauses. densforschungsinstitut SIPRI hat davon gespro- Ich darf auf die Geschäftslage hinweisen. Wir wer- chen, daß es insgesamt 40 Staaten gebe, die auf die den noch einen Redner in der Aktuellen Stunde eine oder auf die andere Seite — und manche sogar hören und dann vor der folgenden Abstimmung ei- auf beide Seiten — Rüstungsexport betrieben. Man nen Umgang mit Beiträgen von bis zu fünf Minuten kann sich nicht herausreden, wie es der Bundesau- Dauer für die Begründung haben. Dann werden wir ßenminister mal wieder getan hat, der sich, wenn er zu dem anderen Punkt der Tagesordnung kommen. einmal ein bißchen konkret werden soll, immer nur Ich bitte Sie fortzufahren, Herr Kollege Stobbe. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5585

Stobbe (SPD): Herr Bundesaußenminister, Präsi- Ich rufe den gestern zurückgestellten Tagesord- dent Reagan hat kurz vor dem Londoner Gipfel den nungspunkt 2 auf: Vorschlag gemacht, im Falle einer Ausweitung des Fortsetzung der Beratung des Dritten Im- Konfliktes am Golf die strategischen Ölreserven missionsschutzberichts der Bundesregie- freizugeben — als einen Beitrag dazu, Hektik zu rung vermeiden. Ich hätte es wirklich für vernünftig ge- halten, wenn Sie sich zu diesem Vorschlag hier vor hier: Entschließungsantrag der Fraktion dem Hohen Hause geäußert hätten bzw. noch äu- DIE GRÜNEN (Abstimmung) ßerten; denn das ist tatsächlich der politischste An- — Drucksache 10/1587 — satz, den ich bisher gehört habe, um im Falle eines Zu diesem Entschließungsantrag liegt ein Ände- Falles zu einer vernünftigen und ruhigen Handha- rungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, bung zu kommen. FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN auf Druck- (Beifall bei der SPD) sache 10/1683 vor. Ich gehe davon aus, daß damit Dann ein Wort an Sie, Herr Bundeskanzler: Sie die Änderungsanträge der Fraktion der SPD auf haben versprochen, daß Sie den Auswärtigen Aus- Drucksache 10/1683 und der Fraktion der CDU/CSU schuß über das informieren wollten, was Ihre Re- und FDP auf Drucksache 10/1670 zurückgezogen gierung an Waffenlieferungen an Saudi-Arabien sind. plant, die die SPD bekanntlich ablehnt. Ich möchte Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Sie ausdrücklich fragen, ob Sie bei dieser Zusage Das ist der Fall. Es ist interfraktionell eine Runde bleiben und wie Sie das angesichts der bevorste- mit längstens bis zu fünf Minuten Redezeit verabre- henden Sommerpause eigentlich machen wollen; det. Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer. denn wir möchten nach der Sommerpause nicht überrascht werden. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Schmidbauer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Umweltschutz Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- ist und bleibt ein zentrales Thema unserer Politik. nete Klein (München). Regierungserklärung und Stellungnahmen der CDU/CSU-Fraktion haben dies in der Vergangen- heit sehr deutlich gemacht. Die von uns getroffenen Klein (München) (CDU/CSU): Herr Vorsitzender! Entscheidungen bewähren sich und beginnen zu Meine Damen und Herren! Ich nutze die uns ver- greifen. Die beschlossenen Maßnahmen wie die bleibende Redezeit nur zu wenigen Bemerkungen. Großfeuerungsanlagen-Verordnung und die Techni- (Zuruf von der SPD: Hoffentlich!) sche Anleitung Luft mögen als Beispiele dafür ge- Wir haben eine ziemlich vernünftige Debatte zu die- nannt werden und waren die ersten Schritte auf ser Frage heute früh führen können. Es kann natür- diesem Wege. lich nicht so gehen, Herr Reents, daß wir bis zu In dem Entschließungsantrag der CDU/CSU einem bestimmten Punkt, von dem Sie glauben, es Fraktion vom 9. Januar 1983 wird deutlich zum Aus- sei der Schluß, vernünftig und fair miteinander um- druck gebracht, daß wir den Emissionsminderungs- gehen und Sie dann am Ende ans Rednerpult treten maßnahmen zur Reinhaltung der Luft eine beson- und aus diesem Bundestag ein Agitationsforum ma- dere Priorität beimessen. Wir haben die Bundesre- chen. gierung aufgefordert, die notwendigen Maßnahmen (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch zu ergreifen, um insbesondere auch bei den soge- bei den GRÜNEN) nannten Altanlagen noch schneller und weitgehen- Ihre billigen Unterstellungen und Verdächtigungen der zu einer Minderung der Emissionen zu kom- der Bundesrepublik Deutschland weise ich hiermit men. Dies kann in einigen Fällen zu Schwierigkei- schärfstens zurück. ten führen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein weiteres ist deutlich geworden, nämlich- daß in den letzten Jahren die Umweltbelastung und da- Herr Reents, mit dieser Masche werden Sie — glau- mit auch die Schäden zugenommen haben. Es kann ben Sie mir das — nicht lange durchhalten. Die deshalb nicht beim Beklagen und Beschreiben des Medien werden recht früh von den Grünen und Zustandes bleiben. Wir sind zum Handeln aufgeru- ihren Mätzchen gelangweilt sein. Die jungen Leute fen. Jeder, der in den letzten Monaten unsere Poli- werden Ihnen keine Glaubwürdigkeit mehr zu- tik verfolgt hat, weiß, daß wir dazu bereit sind. trauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Der Verlauf der multilateralen Umweltkonferenz Horacek [GRÜNE]: Das ist doch Quatsch, in München macht deutlich, daß wir große Anstren- was Sie erzählen!) gungen unternehmen, um international im Hinblick auf unsere Umweltschutzpolitik zu einer großen Übereinstimmung zu kommen. Deshalb ist es wich- Präsident Dr. Barzel: Meine Damen und Herren! tig, auch im nationalen Bereich an der Glaubwür- Ich bitte, Platz zu nehmen. digkeit und Konsequenz unserer Politik keine Zwei- (Zurufe von den GRÜNEN: Warum antwor fel aufkommen zu lassen. tet der Bundeskanzler nicht?) Ich habe bereits am 8. Juni 1984 erklärt, daß es Die Aktuelle Stunde ist beendet. auch in bezug auf das Kraftwerk Buschhaus vor 5586 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Schmidbauer 1988 möglich sein muß, eine Senkung der Schad- Schwefelschadstoffe produziert wie das alte. In stoffemissionen zu erreichen. nüchternen Zahlen ausgedrückt: Pro Megawatt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) elektrische Leistung produziert Buschhaus 420 Ton- nen Schwefeldioxid und Offleben 188 Tonnen. Mehr Diesem Ziel trägt unser heutiger Antrag Rechnung. Dreck und weniger Strom — das kann nicht der Wir fordern die Bundesregierung auf, daß erstens Leitsatz der Energiepolitik sein. das Kraftwerk Buschhaus nicht ohne Rauchgasent- schwefelungsanlage in Betrieb genommen wird, (Beifall bei der SPD) und zwar mit dem bestmöglichen Wirkungsgrad — Das Problem ist auch lösbar. Die Entschwefelung bestmöglich, das heißt auch Optimierung zwischen ist möglich. Sie kostet Zeit und Geld; das ist richtig. Grenzwert und zeitlicher Realisierung. Deswegen erwarten wir von der Bundesregierung, Wir fordern zweitens, daß bereits vor 1988, späte- daß sie ihren Beitrag aus gesamtstaatlicher Verant- stens bei Inbetriebnahme des Kraftwerkes Busch- wortung leistet, um dieses Umweltproblem zu lösen haus, die bisherige Schwefeldioxidgesamtemission und die Beschäftigung der Arbeitnehmer zu si- deutlich reduziert wird. Auch dies ist eine Konse- chern. Wir betonen die Notwendigkeit, beide Seiten quenz unseres Entschließungsantrages. Es heißt zu sehen. Arbeit und Umwelt müssen gesichert wer- dort: Unternehmen im Besitz der öffentlichen Hand den. Dies bleibt das Grundprinzip unserer Umwelt- sollen im Umweltschutz beispielhaft vorangehen. politik. Dem wird durch unsere Forderung Rechnung getra- gen. (Beifall bei der SPD) Wir fordern drittens, daß nach dem Stand der Deswegen sind wir Sozialdemokraten auch dafür Technik die NOx-Emissionen spätestens ab 1988 eingetreten, die Bundesregierung aufzufordern, wie mit dem Ziel verringert werden, auf höchstens 200 es wörtlich im gemeinsamen Antrag heißt, „daß mg/m 3 NOx im Abgas zu kommen. auch während der Durchführung der Maßnahmen Viertens im Hinblick auf die Sicherung der Ar- zum Schutz der Umwelt die Beschäftigung der Ar- beitnehmer bei BKB sichergestellt wird". beitsplätze im Kraftwerk ist die Beschäftigung der Arbeitnehmer während der Durchführung der Maß- (Beifall bei der SPD) nahmen sicherzustellen. Buschhaus ohne Entschwefelung produziert weit Wir verkennen nicht, daß unser Antrag zu finan- über 100 000 Tonnen Schwefeldioxid im Jahr. ziellen Schwierigkeiten führen kann. Wir bitten Buschhaus mit Entschwefelung produziert nur deshalb die Bundesregierung, alle Möglichkeiten fi- noch 6 000 Tonnen Schwefeldioxid; das sind 4 % der nanzieller Unterstützung — auch auf EG-Ebene — ursprünglichen Schadstoffmenge. zu nutzen, damit im Hinblick auf eine Verbesserung des Umweltschutzes und der modernen Technolo- Meine Damen und Herren, diese Maßnahme gie ein weiterer Schritt nach vorn getan werden macht die Kohle umweltfreundlich, diese Maß- kann. nahme macht die Kohle populär. Das ist praktische Kohlevorrangpolitik, und das wollen wir Sozialde- Wir begrüßen die Absicht der niedersächsischen mokraten, weil wir wissen: Nur so ist die Zustim- Landesregierung, für das Kraftwerk Offleben II mung zu einer Energiepolitik für die Kohle zu er- eine Rauchgasentschwefelung einbauen zu lassen halten. und das Kraftwerk Offleben I zum frühestmögli- chen Zeitpunkt, spätestens mit Inbetriebnahme des (Beifall bei der SPD) Kraftwerks Buschhaus, in die Kaltreserve zu über- Auch im Interesse der Menschen in Berlin muß nehmen. Buschhaus entschwefelt werden. Berlin ist die Mit unserem Antrag — das sollte allen Beteilig- Stadt in Mitteleuropa mit den meisten Smogalar- ten klar sein — wird den Erfordernissen Erhaltung men. Diese Stadt verträgt keine weiteren Belastun- der Arbeitsplätze insbesondere im Bergbaubereich, gen. Im Gegenteil, es muß zu Entlastungen kom- Verbesserung der Umweltsituation sowie Erpro- men. Dazu sind Verhandlungen mit der DDR not- bung neuer Entschwefelungstechnologien für die wendig. Wir werden solche Verhandlungen nicht Salzkohle Rechnung getragen. mit Aussicht auf Erfolg führen können, wenn wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht bei unseren eigenen Kraftwerken mit gutem Beispiel vorangehen. Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- (Beifall bei der SPD) nete Hauff. Dies gilt natürlich auch für die überfälligen Ver- handlungen mit der CSSR, um vor allem im ober- Dr. Hauff (SPD): Herr Präsident! Meine Damen fränkischen Raum die Luft zu verbessern und das und Herren! Buschhaus ist ein Testfall für die Waldsterben zu stoppen. Glaubwürdigkeit der Umweltpolitik in unserem Land. Die Luftverschmutzung hat verheerende Folgen. Bauwerke und Denkmäler unserer Kultur werden (Beifall bei der SPD) zerstört. Die Wälder sterben. Die Gesundheit der Es macht keinen Sinn, das Kraftwerk Buschhaus in Menschen, vor allem der kleinen Kinder wird ge- Betrieb zu nehmen und dafür andere Kraftwerke in fährdet. Diese Alarmsignale sind unüberhörbar. Offleben stillzulegen oder zu reduzieren, obwohl Deswegen muß gehandelt werden. Die Zeit drängt. das neue Kraftwerk im Schnitt doppelt soviel Auch hier gilt der Satz von Carlo Schmid, daß Poli- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5587

Dr. Hauff tik darin bestehen muß, das Notwendige möglich zu Schwierigkeiten scheitern darf, meine Damen und machen. Herren. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP) Dies gilt eben auch für das Kraftwerk Buschhaus. Die Luftreinhaltepolitik hat Priorität in der Um- Wir Sozialdemokraten stimmen der Entschlie- weltpolitik der Bundesregierung. Dies ist ein wichti- ßung geschlossen zu. ger Schritt. Ich möchte ausdrücklich begrüßen, daß die Konferenz in München stattgefunden hat. Ich (Lebhafter Beifall bei der SPD) möchte sagen, sie war ein Erfolg; sie war schon des- halb ein Erfolg, weil Ost und West an einem Tisch Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- gesessen haben. Es ist ein Schritt nach vorn ge- nete Baum. macht worden. Wir würden uns nicht sehen lassen können, meine Damen und Herren, wenn wir heute nicht gemeinsam das beschließen und das tun, was Baum (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und wir zu Hause tun müssen, um international endlich Herren! Dieser Antrag entspricht Anträgen, die die einen Durchbruch zu erzielen. FDP-Fraktion im niedersächsischen Landtag und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) im Abgeordnetenhaus in Berlin gestellt hat. Der Prozeß der Emissionsminderung kann und muß be- schleunigt werden. Nach dem Stand der Technik Präsident Dr. Barzel: Das Wort hat der Abgeord- kann das Kraftwerk Buschhaus mit einer Rauch - nete Ehmke (Ettlingen). gasentschwefelungsanlage ausgestattet werden. Ich verweise auf einen Brief, den der Bundesinnenmi- nister am 18. November 1983 an den Senator für Dr. Ehmke (Ettlingen) (GRÜNE): Herr Präsident! Stadtentwicklung in Berlin gerichtet hat. Ich mache Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und mir das zu eigen, was Herr Zimmermann schreibt: Freunde! Die Fraktion der GRÜNEN hat als einzige Auch ich betrachte diesen Kraftwerksneubau Fraktion am 8. Juni einen Entschließungsantrag als einen besonderen Problemfall. Mein Haus eingebracht, der die zur Zeit bestmögliche Entgif- hat bereits im Jahre 1977 sowie in weiterem tung des Kraftwerks Buschhaus zum Ziele hatte. Schriftwechsel gegenüber dem niedersächsi- Ich stelle fest, daß unser Anliegen erfreulicherweise schen Sozialminister die Auffassung vertreten, auch bei den anderen Fraktionen Zustimmung daß nach dem Stand der Technik der Einbau fand, so daß sich alle Parteien dieses Hauses auf einer Entschwefelungseinrichtung gefordert einen gemeinsamen Antrag einigen konnten. werden kann. Ich kann jedoch nicht verhehlen, daß uns die Zu- Leider ist sie damals nicht gefordert worden. Jetzt stimmung zu dem gemeinsamen Antrag, der muß dies nachgeholt werden. Ich bin der Meinung, zwangsläufig Kompromisse enthalten muß, nicht daß gerade die öffentlichen Hände und die Unter- leichtgefallen ist. Ich will die Schwierigkeiten ganz nehmen im Besitz der öffentlichen Hände hier bei- kurz erklären. spielgebend sein müssen. Erstens. Ziel unserer Vorstellungen ist es, (Beifall bei der FDP) die SO2-Emission des fertigen Kraftwerks Busch- Unbestreitbar mögliche und notwendige Umwelt- haus auf Werte abzusenken, die deutlich unter schutzmaßnahmen dürfen nicht zu einem späteren 400 mg/m 3 liegen. Dies kann man durch entspre- Zeitpunkt durchgeführt werden. Wir können es chende Entschwefelungsmaßnahmen erreichen, nicht zulassen, meine Damen und Herren, daß ein durch Vorentschwefelung der Kohle oder durch nagelneues Kraftwerk mit Emissionswerten in Be- Verbrennung schwefelärmerer Kohle. Lassen wir trieb geht, die diejenigen der ältesten Altanlagen die beiden letzteren Möglichkeiten einmal beiseite, noch überschreiten. obwohl sie durchaus interessante Aspekte bieten. Wir haben uns im Antrag auf die Entschwefelung (Beifall bei der FDP) der Rauchgase konzentriert und gemeinsam den Wie wollen wir, meine Damen und Herren, auf bestmöglichen Wirkungsgrad dafür gefordert. Dies internationale Konferenzen gehen — wir haben ja bedeutet, daß nach den derzeitigen Kenntnissen, gerade eine internationale Konferenz hinter uns —, besonders nach dem sogenannten Rentz-Gutachten, wenn wir selbst zu Hause nicht das tun, was wir tun bei der Salzbraunkohle Schwefeldioxidemissions- können? Insofern hat Buschhaus eine Symbol- und werte um oder sogar unter 250 mg/m 3 eingehalten eine Signalwirkung. Wir setzen uns nachdrücklich werden müssen und auch können. Die Angabe die- dafür ein, daß Buschhaus erst dann in Betrieb geht, ses Wertes wäre uns GRÜNEN eigentlich lieber ge- wenn die Nachrüstung erfolgt ist. wesen. Wir sind uns über die Problematik im klaren, die Zweitens. Je nach Wahl des Entschwefelungsver- damit entsteht. Wir wollen alles tun für die Erhal- fahrens ist mit Folgeproblemen zu rechnen. Verfah- tung der Arbeitsplätze. Wir sind der Meinung, daß ren der nassen Rauchgaswäsche benötigen be- auch öffentliche Mittel bereitgestellt werden müs- trächtliche Mengen Kalk, dessen Förderung auch sen, sei es vom Bund, sei es von der EG. Wir begrü- mit ökologischen Beeinträchtigungen verbunden ßen die Feststellung der Bundesregierung, daß der ist. Denken Sie nur an die zahlreichen Kalkstein- Einbau der Rauchgasentschwefelung nach dem brüche, die man dann zusätzlich in der Landschaft neuesten Stand der Technik nicht an finanziellen anlegen müßte. 5588 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Dr. Ehmke (Ettlingen) Zudem sind die Endprodukte, meistens Gips, oft Zunächst einmal ist das nur ein Signal. DIE GRÜ- stark mit Schwermetallen und anderen Schadstof- NEN werden genau aufpassen, wie das Signal in fen verunreinigt. Der Absatz solcher Produkte, etwa Hannover ankommt. Nehmen Sie die Begründung auf dem Baustoffmarkt oder als Düngemittel, ist des Antrags ernst. Denken Sie an die vielen Kraft- deshalb sehr erschwert, äußerst problematisch und werke im Besitz der öffentlichen Hände, wo schnel- vollkommen ungesichert. Es müßten deshalb nicht les Handeln wie im Fall Buschhaus möglich wäre. unerhebliche Deponieflächen für die Ablagerung Lassen Sie diesem Signal jetzt Taten folgen. der Endprodukte vorgesehen werden. Daher wäre Ich danke Ihnen. es aus unserer Sicht ökonomisch und ökologisch sinnvoller, solche Verfahren für Rauchgasent- (Beifall bei den GRÜNEN) schwefelung voranzutreiben, deren Endprodukte als Rohstoffe verkauft werden können und deshalb Präsident Dr. Barzel: Wir kommen zur Abstim- keine Deponieflächen benötigen. Eines der im mung. Wer dem Antrag auf Drucksache 10/1683 zu- Rentz-Gutachten untersuchten Verfahren ent- zustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- spricht diesen Bedingungen. Bei diesem Verfahren chen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltun- entsteht Elementarschwefel, der z. B. in der chemi- gen? — Bei wenigen Enthaltungen und, wenn ich schen Industrie als Rohstoff Verwendung finden recht gesehen habe, bei 1 Gegenstimme ist der An- kann. trag angenommen. Dasselbe Verfahren hätte auch den Vorzug, daß es Schwefeldioxidemissionswerte von unter 250 mg Ich rufe Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf: pro m 3 erreicht. Die Braunschweigischen Kohle- Eidesleistung des Bundesministers für Wirt- bauwerke als Betreiber von Buschhaus sollten des- schaft halb keine Verzögerungstaktik betreiben, indem sie Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben noch einmal neue Gutachten in Auftrag geben — vom 27. Juni 1984 mitgeteilt, daß er auf Vorschlag wie sie es derzeit tun —, sondern das erwähnte Ver- des Herrn Bundeskanzlers den Bundesminister Dr. fahren einsetzen. Die BKB müssen sich, wie viele aus seinem Amt entlassen Kraftwerksbetreiber, sagen lassen, daß die Kennt- und Dr. Martin Bangemann zum Bundesminister nisse ausreichen, um sofort ans Werk zu gehen, für Wirtschaft ernannt hat. damit die Wälder noch eine gewisse Chance des Überlebens haben, damit die Gesundheitsgefähr- Nach Art. 64 des Grundgesetzes leisten die Bun- dung durch Luftschadstoffe nicht noch weiter zu- desminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 nimmt. des Grundgesetzes vorgeschriebenen Eid. Ich bitte Sie, Herr Bundesminister für Wirtschaft, zur Eides- Drittens. Wenn wir an die Gesamtemission im leistung heranzutreten. Raum Helmstedt denken, also Buschhaus plus (Die Anwesenden erheben sich) Offleben I und II, dann haben wir auch Bauchweh bei der Antragsformulierung zu Offleben II. DIE Herr Bundesminister, ich lese Ihnen die Eidesfor- GRÜNEN begrüßen ausdrücklich nicht die bishe- mel vor und bitte, den Eid mit den Worten „Ich rige Haltung der niedersächsischen Landesregie- schwöre es, so wahr mir Gott helfe" oder „Ich rung, die Fristen der Großfeuerungsanlagen-Ver- schwöre es" zu bekräftigen. ordnung voll auszuschöpfen. Wir treten im Sinne Der Eid lautet: der in der Begründung richtig erwähnten beispiel- Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle gebenden Rolle der öffentlichen Hände im Umwelt- des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen schutz dafür ein, daß Offleben II sofort entschwefelt mehren, Schaden von ihm wenden, das Grund- und sofort, zumindest durch feuerungstechnische gesetz und die Gesetze des Bundes wahren und Maßnahmen, eine Verminderung der Stickoxide verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft er- herbeigeführt wird. füllen und Gerechtigkeit gegen jedermann (Beifall bei den GRÜNEN) üben werde. Ich könnte noch einige weitere Probleme nennen, Ich frage Sie, Herr Bundesminister: Sind Sie bereit, die wir mit dem Antrag haben. Ich muß mir das den Eid zu leisten? jetzt aber ersparen. Eine Feststellung sei mir noch zum Schluß ge- Dr. Bangemann, Bundesminister für Wirtschaft: stattet. Die Tatsache, daß es nach zähem Ringen zu Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe. einem gemeinsamen Antrag in Sachen Buschhaus gekommen ist, zeigt meines Erachtens, daß nicht Präsident Dr. Barzel: Damit haben Sie den Eid nur die technische Machbarkeit und die wirtschaft- geleistet, den das Grundgesetz vorsieht. Ich wün- liche Vertretbarkeit der Vorschläge anerkannt wird, sche Ihnen Segen und Erfolg für unser Volk. die die Bürgerinitiativen vor Ort, die Umweltbewe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gung und die GRÜNEN in mühevoller und oft be- hinderter Arbeit zusammengetragen haben. Der Meine Damen und Herren, ich möchte zugleich Antrag zeigt außerdem, daß erstmalig auch der poli- dem scheidenden Bundesminister für Wirtschaft tische Wille bei allen vier Fraktionen vorhanden ist, Otto Graf Lambsdorff den Dank des Deutschen Parteitagsbeschlüsse und programmatische Aussa- Bundestages für seine Arbeit aussprechen. gen wenigstens ein kleines Stück weit in die Tat (Langanhaltender lebhafter Beifall bei der umzusetzen. FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5589

Präsident Dr. Barzel Meine Damen und Herren, wir fahren in der Ta- Und, Graf Lambsdorff, ich will auch persönlich aus gesordnung fort. Ich rufe die Tagesordnungspunkte den 21 Jahren unserer Zusammenarbeit in der von 27 und 28 auf: mir geführten Bundesregierung hinzufügen — — 27. Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- (Dr. Vogel [SPD]: Gott bewahre! — Zurufe rung zu den Ergebnissen des Weltwirt- von der SPD: 21 Jahre? — 21 Monate! — schaftsgipfels in London und zum EG-Gipfel Weitere Zurufe von der SPD — Heiter in Fontainebleau keit) 28. Beratung der Beschlußempfehlung und des — 21 Monaten! Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- (Heiterkeit) schuß) zu den Unterrichtungen durch die Herr Kollege Vogel, nachdem Sie den lieben Gott in Bundesregierung die Debatte eingeführt haben, will ich Konrad Ade- Mitteilung der Kommmission der Europäi- nauer zitieren. Der hätte in diesem Augenblick ge- schen Gemeinschaften — Die zukünftige Fi- sagt, es ist dem lieben Gott überlassen, ob es so sein nanzierung der Gemeinschaft — wird, und nicht Ihnen. Vorlage der Kommission der Europäischen (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU Gemeinschaften — Zurufe von den GRÜNEN — Zuruf des Abg. Dr. Vogel [SPD]) Die zukünftige Finanzierung der Gemein- schaft: Vorschlag für einen Beschluß über Ich will es wiederholen: In den 21 Monaten unse- die eigenen Mittel rer Zusammenarbeit habe ich Sie, Graf Lambsdorff, als einen fairen Kollegen und als einen charakter- — Drucksachen 10/358 Nr. 48, 10/329, vollen Mann erlebt. Ich spreche Ihnen noch einmal 10/1583 — namens der Bundesregierung — und ich darf das Berichterstatter: auch persönlich, auch in meinem Namen sagen — Abgeordnete Hoffmann (Saarbrücken) den herzlichen Dank für Ihre Arbeit aus. Borchert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist ver- Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen einbart, die Tagesordnungspunkte 27 und 28 in ver- und Herren, vor zwei Tagen ist in Fontainebleau bundener Beratung zu behandeln und die Beratung das zweite Treffen der Staats- und Regierungschefs auf vier Stunden zu begrenzen. Sind Sie damit ein- der Europäischen Gemeinschaft in diesem Jahr er- verstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch; dann folgreich zu Ende gegangen. ist so beschlossen. (Horacek [GRÜNE]: Wieder ein Fiasko!) Das Wort hat der Herr Bundeskanzler. Ich kann das Ergebnis kurz und eindeutig zusam- menfassen: Diese Zusammenkunft von Fontaine- bleau hat Europa einen deutlichen und entscheiden- Dr. Kohl, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine den Schritt nach vorn gebracht. sehr verehrten Damen und Herren! Bitte erlauben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie mir, daß ich zu Beginn meiner Ausführungen ein Wort des Dankes an den ausscheidenden Bun- Das ist das Verdienst aller Beteiligten, es ist aber desminister Otto Graf Lambsdorff richte. auch und vor allem das Verdienst des persönlichen Einsatzes der französischen Präsidentschaft unter (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und Leitung des französischen Präsidenten François der FDP) Mitterrand. Sie, Graf Lambsdorff, haben der Bundesregie- Der Ausgangspunkt dieser Beratungen war — rung sieben Jahre als Bundesminister für Wirt- das darf ich hier noch einmal in Erinnerung rufen schaft angehört. Sie haben dieses Amt mit großem — das Treffen des Europäischen Rates in Stuttgart persönlichen Einsatz, mit außerordentlicher Sach- vor jetzt einem Jahr. Dort hatten wir uns- — trotz kunde und mit dem Engagement Ihrer ganzen Per- gleichzeitiger großer nationaler Belastungen in der sönlichkeit geführt. Jeder von uns weiß — und das Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Neu- kann man ganz wörtlich so sagen —, daß Sie eine orientierung der Wirtschaftspolitik — die klare Auf- starke, eine kämpferische Persönlichkeit sind. Auf gabe gestellt, auch in Europa die eingetretene den verschiedensten Seiten des Hauses haben wir Stagnation zu überwinden und der Weiterentwick- das in großen Parlamentsdebatten, auch und vor lung der Gemeinschaft neue Impulse zu geben. allem in leidenschaftlichen Sachdebatten miteinan- Es ging in Stuttgart um die wachsenden Agrar- der erlebt. Mut, Leidenschaft und ein hohes Pflicht- überschüsse, um die fehlende Ausgabendisziplin, bewußtsein haben Ihre Amtsführung ausgezeich- um das Ungleichgewicht des Gemeinschaftshaus- net. Sie haben sich im In- und Ausland als eine Per- halts einschließlich des britischen Beitragspro- sönlichkeit mit großer fachlicher Kompetenz für blems und nicht zuletzt um die Bemessungsgrenze unser Land und für Sie persönlich Ansehen erwor- für die Eigeneinnahmen der Gemeinschaft in Ver- ben. Ich darf Ihnen für Ihren Dienst namens der bindung mit dem zum 1. Januar 1986 erstrebten Bei- Bundesregierung den herzlichsten Dank ausspre- tritt von Spanien und Portugal. Ich erwähne diese chen. wenigen Punkte, um die wichtigsten Probleme noch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einmal in Ihre Erinnerung zu rufen. 5590 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bundeskanzler Dr. Kohl Mit dem Verknüpfen all dieser Fragen haben wir gige Vollendung des europäischen Binnenmarktes in Stuttgart für jedermann klargemacht, daß Eu- ebenso wie die Rückkehr zu Mehrheitsentscheidun- ropa kein Selbstbedienungsladen für bestimmte gen im Ministerrat. Auf der Tagesordnung stehen Einzelinteressen ist, sondern ein Gemeinschaftsun- gemeinsame Anstrengungen für Forschung und ternehmen, zu dem jeder seinen eigenen Beitrag Weltraumtechnik und mit einer besonderen Priori- leisten muß. tät — ich bin heute in der glücklichen Lage zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sagen, nicht nur für uns, für die Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für die anderen Partner Meine Damen und Herren, heute, sechs Monate in der EG — das konkrete Durchsetzen von mehr nach dem Fehlschlag von Athen und drei Monate Umweltschutz in Europa. Hier, das will ich beson- nach dem wichtigen Teilergebnis von Brüssel, kön- ders betonen, hat sich auch im Psychologischen ge- nen wir feststellen, daß dieses Konzept, daß der genüber Stuttgart in diesem Jahr im Rat Entschei- Weg von Stuttgart richtig war. Mit dem Erfolg der dendes verändert, und zwar zum Guten. Tagung in Fontainebleau hat sich erwiesen, daß un- sere Strategie für einen neuen Anlauf zur Belebung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Gemeinschaft den Kern des Problems getroffen hat. Damit, meine Damen und Herren, sind wir be- Meine Damen und Herren, neben vielen anderen reits bei dem, was ich das Europa der Bürger nen- bedeutsamen Fragen konnten in diesen Tagen zwei nen möchte. Ich denke dabei an die Reduzierung wichtige Fragen endgültig geklärt werden: Nach und den Abbau der Kontrollen im Personengrenz- jahrelangen Auseinandersetzungen konnte die verkehr. Dies wird zuerst zwischen Deutschland Frage des britischen Beitrags bzw. der Kompensa- und Frankreich verwirklicht werden. Entspre- tion für die zu hohe Beitragsleistung Großbritan- chende Absprachen mit den Beneluxländern wer- niens in einer fairen Weise gelöst werden. Nicht den bald folgen. Welchen Stellenwert der Präsident zuletzt die deutschen Vorschläge haben dazu beige- der französischen Republik und ich dieser Frage tragen, in dieser schwierigen Frage einen tragfähi- beimessen, können Sie daraus ersehen, daß wir im gen Kompromiß zu erzielen. Blick auf die in nächster Zukunft zu treffenden Ent- scheidungen persönliche Beauftragte benannt ha- An zweiter Stelle ging es darum, um Verständnis ben, um eine zügige Umsetzung dieser klaren politi- für unsere nationalen agrarpolitischen Ausgleichs- schen Weisung zu ermöglichen. Das läßt auch un- maßnahmen zu werben. Ich habe gegenüber unse- sere Entschiedenheit erkennen, dieses wichtige, vor ren Partnern in Fontainebleau mit Nachdruck un- allem für die Bürger Europas wichtige Vorhaben terstrichen, daß unsere Hilfsmaßnahmen aus- nicht in bürokratischen Hemmnissen und Angst- schließlich im Zusammenhang mit den drastischen lichkeiten untergehen zu lassen. Einkommensminderungen der deutschen Land- wirte infolge der Brüsseler Agrarentscheidungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gesehen werden müssen. Dies ist nach langen und schwierigen Diskussionen in Fontainebleau auch Die Prüfung derartiger neuer Aktionsfelder sowie auf eine positive Resonanz gestoßen. Alle Partner die Erarbeitung konkreter politischer Empfehlun- haben praktische Solidarität gezeigt, und dafür bin gen für zukünftige gemeinsame Politik in Europa ich ganz besonders dankbar. wird die Aufgabe einer neuen Arbeitsgruppe unter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dem Vorsitz des nächsten Ratspräsidenten, des iri- schen Ministerpräsidenten FitzGerald, sein. Ich Ohne diese praktische Solidarität wäre es nicht gehe davon aus, daß dieser Auftrag von Fontaine- möglich gewesen, in einer in jeder Weise einwand- bleau zu ähnlich zukunftweisenden Vorschlägen freien Form das den deutschen Bauern gegebene führen wird, wie dies in den Gründerjahren, die Wort einzulösen. Ich bin dankbar, daß dies möglich zugleich Krisenjahre der Gemeinschaft waren, dem war, und ich will auch hier in einer besonderen sogenannten Spaak-Komitee gelungen ist. Die Rede Weise den persönlichen Einsatz des Leiters der des französischen Präsidenten in Straßburg sowie Konferenz, des französischen Präsidenten, würdi- das kürzlich vorgelegte Memorandum der briti- gen. schen Regierung haben bereits wertvolle Orientie- Gerade angesichts dieser so erfreulichen Bilanz rungspunkte gegeben. von Fontainebleau möchte ich aber betonen, daß wir damit keineswegs am Ende eines Weges stehen. Meine Damen und Herren, die Fülle der Einzel- Ganz im Gegenteil, wir haben die entscheidenden themen darf uns nicht den Blick für das große Ziel Voraussetzungen dafür geschaffen, neue Initiativen verstellen. Es geht um neue Perspektiven für die für die Weiterentwicklung der Gemeinschaft und Politik der Gemeinschaft. Und wenn es eine neue für die politische Gestaltung Europas auf den Weg Perspektive sein soll und muß, heißt das: auf allen zu bringen. Dabei haben wir nicht nur das Ziel der denkbaren Ebenen. Wichtig ist dabei, daß wir nicht politischen Union Europas vor Augen, an dem wir wirklichkeitsferne Gedankengebäude diskutieren, selbstverständlich festhalten. Es geht jetzt darum, sondern pragmatisch-praktische Ansätze, die die auf allen Ebenen der Politik gemeinsame Vorstel- Gemeinschaft auch erlebbar für die Bürger in Eu- lungen zu entwickeln und in die Tat umzusetzen. ropa weiterbringen, so daß Europa tatsächlich er- Dazu gehören so verschiedene Gebiete wie die si- fahrene Wirklichkeit wird. Nur so — und ich finde, cherheitspolitische Zusammenarbeit und die wirt- das ist auch eine Lehre aus der Wahlbeteiligung am schaftliche Integration Europas. Gemeint ist die zü- 17. Juni bei den Europawahlen — kann das Engage- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5591

Bundeskanzler Dr. Kohl ment und das Interesse in Europa für Europa wach- läßt sich dabei nicht nur im Schlußdokument der sen. Konferenz nachlesen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für wichtiger halte ich es — und das will ich auch betonen —, daß wir unsere Haltung nicht nur auf Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir der Konferenz selbst, sondern auch in einer ganzen alle wissen: Die Weiterentwicklung der Gemein- Fülle von bilateralen Gesprächen und Kontakten schaft ist auf die Gesamtheit aller zehn und dem- deutlich machen konnten. Denn nur wenn wir die nächst aller zwölf Mitgliedstaaten ausgerichtet. führenden Pesönlichkeiten in unseren Partnerlän- Dies schließt aber überhaupt nicht aus, daß sich dern — jenseits aller schriftlichen Kompromißfor- einzelne Partner bei einzelnen Punkten nicht gleich meln — von der Notwendigkeit bestimmter Maß- beteiligen wollen, daß sie aus Gründen, die in ihren nahmen tatsächlich überzeugen, haben wir wirklich nationalen Überlegungen liegen, nicht in jedem Fall eine Chance, auch in der Sache selbst weiterzukom- sofort mitmachen können. Aber das kann nicht be- men. deuten, daß die Gemeinschaft damit aufhört, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Im Gegenteil: Lassen Sie mich dies an einem sehr wichtigen Wir wollen, daß diejenigen, die weitergehen wollen, Thema konkretisieren: dem Problem des anhaltend dies auch im Interesse der Gemeinschaft tun kön- hohen internationalen Zinsniveaus. Ich habe Präsi- nen. Aber das bedeutet auch, meine Damen und dent Reagan im bilateralen Gespräch mehrmals Herren, daß damit, um es einmal so zu formulieren, dargelegt, daß ich in der Zinsfrage eine gefährliche, kein neues Zwei-Klassen-System entsteht. Jeder risikobehaftete Entwicklung für die Zukunft der Weltwirtschaft sehe, und zwar nicht nur für die Partner in der Gemeinschaft kann sich jederzeit an jeder Initiative beteiligen. Die Entwicklung muß of- Industrieländer, sondern vor allem auch für die zum Teil hochverschuldeten Entwicklungsländer. fenbleiben; es darf keine Privilegien geben. Nur so kann die notwendige Dynamik erhalten werden, die Für sie bedeutet ein zusätzlicher Prozentpunkt bei wir für die freiheitliche Gestaltung der Zukunft Eu- den Zinsen eine Mehrbelastung von rund 8 Milliar- ropas so dringend brauchen. Für heute, meine Da- den Dollar pro Jahr. Ich habe in meinen Gesprä- men und Herren, gilt, daß es diese Perspektive für chen unterstrichen, daß der Zusammenhang zwi- gemeinsame zukünftige Politik in Europa wieder schen der Höhe des Zinsniveaus und der außerge- gibt. Dies ist für mich persönlich das herausragen- wöhnlichen Dimension des amerikanischen Haus- de, das ermutigende Ergebnis von Fontainebleau. haltsdefizits von niemandem übersehen werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall des Abg. Wissmann [CDU/CSU]) Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Zinssenkungen sind praktisch ausgeschlossen, so- weitere Entwicklung der Europäischen Gemein- lange die Kreditnachfrage der amerikanischen schaft wird darüber hinaus ganz wesentlich von Wirtschaft steigt, das Haushaltsdefizit wächst, und weltwirtschaftlichen Faktoren mitbestimmt. Um dies beides vor dem Hintergrund zusätzlicher Fi- diese zentralen Fragen der internationalen Wirt- nanzrisiken im Gefolge internationaler Verschul- schaftspolitik ging es beim jüngsten Treffen der dung. Staats- und Regierungschefs der sieben wichtigsten westlichen Industrieländer in London. Anders als Eine grundlegende Änderung dieser Situation dies früher üblich war, habe ich den Deutschen wird nur erreichbar sein, wenn die amerikanische Bundestag bereits vor diesem Treffen über die an- Haushaltspolitik deutliche Zeichen in Richtung ei- stehenden Themen sowie über die Haltung der nes Konsolidierungskonzeptes setzt. Der amerika- Bundesregierung informiert. Wir hatten hier im Ho- nische Präsident hat zugesagt, daß der bereits ange- hen Haus darüber eine intensive Aussprache, wobei kündigte erste Schritt zur Verringerung der Haus- wir in den Grundpositionen, die für den Weltwirt- haltslücke noch in diesem Herbst, d. h. vor den Prä- schaftsgipfel bedeutsam waren, eine, wie ich meine, sidentschaftswahlen, verwirklicht wird. Ferner hat erfreuliche Übereinstimmung zwischen der Regie- der Präsident erklärt, daß nach der Wahl weitere konkrete Schritte mit dem Ziel folgen werden, eine rungskoalition und der Fraktion der SPD feststel- - len konnten. Lösung des amerikanischen Haushaltsproblems herbeizuführen. (Schwenninger [GRÜNE]: Nicht mit uns!) Ich habe diese Zusage des Präsidenten mit Be- — Ich kann ja keine Feststellung treffen, die auf friedigung zur Kenntnis genommen. Sie muß auch Sie nicht zutrifft, meine Damen und Herren. Ich im Zusammenhang mit der Vereinbarung des Kom- kann nur feststellen: Das ist halt so; das werden wir muniqués gesehen werden. Dort heißt es: „Maßnah- für eine gewisse Zeit ertragen müssen. — men zur Verringerung von Inflation und Zinssät- zen, zur Begrenzung des Geldmengenwachstums (Beifall bei der CDU/CSU — Carstensen und, falls erforderlich, zur Senkung der Haushalts- [Nordstrand] [CDU/CSU]: Und können! — defizite fortzusetzen und, wo nötig, zu verstärken." Horacek [GRÜNE]: Für eine lange Zeit! — Zuruf der Abg. Frau Beck-Oberdorf [GRÜ Meine Damen und Herren, ich füge hinzu, daß NE]) unsere Anstrengungen zur Haushaltskonsolidie- rung, zusammen mit der Politik der Bundesbank, in Meine Damen und Herren, diese Positionen hat dieser Hinsicht sehr wohl Ergebnisse vorweisen die Bundesregierung in London mit Entschieden- können. Nicht von ungefähr liegt das amerikani- heit vertreten. Das Ergebnis unserer Bemühungen sche Zinsniveau heute um 5 Prozentpunkte höher 5592 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bundeskanzler Dr. Kohl als bei uns. Dies zeigt, daß glaubwürdige Politik Seit der letzten Zusammenkunft in Williamsburg auch hier mehr bewirkt als das Wunschdenken vom hat sich die Lage der Weltwirtschaft spürbar gebes- politischen Abkoppeln, wovon in der Vergangenheit sert. so häufig die Rede war. (Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Für die USA mit 13% Zinsen, jawohl!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es gibt in der Weltwirtschaft wieder eine Perspek- Ein zweites wichtiges Thema war in London der tive für dauerhaftes Wirtschaftswachstum bei ei- Kampf gegen den Protektionismus. Dabei hat sich nem deutlich niedrigeren Preisanstieg. Wir in der erfreulicherweise gezeigt, daß der Widerstand ge- Bundesrepublik Deutschland müssen allerdings da- gen protektionistischen Druck im nationalen Be- für Sorge tragen, daß wir unsere Chance nicht we- reich auch bei unseren Partnern zugenommen hat. gen hausgemachter Schwierigkeiten verpassen. Wir waren uns alle einig, daß das gegenwärtige lau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fende GATT-Programm zur Handelsliberalisierung beschleunigt verwirklicht werden soll. Was ich für Die Arbeitslosigkeit, die schlimmste Heimsu- besonders wichtig halte: Wir waren uns auch einig chung unserer Gesellschaft, konnte in Europa und über die Notwendigkeit einer neuen weiterführen- in der Bundesrepublik anders als in den USA noch den GATT-Verhandlungsrunde. Wir werden dazu nicht spürbar abgebaut werden. Hohe Zinsen, große die anderen GATT-Partner, insbesondere die Ent- Haushaltsdefizite, starre Regelungen in Wirtschaft wicklungsländer, konsultieren, damit bald eine Ent- und Gesellschaft haben sich als schwierigste Hin- scheidung getroffen werden kann. Wir werden un- dernisse erwiesen. Mit mehr Marktwirtschaft, mit sererseits versuchen, das Menschenmögliche zu mehr Anreiz für Risikobereitschaft und persönli- tun, um einen konstruktiven und engagierten Bei- ches Engagement und mit mehr Flexibilität bei der trag zu leisten. Gestaltung der Arbeitszeit können jedoch Voraus- setzungen für mehr Beschäftigung und damit na- Meine Damen und Herren, vielleicht das wichtig- türlich für mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. ste Thema dieses Weltwirtschaftsgipfels war die Die weitere Entwicklung des internationalen besorgniserregende Verschuldung vieler Entwick- Zinsniveaus wird maßgeblich davon abhängen, ob lungsländer, die durch die hohen internationalen die Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung Zinssätze noch verschärft wird. Um dieses Problem von allen Partnern fortgesetzt werden. Selbstver- unter Kontrolle zu bringen oder zu halten — man ständlich werden wir als Bundesregierung alles tun, kann es so und so formulieren —, haben wir eine um auch auf diesem Feld mit gutem Beispiel voran- breite Palette von Maßnahmen erörtert. Besonders zugehen. wichtig erscheint mir dabei, daß die betroffenen Länder selbst geeignete Maßnahmen zur Verbesse- Zur Entschärfung der internationalen Verschul- rung ihrer Wirtschaftslage ergreifen, daß derartige dungslage müssen die Entwicklungschancen der Anstrengungen durch eine Umstellung auf ein lang- betroffenen Entwicklungsländer durch eine langfri- fristiges Schuldenkonzept honoriert werden, daß stige Strategie verbessert werden, ohne daß das in- der Mittelzustrom in die betroffenen Länder, ein- ternationale Finanzsystem zugleich überfordert schließlich der öffentlichen Entwicklungshilfe und wird. Diese Frage, meine Damen und Herren, wird der Mittel internationaler Finanzinstitutionen, in den nächsten Monaten das besondere Engage- nicht abreißt, sondern, wenn möglich, erweitert ment aller Beteiligten erfordern. wird und daß die Entwicklungsländer selbst durch Dies gilt im übrigen auch für eine uns ganz be- eine günstige Entwicklung der Weltwirtschaft, sonders bedrückende Frage, nämlich für die inter- durch einen expandierenden Welthandel und durch nationale Dimension des Umweltproblems. Auf eine stärkere Marktöffnung innerhalb der Indu- meinen Vorschlag hin sind die zuständigen Mini- strieländer die Möglichkeit erhalten, ihre Probleme ster beauftragt worden, konkrete Bereiche für eine Schritt für Schritt selbst wieder in die Hand zu fortgesetzte Zusammenarbeit zu bestimmen. Die bekommen. Arbeitsgruppe Technologie wird noch bis zum Jah- resende Ansatzpunkte für die Intensivierung der Die relativ moderate Resolution der gerade been- Umweltforschung festlegen. In diesem Zusammen- deten Konferenz von Cartagena zeigt, daß die hoch- hang ist die Internationale Umweltschutzkonferenz verschuldeten Länder Lateinamerikas dieses Si- in München, die gestern erfolgreich zu Ende gegan- gnal von London durchaus verstanden haben. Ich gen ist, von allen Teilnehmern des Londoner Gip- werde Anfang Juli anläßlich eines Besuchs in Ar- fels ausdrücklich begrüßt worden. gentinien und Mexiko die Chance haben, die Pro- bleme vor Ort zu diskutieren. Dies scheint mir gebo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten, um in dieser gegenwärtig wohl schwierigsten Meine Damen und Herren, ich darf hinzufügen, Frage der internationalen Wirtschaftspolitik Fort- daß wir auch in unseren Gesprächen in Fontaine- schritte möglich zu machen, im Interesse der be- bleau am Montag dieser Woche vereinbart haben, troffenen Länder und der dort lebenden Menschen daß die EG-Kommission beauftragt wird, die Ergeb- und auch im Interesse der Kreditgeber. nisse der Münchener Umweltschutzkonferenz so- fort zu überprüfen und einen ersten Überprüfungs- Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wenn bericht möglichst schon im Dezember, wenn wir in ich die Bilanz des Londoner Treffens zusammenfas- Irland zusammentreffen, mit dem Ziel vorzulegen, se, so möchte ich feststellen: das, was in München vereinbart und angeregt wur- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5593

Bundeskanzler Dr. Kohl de, schnellstmöglich im Bereich der Europäischen Verbesserung des belasteten Verhältnisses beitra- Gemeinschaft durchzusetzen. gen kann. Beide Seiten sind hier gefordert. Beide müssen sich dieser Aufgabe stellen. Beide müssen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Ein großer Fort sich bewegen und aufeinander zugehen. schritt!) Wie die Staats- und Regierungschefs in ihrer Er- Das, meine Damen und Herren — ich nehme gerne klärung zu den Ost-West-Beziehungen und zur Rü- den Zwischenruf des Kollegen Dregger auf —, ist in stungskontrolle in London festgestellt haben, gibt der Tat ein großer Fortschritt. Es ist sicher wahr, es wichtige Bereiche gemeinsamen Interesses: die daß gegenwärtig in Fragen des Umweltschutzes die Erhaltung des Friedens, die Stärkung von Ver- Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen trauen und Sicherheit, die Verringerung der Gefahr Gemeinschaft eine Art Pilotfunktion übernommen von Überraschungsangriffen oder der versehentli- hat. Nur: Das ist auf die Dauer kein vorteilhafter chen Auslösung eines Krieges, die Verbesserung Zustand. Wir können im Umweltschutz in der Bun- der Methoden der Krisenbewältigung und die Ver- desrepublik nur das Menschenmögliche erreichen, hinderung der Ausbreitung von Kernwaffen. Die wenn wir zugleich mit unseren Nachbarn in engster Erkenntnis wächst, daß sich das umfassende Ge- Weise kooperieren. flecht der West-Ost-Beziehungen eben nicht auf die Raketenfrage reduzieren läßt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir sind bereit, auf der Basis der Gegenseitigkeit Das gilt nicht nur für die Europäische Gemein- die Beziehungen zu allen Mitgliedstaaten des War- schaft, das gilt genauso für das Gespräch mit der schauer Pakts auszubauen. Ich stelle fest, daß im DDR. Einer der Kollegen der SPD, der hier in der bilateralen Verhältnis zwischen der Sowjetunion vorhergehenden Debatte gesprochen hat, hat auch und der Bundesrepublik Deutschland Fortschritte das Problem der CSSR angesprochen. Ich darf bei- möglich sind. Dies betrifft insbesondere die wirt- läufig diese Antwort geben: Ich habe mich in diesen schaftlichen und die wissenschaftlich-technologi- Tagen noch einmal in einem Schreiben an Präsi- schen Beziehungen und vor allem das eben bereits dent Husák gewandt und ihn auf die katastrophale erwähnte Feld des Umweltschutzes. Wir werten es Entwicklung in einem Teil Bayerns, im Franken- als ein gutes Zeichen, daß die Sowjetunion und die wald, hingewiesen und auch — ich wiederhole dies übrigen Warschauer-Pakt-Staaten zu der interna- öffentlich — meine Bereitschaft erklärt, in bilatera- tionalen Umweltschutzkonferenz nach München len Gesprächen über konkrete Hilfen — ich will es gekommen sind und daß sie mit ihrem Kommen, nicht näher ausführen — zu sprechen. mit ihren Stellungnahmen letztendlich zu einem er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) folgreichen Abschluß beigetragen haben. Ich hoffe auf eine positive Reaktion aus der CSSR. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, mit diesen Ergebnis- Ich habe vor wenigen Tagen bei meinem kurzen sen hat das Londoner Treffen wichtige Anstöße für Besuch in Ungarn in den Gesprächen mit der dorti- die Lösung dringender internationaler Fragen gege- gen politischen Führung, insbesondere mit Herrn ben. Die Verhandlungen und Gespräche darüber Kadar, bei aller Verschiedenheit grundsätzlicher werden natürlich in den nächsten Wochen fortge- Standpunkte, die niemand leugnen will und kann, setzt. Lassen Sie mich jedoch noch eines hinzufü- in wichtigen Fragen eine größtmögliche Überein- gen: Unser Einfluß, der Einfluß der Bundesrepublik, stimmung festgestellt. Die Gesprächsatmosphäre das Gewicht unserer Stimme in dieser internationa- war herzlich. Beide Regierungen haben die Chance len wirtschaftlichen Diskussion wird weniger von und die Notwendigkeit erkannt, die guten bilatera- Ratschlägen abhängen, die wir anderen geben, als len Beziehungen im Rahmen des West-Ost-Verhält- davon, welche Ergebnisse wir zu Hause in eigener nisses aktiv zu nutzen. Verantwortung zustande bringen. Herr Präsident, meine Damen und Herren, noch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in diesem Jahr erwarte ich den Besuch des DDR Staatsratsvorsitzenden Honecker in der Bundesre- Die Streikentwicklung bei uns in der Bundesre- publik Deutschland. Auch der Staatsratsvorsitzende- publik und die damit verbundenen Reaktionen un- der Volksrepublik Bulgarien wird im September zu serer ausländischen Freunde haben mich dies ge- Gesprächen nach Bonn kommen. Der Außenmini- rade in London spüren lassen. Erfolg oder Mißer- ster der CSSR wird in wenigen Tagen erwartet. Ge- folg der eigenen Wirtschaftspolitik bestimmen weit- neralsekretär Tschernenko hat meine Einladung gehend den Einfluß der Bundesrepublik auf inter- zum Besuch der Bundesrepublik Deutschland ange- nationale Entscheidungen. Dort kann nämlich nie- nommen. mand dem anderen seinen Willen aufzwingen, son- dern jeder muß seine Partner letztlich überzeugen. Trotz all dieser vielfältigen Kontakte ist nicht zu Und nichts, meine Damen und Herren, ist überzeu- übersehen, daß das entscheidende amerikanisch-so- gender als der eigene Erfolg. wjetische Verhältnis weiterhin schwierig ist und daß vor allem in den Kernfragen der nuklearen Rü- In London war auch das Ost-West-Verhältnis ein stungskontrolle gegenwärtig keine Fortschritte wichtiges Thema. Die Bundesregierung sieht hier, wie Sie wissen, auch weiterhin die Chance zu einer festzustellen sind. positiven Gestaltung der beiderseitigen Beziehun- Präsident Reagan ist am 4. Juni 1984 in einer zu gen. Wir sind überzeugt, daß der beiderseitige Wille, Recht viel beachteten Rede vor dem irischen Parla- Dialog und Zusammenarbeit zu intensivieren, zur ment ausführlich auf die Ost-West-Beziehungen 5594 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bundeskanzler Dr. Kohl eingegangen. Er hat den Willen der Vereinigten heit —, die Grenze bleibt danach ebenso undurch- Staaten zum Dialog und zur Wiederaufnahme der lässig wie zuvor. Die Bundesregierung und, ich den- nuklearen Rüstungskontrollverhandlungen unter- ke, wir alle werden in unseren Bemühungen nicht strichen und die Bereitschaft erklärt, über die For- nachlassen, die Grenze für die Menschen in derung der Sowjetunion nach einer Gewaltver- Deutschland durch mehr Freizügigkeit im Reise- zichtserklärung zu sprechen. Die Vereinigten Staa- verkehr durchlässiger zu machen. ten haben ferner die Wiederaufnahme der Kern- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei waffenkontrollgespräche an jedem beliebigen Ort, Abgeordneten der SPD) zu jedem beliebigen Zeitpunkt und ohne jede Vor- bedingung angeboten. Dieses sehr konkrete Ange- Die Vorgänge in und bei unserer Ständigen Ver- bot hat auch seinen Niederschlag in dem Schluß- tretung beleuchten schlaglichtartig, daß die Härte dokument des Londoner Gipfels sowie in der der Teilung Deutschlands unsere Landsleute in der Washingtoner Erklärung der NATO-Außenminister DDR ganz besonders trifft, weil ihnen eben Freizü- vom Mai dieses Jahres gefunden. gigkeit vorenthalten wird. Hier ist unsere Solidari- tät gefordert, aber auch Augenmaß und, wenn ich Wir, die Bundesregierung, stehen ohne jede Ein- das so sagen darf, Fingerspitzengefühl auf allen schränkung zu diesen Erklärungen. Wir wünschen Seiten. Ich appelliere an die Führung der DDR, da- nachdrücklich eine allgemeine Verbesserung der für zu sorgen, daß hieraus nicht eine Belastung der West-Ost-Beziehungen. Beziehungen und Nachteile für die betroffenen Ich appelliere daher auch heute und von dieser Menschen erwachsen. Stelle aus an die Führung der Sowjetunion und an (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der die Führungen der anderen Staaten des War- SPD) schauer Paktes, diese Zeichen des guten Willens nicht als bloße Worte abzutun, sondern als ernsthaf- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir tes Angebot aufzugreifen. erwarten von allen Teilnehmern der KSZE, daß sie im Geiste der Schlußakte von Helsinki handeln und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die auf den Folgekonferenzen von Madrid und an- Die Sowjetunion sagt, Worte zählten nicht, son- derswo eingegangenen Verpflichtungen einhalten. dern Taten. Ich bin der Auffassung, daß Taten mit Die Bundesregierung wird ihre Bemühungen zur ernstgemeinten Absichten und ganz konkreten An- Zusammenführung von Familien und in anderen geboten beginnen. Die Antworten aus Moskau steht Übersiedlungsangelegenheiten selbstverständlich aus. Ich hoffe, sie wird bald und in einer befriedi- beharrlich fortsetzen. genden Form gegeben. Nach Abschluß wichtiger internationaler Konfe- Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, renzen und im Vorfeld weiterer Verhandlungen setzt ihre Politik des Dialogs und der langfristig über die in London und Fontainebleau erörterten angelegten Zusammenarbeit auch mit der DDR Wirtschaftsfragen stellt sich für uns in der Bundes- fort. Beide Staaten in Deutschland tragen eine republik natürlich die Frage nach den Chancen und große Verantwortung für den Frieden in Europa Perspektiven unserer eigenen Wirtschaftsentwick- und die Menschen im geteilten Deutschland. Wir lung. meinen es ganz ernst, wenn wir von einer Verant- Es ist gänzlich unbestritten, daß die Wirtschafts- wortungsgemeinschaft für Deutschland, für Europa entwicklung der Bundesrepublik Deutschland bis und den Frieden in der Welt sprechen. zum Frühjahr dieses Jahres günstige Perspektiven Die Regierung der DDR hat mit der Offenhaltung aufwies. Die führenden wirtschaftswissenschaftli- des Grenzübergangs Staaken für den Transitver- chen Forschungsinstitute haben festgestellt, daß kehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland aus der konjunkturellen Erholung ein sich selbst und West-Berlin bis Ende 1987 signalisiert, daß die tragender Aufschwung geworden ist mit einer Bemühungen um eine Verbesserung der Beziehun- Wachstumsperspektive für 1984 von real mehr als gen zwischen den beiden Staaten in Deutschland 3 % und erstmals wieder auch mit einem Rückgang weitergehen. Die Bundesregierung bewertet dieses der Arbeitslosigkeit. - Signal außerordentlich positiv. Die Entscheidung (Schwenninger [GRÜNE]: Auf wessen Ko der DDR trägt einem wichtigen Wunsch und Anlie- sten?) gen der Bundesregierung und vor allem auch Ber- lins Rechnung. Ich gehe davon aus, daß die Bauar- Meine Damen und Herren, diese Aufwärtsent- beiten zur verkehrstechnischen Anbindung des wicklung ist zunächst von der zunehmenden Dis- Grenzübergangs Heiligensee bis Ende 1987 abge- kussion über Arbeitskampfmaßnahmen und dann schlossen sein werden. von Streik und Aussperrung unterbrochen worden. Ich begrüße auch, daß uns die DDR erneut hat (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Leider!) wissen lassen, daß sie den Abbau der Selbstschuß- Alle Wirtschaftsindikatoren signalisieren jedoch, anlagen an der innerdeutschen Grenze konsequent daß die Zurückhaltung sowohl der Verbraucher als und beschleunigt fortsetzen und zu Ende bringen auch der Investoren frühestens bei Beendigung des will. Wir nehmen von dieser Entscheidung mit Be- Tarifkonfliktes wieder einer größeren Zuversicht friedigung Kenntnis; wir nehmen vor allem Kennt- Platz machen kann und, wie ich denke, auch Platz nis davon, daß damit ein Teil dieser unmenschli- machen wird. Bildlich gesprochen gilt für diesen chen Anlagen endgültig abgebaut wird. Aber, meine Augenblick: Die deutsche Wirtschaft hält den Atem Damen und Herren — auch das gehört zur Wahr- an. — Der volkswirtschaftliche Schaden, den Streik Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5595

Bundeskanzler Dr. Kohl und Aussperrung verursachen, ist unübersehbar, der zukünftigen Wirtschaftsentwicklung im Dreieck aber — und dies möchte ich nachdrücklich hinzufü- USA-Europa-Japan nachdenken. gen — er ist keineswegs irreparabel. Für noch wichtiger halte ich es, daß die vorran- Wenn der Tarifkonflikt in der Metallindustrie — gige Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit ganz of- hoffentlich noch in dieser Woche — beendet wird, fensichtlich auch von den amerikanischen Gewerk- haben wie eine gute Aussicht, wieder Anschluß an schaften anerkannt wird. Darauf läßt nicht zuletzt die Aufwärtsentwicklung der letzten eineinhalb auch ihre Lohnpolitik der letzten Jahre schließen. Jahre zu gewinnen. Den verdienstvollen Beitrag, Interessanter als die Entwicklung der amerikani- den die Schlichter und Bernd Rüthers schen Durchschnittslöhne ist übrigens die Lohn- in dieser Situation geleistet haben, möchte ich hier struktur in den Vereinigten Staaten. Eine Nivellie- ausdrücklich dankbar würdigen. rungstendenz hat es dort nie gegeben. Was dies zum Beispiel für den Erhalt von amerikanischen Ar- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der beitsplätzen bedeutet, kann auch uns Anlaß zum SPD) Nachdenken geben. Ich appelliere auch gerade in dieser Stunde an die Das Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen Tarifpartner in der Druckindustrie, den Weg der von Wirtschaft und Gewerkschaften in den USA ist Vernunft zu beschreiten, um Kompromisse zu er- in der westlichen Welt einmalig. Innerhalb der letz- möglichen. ten 15 Jahre sind dort mehr als 20 Millionen neue (Zuruf von der SPD: Sind Sie für Kompro Arbeitsplätze entstanden: eine Steigerung von über misse?) 25%. Auch in Japan ist ein spürbarer Anstieg der Beschäftigung erreicht worden. — Wenn Sie mich kennen würden, wüßten Sie, daß ich immer für Kompromisse bin, aber nicht für Bei uns in Europa — das war ein großes Thema faule Kompromisse. Das ist der entscheidende Un- jetzt in Fontainebleau — ist die Bilanz der Arbeits- terschied. platzentwicklung negativ. Dieser Tatbestand ist eine entscheidende Herausforderung an uns alle. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Wir müssen jetzt und in diesen Jahren die notwen- Dr. Vogel [SPD]: Wir kennen Sie schon!) dige Antwort finden. Die Bundesregierung weiß um Neben den Tarifauseinandersetzungen, die ge- die Schwierigkeit der Aufgabe, tragfähige und dau- genwärtig im Mittelpunkt des Interesses stehen, erhafte Wachstumsbedingungen zu schaffen. Wir dürfen jedoch andere wichtige Faktoren nicht in unterschätzen die Probleme nicht, zumal wie wir Vergessenheit geraten, die die wirtschaftliche Ent- alle wissen, es hier keineswegs nur um ökonomi- wicklung der Bundesrepublik ebenfalls maßgeblich sche Daten, sondern vielmehr in erster Linie um mitbestimmen werden. Ich meine die ökonomi- psychologische Grundeinstellungen geht. Gerade schen Bedeutung und Spielregeln, das wirtschaftli- hier sehe ich die entscheidende politische Heraus- che Klima, das politische, soziale und gesellschafts- forderung für den Rest der 80er Jahre: daß wir wie- politische Umfeld, das, was man verkürzt mit „Rah- der begreifen, daß wir uns mehr mit unserer Zu- menbedingungen" bezeichnet. Wenn diese Arbeits- kunft und weniger mit unserer Freizeit beschäfti- kämpfe hinter uns liegen — und ich hoffe, daß die gen müssen. Arbeit am kommenden Montag, vor allem in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Metallindustrie, wieder aufgenommen werden kann —, dann werden diese Wachstumsfaktoren Daß wir diese Grundorientierung in konkrete Po- darüber entscheiden, inwieweit es für die Verringe- litik umsetzen, zeigen die in der vergangenen Wo- rung der Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren che von den Koalitionsparteien und -fraktionen be- überhaupt eine realistische Perspektive gibt. schlossenen Eckwerte für die Steuerreform. Wir ha- ben mit dieser Entscheidung auf den Tag das gege- Meine Damen und Herren, über eines darf keine bene Wort eingelöst. In einer Situation, in der wir Illusion bestehen: Arbeitszeitverkürzungen — ganz die schwierige Aufgabe haben, den total überschul- gleich, ob es Lebensarbeitszeit, Jahresarbeitszeit deten Staatshaushalt zu konsolidieren, haben die - oder Wochenarbeitszeit betrifft — können allenfalls Koalitionsparteien und die Bundesregierung durch einen bescheidenen Beitrag zur Bekämpfung der ein Höchstmaß an Haushaltsdisziplin erreicht, Arbeitslosigkeit leisten. Alle seriösen Untersuchun- schon eineinhalb Jahre nach Amtsantritt dieser Re- gen und Erfahrungen zeigen deutlich, daß es eine gierung die größte Steuerreform in der Geschichte gefährliche Selbsttäuschung wäre, von einer sol- unseres Landes zu beschließen. chen Defensivstrategie einen nachhaltigen Be- schäftigungsimpuls zu erwarten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) — Ich denke, über die Richtigkeit dieses Satzes Welche Bedeutung demgegenüber günstige wirt- werden wir heute noch genug Gelegenheit zur Dis- schaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingun- kussion haben, und ich freue mich auf diese Diskus- gen haben, zeigt sich am Beispiel der Vereinigten sion. Ich hatte erst kürzlich in einem langen Staaten. Dieser Abbau von Steuerbelastungen, und zwar Gespräch mit der Spitze des amerikanischen Ford ohne Kompensation — hier unterscheiden wir uns Management einen Eindruck gewinnen können, wesentlich von früheren Entscheidungen —, wie sehr diese Repräsentanten eines Weltunterneh- mens über Fragen der Wettbewerbsfähigkeit und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 5596 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bundeskanzler Dr. Kohl in Höhe von 20,2 Milliarden DM verwirklicht zwei sich ganz offensichtlich spürbar zum Positiven hin entscheidende Grundsätze unserer Politik. Leistung verändert. Das gilt nicht nur für Berlin. soll sich wieder lohnen; und wir tun etwas für jene, (Zuruf von den GRÜNEN: Wo denn?) die ehrlich sind, sich aber bisher für ihre Leistung eher bestraft als anerkannt fühlten. Das gilt selbstverständlich für die Bundesrepublik. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen Der zweite Punkt ist nicht weniger wichtig. Wir und Herren! Wir, die Koalition der Mitte von FDP, wollen Familien mit Kindern auch materiell wieder CSU und CDU, haben nach beträchtlichen Anstren- stärker fördern. Ich habe in der Regierungserklä- gungen zur Gesundung der Staatsfinanzen die an- rung nach der letzten Wahl gesagt, wer Kinder hat, gekündigte große Steuerreform beschlossen. soll weniger Steuern zahlen. Wir sorgen für einen gerechten Familienlastenausgleich, (Dr. Vogel [SPD]: Groß waren die Worte!) (Beifall bei der CDU/CSU und FDP — La Unsere Entscheidung verbessert die Bedingungen chen bei der SPD) für Wachstum und Beschäftigung in der Bundesre- publik Deutschland, und zwar nicht nur für eine durch den diejenigen finanziell wieder besserge- kurze Frist, sondern auf Dauer. stellt werden, die Kinder haben und großziehen. Zwei weitere Beschlüsse stehen in diesen Tagen Beide Elemente zusammen lassen erkennen, auf der Tagesordnung des Bundeskabinetts: die Fi- worum es uns geht: um mehr soziale Gerechtigkeit, nanzentscheidung für das umweltfreundliche Auto um mehr Freiheit, um mehr Marktwirtschaft — so- und die Neuordnung der Wohnungsbauförderung. ziale Gerechtigkeit nicht als unbezahlbares Ver- Beide Entscheidungen — dessen bin ich sicher — sprechen, sondern als Grundelement einer Politik, werden zusätzliche wirtschaftliche Impulse auslö- die solide und auf Dauer angelegt ist. sen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, diese Feststellungen lassen erkennen, daß Meine Damen und Herren, noch ein wichtiger gegenwärtig günstige Ausgangsbedingungen für Punkt: Die Haushaltskonsolidierung geht weiter. die politische und wirtschaftliche Zukunft bestehen, Trotz beachtlicher Fortschritte haben wir unser national wie international, wenn wir auf unserem Ziel noch nicht erreicht. Weg mit Entschiedenheit und Vernunft vorangehen. Das Bundeskabinett wird die Eckwerte der Re- Ich appelliere an alle, die guten Willens sind, diese form, was die Steuern und die Haushaltsgestaltung Chancen nicht zu verspielen und ihren Beitrag für betrifft, noch vor der Sommerpause festlegen. Der die Zukunft unseres Landes zu leisten. Gesetzentwurf selbst wird im November verab- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und schiedet und damit sehr rechtzeitig Bundesrat und der FDP) Bundestag zur Beratung 1985 so zugehen, daß der Gesetzentwurf — das ist mein Wunsch und auch meine Bitte an das Parlament — bis zur Sommer- Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und pause 1985 beschlossen werden kann. Das heißt im Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Klartext: Die Familienentlastung und der erste Teil der Abgeordnete Schmidt (Hamburg). der Tarifreform können zum 1. Januar 1986 in Kraft treten, die noch verbleibenden Tarifentlastungen in Höhe von über 9 Milliarden DM zum 1. Januar Schmidt (Hamburg) (SPD) (von der SPD mit Bei- 1988. fall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich Herren! Der Fontainebleau-Teil des Berichts des fasse zusammen. Der Weltwirtschaftsgipfel hat Per- Herrn Bundeskanzlers hat einige erfreuliche spektiven aufgezeigt, wie die schwierigen Fragen Punkte enthalten. Gleichwohl besteht deswegen der internationalen Wirtschaftspolitik einer Lösung kein Anlaß zu europäischer Zufriedenheit.- nähergebracht werden können. Niemand verkennt, Seit den erfolgreichen Verhandlungen über den daß hier noch ein steiniger Weg vor uns liegt. Beitritt Englands zur EG in der Ara Pompidou- In den Ost-West-Beziehungen hat der Westen Brandt-Heath hat es nun insgesamt dreimal wei- seine Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft tere schwierige, langandauernde Verhandlungsrun- nachdrücklich unterstrichen. Wir erwarten eine den über den britischen Finanzbeitrag gegeben. Die konstruktive Antwort der Sowjetunion. jetzige Runde ist nach vier Gipfeln — zweimal in Brüssel, einmal in Stuttgart, einmal in Athen — nun Das Treffen in Fontainebleau hat einen bedeutsa- durch bemerkenswerte Anstrengungen des franzö- men Durchbruch zur Weiterentwicklung der Euro- sischen Präsidenten in Fontainebleau Gott sei päischen Gemeinschaft gebracht. Damit wurden zu- Dank zum Abschluß gekommen. Allerdings kann gleich Perspektiven für eine engere politische Zu- man nicht sagen: Ende gut, alles gut; denn weder ist sammenarbeit in Europa eröffnet. alles gut, was dort beschlossen wurde — z. B. ist Auf der Berliner Wirtschaftskonferenz in der ver- nicht gut die milliardenschwere Verlagerung von gangenen Woche hat der Grundtenor aller Beiträge EG-Agrarproblemen aus dem EG-Agrarhaushalt deutlich gemacht: Das wirtschaftliche und gesell- auf den deutschen Bundeshaushalt, schaftspolitische Klima in der Bundesrepublik hat (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5597

Schmidt (Hamburg) die das direkte Gegenteil des von dieser Bundesre- beitsplätze entfallen in Amerika auf Dienstleistun- gierung einst angekündigten Abbaus von Subven- gen aller Art. Bei uns sind es nur etwa 50. tionshaushalten und ein Verstoß gegen Geist und Natürlich können diese ganzen fehlenden Ar- Recht der Europäischen Gemeinschaft ist —, beitsplätze nicht ohne Wachstum wiederhergestellt (Beifall bei der SPD) oder neu geschaffen werden; aber das Wachstum Dienstleistungsangebot an die noch ist das schon das definitive Ende jener Ver- muß vor allem im Investitionen, handlungen. Vielmehr handelt es sich bloß um eine Welt liegen. Dazu gehören dann hohe unbestimmt befristete Zwischenlösung; denn späte- ungehemmt durch die heute noch nie dagewesenen in der Welt, auch bei uns. Herr Bun- stens wenn die jetzt beschlossene Abführung von Realzinssätze 1,4 % der Mehrwertsteuer erneut angehoben wer- deskanzler, Sie haben sich gerühmt, unsere Zinsen lägen niedriger als in USA. Das ist wahr; das war den muß, wird man erneut verhandeln. allerdings schon seit vielen Jahren so, und das muß In Fontainebleau ist schon öffentlich davon gere- auch so bleiben. det worden, daß ab 31. Dezember 1987 1,6 % erhoben werden sollen. Dann gilt das alles nicht mehr, was (Beifall bei der SPD) jetzt mit England verabredet worden ist. Und dazu gehört ein freier Weltmarkt. Aber gerade, (Kittelmann [CDU/CSU]: Kassandra!) was diese Kardinalprobleme unserer europäischen Arbeitslosigkeit angeht — höhere Investitionen, — Ich zitiere die veröffentlichten Beschlüsse, Herr niedrigere Zinssätze, freier Weltmarkt —, hat dazu Kollege. — In dreieinhalb Jahren wird die ganze die Europäische Gemeinschaft gegenwärtig weder Sache also zum fünften Male aufgerollt werden. das Konzept noch die Kraft. Sie hat auch auf dem Das hat sich übrigens auch ergeben aus den gestri- Londoner Gipfel der sieben großen industriellen gen widersprüchlichen nachträglichen Erklärungen Demokratien die Interessen Europas nicht wirklich zweier der dort beteiligten Regierungschefs. voranbringen können. Es handelt sich also tatsächlich nur darum, daß Nun sind Gipfeltreffen immer nützlich, auch die für den Herbst dieses Jahres drohende teilweise wenn nichts beschlossen würde, weil man dort zu- Zahlungsunfähigkeit der Europäischen Gemein- hören muß und nicht bloß für das Fernsehen reden schaft vorerst abgewendet worden ist. Nur darum kann. Noch nützlicher wären sie natürlich dann, handelt es sich. Aber das ist immerhin etwas. Es ist wenn sie uns tatsächlich voranbrächten. Wenn uns keineswegs ein Fortschritt. Es hat lediglich einen nun der Herr Bundeskanzler auch manche liebens- weiteren Rückschritt abgewendet. werten Randdetails mitgeteilt hat, eines war in Lon- (Beifall bei der SPD) don wie schon vorher, 1983 in Williamsburg, wie schon 1982 in Versailles, sehr klar zu erkennen, Ich habe heute keineswegs die Absicht zu irgend- nämlich Europa verliert mangels eigener Einigkeit welcher Polemik und will gewiß auch niemanden immer mehr sowohl an wirtschaftspolitischem als provozieren. Aber es muß klar gesagt werden: Eu- auch an strategisch-politischem Gewicht in der ropa braucht nicht nur den Verzicht auf Rückschlä- Welt. ge, sondern es braucht dringend den echten Fort- schritt, (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Dies konnten Sie gestern und vorgestern und kön- nen Sie heute nach Fontainebleau in der ganzen z. B. den Fortschritt zu einer großen gemeinsamen internationalen Presse nachlesen; das reicht vom Anstrengung zur Schaffung von Arbeitsplätzen. „Wallstreet Journal" bis zur „Prawda": das gleiche (Erneuter Beifall bei der SPD) Urteil. Übrigens auch die Bundesrepublik Deutsch- Denn gegenwärtig, Herr Bundeskanzler, steigt die land verliert zunehmend an internationalem Ge- Arbeitslosigkeit, saisonbereinigt, in ganz Europa wicht. immer noch trotz Hochkonjunktur in den Vereinig- Unter diesem doppelten Gesichtspunkt der Wirt- ten Staaten von Amerika. Gerade eben hat die Eu- schaftspolitik und des strategisch-politischen Ge- ropäische Kommission in Brüssel für die ganze Eu- wichts möchte ich heute morgen die Lage Europas ropäische Gemeinschaft für 1984 und für 1985 gleich behandeln und auch für meine Person einige neue mit den weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit ange- Vorschläge dazu einbringen. Ich will dem aber ei- kündigt. nen sehr positiv gemeinten Satz voranstellen, weil Europa braucht z. B. den Fortschritt in Richtung ich einen deutlichen Lichtblick erkennen kann. Ich auf kontinuierliche Modernisierung der Produk- begrüße nachdrücklich das gute persönliche Ein- tionsstrukturen in diesem Kontinent, der Struktu- vernehmen zwischen dem deutschen Bundeskanz- ren alter, nicht mehr weltweit wettbewerbsfähiger ler und dem französischen Staatspräsidenten. Industrien hin zu modernen, umweltfreundlichen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der industriellen Produktionstrukturen, vor allem zu FDP) modernen, weltweit wettbewerbsfähigen Dienstlei- Hier wird an die Tradition der beiden vorangegan- stungsproduktionen. Auf diesem Felde sind die Ver- genen Staatslenker angeknüpft, und hier könnte einigten Staaten von Amerika uns in Europa weit auch ein Schlüssel gefunden werden. voraus. In Amerika entfallen von insgesamt 100 Ar- beitsplätzen vier auf die Landwirtschaft — bei uns Zunächst aber ein Wort zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland fünfeinhalb —, 28 auf die Industrie Europas und der Welt. Seit Anfang des Jahres 1983 — bei uns in Deutschland 43 —, aber fast 70 Ar- — der Bundeskanzler hat darüber Ausführungen 5598 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Schmidt (Hamburg) gemacht — hat ein ungeheures, die Sparquote des gegenwärtig so viel dahin —, aber amerikanische amerikanischen Volkes hoch überforderndes deficit Waren sind in der ganzen Welt künstlich verteuert. spending die Wirtschaft der Vereinigten Staaten Die ist einer der Gründe für immer neue Maßnah- aus der tiefsten Rezession seit 40 Jahren in einen men zum Schutze der amerikanischen Industrie hohen Aufschwung geführt. Ein jährliches Haus- und ihrer Arbeitsplätze. haltsdefizit in der Größenordnung von 200 Milliar- den Dollar — das sind über 500 Milliarden DM — Ich schätze, daß heute eine Hälfte des ganzen hat zu einer Riesennachfrage nach Gütern geführt Welthandels unter dem verzerrenden, starken Ein- und zusätzlich also dadurch den Export aus Ost- fluß entweder von Protektionismus oder von Sub- asien oder aus Europa — auch aus Deutschland — ventionen zugunsten der nationalen Industrien in die USA gesteigert. Die Hälfte der statistischen steht. Das reicht von der Milch bis zum Stahl und Erholung der europäischen Volkswirtschaften hat von den Textilien bis zu den Autos und zur Elek- hier ihre Ursache. Zugleich aber haben das damit tronik. ausgelöste Handelsdefizit der Vereinigten Staaten, (Zuruf von der CDU/CSU: Und zu den das in diesem Jahr 140 Milliarden Dollar betragen Werften!) wird, und das Leistungsbilanzdefizit der USA, das dieses Jahr 80 Milliarden Dollar betragen wird, — Einverstanden. durch ausländische Kreditaufnahme in dieser Höhe finanziert werden müssen. Dazu war es und bleibt Jeder weiß, daß dies so nicht andauern darf, zu- es nötig, daß die USA den ausländischen — auch mal ab 1985 die Vereinigten Staaten von Amerika den deutschen — Sparern und Kreditgebern einen auf diese Weise zu einem Nettoschuldnerstaat wer- sehr hohen Zins anbieten. Die Zinsen in den USA den, der seinerseits seine Schulden nur bedienen sind seit Jahresbeginn jeden Monat erneut gestie- kann, wenn er Handelsüberschüsse erzielt, nicht gen, und da nützen uns die Versicherungen, die Handelsdefizite von 140 Milliarden Dollar im Jahr. Herr Kohl sich in London hat geben lassen, gegen- wärtig überhaupt nichts. (Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Dann muß der IWF Auflagen machen!) (Beifall bei der SPD) Aus all diesen Gründen ist eine schnelle und Dieser allmonatliche Zinsanstieg in den Verei- weitreichende Rückführung der alljährlichen und nigten Staaten von Amerika hat gefährliche Folgen. allmonatlichen Haushaltsdefizite in dieser wichtig- Der reale Zinsfuß in der ganzen Welt, kurzfristig sten Volkswirtschaft der Welt notwendig. Es wird wie langfristig, hat sich weitgehend dem Trend des aber gegenwärtig und bis zur Sommerpause nur ein Dollarzinses angepaßt. Der Zinsfuß ist zu hoch für symbolischer Schritt geschehen. produktive Investitionen, für reale Investitionen, denn Anlagen am Geldmarkt bringen höhere Ge- Die europäischen Regierungen haben sich mit ih- winne als Investitionen in der Industrie. Dies ver- rer Forderung nach Defizitsenkung und mit ihrer hindert höhere Beschäftigung in den investitions- Forderung nach Zinssenkung in den USA in Lon- güter-orientierten Volkswirtschaften, zu denen wir don abermals auch deshalb nicht durchsetzen kön- in Europa ja gehören. nen, weil sie auch ansonsten in London nicht ein- heitlich auftreten konnten. Der Zins ist auch — der Bundeskanzler hat das mit Recht angedeutet — für die verschuldeten Ent- Natürlich ist dies alles, was ich sage, keine Kritik wicklungsländer zu hoch, die ihre Kredite j a ur- an dem stabilen und zuverlässigen geldpolitischen sprünglich zu sehr viel niedrigeren Zinsen kontra- Kurs der amerikanischen Notenbank, ganz im Ge- hiert hatten, aufgenommen hatten, für die die Zin- genteil. sen jetzt aber jeden Tag heraufgesetzt werden. Die heutige unverschuldete Unfähigkeit dieser Länder, Es gibt übrigens in den Vereinigten Staaten von einen vollen Zinsendienst zu leisten, zwingt sie zu Amerika auch durchaus lobenswerte Beispiele, an einer Austerity-Politik, die an soziale und politische denen wir Europäer uns orientieren sollten, zum Destabilisierung heranführen kann. einen eine sehr hohe unternehmerische Leistung. Viele Unternehmen sind mit völlig neuen Produk- (Zuruf von der SPD: Schon geführt hat!) ten und Dienstleistungen an den Markt gekommen, Aber zugleich kann diese Situation eben auch zur Millionen neuer Arbeitsplätze sind von Unterneh- Gefährdung der die Kredite gegeben habenden Ge- men geschaffen worden, die erst im Laufe der aller- schäftsbanken der westlichen Welt führen. Diese letzten Jahre für neue Produktionen neu gegründet Gefährdung wird nicht durch Absichtserklärungen worden sind; ein gutes Beispiel für uns in Europa, auf dem Londoner Gipfel aufgehoben, weil sich ja in Deutschland genauso wie in Frankreich und an- die Geschäftsbanken, zu sehr hohen Zinsen refinan- derswo. Und zum anderen: eine sehr hohe Mobilität zieren müssen und dies ebenfalls täglich. der Arbeitnehmer, von einem Beschäftigungsort zum anderen, von einer Branche in eine andere, von Weil die Vereinigten Staaten viel höhere Zinsen einem alten Arbeitsplatz in einen völlig anderen, zahlen als wir, legen viele Leute ihr Geld in Dollars neuen Arbeitsplatz mit völlig anderen Anforderun- an. Dadurch wird die Nachfrage nach Dollars und gen. Aus diesen beiden Beispielen können die euro- wird auch der Wechselkurs des Dollar weit über päischen Unternehmer und die europäischen Ar- dessen tatsächliche Kaufkraft gesteigert. Japani- beitnehmer manches lernen. sche und europäische Waren sind deshalb in den USA künstlich verbilligt — deswegen verkaufen wir (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr wohl!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5599

Schmidt (Hamburg) Mit Haß und mit Bitterkeit geführte Arbeits- tiger wäre als die Reglementierung von Preisen für kämpfe helfen dabei wenig. Hühner- und Schweinefutter. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) — Aber für die, die hier klatschen, sei gesagt: Na- Graf Lambsdorff hat gegenüber solchen Pro- türlich muß auch einmal gestreikt werden, meine blemen immer die Marktwirtschaft hochgehalten, Damen und Herren. Eine Demokratie — wenn ich und er hat sich als Marktgraf wacker geschlagen. In das der Christlich Demokratischen Union sagen den letzten dreieinhalb Jahren, Graf Lambsdorff, darf — ohne jeden Streik ist vermutlich gar keine habe ich Ihnen allerdings in zunehmendem Maße Demokratie. nicht mehr folgen können. Aber ich will auch sagen, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der daß ich heute genausowenig Anlaß sehe wie da- FDP) mals, an dem Brief zu zweifeln, den Sie als Bundes- minister mir als Kanzler im Frühjahr 1982 ge- Sie müssen sich ins Bewußtsein heben, daß es sich schrieben haben. Ich denke jedoch auch, daß Sie bei den mit einem Streik verbundenen Schäden in nicht erst bei Anklageerhebung und Einleitung des Wirklichkeit um Betriebskosten einer freiheitlich Verfahrens, sondern schon zu einem früheren Zeit- verfaßten demokratischen Gesellschaftsordnung punkt Ihren Abschied hätten nehmen sollen. handelt. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — (Beifall bei der SPD) Kittelmann [CDU/CSU]: Schwacher Beifall Aber wenn dies gesagt ist, dann muß man hinzu- bei der SPD! — Weitere anhaltende Zurufe fügen dürfen: Eine Regierung durfte nicht und darf von der CDU/CSU) auch in Zukunft nie, Herr Bundeskanzler, mit all Ich will mit drei Sätzen die Betrachtung der wirt- ihrer staatlichen Einflußmacht sich für die eine schaftlichen Lage Europas zusammenfassen, wie Seite eines Arbeitskampfes in die Bresche werfen, sie sich aus dem Bericht des Bundeskanzlers zu (Beifall bei der SPD) London und zu Fontainebleau ergibt. Trotz schließ- licher Einigung über den britischen Haushaltsbei- nachdem sie unmittelbar vorher der anderen Seite trag ist es bei den Schwächen der EG geblieben. Die schon empfindlich und einseitig die Sozialleistun- Europäische Gemeinschaft hat nicht genug Eigen- gen gekürzt hatte, und dann noch hoffen, daß der gewicht, um die USA zu einer gemeinverträglichen Sozialdemokrat Georg Leber ihr die Kastanien aus Haushalts-, Wechselkurs- und Zinspolitik zu drän- dem Feuer holt. gen. Eine gemeinsame Initiative der Staaten der (Beifall bei der SPD) EG zur Beseitigung oder zur Verringerung der Ar- beitslosigkeit ist nicht erkennbar. Die Sozialdemokraten geben ihrem Freunde Le- ber recht: Seine Vorschläge anzunehmen verlangt Dies letztere haben die Wähler — mit zwei klei- Mut von beiden Seiten; aber sie abzulehnen erfor- nen Ausnahmen — bei den europäischen Wahlen derte noch unendlich viel mehr Mut — denn was am vorletzten Wochenende genauso gesehen. Sie käme wohl danach? sind — erstens — nur in sehr geringer Zahl zur Wahlurne gegangen, weil sie von Europa gegenwär- Übrigens, auch das an die rechte Seite des Hau- tig keine Hilfe in ihren wirtschaftlichen Sorgen er- ses gesagt — — warten. Und zweitens: Sie haben, soweit sie gewählt (Zurufe von der CDU/CSU: An die Mitte!) haben, die eigenen Regierungen und Regierungs- parteien bestraft und die jeweiligen äußersten Op- — Die Mitte; also, wenn Sie Rechts und Mitte ver positionsparteien belohnt, z. B. die Rechtsradikalen schieben wollen, das hat Graf Lambsdorff auch in Frankreich, die Kommunisten in Italien oder die schon einmal gemacht, — ich habe nichts dagegen. GRÜNEN hier in Deutschland. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP Es gibt in den USA — das wollte ich Ihnen sagen — — Horacek [GRÜNE]: Das ist eine selt- - natürlich auch eine Wirtschaftsstrukturpolitik. same Aneinanderreihung! — Zuruf von der Der neue Wirtschaftsminister, der soeben einge- CDU/CSU: Das paßt aber gut zusammen!) schworen wurde, sollte die Mahnung unseres schei- — Ich habe nur gesagt: die äußersten Oppositions- denden Bundespräsidenten Carstens ernst nehmen. parteien. Herr Carstens hat dazu aufgerufen, die wirtschaftli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) che Erneuerung des Ruhrgebiets für eine Reihe von Jahren zu einer nationalen Aufgabe zu machen. Ich will ein Wort zur strategischen Lage Europas hinzufügen, die in London und auch in Fontaine- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne bleau ebenfalls behandelt worden ist; der Bundes- ten der CDU/CSU und der FDP) kanzler hat darüber Ausführungen gemacht. Die Das gilt jedoch nicht nur für die Ruhr. Ähnliches sieht nun allerdings keineswegs besser aus. In die- gilt doch für eine Hälfte Belgiens, für Nordfrank- sem Frühjahr haben zwei führende Amerikaner, reich, für wichtige Teile Hollands, für Mittelengland der Republikaner Henry Kissinger und der Demo- ganz genauso. Die ganze Europäische Gemeinschaft krat Senator Samuel Nunn, uns Europäern ange- muß begreifen, daß die strukturelle Erneuerung der droht: Entweder ihr Europäer tut mehr für eure Gebiete der alten Schornsteinindustrie mit ihren konventionelle Verteidigung, oder wir Amerikaner steigenden Arbeitslosenzahlen unendlich viel wich- werden unsere Truppen aus Europa in erheblichem 5600 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Schmidt (Hamburg) Maße abziehen. Beide Personen haben große Auto- men, sofern es z. B. militärstrategisch dabei bliebe, rität, und beide sind unbezweifelbar Freunde und daß das deutsche Territorium nicht nur als das zen- überzeugte Anhänger des Bündnisses zwischen trale Gefechtsfeld angesehen wird, sondern sich Nordamerika und Europa. auch das Schicksal Deutschlands und des westli- chen Teils Mitteleuropas in zunehmendem Maße (Horacek [GRÜNE]: Das sind wir aber als abhängig von Entscheidungen darstellt, die zwi- nicht!) schen Moskau und Washington fallen, und sofern es Gleichwohl haben beide in einigen wichtigen dabei bliebe, daß durch die offizielle Militärstrate- Punkten unrecht. Zum einen: Wer seine eigenen gie eines relativ frühen westlichen Erstgebrauchs Freunde und Alliierten unter Nötigung setzt, ge- von nuklearen Waffen — early first use — dem fährdet das gegenseitige Vertrauen. deutschen Volke die Vorstellung zunehmend be- (Beifall bei der SPD) wußt wird, es habe nur zu wählen zwischen entwe- der dem Verzicht auf wirksame Verteidigung oder Zum anderen: Die Vereinigten Staaten von Ame- der nuklearen Zerstörung des eigenen Landes. rika sind nicht die verteidigungspolitischen Wohltä- ter Europas, und wir Europäer sind nicht die Wohl- Deshalb hatte Präsident Mitterrand recht, als er fahrtsempfänger. Vielmehr bedürfen die USA als vor vier Wochen in Straßburg sagte: Die Zeit ist all- Seemacht des europäischen Kontinents auf der Ge- mählich vorbei, da Europa nur dazu bestimmt war, genseite des Atlantiks genauso, wie wir Europäer von anderen geteilt und zerschnitten zu werden, da des strategischen Rückhalts durch die USA bedür- er — ich zitiere wörtlich — von der „notwendigen fen. Und drittens — für mich gegenwärtig am wich- Pflege jener zerbrechlichen Bindungen" sprach, die tigsten —: Eine Verringerung der Truppen in Eu- den Dialog zwischen dem Osten und dem Westen ropa führt zwangsläufig zu einer weiteren Absen- Europas aufrecht erhält, und da er ganz offen von kung der sogenannten nuklearen Schwelle. Sie der Notwendigkeit gemeinsamer Verteidigung der würde im Verteidigungsfalle früher überschritten Europäer sprach, ohne die dabei noch zu überwin- als heute beabsichtigt; das genaue Gegenteil, die denden Schwierigkeiten zu verschweigen. Anhebung der nuklearen Schwelle, ist aber das, was notwendig ist. Europa ist immer noch kein eigenständiger Pfei- ler der Allianz geworden, den Präsident Kennedy Präsident Reagan hat diesen Antrag im Senat in einst gewollt hat. Europa verfügt auch auf dem der vorigen Woche abwehren können, aber er hat Felde der Sicherheit nicht über ein für seine eige- selbst wiederholt höhere Verteidigungsausgaben nen Interessen ausreichendes Gewicht innerhalb der Europäer verlangt. Geldausgeben an sich ist unseres Bündnisses mit den Vereinigten Staaten nach meinem Urteil noch keine Sicherheitsstrate- und mit Kanada. Man kann die wirtschaftliche und gie; das will ich deutlich sagen. die strategische Situation Europas, die ich skizziert (Beifall bei der SPD) habe, durchaus so zusammenfassen, wie das vor ein Wenn von Verteidigung die Rede ist, stehen für paar Tagen Flora Lewis in der „Herold Tribune" mich an erster Stelle vielmehr die Soldaten, die getan hat. Ich zitiere: „Europa hat keine Kraft Männer in Uniform; sodann zählt ihre Motivation; mehr." „Europe has run out of steam", hat sie ge- an dritter Stelle zählt ihre militärische Ausbildung, schrieben. Weiter heißt es: „Die Paralyse Europas ihre Fähigkeit zum Entschluß und zu dessen Ver- könnte Washington in Versuchung führen, allein zu wirklichung. Und dann erst, an vierter Stelle, zählen handeln." Natürlich widerrät diese bedeutende Ko- Fahrzeuge, Flugzeuge, Schiffe, Waffen und Gerät; lumnistin, einer solchen Versuchung nachzugeben, das heißt: Es geht nicht ohne Haushalt. Vor allem das ist klar. aber macht das Ganze nur im Rahmen einer Ge- Man kann, wenn man etwas weniger dramatisch samtstrategie Sinn, zu der auch die Rüstungskon- formulieren will, zitieren, was vor vier Wochen der trollpolitik gehört, die den Frieden bewahren hilft Bundespräsident Carstens und König Juan Carlos und die nicht etwa androht, das zu zerstören, was in Aachen nacheinander gesagt haben. Der erstere wir gemeinsam verteidigen wollen. sagte: „Das Bild der Europäischen Gemeinschaft (Beifall bei der SPD) hat Risse, die Gemeinschaft befindet sich in einer Deshalb haben jene Amerikaner und alle anderen Krise." Der spanische König fügte hinzu: „Müdig- recht, welche die nukleare Schwelle anheben wol- keit, Mutlosigkeit und Skepsis haben sich breitge- len, damit nicht bei der Verteidigung das zerstört macht." So ist es in der Tat. So ist es am allerdeut- wird, was wir verteidigen wollen. lichsten übrigens in England. Eine weitere Zuspitzung des gegenwärtigen zwei- Mit Ausnahme der sozialdemokratisch-liberalen ten Kalten Krieges zwischen Moskau und Washing- Allianz ist im übrigen für große Teile der politi- ton ist durchaus denkbar. Damit wird dann auch schen Kräfte Englands nach wir vor der Kanal brei- eine weitere einseitige Konzentration auf nuklear- ter als der Atlantik. Dies hat sich seit dem Beitritt strategische Waffensysteme und auch ein weiteres Großbritanniens immer wieder gezeigt. Es muß Ausbleiben von Rüstungsbegrenzungs- und Abrü- wohl leider auch für den Rest der 80er Jahre davon stungsverträgen durchaus denkbar; man kann das ausgegangen werden. Ich fürchte, daß konkrete In- nicht ausschließen. Hier werden nun europäische tegrationsfortschritte entweder am Beharrungsver- Sicherheitsinteressen, strategische Interessen un- mögen Englands scheitern könnten oder aber daß mittelbar berührt. Insbesondere werden auch deut- sie nur unter anfänglicher Nicht-Beteiligung sche, holländische usw. Besorgnisse noch zuneh- Englands stattfinden, wie das z. B. beim Europäi- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5601

Schmidt (Hamburg) schen Währungssystem schon einmal geschehen mit mir von Alex Möller, der nicht mehr diesem ist. Hause angehört, gelernt, daß Außenwährungspoli- In dieser Lage Europas muß man bei Robert tik zugleich auch immer Außenpolitik ist. Schuman und bei Jean Monnet, bei Adenauer und (Zuruf von der CDU/CSU: Warum ist er de Gaulle wieder anknüpfen. So wie die Begrün- dann zurückgetreten? — Kittelmann dung der europäischen Integration historisch nur [CDU/CSU]: Er hat über den Tellerrand ge durch die französische Initiative zum Schumanplan schaut! — Weiterer Zuruf von der CDU/ möglich war, so wie alle Fortschritte seit der Messi- CSU: Das hat er vergessen!) na-Konferenz Mitte der 50er Jahre nur durch enges Das Endziel muß, wenn das Schuldenproblem in Zusammenwirken von Paris und Bonn zustande ge- Südamerika, wenn das Haushaltsproblem in Nord- bracht werden konnten, so bedarf die Eigenständig- amerika in Griff ist, darin gesucht werden, ein keit Europas, von der in Paris heute so viel die Rede Dreieckssystem relativ stabiler Wechselkurse zwi- ist, heute erneut französischer Initiative und so- schen dem europäischen dem amerikanischen dann französischdeutschen Zusammenwirkens. ECU, Dollar und dem japanischen Yen herzustellen. Nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne der Ausbau des Europäischen Währungssystems er- ten der CDU/CSU und der FDP) laubte der Europäischen Gemeinschaft eine stär- Die Straßburger Rede des Staatspräsidenten vom kere Unabhängigkeit von den USA und notfalls 24. Mai bietet hierfür fruchtbare Ausgangspunkte. auch die Ausübung von Druck auf die amerikani- Das gilt z. B. für die Vorschläge hinsichtlich der sche Haushalts- und Kredit- und Zinspolitik. Elektronik, des Weltraums, des Verkehrswesens, Im dritten Kapitel eines gemeinsamen deutsch- der Kultur. Aber ich will auch hinzufügen: Für die französischen Projektes müßte von Arbeitsplatzbe- Funktionstüchtigkeit der Europäischen Gemein- schaffung und Modernisierung die Rede sein, eben schaft ist besonders dringlich die endliche Herstel- nicht nur auf militärischem Felde, sondern insbe- lung des gemeinsamen Binnenmarktes und der sondere auf den vier Feldern, die Mitterrand in Ausbau des Europäischen Währungssystems ein- Straßburg angegeben hat: Elektronikforschung, Er- schließlich des Ausbaus des ECU zu einer interna- forschung und Nutzung des Weltraums, Verkehrs- tionalen Reservewährung. wesen — z. B. ein Programm für die Ausrüstung der (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Hauptstrecken in Europa mit Hochgeschwindig- der FDP) keitsverkehr wie etwa heute zwischen Paris und Lyon — und die von ihm genannte ganze Skala der Der Bundeskanzler empfindet sich als einen poli- kulturellen Zusammenarbeit. Ich unterstreiche ei- tischen Enkel von Konrad Adenauer. Wenn dem so nen Punkt, den der Bundeskanzler genannt hat: Es ist, so sollte er den gleichen Weitblick aufbringen müssen als fünftes die gemeinsame Entwicklung wie jener und entschlossen auf alle Vorschläge Mit- und wirtschaftliche Nutzung umweltfreundlicher terrands, die dieser in Straßburg gemacht hat, zuge- Technologie dazukommen. hen. Im vierten Kapitel braucht die Europäische Ge- Ich spreche zunächst von einer gemeinsamen meinschaft für die Beeinflussung der Weltmärkte deutsch-französischen wirtschaftspolitischen Initia- und des Verhaltens des Internationalen Währungs- tive. fonds, der Weltbank etc. ein gemeinsames europäi- Sie sollte als erstes Kapitel einen positiven Ak- sches Konzept zur Entschärfung des Schulden tionsplan enthalten, für die Herstellung eines wirk- problems der Entwicklungsländer. lichen gemeinsamen Binnenmarktes für alle Mit- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gliedsländer plus die beiden, die ab 1. Januar 1986 dazukommen. Ich schließe das fünfte Kapitel gleich an: Europa braucht ein gemeinsames Programm zur besseren Sie sollte im zweiten Kapitel die zweite Stufe des Entwicklungshilfe für die am wenigsten entfalteten Europäischen Währungssystems herstellen. Hier Entwicklungsländer, die sogenannten LLDCs, die muß nun unsere Bundesbank endlich ihren Wider- so arm sind, daß sie gar nicht kreditwürdig- waren, stand aufgeben, der sie bisher nach dem Motto han- um im westlichen Bankensystem überhaupt einen deln ließ, der Starke sei am mächtigsten allein. Wir Kredit zu bekommen. Öffentliche Entwicklungs- haben der Bundesregierung Kohl/Genscher die hilfe nützt unserer europäischen Industrie und un- größten Devisenreserven aller Staaten der Welt serer Beschäftigung weit mehr als immer neue Sub- hinterlassen, größer als der USA, größer als der ventionen für landwirtschaftliche Überschußpro- Sowjetunion, größer als Japan. dukte. (Kittelmann [CDU/CSU]: So relaltiv ist das (Beifall bei der SPD) eben!) Ich füge einige Gedanken für eine gemeinsame Wir haben sie nicht vorgefunden, als wir anfingen. französisch-deutsche Sicherheitsinitiative Diese Devisenreserven müssen nun allerdings zum hinzu; ich sage hier mit Absicht „französisch-deutsch" in Nutzen der Gemeinschaft und zum Nutzen dieser Reihenfolge. Frankreichs auch verfügbar gemacht werden. (Beifall bei der SPD) Im ersten Kapitel — anders als in den USA und in England — haben Franzosen und Deutsche die Manche der hier anwesenden älteren Kollegen Wehrpflicht beibehalten. Sie verfügen deshalb in haben vielleicht vor knapp 20 Jahren gemeinsam hoher Zahl über militärisch ausgebildete Personal- 5602 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Schmidt (Hamburg) reserven. Deutschland könnte heute nach Mobilisie- mehr mit der Drohung amerikanischer Abzüge be- rung innerhalb einer Woche die stehenden konven- helligt werden. tionellen Streitkräfte der Bundeswehr auf das (Beifall bei der SPD) Zweieinhalbfache bringen. Jedenfalls beim Heer könnten wir es nach Mobilisierung von 12 auf 18 Das vorgestellte Konzept würde sich selbstver- Divisionen bringen. Frankreich könnte nach Mobili- ständlich im Rahmen des Nordatlantischen Ver- sierung seine stehenden konventionellen Streit- trages bewegen, zugleich im Rahmen des WEU-Ver- kräfte fast auf die gleiche Zahl von Divisionen stei- trages. Es bedürfte keines neuen völkerrechtlichen gern und könnte nach Mobilisierung etwa 12 Divi- Vertragsinstruments; es bedürfte nur gemeinsamer sionen für die gemeinsame Verteidigung Europas Beschlüsse in Ausführungen des Elysee-Vertrages. vorsehen. 30 französische und deutsche Divisionen Die Benelux-Länder und Großbritannien könnten zusammen reichen auf der Basis gemeinsamer ope- zur Beteiligung eingeladen werden. Zugleich könn- rativer Pläne — solche Pläne gibt es ja doch seit ten sie einige ihrer Truppen auf ihren heimatlichen 1969; damals war ich Verteidigungsminister und Boden zurückverlegen. kenne daher die Materie — zur Verteidigung des Ich sage noch einmal: Dies geht alles selbstver- westlichen Teils von Mitteleuropa und zur Ab- ständlich nicht ohne den Rückhalt durch die Verei- schreckung jedweden Angriffs aus, zumal wenn nigten Staaten von Amerika, auch nicht ohne den dann die holländischen und die belgischen Wehr- Rückhalt durch Großbritannien. Der ist unentbehr- pflichtverbände hinzugerechnet werden, außerdem lich. jene amerikanischen und englischen Verbände aus Wenn sich Paris und Bonn zu solchen Reformen Berufssoldaten, die ja wohl auch in späterer Zeit, entschließen sollten, 35 Jahre nach Gründung der wenn auch verringert, auf dem Kontinent verblei- NATO, so würde — das zeigen die Meinungsumfra- ben werden. gen in Frankreich wie in Deutschland — die öffent- Im zweiten Kapitel muß man feststellen, daß für liche Meinung Frankreichs wohl zu zwei Dritteln diese zusätzlichen Mobilmachungsdivisionen in positiv reagieren und die öffentliche Meinung der Frankreich wie in Deutschland gegenwärtig viele Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich zu Fahrzeuge, konventionelle Waffen, auch moderne drei Vierteln positiv reagieren. Die Aufnahme in konventionelle Waffen zur Bekämpfung der gegne- Amerika wäre zunächst teilweise auch kritisch zu rischen Luftwaffe und zu allermeist konventionelle erwarten. Letztlich würde aber die amerikanische fehlen. Das alles gilt für Frankreich in noch höhe- Regierung sehen, daß hier tatsächlich etwas Durch- rem Maße als für uns. Die Bereitstellung des feh- greifendes zur Stärkung der konventionellen Ver- lenden Materials würde vielleicht drei oder vier teidigung Europas geschieht, wie es die USA immer oder fünf Jahre dauern. Vor allem würde sie zusätz- wieder verlangt haben, und daß hier tatsächlich die liche Finanzmittel erfordern. sogenannte nukleare Schwelle angehoben und da- mit ein nuklearer Krieg in Europa unwahrscheinli- (Vorsitz: Vizepräsident Westphal) cher gemacht wird. Das führt zu dem dritten Kapitel. Die nötigen Die Aufnahme in England wäre vermutlich ab- Finanzmittel wären auf deutscher Seite zu einem wartend und zögerlich. Man würde sich dort ver- erheblichen Teil zu erwirtschaften durch Verzicht mutlich zunächst distanziert geben. Im Falle des auf jedwede taktisch-nukleare Doppelbewaffnung Erfolges der französisch-deutschen Initiative würde unseres Heeres und auf weitestgehenden Abbau man vielleicht später beitreten wollen. der nuklearen Doppelrolle der deutschen Luft- Die Aufnahme in der Sowjetunion wäre vermut- waffe. lich zunächst propagandistisch-kritisch zu erwar- ten: angebliche Aufrüstung Westeuropas, Vergleich (Beifall bei der SPD) mit den Heeren Hitlers oder Napoleons. Tatsächlich Auch auf französischer Seite wäre eine gewisse aber würde die sowjetische Führung die Anhebung Schwergewichtsverlagerung der Haushaltsaufwen- der Nuklearschwelle innerlich begrüßen. Und sie dungen von den nuklearen zu den konventionellen würde auch wissen, daß 30 mobilisierte Divisionen Ausstattungen wohl möglich und nötig. Im übrigen der Franzosen und der Deutschen zusammen zum ist von deutscher Seite eine umfangreiche Mitfinan- Angriff auf die sowjetischen Truppenmassen viel zu zierung für gemeinsame Waffenentwicklungen kon- schwach wären, weil sie gegenüber sowjetischer ventioneller Art und Produktion vorzusehen. Mobilisierung zahlenmäßig weit unterlegen wären. Von einer Bedrohung der Sowjetunion könnte Natürlich kann bei alledem nach meiner Einsicht ernsthaft nicht die Rede sein. und meiner festen Überzeugung auf die Nordatlan- Bei alledem muß die rüstungspolitische Zusam- tische Allianz mit den Vereinigten Staaten, auf die menarbeit zwischen Frankreich und Deutschland amerikanische Aufklärungskapazität, auf die nuk- wie bisher bei Noratlas, Transall, AlphaJet, Hot, learstrategische Abschreckung durch die USA wirk- Milan, Roland und wie das alles heißt und die tech- lich nicht verzichtet werden. Wohl aber kann dann nologische Zusammenarbeit in der Luft- und Raum- unter der Voraussetzung gemeinsamer Verfügbar- fahrt wie bei Airbus, Ariane und Symphonie weiter- keit von 30 französischen und deutschen Divisionen gehen. Das ist alles bisher recht erfolgreich gewe- im Mobilmachungsfall tatsächlich die Präsenz ame- sen und müßte verbreitert werden. rikanischer Heeresverbände in Europa wesentlich verringert werden. Und in Klammern und leise füge Mir scheint: Die Zeit ist reif für einen franzö- ich hinzu: Und Europa könnte dann auch nicht sisch-deutschen gemeinsamen Ansatz auf dem Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5603

Schmidt (Hamburg) Felde der Verteidigung. Und der würde dann zu- hung. Frankreich ist erstens eine autonome nuk- gleich der politischen Eigenständigkeit Europas leare Macht. Frankreich ist zweitens Inhaber eines dienen. Wenn die EG auf wirtschaftlichem Gebiet ständigen Sitzes mit Vetorecht im Sicherheitsrat wirklich nicht vorankäme, so würde jedenfalls von der Vereinten Nationen. Frankreich ist drittens der sicherheitspolitischen Seite her ein neuer Füh- Schutzmacht für Berlin. Wir Deutschen hingegen rungsanstoß möglich sein. Beides zusammen wäre sind Garantieempfänger hinsichtlich Berlins. um so besser. Europa würde dann endlich wieder an Frankreich trägt viertens als Potsdamer Sieger- politischem Gewicht zunehmen. macht Verantwortung für Deutschland als Ganzes. An dieser Stelle — gegen Schluß — möchte ich Fünftens ist Frankreich ungeteilt, und es ist sich eine kleine Abschweifung versuchen. Ich möchte seiner historischen Identität gewiß. Deutschland hingegen leidet an der Teilung, es leidet an der versuchen, mich in die Lage des französischen Staatspräsidenten hineinzudenken. Scham über Hitler und Auschwitz, und es gibt viele Ungewißheiten. (Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Das wäre schön!) Eine Weltrolle Frankreichs an der Spitze eines französisch-deutschen Tandems ist möglich, jeden Seine Presse in Paris interpretiert die Friedensbe- falls würde ein solches Tandem de facto zugleich wegung und die Grünen in Deutschland — weitge- zur politischen Führung der Europäischen Gemein- hend wohl zu Unrecht — als tendenziell neutrali- schaft führen, auch wenn wir dabei keineswegs — stisch, als tendenziell integrationsfeindlich. Aber ich stimme mit dem Bundeskanzler überein — von diese Bewegungen begegnen in Frankreich zuneh- einem Europa à deux vitesses reden sollten. mender Besorgnis. Deutschland und Frankreich wollen beide in Frie- (Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Auch die Bewe den mit dem russischen Nachbarn leben. Wir wollen gung der SPD!) uns beide vor dem Nachbarn sicher fühlen. Aber auf der Grundlage dieser Sicherheit wollen wir Der Präsident weiß zugleich, daß die bisherige fran- beide mit diesem Nachbarn zusammenarbeiten, auf zösische Nuklearstrategie die Deutschen hinsicht- dem Felde der Rüstungsbegrenzung zumal, aber lich ihrer Verteidigung in ausschließlicher Abhän- auch auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet. gigkeit von den USA beläßt. Er könnte also zu dem Deswegen wollten wir zu keiner Zeit Kreuzzüge ge- Schluß kommen, daß ein französisch-deutscher An- gen diesen Nachbarn führen. Wir wissen, daß dieser satz zu gemeinsamer Verteidigung auch deutsches Nachbar zahlreich und mächtig ist, daß er sehr Selbstvertrauen festigen und den die Franzosen be- nahe ist und daß er unser Nachbar bleiben wird. unruhigenden, bei uns angeblich beobachteten Ten- denzen einen wichtigen Teil des Wachstumsbodens Einer der größten Europäer dieses Jahrhunderts, entziehen kann. Er könnte deshalb zu dem Ent- Winston Churchill, hat in seiner berühmten Zür- schluß gelangen, daß die Aufgabenstellung der cher Universitätsrede 1946 gesagt: autonomen französischen Force de frappe durch Der erste Schritt bei der Neubildung der euro- einseitige Erklärung seinerseits auch auf den päischen Familie muß sein: Zusammengehen Schutz Deutschlands erstreckt wird. Er würde uns zwischen Frankreich und Deutschland. Nur so Deutschen kein Mitspracherecht einräumen wollen, kann Frankreich die moralische Führung in ausdrücklich nicht sondern lediglich insofern, als Europa erlangen. Es gibt kein Wiedererstehen etwa deutsches Territorium als Abschußbasis oder Europas ohne ein geistig großes Frankreich als Zielgebiet in Frage käme; er gäbe Deutschen und ohne ein geistig großes Deutschland. ausdrücklich weder einen Finger am Abzugshahn noch am Sicherungsbügel. Er könnte aber sagen: Herr Bundeskanzler, Sie haben vielfach An- Ich erkenne an, daß wir Franzosen für die Sicher- spruch auf geistig-moralische Führung erhoben. heit Deutschlands mit verantwortlich sind; denn Nach meiner Staatsauffassung ginge dies weit über umgekehrt haben ja die Deutschen längst schon die Aufgabe einer demokratischen Regierung hin- Verantwortung auch für die Verteidigung aus. Frankreichs an der Elbe übernommen. (Beifall bei der SPD) - (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Das klingt Wohl aber wird politische Führung von Ihnen er- alles sehr gut!) wartet. Zur politischen Führung unseres Landes in Wenn aber Frankreich seine autonome Nuklear- der zweiten Hälfte der 80er Jahre gehört es, die in macht auch auf die Abschreckung zugunsten Straßburg ausgestreckte Hand des französischen Deutschlands erstrecken sollte, so müßte Deutsch- Präsidenten zu ergreifen. Sie beide können sich da- land dann allerdings für die anderen Teile des Pro- bei auch auf Winston Churchill berufen, der dann — gramms seine Kapital- und Finanzkraft einbringen. ich zitiere ihn nochmals — „von der Rettung des Beide Seiten würden ihre soldatischen Fähigkeiten, einfachen Mannes in Europa" sprach, der „Rettung Frankreich würde seine große geschichtliche Mili- vor Krieg und Tyrannei," und der dazu wörtlich gesagt hat: tärtradition in die gemeinsame Verteidigung ein- bringen. Bei diesem so dringend notwendigen Werk müssen Frankreich und Deutschland zusam- Am Schluß ein Wort zur französischen Führung Europas. Frankreich ist zwar nicht wirtschaftlich men die Führung übernehmen. und finanziell der Bundesrepublik Deutschland (Lebhafter anhaltender Beifall bei der überlegen, wohl aber fünffach in anderer Bezie- SPD) 5604 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abge- In der Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 ist ordnete Hauser (Krefeld). dazu gesagt: Die deutsch-französische Freundschaft ist tra- Hauser (Krefeld) (CDU/CSU): Herr Präsident! gender Pfeiler eines enger zusammenwachsen- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr den Europas. Bundeskanzler, wir haben Ihren Bericht über den europäischen Gipfel von Fontainebleau entgegenge- Dem damals verkündeten Ziel, die Bundesregie- nommen. Namens der CDU/CSU-Fraktion möchte rung trete trotz aller Schwierigkeiten und Probleme ich Sie zunächst zu dem dort erreichten großen Er- dafür ein, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten folg herzlich beglückwünschen. der Europäischen Gemeinschaft einander anzunä- hern, sind wir kontinuierlich nähergekommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Bundeskanzler, Sie haben vor einem Jahr Dieser Erfolg ist die Frucht einer beharrlichen zur europäischen Einigung erklärt, daß wir bei die- Kraftanstrengung, die über ein Jahr währte, die sem zentralen Punkt deutscher Zukunft in histori- sich durch zwischenzeitliche Mißerfolge nicht ent- schen Zeiträumen denken müssen. Die Beschlüsse mutigen ließ und die dank der hervorragenden von Stuttgart und Fontainebleau sind — darüber deutsch-französischen Zusammenarbeit jetzt in ei- freuen wir uns — etwas schneller zustande gekom- nen allgemeinen Konsens einmündete. men. Jedoch bestätigen die Schwierigkeiten, die da- Herr Kollege Schmidt, niemand sagt nach diesem bei zu überwinden waren, die Richtigkeit Ihrer vor- Ergebnis: Ende gut, alles gut. Wir wissen sehr wohl, sichtigen Einschätzung der europäischen Gesamtsi- daß auf der Basis des jetzt Erreichten intensiv wei- tuation. Die Beschlüsse von Fontainebleau enthal- tergearbeitet werden muß, um zu den Ergebnissen ten endlich die Lösung der Beitragsrückerstattung zu kommen, die wir gemeinsam anstreben wollen. an Großbritannien. Im Rahmen eines mehrjährigen Aber die unter Ihrem Vorsitz, Herr Bundeskanz- Mechanismus zur Dämpfung des Ungleichgewichts ler, vor einem Jahr in Stuttgart eingeleiteten Lösun- des EG-Haushalts erhält Großbritannien einen gen zur Weiterentwicklung der Europäischen Ge- Haushaltsausgleich. Dieser Korrekturmechanismus meinschaft konnten jetzt durch die Einfügung des ist Teil des Beschlusses über die neuen EG-Eigen Schlußsteins „Rückerstattungsanspruch Großbri- mittel und gilt so lange, wie die Regelung über den tanniens" in Beschlüsse umgesetzt werden. Mehrwertsteueranteil von 1,4 % reicht. Die Bundes- republik trägt zum britischen Haushaltsausgleich Vizepräsident Westphal: Herr Kollege Hauser, nur zwei Drittel ihres regulären Ausgleichsanteils darf ich Sie einen Moment unterbrechen? bei. 1984 sparen wir damit 120 Millionen ECU und in den Folgejahren entsprechend mehr. Ich bitte die Abgeordnetenkollegen auf der Lin- ken, entweder ihre Gespräche draußen zu führen Das neue System ist zweifelsohne ein beträchtli- oder zuzuhören. — Fahren Sie bitte fort, Herr Abge- cher Fortschritt. Es beendet das jährliche Gerangel ordneter. um den Haushaltsausgleich Großbritanniens. Die EG kann sich jetzt stärker auf die Sacharbeit kon- Hauser (Krefeld) (CDU/CSU): Das alles wäre zentrieren. Für Großbritannien ist das Ergebnis nicht möglich gewesen, wenn nicht die Bundesrepu- durchaus respektabel. Die Bundesrepublik wird fi- blik und Frankreich von der Auffassung durchdrun- nanziell weniger belastet, als wir alle selbst be- gen wären, daß nur die Zusammenführung Europas fürchtet haben. den Wohlstand der europäischen Völker sichert. Auf Die Frage der Beitragsobergrenze bleibt aber den von Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide auch weiterhin von elementarem Interesse für die de Gasperi und de Gaulle gelegten Fundamenten Gemeinschaft. Sie ist das entscheidende Mittel, um haben Sie, Herr Bundeskanzler, in der Tradition eine sparsame und effektive Ausgabenpolitik der des europäischen Einigungswillens einen entschei- EG zu gewährleisten und die nationalen Haushalte denden Beitrag zum Durchbruch in Fontainebleau vor einer Überforderung zu bewahren. geleistet. Uns allen ist dadurch eine schwere Ent- täuschung erspart geblieben. Europa kann wieder Deswegen ist es besonders bedeutsam,- daß die Hoffnung schöpfen. jetzt gefundene Regelung kein Präjudiz für die nachfolgende Zeit darstellt. Jeder Mitgliedstaat Meine Damen und Herren, ich möchte hier ge- kann zu gegebener Zeit in den Genuß einer Korrek- rade wegen der letzten Ausführungen des Kollegen turmaßnahme gelangen. Voraussetzung hierfür ist, Schmidt sagen: Die Bedeutung der deutsch-franzö- daß er, gemessen an seinem relativen Wohlstand, sischen Zusammenarbeit ist von uns und in unserer eine zu große Haushaltslast trägt. Politik nicht erst heute erkannt worden; sie war die Grundlage der Außenpolitik von Konrad Adenauer Diese Vereinbarung bildet auch gleichzeitig die und ist von uns ununterbrochen kontinuierlich fort- Grundlage für die angekündigte Hilfe für die deut- geführt worden. schen Bauern. Das der Landwirtschaft gegebene Wort, meine Damen und Herren, ist nach diesen (Beifall bei der CDU/CSU) Ergebnissen von Fontainebleau und den gestrigen Von daher brauchen wir im Hinblick auf die Bedeu- Beschlüssen hier in diesem Hohen Hause eingelöst tung der deutsch-französischen Freundschaft kei- worden. Dies ist der Inhalt des Beschlusses der Re- nen Nachhilfeunterricht. gierungschefs, den deutschen Beitrag zu billigen. (Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Na, na, Die EG-Kommission ist vom Europäischen Rat be- na!) auftragt worden, Vorschläge mit dem Ziel der Er- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5605

Hauser (Krefeld) mächtigung an die Bundesrepublik vorzulegen, die gerufen wurden. Das soll jetzt anders werden. Es ist Vorsteuerpauschale von 3 % auf 5 % ab 1. Juli 1984 notwendig, daß das anders wird. bis 31. Dezember 1988 anzuheben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Besonders erfreulich ist auch die Absprache zum Der für diese Aufgaben gebildete Ad-hoc-Aus- Abbau der Grenzkontrollen zwischen Frankreich schuß aus Vertretern der Staats- und Regierungs- und der Bundesrepublik, da uns alle die bisherigen chefs kann sich bei der Erfüllung dieser Aufgaben Zwischenergebnisse nicht befriedigen konnten. Die große Verdienste erwerben und sicher auch noch beiden persönlichen Beauftragten sollen den Abbau einige eigene Ideen produzieren. Damit ist der Wei- koordinieren und beschleunigen. Wir wünschen den terentwicklung Europas ein festes Ziel gesetzt. Das Beauftragten Erfolg auch beim Kampf gegen die wird der angestrebten politischen Union Europas eigenen Bürokratien, beim Kampf für den Abbau auch einen starken Auftrieb geben. Wir haben vor überflüssiger Grenzbarrieren, der von allen Bür- drei Wochen in diesem Hohen Haus über diese Fra- gern gewünscht wird. gen gesprochen. Ich möchte nur sagen: Wenn wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wollen — auch hier gibt es keine Meinungsver- schiedenheit zu dem, was Herr Kollege Schmidt Das Problembewußtsein in Sachen Umweltschutz dazu gesagt hat —, daß Europa international wirt- beginnt erfreulicherweise jetzt auch bei unseren schaftlich, strategisch und politisch mehr Gewicht Partnerländern zu wachsen. Das war ja leider nicht bekommt, dann müssen wir diesen eingeschlagenen immer so. Der Bundesregierung ist beizupflichten, und in Fontainebleau beschlossenen Weg jetzt kon- daß die beschleunigte Einführung von bleifreiem sequent beschreiten. Benzin ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) besseren Umwelt ist. Das ist ein wichtiger Einstieg für die Bewältigung weiterer drängender Umwelt- Der Gipfel von London ist für die Bundesrepublik probleme. ermutigend. Es besteht nunmehr volle Übereinstim- mung über die gemeinsamen Ziele, u. a. den wirt- Mit dem in Fontainebleau erzielten Ergebnis schaftlichen Aufschwung zu stärken, die Inflation kann die Bundesrepublik zufrieden sein. Heute zu bekämpfen und die Arbeitsmarktsituation zu zeigt sich, daß es richtig war, für Stuttgart ein Paket verbessern, die Mobilität und Flexibilität auf dem zu schnüren und dieses Paket zusammenzuhalten. Arbeitsmarkt zu fördern. London hat erneut die Po- Jetzt ist der Schutt weg und der Weg frei für einen sition von Williamsburg bestätigt, daß an der Kon- neuen Anlauf in Europa. Das ist der von uns be- trolle des Geldmengenwachstums festgehalten wer- grüßte Kern dieser Entscheidungen. Es muß auch den soll und die Haushaltsdefizite weiter reduziert nicht der ganze Zug still stehen, wenn nicht alle werden sollen. alles zum gleichen Zeitpunkt gemeinsam durchfüh- ren können. Auch darüber sollten wir weiter nach- Die unbefriedigende Arbeitsmarktlage in den denken. meisten Gipfel-Ländern hat zu klaren Aussagen über die zu treffenden Maßnahmen geführt, so daß Der Europäische Rat hat bestätigt, daß die Ver- die wirtschaftspolitische Erklärung des Londoner handlungen über den Beitritt Spaniens und Portu- Gipfels eine klare Bestätigung der Richtigkeit des gals spätestens am 30. September 1984 abgeschlos- Kurses auch der deutschen Wirtschaftspolitik bein- sen sein sollen. Mit diesem Beschluß wird unterstri- halten konnte. Es geht dabei um die Lösung des chen, daß es allen Beteiligten um die Erweiterung Beschäftigungsproblems durch eine Stärkung der der Europäischen Gemeinschaft ernst ist. Dieser marktwirtschaftlichen Kräfte. Das, was in den na- Fortschritt sollte uns mit Befriedigung erfüllen, tionalen Wirtschaftspolitiken geschieht, hat Wir- auch wenn, wie wir alle wissen, noch einige schwie- kungen auf die internationale Entwicklung. Wir rige Probleme zu lösen sind: im Bereich der Fische- können dies nicht voneinander abkoppeln. Darum rei, der Weinmarktordnung und des Ausgleichs zwi- müssen wir auch hier in der Bundesrepublik in un- schen landwirtschaftlichem und gewerblichem Be- serer Wirtschaftspolitik einen entscheidenden Bei- reich. trag dazu leisten, daß mit marktwirtschaftlichen Konzepten — und nicht dirigistisch — diese inter- Wir begrüßen es, daß die in Fontainebleau gefaß- nationalen Probleme gelöst werden. ten Beschlüsse bürgernah sind, daß das Europa der Bürger jetzt Gestalt annimmt. Die Einführung des (Beifall bei der CDU/CSU) europäischen Passes bis spätestens Januar 1985, die Begrüßenswert sind neue Elemente, die die bishe- Einführung eines Einheitsdokuments im Warenver- rige Strategie gegenüber den Schuldnerländern er- kehr, die Gleichwertigkeit der Hochschuldiplome, gänzen, nämlich u. a. die Berücksichtigung politi- die Prägung der europäischen Münze, die Einset- scher, sozialer Schwierigkeiten in den Entwick- zung europäischer Entwicklungshilfe oder auch die lungsländern, eine Stärkung der Rolle der Welt- Bildung von Europamannschaften im Sport — das bank, wobei insbesondere die mittel- und langfri- alles sind sinnvolle Maßnahmen, um jedem Bürger stige Entwicklung stärker im Mittelpunkt stehen deutlich zu machen, daß Europa real existiert und soll. für jeden praktische Vorteile bringt. Eine der Er- kenntnisse aus der Europawahl war doch wohl, daß Der Auftrag an die Finanzminister, die Arbeit zur wir in dieser Hinsicht in den zurückliegenden Jah- Verbesserung des internationalen Währungssy- ren zuwenig getan haben und daß unsere Bürger stems bis zum ersten Halbjahr 1985 abzuschließen, gar nicht wußten, für was sie denn an die Wahlurne ist auch unter dem Gesichtspunkt der internationa- 5606 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Hauser (Krefeld) len Verschuldungskrise von großer Bedeutung. Po- junkturbelebung auch die Zahl der Arbeitslosen sitiv zu bewerten ist die Übereinkunft der fünf verringern. Schlüsselwährungsländer, die multilaterale Über- Meine Damen und Herren, dies zeigt auf der an- wachung der Währungspolitik fortzusetzen und die deren Seite — ich meine, das sollte man hier auch Konvergenz der Wirtschaftsentwicklung durch we- einmal sagen —, daß die Unternehmen in schlech- niger Inflation und mehr Wachstum weiter anzu- ten Zeiten mehr Menschen halten, als für die zu streben. erledigende Arbeit erforderlich ist. Damit erfüllen Die Einbeziehung des Umweltschutzes in die zu- sie auch eine wichtige soziale Funktion, was einmal künftigen Arbeiten ist ebenso positiv hervorzuhe- anerkannt werden sollte. ben wie die beschlossene beschleunigte Durchfüh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung des laufenden GATT-Arbeitsprogramms, um vorhandene Handelshemmnisse abzubauen und Meine Damen und Herren, am Beginn der neuen dem protektionistischen Druck zu begegnen. Koalition standen wichtige Grundsatzentscheidun- gen. Wir können uns an ihnen messen lassen. Wir Die CDU/CSU-Fraktion kann den beteiligten Re- wollten, daß der Bürger wieder mehr von seiner gierungschefs bestätigen, daß sie mit diesem Über- eigenen Leistung hat, daß er mehr Freiheit hat und einkommen eine angemessene Antwort auf die an- weniger vom Staat gegängelt wird, daß die Staats- stehenden wirtschaftspolitischen Probleme gefun- quote langfristig zurückgeführt wird und daß vor den haben. Die Bundesrepublik kann mit dem Er- allem die Wirtschaft wieder in Schwung kommt. gebnis des Londoner Gipfels zufrieden sein. Eine prosperierende Volkswirtschaft ist das A und (Beifall bei der CDU/CSU) O für den einzelnen, für den Staat und für all die schönen Pläne, die es natürlich nach wie vor in die- Dem Interventionismus wurde in London eine deut- sem Hohen Hause gibt. liche Absage erteilt. Als wir im Herbst 1982 die Regierungsverantwor- Aber, meine Damen und Herren, ich füge hinzu, tung übernahmen, befand sich die Bundesrepublik jetzt kommt es auch darauf an, daß die in London Deutschland in ihrer schwersten Wirtschafts- und gefaßten Beschlüsse realistisch in politische Taten Finanzkrise. Die Bilanz war bestürzend: Das umgesetzt werden und daß es nicht nur bei diesen Bruttosozialprodukt ging zurück, die staatlichen Fi- Beschlüssen bleibt. Ich meine, die Bundesregierung nanzen waren überschuldet und steckten in einer sollte bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Ziel- tiefen Krise, und den sozialen Sicherungssystemen perspektiven, die dort gefunden wurden, in ihren ging es nicht anders. Es ist nicht verwunderlich, daß politischen Bemühungen immer wieder weiter ver- sich am Ende Ihrer Regierung, Herr Kollege folgen. Schmidt, ein tiefer Pessismismus breitmachte, denn Die Bundesregierung ist mit vier Schwerpunkt- die Zeichen des Niedergangs waren unübersehbar. zielen angetreten: eine dauerhafte Belebung, die Von den vier Zielen des Stabilitäts- und Wachs- Sanierung der öffentlichen Finanzen, die Sicherung tums-Gesetzes waren alle vier verfehlt. Damit war der Renten und der Abbau der Arbeitslosigkeit. Das der Stab über eine Politik gebrochen; sie scheiterte sind die Kernpunkte der Regierungserklärung vom an Ihren eigenen Fehlern. 4. Mai 1983. Heute, nach gut einem Jahr, können wir Meine Damen und Herren, heute, nach nur ein- feststellen, daß wir sichtbar ein gutes Stück in der einhalb Jahren, haben wir Anlaß zu Optimismus. angegebenen Richtung vorangekommen sind. Die Dies wurde dadurch möglich, daß die Ausgaben dra- wirtschaftliche Lage hat sich gegenüber 1982 stisch beschnitten wurden, d. h. daß endlich gespart grundlegend gewandelt. Der Pessimismus ist verflo- wird. Das Wachstum der Bundesausgaben liegt un- gen und der Absturz gestoppt. Es geht wieder voran. terhalb des Wachstums des realen Bruttosozialpro- In allen öffentlichen Haushalten von Bund, Län- dukts. 1985 werden die Bundesausgaben nur noch dern und Gemeinden ist man mit Erfolg dabei, die um 1,5% wachsen. Dies ist eine gewaltige Leistung, Finanzkrisen zu meistern und die Überschuldung die vor zwei Jahren kaum ein Mensch für möglich zurückzuführen. Das hat entscheidend neues Ver- gehalten hätte. trauen in die Politik geschaffen. Wir verdanken diese Leistung vor allem der Der Arbeitsmarkt ist unverändert unsere Haupt- Gradlinigkeit, der Überzeugungskraft und dem sorge. Aber auch hier ist eine Besserung unüber- Durchsetzungsvermögen des Bundesfinanzmini- sehbar. Die Produktionsbelebung hat sich zunächst sters, der sich von einer breiten Grundwelle der in einem drastischen Abbau der Zahl der Kurzar- Zustimmung der Koalition getragen fühlen kann. beiter und in der Leistung von Mehrarbeit durch Überstunden niedergeschlagen. Die Zahl der Kurz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) arbeiter, die im Mai des Vorjahres bei 639 000 lag, Für diese große Leistung, die eine der entscheiden- ging in diesem Jahr auf 338 088 zurück, also um den Voraussetzungen für die wirtschaftliche Bele- mehr als eine Viertelmillion. Stellen wir den Quar- bung und für neuen Mut in unserem Lande ist, die talsvergleich an, wird die Entwicklung noch deutli- einen ungeheuren Einsatz erfordert, darf ich Ihnen, cher. Im ersten Quartal 1983 gab es 1 121 000 Kurz- Herr Bundesfinanzminister, im Namen der CDU/ arbeiter. In den ersten drei Monaten dieses Jahres CSU-Fraktion Dank und Anerkennung sagen. wurde die Zahl fast halbiert auf 609 000. Auch die Zahl der offenen Stellen hat zugenommen, aber erst (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dann, wenn die in den Betrieben vorhandenen per- Aber ich füge gleich hinzu: Wir sind mit diesen sonellen Reserven erschöpft sind, wird die Kon- Bemühungen noch längst nicht über den Berg, son- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5607

Hauser (Krefeld) dern müssen auf dieser Linie auch in Zukunft fort- der Arbeitskampf andauert, um so geringer wird fahren. diese Chance. Meine Damen und Herren, wir wissen, daß die Mit der Entscheidung zur Erneuerung der Sozia- neuesten Konjunkturzahlen einen deutlichen len Marktwirtschaft ist die Entscheidung über die Dämpfer erkennen lassen. Trotz einer erfreulichen Wirtschaftsordnung und damit über wesentliche Grundtendenz stellen sie eine unübersehbare, deut- Bereiche des menschlichen Lebens gefallen. Unser liche Warnung dar. Die Kurven über Aufträge und Ziel ist es, wieder in Ordnungen zu denken. Dies ist Produktion zeigen seit Ende 1982 eine kontinuierli- eine zentrale Frage unserer Politik. Der Erfolg ei- che Aufwärtsbewegung, die im März dieses Jahres ner freiheitlichen Wirtschaftsordnung für Wohl- dann leider abrupt abbricht. Der konjunkturelle stand und Freiheit hängt davon ab, daß die millio- Aufschwung kam 1983 in Gang, und er hat sich im nenfachen Einzelentscheidungen der privaten Verlaufe des Jahres immer mehr verbreitert. Auch Haushalte, der Unternehmen und des Staates im 1984 setzte er sich zunächst verstärkt fort. Wichtige freien Wettbewerb auf dem Markt in optimaler Antriebskräfte gingen vom sehr lebhaften Export- Weise koordiniert werden. geschäft und von der Nachfrage der inländischen (Matthöfer [SPD]: Insbesondere in der Unternehmen nach Ausrüstungsgütern aus. Auch Landwirtschaft!) der private Verbrauch expandierte in den ersten — Ja, ja. — Der freie Leistungswettbewerb ist der Monaten des Jahres 1984 beträchtlich. Das war für Garant dafür, daß dieses System funktioniert. Ohne manche überraschend. Dies führte im ersten Quar- freie Wirtschaft ist eine freiheitliche Ordnung nicht tal zu einer Produktionssteigerung gegenüber 1983 möglich und umgekehrt. Deswegen ist für uns die um real 3,5 %. Zwar mag dann die Lageraufstockung Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft eine etwas nachgelassen haben, und auch die Nachfrage Kernfrage der Politik. nach Bauleistungen zeigt jetzt Schwächetendenzen; entscheidend jedoch für das Abknicken der Auf- Wir werden in der Koalition mit der Bundesregie- triebskurve und für eine rasch um sich greifende rung unbeirrt diesen Weg gehen, bei noch so vielen äußerst vorsichtige Haltung der Produzenten und Unkenrufen und Schwarzmalereien, die von der lin- Verbraucher ist die ungeklärte Tarifauseinander- ken Seite kommen. Wir lassen uns nicht darin beir- setzung mit ihrer großen Tragweite. Wir können ren, daß wir für den Bürger dieses Staates eine soli- nur hoffen, de, auf der Grundlage der Freiheit gesicherte Ord- nung schaffen wollen. (Urbaniak [SPD]: Wir werden schon einen Schuldigen finden!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) daß es so schnell wie möglich zu einem Ende des Arbeitskampfes kommt, der so überflüssig wie ein Vizepräsident Westphal: Das Wort hat die Abge- Kropf ist. ordnete Frau Kelly. Ich möchte dazu, weil auch der Kollege Schmidt dazu einige Bemerkungen gemacht hat, nur folgen- Frau Kelly (GRÜNE): Liebe Freundinnen und des sagen. Wie das in den Betrieben inzwischen Freunde! Der Europäische Rat, die EG-Staats- und empfunden wird, geht aus einem Artikel des Be- Regierungschefs, hat auf seiner Tagung am 25. und triebsratsvorsitzenden der BMW-Werke in Mün- 26. Juni dieses Jahres das angebliche Europa der chen hervor, der geschrieben hat: Bürger angekündigt, und heute hat der Bundes- kanzler Kohl es mit seinen pathetischen Worten Wir haben geschaffen, gesichert, einen großen noch einmal bestätigt, mitten in einer Europäischen wirtschaftlichen Aufschwung erreicht. Und was Gemeinschaft der Arbeitslosen. Er wurde dabei in hat die IG Metall getan, um Millionen Arbeits- makabrer Weise von Ex-Bundeskanzler Helmut lose zu verhindern? Jetzt hat sie auch noch Ar- Schmidt unterstützt, der mit seinen neuen europäi- - beitsplätze kaputtgemacht. 35 Jahre Arbeit im schen Sicherheitsvisionen das Zerrbild eines Betriebsrat sind zerstört. deutsch-französisch beherrschten waffenstarren- Dies sagt der Betriebsratsvorsitzende der BMW- den Westeuropas gezeichnet hat. Werke am 20. Juni 1984 im „Münchner Anzeigen- (Matthöfer [SPD]: Da haben Sie wirklich blatt". nicht aufmerksam zugehört!) (Urbaniak [SPD]: Megalomanie!) Die GRÜNEN lehnen nicht nur nicht die Vision von ab, die GRÜNEN lehnen auch die Vi- Wenn in einer solchen Situation die Bundesregie- sion von eines solchen waffenstar- rung auf die verheerenden Folgen dieses Streiks renden Europas ab. aufmerksam macht, dann tut sie ihre Pflicht gegen- über diesem Staat und unserer Volkswirtschaft. (Beifall bei den GRÜNEN) So entsteht ein Europa mit gemeinsamer Fahne, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — mit europäischer Nationalhymne unter französi- Matthöfer [SPD]: Wer hat denn die Schärfe scher geistiger Führung, mit einheitlichen Lehrbü- in die Auseinandersetzung gebracht?) chern, mit denen die Schüler der zehn Mitgliedstaa- Je schneller der Arbeitsfriede wieder einkehrt, um ten endlich dieselbe Geschichte über Stark gegen so mehr besteht noch die Chance, wenigstens einen Schwach, Reich gegen Arm und Mann gegen Frau Teil der Produktion nachzuholen, für den noch lernen können. So entstehen auch europäische nicht annulierte Aufträge bestehen. Je länger aber Fernseh- und Rundfunkprogramme — den Schluß- 5608 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Frau Kelly folgerungen des Europäischen Rates können Sie Ich möchte Sie fragen, Herr Kohl, was Sie mit die- das entnehmen; bitte, lesen Sie das einmal —, die sem Europa denn sonst noch anbieten wollen, was uns in unserer verkabelten Schwarz-Schilling-Ge- Sie denn sonst noch vorhaben — außer Bildung von sellschaft alle beglücken sollen. Der Europäische Europamannschaften, Einführung von Symbolen Rat hat sogar an die Bildung von Europamann- „für die Existenz der Gemeinschaft, insbesondere schaften im Sport gedacht, wie Herr Kohl auch an einer Fahne und einer Hymne". Können das die die Feuerwehr denkt, und an die Prägung einer Erwartungen der Bürger sein? europäischen Münze. Vielleicht kommen wir der Sache etwas näher, Ehe ich es vergesse: Die Regierungschefs, die an wenn wir uns die Forderungen eines großen Freun- den Grenzübergängen selbst nie Schlange stehen, des von Helmut Schmidt, Giscard d'Estaing, anhö- entbürokratisieren den europäischen Warenver- ren, der vor einigen Wochen einen Rat der Europäi- kehr, und sogar die Freimengen für Kaffee, Alkohol schen Hauptquartiere und eine europäische Truppe und Tabak, die ein sterblicher Tourist, ein Bürger der „grünen Helme" gefordert hat; damit waren Europas, über die Grenzen tragen darf, werden auf- wohl nicht die GRÜNEN gemeint. Diese europäi- gestockt. Ja, und über die deutsch-französische sche Truppe der „grünen Helme" ist der Anfang Grenze kann der EG-Bürger schon in einigen Tagen der Militarisierung Europas. fahren, indem er den Beamten ein freundliches Lä- cheln, aber nicht mehr den Ausweis zeigt. Und wir Oder wie wär's mit dem neuesten Vorschlag Ihres alle, Herr Kohl, Herr Zimmermann und Herr Engel- Kollegen, des CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten hard, sogar die Demonstranten, die GRÜNEN und Jürgen Todenhöfer, der sich im „General-Anzeiger" die gesamte europäische Ökologie- und Friedensbe- vor drei Tagen dafür eingesetzt hat, daß die Bun- wegung, die sich in Kalkar und in Malville gegen desrepublik langfristig ein Mitspracherecht bei den deutsche und französische Schnelle-Brüter-Pro- Entscheidungen über den Einsatz der in Westeu- jekte wehrt und für ein selbstverwaltetes Europa ropa stationierten Atomwaffen erhält? So ist einsetzt, werden ebenso bald europäische Pässe erstmals ein Mitglied der Bonner Regierungskoali- vorzeigen. So haben Sie auch etwas Gutes für die tion im Widerspruch zu der seit vielen Jahren gel- europäische Ökologiebewegung getan, die dann von ten offiziellen Bonner Politik, auf den Besitz von Grenzbeamten an den Grenzen nicht mehr gestoppt und die Verfügungsgewalt über Atomwaffen zu ver- wird. Dieser neue, kleine europäische Paß — ich zichten. Herr Todenhöfer und auch Herr Dregger darf darauf hinweisen — ist bordeauxrot, kleinfor- plädieren auf subtilste — aber auch auf nicht so matig und dem sowjetischen Reisedokument von sehr subtile — Art und Weise für das Konzept einer weitem nicht unähnlich. Vielleicht sollten Sie das gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und nicht vergessen, Herr Kohl: Er sieht dem sowjeti- letzten Endes Atomstreitmacht. Herr Todenhöfer schen Reisedokument sehr ähnlich. fordert sogar — ich zitiere —, „daß diese Atom- Man las gestern in der „Süddeutschen Zeitung", streitmacht unter das Kommando eines europäi- daß während des Europäischen Rates im Ballsaal schen nuklearen Verteidigungrates gestellt" wer- des Schlosses Fontainebleau viel gelächelt wurde. den soll. Dazu, Herr Kohl, wie Sie sich zu dieser Die Regierungschefs gaben sich verbindlich, es Äußerung Ihres Kollegen Todenhöfer stellen, hätte wurde nicht gestritten, und Helmut Kohl war Euro- ich gern etwas gehört. pasieger, obwohl man von einer dauerhaften Hei- In diesen europäischen Verteidigungsrat sollen lung der kranken EG nicht sprechen kann. Der EG nach seinem Konzept auch alle Nichtnuklearstaa- droht, wie Helmut Schmidt das schon vorher ausge- ten, auch die Bundesrepublik, einbezogen werden. führt hat, weiterhin der Tod durch finanzielle Aus- Natürlich werden wir Bürger Europas erst einmal zehrung im kommenden Herbst, wenn es keine an- ein bißchen beruhigt. So sagen Bundesverteidi- deren Lösungen gibt. Zum Kollaps kommt es vor- gungsminister Manfred Wörner und auch Sie, Herr erst nicht, aber auch Helmut Schmidt hat betont, Kohl, am 24. Juni, daß man an eine gemeinsame daß es durch die Zahlungen doch noch zum Kollaps europäische Atomstreitmacht noch nicht denke; kommen könnte. Man wurstelt notfalls eben weiter auf absehbare Zeit sei sie noch nicht aktuell.- Doch — trotz der großen Zahl der Wähler, die bei den der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende zweiten Direktwahlen zum Europäischen Parla- wie auch heute Helmut Schmidt un- ment ihren Unmut über den gegenwärtigen desola- terstreichen tagtäglich den Wunsch nach einer en- ten Zustand der Gemeinschaft durch Stimmenthal- geren Zusammenarbeit im gesamten — ich betone: tung oder durch deutliche Bevorzugung von Par- im gesamten — militärischen Bereich mit Frank- teien wie der Partei der GRÜNEN kundgetan ha- reich, d. h. atomar und konventionell. ben. In dem Abschlußdokument des Europäischen (Matthöfer [SPD]: Deshalb Abbau der bei Rates wird erklärt: den Komponenten, bei der Luftwaffe und beim Heer! Sie müssen wirklich aufmerk Der Europäische Rat hält es für unerläßlich, sam zuhören, Frau Kelly, bevor Sie einen daß die Gemeinschaft die Erwartungen der Völ- solchen Unsinn verbreiten!) ker Europas erfüllt, indem sie Maßnahmen trifft, durch die ihre eigene Identität gegenüber Helmut Schmidt betont die geistige Führungsrolle den europäischen Bürgern und der Welt ge- Frankreichs, einem Land, das heute im Pazifik stärkt und gefördert wird und durch die sie an überall mit menschenverachtenden Atomversuchen Prestige gewinnt. die Menschen im Pazifik umbringt. Mit dieser Füh- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5609

Frau Kelly rungsrolle sind wir nicht einverstanden, und wir gemeinschaft, ein integraler Teil der EG ist, die pri- werden diesem etwas anderes entgegensetzen. mär auf die Förderung der Atomtechnologie ausge- richtet und kein rühmlicher Überwachungsgarant (Beifall bei den GRÜNEN) für die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen ist. Wir werden es auch nicht mitmachen, daß wir es Nur neun von 224 Artikeln des Euratom-Vertrages unter dem Anspruch dieser Führung bald mit einer sind der Kontrolle gewidmet. Dieser Vertrag ent- europäischen Force de frappe zu tun haben werden. hält nicht einmal eine Klausel, die eine militärische So bahnen sich stillschweigende Übereinkünfte in Nutzung der Atomenergie ausdrücklich untersagt. der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik an, Damit kann sie eines Tages sogar an einer europäi- die allerdings die Barrieren zwischen SPD und schen Atomstreitmacht mitwirken. CDU und CSU, wenn es um EG-Militarisierung geht, unterlaufen. Herr Matthöfer, Sie machen ge- Folgerichtig hat Euratom und die EG die Liefe- rade sehr viele Zwischenrufe, ich bitte Sie, einmal rung von Nuklearanlagen an Südafrika oder Brasi- die Aussagen von mit denen von lien durch EG-Länder niemals behindert, obwohl Franz Josef Strauß zu vergleichen. Dann werden das Streben der Abnehmerländer nach Nuklearbe- Sie sehen, daß wir eine große Koalition der großen waffnung bekannt ist und dadurch unterstützt wird. Parteien für dieses militarisierte Europa haben. Ich zitiere jetzt aus einem Europaparlament-Doku- ment vom 24. Mai 1984, wo zu lesen ist, daß das (Matthöfer [SPD]: Sind Sie für einen Ab Europaparlament auffordert — ich zitiere —, „die bau der nuklearen Komponente der Luft europäischen Staaten dazu zu bewegen, die Produk- waffe, ja oder nein?) tion von Atomstrom auszubauen und an die Stelle Ein Beispiel: Im August 1983 begrüßte die SPD des Erdöls treten zu lassen, um die Abhängigkeit den Vorschlag von Franz Josef Strauß über das Ve- Europas von Drittländern zu verringern". Ferner torecht bei Atomwaffen, und der SPD-Abrüstungs- fordert dieses Parlament, die Entwicklung der experte, Ihr Kollege Karsten Voigt, begrüßte die Schnellen Reaktoren in Europa zu fördern und das Anregungen von Herrn Strauß über die gemeinsa- gesamte in Natururan enthaltene Energiepotential men europäischen Interessen. optimal zu nutzen, dadurch die Uranreserven der Gemeinschaft 70mal besser auszunutzen; und sie (Kittelmann [CDU/CSU]: Haben Sie die plädieren für den vermehrten Einsatz von Atom- Rede mit Herrn Börner abgesprochen?) strom für die Heizung, Industrie und Haushalt. Da- Horst Ehmke spricht von der Selbstbehauptung Eu- von sagen Sie auch kein Wort, Herr Kohl, wie es in ropas und auch der Zusammenarbeit auf dem Rü- dieser Europäischen Gemeinschaft aussieht, die stungssektor und Franz Josef Strauß von der euro- nun erst recht den vermehrten Einsatz von Atom- päischen Verteidigungsmacht. Außenminister Gen- strom fordert, da wir nun eine Schnelle-Brüter-Ge- scher möchte den geplanten Ausbau der WEU zum neration bekommen. Ist das europäische Umwelt- zweiten Pfeiler der NATO werden lassen, und so politik? Ich glaube, es war schon an der Zeit, daß die sprach auch heute Helmut Schmidt. Diese Forde- GRÜNEN in dieses Europaparlament einziehen. rungen sind nicht weit voneinander entfernt. (Beifall bei den GRÜNEN — Kittelmann (Kittelmann [CDU/CSU]: Sie sagen bewußt [CDU/CSU]: Sie werden überrascht sein, die Unwahrheit!) Frau Kollegin!) Es ist also eine große Koalition für die Supermacht In diesem Europa der Bürger, mit Hymne und Europa, die die GRÜNEN in keiner Weise jemals Fahnen, beschäftigen z. B. auch die Probleme der mittragen werden, auch nicht im Jahre 1987. nuklearen Entsorgung die Euratom-Behörden in (Beifall bei den GRÜNEN) Brüssel und Luxemburg wenig. Angesichts der sich immer höher auftürmenden Atommüllberge, für die Ich glaube nicht, daß wir in einem Europa viel mit unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit und der einer solchen französischen Atommacht gemein- Ökologie keine Lösung in Sicht ist, meint die EG sam haben, wie ich sie vorher beschrieben habe. nach dem Grundsatz handeln zu müssen: Nach uns Gerade selber von den Pazifikinseln zurückkom- die Sintflut! - mend, kann ich Ihnen sagen: Sie sollten sich einmal anschauen, was diese arrogante Atommacht dort in Die Europäische Gemeinschaft wurde als Zivil- den letzten 10 bis 15 Jahren bis jetzt alles betrieben macht gegründet und hätte von dieser friedlichen hat. Ausgangslage her zu einem schöpferischen und ge- Doch andere Kräfte in diesem Europa von oben rechten Friedensfaktor werden können. Sie hätte haben weit mehr mit Frankreich gemeinsam, wenn sich auch ohne weiteres als ökologische Gemein- ich bedenke, daß die Rheinisch-Westfälischen Elek- schaft der selbstbestimmten Regionen von unten trizitätswerke, auch wir, die westdeutschen Strom- entwickeln können. Doch es ist ganz anders gekom- kunden, mit 11')/0 an dem größten Brüter in Malville men. beteiligt sind. Nach Aussagen der Bundesregierung Frantz Fanon schrieb vor einigen Jahren: gibt es keine vertraglichen Regelungen, durch de- ren Festlegung eine Kontrolle des gesamten Brenn- Mit Energie und Zynismus und Gewalt hat Eu- stoffkreislaufes, d. h. eine Kontrolle der vorgegebe- ropa die Führung übernommen ... Europa hat nen zivilen Nutzung durch Euratom, erfolgen könn- jede Demut, jede Bescheidenheit zurückgewie- te. Ich war lange genug bei der EG, um Ihnen sagen sen, aber auch jede Fürsorge und jede Zärtlich- zu können, daß die Euratom, die Europäische Atom- keit. Seht, wie es heute zwischen der atomaren 5610 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Frau Kelly und der geistigen Auflösung hin- und her- Das heißt: Man muß sich anläßlich einer Debatte schwankt. über Europa und Weltpolitik, wie sie von Helmut Die Beiträge von heute morgen waren ein Beitrag Schmidt eingeführt worden ist, intensiv mit der Be- zu dieser „geistigen und atomaren Auflösung". Er deutung einer Koalition zwischen SPD und der grü- hatte nicht so Unrecht, wenn er sagte, daß die EG — nen Partei und damit beschäftigen, welche Politik so wie sie heute aussieht — nicht zuletzt ein Ver- eine solche Koalition auf einem Weltwirtschaftsgip- such der europäischen Länder geworden ist, fel oder auf einem EG-Gipfel machen würde. (Kittelmann [CDU/CSU]: Sie haben Ihre Es war sehr interessant zu hören, daß Helmut Rede schon gestern geschrieben!) Schmidt z. B. als Vertreter einer kleineren und den Verlust ihrer Kolonien durch neokoloniale Be- schwindenden Richtung in der SPD einer deutsch- ziehungen mit der Dritten Welt auszugleichen. französischen Kooperation eine ganz besondere Rolle einräumt, während z. B. die Sprecherin der (Beifall bei den GRÜNEN) GRÜNEN nur an der Stelle von ihrer eigenen Frak- Dies geschieht durch Ausbeutung der Rohstoffe tion mit Beifall bedacht wird, wo sie die Arroganz und der billigen Arbeitskräfte, Benutzung der ein- der französischen Regierung hinsichtlich einer ei- heimischen Eliten als Brückenkopf für kapitalisti- genen Verteidigungskonzeption kritisiert. Das sche Vorstellungen und Spaltung der Entwicklungs- heißt: Grüne Politik an diesem Punkt ist ohne länder untereinander, um organisierte Selbsthilfe- Rücksicht auf eigene nationale Vorstellungen, die aktionen nicht aufkommen zu lassen. übrigens von einer großen Mehrheit der französi- (Kittelmann [CDU/CSU]: Sie versteht kein schen Parteien so gesehen werden, auch von Sozia- Mensch, Frau Kollegin!) listen, auch von Kommunisten, auch von Konserva- tiven, auch von Liberalen. Diese nationale Identität Vizepräsident Westphal: Frau Kollegin, ich muß der französischen Politik wird von der Sprecherin Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit der GRÜNEN nicht akzeptiert, sondern wird ange- zu Ende ist. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen. griffen. Anders Helmut Schmidt, der den Franzosen eine Frau Kelly (GRÜNE): Ich komme zum Schluß. ganz besondere Rolle einräumt und der — darauf Die EG leistet ihre Entwicklungshilfe in einer möchte ich auch in freier Rede eingehen — hier die Weise, daß bei weitem der größte Teil des gewähr- Kernthese vorgetragen hat, daß die Rolle der Euro- ten Geldes in die EG-Länder in EG-Unternehmen päer gegenüber den Japanern und gegenüber den zurückfließt, wodurch die Macht der europäischen Amerikanern nur gehalten werden kann, wenn wir Konzerne vergrößert wird, wodurch wiederum das auf wirtschaftspolitischem Gebiet wieder mehr Sta- Supermachtsdenken Europas verstärkt wird. So ist bilität und mehr Wettbewerbsfähigkeit schaffen. hinter unserem Rücken der beste Weg aufgetan Daher, so meine ich, sollte Helmut Schmidt — wo- worden — obwohl Sie das nicht sagen, Herr Kohl —, bei die Zwischenrufe unterschiedliche Qualität ver- daß aus diesem Europa der Bürger ein europäi- raten — nicht nur in die „Herald Tribune", sondern sches Supermachtsdenken kommt, mit europäi- auch in die „Bergedorfer Zeitung" oder in die „Stutt- schen Supermachtsgelüsten, die wir hier ein für garter Nachrichten" schauen und berücksichtigen, allemal ablehnen und auch nicht zusammen mit der welche Rolle im Moment der Arbeitskampf spielt, SPD mittragen werden. welche Rolle dieser Arbeitskampf für die Wettbe- (Beifall bei den GRÜNEN) werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft spielt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abge- und welche Rolle diese Diskussion über Arbeitszeit- ordnete Dr. Haussmann. verkürzung bei vollem Lohnausgleich auf dem Weltwirtschaftsgipfel in London gespielt hat, näm- Dr. Haussmann (FDP): Herr Präsident! Liebe Kol- lich eine sehr negative Rolle, was die psychologi- leginnen und Kollegen! sche Stärke der Bundesrepublik auf wirtschaftli-- (Matthöfer [SPD]: In welcher Gewerk chem Gebiet angeht. schaft sind Sie?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) — Herr Matthöfer, ich pflege meine Reden immer mit „Liebe Kolleginnen und Kollegen" zu beginnen, So schmücken sich heute Sozialdemokraten mit weil ich es auch so meine. einem verehrten Kollegen, Georg Leber, der weder bei Parteitagen noch bei Vorstandswahlen in seiner (Matthöfer [SPD]: Dann bitte: „Herr Kolle ge Fraktion eine Mehrheit hätte. "!) — Herr Kollege Matthöfer! Liebe Kolleginnen und (Lebhafter Widerspruch bei der SPD) Kollegen! — Ich sehe, daß Sie das erregt. (Heiterkeit) (Urbaniak [SPD]: Wir geben Ihnen nur Ich wollte am Anfang meiner Rede sagen, daß die Nachhilfeunterricht! — Matthöfer [SPD]: Europawahl, aber auch vorausgegangene Landtags- Sie lesen nicht die Parteitagsprotokolle der wahlen doch einiges in der Parteienlandschaft ver- SPD! — Bindig [SPD]: Wer 4,9 % hat, sollte ändert haben. nicht die Unwahrheit sagen! — Weitere Zu (Urbaniak [SPD]: In der FDP!) rufe von der SPD) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5611

Dr. Haussmann — Ich kann weder feststellen, daß Georg Leber bei Bundestag gesagt: Was mich bei den GRÜNEN be- den letzten Fraktionsvorstandswahlen eine Rolle sonders verwundert und auch verwundet, ist, daß gespielt hätte, noch kann ich feststellen, daß er bei diese Partei, die in ihrem Grundsatz Ideen verfolgt, den Wahlen ins Parteipräsidium eine Rolle gespielt die ich als Liberaler teile, nämlich die kleinen Ein- hätte. heiten und die Autonomie des einzelnen zu stei- Ähnliches gilt für Helmut Schmidt. Deshalb sehe gern, in dieser Auseinandersetzung auf der Seite ich zwischen der Politik von Helmut Schmidt und der Funktionäre und der großen Organisation steht der vernünftigen Rolle von Georg Leber bei der und nicht die Rechte des einzelnen Arbeitnehmers Schlichtung schwieriger sozialer Konflikte mit Tei- und des kleinen und mittleren Zulieferanten sieht. len meiner Fraktion und der CDU/CSU oft größere Das ist das Problem. Gemeinsamkeiten als mit dem, was auf den letzten (Beifall bei der FDP — Fischer [Frankfurt] Parteitagen der SPD eine Rolle gespielt hat. [GRÜNE]: Ist denn Flick ein kleiner Zulie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — ferant? Machen Sie sich doch nicht lächer Matthöfer [SPD]: Sagen Sie doch bitte et lich! Seit wann ist Flick Kleinunterneh was zu Herrn Biedenkopf! — Urbaniak mer?) [SPD]: Wer hat Biedenkopf demontiert? — — Ich würde mich jetzt gerne dem zuwenden, was Zurufe von den GRÜNEN) Helmut Schmidt gesagt hat, weil die Tragik der Ich meine, Helmut Schmidt sollte neben seinen GRÜNEN in dieser Debatte auch darin liegt, daß sie hochangesehenen, nicht gerade billigen Reden in zu dem Problem der 12 Millionen Arbeitslosen in Houston, Dallas, Washington oder New York ab und der Europäischen Gemeinschaft kein Wort gesagt zu eine Rede vor seinen Freunden halten und vor haben, sondern ausschließlich etwas zu einer mili- Gewerkschaftsfunktionären in Stuttgart, Bonn oder tärischen Auseinandersetzung, zu ihrem Haß ge- Düsseldorf. genüber der französischen Identität in der Verteidi- gungspolitik. Das war Ihr Hauptbeitrag. (Urbaniak [SPD]: In der FDP gibt es dafür kein Potential! — Weiterer Zuruf von der (Beifall bei der FDP — Roth [SPD]: Drän SPD: Genscher ist zum Nulltarif zu ha geln in der Nische! — Fischer [Frankfurt] ben!) [GRÜNE]: Die grüne Krawatte macht Sie auch nicht gefährlicher!) Ich glaube, Helmut Schmidt müßte an dieser Stelle, was in diesem Arbeitskampf auch von IG Druck Ich meine, daß der Vorschlag von Helmut und Papier und von IG Metall vorgebracht wird, Schmidt, mehr für die Erneuerung der alten Indu- eigentlich sagen — wie auch in früheren Zeiten —: strieregionen zu tun, ein sehr wichtiger Vorschlag Genossen, laßt die Tassen bitte im Schrank! — Des- für die europäische Politik ist. Wir haben in der halb hält Helmut Schmidt nur noch internationale nationalen Wirtschaftspolitik zusammen mit unse- und keine nationalen Reden vor Gewerkschaftsmit- rem Koalitionspartner eine ganze Reihe von wichti- gliedern mehr. gen Beschlüssen gefaßt, die die Chance bieten, daß (Beifall bei der FDP — Zurufe von der die Bundesrepublik zunächst einmal ein Modell zur SPD) Erneuerung alter Industrieregionen wird. Zu Recht hat Helmut Schmidt angesprochen, daß die Erneue- Weil das so ist, hat sich die soziale Situation in rung des Ruhrgebietes inzwischen keine Landes der Bundesrepublik sehr stark verschärft, was ich aufgabe mehr sein kann, sondern eine nationale persönlich auch als Generalsekretär der Freien De- Aufgabe werden muß. mokraten und als Abgeordneter des Deutschen Bundestages sehr schlecht finde. (Sehr wahr! bei der FDP — Urbaniak [SPD]: Aber ohne FDP!) (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Wer sperrt denn aus, Herr Haussmann? Wer läßt denn Das beginnt aber nicht bei einer Fortführung der aussperren?) alten sozialdemokratischen Politik, in Nordrhein- Westfalen und in Bonn immer höhere Subventionen — Das mit dem Gesetz gegen Aussperrung müssen für alte Industrien zu fordern, - Sie einmal mit Ihrem „Koalitionspartner" SPD klä- ren. Da gab es gestern keine Übereinstimmung. Wir (Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Das ist jedenfalls reden über vernünftige Regeln eines Ar- doch Quatsch, was Sie sagen!) beitskampfs und halten es für unerträglich, daß in sondern damit, daß man sich in Bonn für eine sehr diesem Arbeitskampf eine kleine Gruppe von Funk- vernünftige, mittelstandsorientierte, innovative tionären oder Abteilungsangehörigen über einen Strukturpolitik einsetzt, Streik entscheiden kann, der für Hunderttausende von Arbeitnehmern und mittelständischen Zuliefe- (Beifall bei der FDP — Zuruf von der SPD: ranten verheerende Konsequenzen hat. Das ist un- Wie die Möllemänner!) ser Beitrag in dieser Streikdiskussion. weil sonst die Söhne der Kumpel im Ruhrgebiet (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — keine Arbeitsplatzchance mehr hätten. Zurufe von der SPD und den GRÜNEN) (Urbaniak [SPD]: „Kumpel" können Sie Ihr Beitrag ist, daß sich die GRÜNE Partei und die doch gar nicht buchstabieren!) SPD nicht einigen können. Die GRÜNEN überholen Wir müssen heute hier in Bonn die Weichen stellen, an dieser Stelle links die SPD in ihrer Position zur damit es neue Industrien, kleine Industrien, neue Aussperrung. Ich habe in der letzten Diskussion im Technologien und damit neue Ausbildungs- und Ar- 5612 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Dr. Haussmann beitsplätze in Nordrhein-Westfalen und im Saarge- seinen Brief an den Bundeskanzler zu schreiben, biet gibt, meine Damen und Herren. der hier eine Rolle gespielt hat. Damals gab es eine Debatte über Wirtschaftspolitik der Zukunft, an der Vizepräsident Westphal: Herr Abgordneter Hauss- sich die aktiven Minister der Sozialdemokraten be- mann, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten reits nicht mehr beteiligt haben. Weder Herr Matt- Wolfram? höfer noch Helmut Schmidt haben dies getan, weil man damals auf diesem für uns, für die Freien De- mokraten entscheidenden Bundesparteitag Dr. Haussmann (FDP): Herzlich gerne. (Matthöfer [SPD]: Herr Haussmann, mit den Parteitagen haben Sie wenig Glück! Wolfram (Recklinghausen) (SPD): Herr Kollege Dr. Haussmann, würden Sie mir an Stelle Ihrer All- Auch das ist falsch!) gemeinplätze, so wie wir es eigentlich von Ihnen einen Kompromiß zwischen einer gemäßigten Au- gewohnt sind, konkret sagen, wie Sie mit uns ge- ßen- und Verteidigungspolitik und einer kollektiven meinsam als Ersatz für den Verlust von 4 000 Ar- Wirtschaftspolitik gemacht hat. Das war damals der beitsplätzen durch eine Zechenstillegung in kurzer Kompromiß in München. Dies war die entschei- Zeit neue Arbeitsplätze schaffen wollen? dende historische Weichenstellung für die Freien (Zurufe von der SPD: Kleine Einheiten! — Demokraten, in ihrem Brief an den Kanzler zu Kleine Einheit Möllemann!) schreiben, daß wir glauben, daß unsere marktwirt- schaftliche, dem Staat gegenüber, was die Wirt- schaft angeht, skeptische Politik gemeinsam mit (FDP): Konkret möchte ich erstens Dr. Haussmann den Sozialdemokraten nicht weiter verfolgt werden in Nordrhein-Westfalen dafür sorgen, daß sich die kann. Das ist die Wahrheit. Strukturpolitik auch neuen Industriezweigen zu- wendet. (Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Seit dem geht es mit euch bergab!) (Hauser [Krefeld] [CDU/CSU]: Sehr rich tig!) Zweitens möchte ich erreichen, daß die Sozialde- Vizepräsident Westphal: Herr Kollege Hauss- mokraten in Bonn einer Politik der Steuersenkung mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn und der Stärkung der Kaufkraft auch kleiner und Abgeordneten Roth? mittlerer Einkommen von Arbeitnehmern zustim- men und nicht sagen, sie wollten neue staatliche Dr. Haussmann (FDP): Lieber Herr Kollege Roth, Milliardenprogramme. ich habe nur noch wenige Minuten Redezeit, und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ich will die Debatte j a beleben, indem ich kurz rede. Drittens bin ich der Meinung, daß die Sozialdemo- Ich bin nachher gern bereit, dies zu vertiefen. Jetzt kraten in Bonn ihre Regierung in Nordrhein-West- habe ich dafür keine Zeit mehr. falen unterstützen, ja ihr Beine machen sollten, da- Seitdem hat die FDP zusammen mit der CDU/ mit sie endlich, ähnlich wie in Baden-Württemberg CSU ein Konzept für eine Erneuerung der Markt- oder in Bayern, wirtschaft, der Steuerpolitik, der Haushaltskonsoli- (Wissmann [CDU/CSU]: Sehr wahr!) dierung vorgelegt. Dazu gibt es bis heute keine klare Alternative in der Opposition. Sie haben bis eine moderne mittelstandsorientierte Technologie- heute noch nicht geklärt, meine Damen und Her- politik macht. ren, wie Sie zu der Steuersenkung für Arbeitneh- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mer stehen. Dann hätten übermorgen die Kinder dieser Kum- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) pel, um die es meinem Freund und Kollegen aus Es gibt bei Ihnen eine große Mehrheit, die sagt: Wir dem Wirtschaftsausschuß geht, Arbeitsplätze, und wollen keine Steuersenkung für Arbeitnehmer. Wir zwar nicht nur durch die Fortführung einer alten wollen die Milliarden für staatliche Ausgabenpro- Industriepolitik. - gramme behalten. Das sehe ich doch richtig, Herr (Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Das Matthöfer? sind doch Allgemeinplätze!) (Matthöfer [SPD]: Herr Haussmann, wir Meine Damen und Herren, Helmut Schmidt hat hatten eine Steuersenkung zum 1. Januar gesagt, die Bundesrepublik Deutschland werde nur 1984 für Arbeitnehmer vereinbart! Dies Einfluß gegenüber den Vereinigten Staaten von war einer der Gründe, warum Sie die Ko Amerika haben, wenn sie wieder wettbewerbsfähi- alition gebrochen haben! — Zustimmung ger werde. Das unterstützen wir in vollem Umfange. bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU Nur bei ganz konkreten Themen, die hier eine Rolle — Kittelmann [CDU/CSU]: Die haben es spielen, müssen wir leider mit Mehrheiten entschei- immer noch nicht kapiert!) den, weil wir die frühere Gemeinsamkeit mit Sozial- demokraten wie Matthöfer, Lahnstein oder Helmut — Um Gottes willen! Herr Matthöfer, darauf fällt Schmidt heute nicht mehr haben. Ich selber war mir wirklich keine Antwort ein, weil es in der Tat Beobachter des letzten Parteitages der SPD, wo es anders war. um ihre Wirtschaftspolitik ging, des Parteitages in Ein weiterer Punkt. Die Sozialdemokraten unter- München. Damals kam die entscheidende Weichen- stützen bei diesem Arbeitskampf uneingeschränkt stellung, die Graf Lambsdorff dazu gebracht hat, die Forderung der Gewerkschaften nach der 35- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5613

Dr. Haussmann Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Das be Wirtschaftsminister wird, der große europäische deutet eine Schwächung der internationalen Wett und internationale Erfahrungen hat. bewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Ohne Rücksicht Zurufe von der SPD und den GRÜNEN) auf Verluste!) Ich glaube, es war höchste Zeit, daß der Austausch zwischen nationalen deutschen Parlamentariern Deshalb ist das nicht einlösbar, was Helmut und europäischen Parlamentariern keine Einbahn- Schmidt möchte, nämlich ein stärkeres deutsches und europäisches Gewicht gegenüber Amerikanern straße ist und bleibt, und Japanern. (Zurufe von der SPD: Habt ihr noch mehr Bangemänner?) (Dr. Dregger [CDU/CSU]: So ist es!) und daß die Freien Demokraten nicht, wie die Sozi- Dieser Zusammenhang muß hier sehr klar heraus- aldemokraten, gearbeitet werden. (Anhaltende Zurufe von der SPD) Demgegenüber hat Graf Lambsdorff in seiner ältere, von ihnen nicht mehr voll unterstützte Parla- Wirtschaftspolitik, für die ich ihm auch an dieser mentarier oder Exminister nach Europa ins Exil Stelle für die gesamte Fraktion der Freien Demo- schicken, wo sie nie mehr zurückkommen, kraten ganz herzlich danke, (Dr. Vogel [SPD]: Umgekehrt!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sondern daß umgekehrt jemand, der in Europa — in zwei Bereichen Marksteine gesetzt, im Hinblick bitte, erkundigen Sie sich mal — — auf die es weder von der Fraktion DIE GRÜNEN (Zurufe von der SPD: Abgetakelte noch von den Sozialdemokraten eine verbindliche Schlachtschiffe! — Hol die Kuh vom Eis! — Auskunft gibt. Graf Lambsdorff hat dafür gesorgt, Weitere Zurufe von der SPD — Glocke des daß die Erhardsche Politik der Stärkung der Präsidenten) Marktkräfte fortgesetzt wurde. Für uns, die Koali- — Ich bitte Sie herzlich, erkundigen Sie sich doch tion der Mitte, ist der Titel „Marktgraf" ein guter mal bei Ihren sozialdemokratischen und sozialisti- Titel, ein Ehrentitel. Für viele Sozialdemokraten schen Kollegen im Europäischen Parlament über und für die meisten GRÜNEN ist dieser Titel aber die Anerkennung von Martin Bangemann als Frak- ein Schimpfwort geworden. Dieser Titel, mit dem tionschef der liberalen Fraktion. Tun Sie mir doch jemand bezeichnet wird, der sich in einer offenen den Gefallen! Gesellschaft für die Kräfte des Marktes einsetzt, ist für viele Sozialdemokraten und für viele grüne Poli- (Beifall bei der FDP — Fischer [Frankfurt] tiker ein Schimpfwort geworden. [GRÜNE]: Was macht ihr denn mit Herrn Engelhard?) (Zuruf des Abg. Roth [SPD]) Sie werden sehen, daß Ihre internationalen Kolle- — Des weiteren, lieber Herr Roth, hat Graf Lambs- gen zumindest bereit sind, die europäischen Ver- dorff die internationale Wirtschaftspolitik und die dienste von Martin Bangemann anzuerkennen, Anerkennung der Bundesrepublik auf internationa- wozu Sie nicht fähig sind. Aber das ist nicht mein, len Handelskonferenzen in einem Maße verstärkt, sondern an dieser Stelle Ihr Problem. wie es bisher keinem seiner Vorgänger gelungen Ich fasse zusammen: Die FDP-Fraktion dankt an ist. dieser Stelle dem Bundeskanzler und dem Außen- (Zuruf von der SPD: Wer waren denn diese minister, die einen großen Erfolg in Europa erreicht Vorgänger?) haben, weil sie nämlich diese lang andauernden finanziellen Auseinandersetzungen mittelfristig Auch das sollte hier einmal herausgestellt werden. nicht nur für ein Jahr gelöst haben und weil damit (Dr. Vogel [SPD]: Gegen wen sprechen Sie der Weg für die anderen wichtigen europäischen denn?) Fragen frei wird. Das war der Durchbruch in Fon- tainebleau.Wir haben auch ein ordentliches- Ver- Die Verengung der Sozialdemokraten und der hältnis zu anderen Berufsständen. Ich kann mich GRÜNEN ist schon tragisch, die heute in dieser De- nur über diese Bauernschelte der Sozialdemokra- batte bisher mit keinem Wort auf diese internatio- ten, auch der GRÜNEN, wundern. Hier ist einem nalen Verdienste eingegangen sind, Berufsstand in Europa geholfen worden, der Hilfe (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Herr Schmidt verdient. hat das Gegenteil gesagt!) Ich bedanke mich. die in den USA, in Tokio und überall anerkannt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sind. (Beifall bei der FDP — Fischer [Frankfurt] Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Bundes- [GRÜNE]: Unverschämt! Sollen wir minister der Finanzen. Lambsdorff loben? Das machen Sie doch besser!) Dr. Stoltenberg, Bundesminister der Finanzen: Meine Damen und Herren, deshalb halten wir es Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind für richtig, daß mit Martin Bangemann ein Politiker vor allem zwei große Themen, die mit der Regie- 5614 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bundesminister Dr. Stoltenberg rungserklärung des Bundeskanzlers zur Diskussion Diese ist ein Kompromiß. Der finanziellen Lei- gestellt sind: Die Bilanz der EG-Politik in Verbin- stung der Bundesrepublik ist durch eine Sonderre- dung mit dem Gipfel von Fontainebleau und die gelung, die der Bundeskanzler erreicht hat, Rech- Lage der Weltwirtschaft, des Weltwährungssy- nung getragen: ein verminderter deutscher Beitrag stems, der Standort der Bundesrepublik Deutsch- hierfür. Ich will hier ganz offen sagen, nicht nur als land in Verbindung mit dem Wirtschaftsgipfel in Mitglied der Regierung: Zu Recht ist neben der be- London. Ich möchte vor allem auf den zweiten The- sonderen Leistung des französischen Präsidenten menkreis eingehen, weil er in der bisherigen De- Mitterrand auch das persönliche Engagement des batte nur gestreift wurde. Bundeskanzlers in der deutschen und internationa- len Presse in nachdrücklicher Weise hervorgehoben Erlauben Sie mir aber zunächst einige Anmer- worden. kungen zu der Wertung dessen, was in Fontaine- bleau erreicht wurde, und was noch an großen Auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gaben vor uns liegt. Ich finde, daß die Bewertung Unser Ziel bleibt es, dieses Ausgleichssystem zu dieses Europäischen Rates — in der in manchen einem kommunitären Ausgleichssystem weiterzu- Punkten sicher bedenkenswerten Rede des Kolle- entwickeln. Es gibt in den Beschlüssen des Europäi- gen Helmut Schmidt — zu negativ war. schen Rates auch Festlegungen auf neue Schwer- punkte der Politik, nicht nur Absichtserklärungen, (Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist der Hel sondern konkrete Beschlüsse, Schwerpunkte, die mut Schmidt?) wir alle bejahen: Förderung der Wissenschaft, Ent- Es entspricht nicht der Tatsache, daß die Be- wicklung einer gemeinsamen Umweltschutzpolitik, Ausbau des Binnenmarktes, auch konkrete Festle- schlüsse des Europäischen Rates nur zur Abwen- gungen auf die Verstärkung von Strukturprogram- dung der Zahlungsunfähigkeit der Gemeinschaft men; dieser Punkt ist j a von Herrn Schmidt beson- geführt haben; das wäre in der Tat zuwenig. Es ent- spricht aber auch nicht der Einschätzung, die die ders — auch für die aktuellen Wirtschafts- und Ar- beitsmarktsituation der Bundesrepublik — hervor- führenden Kommentatoren der Bundesrepublik gehoben worden. Sie werden mir, Herr Kollege Deutschland und der anderen europäischen Staaten Schmidt, die Bemerkung nicht verübeln: Als Sie das bei allen Variationen im Urteil abgegeben haben. Nein! Wer den Beschlußtext des Europäischen Ra- forderten, fiel mir ein, daß in den letzten Jahren tes sorgfältig liest, muß sagen: Hier ist bedeutend Ihrer Regierungszeit unter dem Vorzeichen der Fi- nanzkrise, die so schlimm war, weil man keine Re- mehr erzielt worden. Es gibt keine vergleichbare Konferenz der Europäischen Gemeinschaft seit den serven hatte, weil man nicht rechtzeitig konsolidiert 60er Jahren, die so entscheidende Fortschritte ge- hatte, weil die klassischen Instrumente, die in der bracht hat, angesichts einer schweren, lange ver- Verfassung verankert sind, wie regionale Wirt- schaftsförderung, Städtebau, Gemeinschaftsauf- schleppten Krise, wie diese Sitzung des Europäi- schen Rates. gabe Agrarpolitik, Hochschulbau, empfindlich zu- sammengestrichen worden sind. Wir haben sie nach (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — dem Regierungswechsel finanziell gestärkt, weil Krizsan [GRÜNE]: Das ist ja beinahe wir nicht nur gekürzt haben, sondern eine aktive schon wunderbar!) Politik zur Wirtschaftsbelebung und zur Bekämp- fung der Arbeitslosigkeit im Haushalt eingeleitet — Ich habe nicht gesagt, daß es wunderbar ist. Ich haben. Ich möchte daran doch hier erinnern. habe gesagt: Das ist ein wesentlicher Fortschritt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und in entscheidenden Punkten ein Durchbruch. Freuen Sie sich doch einmal über Erfolge der deut- Dann möchte ich noch einige Bemerkungen zu schen Politik, anstelle nur in Häme und Negativis- Ihren sehr kritischen Aussagen über die sogenann- mus — von der Seite der GRÜNEN — hier zu ver- ten Agrarsubventionen hier anführen. Man muß ja harren. auch einmal im Deutschen Bundestag — wie es gestern schon geschah, aber doch mit leider etwas (Beifall bei der CDU/CSU — Kittelmann geringer Beachtung — an die Ausgangssituation- er- [CDU/CSU]: Die können nicht anders!) innern. Die Ausgaben der Europäischen Gemein- schaft für die gemeinsamen Marktordnungen, also Meine Damen und Herren, eine lange schwelende Interventionen, haben sich von 1977 von 6,38 Milli- Krise in der Frage der besonderen finanziellen arden ECU — 1 ECU ist, wie nicht alle wissen, 2,25 Forderung Großbritanniens ist bereinigt, nicht nur DM — auf voraussichtlich 18,674 Milliarden ECU im für ein, zwei Jahre, sondern für die kommende Zeit, Jahre 1984 erhöht. Das ist eine Steigerung von mit einer eindeutigen Regelung, die in der Tat — 173 %, mit jährlichen Steigerungsraten von bis zu das trifft zu — einmal in der Zukunft, wenn das 30 %. Der Strukturfehler in den ausgehenden 70er Thema einer weiteren Übertragung von Einnahmen Jahren, Herr Kollege Schmidt, ist doch gewesen, an die EG nach 1986 ansteht, überprüft oder bestä- daß man nicht rechtzeitig Beschlüsse für die Ein- tigt werden muß. Das ist doch ein stabiles Element grenzung von Überschußproduktion gefaßt hat, son- für eine lange vor uns liegende Zeit. Das ist es ja, dern sie noch erweitert hat. was seit den ausgehenden 70er Jahren — der Bun- deskanzler Helmut Schmidt hat es selbst schmerz- (Beifall bei der CDU/CSU sowie Zustim lich erfahren, auch auf gescheiterten Konferenzen, mung bei Abgeordneten der FDP) an denen er teilnahm — die Gemeinschaft so Da kann man auch nicht nachträglich die damals schwer belastet hat. zuständigen Landwirtschaftsminister kritisieren. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5615

Bundesminister Dr. Stoltenberg Das war doch ein Grundproblem der nationalen eu- Demgegenüber spielen auch finanziell, Herr Kol- ropäischen Politik. lege Vogel, die jetzt für eine befristete Zeit be- schlossenen nationalen Ausgleichsmaßnahmen Ich will hier noch einmal den Kritikern über die- eine wesentlich geringere Rolle. Sie kennen die ses Haus hinaus — damit es sich die Kollegen der Zahlen, Sie kennen diesen Zusammenhang. sozialdemokratischen Partei nicht weiterhin so leicht machen wie in den letzten Tagen — ein paar (Dr. Vogel [SPD]: Die Zahlen teilweise!) Einzeldaten in Erinnerung rufen. In diesen sieben — Sie sollten, anstatt pausenlos gereizte Zwischen- Jahren betrug der Kostenzuwachs bei der Milch, wo rufe zu machen, die nur Ihr schlechtes Gewissen auch massive Überschüsse entstanden, 98,7 %, aber offenbaren, einmal in sich gehen und Ihre eigenen bei den Überschußprodukten des Mittelmeerraums, Äußerungen der letzten Tage kritisch überprüfen. die damals aufgenommen wurden — das war der Fehler —, sehr viel mehr: beim Olivenöl 388 %, beim (Beifall bei der CDU/CSU) Wein sage und schreibe 1 053 %, Hier ist ein Zusammenhang, der gesehen werden (Hört! Hört! bei der CDU/CSU) muß; denn das Versäumen rechtzeitigen Handelns — man hätte es j a bei der Milch Ende der 70er bei Obst und Gemüse 648 % und beim Tabak 288%. Jahre machen können, als wir in die Überschüsse Insofern war es nicht nur eine agrar-, sondern eine hineinwuchsen — hat jetzt im März zu einer Art finanzpolitische Wende, als im März dieses Jahres Notbremsung geführt, zum erstenmal in der Geschichte der Europäischen (Bindig [SPD]: Notlandung!) Gemeinschaft die unabweisbaren Beschlüsse für die Eingrenzung der Förderung von Überschußpro- weil in der Tat — Herr Kollege Schmidt hat recht — dukten gefaßt wurden. die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit der EG be- stand. Es war eine Notbremsung mit einschneiden- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Einkommensverlusten insbesondere für die Ich kann das — ich muß das auch an die Adresse deutschen Landwirte, weil wir zusätzlich kurzfristig einiger unserer publizistischen Kritiker sagen —, den Grenzausgleich massiv abbauen mußten, um was wir uns in den letzten Wochen vorgenommen überhaupt eine europäische Einigung zu erzielen. und gestern an nationalen Ausgleichsmaßnahmen Das rechtfertigt die Entscheidung. beschlossen haben, nicht abgelöst sehen von dieser Ich kann mich nur über Sie wundern, Herr Kol- dramatischen Entwicklung seit 1977 und der Ent- lege Vogel. Sie sind zwar erst 1972 aus München scheidung vom März, im Interesse der Europäi- nach Bonn gekommen, aber Sie wissen doch auf schen Gemeinschaft, der Steuerzahler und, wie ich Grund der Kontinuität Ihrer Vorgänger, daß die Re- glaube, mittelfristig auch der Bauern, diese Trend- gierung Brandt im Jahr 1970 bei wesentlich gerin- wende herbeizuführen. Was Sie uns nun an Kosten geren Veränderungen — damals auf Grund einer vorrechnen und vor allen Dingen dem Bundesmini- Aufwertung — ein gewaltiges Ausgleichsprogramm ster der Finanzen vorhalten, der angeblich zu groß- für die deutschen Landwirte beschlossen hat. Wenn zügig gewesen sei, ist nichts weiter, Herr Kollege Sie das noch einmal nachlesen, werden Sie feststel- Vogel, len, daß das in der ersten Regierungserklärung von (Dr. Vogel [SPD]: Ja, ja!) am 28. Oktober 1969 angekündigte Ausgleichsprogramm — da steht im Protokoll: gro- als eine Konsequenz aus dieser einschneidenden ßer Beifall bei den Regierungsfraktionen — mit der Veränderung der europäischen Agrarpolitik. Vorsteuerpauschale eine Steuervergünstigung von (Dr. Vogel [SPD]: Das glauben Sie doch sel rund 10 Milliarden DM und mit weiteren Ausgaben ber nicht! — Eigen [CDU/CSU]: Sie haben über den Haushalt noch einmal von 4 bis 5 Milliar- doch keine Ahnung!) den DM gebracht hat. Wenn man das damals als Sozialdemokratische Partei bei kleineren Einkom- — Seien Sie mal ganz friedlich. Ich habe Ihnen die mensverlusten für nötig hielt, ist es unredlich, wenn ECU vorgehalten, — — Sie heute in hemmungsloser Weise gegen die Land- (Dr. Vogel [SPD]: Es geht um Milliarden!) wirte und die heutige Koalition polemisieren.- Das ist unredlich. — Ich habe Ihnen die 12 Milliarden ECU — das sind 30 Milliarden DM — vorgehalten, die während Ihrer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Amtszeit — auch während Sie Mitglied der Bundes- Bindig [SPD]: Sie vernachlässigen die klei- regierung waren — im wesentlichen für Überschuß- nen Landwirte. Sie beuteln die Kleinen, produkte zusätzlich ausgegeben wurden, und die Großen lassen Sie ungeschoren!) (Dr. Vogel [SPD]: 18 Milliarden DM für die — Wenn man damals unter Willy Brandt die Vor- Bauern!) steuerpauschale als wesentliches Ausgleichsele- ment beschlossen hat, kann man heute nicht sagen, ohne daß Sie damals im Interesse der europäischen das sei nur etwas für die Großgrundbesitzer. Es ist Verbraucher und Bauern dagegen etwas getan hät- doch absurd, auf dem Hintergrund der eigenen Ver- ten, Herr Kollege Vogel. gangenheit so etwas zu behaupten. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel Meine Damen und Herren, ich möchte zum zwei- [SPD]: Das ist etwas ganz anderes! Sie nen ten Hauptthema übergehen, zur Situation der Welt- nen alle 14 Tage neue Zahlen! Das ist unso wirtschaft und der internationalen Währungspro- lide!) bleme. Auf dem Londoner Gipfel ist zu Recht fest- 5616 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bundesminister Dr. Stoltenberg gestellt worden: nach Jahren der Rezession und noch bei über 50%. Die französische Mehrheit bei Stagnation spüren wir heute in den meisten Indu- den Europawahlen hat ein Ergebnis von 33 % er- strieländern Zeichen der Belebung, eines erneuten zielt; ich meine die dortigen Regierungsparteien. Wachstums und auch verstärkter internationaler Ich sage das nicht etwa aus irgendwelchen partei- Zusammenarbeit. Aber es gibt unter dem Vorzei- politischen Gründen. Ich sage: Respekt vor einer chen eines beginnenden Aufschwungs nach wie vor Regierung, einem Präsidenten, einem Ministerprä- — ich teile hier das, was auch einige von Ihnen, sidenten, einem Wirtschafts- und Finanzminister, auch der Kollege Helmut Schmidt, gesagt haben — die trotz dieser innenpolitischen Bedrängnis den große Risiken. Es gibt dunkle Schatten und im in- Kurs der Gesundung ihrer Wirtschaft auch unter ternationalen Vergleich sehr große Unterschiede. harten Einschränkungen und Entscheidungen fort- Bei den Industrieländern kann man das Bild sehr setzen; denn wir haben Interesse am Erfolg kurz so zeichnen: Die Vereinigten Staaten von Ame- Frankreichs, kein Land mehr als wir, rika und Japan haben die bisher größten Erfolge in (Beifall bei der CDU/CSU) der Überwindung der Krise, der Konjunktureinbrü- che erzielt. Sie sind gleichsam die Vorreiter. Das unabhängig von politischen Mehrheiten. Ich finde Wort von der „Lokomotive" übernehmen wir nicht das bemerkenswert. Dabei ist es manchmal ganz mehr gern nach bestimmten Erfahrungen der aus- interessant, die Einzelentscheidung zu studieren: gehenden 70er Jahre. Sie sind die Vorreiter, und es Als wir Steuern für Unternehmensinvestitionen ist unbestreitbar, daß in Westeuropa die Bundesre- senkten — dabei die Steuern für das Betriebsver- publik Deutschland und Großbritannien in dieser mögen um 25% —, wurde das heftig als Umvertei- Entwicklung zu Wachstum und Stärkung der Wirt- lung von unten nach oben kritisiert. Die französi- schaftskraft auch eine gewisse Vorreiterposition sche sozialistisch-kommunistische Koalition hat die übernommen haben. Besteuerung des Betriebsvermögens abgeschafft, Dabei ist es interessant, daß das vier Staaten mit meine Damen und Herren, um private Investitionen marktwirtschaftlicher Orientierung sind — ich will zu fördern. Ich sage das nur mal für die noch zu ver- das nur einmal mit einem Satz hier anfügen —, die tiefenden Kontakte, Herr Roth, und die bessere den Weg aus der Krise am schnellsten gefunden Vorbereitung der Kritik im eigenen Land. haben. Manche andere unserer Partner sind noch (Heiterkeit und Zurufe) nicht so eindeutig auf einem Wachstumspfad. Aber man kann in der Diskussion — und dies ist ermuti- Die Konvergenz in den meisten Industrieländern gend — in Westeuropa und auch mit Nordamerika kann man in folgenden Punkten zusammenfassen. und mit Japan heute doch erkennen, daß die Aufga- Die vorrangige Aufgabe ist die Bekämpfung der In- ben deutlicher gesehen werden und daß es eine flation und die Förderung der Geldwertstabilität; gewisse Konvergenz der Politik auch von Industrie- denn dies ist die Voraussetzung für soziale Politik. ländern mit unterschiedlicher politischer Orientie- Eine Politik, die Inflation treiben läßt, versündigt rung der Regierungen gibt. sich gegen die sozialen Grunderfordernisse und Ich begrüße es, daß auch der Herr Kollege Hel- verhindert die Herstellung der Wettbewerbsfähig- mut Schmidt die hervorragende Zusammenarbeit keit. des Bundeskanzlers und des französischen Präsi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denten als einen Gewinn für Europa anerkannt hat. Ich füge hinzu, es ist ja bemerkenswert, daß in Meine Damen und Herren, wir haben in der Bun- Frankreich eine sozialistische Regierung — ja so- desrepublik Deutschland bisher im Jahresverlauf gar mit einem kommunistischen Koalitionspartner eine Inflationsrate von etwa 1,5%. Wir haben im sta- — in entscheidenden Teilen der Analyse der Wirt- tistisch üblichen Vergleich zum Vorjahresmonat schafts-, der Finanz- und der Arbeitsmarktpolitik 2,5 %, vielleicht 2,6 %, aber mit fallender Tendenz. und der Konsequenzen eine nicht identische, aber Ich bewerte dies als einen der ganz großen Erfolge eine vergleichbare Politik verfolgt wie die christ- der Politik dieser Bundesregierung in guter Part- lich-demokratisch-liberale Koalition in der Bundes- nerschaft mit der Bundesbank. - republik Deutschland. Ein weiterer Punkt der Konvergenz ist, daß alles (Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Aber erst nach getan werden muß, um die geschwächte Wettbe- dem sie Erfahrungen mit ihrer sozialisti werbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften zu stär- schen Politik gemacht hat! — Zurufe von ken. Ich stimme dem Kollegen Helmut Schmidt in der SPD) dem zu, was er über die gefährliche Differenz ge- — Noch einen Kurswechsel in der Politik, Herr Kol- genüber der Situation in Amerika zum Nachteil Eu- lege Matthöfer. Die begannen einmal mit einem ropas gesagt hat. Wir sind davon überzeugt — und ganz anderen Programm; sie haben dann nach 18 wir nicht allein, sondern zusammen mit unseren Monaten diesen Kurswechsel vollzogen. Das ist ein westeuropäischen Partnern —, daß hier — neben Ausdruck von Mut. Man kann den verantwortlichen allem, was man zusätzlich oder auch abweichend Persönlichkeiten auch in der Wirtschafts- und Fi- sagen kann — entscheidende Voraussetzungen für nanzpolitik in Frankreich nur großen Respekt aus- die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit liegen. Das ist sprechen, trotz innenpolitischer Rückschläge, wie ja der tiefere Sinn einer Politik der Konsolidierung, es bei der Europawahl gewesen ist. Die Koalition der Gesundung der Staatsfinanzen, denn ohne diese kann immerhin sagen — ich behaupte nicht, daß Politik sind die anderen Bedingungen nicht zu er- das ein sehr schönes Ergebnis war —, wir liegen reichen. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5617

Bundesminister Dr. Stoltenberg Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht, daß 1977 betrug für diese Länder die Schuldendienst- diese Politik weitergeführt wird. Wir werden am quote — Zinsen und Tilgung — rund 15% ihrer 3. Juli durch die Beschlüse des Kabinetts zum Bun- Exporterlöse. 1984 sind es rund 30 %, und es gibt deshaushalt 1985 und zur mittelfristigen Finanzpla- eine Reihe von Ländern, bei denen es 50 oder 60 % nung dies konkretisieren. Meine Damen und Her- geworden sind. ren, wir brauchen kein Sommertheater, wir machen (Krizsan [GRÜNE]: Woran liegt denn das, bevor wir in die Sommerpause gehen, und das?) überreichen es dem Deutschen Bundestag. — Genau über diesen Punkt will ich reden! (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ Wir haben nach der ersten Ölversorgungskrise CSU — Dr. Vogel [SPD]: Sie machen das und nach der Konzentration der Einnahmen bei Theater jetzt!) den OPEC-Ländern diesen Prozeß der Zurückfüh- — Ja, gut, Sie können natürlich von einigen Früh- rung der Mittel an die kredithungrigen und kredit- jahrsturbulenzen reden, Herr Kollege Vogel, aber bedürftigen Länder, das sogenannte Recycling der Ertrag ist am 17. Juni nicht in ihre Scheuern durch Banken, über viele Jahre hinweg — nicht nur gegangen. seitens der damals politisch Verantwortlichen, son- dern auch in der veröffentlichten Meinung — ge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) priesen. Für mich ist das ein Beispiel dafür, daß in Sie haben Grund, das Wahlergebnis genauso kri- so entscheidenden Fragen bei allem hohen Sach- tisch zu betrachten wie wir. verstand die internationale Öffentlichkeit, Politik und Publizistik doch ganz erschreckende Fehlein- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel schätzungen begangen hat. Man hat die tieferlie- [SPD]: Warten wir ab!) genden Probleme nicht rechtzeitig erkannt. Erst im Diese Grundsätze gelten für uns, und sie gelten Sommer 1982 auf der Tagung des Weltwährungs- — mit allen Variationen in Europa — heute für fonds in Ottawa — die Bundesregierung war da- Frankreich, für Belgien, für die Niederlande, sie gel- mals durch Herrn Lahnstein vertreten — ist diese ten mit einem — so will ich einmal sagen — Sonder- Krise durch die akuten Zahlungsschwierigkeiten weg auch für Italien — da sind Unterschiede unver- Mexikos offenbar geworden. Sie begleitet uns seit- kennbar —, sie gelten für Dänemark, sie gelten für dem, und sie wird uns bzw. unsere Nachfolger si- Spanien. Bei allen Differenzierungen im policy mix cher noch mindestens ein Jahrzehnt begleiten. gibt es eine gemeinsame Grundrichtung. Das ist auch in London ein zentrales Thema in Für mich ist — ich sage das nach den Erfahrun- der wirtschafts- und währungspolitischen Diskus- gen von knapp zwei Jahren — diese auch mensch- sion gewesen. Wir sind uns sicher darin einig — ich lich vertrauensvolle Zusammenarbeit eine der posi- stimme hier dem Kollegen Schmidt zu —, das ist tiven Wirkungen der Europäischen Gemeinschaft nicht mehr eine Fachfrage für Experten, es ist eine auch über sie hinaus in andere Länder. Das ist der großen weltpolitischen Herausforderungen, Ge- gleichsam ein Ertrag, der mir in der öffentlichen fahren und Probleme unserer Zeit. Darstellung und in der Wertung gelegentlich zu Die aktuelle Bilanz seit Ottawa vor gut zwei Jah- kurz kommt. Deswegen darf ich dies hier einmal ren kann man so zusammenfassen: Wichtige Ent- erwähnen. Ich weiß übrigens, Herr Matthöfer, daß scheidungen sind getroffen, die Krise ist aber nicht meine Vorgänger es gar nicht anders empfunden gemeistert. Sie wird uns — ich sagte es — noch haben, was die persönliche vertrauensvolle Zusam- lange begleiten. Zeitweise dramatische Zuspitzun- menarbeit mit Kollegen in der EG und über sie hin- gen sind möglich, auch in einzelnen Ländern. Die aus bedeutet. meisten von Ihnen wissen, mit welcher Spannung und auch Sorge viele Beteiligte gegenwärtig nach Aber wir stehen bei der Lösung dieser gewaltigen Argentinien schauen, weil hier zum ersten Male ein Probleme bei uns in den Industrieländern und vor Land nicht bereit ist, die notwendigen Anpassungs- allem in der Weltwirtschaft noch am Anfang. In der vereinbarungen mit dem Währungsfonds zu tref- Weltwirtschaft — das war j a ein Hauptthema in fen. - London — ist es so, daß die internationale Ver- schuldung, auf die der Herr Kollege Schmidt hier Herr Bundesminister, ge- kurz, in Vorträgen außerhalb des Hauses ausführli- Vizepräsident Westphal: statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten cher eingegangen ist, Frau Beck-Oberdorf? (Zuruf von der CDU/CSU: Gegen Hono rar!) Dr. Stoltenberg, Bundesminister der Finanzen: Ja, eine der großen Sorgen und ein Schatten nicht nur gerne an dieser Stelle. dieses Jahres, sondern sicher für ein Jahrzehnt sein

wird. Von 1977 bis 1983 hat sich die Verschuldung Frau Beck - Oberdorf (GRÜNE): Herr Stoltenberg, der Entwicklungsländer und Schwellenländer von meinen Sie, wenn Sie über die internationale Ver- 329 Milliarden US-Dollar auf sage und schreibe 812 schuldungskrise sprechen, daß Sie hier nach wie Milliarden US-Dollar erhöht. Auf 25 Länder entfal- vor tabuisieren können, daß diese Verschuldungs- len 80% dieser gigantischen Summe, auf Latein- krise ganz besonders zusammenhängt mit der Mili- amerika — mit der stärksten regionalen Konzen- tärpolitik der USA, deren nationaler Haushalt das tration — über 350 Milliarden Dollar. Dies ist zu eben nicht mehr verkraften kann, was dort an Gel- einer schweren Last geworden. dern aufgebracht werden muß? 5618 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Dr. Stoltenberg, Bundesminister der Finanzen: Ich 1983 auf 56 Milliarden Dollar halbiert hat, dann glaube nicht, daß man eine kausale Verknüpfung zeigt alleine diese dramatische Größenordnung, der Verschuldenskrise, wie ich sie eben kurz in we- welche gewaltigen Aufgaben noch vor ihnen und nigen Strichen in ihrer Ursache beschrieben habe, vor uns liegen. und der Militärpolitik der USA herstellen kann. Ich glaube allerdings, daß es ein Problem gibt, auf das Hier kommt der Punkt, der mit der Zwischen- ich noch kurz eingehen möchte: Verbindungen zwi- frage angedeutet wurde. Ich teile Ihre Sorge, Herr schen der Zinsentwicklung, dem Haushaltsdefizit Kollege Schmidt — der Bundeskanzler hat es in der der USA — da kann man, wenn man will, die Rü- Regierungserklärung für uns alle klargemacht —, stungsausgaben einbeziehen — und gewissen aku- daß ein neuer Anstieg der amerikanischen Zinsen ten Problemen der Schuldenländer. Aber ein Ver- die Lösung dieser Probleme außerordentlich er- hältnis der Kausalität zwischen Militärpolitik der schwert. Ein 1 %iger Anstieg der amerikanischen USA und Verschuldenskrise ist sicher nicht gege- Zinsen bedeutet eine steigende Zinslast für die Ent- ben, verehrte Frau Kollegin. wicklungsländer von 3,5 bis 4 Milliarden Dollar. Deswegen muß man angesichts der Verantwortung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — der Banken in Zusammenarbeit mit dem Wäh- Zuruf von der SPD) rungsfonds, den Regierungen und den Notenban- Sie haben — ich darf auf den Punkt noch einge- ken neue Formen der Umschuldung finden. hen — in der aktuellen Debatte unterschiedliche, teilweise recht entgegengesetzte Bewertungen. Ich Unbeachtet von der Öffentlichkeit haben die ver- habe mit Interesse, Herr Kollege Schmidt, die Be- antwortlichen Beamten der Regierungen der Indu- richte über die Bankenkonferenz, die Konferenz strieländer im sogenannten Pariser Club in den der größten westlichen Banken, in Philadelphia ge- letzten zwölf Monaten 21 Umschuldungsvereinba lesen, bei der Sie am ersten Tag gesprochen haben rungen getroffen. Das macht keine Schlagzeilen; und am zweiten Tag der Generaldirektor des Inter- ich bin übrigens ganz zufrieden, daß es keine nationalen Währungsfonds, de Larosière. Da sind Schlagzeilen macht. Aber diese bedeutende Lei- doch deutliche Unterschiede in der Einschätzung stung, in einem Jahr 21 Umschuldungsvereinbarun- und teilweise auch in den Folgerungen erkennbar gen mit den betroffenen Schwellen- und Entwick- geworden, die ja auch möglich sind. Denn einige der lungsländern getroffen zu haben, kann im Deut- von mir beispielhaft vorgetragenen Zahlen sind An- schen Bundestag doch einmal erwähnt werden, laß zu tiefer Beunruhigung und möglicherweise (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch zu pessimistischen Folgerungen. Auf der an- deren Seite hat der Generaldirektor des Internatio- weil hier auch Beamte des Bundesfinanzministeri- nalen Währungsfonds, den ich für eine der bedeu- ums und der Notenbank — und das sind gar nicht tendsten Persönlichkeiten der internationalen Poli- die sogenannten Spitzenleute; da fahren, wie Sie tik halte, von der Verantwortung des Amtes her und wissen, Herr Matthöfer, Ministerialräte hin und von der Art her, wie er es ausführt, auch Anfang verhandeln mit einer großen Verantwortung — ei- Juni gesagt — — nen wesentlichen Beitrag dazu geleistet zu haben. (Zuruf von den GRÜNEN) Ich halte es für eine der wichtigsten Feststellungen in dem Londoner Kommuniqué, daß Einvernehmen — Ich halte ihn für eine der bedeutendsten Persön- besteht, hier neue Maßstäbe zu entwickeln. Das lichkeiten. Erlauben Sie mir dieses Urteil über ei- können wir natürlich nur zusammen mit den Ban- nen Mann, den Sie wahrscheinlich gar nicht ken- ken tun. Aber eigene Anpassungsleistungen von nen, Frau Kollegin, und über den Sie trotzdem re- Schuldnerländern — und es gibt hier ja auch ermu- den. tigende Erfolge — müssen auch im Verhalten der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gläubiger stärker honoriert werden. Daß es diese Er hat in Philadelphia auch gesagt: „Trotz aller Erfolge gibt, zeigt die Entwicklung in Mexiko, das großen Sorgen ist das Schuldenproblem heute mit auf einem guten Wege ist, dessen Krise die allge- größerer Zuversicht als noch vor einem Jahr zu meine Krise offenbar machte. Dieses Land hat eine - betrachten." Er hat von teilweise dramatischen An- Stabilisierungspolitik eingeschlagen mit einem passungserfolgen wichtiger Entwicklungsländer ge- Zwischenerfolg, der nachhaltige Förderung ver- sprochen. In der Tat, mit wenigen Zahlen kann man dient. dafür Beispiele finden. Die lateinamerikanischen Nun will ich für die Bundesregierung hier sagen: Entwicklungsländer, soweit sie Anpassungspro- Wir haben in den letzten 15 Monaten in den inter- gramme mit dem Währungsfonds vereinbart haben, nationalen Organisationen drei entscheidende Ver- hatten 1981 eine Handelsbilanz von minus 7 Milliar- besserungen mitgestaltet: Im Januar 1983 haben den Dollar, sie hatten 1983 einen Handelsüberschuß wir uns in der Zehner-Gruppe der Industriestaaten von 24 Milliarden Dollar. Das Leistungsbilanzdefizit in Paris darauf verständigt, die allgemeine Kredit- ist in derselben Zeit von 41 Milliarden Dollar auf 11 vereinbarung auf fast 18 Milliarden Dollar zu erhö- Milliarden Dollar in diesen Ländern zurückgegan- hen, fast eine Verdreifachung vorzunehmen. Das ist gen. Allerdings, die Gesamtzahlen für die Entwick- das, was dem Währungsfonds sozusagen als Re- lungsländer sind nach wie vor zutiefst beunruhi- serve zur Verfügung steht. gend. Alle Entwicklungsländer außerhalb der ölpro- duzierenden Länder hatten 1981 ein Defizit, ein Im Februar 1983 wurden die Mittel des Wäh- Fehlbetrag in ihrer Leistungsbilanz von sage und rungsfonds in Washington durch eine Entschei- schreibe 110 Milliarden Dollar. Und wenn er sich dung, an deren Zustandekommen wir wesentlichen Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5619

Bundesminister Dr. Stoltenberg Anteil hatten, um fast 50% erhöht, d. h. auf 94 Milli- che bis zu 15 % in den Jahren 1981/82 erfolgt sind. arden Dollar. Stagnation, Rezession in den Industrieländern trifft uns, schafft vor allem auf dem Arbeitsmarkt gewal- Im September 1983 haben wir uns in Washington tige Probleme. Sie trifft die Entwicklungsländer, die mit den Entwicklungsländern über die Neurege- armen Länder noch härter als uns und unsere Bür- lung des sogenannten erweiterten Zugangs geei- ger. Dieser Zusammenhang muß deutlich werden, nigt, die Möglichkeit für Entwicklungsländer, Zie- und daraus ergeben sich Konsequenzen. hungen über die regulären Grenzen hinaus vorzu- nehmen. Drittens. Dies — Öffnung der Märkte für die Ent- Die internationale Presse hat den Beitrag der wicklungsländer und bessere Preise für ihre Pro- Bundesregierung und der Bundesbank zu diesen dukte — erfordert Bekämpfung des Protektionis- notwendigen und sehr bedeutenden Entscheidun- mus, gen gewürdigt. (Krizsan [GRÜNE]: Auch der EG!) Ich sage hier nun ein paar Sätze, Herr Kollege vor allem aber eine anhaltende Wachstumsperiode Schmidt, zu Ihren dezenten, kritischen Ausführun- in den Industrieländern. Alle Szenarien für die Be- gen zur Bundesbank. Sie haben gesagt, die Devi- herrschung dieses gewaltigen Schuldenproblems zu senreserven der Bundesbank müßten verfügbar ge- noch erträglichen Bedingungen für die verschulde- macht werden. Ich möchte erwähnen, daß das zu ten Länder — hier gibt es sozialen und politischen einem erheblichen Teil geschehen ist. Denn wenn Sprengstoff — gehen von dieser Prämisse aus, daß der Währungsfonds, wie ich soeben beschrieben es uns gelingt, in den Industrieländern wieder in habe, seine Mittel um mehr als 50% aufstocken eine mehrjährige anhaltende Wachstumsperiode zu konnte — wer steht denn für diese Mittel ein? Nie- kommen. mand anders — von einem begrenzten Eigenkapi- tal, das er hat, abgesehen — als die Notenbanken Viertens. Unvermeidbar sind Anpassungspro- der großen Industrieländer! Wenn ich mich richtig gramme in den verschuldeten Ländern. Ich hebe erinnere, ist es doch so, daß die Bundesbank etwa hier die hervorragende Rolle des Währungsfonds ein Drittel ihrer hohen Devisenreserven, die sie hervor, weil es leider bei einigen, zumindest bei den heute hat — ich würde sagen, das ist mehr ein GRÜNEN in diesem Hause, aber auch bei einigen Ergebnis ihrer, nämlich der Bundesbank, erfolgrei- Randgruppen der SPD, im Gegensatz zu dem, was chen Politik als ein Ergebnis der Politik früherer Herr Lahnstein, Herr Matthöfer und andere in frü- Bundesregierungen oder der jetzigen Bundesregie- heren Jahren vertreten haben, üblich wird, den In- rung; so würde ich das einmal werten —, für den ternationalen Währungsfonds mit der neomarxisti- Fall der äußersten Ausschöpfung, also der Rechts- schen Sprache der Linken und GRÜNEN als Instru- verpflichtungen, die sie eingegangen ist, bereits für ment der internationalen Ausbeutung oder Unter- die notwendige internationale Gemeinschaftsaktion drückung zu diffamieren, was ich als ganz unerhört des Währungsfonds eingesetzt hat. Ein weiterer empfinde, meine Damen und Herren. Das ist eine Teil steht, wie Sie als einer der Väter des Europäi- grobe Verzeichnung. schen Währungssystems wissen, für das EWS zur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Verfügung. Und wir haben j a auch im Mai des letz- Zurufe von den GRÜNEN) ten Jahres, um der französischen Regierung bei ih- rer Umstellungspolitik auf Stabilität mögliche Un- Das hat übrigens mit der Einschätzung der beiden terstützung zu geben, hier zusätzlich einen Bei- kommunistischen Mitgliedsregierungen, die wir im standskredit gegeben. Nein, die Bundesbank leistet Währungsfonds haben — wie Sie wissen, gehören auch zur Bewältigung der internationalen Schul- die Volksrepublik China und Ungarn dem Wäh- denprobleme einen bedeutenden, wachsenden Bei- rungsfonds an — überhaupt nichts zu tun. Aber das trag, und das möchte ich hier dankbar hervorhe- intellektuelle Bewußtsein, das Erkennen der Pro- ben. bleme aus schmerzlichen eigenen Rückschlägen ist mittlerweile bei manchen kommunistischen Funk- Zum letzten Teil dieses Kapitels möchte ich sa- tionären in einigen Ländern schon stärker als bei gen: Es ist kein Szenario zur Beherrschung der den Neomarxisten in der Bundesrepublik Deutsch- Schuldenkrise denkbar, es ist keine positive Ent- land entwickelt. Das muß man auch sagen. wicklung erkennbar, wenn nicht bestimmte Vor- aussetzungen erreicht werden können. Ich will fünf (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von nennen. den GRÜNEN) Die erste ist eine nachhaltige Zunahme des Welt- — Ich weiß nicht, ob Sie sich angesprochen fühlen. handels. Positiv ist, daß der Welthandel in diesem Sie können sich angesprochen fühlen, mir soll das Jahr gegenüber der Zeit der Rezession deutlich an- recht sein. steigt, aber er muß weiter wachsen. (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das war nur Zweitens. Die Öffnung der Märkte für die Ent- ein kleiner Witz!) wicklungsländer und bessere Preise für ihre Pro- Das fünfte ist eine verstärkte Hilfe der Industrie- dukte. Ihre Lage hat sich doch so verschlechtert — länder über multinationale und nationale Entwick- jede Statistik macht das klar —, weil mit der Rezes- lungshilfe. sion in den Industrieländern oder auch nur der Stagnation, d. h. dem Nicht-Vorhandensein von Ich will als letztes sagen: Man muß doch endlich Wachstum, bei ihnen diese gewaltigen Preiseinbrü- erkennen — die hier genannten Beispiele, eine 5620 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bundesminister Dr. Stoltenberg Fülle statistischer Daten aus den letzten Jahren be- mus; das ist, wie ich glaube, ein dringendes Erfor- weisen dies —, dernis unserer Zeit. (Krizsan [GRÜNE]: Sie vergessen die Men (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — schen!) Zurufe von den GRÜNEN) daß es nicht möglich ist, ja zur Entwicklungshilfe Daß wir dies in der Bundesrepublik und in den und zur Zusammenarbeit mit den Entwicklungslän- westlichen Industrieländern schaffen, ist nicht nur dern zu sagen und zugleich Wachstum in der Bun- für uns eine Schicksalsfrage, sondern auch für die desrepublik Deutschland und in den westlichen In- Dritte Welt, meine Damen und Herren. Ich sage das dustrieländern zu verketzern und zu verteufeln. auch zu vielem, was und Oskar La- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — fontaine als die neuen prägenden Kräfte der SPD Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie sehen ja hier an Verwirrung erzeugen. die Erfolge! — Weitere Zurufe von den (Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Dagegen GRÜNEN) steht ja nun Herr Schmidt! — Zurufe von Wer das tut, kann noch so viele Reden halten oder der SPD) sich an fragwürdigen militanten und revolutionären — Ich glaube schon, ein bißchen Ahnung von den Bewegungen, die Bürgerkrieg erzeugen, in be- Dingen zu haben, über die ich rede, Herr Vogel. stimmten Ländern Lateinamerikas berauschen. (Zurufe von den GRÜNEN) (Matthöfer [SPD]: Warum setzen Sie sich mit Leuten auseinander, die nicht hier Er versündigt sich an den notleidenden Menschen sind?) der Dritten Welt. Das ist die schlichte Wahrheit. — Nein, ich sage das auch zu anderen, die hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — sind. Schwenninger [GRÜNE]: Wer versündigt sich da an wem? — Weitere Zurufe von den (Zurufe von der SPD) GRÜNEN) — Erlauben Sie mir doch einmal eine kritische Er hat die elementaren weltwirtschaftlichen Zu- Randbemerkung bei einer im wesentlichen sachli- sammenhänge nicht begriffen. Hier ist klar, daß die chen Analyse. Industrieländer vieles tun müssen, mehr auch für Entwicklungshilfe, mehr auch im Engagement für (Kittelmann [CDU/CSU]: Das tut bei den Sozis immer sehr weh! — Dr. Vogel [SPD]: die Lösung der Schuldenprobleme — ich habe ei- nige Entscheidungen dieser Regierung hier ge- Ihr Unterscheidungsvermögen leidet!) nannt —, als wir heute tun, daß es aber keine Alter- — Machen Sie die Unterschiede zu Herrn Eppler native zu einer Politik gibt, die unsere wirtschaftli- und zu Herrn Lafontaine ein bißchen deutlicher, che Krise endgültig überwindet und die uns wieder Herr Vogel; dann will ich dem gerne Rechnung tra- zu einem aufnahmefähigen und leistungsfähigen gen. Markt auch für die Produkte der Länder der Dritten Welt zu tragfähigen Bedingungen, zu vernünftigen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Preisen macht. Ich will wieder zur Sache kommen. Uns hilft we- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Welche Pro der die systematische Erzeugung und Verbreitung dukte wollen Sie denn kaufen?) von Angsten — — Ich will es Ihnen sagen. Ich kann jetzt hier keine (Frau Dr. Hickel [GRÜNE]: Immer diese Produktliste vorlegen, aber ich rechne damit, daß in Belehrungen!) Verbindung mit der beginnenden Erholung in den das ist ja eine der schlimmen Erfahrungen der letz- Industrieländern die Exporte aus den Entwick- ten Jahre bei vielen Themen der deutschen und lungsländern mengenmäßig zum ersten Mal seit internationalen Politik, die wir mit den sogenann- 1980 wieder deutlich ansteigen, und zwar zu besse- ten neuen Kräften machen, den neuen Protestbewe-- ren Preisen. gungen und Kräften bis in dieses Haus — noch die (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Von welchen Flucht in die Utopie. Wir werden die uns gestellten Produkten?) Aufgaben auch nicht durch rein defensive Strate- — Die Redezeit erlaubt es nicht, jetzt einzelne Pro- gien meistern. dukte zu erörtern. Ich tue das gern einmal in einem (Zurufe von den GRÜNEN) anderen Zusammenhang. Das ist ein prinzipieller Einwand gegen den Ver- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Ihnen fällt such zu sagen — — nicht mal ein Produkt außer den Roh stoffen ein!) (Krizsan [GRÜNE]: Jawohl, Herr Oberleh rer!) Dazu gehört eine Modernisierung unserer Volks- wirtschaft, Wachstum unter strengeren ökologi- — Es geht hier nicht um Oberlehrertum, sondern schen Rahmenbedingungen, größere Anstrengun- um die ernsthafte Erörterung von Grundfragen, an gen in Verbindung damit und für die Beschäfti- der Sie sich zur Zeit durch systematische Zwischen- gungspolitik, aber — was mir fast noch wichtiger ist rufe, die keiner verstehen kann, weil Sie alle durch- — eine Überwindung des modischen Europessimis einander reden, beteiligen. Das ist die Bemerkung, Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5621

Bundesminister Dr. Stoltenberg die ich dann schon an Ihre Adresse machen möchte, Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her- meine Damen und Herren. ren, bevor ich weiter das Wort erteile, möchte ich (Beifall bei der CDU/CSU) mitteilen, daß der Ältestenrat nach Ende dieser De- batte zusammentritt, die, wie jeder erkennen kann, Es geht darum, daß wir dies auch nicht durch rein noch eine Weile weiterlaufen wird. defensive Strategien erreichen. Der nächste Redner ist der Herr Abgeordnete Ich sage hier zur Kritik an der Bundesregierung Roth. in Verbindung mit den Tarifverhandlungen folgen- des: Sie können doch nicht übersehen, daß eine große Zahl von Gewerkschaften innerhalb und au- ßerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes das Roth (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und von uns gegen Sie verabschiedete Vorruhestands- Herren! Der Herr Finanzminister hat uns angekün- gesetz angenommen hat und zu einem Eckpunkt digt, es gebe kein Sommertheater. Das habe ich mit den Arbeitgebern zum Gegenstand von Tarif- wohl verstanden. Wer permanentes Theater macht, vereinbarungen gemacht hat, die wir alle — jeden- kann kein Sondertheater im Sommer machen. falls wir von der Koalition — nur anerkennen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) begrüßen können. Meine Damen und Herren, Graf Lambsdorff ist, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) soweit ich sehe, jetzt nicht da. Sie werden mir trotz- Wir können doch gar nicht übersehen, daß zwischen dem erlauben, daß ich an diesem Morgen ein paar dieser Politik der soeben erwähnten Gewerkschaf- Worte an ihn richte. Ich bitte die Kollegen der FDP, ten — es sind mittlerweile acht bedeutende Ge- das zu übermitteln. Er hat nahezu sieben Jahre das werkschaften — Wirtschaftsressort geführt. Sie wissen, wir alle ha- ben mit ihm viel gestritten, bis zum Herbst 1982 vor (Zuruf von der CDU/CSU: Selbst die ÖTV!) allem hinter verschlossenen Türen, seither meist und dem Kurs der IG Metall und der IG Druck und im Plenarsaal. Wir meinen, sein Rücktritt ist sicher Papier ein fundamentaler Gegensatz besteht, der zu spät erfolgt, aber wir sollten diese Frage im Mo- auch durch verbale Solidaritätsbekundungen oder ment beiseite lassen. Den Respekt vor dem politi- die Ansprachen des Herrn Breit, meines Lands- schen und persönlichen Engagement von Graf manns, die wir nun fast jeden zweiten Abend im Lambsdorff möchte ich ihm jedenfalls nicht ver- Deutschen Fernsehen in ermüdender Länge und sagen. Wiederholung in der „Tagesschau" und in anderen (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der Berichten aus Bonn verfolgen können, nicht über- CDU/CSU und der FDP) deckt werden kann. Auch wenn ich die wirtschaftspolitische Bilanz ne- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) gativ bewerte — 2 Millionen Arbeitslose jetzt, nach Es ist ja phantastisch, wie da die Sendezeiten ver- sieben Jahren Amtszeit —, teilt werden; ich muß das hier doch einmal sagen. (Kittelmann [CDU/CSU]: Es ist ja wohl un (Zuruf von den GRÜNEN: Sie legen sich erhört, das Lambsdorff zuzuschieben!) heute mit allen an, Herr Minister!) wünsche ich ihm trotzdem auch ganz persönlich Dieser tiefe Riß geht quer durch den Deutschen alles Gute für die Zukunft. Gewerkschaftsbund und, wie Sie wissen, Herr Kol- (Carstens [Emstek] [CDU/CSU]: Der Welt lege Vogel, auch durch die Sozialdemokratische ökonom sitzt bei Ihnen!) Partei. Minister Bangemann weist keine wirtschaftspoli- Wie immer nun der Kompromiß in der Frage der tischen Erfahrungen auf. Warum er Wirtschaftsmi- Wochenarbeitszeit aussieht, er muß gefunden wer- nister wurde, hat Umstände, die nur aus der verhee- den. Ich will in aller Klarheit sagen: Rein defensive renden Lage der FDP zu erklären sind. Er wurde Strategien durch eine permanente Verkürzung der Wirtschaftsminister, weil er seine Ausgangsposition Arbeitszeit für alle ohne Ansehen der beruflichen - für die Kandidatur zum Parteivorsitz verbessern Belastung, des Alters und der Lebensumstände wollte. Das ist nun wahrlich eine kärgliche Recht- werden die hier genannten Voraussetzungen und fertigung für dieses Amt. Im übrigen, meine Kolle- Herausforderungen für die Bundesrepublik gen von der CDU/CSU, ist Ihnen offenbar entgan- Deutschland nicht meistern — davon bin ich zu- gen — oder Sie wollen es verdrängen; Strauß und tiefst überzeugt —, auch nicht in der Arbeitsmarkt- Waigel tun es wohl nicht —, daß hier Parteiinter- politik. esse vor Sachinteresse gestanden hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der FDP: Reden Sie doch kein Wir müssen die Wirklichkeit begreifen und er- so dummes Zeug!) kennen, und wir müssen über Grenzen der Parteien Meine Damen und Herren, angesichts von mehr und sozialen Gruppen hinweg alles tun, um die uns als 2 Millionen Arbeitslosen einen Minister zu ha- gestellten Aufgaben zu meistern. ben, der keinerlei wirtschaftspolitische Erfahrung Schönen Dank. hat, ist nun wirklich eine schlechte Voraussetzung. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Aber Sie, Herr Minister Bangemann, haben der FDP) (Zuruf von den GRÜNEN: Keine Bange!) 5622 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Roth natürlich wie jeder andere die Schonfrist der Oppo- zeit noch tätig war, einer der besten Kenner der US sition für einen neuen Minister. Wir werden diese Szene, hat vor kurzem gesagt — ich jedenfalls Schonfrist vielleicht sogar verlängern müssen. nehme das ganz ernst —, daß der europäische Stel- lenwert in dem amerikanischen Weltbild zwangs- Meine Damen und Herren, eine Nachlese zur läufig zurückgehe. Wenn das wahr ist, müssen sich Veranstaltung, die immer noch respekt- Londoner die Europäer darauf konzentrieren und sich daran Weltwirtschaftsgipfel genannt wird, ist auch voll erinnern, daß die EG beispielsweise mehr als 300 heute noch unerläßlich. Ich möchte dazu ganz kurz Millionen Menschen umfaßt, d. h. von der Bevölke- das Institut der Deutschen Wirtschaft zitieren, das rungszahl her ein größeres Potential als die USA uns nun wahrhaft nicht nahesteht: hat. Das gilt ebenso für das Marktpotential. Ich Strahlende Politiker und frustrierte Journali- glaube, auch für die Technologie gilt, daß wir uns sten, dies ist das Fazit des 10. Gipfeltreffens der nicht zu schämen brauchen und daß wir mit Förde- Regierungschefs der sieben mächtigsten Län- rungs- und Aktivierungsmaßnahmen auch hier der der westlichen Welt. Rückstände aufholen können. Und es fährt fort: Ich bin deshalb davon überzeugt, daß die beiden europäische Koope- Keines der Abschlußkommuniqués kam über Alternativen lauten: entweder unverbindliche Absichtserklärungen hinaus. ration, selbstverständlich auch Unternehmensko- operation, zur Erlangung technologischer Spitzen- Wie unverbindlich das Ganze war, zeigte sich we- positionen und als Gegenleistung dafür ein gemein- nige Tage später: samer, ein einheitlicher EG-Binnenmarkt oder Erstens. Zwei Tage nach dem Gipfel beschließt eben nationale europäische Alleingänge zur Errin- die amerikanische Kommission für internationalen gung technologischer Spitzenpositionen und als Handel, daß die Klagen der amerikanischen Stahl- Strafe dafür eben kein Binnenmarkt, kein Zusam- industrie gegen ausländische Lieferanten berech- menwachsen Europas. tigt seien und daß deshalb ein zusätzlicher Protek- Ich empfinde es so, daß die Nagelprobe für Eu- tionismus für US-Stahlprodukte notwendig sei. ropa nicht der Gipfel war, sondern sie im nächsten Zweitens. Vor neun Tagen hat der Vermittlungs- Herbst kommen wird, wenn sich erneut Rezessions- ausschuß des amerikanischen Kongresses vorge- tendenzen durchsetzen. Und die deuten sich schon schlagen, die Abschreibungsgrenzen für Geschäfts- in allen europäischen Ländern an. wagen so zu erhöhen, daß Protektionismus gegen (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das haben Sie deutsche Automobile stattfindet. schon letztes Jahr behauptet!) Drittens. Am letzten Wochenende haben die Mit- — Ja, was habe ich letztes Jahr behauptet? Daß in glieder von Repräsentantenhaus und Senat in den Europa Mitte des Jahres 1984 mehr Menschen als USA beschlossen, die 30 %ige Quellensteuer auf vor einem Jahr arbeitslos sein würden. Zur Zeit ausländische Zinserträge aufzuheben. Das ist beträgt die Arbeitslosenquote in der Europäischen nichts anderes als eine indirekte Förderungsmaß- Gemeinschaft 11,4%, und damals waren es 10,4 %, nahme zum Anziehen von ausländischem Kapital, also eine um einen Prozentpunkt höhere Arbeitslo- anders ausgedrückt: zur Erhöhung der Zinsen in senquote in einer Phase, die Sie Aufschwung nen- Europa. nen. Das sind Maßnahmen nach dem Gipfel. Wenn (Zuruf von der SPD: Richtig!) man also vom Gipfel zurückkommt und sich an Auch um folgendes wird sich die Bundesregie- Hand der Kommuniqués preist, müßte man sich rung einmal kümmern müssen: Während wir bei doch auch einmal selbstkritisch als Regierung fra- der Arbeitslosigkeit früher zum Durchschnitt der gen, was die Gespräche und Diskussionen hinter Europäischen Gemeinschaft immer einen großen verschlossenen Türen eigentlich noch für einen Abstand hatten — in den meisten Jahren der Kanz- Wert haben, wenn anschließend exakt das Gegen- lerschaft von Helmut Schmidt war die Arbeitslosig- teil dessen, was vereinbart wurde, gemacht wird. keit in Deutschland etwa halb so hoch wie- auf euro- Ich frage mich auch, wie wenig in London eigent- päischer Ebene —, lich bewußt geworden ist, welche Massenarbeitslo- (Widerspruch bei der CDU/CSU) sigkeit in Europa herrscht. Überhaupt wird das ge- samte Thema einer aktiven Beschäftigungspolitik hat inzwischen die Arbeitslosenquote bei uns die in den westlichen Industriestaaten systematisch durchschnittliche Arbeitslosenquote in der EG na- verdrängt. Es wird auch verdrängt, welche negati- hezu erreicht. Auch dazu müßten wir meines Erach- ven Rückwirkungen Entwicklungen der US-Wirt- tens deutsche und vor allem europäische Antworten schaft auf unsere Volkswirtschaft haben. Sicherlich, finden. es wird immer wieder angesprochen, aber Konse- Meine Damen und Herren, wir beschwören in quenzen bleiben aus. diesem Hause immer, daß es in Amerika mit der Ich bin deshalb Helmut Schmidt dankbar, daß er Überexpansion der Haushalte und den hohen Zin- endlich einmal Konsequenzen für die europäische sen auf Dauer gar nicht gutgehen kann. Wir zeigen Politik auf den verschiedensten Ebenen aus dieser immer wieder auf den Widerspruch zwischen ex- Situation der US-Wirtschafts- und Sicherheitspoli- pansiver Fiskalpolitik und kontraktiver Hochzins tik gezogen hat. Berndt von Staden, der früher politik. Daß hier ein Widerspruch entsteht, ist völlig Staatssekretär war, aber auch in Ihrer Regierungs- klar. Welche Frage stellt sich dadurch aber eigent- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5623

Roth lieh für unsere Wirtschaftspolitik? Wenn dieser Wi- 3 Milliarden DM ausfallen, so wird das Sozialpro- derspruch eklatant wird, wenn er aufbricht, wenn dukt im Jahre 1984 nur um 0,2 % weniger wachsen, die Expansion in Amerika nicht mehr weitergeht, als es ohne Arbeitskampf gewachsen wäre. Das wenn das, was bisher aus Amerika gewissermaßen sagt die Bundesbank. zieht, was bei uns Exportkräfte entfaltet hat, aus- fällt — dies beschwören wir doch gemeinsam, auch (Hauser [Krefeld] [CDU/CSU]: Das ist doch der Bundeskanzler in seiner Kritik an Reagans schlimm genug! — Kittelmann [CDU/CSU]: Wirtschaftspolitik —, wenn also diese Exportchance Sind 3 Milliarden nichts?) nicht mehr besteht, was passiert dann mit Europa? Das ergibt sich, wenn man ihre Zahlen durchrech- Das ist doch die Frage, die in den nächsten zwölf net. Das bedeutet aber, daß der Streik und die Aus- Monaten vor uns steht. Sie ist unausweichlich. Dazu sperrung für den Konjunktur- und Wachstumsver- habe ich vom Bundesfinanzminister nichts gehört. lauf nicht entscheidend waren. In Wahrheit ist es Dazu wurde keine Antwort gegeben. Er hat weiter- doch so: Schon im März und April konnte jeder, der hin gesagt: Wir müssen konsolidieren, wir müssen vorurteilslos die Konjunktur beobachtete, die Wirt- einschränken. — Woher aber soll denn Nachfrage schaftsabschwächung erkennen. Einen Arbeits- kommen, wie sollen sich Beschäftigungschancen er- kampf gab es damals noch nicht. geben, wenn die expansive Wirkung der US-Wirt- schaft ausläuft? Zweitens. Dieser Punkt ist mir noch wichtiger: Die Bundesregierung kann sich den Arbeitskampf Wir als Sozialdemokraten sind seit langem für nicht als Alibi suchen, weil sie selbst für die Länge, einen europäischen Beschäftigungspakt. Das be- für die Dauer und die Härte dieses Arbeitskampfes deutet nicht Expansion in einem Lande, sondern mitverantwortlich ist. kooperative beschäftigungspolitische Maßnahmen in ganz Europa, ein Abstimmen der expansiven Po- (Beifall bei der SPD) litik, so daß auch Zahlungsbilanzprobleme, wie sie Sozialdemokratische Wirtschaftsminister wie Karl Frankreich bekommen hat, ausbleiben. Mir wäre Schiller und Helmut Schmidt haben stets gewußt eigentlich wohler, wenn auf dem EG-Gipfel diese und sich auch dazu bekannt, daß die Sicherung des Seite der Medaille besprochen worden wäre: Was sozialen Friedens eine politische Aufgabe ist. Die tun wir im nächsten Winter, wenn die Beschäfti- Regierung Kohl hat sich indessen vor dieser Auf- gungssituation sich rapide verschlechtert? Gipfel, gabe nicht nur ständig gedrückt. Nein, sie hat den die immer nur die Löcher der Vergangenheit stop- Arbeitskampf sogar angeheizt und verlängert. Von fen, weisen für die europäischen Arbeitnehmer kei- Anfang an hat diese Regierung einseitig Partei er- nen Weg. Deshalb ist die Enttäuschung, wie auch im griffen, die Gewerkschaft in die Ecke gestellt und Wahlergebnis und in der Wahlbeteiligung deutlich die Arbeitgeber in ihrer Starrheit gestärkt. Übri- wurde, bei den Arbeitnehmern in Europa eklatant. gens, daß sich der Finanzminister heute in einer Gipfel der genannten Art bieten nach meiner Über- hochsensiblen Phase noch einmal gegen IG Metall zeugung auch binnenwirtschaftlich für die Zukunft und IG Druck und Papier in so polemischer Weise nichts Neues. äußert, ist ein Beispiel dafür, wie wenig diese Bun- Die Einkommensteuerreform 1988 mit ihrem ent- desregierung vom sozialen Frieden begriffen hat. scheidenden expansiven Teil, der Tarifreform, (Beifall bei der SPD) kommt als eine Gegenmaßnahme zum Konjunktur- verfall viel zu spät. Das hat übrigens das Wirt- Der Bundeskanzler hat sein Wort gegen die Wo- schaftsministerium in der ganzen Diskussion der chenarbeitszeitverkürzung — „dumm, töricht und vergangenen Monate nicht anders gesehen. Man absurd" — noch vor Verhandlungsbeginn gesagt. merkt seit Monaten, daß die Konjunktur zusam- Diese einseitige Parteinahme hat zur Verhärtung menbricht. der Tabufront geführt und hat letztlich über lange Monate zur Kompromißunfähigkeit der Tarifpart- Jetzt wird, statt zu handeln, etwas anderes ver- ner beigetragen. Dieser Arbeitskampf kann also sucht. Man versucht, eine Art ökonomische Dolch nicht als Alibi für wirtschaftspolitische Mißerfolge stoßlegende gegen die Gewerkschaften zu formulie- der Regierung dienen. - ren. (Vorsitz : Vizepräsident Frau Renger) (Kittelmann [CDU/CSU]: Unerhört!) Das Ausbleiben eines wirtschaftlichen Auf- Der Arbeitskampf soll das große Alibi für den aus- schwungs ist ebenso Folge von Fehlentscheidungen gebliebenen Aufschwung werden. dieser Regierung wie die Dauer und die Härte des Dies liegt aus zwei Gründen völlig neben der Arbeitskampfes selbst. Wahrheit. Heute ist Georg Leber gedankt worden. Ich will (Kittelmann [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) mich da anschließen. Aber eines will ich hinzufü- gen. Georg Leber hätte es einfacher gehabt, wenn Erstens. Gestern hat die Deutsche Bundesbank — nicht die ständigen Einmischungen aus der Politik wahrlich kein Institut zur Förderung gewerkschaft- gewesen wären, die zur Härte des Arbeitskampfes licher Interessen — festgestellt, daß der Produk- erheblich beigetragen haben. tionsausfall auf Grund des Arbeitskampfes 3 Milli- arden DM beträgt. Ein Teil — auch das wurde deut- (Beifall bei der SPD — Dr:Ing. Kansy lich — wird durch Mehrproduktion noch aufgefan- [CDU/CSU]: Das müssen gerade Sie sa gen. Aber selbst wenn man annimmt, daß die vollen gen!) 5624 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Roth Ich hätte für richtig befunden, wenn ein CDU-Bun- vereinbar mit Ihren bisherigen Behauptungen über deskanzler Herrn Biedenkopf nicht einfach unter Konsolidierung. den Tisch hätte fallen lassen. (Beifall bei der SPD) Es ist ja erstaunlich! Der Herr Bundesfinanzmini- Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter, ge- ster hatte immer gesagt: 3 % Vorsteuerpauschale statten Sie eine Zwischenfrage? zum 1. Januar 1985. Dann wurde er ein paarmal auf Versammlungen in Schleswig-Holstein ausgepfif- Roth (SPD): Ich will das gerade abschließen, Herr fen, und plötzlich wurde das verdoppelt. Plötzlich Hinsken. Ich stehe gleich bereit. wurden 10 Milliarden DM auf drei Jahre oder 22 Milliarden DM bis 1991 beschlossen. Hier wurde in Er hat in der Tat einen ersten Versuch gemacht, der Tat einem Verband kurzfristig völlig Recht ge- die Fronten aufzulockern. Damals schienen die Ar- geben. Nach meiner Überzeugung haben Sie die beitgeber noch in der Lage zu sein — so glaubten Unschuld in der Subventionspolitik verloren. sie selbst —, diesen Kampf mit einem völligen Sieg zu beenden. Um so bedeutender ist der Vermitt- Wir hatten zwischen 1979 und 1982 29 Milliarden lungserfolg von Georg Leber, und wir hoffen in die- DM Steuersubventionen im Bundesetat. Seit Ihren ser Stunde, daß die zur Abstimmung gerufenen Ge- Entscheidungen haben wir jetzt 36,3 Milliarden DM werkschafter sehen, daß dieser Kompromiß tragfä- pro Jahr. Sie haben innerhalb von zwei Jahren die hig ist und daß er weiterführt. Subventionen um 23 % gesteigert. Herr Stoltenberg, Sie haben Ihre eigenen Ankündigungen und Vorha- ben in der Finanzpolitik Lügen gestraft. Sie sollten Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter das hier auch zugeben. Sie sollten vor allem für die Hinsken, bitte. Zukunft erkennen, daß Sie einen Damm brechen ließen, in der EG- und in der nationalen Finanzpoli- Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Roth, sind Sie tik. bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß auch verschie- (Beifall bei der SPD) dene Betriebsräte so denken wie der Kanzler, und daß zum Beispiel der Gesamtbetriebsratsvorsit- zende von BMW München, Golder, feststellt, daß es Vizepräsident Frau Renger: Es ist immer ein etwas sinnlos ist, diesen Arbeitskampf zu führen, daß er abrupter Abbruch, wenn plötzlich die Redezeit zu befürchtet, daß allein aus seinem Betrieb kommend Ende ist. in den nächsten Monaten 10 000 Mitglieder des Das Wort hat die Frau Abgeordnete Beck-Ober- Deutschen Gewerkschaftsbundes ihre Gewerk- dorf. schaftsbücher zurückgeben werden, weil dieser Streik nach seiner Meinung als sinnlos gedeutet Frau Beck - Oberdorf (GRÜNE): Das sind sehr werden würde? freundliche Äußerungen, die man da mitbekommt, bevor man zum Pult geht. Roth (SPD): In dem Teil, wo Sie sagen, daß Streik (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Ich habe ge und Aussperrung bei ein bißchen Kompromißwillen sagt: Die ist auch wieder da!) auf beiden Seiten, vor allem auf seiten der Arbeitge- ber, überflüssig gewesen wären und daß es insofern — „Es bleibt uns nichts erspart", ist gesagt worden. unsinnig war, sind wir an Ihrer Seite. Ich habe es schon gehört. Das ist wohl das kolle- giale Verhalten in diesem Hause hier. (Beifall bei der SPD) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Daß aber Arbeitszeitverkürzung auf die Tagesord- Stoltenberg hat von sehr tiefgreifenden Beschlüs- nung der Tarifvertragsverhandlungen gehört, ist sen gesprochen, die in Fontainebleau gefaßt worden die andere Frage, und da sind wir entschieden da- wären, und hat sich auch auf den Londoner Gipfel bei; denn wir wissen, daß bei Weglaufen der Pro- bezogen. Ich möchte jetzt versuchen, einige Anmer- duktivität gegenüber dem Produktionswachstum kungen zu der Verschuldungskrise zu machen,- die ohne Wochenarbeitszeitverkürzung die Massenar- uns in nächster Zeit in diesem Hause sicherlich beitslosigkeit nicht wirksam bekämpft werden immer stärker beschäftigen wird, und insbesondere kann. Darum ging es in dieser Frage. zur IWF-Politik. (Kittelmann [CDU/CSU]: Der Beweis ist Herr Stoltenberg hat gesagt, wir bräuchten, um noch zu erbringen!) die Dritte-Welt-Länder wirklich in eine bessere Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum wirtschaftliche Position zu versetzen, eine nachhal- Schluß ein paar Bemerkungen zu den EG-Finanzbe- tige Zunahme des Welthandels. Er verschweigt da- schlüssen machen. bei, daß das bis jetzt immer geheißen hat: Ausbau Sie haben gesagt, daß die Beschlüsse finanziell der Monokulturen in diesen Ländern, z. B. Anbau erfolgreich gewesen seien. Nun rechnen wir spitz: von cash crops, mit einer ungeheuren Zunahme von Sie haben bei den EG-Agrarbeschlüssen für drei Hunger in diesen Ländern. Das ist bisher so gewe- Jahre Einsparungen von 4,5 Milliarden DM erzielt. sen. Sie haben gestern durch ein Gesetz Mehrausgaben Zweitens hat er gesagt, wir bräuchten die Öff- im Agrarbereich von 10 Milliarden DM in drei Jah- nung der Märkte für die Entwicklungsländer und ren beschlossen. Ich halte das für einen völligen bessere Preiskonditionen. Hier möchte ich dann Kurswechsel in der Finanzpolitik und jedenfalls un- wirklich einmal wissen, wie er bei einem ganz har- Deutscher Bundestag -- 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5625

Frau Beck-Oberdorf ten marktwirtschaftlichen Konkurrenzsystem si- schminken Sie sich auch die moralinsauren Tränen chern will, daß Firmen wie Eduscho nicht mehr zu für die Dritte Welt ab. absoluten Niedrigstpreisen auf dem Weltmarkt Kaf- (Zustimmung bei den GRÜNEN — Kittel feebohnen kaufen werden und damit weiterhin die mann [CDU/CSU]: Sagen Sie doch nur ein Dritte-Welt-Länder über ganz schlechte terms of mal, wie Sie es machen wollen!) trade in noch tiefere Armut hineintreiben werden. Dieses Modell jedenfalls wird die Dritte Welt wei- (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wer unterläuft terhin in die Verarmung treiben. Dabei sind wir denn das Kaffeeabkommen? Die Sowjets!) dann auch bei der EG-Politik; denn die Politik der EG, wie sie sich in Fontainebleau gezeigt hat, hat Drittens spricht er von der Notwendigkeit, Pro- auch etwas zu tun mit der Politik, die sich gegen die tektionismus zu bekämpfen und das Wachstum in Dritte Welt richtet, wobei ich nach wie vor behaup- den Entwicklungsländern zu fördern. Dazu muß er te, daß in Fontainebleau nicht viel anderes gemacht aber sagen, wie die IWF-Auflagen, die genau dieses worden ist, als das Tauziehen um die bitter notwen- Ziel verfolgen, im Augenblick aussehen. Die IWF- digsten Finanzvereinbarungen zu Ende zu bringen. Auflagen fordern in der Regel eine Stagnation der In Fontainebleau ist kein finanzpolitisches Konzept Löhne bei gleichzeitigen Importrestriktionen. Das zustande gebracht worden, das wirklich in die Zu- führt in diesen Ländern, da sie Rohstoffe importie- kunft weist. Das weiß jeder. ren müssen, um überhaupt produzieren zu können, zu einer geringeren Auslastung der Produktionska- Noch einige Anmerkungen: In Fontainebleau hat pazitäten. Auf diese Weise haben solche Anpas- es kein finanzpolitisches Konzept gegeben, und sungsprogramme insgesamt zu einer Verarmung auch die Gipfeltreffen dieser Art in nächster Zeit der Bevölkerung in den Dritte-Welt-Ländern ge- werden immer wieder von dem Versuch bestimmt führt. sein, die Defizite in der EG mühsam zu decken. Wir wissen jetzt, daß es keine Konzeption für die 5 Mil- (Kittelmann [CDU/CSU]: Nun machen Sie liarden DM Defizit gibt, die anstehen, daß also das einmal Ihre Vorschläge!) neue Tauziehen bevorsteht. Die Hungerrevolten, die wir jetzt überall erleben Ich finde es auch einigermaßen zynisch, wenn Sie konnten, z. B. in Marokko, die Aufstände in anderen sich damit brüsten, Sie seien endlich in eine Struk- Ländern, die Demonstrationen in Honduras usw. turpolitik für die Landwirtschaft eingestiegen, und sind genau eine Folge dieser IWF-Politik gewesen, damit die zusätzlichen Ausgaben rechtfertigen, die einer IWF-Politik, die nämlich nicht zugunsten die- den Bundeshaushalt belasten werden. Diese Struk- ser Dritte-Welt-Länder ausgeht, sondern die sich turpolitik bedeutet nichts anderes — das ist mit auch wieder, wie eh und je, als eine Politik zur Ver- Zahlen belegbar, das ist gestern in der Debatte auch besserung der Lage der Industrienationen in dieser ausreichend klargemacht worden — als eine knall- Welt entpuppt. harte Gesundschrumpfungspolitik zu Lasten der kleinen landwirtschaftlichen Betriebe und zugun- (Beifall bei den GRÜNEN) sten der großen landwirtschaftlichen Betriebe, der industriell produzierenden Agrarwirte. Das ist aller- Als Letztes. Wenn Sie sagen, daß wohl jedem ein- dings ein zynisches Gesundschrumpfungspro- leuchten müsse, daß ohne Wachstum hier den Ent- gramm. Dafür wollen wir aus dem Haushalt keine wicklungsländern keine Chance für eine Verbesse- einzige Mark bereitstellen. rung ihrer Situation gegeben werden könne, dann möchte ich Sie einmal fragen, Herr Stoltenberg, wie Weshalb sind Sie trotzdem bereit, aus unserem Sie dann erklären, daß sich in den ganzen 50er und Haushalt weiterhin soviel in diesen bodenlosen EG 60er Jahren, wo die Industrienationen Wachstums- Haushalt hineinzustecken, obwohl Sie sich eigent- raten hatten, von denen man heute nur noch träu- lich einen Namen als Sparapostel machen wollten? men kann — oder zumindest Sie träumen würden, Das gilt ja auch immer dann, wenn es hier um wir j a nicht — , soziale Absicherungen geht. Ist es tatsächlich noch die Idee, die in diesem Hause z. B. vor 27 -Jahren bei (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Nein, Sie ha einer der ersten Europadebatten von einem Ihrer ben Alpträume!) Kollegen, Dr. Furler von der CDU/CSU — damals ging es um die Unterzeichnung der Römischen Ver- trotzdem die Schere zwischen den reichen und den träge —, dargelegt worden ist? armen Ländern weiterhin so geöffnet hat. Erklären Er sagte: Sie mir bitte einmal diesen Widerspruch. Diese Ar- gumente — das sind jetzt keine neomarxistischen Die Verträge geben eine große europäische Klamotten, wie Sie immer so gerne sagen, wenn Sie Möglichkeit. Ich bin sogar überzeugt, sie geben es sich einfach machen wollen — nehmen Sie bitte im Augenblick und auf lange Zeit hinaus die einmal auf und widerlegen sie. Ich glaube, das einzige Möglichkeit, zu einem neuen Europa dürfte Ihnen schwerfallen. vorwärtszuschreiten, zu einem Europa, dem der Geist des gemeinschaftlichen Denkens und (Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Er hat etwas Handelns innewohnt, einem Europa, das Soli- Besseres zu tun!) darität und die Kraft besitzt, die sich aus dem Zusammenwirken benachbarter und befreun- — Wenn es Ihnen nicht so wichtig ist, wenn Sie deter Völker notwendigerweise entwickeln etwas Besseres zu tun haben, dann allerdings wird. 5626 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Frau Beck-Oberdorf Sie kennen unsere Ablehnung von Europa; nicht hier in Deutschland nicht mehr so klappt mit dem deshalb, weil wir Nationalisten wären, sondern weil Fußball. wir sagen, daß das, was sich inzwischen aus dieser (Zuruf von der CDU/CSU: Sie kennen sich Idee entwickelt hat, nichts mehr übriggelassen hat ja aus! — Die kommen wieder! — Weitere von den Gedanken der Solidarität oder des gemein- Zurufe von der CDU/CSU) schaftlichen Handelns im Sinne von anderen. Viel- mehr ist diese Idee ganz knallhart einem wirt- Man verdeckt damit, daß er hier teilhaben soll an schaftspolitischen Großmachtinteresse geopfert einer ganz egozentrisch an den Interessen dieser worden, das da heißt: Wir müssen mit der EG in Industrienationen orientierten Unterstützung und eine neue Industriestrukturpolitik einsteigen. deswegen auch Finanzierung der EG. Dieses Eu- Diese neue Industriestrukturpolitik ist fast besser ropa lehnen wir ab, meine Damen und Herren. Wir als von Ihnen noch von Herrn Dr. Ehmke für die sind keine Nationalisten. Ich möchte das noch ein- SPD beschrieben worden. Er hat es nämlich ganz mal betonen. Aber dieses Großmacht-Europa wirt- offen und unverfroren als ökonomisches Wettrü- schaftlicher Art — über den militärpolitischen sten bezeichnet, das ansteht zwischen Japan, den Aspekt hat Frau Kelly heute morgen gesprochen — Vereinigten Staaten und dem in diesem Sinne zu wollen wir nicht. Wir wollen, wenn es noch jemals schaffenden Europa. einen Pfennig in die EG gibt, damit ein Europa der Solidarität und nicht eines der Ausbeutung auf- Somit ist dieses Modell Europa, das vielleicht tat- bauen. sächlich einmal — bei einigen zumindest — die Idee der Solidarität in sich getragen hat, ge- (Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von schrumpft zu einem Traum von einer industriellen der CDU/CSU) Großmacht, die eben diese Konkurrenzfähigkeit mit Japan und den USA sichert, die die Basis für Meine Damen und exportorientierte Industrien erweitert und die — Vizepräsident Frau Renger: Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. das ist wohl die neue Zukunftsaufgabe — Innovatio- Ich schließe die Aussprache. nen in Richtung der neuen Technologien fördert. Es unterscheiden sich hier die Sozialdemokraten tat- Wir kommen jetzt zur Abstimmung zum Tages- sächlich um keinen Deut von der reaktionären Poli- ordnungspunkt 28. Es handelt sich um die Be- tik von Frau Thatcher, und es unterscheiden sich — schlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf und das ist das Interessante — die wirtschaftspoliti- Drucksache 10/1583. Wünscht der Herr Berichter- schen Vorstellungen von französischen Sozialisten statter hierzu noch das Wort? — Nein. Wer dieser und Kommunisten tatsächlich nicht von denen von Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den Frau Thatcher, weil sie alle gleichen Paradigmen bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — folgen, nämlich der Wachstumsideologie kapitali- Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist an- stischer Industriegesellschaften. genommen. (Beifall bei den GRÜNEN — Dr.-Ing. Meine Damen und Herren, dann darf ich Ihnen Kansy [CDU/CSU]: „Oh Herr, ich danke mitteilen, daß jetzt der Ältestenrat mit seiner Sit- ich, daß ich nicht bin wie die anderen!") zung beginnt. Ich darf Ihnen weiter mitteilen, daß die Fragestunde, wie vorgesehen, um 14 Uhr be- Herr Ehmke hat in diesem Aufsatz eine Politik ginnt. beschworen, die an den Herausforderungen der Konkurrenz teilnehmen soll. Er ruft sogar auf zu Die Sitzung ist unterbrochen. einer konzertierten Aktion von Unternehmern, Ge- (Unterbrechung von 13.29 bis 14.00 Uhr) werkschaften und Regierungen für diese gemein- same große Anstrengung. Er fordert sogar das Ende der Subventionen für alte Industrien wie Kohle, Vizepräsident Westphal: Die unterbrochene Sit- Stahl, Werften und Textil und will statt dessen Inve- zung wird fortgesetzt. stitionshilfen im Bereich moderner Technologien zur Schaffung leistungsfähiger Unternehmensein- heiten. Die Bauern sollen — das wird dort explizit Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: ausgedrückt — sich demgemäß stärker marktwirt- Fragestunde schaftlichen Gesetzen unterwerfen. Das heißt — Drucksachen 10/1656, 10/1682 — schlichtweg Bauernlegen. Das erst, meine Damen und Herren, erklärt, warum der Bürger hier für Eu- Wir haben zuerst die Dringliche Frage des Abge- ropa so begeistert sein soll. Das erklärt auch, ordneten Bahr auf Drucksache 10/1682 zu behan- warum Herr Stoltenberg bereit ist, die Staatsfinan- deln: zen in diese EG hineinzubuttern. Denn diese Staats- Wie beurteilt die Bundesregierung die gegenwärtige tatsäch- finanzen von hier werden geopfert für diese export- liche, politische und rechtliche Situation der Ständigen Ver- tretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR, die orientierte Industriepolitik eines gemeinsamen Eu- insbesondere dadurch gekennzeichnet ist, daß die Ständige ropas. Das heißt, daß diese Steuergelder, die hier in Vertretung vorläufig Besuche nicht zuläßt, und was unter- die Europapolitik gehen, eigentlich eine versteckte nimmt die Bundesregierung, um auf die sich schnell zuspit- Form von Exportsubventionen sind. Der Steuerzah- zende Lage sofortigen Einfluß zu nehmen? ler soll deswegen begeisterter Europabürger sein. Sie gehört zum Geschäftsbereich des Bundesmini- Man gibt ihm als Trostpflästerchen eine Europa- sters für innerdeutsche Beziehungen. Zur Beant- hymne, damit es mal was fürs Herze gibt. Man gibt wortung steht der Parlamentarische Staatssekretär ihm eine europäische Fußballmannschaft, wenn das Dr. Hennig zur Verfügung. Bitte schön. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5627

Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Reddemann [CDU/CSU]: Bei Bahr bleibt es nister für innerdeutsche Beziehungen: Herr Kollege mies, egal, wann er kommt!) Bahr, mit Rücksicht auf die jüngste Entwicklung möchte ich Sie doch bitten, auf meine Frage einzu- und die Vorgänge in und um unsere Ständige Ver- gehen. Sie haben den Teil der Frage, was die Bun- tretung können vorübergehend in der Ständigen desregierung unternimmt, nicht beantwortet. Wir Vertretung aus technischen Gründen keine Besu- haben ja gehört, daß die Situation in der Ständigen cher empfangen werden. Die Ständige Vertretung Vertretung das Problem bereits seit zwei Monaten arbeitet weiter. Anliegen können schriftlich oder te- geschaffen hat. lefonisch an sie herangetragen werden. Die Bundesregierung bedauert zutiefst die Vor- Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege gänge, die sich in den letzten Tagen ereignet haben. Bahr, ich will diesen Teil gern, soweit es im Mo- Sie beleuchten schlaglichtartig, daß die Härten der ment geht, beantworten, ohne laufende Bemühun- Teilung Deutschlands die Menschen in der DDR gen zu stören; das ist die Grenze, über die ich an besonders treffen, weil ihnen die Freizügigkeit vor- dieser Stelle nicht hinausgehen kann. enthalten wird. Diese kann aber auch nicht auf dem Wir bemühen uns nicht erst seit gestern oder Wege über die Ständige Vertretung erzwungen wer- heute, sondern genauso lange, wie dieses Problem den. besteht, und ich verrate kein Geheimnis — aber Die Bundesregierung erwartet von der DDR, daß vielleicht überrascht es Sie doch —, wenn ich Ihnen sie die auf Grund des Protokolls über die Errich- sage, daß diese Bemühungen im Innerdeutschen tung der Ständigen Vertretung und auf Grund der Ministerium vor sich gehen. Wir haben den beamte- KSZE-Schlußakte übernommenen Verpflichtungen ten Staatssekretär, der dort eine etablierte Ge- einhält. Die Bundesregierung bemüht sich mit sprächsschiene hat; Sie wissen, zu wem auf der an- Nachdruck um eine vernünftige Lösung der Fälle in deren Seite. Dies wird derzeit mit einer besonderen der Ständigen Vertretung. Sie steht in ständigem Intensität betrieben, ohne daß ich augenblicklich Kontakt mit der Regierung der DDR. über die Ergebnisse etwas sagen könnte. Ich habe also die Hoffnung, daß sich das erfüllt, Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- was ich Ihnen gesagt habe: daß dies ein vorüberge- geordneten Bahr. hender Zustand sein muß, weil einfach die Aufnah- mekapazität erschöpft ist. (SPD): Herr Staatssekretär, kann ich daraus Bahr Im übrigen ist dies — um zu Ihrer vorigen Frage entnehmen, daß die Bundesregierung die Stellung- noch einen Satz hinzuzufügen — kein Weg, um aus nahme der CDU aus früheren Zeiten, daß die Bun- der DDR zu fliehen, und deswegen erledigt sich, desregierung nichts unternehmen darf, was die glaube ich, die Frage von selber. Flucht von Deutschen aus der DDR in die Bundes- republik erschweren kann, nicht mehr teilt? Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- geordneten Werner. Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bahr, ich würde mich lieber auf das beziehen, was alle Kollegen im Innerdeutschen Ausschuß gestern Werner (CDU/CSU): Herr Parlamentarischer einmütig zum Ausdruck gebracht haben, indem sie Staatssekretär, stimmen Sie meiner Auffassung zu, Kooperation angeboten haben. Ich habe dort na- daß es geradezu unklug wäre, Überlegungen kurz-, mens der Bundesregierung gesagt, daß wir diese mittel- und langfristiger Natur, die die Bundesregie- Kooperation gerne annehmen und daß wir auch, rung im Zusammenhang mit dem derzeitigen Zu- soweit das bis zur Stunde geht, die Opposition ver- stand in Verbindung mit der Ständigen Vertretung trauensvoll informieren und auch zu Rate ziehen anstellt, und Aktionen, die sie zu unternehmen ge- wollen. denkt, hier vor der Öffentlichkeit in einem Zeit- punkt auszubreiten, wo dies zu allerletzt denen nüt- Wenn es also jemanden gibt, der eine bessere zen würde, denen wir helfen wollen? Lösung sieht, als wir sie derzeit anstreben, stehen wir sehr gern zur Verfügung. Aber ich halte wenig Parl. Staatssekretär: Herr Kollege davon, sich in dieser Situation darüber auseinan- Dr. Hennig, Werner, ich bin in einer zwiespältigen Situation. Als derzusetzen, was in einem hypothetischen Fall vor Parlamentarier würde ich natürlich sagen: Es ist zehn Jahren gewesen wäre. selbstverständlich das gute Recht jedes Kollegen, (Beifall bei der CDU/CSU) jede nur denkbare Frage an die Bundesregierung zu richten. In der anderen Funktion neige ich Ihrer Vizepräsident Westphal: Eine weitere Zusatzfrage Auffassung zu. des Abgeordneten Bahr. Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Bahr (SPD): Herr Staatssekretär, so sehr ich ver- neten Schulze (Berlin). stehen kann, daß Sie auf die Kooperation der Oppo- sition zählen, worauf Sie j a auch in der Tat — Schulze (Berlin) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, anders als die frühere Regierung — zählen kön- teilt die Bundesregierung meine Meinung, daß die nen, Verantwortung für die beklagenswerte Situation in (Zustimmung bei der SPD — Zuruf von der der Ständigen Vertretung und um die Ständige Ver- CDU/CSU: Stimmt doch gar nicht! — tretung in Ost-Berlin nicht bei der Bundesregie- 5628 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode -- 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Schulze (Berlin) rung, sondern ausschließlich bei der DDR selber Punkten einen Weg zu suchen ist kein ganz leichtes liegt? Unterfangen, aber wir sind dabei, und wir sind zu- versichtlich, daß wir das Problem auch über kurz Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Selbstverständ- oder lang lösen können; ich hoffe, über kurz. lich, Herr Kollege. Ich kann Ihre Frage bejahen. (Beifall bei der CDU/CSU) Allerdings ist dies im Ergebnis auch eine Angele- genheit der Bundesrepublik Deutschland. Die Lö- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- sung liegt aber ganz entscheidend bei der DDR. neten Jäger (Wangen).

Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Jäger (Wangen) (CDU/CSU): Herr Parlamentari- neten Hiller. scher Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß das Risiko, daß sich Deutsche aus Ost-Berlin Hiller (Lübeck) (SPD): Herr Staatssekretär, stellt und aus der DDR in die Ständige Vertretung der die Bundesregierung Überlegungen an, dieses Pro- Bundesrepublik Deutschland flüchten und versu- blem nicht nur aktuell zu begreifen, sondern grund- chen, auf diese Weise herauszukommen, vom ersten sätzlich zu lösen, und steht sie in Verhandlungen Tag der Errichtung dieser Ständigen Vertretung an mit der DDR, die einer dauerhaften Regelung bei bestanden hat und daß es damals von der Bundes- derartigen Vorkommnissen entgegenkommen wür- regierung mit der Errichtung dieser Ständigen Ver- den? tretung auch ganz bewußt in Kauf genommen wor- den ist? Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hil- ler, ich kann beide Fragen bejahen; denn es hätte Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jä- wenig Zweck, wenn wir ein aktuelles Problem lösen ger, da sich seitdem an den Rechtsgrundlagen und nach 14 Tagen vor demselben Problem mit an- nichts geändert hat, muß man diese Frage sicher deren Personen stehen. bejahen. Zusatzfrage des Abgeord- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- neten Reddemann. Vizepräsident Westphal: neten Hauck. (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Reddemann (SPD): Herr Staatssekretär, ist von der könnten Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, Hauck DDR gegenüber der Bundesregierung auch die Auf- daß die derzeitigen Probleme in der Ständigen Ver- fassung vertreten worden, die die niedersächsische tretung gar nicht entstanden wären, wenn die Ver- Wirtschaftsministerin Frau Breuel aus ihrem Ge- träge, die zum Protokoll für die Errichtung der spräch mit Günter Mittag referiert und derzufolge Ständigen Vertretung geführt haben, nicht bei der die Lösung des Flüchtlingsproblems in der Ständi- Verhandlung mit so vielen Zweideutigkeiten ge- gen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland spickt worden wären? bei der DDR von entscheidender Bedeutung für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten sei? Dr. Hennig, Parl. Staatsekretär: Herr Kollege Red- demann, dies ist selbstverständlich richtig. Ich Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die würde aber gerne noch hinzufügen, daß es auch Dr. Hennig, Situation in der Ständigen Vertretung und um die daran liegt, daß die DDR intern nicht mehr Freizü- Ständige Vertretung stellt gewiß eine Gefahr für die gigkeit gewährt, als sie dies derzeit tut. Wenn sie zukünftige politische Entwicklung zwischen beiden das täte, würde sich das Problem zumindest wesent- Staaten dar. Deswegen sind beide Seiten um eine lich entschärft stellen. vernünftige Lösung bemüht. (Reddemann [CDU/CSU]: Einverstanden!) Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- neten Menzel. neten Heimann. Menzel (SPD): Herr Staatssekretär, wären- Sie in Heimann (SPD): Herr Staatssekretär, aus einer der Lage, darzulegen, was an der Situation, wie sie Agenturmeldung entnehme ich, daß Frau Minister sich jetzt darstellt, gegenüber der früherer Jahre Breuel erklärt hat: „Man muß deutlich machen, daß neu ist und worin Ihre Erkenntnis- und Ihre Mei- mit Ausnahme von wirklichen Asylfällen die Stän- nungsänderung gegenüber früheren Jahren be- dige Vertretung in Ost-Berlin nicht ein Lager für gründet liegen? diejenigen sein darf, die damit ihre Ausreise er- (Reddemann [CDU/CSU]: Sie sind ein zwingen wollen." Ich frage Sie: Teilen Sie diese Auf- Witzbold!) fassung?

Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich Heimann, ich würde es gerne mit meinen Worten so könnte dies in der Tat im Detail tun. Aber ich glau- ausdrücken: Es gibt ein paar Eckpunkte in dieser be, es wäre im Moment nicht sonderlich zweckmä- Auseinandersetzung. Ein solcher Eckpunkt ist ganz ßig und hilfreich, die Debatte in dieser Weise zu gewiß der, daß niemand über die Ständige Vertre- führen. tung seine Ausreise erzwingen kann. Ein anderer (Beifall des Abg. Reddemann [CDU/CSU] ist genausogut der, daß wir niemanden mit Gewalt — Bahr [SPD]: Auch nicht von Herrn Red vor die Tür setzen können. Zwischen diesen beiden demann!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5629

Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- stehen — derzeit nicht als geheime, sondern als neten Böhm (Melsungen). öffentliche Titel behandeln, werde ich bei diesen Themen in der Beantwortung besonders zurückhal- Böhm (Melsungen) (CDU/CSU): Herr Parlamenta- tend. Ich bitte Sie um Nachsicht, daß ich das hier rischer Staatssekretär, sind Sie bereit, auch von die- durchhalten möchte. Daß dieses Gesamtkapitel al- ser Stelle aus an die Behörden der DDR zu appellie- lerdings politische Auswirkungen hat, läßt sich ren, das einzig Vernünftige zu tun, um diese Proble- überhaupt nicht bestreiten. matik im einzelnen zu lösen, nämlich sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, die Reisebedingun- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- gen innerhalb der beiden Teile in Deutschland so zu neten Dr. Hupka. ändern, daß solche Fälle überhaupt nicht auftreten können? Dr. Hupka (CDU/CSU): Herr Parlamentarischer (Franke [Hannover] [SPD]: Das ist blauäu Staatssekretär, nutzt die Bundesregierung jede Ge- gig! — Weitere Zurufe von der SPD) legenheit, die DDR-Regierung an ihre Verpflichtun- gen aus der KSZE-Schlußakte und vor allem auch Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Böhm, ich habe dies in meiner ersten Antwort be- an ihre Verpflichtungen, die jetzt in Madrid festge- reits dadurch zum Ausdruck gebracht, daß ich ge- schrieben worden sind, zu erinnern? sagt habe, dieses Problem stelle sich in so dramati- scher Form, weil Freizügigkeit derzeit eben nicht in Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Ich will die Frage ausreichendem Umfang gewährt wird. Ich bin gern benutzen, um das noch einmal zu zitieren, gerne bereit, das noch einmal zu unterstreichen. Ich Herr Kollege Hupka. In Madrid hat man auch den meine, daß sich die Bundesregierung in der Tat auf Zugang von Besuchern zu den Missionen behandelt allen ihr zur Verfügung stehenden Wegen und mit und in dem Schlußdokument von Madrid gemein- allen Mitteln bemühen muß, eine vernünftige Lö- sam beschlossen, sung dieser Situation zu erreichen. Ich bitte aller- daß der Zugang zu den Missionen unter gebüh- dings um Verständnis, wenn ich dies hier nicht im render Berücksichtigung der erforderlichen Si- einzelnen skizzieren kann. cherheitsbedürfnisse dieser Missionen Zusatzfrage des Abgeord- — ich glaube, das, was dort im Moment geschieht, Vizepräsident Westphal: steht nicht im Zusammenhang mit den Sicherheits- neten Büchler (Hof). bedürfnissen dieser Mission — Büchler (Hof) (SPD): Herr Staatssekretär, da Sie gewährleistet werden muß. die Frage bejaht haben, daß die jetzige Situation Daran möchte ich gerne noch einmal erinnern. auf Zweideutigkeiten im Grundlagenvertrag beru- he: Was sind die Zweideutigkeiten? Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege neten Lutz. Büchler, es gibt in Mitteleuropa nicht das Institut des diplomatischen Asyls. Dies ist in anderen Kon- Lutz (SPD): Herr Staatssekretär, da die Ständige tinenten anders geregelt, beispielsweise in Latein Vertretung von uns und nicht von der DDR ge- amerik a. schlossen worden ist: Reicht Ihre Phantasie aus, (Bahr [SPD]: Richtig!) sich vorzustellen, was wohl passiert wäre, wenn das Man hätte beispielsweise daran denken können, für zu unserer Regierungszeit geschehen wäre, und wie solche Fälle auch juristisch Vorsorge zu treffen. Ich Sie dann wohl gefragt hätten, und können Sie nicht weiß, daß dies ein schwieriges Unterfangen ist, aber glücklich sein, daß Sie hier in diesem Hause im dies ist zweifelsohne nicht geschehen, und es ist, Augenblick eine sehr verantwortungsbewußte Op- glaube ich, bewußt nicht geschehen. position haben? (Reddemann [CDU/CSU]: So war es!) (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU) - Wir könnten ja Zeitzeugen danach befragen. (Bahr [SPD]: Richtig! — Reddemann Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege [CDU/CSU]: Z. B. frühere Mitglieder des Lutz, ich wäre glücklich, wenn ich alle Unterstellun- Innerdeutschen Ausschusses!) gen, die Ihre Frage gleichzeitig beinhaltet, voll- inhaltlich übernehmen könnte. Da ich dies im Mo- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage der Abgeord- neten Frau Reetz. ment nicht ganz übersehen kann, beschränke ich mich auf die Antwort, daß unsere Vertretung nicht Frau Reetz (GRÜNE): Herr Staatssekretär, hat die geschlossen ist, sondern daß sie weiterarbeitet, daß augenblickliche Situation Auswirkungen auf die, auch Besucher die Möglichkeit haben, anzurufen wie ich meine, ständigen Bemühungen der Bundes- oder Briefe zu schreiben, daß sie sich aber allein regierung, politische Gefangene aus der DDR frei- aus dem sehr bedrückenden Grunde, daß die Auf- zukaufen? nahmekapazität der Ständigen Vertretung wirklich erschöpft war, und zwar im wahrsten Sinne des Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Wortes, derzeit nicht hineinbegeben können. Aber Reetz, auch wenn wir die entsprechenden Haus- wir hoffen, daß dies ein sehr vorübergehender Zu- haltstitel — und das werden Sie besonders gut ver- stand sein möge. 5630 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- chen Auffassung äußert oder ob er die Wiederein- geordneten Becker (Nienberge). führung der Todesstrafe und damit eine Änderung des Grundgesetzes befürwortet. In diesem Sinne Becker (Nienberge) (SPD): Herr Staatssekretär, hat sich Herr Dr. Jaeger nicht geäußert. angesichts der Fragen von Herrn Hupka und Herrn Reddemann und nachdem Sie bei den KSZE-Ver- Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- handlungen damals als CDU/CSU-Opposition und geordneten Klein. bei den Verträgen und Abkommen mit der DDR als CDU/CSU-Opposition erheblichen Widerstand ge- Klein (Dieburg) (SPD): Herr Staatsminister, ge- leistet haben, frage ich, statten Sie mir, meinen Eindruck nach dieser rabu- (Reddemann [CDU/CSU]: Wie Sie bei Euro listischen Antwort wiederzugeben, nämlich daß die pa!) Bundesregierung — — ob es nicht so ist, daß man, wenn man Verträge und Vizepräsident Westphal: Herr Kollege, Sie müssen Abkommen abschließen will, immer davon ausge- fragen! hen muß, daß das auch beide Seiten unterzeich- nen? Klein (Dieburg) (SPD): Ja: Gestatten Sie mir, mei- nen Eindruck wiederzugeben und ihn von Ihnen Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege geteilt zu bekommen, nämlich daß sich ein erhebli- Becker, ich brauche Sie sicher nicht daran zu erin- cher Teil des Parlaments durch diese dümmliche nern, daß die Einlassungen der damaligen Opposi- Antwort der Bundesregierung letztlich verarscht tion zu den Verträgen mit der DDR unterschiedlich oder veralbert fühlt? waren. Beim Verkehrsvertrag gab es eine Zustim- (Zurufe von der CDU/CSU) mung, bei anderen gab es eine Ablehnung — dies muß man sich jeweils genau anschauen —, und bei Vizepräsident Westphal: Herr Kollege Klein, ge- der KSZE-Schlußakte hing die Einlassung der Op- statten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß dies noch keine position im wesentlichen mit der Frage zusammen, Frage im Sinne unserer Fragestunden war. in welcher Form Berlin einbezogen wird oder ist. (Eigen [CDU/CSU]: Da waren Gauneraus Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her- drücke dabei! — Böhm [Melsungen] [CDU/ ren, wir sind damit am Ende der Beantwortung der CSU]: Unter allem Niveau! Seit wann ist Dringlichkeitsfrage. Ich danke dem Parlamentari- der Herr im Parlament? — Reddemann schen Staatssekretär Dr. Hennig für die Beantwor- [CDU/CSU]: Ist das ein Abgeordneter oder tung. ein GRONER?)

Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Präsident, da ich ministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung der gefragt worden bin, ob ich dem Kollegen gestatten Fragen steht uns Herr Staatsminister Dr. Mertes würde, einen Eindruck wiederzugeben, kann ich sa- zur Verfügung. gen, daß ich meinerseits keine Bedenken dagegen Für die Fragen 24 und 25 der Abgeordneten Frau habe, daß er einen Eindruck wiedergibt; aber ich Dr. Hamm-Brücher wurde um schriftliche Beant- füge gern hinzu, daß der Eindruck falsch ist. wortung gebeten. Die Antworten werden als Anlage (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) abgedruckt. Ich rufe die Fragen des Abgeordneten Klein (Die- Vizepräsident Westphal: Eine weitere Zusatzfrage burg) auf: des Herrn Abgeordneten Lambinus. Kann mir die Bundesregierung den qualitativen Unter- schied zwischen einem Anhänger der Todesstrafe und einem Lambinus (SPD): Herr Staatsminister, darf ich Sie Befürworter der Wiedereinführung der Todesstrafe erklären fragen, ob nicht ein Anhänger der Todesstrafe (siehe Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage dann, wenn er Politiker ist, automatisch auch zum der Fraktion der SPD, Drucksache 10/1527)? Befürworter der Todesstrafe werden muß? Herr Staatsminister. (Eigen [CDU/CSU]: Sein könnte!)-

Dr. Mertes, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, diese Herr Kollege,.in der Antwort auf die Kleine Anfrage Auffassung kann ich nicht teilen. Art. 102 des des Abgeordneten Klein (Dieburg) und der Fraktion Grundgesetzes bestimmt klar und deutlich: „Die To- der SPD zu den Initiativen der Bundesregierung destrafe ist abgeschafft." — An dieser Entscheidung zur Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe hat des Verfassungsgebers will niemand rütteln, und die Bundesregierung zu Frage 5 b — nicht 3 b — niemand will sie zum Thema machen. Das gilt auch ausgeführt: für den verehrten Kollegen Dr. Richard Jaeger. Der Bundesregierung ist bekannt, daß sich Dr. Im übrigen, Herr Kollege, dürfen wir nicht über- Jaeger in einem Interview im März 1979 als sehen, daß eine Reihe von Staaten mit demokra- „Anhänger der Todesstrafe" bezeichnet hat. Dr. tisch-rechtsstaatlicher Grundordnung, darunter Jaeger hat damit seine persönliche Ansicht be- auch zahlreiche mit uns befreundete und verbün- stätigt, ohne sich für die Wiedereinführung der dete Länder, die Todesstrafe — wenn auch nur sehr Todesstrafe auszusprechen. restriktiv — praktizieren. Ich will Ihnen nur einige Es liegt ein klarer Unterschied darin, ob sich je- nennen: Belgien, Griechenland, Irland, Kanada, mand zu einer von früher her bekannten persönli- Israel, Japan. Das ist eine unvollständige Liste. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5631

Staatsminister Dr. Mertes Aber das ändert nichts an meiner Feststellung, Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, ich Art. 102 des Grundgesetzes bestimme klar und deut- nehme an, Sie haben sich versprochen. Ich kenne in lich: „Die Todesstrafe ist abgeschafft." Ich sage es diesem Hause niemanden, der die Abschaffung der Ihnen noch einmal: An dieser Entscheidung des freiheitlich-demokratischen Grundordnung ver- Verfassungsgebers will niemand rütteln, und nie- langt; Sie meinten wohl die Abschaffung der Todes- mand will es zum Thema machen. Ich sage es noch strafe? Ich kann Ihre Frage nicht verstehen. einmal: Unser verehrter früherer Kollege Dr. Ri- (Klein [Dieburg] [SPD]: Ich habe eine Ana chard Jaeger will es ebenfalls nicht. logie gezogen! Ich glaube, die war nicht so schwer zu verstehen!) Vizepräsident Westphal: Ich rufe die Frage 27 des Abgeordneten Klein (Dieburg) auf: — Ich bitte herzlich darum, sie noch einmal zu wie- derholen. Wäre möglicherweise Dr. Richard Jaeger von der Bundes- regierung nicht zum Vertreter der Bundesrepublik Deutsch- land in der Menschenrechtskommission der Vereinten Natio- Klein (Dieburg) (SPD): Herr Staatsminister, der nen benannt worden, wenn er sich für die Wiedereinführung Logik der Antwort, die Sie jetzt gaben, und der Ant- der Todesstrafe ausgesprochen hätte, statt sich nur als An- wort, die die Bundesregierung auf die Kleine An- hänger der Todesstrafe zu bekennen? frage der SPD gegeben hat, folgend frage ich Sie: Herr Staatsminister. Müßte nicht eigentlich auch jemand, der Gegner der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Präsident! Herr aber nicht die Abschaffung dieser Grundordnung Kollege, wie in der Antwort auf die Kleine Anfrage fordert, dann auch in den öffentlichen Dienst einge- der SPD-Fraktion bereits dargelegt wurde, ist Herr stellt werden, was gegenwärtig nicht der Fall ist? Dr. Jaeger zum Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Menschenrechtskommission er- Dr. Mertes, Staatsminister: Nein, ich kann diese nannt worden, weil er der Bundesregierung und, so Logik nicht mitvollziehen. denke ich, Ihnen allen als engagierter Verfechter der Menschenrechte bekannt ist und weil er als frü- (Zurufe von der SPD: Noch einmal! — herer Bundesminister der Justiz eine besondere Klein [Dieburg] [SPD]: Ihr Hochmut in al Sachkenntnis und Erfahrung auf dem Gebiete des len Ehren!) Menschenrechtsschutzes besitzt. Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- Im übrigen, Herr Kollege, gestatten Sie mir noch geordneten Reddemann. eine persönliche Zusatzbemerkung. Sie haben eine völlig hypothetische Frage gestellt, eine irreale Fra- Reddemann (CDU/CSU): Herr Staatsminister, ge. Die Grammatik bezeichnet solche Fragen könnten Sie mir zustimmen, wenn ich dem Herrn irrealis plusquamperfecti; das ist die Unwirklichkeit Kollegen Klein, der ja aus Hessen stammt, empfeh- des vollständig abgeschlossenen Vorgangs. Ich ver- len würde, .. . mag, wenn Sie diese kollegiale Bemerkung gestat- ten, keinen Sinn in Ihrer Frage zu erkennen. Vizepräsident Westphal: Um die Ecke wollen wir hier eigentlich nicht fragen, Herr Reddemann. Sie Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- müssen deutlich fragen. neten Klein (Dieburg). (CDU/CSU): ... seine besondere Akti- (Dieburg) (SPD): Herr Staatsminister, ich Reddemann Klein vität in Sachen Todesstrafe dadurch zu beweisen, gestatte Ihnen natürlich fast alles. — Aber können daß er dafür sorgt, daß der immer noch vorhandene Sie mir nicht zustimmen, daß die rabulistische Art, Passus über die Todesstrafe aus der hessischen in der die Antwort der Bundesregierung gegeben Landesverfassung getilgt wird? worden ist, solche Fragen, wie sie von mir gestellt worden sind, nachgerade provoziert? Dr. Mertes, Staatsminister: Ich denke, Sie haben Staatsminister: Herr Kollege, ich kann recht, Herr Kollege. Dr. Mertes, - dem nicht zustimmen. Natürlich kann und will ich Sie nicht daran hindern, meine Antworten, die sehr Vizepräsident Westphal: Zu einer Zusatzfrage klar waren, als rabulistisch zu bezeichnen. Das ist Herr Abgeordneter Lambinus. eine Wertungsfrage; da sind Sie natürlich vollkom- men frei. Aber Ihre Freiheit und ihre Aufrichtigkeit Lambinus (SPD): Herr Staatsminister, ist es nicht garantieren nicht die Richtigkeit Ihres Urteils. ausgesprochen kontraproduktiv, einen erklärten Anhänger der Todesstrafe in ein internationales Vizepräsident Westphal: Eine weitere Zusatzfrage Gremium zu entsenden, welches sich die Aufgabe des Abgeordneten Klein. gestellt hat, die weltweite Achtung der Todesstrafe zu erreichen? Klein (Dieburg) (SPD): Herr Staatsminister, Ihrer Logik und der Logik der Antwort der Bundesregie- Dr. Mertes, Staatsminister: Nein, Herr Kollege, rung folgend frage ich Sie, ob ein Staatsbürger, der diese Auffassung teile ich aus den Ihnen schon ge- sich als Gegner der freiheitlich-demokratischen nannten Gründen nicht. Auch habe ich Ihnen etli- Grundordnung bekennt, aber nicht die Abschaffung che demokratische Staaten genannt, die die Todes- derselben fordert, nicht in den Schuldienst oder in strafe beibehalten. den Polizeidienst eingestellt werden müßte. (Zurufe von der SPD) 5632 Deutscher Bundestag — 19. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Staatsminister Dr. Mertes Im übrigen ist dem, was ich gesagt habe, nichts hin- im Nachspann des Films — ausschließlich darum zuzufügen. ging es — Bedenken gegen seine Verwendung im Rahmen unserer auswärtigen Kulturpolitik beste- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- hen. Der Bundesgerichtshof selbst hat jedoch gegen neten Böhm (Melsungen). diese Darstellung seiner einschlägigen Rechtspre- chung keine rechtlichen Schritte unternommen. Böhm (Melsungen) (CDU/CSU): Herr Staatsmini- ster, würden Sie nach Ihren Darlegungen bereit Nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände — sein, auf die hessische Landesregierung einzuwir- Sie wissen, verehrter Herr Kollege, daß politische ken, den Artikel über die Todesstrafe aus der hessi- Entscheidungen in hohem Maße das Ergebnis der schen Verfassung zu streichen? Abwägung konkurrierender Güter und Gesichts- punkte sind und daß niemand für sein Ergebnis den Dr. Mertes, Staatsminister: Ich vermute, das wer- Anspruch moralischer Überlegenheit erheben kann den die Kollegen aus Hessen selber besorgen. — hat das Auswärtige Amt dem Goethe-Institut und Inter Nationes mitgeteilt, daß der Film im Rah- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- men der Kulturarbeit im Ausland gezeigt werden neten Heyenn. kann. Das Goethe-Institut hat seinerseits auf Wunsch des Auswärtigen Amts seine Bereitschaft Heyenn (SPD): Herr Staatsminister, würden Sie erklärt, eine Stellungnahme des Bundesgerichts- mit mir übereinstimmen, wenn ich Ihre Antwort auf hofs zum Nachspann bei Filmaufführungen im Aus- die Frage des Kollegen Lambinus als Veralberung land zu verbreiten, falls der Bundesgerichtshof dies eines fragenden Bundestagsabgeordneten durch ei- wünscht. Dem Auswärtigen Amt ist nicht bekannt, nen Vertreter der Bundesregierung bezeichnen ob der Bundesgerichtshof eine solche Absicht hat. würde? Das Auswärtige Amt wäre selbstverständlich be- (Oh-Rufe von der CDU/CSU) reit, für die Verbreitung einer Gegendarstellung des Bundesgerichtshofs zum Nachspann bei Filmauf- Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, dem führungen in seinem Verantwortungsbereich Sorge kann ich nicht zustimmen. zu tragen. Zusatzfrage der Abgeord- Vizepräsident Westphal: Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- neten Frau Blunck. neten Dr. Rose. Frau Blunck (SPD): Herr Staatsminister, können Dr. Rose (CDU/CSU): Herr Staatsminister, geht Sie mir bitte die höhere Weisheit erklären, die darin aus Ihrer Antwort hervor, daß ein politischer Rei- liegt, daß jemand von der Einstellung in den öffent- feprozeß stattgefunden hat, daß man also im letzten lichen Dienst ausgeschlossen wird, weil er nicht die Jahr noch nicht die abgewogenen Erkenntnisse hat- freiheitlich-demokratische Grundordnung bejaht, te, sondern sie erst in diesem Jahr bekommen hat? und ein Befürworter der Wiedereinführung der To- desstrafe in einem Gremium vertreten ist, das die Dr. Mertes, Staatsminister: Ich möchte sagen, daß Achtung dieser Strafe fordert? sich die Frage jetzt neu gestellt hat; und zwar ist sie unter dem Gesichtspunkt, ob der Bundesgerichts- Staatsminister: Frau Kollegin, ich ver- Dr. Mertes, hof selber etwas tut, neu überprüft worden. Das mag nicht zu erkennen, was an Arroganz in meiner Auswärtige Amt ist jedenfalls der Meinung, daß das Antwort gesteckt haben soll. Ich habe eine klare Anliegen des Bundesgerichtshofs ausreichend be- Frage so beantwortet, wie es meiner Überzeugung achtet worden ist. entspricht. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Westphal: Sie haben noch eine wei- tere Zusatzfrage, Herr Dr. Rose. Vizepräsident Westphal: Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten Dr. Rose auf: (CDU/CSU): Herr Staatsminister, wird Dr. Rose - Welche Gründe haben das Auswärtige Amt veranlaßt, den die Bundesregierung von sich aus darauf drängen, Film „Die weiße Rose" nun doch für die Aufführung in den daß ein Nachspann des Bundesgerichtshofs bei die- Goethe-Instituten freizugeben? sen Sendungen im Ausland möglich ist? Herr Staatsminister. Dr. Mertes, Staatsminister: Da der Bundesge- Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege Rose, richtshof selber die interessierte Seite ist, wartet nach Auffassung des Auswärtigen Amts stellt der die Bundesregierung ab, wie sich der Bundesge- Film „Die weiße Rose" eine künstlerisch eindrucks- richtshof hier entscheiden wird. volle Würdigung des Münchener Widerstands gegen den Nationalsozialismus dar. Gerade im Jahr der Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- 40. Wiederkehr des Aufstands gegen Hitler vom neten Schwenninger. 20. Juli 1944 ist er geeignet, das Bild Deutschlands und der Deutschen im Ausland historisch richtig Schwenninger (GRÜNE): Ist dem Auswärtigen darzustellen. Amt bekannt, daß im Verwaltungsrat des Goethe Das Auswärtige Amt hatte jedoch zu prüfen, ob Instituts diese Frage diskutiert worden ist und daß wegen der Aussagen zur Rechtsprechung des Bun- sich die Mehrheit seiner Mitglieder dafür ausge- desgerichtshofs zu Urteilen des Volksgerichtshofs sprochen hat, daß ein Kunstwerk ein Kunstwerk ist, Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5633

Schwenninger auch mit einem politischen Nachspann, und daß die Familie Sacharows ein Telegramm erhalten hat, man das in einem demokratischen Staat zu respek- das mit den Namen des nach Gorki verbannten No- tieren hat? belpreisträgers und dessen Frau Jelena Bonner un- terzeichnet sei. Sie wissen auch, daß Sacharows Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, genau Stieftochter, Tatjana Jankelewitsch, der Nachrich- deshalb hat das Auswärtige Amt die Entscheidung tenagentur Reuters erklärt hat, sie habe Zweifel an gefällt, die ich genannt habe. der Echtheit des Telegrammes. Wir haben keine Veranlassung, an der Berechtigung dieser Zweifel Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- unsererseits zu zweifeln. neten Würtz. Vizepräsident Westphal: Sie haben eine weitere Würtz (SPD): Herr Staatsminister, denken Sie im Zusatzfrage, Herr Jäger. Auswärtigen Amt daran, in Zukunft Zensur auszu- üben? Jäger (Wangen) (CDU/CSU): Herr Staatsminister, hat die Bundesregierung nach der Antwort, die mir Staatsminister: Nein. Dr. Mertes, auf meine Frage von vor 14 Tagen der Bundesmini- ster Genscher gegeben hat, bereits etwas unternom- Vizepräsident Westphal: Herr Staatsminister, ich bin von der Kollegin darauf aufmerksam gemacht men oder wird sie noch etwas unternehmen, um der worden, daß Sie den Begriff der Arroganz gegen- Sowjetunion auch ganz offiziell mitzuteilen, daß das über jemandem abgewehrt haben, der ihn gar nicht Verhalten der sowjetischen Behörden gegenüber angewandt hat. Das wollte ich hier gern korrekt dem Ehepaar Sacharow/Bonner, je länger dieses darstellen. Verhalten in dieser Weise andauert, zu einer immer schwereren Belastung auch des deutsch-sowjeti- Dr. Mertes, Staatsminister: Vielen Dank. schen Verhältnisses führen muß?

Vizepräsident Westphal: Ich rufe Frage 29 des Ab- Dr. Mertes, Staatsminister: Ja, Herr Kollege. Ent- geordneten Jäger (Wangen) auf: sprechend der Ihnen gegebenen Zusage des Bun- Was ist der Bundesregierung über den derzeitigen Auf- desministers des Auswärtigen hat sich die Bundes- enthalt und über den Gesundheitszustand des Ehepaares regierung in Ihrem Sinne bereits bei der Sowjet- Sacharow — Bonner bekannt, und hat es seit der letzten Ant- union eingesetzt. wort (Plenarprotokoll 10/74) der Bundesregierung auf meine dringliche Anfrage Hinweise dafür gegeben, daß die sowjeti- Zusatzfrage des Abgeord- schen Behörden endlich auf die berechtigten Forderungen Vizepräsident Westphal: Sacharows eingehen werden? neten Dr. Hupka. Herr Staatsminister. Dr. Hupka (CDU/CSU): Herr Staatsminister, gibt Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege Jäger, es nach dem Besuch des französischen Staatspräsi- der Bundesregierung ist über den derzeitigen Auf- denten, François Mitterrand, neue Informationen enthalt und über den Gesundheitszustand des Ehe- über den Gesundheitszustand der Familie Sacha paares Sacharow/Bonner nichts Sicheres bekannt. row? Ebenso liegen noch immer keine Hinweise darauf vor, daß die sowjetischen Behörden auf die Forde- Dr. Mertes, Staatsminister: Nein, Herr Kollege. rungen Andrej Sacharows eingehen werden. Vizepräsident Westphal: Ich rufe Frage 30 des Ab- Sie kennen, Herr Kollege, die Haltung der Bun- geordneten Würtz auf: desregierung zu diesem Thema. Ich selber habe sie Sieht die Bundesregierung in den geschäftlichen Aktivitä- vor wenigen Wochen hier aus Anlaß der Verab- ten des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Möllemann, schiedung einer gemeinsamen Sacharow-Resolu- einen Verstoß gegen die Bestimmungen des Ministergeset- tion aller Fraktionen des Deutschen Bundestages zes (vgl. DER SPIEGEL 25/1984, Seite 25), und welche Folge- dargelegt. Auch der Bundesminister des Auswärti- rungen zieht sie gegebenenfalls daraus? gen hat bald danach in einer Fragestunde unseren Herr Staatsminister. - Standpunkt bekräftigt. Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege Würtz, Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- ich darf einleitend darauf hinweisen, daß das Land- neten Jäger. gericht Bonn auf Antrag von Staatsminister Mölle- mann gestern durch eine einstweilige Verfügung Jäger (Wangen) (CDU/CSU): Herr Staatsminister, dem „Spiegel" unter Androhung eines Ordnungs- darf ich aus Ihrer Antwort schließen, daß es keine geldes bis zu 500 000 DM untersagt hat, authentischen und verläßlichen Lebenszeichen des (Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Ehepaares Bonner/Sacharow gibt und daß auch das Telegramm, von dem in der Presse die Rede war, folgende Behauptung aufzustellen, auf rechtzuerhal- das er angeblich an seine Angehörigen im Westen ten und zu verbreiten — ich zitiere —: geschickt hat, nach Auffassung der Bundesregie- Der Antragsteller habe sein Amt als Staatsmi- rung nicht zweifelsfrei als echt angesehen werden nister und seine privaten Geschäfte miteinan- kann? der verquickt, und zwar in der Weise, daß er dem ehemaligen Mitgesellschafter der TFK Dr. Mertes, Staatsminister: Ja, Herr Kollege. Sie GmbH, Herrn Teves, angeboten habe, ihm luk- spielen auf die heutige Pressemeldung an, wonach rative Geschäfte, insbesondere in Saudi-Ara- 5634 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 Staatsminister Dr. Mertes bien, zu vermitteln, falls dieser im Gegenzug Dr. Weng (FDP): Herr Staatsminister, was für eine bereit sei, die Anteile des Antragstellers bei der Auffassung haben Sie dazu, daß ein Abgeordneten- TFK GmbH samt der von dem Antragsteller zu kollege in seiner Anfrage Behauptungen der Zeit- tragenden Verluste zu übernehmen; Gewinne schrift „Der Spiegel" derart formuliert, als handele aus diesen Geschäften sollten zunächst auf die es sich hierbei um Tatsachen? Verlustanteile des Antragstellers verrechnet und im übrigen geteilt werden. Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, das in Ihrer Frage steckende Befremden teile ich. Herr Kollege, ich darf wiederholen: Das Landge- richt Bonn hat auf Antrag von Staatsminister Möl- Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des lemann dem „Spiegel" gestern durch eine einstwei- Herrn Abgeordneten Klein (Dieburg). lige Verfügung unter Androhung eines Ordnungs- geldes untersagt, die zitierte Behauptung aufzustel- Klein (Dieburg) (SPD): Herr Staatsminister, ist Ih- len, aufrechtzuerhalten und zu verbreiten. nen bekannt, ob sich Ihr Kollege Möllemann gegen Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang die Behauptung des „Spiegels" nicht nur in Form noch einen Hinweis, nämlich den, daß es gegen ein von einstweiligen Verfügungen des Landgerichts Gericht in rechtsprechender Funktion keine Einzel- Bonn, die ja relativ rasch zu bekommen sind, wehrt, weisungen der Exekutive und natürlich auch kei- sondern den „Spiegel" auch verklagt; wenn ja: zu nen Eingriff durch die Legislative geben kann. Dies welchem Zeitpunkt? folgt aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, ich ver- Nun zu Ihrer Frage. Den ersten Teil beantwortet stehe den Sinn Ihrer Frage nicht. Die Tatsachen die Bundesregierung mit der Feststellung, daß sind bekannt. Die Ausführungen des Kollegen Möl- Staatsminister Möllemann am 20. Dezember 1982 lemann zu dem, was der „Spiegel" ihm vorwirft, gegenüber dem Bundesminister des Auswärtigen sind bekannt. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. schriftlich erklärt hat, er habe nach seiner Beru- (Reddemann [CDU/CSU]: Jetzt ist doch fung zum Staatsminister im Auswärtigen Amt mit „Der Spiegel" rechtlich dran! Das ist doch Wirkung vom 1. Oktober 1982 seine Firmenbeteili- völlig eindeutig!) gungen aufgegeben. Eine Beantwortung des zweiten Teiles Ihrer Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Frage entfällt damit. Herrn Abgeordneten Bahr.

Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Bahr (SPD): Herr Staatsminister, ist Ihren vorhe- Herrn Abgeordneten Würtz. rigen Ausführungen zu entnehmen, daß die Be- hauptungen des „Spiegel" im Gegensatz zu der Ver- Würtz (SPD): Herr Staatsminister, muß ich Ihre pflichtung des Staatsministers stehen, von seinen Anwort so verstehen, daß Herr Staatsminister Möl- wirtschaftlichen Interessen Abstand zu nehmen? lemann alle wirtschaftlichen Betätigungen nach Mit anderen Worten: Es kann nur eins von beidem dem 1. Oktober 1982 eingestellt und seine Firmen- stimmen. Ist dies das, was Sie sagen wollten? beteiligungen aufgegeben hat? Wenn das so ist: Gab es bei der Beurkundung der Anteilsübertragung an Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, ich sagte die TFK-Verlagsgesellschaft irgendeinen Vorbe- schon, Herr Staatsminister Möllemann habe zu die- halt? sen Vorwürfen selbst Stellung genommen. Darauf verweise ich erneut. Maßgeblich für die Beurteilung einer Pflichtverletzung ist das Gesetz über die Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Staatsminister Möllemann hat erklärt, was er tue, tue er nicht auf Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staats- eigene Rechnung, sondern nur im Interesse der sekretäre. Danach dürfen Staatsminister neben ih- deutschen Wirtschaft, ohne hieraus persönlich ei- rem Amt kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben nen wirtschaftlichen Vorteil zu ziehen. und auch nicht den Leitungsgremien eines auf Er- werb gerichteten Unternehmens angehören. Ich vermag nicht zu erkennen, auf welchen dieser Tat- Vizepräsident Westphal: Eine weitere Zusatzfrage des Herren Abgeordneten Würtz. bestände Ihre Frage zielt. Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage der Abgeord- Würtz (SPD): Herr Staatsminister, hat Herr neten Frau Blunck. Staatsminister Möllemann nach dem 1. Oktober 1982 für seinen Partner Teves den Geschäftskon- Frau Blunck (SPD): Herr Staatsminister, würden takt zu dem saudischen Scheich Salman Hethlain Sie, weil Sie meinem Kollegen Würtz geantwortet und dessen Firme „Hazar S. A." in Genf hergestellt; haben, Herr Möllemann hätte Ausführungen ge- wenn ja: Wie wird diese Handlung bewertet? macht über seine Arbeiten oder Nichtarbeiten für seinen Partner mit der Firma „Hazar S.A.", diese Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann Ausführungen wiederholen? nur auf das hinweisen, was der Kollege Staatsmini- ster Möllemann zu dieser Frage selbst gesagt hat. Dr. Mertes, Staatsminister: Frau Kollegin, gestat- Anderes habe ich nicht hinzuzufügen. ten Sie einen kleinen Augenblick der Nachprüfung in meinen Unterlagen. Sie werden verstehen, daß Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des ich ein so umfangreiches Dossier nicht auswendig Herrn Abgeordnten Weng. beherrsche. Bitte noch einmal das Stichwort. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5635

Frau Blunck (SPD): Geschäftsbeziehungen für sei- Gelegenheiten genutzt, um gegen die Störungen nen Partner Teves mit der Firma „Hazar SA." in von Sendungen nach Osteuropa zu protestieren. Genf. Sie hat sich im Rahmen der UNESCO immer wie- der für das Prinzip des freien und grenzüberschrei- Staatsminister: Frau Kollegin, Staats- Dr. Mertes, tenden Informationsflusses eingesetzt, mit dem Er- minister Möllemann hat erklärt, er habe sich be- gebnis, daß dieses Prinzip in der UNESCO-Medien- reits am 1. Oktober 1982 mit allen damaligen Gesell- deklaration von 1978 verankert wurde. Auf der schaftern der TFK GmbH, München, verbindlich Grundlage dieser Deklaration wurde die Störpraxis geeinigt, daß er mit sofortiger Wirkung aus der Ge- des Ostens auf der UNESCO-Generalversammlung sellschaft ausscheidet und seine Anteile auf Herrn am 22. 10. 1982 in Belgrad erneut verurteilt. Teves überträgt. Die Bestätigung des Ausscheidens von Staatsminister Möllemann dokumentiert, wie Die östlichen Rundfunkstörungen stehen auch im er erklärt hat, nur die am 1. Oktober 1982 getroffene Widerspruch zum internationalen Fernmeldever- mündliche Vereinbarung. trag. Zum Abschluß des ersten Teils der internatio- Die Bundesregierung vermag bei diesem Sach- nalen Kurzwellen-Planungskonferenz, die im Janu- verhalt keine Pflichtverletzung gegen Recht und ar/Februar dieses Jahres in Genf stattfand, wurde Gesetz zu erkennen. unter aktiver Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland eine Resolution vorbereitet und verab- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- schiedet, die alle Länder zur Vermeidung schädli- neten Herterich. cher Funkstörungen und damit indirekt auch zur Einstellung des „Jamming" aufruft. Die Beendigung Herterich (SPD): Herr Staatsminister, ist Ihnen gezielter Rundfunkstörungen stellt eine wichtige bekannt, welche Angaben Ihr Kollege Möllemann Voraussetzung für die Verabschiedung und Anwen- gegenüber dem Bundestagspräsidenten über sein dung eines internationalen Wellenplans dar. Eine privatwirtschaftliches Engagement gemacht hat Fortsetzung des „Jamming" würde den erfolgrei- und ob diese Angaben den Vorschriften gemäß voll- chen Ausgang des zweiten Teils der Internationalen ständig und wahr sind? Kurzwellen-Planungskonferenz gefährden. Dies (Reddemann [CDU/CSU]: Das ist nicht wurde von der Bundesrepublik Deutschland zusam- Sache der Bundesregierung!) men mit anderen Delegationen westlicher Staaten der sowjetischen Seite am Rande der Konferenz deutlich gemacht. Dr. Mertes, Staatsminister: Ich kann Ihnen diese Frage, die eine Tatsachenfrage und an das Präsi- Wichtigste Berufungsgrundlage bei den Protesten dium des Deutschen Bundestages zu richten ist, der Bundesregierung gegen Rundfunkstörungen nicht beantworten. des Ostens sind die Inhalte des Korbs III Unterka- pitel „Information" der KSZE-Schlußakte von Hel- Vizepräsident Westphal: Diese Frage muß auch sinki. Sie bestimmen u. a.: hier im Hause an die richtige Adresse gestellt wer- den. Die Teilnehmerstaaten ... setzen sich zum Ziel, die freie und umfassendere Verbreitung von In- Zusatzfrage des Abgeordneten Verheugen. formationen aller Art zu erleichtern, [die Teil- nehmerstaaten] stellen die Ausdehnung bei der Verheugen (SPD): Herr Staatsminister, da eine Verbreitung von Information durch Rundfunk- einstweilige Verfügung j a noch nichts darüber aus- sendungen fest und drücken die Hoffnung auf sagt, ob die inkriminierten Erklärungen richtig oder Fortsetzung dieses Prozesses aus, so daß das falsch sind, und da Herr Möllemann selbst erklärt dem Interesse an gegenseitiger Verständigung hat, er wolle alle gebotenen rechtlichen Mittel an- zwischen den Völkern und den von der Konfe- wenden, frage ich Sie, welche anderen rechtlichen renz festgelegten Zielen entspricht. Mittel ihm noch zur Verfügung stehen. Im Rahmen des Madrider KSZE-Folgetreffens Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, sehen hat die Bundesregierung das Thema der Rundfunk-- Sie es bitte nicht als eine Mißachtung der Stellung störungen mehrfach angesprochen. Zusammen mit eines Abgeordneten an, wenn ich Sie bitte, diese einer Reihe westlicher Partner hat sie am 9. No- Frage an Herrn Möllemann selbst zu richten. vember 1982 offiziell einen Vorschlag eingebracht, demzufolge sich die Teilnehmer in dem abschlie- Vizepräsident Westphal: Wir kommen zur Frage 31 ßenden Dokument verpflichten sollten, den Emp- des Abgeordneten Dr. Hupka: fang von gesendeter Information aus jedem ande- Welche Möglichkeiten und Gelegenheiten hat die Bundes- ren Teilnehmerstaat nicht zu stören. Auf Grund des regierung genutzt, um bei der Sowjetunion, Bulgarien und im KSZE-Prozeß geltenden Konsensprinzips führte der Tschechoslowakei gegen die Verletzung der KSZE der Widerstand der östlichen Teilnehmerstaaten Schlußakte durch die auf Sendungen der Deutschen zum Scheitern dieses Vorschlags. Welle angesetzten Störsender zu protestieren, und wie lau- tete die Antwort? Die Störungen von Sendungen der Deutschen Bitte, Herr Staatsminister. Welle waren bei bilateralen Konsultationen der Bundesrepublik Deutschland mit Staaten des War- Dr. Mertes, Staatsminister: Die Bundesregierung schauer Pakts in den letzten Jahren bis in die jüng- hat sowohl im multilateralen wie auch im bilatera- ste Zeit immer wieder Gegenstand des Meinungs- len Bereich die sich bietenden Möglichkeiten und austausches. Die bisher festgestellte geringe Flexi- 5636 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Staatsminister Dr. Mertes bilität der östlichen Seite läßt große Hoffnungen in seiner Gesamtheit bei seinem letzten Besuch in auf eine baldige Behebung der Störungen jedoch Moskau angesprochen. Eine Information zu Ihrem nicht angebracht erscheinen. speziellen Punkt habe ich nicht bekommen. Ich Die Bundesregierung beabsichtigt, auch bei dem werde aber dieser Ihrer Frage gerne nachgehen. bevorstehenden Besuch des tschechoslowakischen Außenministers Chnoupek am 12. und 13. Juli 1984 Vizepräsident Westphal: Wir kommen zur Frage 32 die Frage der Störungen von Sendungen der Deut- des Abgeordneten Dr. Hupka. schen Welle erneut aufzunehmen. Ist der Bundesregierung bekannt, daß bezüglich der Aus- Anläßlich des Besuchs des bulgarischen Außen- reise der Deutschen aus Ostdeutschland jenseits von Oder ministers Mladenoff hat der Herr Bundesminister und Neiße aus der Familienzusammenführung mehr und mehr eine Familienzerreißung geworden ist, indem immer des Auswärtigen am 11. Mai 1984 die Störungen der weniger Ausreiseanträge genehmigt werden und immer bulgarischsprachigen Sendungen der Deutschen mehr Besucher sich um die Ausreise der zurückgehaltenen Welle angesprochen. Außenminister Mladenoff er- Familienmitglieder bemühen müssen, und was gedenkt sie widerte, daß er sich auf Grund des aggressiven und dagegen zu tun? polemischen Charakters der Sendungen — das wa- Ich habe ein bißchen die Hoffnung, daß die Ant- ren seine Worte — derzeit nicht in der Lage sehe, wort ein bißchen kürzer sein könnte, Herr Dr. Mer- eine Einstellung der Störungen zu befürworten. Auf tes. eine entsprechende Anregung des Herrn Bundes- ministers, Beispiele inkriminierter Sendungen zu Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Präsident, ich nennen, sagte Außenminister Mladenoff die Über- werde das versuchen. Doch möchte ich auch voll- lassung von Rückübersetzungen solcher Sendun- ständig antworten. gen zu. Die Bundesregierung ist selbstverständlich nicht bereit, sich auf eine Zensur der Sendungen Unter Bezugnahme auf die früheren Hinweise durch Bulgarien einzulassen. Sie sieht jedoch in und Klarstellungen der Bundesregierung zu dem sachbezogenen Dialog mit der bulgarischen Rechts- und Bezeichnungsfragen kann ich Ihnen Seite beispielsweise eine Chance, die Einstellung heute, sehr verehrter Herr Kollege Hupka, sagen: der Störungen zu erreichen. Skepsis ist jedoch auch Der Bundesregierung ist bekannt, daß die Zahl der in diesem Falle weiterhin angebracht, um so mehr, genehmigten Ausreisen im Wege der Aussiedlung als die bulgarischsprachigen Sendungen mit gewis- und Familienzusammenführung trotz über 142 000 ser Wahrscheinlichkeit nicht nur von Bulgarien registrierter offener Ausreisewünsche so abgenom- selbst, sondern auch von der Sowjetunion gestört men hat, daß sie mit 265 im Mai 1984 nur noch 25 % werden. der Zahl der Aussiedler aus dem Hoheitsbereich der Volksrepublik Polen betrug, in den fünf Mona- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- ten von Januar bis Mai 1984 1 833 gleich 33,5 % und neten Dr. Hupka. 1983 11 570 gleich 60,5 %. Die entsprechenden Prozentsätze für die im Dr. Hupka (CDU/CSU): Herr Staatsminister, Sie Wege von Besuchs- oder Touristenreisen in das haben die Sendungen in die Sowjetunion ausge- Bundesgebiet gelangten und ohne polnische Geneh- klammert, die gestört werden. Wie kommt es, daß migung hier verbliebenen Aussiedler betrugen 75 %, die Sendungen der ,,Voice of America" und von BBC 66,5 %, 39,5 %. Diese sogenannten Illegalen-Fälle in Richtung Tschechoslowakei und in Richtung Bul- führen sehr oft zu Familientrennungen, da die pol- garien nicht mehr gestört werden? Ist das vielleicht nischen Behörden für zurückgebliebene Angehö- auf die Proteste und die Intensität der Proteste der rige nur selten Ausreisegenehmigungen in zumut- beiden Länder Großbritannien und Vereinigte Staa- barer Zeit erteilen. Die polnischen Behörden vertre- ten von Amerika zurückzuführen? ten die Auffassung, daß ein von ihnen so genanntes illegales Verbleiben im Ausland nicht vorrangig Dr. Mertes, Staatsminister: Ich halte das für zum Nachzug von Familienangehörigen führen soll. durchaus möglich, Herr Kollege. Aus diesem Grunde lehnt auch das polnische Au- ßenministerium die Entgegennahme von diesbezüg- Vizepräsident Westphal: Weitere Zusatzfrage, Herr lichen Interventionsnotizen unserer Botschaft ab. Dr. Hupka. Selbst Ehegatten und minderjährige Kinder soge- nannter Illegaler — ausgenommen auf Rot-Kreuz- Dr. Hupka (CDU/CSU): Können Sie auch noch auf den Teil meiner Frage Auskunft geben, der die So- Ebene relativ schnell lösbare reine Kinderfälle — wjetunion betrifft, da es ja auch Gespräche zwi- müssen deshalb derzeit mit einer Wartezeit von schen dem Außenminister der Bundesrepublik zweieinhalb bis drei Jahren rechnen. Deutschland und dem sowjetischen Außenminister Die Verringerung der Zahl der Ausreisegenehmi- gegeben hat, warum die Sendungen in Richtung So- gungen für Aussiedler und Störungen des Ausreise- wjetunion der Deutschen Welle und die Sendungen verfahrens auch nach Aufhebung des Kriegsrechts in Pashtu und Dari, die nach Afghanistan gehen, in Polen veranlaßten die Bundesregierung schon im gestört werden, wobei anzunehmen ist, daß die letz- August und Dezember 1983, die polnische Seite — teren Sendungen durch die Sowjetunion gestört übrigens auch auf Ministerebene — zu ersuchen, werden? entsprechend der Offenhalteklausel im Ausreise- protokoll vom Oktober 1975 und dem Briefwechsel Dr. Mertes, Staatsminister: Der Bundesminister vom März 1976 die Aussiedlung und Familienzu- des Auswärtigen hat mir gesagt, er habe das Thema sammenführung nach den Kriterien der Informa- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5637

Staatsminister Dr. Mertes tion vom Dezember 1970 störungsfrei fortzusetzen Vizepräsident Westphal: Man könnte das aus der und in sogenannten Illegalen-Fällen wohlwollender Formulierung der Frage entnehmen. Mein Problem zu entscheiden. Trotz gewisser Zusagen erfolgte ist, daß es eine Dreiecksfrage ist. Die mögen wir keine Anpassung der Praxis der polnischen Behör- nicht so gerne. den. Sie wurde inzwischen angemahnt. Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger (Wan- gen). Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- geordneten Dr. Hupka. Jäger (Wangen) (CDU/CSU): Herr Staatsminister, teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß es Dr. Hupka (CDU/CSU): Herr Staatsminister, wor- sich bei den Besuchern, die auch ohne offizielle Ge- auf führen Sie das gegenwärtig so restriktive und nehmigung hier bleiben, keineswegs um illegale inhumane Verhalten der polnischen Regierung zu- Aufenthaltsnehmer handelt, sondern daß sie ein rück, was zur Folge hat, daß Besucher, die hier blei- Menschenrecht nach Art. 12 eines auch von der ben — wie Sie es auch ausgedrückt haben —, über Volksrepublik Polen unterschriebenen internatio- drei Jahre lang warten müssen, bis ihre Familien- nalen Vertrages wahrnehmen, und daß demzufolge angehörigen, die gewaltsam zurückgehalten wor- die polnischen Behörden nicht berechtigt sind, un- den sind, nachkommen können? ter Hinweis auf diese angebliche Illegalität die An- wendung der Schlußakte von Helsinki und der Be- Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, ich ma- schlüsse in dem Schlußdokument von Madrid zu che mir selbst auch meine Gedanken, möchte hier verweigern? aber keine Spekulationen über die möglichen Mo- Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, meine tive der polnischen Regierung vortragen. Antwort auf Ihre Frage liegt in der Tatsache, daß ich immer von sogenannten Illegalen gesprochen Vizepräsident Westphal: Herr Dr. Hupka, eine habe. Es kommt aber jetzt darauf an, für diese Men- zweite Zusatzfrage. schen und ihre Familien effektiv etwas zu tun, so daß wir auch den Gesichtspunkten des Vertrags- Dr. Hupka (CDU/CSU): Herr Staatsminister, nach- partners Rechnung tragen müssen. dem Sie bereits von Schritten der Bundesregierung im vorigen Jahr gesprochen haben: Was gedenkt Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Herrn die Bundesregierung angesichts der Zahlen, die Sie Abgeordneten Dr. Czaja. gerade für Mai dargelegt haben, zu tun? Die Mehr- zahl derer, die in Friedland registriert werden, sind Dr. Czaja (CDU/CSU): Herr Staatsminister, wenn nicht Aussiedler, sondern Besucher, die hier blei- ich Ihre Darlegungen richtig verstanden habe, be- ben, weil sie bisher keine Ausreisegenehmigung er- stehen Rechtsverpflichtungen der Volksrepublik halten haben. Polen zur Genehmigung von weiteren Ausreisen. Sind Sie nicht der Auffassung, daß man angesichts Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, die Bun- der Nichteinhaltung der Rechtsverpflichtungen desregierung wird bei allen sich bietenden Gelegen- auch ernsthaft prüfen muß, wieweit neue weitge- heiten, vor allem auch bei hochrangigen Begegnun- hende Vergünstigungen gewährt werden können, gen, dieses Thema immer wieder als ein vorrangi- bevor die Rechtsverpflichtungen einigermaßen ein- ges Thema der deutsch-polnischen Beziehungen be- gehalten werden? handeln. Ich möchte mich jetzt aber nicht auf Ein- Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege Dr. Cza- zelheiten der Aktionen der Bundesregierung festle- j a, ich möchte hier das bekräftigen, was von seiten gen, sondern noch einmal das eben Gesagte beton- der Bundesregierung immer wieder gesagt worden nen. ist: die wirtschaftlichen Beziehungen zur Volksre- publik Polen und zu anderen Staaten des War- Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- schauer Paktes sind ein wichtiges Thema; aber die geordneten Jungmann. Bundesregierung bringt sie nicht in einen direkten Bedingungszusammenhang mit dem Themenbe- Jungmann (SPD): Herr Staatsminister, sind Sie reich, mit dem wir uns jetzt befassen. mit mir der Auffassung, daß es korrekt ist, den Teil Osteuropas mit Hoheitsgebiet der Volksrepublik Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Herrn Polen — so wie Sie es korrekterweise gemacht ha- Abgeordneten Becker (Nienberge). ben — auf Grund der vertraglichen und der ge- schichtlichen Entwicklung nach dem Zweiten Welt- Becker (Nienberge) (SPD): Herr Staatsminister, krieg zu bezeichnen, nicht hingegen korrekt, immer könnten Sie uns die rechtliche Verpflichtung nen- wieder von Ostdeutschland zu sprechen, wie es der nen, die die polnische Regierung gegenüber der Kollege Hupka tut? Bundesrepublik in der Frage der Familienzusam- menführung eingegangen ist und die heute verletzt (Dr. Hupka [CDU/CSU]: Das können Sie wird? doch nicht kritisieren!) Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe Dr. Mertes, Staatsminister: Herr Kollege, ich die drei entscheidenden Texte soeben genannt. Es möchte den Herrn Präsidenten fragen, ob er meine ist erstens die Information — das ist die offizielle Meinung teilt, daß diese Frage nicht mehr im Zu- Bezeichnung dieses Textes — vom Dezember 1970, sammenhang mit der eingereichten Frage steht. dann die Offenhalteklausel im Ausreiseprotokoll 5638 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Staatsminister Dr. Mertes vom Oktober 1975, um die in diesem Hohen Hause Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage der Abgeord- sehr gerungen worden ist, dann der Briefwechsel neten Frau Blunck. vom März 1976, in dem die Bundesregierung ihre Erwartungen klar zum Ausdruck gebracht hat, und Frau Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, welche zwar nach Absprache mit der polnischen Regie- Erklärung hat die Bundesregierung dann dafür, daß rung. In diesen drei Texten sehe ich die Verpflich- trotz der französischen Zusicherung, keine Beschei- tungen; ganz abgesehen von den Verpflichtungen, nigung mehr auszustellen, weiterhin gerade aus die sich aus den allgemeinen Texten der internatio- Frankreich mehrere Schildkrötenprodukte in die nalen Menschenrechtspakte ergeben. Bundesrepublik importiert werden? (Becker [Nienberge] [SPD]: Und wo ist die Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wir als Verletzung?) Regierung müssen uns an das halten, was die Re- gierung in Frankreich uns bestätigt. Wenn illegal Vizepräsident Westphal: Herr Staatsminister, nach Produkte zu uns hereinkommen, liegt es außerhalb meinem Eindruck war die Frage, ob die verletzt unserer Möglichkeiten, Ihre Frage nach den Tatsa- worden sind. Wenn Sie jetzt die drei aufgezählt ha- chen hier entsprechend zu behandeln. ben, haben Sie damit zum Ausdruck bringen wollen, daß die drei verletzt worden sind? Ich erlaube mir, Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage der Ab- hier einzugreifen, weil es sonst ein erhebliches Miß- geordneten Frau Blunck. verständnis werden könnte. Frau Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, ich habe jetzt die Frage: Machen Sie dann die Augen vor den Dr. Mertes, Staatsminister: Die Bundesregierung ist der Auffassung, Herr Präsident, daß das polni- Produkten zu, die aus Frankreich herüberkommen sche Verhalten diesen Texten nicht entspricht; des- und sich hier in der Bundesrepublik befinden, und halb habe ich sie eingangs genannt. sagen Sie dann, wir haben — völlig egal, was hier gehandelt wird und wie es hereinkommt — keine offizielle Bestätigung dafür, und deswegen interes- Vizepräsident Westphal: Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers des siert uns das nicht, oder wie darf ich Ihre Antwort Auswärtigen. Ich danke dem Herrn Staatsminister eigentlich verstehen? für die Beantwortung der Fragen. Gallus, Parl. Staatssekretär: Sie dürfen sie so ver- Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- stehen, daß, weil keine Bescheinigungen ausgestellt ministers für Ernährung, Landwirtschaft und For- worden sind, auf dem rechtmäßigen Weg nichts her- sten. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische eingekommen ist. Staatssekretär Gallus zur Verfügung. Zur Frage 64 der Abgeordneten Frau Dr. Martiny Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage der Ab- Glotz ist schriftliche Beantwortung erbeten worden. geordneten Frau Dr. Hartenstein. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Frau Dr. Hartenstein (SPD): Herr Staatssekretär, Dann kommen wir zur Frage 65 der Abgeordne- teilen Sie meine Auffassung, daß angesichts der ten Frau Blunck: Tatsache, daß solche Produkte nicht nur aus Frank- Wann und in welcher Weise haben die zuständigen franzö- reich, sondern auch aus Italien und den Niederlan- sischen Stellen dem Bundesministerium für Ernährung, den seit dem 1. Januar 1984 eingeführt worden sind, Landwirtschaft und Forsten zugesichert, daß französische die Bundesregierung dem einstimmigen Beschluß Behörden keine Bescheinigungen mehr ausstellen werden, die ein Verbringen von Meeresschildkröten und -produkten, des Deutschen Bundestages nicht ausreichend die vor dem 1. Januar 1984 in andere EG-Staaten gelangt nachgekommen ist, sich bei der EG-Kommission oder vor dem 1. Januar 1984 innerhalb des EG-Gebietes der dafür einzusetzen, daß ab 1. Januar 1984 auch kein Natur entnommen worden sind, in die Bundesrepublik anderer EG-Mitgliedstaat mehr Einfuhrgenehmi- Deutschland ermöglichen? gungen für Meeresschildkröten und daraus gewon- Bitte schön, Herr Staatssekretär. nene Produkte zu kommerziellen Zwecken erteilt? - Gallus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die ster für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Bundesregierung ist nicht dieser Auffassung. Wir Frau Kollegin Blunck, der Leiter der französischen sind der Auffassung, daß das, was im Rahmen der WA-Durchführungsbehörde hat dem zuständigen EG beschlossen worden ist, de facto einen Einfuhr- Beamten meines Ministeriums am 15. Januar 1984 stopp darstellt. zugesagt, daß keine der — nach EG-Recht vorge- schriebenen — Bescheinigungen für die Verbrin- Vizepräsident Westphal: Ich rufe Frage 66 der Ab- gung von Meeresschildkröten-Exemplaren mit geordneten Frau Blunck auf: Herkunft aus Réunion in die Bundesrepublik Welche Informationen hat die Bundesregierung über die Deutschland zu kommerziellen Zwecken ausge- auf der französischen Karibik-Insel La Réunion bestehende wilde Ranch für Meeresschildkröten, und ist ihr bekannt, daß stellt wurden und werden. Diese Zusage hat er mit von dort wöchentlich ein Großraum-Jet mit Meeresschildkrö- Fernschreiben vom 21. März 1984 bestätigt. Am tenprodukten in Frankreich eintrifft? 25. Juni 1984 ist dem zuständigen Beamten meines Herr Staatssekretär. Hauses noch einmal zugesichert worden, daß auch bis heute keine derartigen Bescheinigungen von ei- Gallus, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregie- ner französischen Behörde ausgestellt worden rung ist die Existenz einer Schildkrötenranch in sind. dem französischen überseeischen Departement Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5639 Parl. Staatssekretär Gallus Réunion bekannt. Über die Menge der von dort Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir regelmäßig in das französische Hauptland ver- können uns lediglich auf das beziehen, was uns bei brachten Meeresschildkröten liegen der Bundesre- Rückfragen die französische Regierung mitteilt. gierung derzeit keine Informationen vor. Ich weise (Dr. Ehmke [Ettlingen] [GRÜNE]: Das ist jedoch darauf hin, daß eine legale Verbringung sol- doch keine Antwort!) cher Exemplare in die Bundesrepublik Deutschland nicht möglich ist. Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage der Ab- geordneten Frau Reetz. Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage der Ab- geordneten Frau Blunck. Frau Reetz (GRÜNE): Ich möchte fragen: Haben die Zöllner z. B. in Kehl Anweisung, solche Sendun- Frau Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, wird sich gen, wenn sie kommen, zu beschlagnahmen, und die Bundesregierung diese Informationen, die ihr ja was würden Sie tun, wenn wir Ihnen hier eine jetzt offensichtlich noch fehlen, besorgen, weil es ja ganze Handtasche voll dieser Dosen auf den Tisch eine Tatsache ist, daß die Produkte hier bei uns stellen würden? gehandelt werden? Meiner Ansicht nach können Sie auf Grund der Tatsache, daß der Ausschuß für Vizepräsident Westphal: Ich hoffe, beschlagnah- Ernährung, Landwirtschaft und Forsten einen men. einstimmigen Beschluß gefaßt hat, darüber nicht so (Heiterkeit — Frau Reetz [GRÜNE]: Eben einfach hinwegsehen. das möchte ich gerne wissen!)

Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, daß Gallus, Parl. Staatssekretär: Die Zöllner haben wir über nichts hinwegsehen, beweist die Tatsache, Anweisung und sind informiert. Auf der anderen daß wir mit Frankreich, zuletzt am 25. Juni, in Kon- Seite ist aber klar, daß die Tatsache hier nicht ver- takt getreten sind, um diese Dinge abzuklären. schwiegen werden kann daß Schildkrötensuppen auch aus deutschen Beständen noch hergestellt und Vizepräsident Westphal: Sie haben noch eine Zu- gehandelt worden sind, bis die große deutsche Sup- satzfrage, Frau Blunck. penherstellerfirma erklärt hat, sie werde das nicht mehr tun. Schildkrötenfleisch konnte über Jahre (SPD): Herr Staatssekretär, was ge- Frau Blunck hinweg tiefgefroren eingelagert werden. Ich habe denken Sie dagegen zu tun, daß diese Produkte, die vor diesem Hohen Hause schon einmal erklärt, von auf dieser wilden Ranch gezogen worden sind, hier welchem Zeitpunkt an praktisch kein Fleisch mehr in der Bundesrepublik verkauft werden? eingeführt worden ist. Aber daß natürlich Bestände vorhanden waren, kann nicht geleugnet werden. Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich habe Ihnen geantwortet, daß uns Derartiges nicht Vizepräsident Westphal: Wir kommen zur Frage 67 bekannt ist, daß uns keine derartigen Informatio- des Abgeordneten Dr. Weng: nen vorliegen. Welche Vorkehrungen beabsichtigt die Bundesregierung zu treffen, um bei dem geplanten Wegfall der Grenzkontrol- Vizepräsident Westphal: Frau Dr. Hartenstein zu len zu den EG-Nachbarstaaten — namentlich zu Frankreich einer Zusatzfrage. — dafür Sorge zu tragen, daß der Importstop für Meeres- schildkröten und -produkte auch wirksam eingehalten Frau Dr. Hartenstein (SPD): Herr Staatssekretär, wird? können Sie uns sagen, welches die Ergebnisse die- ser von Ihnen genannten Kontakte vom 25. Juni Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Weng, 1984 waren, und zwar auch im Hinblick auf die Ver- der Wegfall von Grenzkontrollen ist — zumindest antwortung der Bundesrepublik für die Einhaltung vorerst — nur für den Personenverkehr der Bun- desrepublik Deutschland mit den unmittelbar be- des Washingtoner Artenschutzabkommens zum Schutz von gefährdeten Arten? nachbarten EG-Staaten angekündigt worden. Das Washingtoner Artenschutzübereinkommen und die Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich Durchführungsvorschriften konzentrieren sich je- habe bereits gesagt, daß Frankreich keine Beschei- doch auf Verbote des kommerziellen Handels mit nigungen ausgestellt hat, weder in bezug auf Mee- vom Aussterben bedrohten Arten, auf strenge Ein- resschildkröten noch in bezug auf Produkte, und fuhrvorschriften für den Handel mit geschützten folglich können auf diesem Wege legal keine Er- Arten sowie auf die Kontrolle des grenzüberschrei- zeugnisse hereingekommen sein. tenden Warenverkehrs. In diesem Bereich würde sich also nichts ändern. Selbst wenn zu einem spä- Vizepräsident Westphal: Herr Dr. Ehmke (Ettlin- teren Zeitpunkt Erleichterungen auch für den Wa- gen) zu einer Zusatzfrage. renverkehr an den Grenzübergangsstellen mit an- deren Gemeinschaftsländern eingeführt werden Dr. Ehmke (Ettlingen) (GRÜNE): Herr Staatsse- sollen, so wird dadurch eine Kontrolle des grenz- kretär, welche Möglichkeiten hat das Bundesmini- überschreitenden Warenverkehrs nicht entfallen, sterium für Ernährung, Landwirtschaft und For- sondern allenfalls von den Grenzübergangsstellen sten, festzustellen, woher die Schildkrötensuppen an die Zollstellen im Land verlagert. aus französischer Produktion stammen, die in den Im übrigen darf darauf hingewiesen werden, daß Geschäften seit Januar 1984 von jedermann käuf- nach den EG-Vorschriften selbst, und zwar gemäß lich zu erwerben sind? Art. 29 der EG-Verordnung Nr. 3418 der Kommis- 5640 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Parl. Staatssekretär Gallus sion, beim innergemeinschaftlichen Transport — ses Parlaments ernst zu nehmen und umzusetzen gleichgültig zu welchem Zweck — in jedem Fall hat? eine Bescheinigung über den rechtmäßigen Erwerb vorzulegen ist. Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich sehe keinen Zusammenhang zwischen dieser Frage Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage, Herr Dr. und der, die ich eben zu beantworten hatte. Weng. (Zurufe von der SPD)

Dr. Weng (FDP): Herr Staatssekretär, glauben Sie, Vizepräsident Westphal: Sie dürfen für die Bun- daß die augenblicklichen Vorkehrungen als genü- desregierung antworten, wie Sie wollen. gend angesehen werden können, wenn die Praxis Wir kommen zur Frage 68 des Abgeordneten doch zeigt, daß ein verhältnismäßig schwunghafter Dr. Weng: illegaler Handel mit solchen Produkten stattfindet. Ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen der Gesamtno- Meinen Sie nicht, daß ein tatsächliches Handels- vellierung des Artenschutzgesetzes die illegale Einfuhr von verbot besser geeignet wäre, der Beschlußlage die- Tieren und Pflanzen der weltweit vom Aussterben bedrohten ses Parlaments gerecht zu werden? Arten unter Strafandrohung zu stellen, und wann ist mit die- ser Novellierung zu rechnen?

Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, der Sie hier die Aussage machen, daß ein schwunghaf- Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und ter illegaler Handel stattfindet, dann bitte ich, uns Forsten wird in seinem Entwurf zur Gesamtnovel- auch darauf hinzuweisen, Namen zu nennen, Daten lierung des Bundesnaturschutzrechts vorschlagen, zu nennen, damit den Gerichten dann diese illega- daß künftig schwere Verstöße gegen die Vorschrif- len Tätigkeiten vorgeführt werden können. ten zur Durchführung des Washingtoner Arten- schutzübereinkommens als Straftaten geahndet Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage, Dr. Weng. werden. Der BML bemüht sich, den Entwurf der Bundesregierung in der von den Gesetzgebungsor- Dr. Weng (FDP): Herr Staatssekretär, kann ich ganen des Bundes genannten Frist, also bis zum davon ausgehen, daß die Bundesregierung in jedem 30. September 1984, vorzulegen. ihr vorgelegten Fall eine Strafverfolgung veranlas- sen würde? Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage.

Gallus, Parl. Staatssekretär: Natürlich. Dr. Weng (FDP): Herr Staatssekretär, halten Sie es für genügend, hier nur bei schweren Verstößen Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage von Frau eine Strafandrohung vorzusehen, die empfindlich Blunck. genug ist, damit der Verkehr tatsächlich unterlas- sen wird, oder meinen Sie nicht, daß auch leichte- Frau Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, hat die ren Verstößen in einem solchen Fall mit einer ent- Bundesregierung bei den von ihr immer wieder be- sprechenden Strafandrohung begegnet werden teuerten strengen Grenzkontrollen auch schon ein- müßte? mal die Qualität der Bescheinigungen dahin ge- prüft, ob es sich nicht um Falsifikate handelt? Gallus, Parl. Staatssekretär: Ich bin der Meinung, daß eine abgestufte Strafandrohung notwendig sein Gallus, Parl. Staatssekretär: Falls solche ausge- wird. stellt würden, wäre das reiner Betrug. Eine weitere Zusatzfrage (Frau Blunck [SPD]: Ich hatte nach der Vizepräsident Westphal: von Herrn Dr. Weng. Prüfung gefragt!) — Entschuldigen Sie! Ich glaube, wir alle haben Dr. Weng (FDP): Glauben Sie nicht, Herr Staatsse- schon davon gehört, daß selbst Falschgeld herge- kretär, daß dem Abkommen besser Rechnung ge- stellt wird, das nicht ohne weiteres erkannt wird. tragen wird, wenn es auch auf den Handel ausge- Ich hoffe nicht, daß wir schon derartige Praktiken dehnt wird und wenn nicht nur Tiere und Pflanzen, im Verkehr zwischen den Ländern haben, insbeson- sondern auch Produkte aus diesen Tieren und dere zwischen befreundeten Staaten. Pflanzen von ihm erfaßt werden?

Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage der Abgeord- Gallus, Parl. Staatssekretär: Diese Frage ist zu neten Frau Dr. Hartenstein. prüfen. Zusatzfrage von Frau Frau Dr. Hartenstein (SPD): Herr Staatssekretär, Vizepräsident Westphal: können Sie mir erläutern, was die Bundesregierung Blunck. konkret unternommen hat seit November 1983, um Frau Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, können dem Petitum dieses Parlaments nachzukommen, Sie etwas über das Strafmaß sagen? daß „auf eine Verschärfung der Kontrollen durch die Zollbehörden" hingewirkt werden solle, um eine Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Sie Umgehung des Washingtoner-Artenschutzüberein- werden das erfahren, wenn der Gesetzentwurf vor- kommens zu verhindern? Habe ich mich richtig ver- liegt. ständlich gemacht dahin gehend, daß mir daran liegt, daß die Bundesregierung die Beschlüsse die- Vizepräsident Westphal: Herr Staatssekretär, wir Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5641

Vizepräsident Westphal haben noch vier Fragen zum selben Thema, den geändert wird, um ein nationales Einfuhrverbot zu- Meereschildkröten. lässig zu machen. Was ist in dieser Richtung von seiten der Bundesregierung seither geschehen? Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, Sie sehen, wie ich mich bemühe, kurz zu antworten. Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, hier (Heiterkeit) sind die Rechte auf die EG übergegangen. Deshalb mußten wir damals das Gesetz sehr schnell ändern, Vizepräsident Westphal: Das gestehe ich Ihnen und zwar zum 1. Januar 1984, und jetzt ändern wir gerne zu. Ich sah nur den Pegel Ihrer Erregtheit noch das Artenschutzkapitel im Naturschutzrecht. steigen und wollte ihn unter Wasser drücken. Ich glaube, wir können schon jetzt sagen, daß wir Herr Staatssekretär, jetzt ist die Frage 69 von alles getan haben, um in der Bundesrepublik Frau Dr. Hartenstein aufgerufen: Deutschland de facto einen Einfuhrstopp zu haben, auch wenn dauernd so getan wird, als ob das nicht Warum hat die Bundesregierung bis heute nichts unter- wahr sei. nommen, um den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 10. November 1983, der eindeutig einen Importstopp für Mee- Was die Strittigkeit der von Ihnen angesproche- resschildkrötenprodukte zum Ziel hatte, umzusetzen? nen Aussage betrifft, so werden wir die Frage prü- (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das fen — ich habe das schon zugesagt —, ob wir hier sind alles die gleichen Fragen!) noch ein Gutachten zu erstellen haben oder nicht.

Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Har- Vizepräsident Westphal: Ich habe noch eine Zu- tenstein, die Bundesregierung verweist hinsichtlich satzfrage der Abgeordneten Frau Blunck. dieser Frage auf ihre Antwort auf die Kleine An- frage der GRÜNEN vom 16. Januar 1984. Die Bun- Frau Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, darf ich desregierung ist der Auffassung, daß auch mit ei- Sie fragen, wieso sich Ihre Meinung, die Sie im Aus- nem speziellen Importstopp für Meeresschildkrö- schuß im Oktober vergangenen Jahres vertreten ten und -produkte kein wirksamerer Schutz als der haben, gegenüber der, die Sie jetzt in Ihrer Antwort nach der seit dem 1. Januar dieses Jahres bestehen- auf die Frage von Frau Dr. Hartenstein wiedergege- den Rechtslage hätte erreicht werden können. ben haben, so geändert hat? Denn im Ausschuß haben Sie als Vertreter der Bundesregierung sehr Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage, Frau wohl gesagt, daß Sie die Möglichkeiten eines natio- Dr. Hartenstein. nalen Verbots, eines nationalen Importstopps dahin gehend prüfen wollten, auf die EG in diesem Sinne Frau Dr. Hartenstein (SPD): Herr Staatssekretär, einzuwirken. Die Diskrepanz zwischen Ihrer dama- es wird von seiten der Bundesregierung immer wie- ligen und Ihrer jetzigen Meinung möchte ich bitte der gesagt, daß Art. 15 der EG-Verordnung einen als Ausschußmitglied jetzt einmal von Ihnen er- nationalen Importstopp nicht zulasse. Ist der Bun- klärt haben. desregierung bekannt, daß diese Aussage unter Ju- (Eigen [CDU/CSU]: Na, das ist doch keine risten durchaus strittig ist, und ist die Bundesregie- Frage!) rung bereit, auf dem Hintergrund der tatsächlich bestehenden Sachlage ein Gutachten von neutralen Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Sachverständigen anfertigen zu lassen, um diese Antwort bekommen Sie. Ein Staatssekretär vertritt Frage zu klären, zumal sich dies ja nicht nur auf eine politische Auffassung in einem Ausschuß. Ich den Handel und die Einfuhr von Meeresschildkrö- bin nun kein Jurist. Unser Haus hat Juristen, und ten, sondern auch auf den Handel mit anderen ge- auf der anderen Seite stehen Juristen, die andere fährdeten Arten bezieht? Auffassungen zu diesem Gesamtkomplex haben. Unsere Juristen sind nach reiflicher Überlegung Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, zum und Prüfung zu der Auffassung gelangt, die ich Ih- ersten Teil Ihrer Frage möchte ich die Gegenfrage nen hier vorgetragen habe. stellen: Was ist unter Juristen nicht strittig? (Beifall bei der CDU/CSU — Bindig [SPD]: Was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht, wo wer- Sind Sie eigentlich Politiker oder Papagei den wir prüfen, ob wir Ihrem Wunsche entsprechen der Verwaltung?) können, ein Gutachten in dem von Ihnen angespro- chenen Sinne erstellen zu lassen. Vizepräsident Westphal: Ich rufe die Frage 70 der Abgeordneten Frau Dr. Hartenstein auf: Vizepräsident Westphal: Eine weitere Zusatzfrage Wie erklärt sich die Bundesregierung, daß trotz der immer von Frau Dr. Hartenstein. wieder beteuerten Einhaltung des Einfuhrverbotes nach wie vor Meeresschildkröten und -produkte in die Bundesrepublik Frau Dr. Hartenstein (SPD): Ich darf Sie, auch Deutschland gelangen? wenn Sie das als überflüssig erachten sollten, daran Bitte, Herr Staatssekretär. erinnern, daß die Bundesregierung unter Punkt 3 des Beschlusses dieses Hauses vom November 1983 Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die aufgefordert worden ist, sich für den Fall, daß kein Bundesregierung verweist auf die Antwort, die sie gemeinschaftliches Einfuhrverbot ergeht oder aber auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN Art. 15 der EG-Verordnung eben nicht ausreicht, um in der Bundestagsdrucksache 10/904 vom 16. Januar ein reales Einfuhrverbot sicherzustellen, auf EG- 1984 gegeben hat. Danach sind seit dem 1. Januar Ebene dafür einzusetzen, daß eben dieser Art. 15 1984 keinerlei Meeresschildkröten oder -produkte 5642 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Parl. Staatssekretär Gallus zu kommerziellen Zwecken legal in die Bundesre- Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage, Herr publik Deutschland gelangt. An diesem Sachstand Dr. Ehmke (Ettlingen). hat sich bis heute, bis zum 25. Juni 1984, nichts geändert. Dr. Ehmke (Ettlingen) (GRÜNE): Herr Staatsse- kretär, Sie sagten, daß seit dem 1. Januar 1984 keine Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage der Ab- legalen Importe mehr erfolgen, und Sie baten uns, geordneten Frau Dr. Hartenstein. Roß und Reiter zu nennen. Deshalb meine Frage: Wie erklären Sie sich, daß im Januar 1984 ein größe- Frau Dr. Hartenstein (SPD): Her Staatssekretär, rer Posten von italienischen Handtaschen aus wie erklärt sich die Bundesregierung die Tatsache, Schildkrötenleder in die Bundesrepublik importiert daß es nicht nur Vertretern von Tierschutzverbän- und von der Firma Kaufhof zum Kauf angeboten den, internationalen Korrespondenten, Fernsehre- wurde? Sind Sie bereit, dieser Sache nachzugehen dakteuren usw., sondern auch ganz normalen Bür- und mir das Ergebnis Ihrer Untersuchung mitzutei- gern, die in Geschäften einkaufen, seither mehrfach len? passiert ist, daß sie Waren wie beispielsweise Hand- taschen aus Schildkrötenleder, Schildkrötenöl, vor Gallus, Parl. Staatssekretär: Ich bin bereit, der allen Dingen aber Schildkrötensuppen angeboten Sache nachzugehen. Sie sagen: Nach dem 1. Januar bekommen, übrigens mit Datumsstempel, womit 1984 ist vom Kaufhof eine größere Menge von wir den klaren Beweis haben, daß diese Waren im- Handtaschen aus Italien aus Schildkrötenleder ein- portiert und übrigens hier auch legal verkauft wer- geführt worden. Sie kriegen Bescheid; wir werden den können und daß die Bundesregierung ganz of- der Sache nachgehen. fensichtlich seit dem Datum der Beantwortung der Kleinen Anfrage der GRÜNEN keine Veranlassung Vizepräsident Westphal: Die Frage 71 des Herrn gesehen hat, sich über den wahren Sachverhalt zu Abgeordneten Dr. Ehmke (Ettlingen) ist zurückge- informieren? zogen worden. (Bindig [SPD]: Die müssen sich mit ihren Ich rufe die Frage 72 des Herrn Abgeordneten Dr. Skandalen beschäftigen.) Ehmke (Ettlingen) auf: Wann und in welcher Weise wurden die Zollstellen ange- Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich wiesen, beim innergemeinschaftlichen grenzüberschreiten- habe hier schon die Tatsache der Altbestände deut- den Verkehr hinsichtlich des Verbringens von Meeresschild- lich gemacht. Aber wenn Sie mir einen Laden nen- kröten und -produkten strenge Kontrollen durchzuführen? nen, wo entgegen der Aussage, die ich hier gemacht Herr Staatssekretär. habe, daß bis zum Datum des 25. Juni 1984 nichts legal über die Grenze gekommen ist, so etwas ge- Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ehmke, schehen ist, schicke ich einen Beamten und lasse den Zollstellen ist bekannt, daß alle Meeresschild- das beschlagnahmen. kröten in Anhang 1 des Washingtoner Artenschutz übereinkommens aufgeführt sind. Die Zollstellen Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage der Ab- sind eingehend über die artenschutzrechlichen Vor- geordneten Frau Dr. Hartenstein. schriften und insbesondere die Besonderheiten bei den Meeresschildkröten unterrichtet. Sie sind zu Frau Dr. Hartenstein (SPD): Würde ich Ihrem Ver- den Zollvorschriften — Verbote und Beschränkun- langen Genüge tun, wenn ich in der nächsten Fra- gen — vom 1. Januar 1984, ergänzend mit Erlaß vom gestunde die entsprechende Menge von Dosen aus Bundesfinanzminister vom 18. Januar 1984 ange- dem nächsten Supermarkt hier präsentiere? wiesen worden, sich umgehend mit den zuständigen Bundesämtern in Verbindung zu setzen, falls im Gallus, Parl. Staatssekretär: Nein. Sie müssen uns innergemeinschaftlichen Warenverkehr z. B. Mee- Roß und Reiter nennen, und es dürfen keine Altbe resschildkröten oder daraus gewonnene Produkte, stände sein. die mit einer Vorerwerbs- oder Zuchtbescheinigung versehen sind, in die Bundesrepublik Deutschland- Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage der Ab- verbracht werden sollen. geordneten Frau Blunck. Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage. Frau Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, darf ich Ihre nun wiederholt geäußerte Meinung, daß es Dr. Ehmke (Ettlingen) (GRÜNE): Herr Staatsse- keine illegale Einfuhr gibt, dahin gehend verstehen, kretär, können Sie mir konkrete statistische Anga- daß, wenn ein Staatssekretär die Augen davor ver- ben machen oder vielleicht auch nachreichen, die schließt, daß solche Produkte hier in der Bundesre- belegen, in wie vielen Fällen Schildkröten oder publik vorhanden sind, diese auch nicht vorhanden Schildkrötenprodukte von den Zolldienststellen an sein können? den Grenzen festgestellt, konfisziert oder durchge- lassen worden sind? Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich habe hier mehrmals bei den verschiedenen Fragen Gallus, Parl. Staatssekretär: Jawohl, das bekom- erklärt, daß nach unseren Recherchen über die men Sie schriftlich. Grenzzollstellen bis zum 25. Juni 1984 keine legalen Einfuhren getätigt worden sind, und ich habe dem Vizepräsident Westphal: Noch eine Zusatzfrage? — nichts hinzuzufügen. Das scheint nicht der Fall zu sein. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5643

Vizepräsident Westphal Dann kommt die letzte Zusatzfrage von Frau nicht vergessen, daß die Diskussion über diese Fra- Blunck. gen in den letzten Wochen sehr hektisch gewesen ist, zumal bezüglich der Härteregelungen ja noch Frau Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, können nicht alles unter Dach und Fach ist. Sie mir bitte die Frage beantworten, welche Ausbil- dung oder zusätzliche Weisung die Zollbeamten be- Vizepräsident Westphal: Eine weitere Zusatz- kommen, um diese Bescheinigungen daraufhin zu frage? überprüfen, ob sie echt sind, ob sie falsch sind, ob (Verheugen [SPD]: Danke, nein!) das überhaupt legal ist? Aber Frau Abgeordnete Blunck hat eine Zusatz- frage. Gallus, Parl. Staatssekretär: Ich bin da überfragt, denn das betrifft ja nicht nur solche Bescheinigun- Frau Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, wie ist gen wie in diesem Fall, sondern Bescheinigungen Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen Verheugen insgesamt, bis hin zu Falschgeld. Ich nehme an, daß dahin gehend zu verstehen, daß es eine Mitteilung wir hier in der Verwaltung nicht schlechter sind als aus dem Ministerium für Ernährung, Landwirt- in allen übrigen Ländern der Welt. schaft und Forsten gibt, die 14 Tage alt ist, in der Bundesminister Kiechle davon ausgeht, daß Be- Herr Staatssekretär, ich Vizepräsident Westphal: triebsstillegungen erfolgt sind? Wie erklären Sie bewundere Ihre Leistung, aber die letzte Frage sich den Unterschied? hätte ich lieber beantwortet gesehen, denn ich fürchte, beim nächsten Mal wird der Finanzmini- Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich ster, der für den Zoll zuständig ist, wegen der Mee- bin von Herrn Verheugen in dem Zusammenhang resschildkröten befragt. nach konkreten Auswirkungen der Verringerung Frage 73 des Herrn Abgeordneten Dr. Wernitz der Milchproduktion im bayerischen Grenzland ge- soll auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beant- fragt worden. Diesbezüglich sind wir global der Auf- wortet werden. Die Antwort wird als Anlage abge- fassung — das habe ich hier gesagt —, daß grund- druckt. sätzlich keine Betriebsstillegungen stattzufinden brauchen. Daß aber in der Bundesrepublik Deutsch- Ich rufe Frage 74 des Abgeordneten Verheugen land insgesamt jährlich ungefähr 2 % bis 2,5 % Be- auf: triebsstillegungen stattfinden, das ist eine Tatsache, Welche ökologischen Auswirkungen (durch Betriebsstille- die sich auf Grund des Generationenwechsels er- gungen) erwartet die Bundesregierung im bayerischen gibt. Grenzland auf Grund der Verringerung der Milchproduk- tion? Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Herr Staatssekretär. neten Eigen.

Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Verheu- Eigen (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, sind Sie gen, die Garantiemengenregelung führt im Durch- mit mir einer Meinung, daß das gestern beschlos- schnitt zu einer Verringerung der Milchproduktion sene Gesetz, das 5 % mehr Vorsteuerpauschale für von 7,6 % gegenüber 1983 in der Bundesrepublik die Landwirtschaft vorsieht, die Frage von Herrn Deutschland. Diese Produktionsrückführung wird Verheugen unnötig macht und daß es sehr gut wäre, keine Betriebsstillegungen zur Folge haben, zumal wenn die SPD einem solchen Gesetz zugestimmt die Kürzungssätze auch nach der Gesamtanliefe- hätte? rung gestaffelt sind und kleinen Betrieben, wie sie vor allem auch im bayerischen Grenzland vorkom- Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich men, der Ausgleich für kleine Milcherzeuger ge- kann keine Fraktion hier im Deutschen Bundestag währt wird. Auf Betriebsstillegung beruhende öko- dazu verpflichten — das kann keiner von uns — so logische Auswirkungen der Garantiemengenrege- oder anders zu stimmen, aber ich bin mit Ihnen der lung sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht Auffassung, daß diese 5 % Mehrwertsteuer einkom- zu erwarten. mensmäßig die Gesamtsituation wiederherstellt.

Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage von neten Verheugen. Frau Dr. Hartenstein.

Verheugen (SPD): Das bedeutet also, Herr Staats- Frau Dr. Hartenstein (SPD): Herr Staatssekretär, sekretär, daß Aussagen, wie sie beispielsweise der können Sie Auskunft darüber geben, wie viele land- oberfränkische Bauernverband getroffen hat, daß wirtschaftliche Betriebe die Aufgabe der Milchpro- auf Grund dieser neuen Regelungen mit etwa tau- duktion bzw. -stillegungen bereits angemeldet und send Betriebsstillegungen zu rechnen ist, falsch Antrag auf Bezug der Milchrente gestellt haben sind? und wie sich diese Anmeldungen auf die verschie- denen Gebiete verteilen? Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, mir sind diese Aussagen nicht bekannt, aber ich nehme Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Sie sie sehr ernst, wenn Sie sie hier vortragen. Ich werden verstehen, daß das eine ganz andere Frage werde mit dem oberfränkischen Bauernverband in ist, die Sie jetzt stellen. Ich bin gerne bereit, Ihnen Kontakt treten, inwieweit die Zahlen, die er in der das schriftlich mitzuteilen. Wenn ich es richtig im Presse dargelegt hat, realistisch sind. Man darf Kopf habe, dann sind es ungefähr 21 000 Fälle und 5644 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Parl. Staatssekretär Gallus ungefähr 1 Million Tonnen Milch, die angemeldet Dann rufe ich die Frage 76 des Abgeordneten worden sind. Aber wie sich das auf die einzelnen Stiegler auf: Gebiete der Bundesrepublik Deutschland verteilt, Wie haben sich die Waldschäden in Ostbayern (Bayeri- bekommen Sie im einzelnen noch mitgeteilt. scher Wald, Oberpfälzer Wald, Steinwald, Frankenwald und Fichtelgebirge) in den letzten fünf Jahren entwickelt, und welchen Trend erwartet (befürchtet) die Bundesregierung Vizepräsident Westphal: Ich rufe die Frage 75 des für die nächsten Monate und Jahre? Abgeordneten Verheugen auf: Herr Staatssekretär. Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der Forst- wirtschaft in den vom Waldsterben besonders betroffenen Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stieg- Gebieten Ostbayerns (Bayerischer Wald, Steinwald, Fran- kenwald, Fichtelgebirge und Oberpfälzer Wald)? ler, für den genannten Raum wie auch für das ge- samte Bundesgebiet liegen aussagefähige Erhebun- gen der nur für 1982 und Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die neuartigen Waldschäden Gallus, 1983 vor. Die erste auf Initiative des Bundesland- Lage der Forstwirtschaft im ostbayerischen Raum wirtschaftsministeriums durchgeführte Erhebung ist unabhängig von den Waldschäden u. a. geprägt im Jahre 1982 ergab, daß in etwa 20 bis durch die Grenzlage, die Ferne großer Absatz- Ostbayern 30 % der Waldflächen geschädigt waren. Die Erhe- märkte und eine besondere Forstschutzsituation in- bung 1983 brachte erheblich höhere Schadflächen- folge wiederholt auftretender Schneebruchschäden anteile, und zwar im Bereich Frankenwald, Fichtel- sowie eine erhöhte Borkenkäferdisposition. gebirge und Steinwald mit 77 %, im Oberpfälzer Der ostbayerische Raum ist Hauptgebiet der Wald mit 41 %, im Bayerischen Wald mit 52 %. Schneebruchschäden der vergangenen Jahre. Infol- Bei der Bewertung der Zunahme der Schadflä- gedessen war der Holzmarkt überaus angespannt. chen ist zu berücksichtigen, daß 1983 ein verbesser- Aufgearbeitete Schwachhölzer konnten nur äußerst tes Erhebungsverfahren zum Einsatz kam und auch schleppend abgesetzt werden. Inzwischen hat sich der trockene Sommer die Schadensentwicklung un- der Absatz von Stammholz verbessert. Hierzu hat günstig beeinflußt hat. u. a. der Rückgang der Zufuhren aus der CSSR und der DDR im ersten Vierteljahr 1984 dank der von Dennoch bleibt festzustellen, daß die Schäden in der Bundesregierung eingeleiteten Maßnahmen Ostbayern innerhalb eines Jahres sehr erheblich beigetragen. zugenommen haben. Gesicherte Aussagen über die weitere Waldschadensentwicklung können gegen- Wegen der diesjährigen Witterungslage blieben wärtig noch nicht getroffen werden. hohe marktgefährdende Schadholzmengen infolge Borkenkäferbefalls noch aus. Es bleibt jedoch die Die für den Herbst 1984 vom BML geplante dritte Tatsache, daß in Ostbayern der Anfall an Kalami- Waldschadenserhebung wird näheren Aufschluß tätsholz auf Grund der neuartigen Waldschäden er- geben. Nach den bisher vorliegenden Informationen heblich über dem Bundesdurchschnitt liegen dürfte. ist zu befürchten, daß in den Hochlagen Ostbayerns In diesem Jahr wird erwartet, daß dieser Mehran- oberhalb von 800 m die Schäden weiterhin zuneh- fall durch Einschränkungen beim normalen Holz- men. einschlag ausgeglichen werden kann. Vizepräsident Westphal: Zu einer Zusatzfrage Wie sich die Waldschäden weiter entwickeln wer- Frau Abgeordnete Blunck. den, läßt sich kaum abschätzen. Die wirtschaftli- chen Auswirkungen der Waldschäden auf die Forst- Frau Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, Sie ha- betriebe sind im Augenblick regional nicht zu quan- ben die ganze Zeit von „neuartigen Waldschäden" tifizieren, wenn auch grobe Schätzungen für das gesprochen. Ich möchte einmal wissen, was daran ganze Bundesgebiet vorliegen. neuartig ist, warum Sie plötzlich zu dem Sprachge- brauch „neuartige Waldschäden" kommen. Vizepräsident Westphal: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Verheugen. Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Sie können „neuartige Waldschäden" oder „Waldster- Verheugen (SPD): Hat die Bundesregierung Ge- ben" sagen; das ist das gleiche. Fachlich gesehen spräche mit der Regierung der Tschechoslowakei benutzen wir den Ausdruck „neuartige Waldschä- geführt mit dem Ziel, die aus der Tschechoslowakei den" deshalb, weil noch nicht alle Gründe für das — in den bayerischen Grenzraum verbrachten Holz- wenn Sie so wollen — Waldsterben aufgeklärt sind. mengen zu reduzieren? Die Bundesregierung und die Bundesländer haben insgesamt 50 Millionen DM in der Zwischenzeit be- reitgestellt, um die Forschung voranzutreiben, da- Gallus, Parl. Staatssekretär: Ja. Ich darf Ihnen nur zwei Zahlen nennen. Der Import an Rohholz, mit über das — wenn Sie so wollen — Waldsterben insbesondere Stammholz, aus der CSSR im ersten endgültige Klarheit geschaffen wird. Dann können Quartal 1984 betrug 77 000 Kubikmeter gegenüber wir den Begriff ändern. 128 000 Kubikmeter im ersten Quartal 1983. Vizepräsident Westphal: Zu einer Zusatzfrage Mit der DDR haben wir die gleichen Gespräche Herr Abgeordneter Dr. Ehmke. geführt. Dr. Ehmke (Ettlingen) (GRÜNE): Herr Staatsse- Vizepräsident Westphal: Weitere Zusatzfragen? — kretär, es liegen verschiedene Gesetzentwürfe zur Nicht der Fall. Novellierung des Forstschadensausgleichsgesetzes Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5645

Dr. Ehmke (Ettlingen) vor. Mir ist aufgefallen, daß im Gesetzentwurf des Frau Männle (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Bundesrats der Begriff „immissionsgeschädigte Damen und Herren! Ich darf vor Eintritt in meine Wälder" verwendet wird. Im Gesetzentwurf der Rede im Auftrag des Berichterstatters Werner kurz Bundesregierung wird aber plötzlich von Schäden sagen, daß sich in der Drucksache 10/1603 ein klei- unbekannter Ursache gesprochen. Können Sie mir ner Druckfehler eingeschlichen hat. Auf der Seite 9, einen vernünftigen Grund für diese Umformulie- linke Spalte, zweitletzter Abschnitt, letzte Zeile, rung nennen? fehlt das Wörtchen „nicht". Es muß heißen: ... zur Errichtung der Stiftung nicht schon jetzt zu tun. Gallus, Parl. Staatssekretär: In der Sache bleibt das dasselbe. „Immissionsgeschädigt" auf jeden Dies wollte ich berichtigen. Fall, da sind wir uns einig. Die Begriffe „neuartige Meine Damen und Herren, die Diskussion um die Waldschäden", „Waldsterben" und „immissionsge- Errichtung einer Bundesstiftung „Mutter und Kind schädigt" treffen alle denselben Tatbestand, über — Schutz des ungeborenen Lebens" kann nicht los- den wir noch nicht hundertprozentig Bescheid wis- gelöst von einer allgemeinen Beurteilung des § 218 sen. des Strafgesetzbuches gesehen werden. Von der je- weiligen grundsätzlichen Position zur Abtreibung hängt es ab, ob die Errichtung dieser Stiftung befür- Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her- wortet oder abgelehnt wird. ren, damit sind wir am Ende der Fragestunde. Die Wie es unsere Verfassung bestimmt und im Urteil Frage 99 des Abgeordneten Dr. Lammert ist zurück- aus dem Jahre 1975 ausdrücklich festgehalten ist, gezogen. Ich danke Herrn Staatssekretär Gallus für genießt grundsätzlich der Lebensschutz der Leibes- die Beantwortung der Fragen und den anderen frucht für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Staatssekretären für die Anwesenheit, die nicht ge- Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der nutzt werden konnte. Schwangeren. Wer abtreibt, handelt unrecht. Unser Grundgesetz gebietet diese rechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruches. Es gebietet aber Ich rufe Punkt 29 der Tagesordnung auf: auch umfassende Maßnahmen für das ungeborene Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Leben, in denen sich der Staat schützend und för- desregierung eingebrachten Entwurfs eines dernd vor dieses Leben zu stellen hat. Die vom Gesetzes zur Errichtung einer Stifung „Mut- Gesetz seit 1976 zugelassene Straffreiheit in be- ter und Kind — Schutz des ungeborenen Le- grenztem Maße und die von der Krankenkasse vor- bens" genommene Finanzierung mögen manche Kreise — Drucksache 10/1369 — dazu verführen, anzunehmen, beim Schwanger- schaftsabbruch handle es sich um den gleichen so- a) Beschlußempfehlung und Bericht des zialen Vorgang wie etwa den Gang zum Arzt Ausschusses für Jugend, Familie und Ge- zwecks Heilung einer Krankheit oder gar um eine sundheit (13. Ausschuß) rechtlich irrelevante Alternative zur Empfängnis- — Drucksache 10/1603 — verhütung. — Ich muß sagen: Dem ist nicht so. Berichterstatter: Wir Frauen von der CDU/CSU haben, seitdem wir Abgeordnete Frau Schmidt (Nürnberg) den Gruppenantrag einiger unserer Fraktionskolle- Werner gen auf Streichung der Finanzierung von Abtrei- b) Bericht des Haushaltsausschusses bungen aufgrund sozialer Indikationen durch die (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäfts- gesetzlichen Krankenkassen nicht mitunterzeich- ordnung net haben, neben zum Teil diffamierender Kritik aus den eigenen Reihen, auch Beifall von der fal- — Drucksache 10/1605 — schen Seite bekommen. Dies haben wir nicht ge- Berichterstatter: wollt und empfinden es als mißlich, denn wir haben Abgeordnete Rossmanith unsere ablehnende Haltung gegenüber Abtreibun- Dr. Diederich (Berlin) gen nie geändert. Wir sind grundsätzlich gegen jede Verheyen (Bielefeld) Abtreibung aus sozialer Notlage. Dies möchten wir (Erste Beratung 71. Sitzung) noch einmal klar zum Ausdruck bringen. Zu diesem Punkt der Tagesordnung liegen Ihnen Was aber wollen wir als CDU/CSU? Wir wollen ein Entschließungsantrag auf der Drucksache helfen, nicht strafen. Wir dürfen uns nicht damit 10/1665 und zwei Änderungsanträge der Fraktion abfinden, daß die Gesellschaft — letztlich heißt das: der SPD auf den Drucksachen 10/1687 und 10/1688 vielleicht wir alle — Frauen im Konfliktsituationen vor. keine andere Alternative anzubieten vermag als ab- zutreiben. Mit der Errichtung der Bundesstiftung Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Le- für die Aussprache eine Runde vereinbart. — Kein bens" soll werdenden Müttern in Not durch schnel- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. le, durch unbürokratische finanzielle Hilfe die Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Fortsetzung der Schwangerschaft erleichtert wer- — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die allge- den. Aus Bayern wissen wir, die wir schon seit län- meine Aussprache. Das Wort hat die Frau Abgeord- gerer Zeit Erfahrungen mit einer entsprechenden nete Männle. Landesstiftung haben, daß auf diesem Wege 5646 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 Frau Männle Schwangerschaftsabbrüche vermieden werden kön- Eine entscheidende Senkung der Abbruchszahlen nen. kann nur erwartet werden, wenn es gelingt, die Le- bensbedingungen der Familien und Alleinerziehen- Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, daß den insgesamt so zu verbessern, daß die Geburt ich gerade an dieser Stelle, da ich die bayerische eines Kindes nicht zu unzumutbaren Belastungen Stiftung erwähnt habe, und auch von diesem Platze führt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt aus einen Dank ausspreche. Er gilt der verstorbe- nen Kuratoriumsvorsitzenden der bayerischen Stif- daher die Entscheidung der Bundesregierung, die in diesen Tagen gefallen ist, den tung, der so jäh mitten aus dem Leben gerissenen Familienlasten- ausgleich 1986 erheblich zu verbessern und bereits Frau Marianne Strauß. Sie war es, die sich für die Hilfen für Frauen in Notsituationen einsetzte, die ab demselben Jahr ein Erziehungsgeld Müttern junge Familien spontan und unkonventionell unter- oder Vätern zukommen zu lassen, die sich der Er- ziehung ihrer Kinder widmen. stützte, die vom Schutz des Lebens und des ungebo- renen Lebens nicht nur redete, sondern ganz mas- (Beifall bei der CDU/CSU) siv aktiv handelte. Ich meine, sie gab damit ein Bei- spiel für uns alle. Wir lösen damit das Versprechen an die Wähler ein, die Wende auch in der Familienpolitik einzuleiten, Die neu zu errichtende Bundesstiftung ermög- sobald es die Haushaltslage zuläßt. Weitere Schritte licht es, direkt und kurzfristig Hilfe zu leisten, und müssen natürlich folgen. Ich denke insbesondere an zwar zugeschnitten auf die jeweils individuelle Not- die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten lage, in der sich die Frau befindet oder in die sie bei der Altersversorgung. durch die Geburt kommen kann. Die in Not gera- tene Schwangere erhält also — über mögliche Ich freue mich auch, daß das von den Frauen der Rechtsansprüche hinausgehend — unbürokratische CDU/CSU initiierte Konzept zum Schutz des unge- Hilfen, die sonst schwer möglich wären, ohne daß borenen Lebens und zur Verbesserung der Situa- sie weitere Stellen aufsuchen muß. tion der Familien inzwischen Koalitionsantrag ist und in dieser Woche eingebracht wurde. Dies ist Die von der Stiftung bereitgestellte Zuwendung meines Erachtens ein ganz großer Schritt vorwärts ist also nicht als Ersatz für bisherige Leistungen zu einem Gesamtkonzept, in dem die Stiftung ein anzusehen, sondern stellt eine Ergänzung sowie Mosaikstein ist, der durch vielfältige Maßnahmen eine bessere Ausstattung der vorhandenen Einrich- ergänzt wird. tungen dar. Die Bundesstiftung vergibt keine Almo- sen, obwohl dies von Kritikern der Stiftung häufig Meine Damen und Herren, seit der Reform des herabsetzend so behauptet wird. Ich meine, es sind § 218 im Jahre 1976 ist mehr und mehr aus dem durchaus echte Hilfen. Oder glauben Sie etwa nicht, öffentlichen Bewußtsein entrückt, daß, wer einen daß eine Familie, deren Wohnverhältnisse unzu- Schwangerschaftsabbruch vornimmt, unrecht tut. mutbar geworden sind, die Möglichkeit, eine Kau- Diejenigen, die Abtreibung so plakativ propagieren tion für eine neue Wohnung zu erhalten, als eine und denen jedes Mittel der Beeinflussung in dieser Hilfe ansieht? Ist es denn keine echte Hilfe, daß ein Richtung recht ist, verkennen, daß sie mit ihrem junges Mädchen kurzfristig an einem anderen Ort Reklamieren, als ob es ein für die Frau einklagba- leben kann, wenn seine Eltern in der Konfliktsitua- res Recht auf Abtreibung gebe, auf diese Weise tion leider versagen? Schwangerschaftskonflikte individualisieren und dies zu lösen ausschließlich der einzelnen Frau Für mich ist es äußerst befremdend, wenn eine überlassen. ablehnende Haltung gerade von Beratern in aner- kannten Schwangerschaftsberatungsstellen einge- Daß sich aber eine Frau ein Kind nicht auszutra- nommen wird, die sich doch vom Gesetz her zum gen in der Lage sieht, diese Entscheidung ist immer Anwalt des ungeborenen Lebens machen sollen. auch das Produkt ihrer Umwelt, ihres Partners, ih- Unter dem vermeindlichen Vorwand, die Frau nicht rer Eltern, ihrer Freunde, ihrer Nachbarn. Wer glau- zu beeinflussen, sondern sie zu befähigen, eine Ent- ben machen will, daß das Recht der Frau auf freie scheidung zu treffen, beziehen viele Berater selbst Entfaltung ihrer Persönlichkeit uneingeschränkt keine Position. Sie informieren, aber sie motivieren besteht, nach dem so furchtbaren Motto- „Mein die werdende Mutter nicht zur Annahme des Kin- Bauch gehört mir", der steht nicht auf dem Boden des. Ich halte ein derartiges Beratungskonzept für unserer Verfassung und stellt sich außerhalb sittli- untragbar. cher Normen, ohne die kein Gemeinwesen leben kann. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach meiner Auffassung haben die Beratungsstel- len die Verpflichtung, der werdenden Mutter Mut Sich ein klares und deutliches Urteil zu erlauben zuzusprechen, das Kind auszutragen, und sie mit bedeutet jedoch nicht, jemanden zu verurteilen. Rat und Hilfe zu unterstützen. Mein Dank gilt allen Wer nach bestem Wissen und Gewissen für sich in den Beratungsstellen und in den Verbänden, die entscheidet, ein Kind nicht austragen zu können, dies leisten, die nach diesem Konzept arbeiten. darf nicht aus der Gemeinschaft ausgestoßen wer- den. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der FDP) Meine Damen und Herren, wir wissen aber auch alle, daß diese Hilfen durch die Bundesstiftung Nur, die Mutter, der Vater und alle an dieser Ent keine langfristigen Maßnahmen darstellen können. scheidung Beteiligten werden wissen, daß sie damit Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5647

Frau Männle Schuld auf sich geladen haben, von der sie keine Vizepräsident Westphal: Das Wort hat die Abge- menschliche Instanz freisprechen kann. ordnete Frau Schmidt (Nürnberg). Wir haben uns seinerzeit mit Mehrheit dafür ent- schieden, daß mit den Mitteln der Strafe dieser Frau Schmidt (Nürnberg) (SPD): Sehr geehrter schwere Konflikt nicht zu lösen ist. Strafe kann nie- Herr Präsident! Sehr verehrte Herren und Damen! mals Selbstzweck sein. Aber eines wird immer blei- Frau Professor Männle, ich bin Ihnen sehr dankbar, ben und durch nichts hinwegzudiskutieren sein: Mit weil im Gegensatz zu der ersten Debatte, die wir zu der schweren Hypothek eines Schwangerschaftsab - diesem Thema geführt haben, aus Ihrem Beitrag, bruchs wird am meisten die Schwangere selbst be- auch wenn wir uns über viele Wege nicht einig sind, lastet. Doch daraus einseitig nur ihr einen Vorwurf eines deutlich geworden ist, nämlich das Verständ- zu machen, ist pharisäerhaft. nis für die betroffenen Frauen. In der ersten De- (Beifall bei der SPD) batte habe ich bedauerlicherweise den Eindruck ge- habt, als ob hier von einigen Kollegen Frauen, die Ganz besonders der Vater und der Arzt müssen in sich in der Notlage eines Schwangerschaftsab- die Auseinandersetzung einbezogen werden. bruchs befinden, abseits gestellt werden sollen, als (Beifall bei der SPD) ob man diesen Frauen lockere Motive unterstellt. Aber letztlich auch wir sind mitverantwortich, (Dolata [CDU/CSU]: Da haben Sie nicht daß Frauen, die sich in Schwangerschaftskonflikten hingehört!) befinden, nicht nein zu ihrem Kind sagen. Jedes aus — Schauen Sie sich die Zwischenrufe an. Hier wird sozialer Not abgetriebene Kind ist eine Bankrotter- es ganz deutlich. Ich bin froh, daß wir heute diese klärung des Staates und der Gesellschaft; Rede von Ihnen gehört haben. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der (Beifall bei der SPD) SPD) Unsere Bedenken gegen den vorgeschlagenen jener Wohlfahrtsgesellschaft, in der wir uns recht Gesetzentwurf zur Errichtung der Stiftung Mutter behäbig eingerichtet haben und zu vergessen schei- und Kind konnten in den Ausschußberatungen al- nen, daß jeder einzelne von uns Verantwortung für lerdings leider nicht ausgeräumt werden. Sie wur- das Gemeinwesen trägt, Verantwortung auch für den teilweise sogar noch verstärkt. dieses werdende Leben. In der schwierigen Situation, heute hier erläutern Lassen Sie mich dies noch ergänzen. Wir tragen zu müssen, warum wir finanzielle Leistungen ab- auch für geborenes Leben Verantwortung. lehnen, betone ich hier wie vor vier Wochen auch: (Beifall bei der SPD) Auch wir wollen keine Schwangerschaftsabbrüche; auch wir sind uns mit Ihnen in dem Ziel einig; auch Wir dürfen auch nicht jene verurteilen, die ihr Ja wir bejahen Hilfen für werdende Mütter, aber Hil- zum Kind gesprochen haben, z. B. ohne daß sie ver- fen, die diesen Namen verdienen, und das heißt an heiratet sind. erster Stelle: Hilfen, die verläßlich sind. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der Wie sieht es mit der Verläßlichkeit dieser Hilfen SPD) aus? Leider gibt es auch hier noch sehr viel Intoleranz. Erstens. Es besteht — wir haben das mehrfach Wir dürfen auch nicht Familien als „asozial" anse- gesagt — kein Rechtsanspruch auf sie. Sie sind für hen, die sich für mehrere Kinder entscheiden. die betroffenen Frauen und Familien nicht kalku- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der lierbar. SPD) Zweitens. Es hängt von Zufälligkeiten ab, ob eine Auch hier ist ein Einstellungswandel notwendig. Frau solche Hilfe überhaupt bekommt. Bei kirchli- Ich hoffe, daß er sich langsam fortsetzt. chen Beratungsstellen kann man annehmen: j a, bei kommunalen Beratungsstellen: in jedem Fall nein Meine Damen und Herren, unbeschadet erforder- — das ist vom Gesetz so ausgeschlossen; das hat licher Maßnahmen zur materiellen Hilfe für verhei- nichts mit dem Willen der Kommune zu tun — und ratete wie für unverheiratete Frauen mit dem Ziel bei Beratungsstellen der Träger freier Wohlfahrts- der Erhaltung ungeborenen Lebens und der Er- pflege: je nach dem. leichterung der Annahme des Kindes in Schwan - gerschaftskonfliktsituationen liegt eine herausra- Drittens. Es hängt von der Jahreszeit ab, ob Hil- gende Aufgabe aber auch darin, die Bereicherung fen aus Stiftungsmitteln gewährt werden können. und Sinngebung der persönlichen Lebensgestal- Der noch gefüllte Stiftungstopf am Jahresanfang, in tung durch Kinder wieder verstärkt in den Vorder- der ersten Jahreshälfte, und die zunehmende Ebbe grund der allgemeinen Wertvorstellungen und des in den Kassen der Stiftung in der zweiten Jahres- allgemeinen Bewußtseins zu rücken. hälfte werden zwangsläufig dazu führen, daß völlig identische Notlagen sogar bei der gleichen Bera- Auch wir sind aufgerufen, unseren Beitrag dazu tungsstelle unterschiedlich behandelt werden müs- zu leisten. Ich würde mir wünschen, daß diese Stif- sen, dies um so mehr, als Herr Minister Geißler in tung so stark in Anspruch genommen wird, daß der den Beratungen klargestellt hat — das begrüßten Druck wächst, noch mehr für die werdende Mutter, wir, dafür sind wir dankbar —, daß werdende Müt- für Familien und damit zum Schutz des Lebens zu ter auch dann Stiftungsmittel bekommen werden, tun. wenn sie nicht die Absicht haben, einen Schwanger- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schaftsabbruch vornehmen zu lassen. 5648 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Frau Schmidt (Nürnberg) Das heißt aber auf der anderen Seite, daß jede Sie haben doch die materielle Lage der Sozialhil- schwangere Frau in einer Notlage solche Mittel be- feempfängerinnen, die noch nie eine rosige war, zur kommen kann, sofern sie sich an eine Beratungs- Notlage werden lassen durch Kürzungen und Strei- stelle wendet. Was das angesichts der sehr begrenz- chungen, durch verspätete und unzureichende An- ten finanziellen Ausstattung dieser Stiftung bedeu- passungen. tet, kann sich wohl jeder vorstellen. Die Mittel wer- (Beifall bei der SPD) den nach kürzester Zeit erschöpft sein. Sie und niemand anders haben doch durch Kürzun- (Dolata [CDU/CSU]: Es gibt doch einen Re gen beim Wohngeld — auch hier waren die Behin- servefonds. Haben Sie das nicht gelesen?) derten und alleinstehende Frauen mit Kindern die — Schauen Sie sich das an. Unserer Einschätzung am stärksten Betroffenen — finanzielle Engpässe nach ist es so. zur Notsituation verschärft. Sie haben die erwerbs- unfähige Rentenbezieherin durch Streichung des Hilfen sollten nicht nur verläßlich, sie sollten Kindergeldzuschusses in der Renten- und Unfall- auch gerecht sein. Wie sieht es nun mit der Gerech- versicherung doch erst zum Notfall werden lassen. tigkeit dieser Stiftung aus? Herr Dr. Geißler hat Sie haben doch durch den BAföG-Kahlschlag und mehrfach darauf hingewiesen, daß es ein bewährtes die Kürzung des Mutterschaftsurlaubsgeldes, durch Rezept der Sozialpolitik sei, gesetzliche Ansprüche die Veränderungen in der Erwerbsfähigkeitsrente, mit freiwilligen Leistungen, z. B. der Kommunen, zu durch die gravierenden Einschnitte für Behinderte kombinieren. Das ist mit Einschränkungen sicher das Vertrauen der betroffenen Frauen empfindlich richtig. Der wesentliche Unterschied solcher frei- gestört und die Finanzkraft der Familien ge- willigen Leistungen der Kommunen und der der schwächt. Stiftung besteht allerdings darin, daß die Freiwillig- keit von Leistungen der Kommunen ihre Grenzen All diese Frauen und Familien wurden durch Ihre in der Gleichbehandlung gleicher Tatbestände fin- Politik der Umverteilung von unten nach oben in det. Bei der Stiftung bedeutet Freiwilligkeit ange- finanziell schwierige und manchmal ausweglose Si- sichts der begrenzten Ausstattung mit Mitteln, an- tuationen gebracht. gesichts der ungleichen Behandlung durch die Be- (Frau Hürland [CDU/CSU]: Das glauben ratungsstellen reine Willkür. Sie doch wohl selber nicht!) (Dolata [CDU/CSU]: Ungleiche Behand — Doch, das glaube ich, und das weiß ich auch. lung durch die Beratungsstellen?) Annähernd 3 Milliarden DM haben Sie so einge- Zweitens. Daß eine Notlage vorliegt, setzt nach sammelt. Und nun stellen Sie sich hin und sprechen der dazugehörigen Verordnung voraus, daß das Ein- von Ihren 50 Millionen DM jährlich als von einem kommen die vierfache Höhe des Regelsatzes der kleinen, aber wichtigen familienpolitischen Bau- Sozialhilfe nicht überschreiten wird. Wenn wir uns stein. das praktisch anschauen, heißt das z. B.: Der schwangeren Sozialhilfeempfängerin in einer mate- (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das riellen Notsituation, die sich mit Putzen ein paar ist er auch!) Mark dazuverdienen will, wird die Sozialhilfe um Herr Dr. Geißler oder Frau Karwatzki, Sie kommen diesen Betrag gekürzt. Die schwangere Sozialhil- mir vor wie einer, der einem Erdbebenopfer als feempfängerin, die sich an eine Beratungsstelle erste Hilfe eine Topfpflanze bringt. Dieses familien- wendet, kann ein Mehrfaches dazubekommen, ohne politische Beben haben aber nicht Naturgewalten, daß Sozialhilfe gekürzt wird. nicht die sozialliberale Koalition, nicht dunkle Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Das ist Mächte verursacht, sondern alleine Ihre Regie- nicht etwas, was ich ändern will. Aber wie mache rung. ich der Betroffenen klar, daß ihr das wieder genom- (Beifall bei der SPD) men wird, noch dazu vor dem Hintergrund der So- zialhilfekürzungen für Schwangere? Wirksame Hilfen müssen die Ursachen von Not beseitigen. Das heißt, die Familien- und Sozialpoli- - Hilfe soll verläßlich, gerecht und wirksam sein. tik muß wieder in den Stand vor Ihrer Kürzungs- Wie steht es nun mit der Wirksamkeit dieser Stif- orgie versetzt werden. tung? Die Stiftung soll Frauen in materiellen Notla- gen helfen. Nicht etwa in sozialen Notlagen, Frau (Zurufe von der CDU/CSU) Professor Männle, wie das auch Herr Dr. Geißler Deshalb können die Hilfen der Stiftung nicht wirk- fälschlicherweise oft gleichgesetzt hat. Eine mate- sam sein. Sei können nicht wirksam sein vor dem rielle Notlage ist etwas anderes als eine soziale Not- Hintergrund der materiellen Probleme, die Fami- lage. Nun muß man, um wirksam helfen zu können, lien und Frauen in Not haben und die in dem Be- als erstes wohl die Ursachen der materiellen Notla- richt der interministeriellen Arbeitsgruppe j a auch gen festzustellen versuchen. Da kann ich Ihnen ganz richtig dargestellt sind: überhöhte Verschul- nochmals nicht ersparen, auf all das hinzuweisen, dung, Wohnungsprobleme, zu hohe Mieten, Angst, was Sie an den Familien und vor allem an den den Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu verlieren. Frauen gespart haben. (Zuruf von der CDU/CSU) ist die Ihre Familien- und Sozialpolitik Ursache Nun sagen Sie: Gemach, gemach, liebe Frau die jetzt entstehen. für eine Vielzahl von Notlagen, Schmidt, wir wollen ja das Haus um die Topfpflanze (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) herum wiederaufbauen. Abgesehen davon, daß man Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5649

Frau Schmidt (Nürnberg) sich über den Sinngehalt dieser Reihenfolge treff- die Regelsätze ab 1. Juli dieses Jahres wieder an die lich streiten kann: Schauen wir uns doch das Haus Lebenshaltungskosten — im Gegensatz zu früher, an, das Sie zu bauen gedenken! Einiges ist ja inzwi- wo dies nicht der Fall gewesen ist — anpaßt? schen schon ein bißchen deutlicher erkennbar, als (Zurufe von der SPD) es noch bei den Ausschußberatungen war. Erstens, die von mir gerade aufgezeigten Kür- Frau Schmidt (Nürnberg) (SPD): Machen Sie Ihre zungen bleiben bestehen. Zweitens, statt dessen sol- Zwischenfragen kürzer. Ich habe im Gegensatz zu len Familien durch Einführung von Kinderfreibe- Ihnen, Herr Minister Geißler, keine unbegrenzte trägen und einen Kindergeldausgleich dort, wo Redezeit. Deswegen bitte ich um eine bißchen kür- keine Steuern bezahlt werden, entlastet werden. zere Fragestellung. 5 bis 6 Milliarden DM sollen die Familien auf die- sem Weg erhalten. Drittens, zusätzlich soll ein Er- Erster Punkt: Mehrbedarfsregelungen für ziehungsgeld eingeführt werden. Na, prima, könnte Schwangere sind im Vermittlungsausschuß gestri- man sagen, 3 Milliarden DM gestrichen, 5 Milliar- chen worden. Zweiter Punkt: daß die Sozialhilfean- den, zwar ein bißchen sehr spät, zurückgegeben, sätze jetzt endlich wieder angepaßt worden sind! bleibt unter dem Strich irgendwann einmal ein po- Das ist eine verspätete Anpassung, und darauf habe sitiver Saldo. ich auch hingewiesen. Nur, das Ganze hat ein Häkchen bzw. einen ganz (Beifall bei der SPD) ausgewachsenen Haken. Die Frauen und Familien Ich komme zurück. Sie sagen ja dann, es bleibt j a in Notsituationen haben von diesen Maßnahmen noch etwas, und zwar angeblich für die Sozialhil- überhaupt nichts. So werden für die Sozialhilfeemp- feempfängerin, nämlich das Erziehungsgeld als fängerinnen die Kürzungen bleiben, ohne daß sie schützendes Dach. Ich sage Ihnen, Herr Dr. Geißler, eine müde Mark aus diesem Lastenausgleich zu- wenn es stimmt, was über die Ausgestaltung dieses rückbekommen werden. So werden die Kürzungen Erziehungsgeldes zu lesen ist, daß nämlich der we- für Familien mit Kindern in Ausbildung mit gerin- sentliche Punkt — die Arbeitsplatzgarantie — noch gem Einkommen bleiben, und der Kindergeldaus- völlig ungesichert ist, dann reißen Sie das bißchen, gleich wird nur einen Bruchteil dessen auffangen was Sie mit Ihrer Stiftung aufzubauen versuchen, können. Es ist natürlich die Frage: Wer bekommt wieder ein. Sie sollten mal überdenken, was die von denn dann diese 5 Milliarden DM? Vor allem die, Ihnen eingesetzte Arbeitsgruppe über die Gründe denen nichts gestrichen wurde, denn Leistung soll von Schwangerschaftsabbrüchen schreibt. Das Er- sich ja wieder lohnen. Das heißt auf gut deutsch, ziehungsgeld wird die Situation der Frauen ver- Mütter in Not werden auf unzureichende, freiwillige schärfen, wenn die Voraussetzung, nämlich eine Ar- Almosen ohne Rechtsanspruch angewiesen bleiben, beitsplatzgarantie, nicht gesichert ist. Das wäre und der erste wichtige Baustein bleibt für diese Per- eine eindeutige Verschlechterung gegenüber der sonengruppen auch gleichzeitig der letzte. heutigen Situation für alle berufstätigen Frauen. (Beifall bei der SPD) (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: So ist es!) Vizepräsident Westphal: Frau Abgeordnete Das sind vor der Geburt des ersten Kindes bis zu Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des 90 % und vor der Geburt des zweiten Kindes immer Herrn Abgeordneten Geißler! noch wesentlich mehr als die Hälfte. Die Tatsache, daß das Erziehungsgeld fünf Monate ohne Einkom- Frau Schmidt (Nürnberg) [SPD]: Bitte, aber eine mensanrechnung gezahlt werden soll, zeigt, daß es kurze. sich auch hier nicht um Frauen in Notlagen han- delt, sondern darum, daß man hier Leistungen mit Dr. Geißler (CDU/CSU): Frau Kollegin, würden Sie der Gießkanne geben will. Die Leidtragenden wer- bitte konkret sagen, was in der Sozialhilfe zu La- den wieder diejenigen sein, die auf staatliche Lei- sten von Familien und Kindern gekürzt worden ist, stungen angewiesen sind. Rechnen Sie sich doch welche Leistungen gekürzt worden sind; aber bitte bitte einmal aus, wie die Situation der Familie der konkret. nicht berufstätigen schwangeren Ministergattin (Zuruf der Abg. Frau Dr. Däubler-Gmelin durch Kinderfreibeträge und Erziehungsgeld ver- [SPD] — Weitere Zurufe von der SPD) bessert und die der alleinstehenden Verkäuferin verschlechtert wird! Und würden Sie zweitens bitte eine Antwort auf die Meine Damen und Herren, Hilfe soll verläßlich, Frage geben — — gerecht, wirksam und unbürokratisch sein. Unsere Bedenken, daß ehrenamtliche Beraterinnen und Frau Schmidt (Nürnberg) (SPD): Bitte schneller, Hilfesuchende mit zusätzlicher Bürokratie belastet meine Zeit läuft mir weg. werden, wurden nicht ausgeräumt. (Zurufe von der SPD) Hilfe soll natürlich auch juristisch einwandfrei sein. Hier, Herr Dr. Geißler, wird es ja nun interes- Dr. Geißler (CDU/CSU): Würden Sie eine Antwort sant. Sie haben im Ausschuß erklärt, alle Fragen geben auf die Frage, ob Sie es ebenfalls als eine des Datenschutzes seien zur Zufriedenheit geklärt. Kürzung ansehen, daß dieser Bundestag auf Vor- Was Sie dem Ausschuß damit erklärt haben, ist schlag der Bundesregierung schlicht und einfach unwahr. Der Bundesbeauf- (Zuruf von der SPD) tragte für Datenschutz wurde zu spät eingeschaltet, 5650 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Frau Schmidt (Nürnberg) seine Bedenken sind nicht ausgeräumt. Er hat kon- Frieden haben, wenn alle Bürger das Gefühl haben, krete Vorschläge gemacht, wie die Mängel behoben daß ihren Vorstellungen Genüge getan wird. Wir werden können, Vorschläge, die sicherstellen sollen, wollen damit deutlich machen, daß wir dabei helfen daß den Betroffenen ein vergleichbarer Schutz ge- wollen, daß nicht aus materieller Not abgetrieben gen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwen- wird. dung und Wiedergabe ihrer persönlichen Daten ge- Den Gegnern der Stiftung — die befürworten ja währleistet wird wie bei staatlichen Sozialleistun- auch die jetzige Fassung des § 218 — rufe ich das in gen. Dies ist nur durch Gesetz sicherzustellen, nicht Erinnerung, was ich in der ersten Lesung gesagt durch nachträgliche Richtlinien. Das schreibt Ihnen habe: daß wir Wert auf die Vergaberichtlinien und auch der Bundesbeauftragte. auf die Kontrolle, wie das Geld vergeben wird, le- Meine Herren, meine Damen, die Hilfen der Stif- gen, damit nicht Druck auf die freie Entscheidung tung „Mutter und Kind" sind nicht verläßlich, sie der Frau, die in Not ist, ausgeübt wird. sind ungerecht, nicht wirksam genug, bürokratisch und juristisch nicht einwandfrei. Aber selbst wenn die Vergabe der Mittel nicht immer allen Vorstellungen entsprechen mag, frage (Beifall bei der SPD) ich: Wo ist das zu schützende Rechtsgut, das durch Wir können diesem Gesetz deshalb nicht zustim- diese Stiftung beschädigt werden könnte? Hier wird men. nichts beschädigt, und deswegen können wir Freien Wir bitten um Zustimmung zu unserer Entschlie- Demokraten diesem Gesetz zustimmen. ßung und um weiteres gemeinsames Nachdenken, Eine Kritik an dieser Stiftung wäre aus zwei damit werdenden Müttern in Not wirksam geholfen Gründen verständlich, einmal wenn zu viel Steuer- werden kann. gelder auf Kosten einer bestimmten Gruppe in eine (Beifall bei der SPD) einseitige Richtung fließen würden. Das ist nicht der Fall. Es fließen weder Gelder einseitig, noch Nachdem wir davon ausgehen müssen, daß diesem fließt zu viel Geld in eine Richtung. Das ist etwas, Gesetz mehrheitlich zugestimmt wird, bitten wir was meine Vorrednerin gerade zugegeben hat. Sie, wenigstens die Belange des Datenschutzes zu berücksichtigen und in zweiter Lesung unseren Än- Ein Grund wäre auch, wenn Druck auf die Ent- derungsanträgen, die mit dem Beauftragten für Da- scheidungen der Frauen ausgeübt würde. Das ist tenschutz abgestimmt sind, zuzustimmen. eben auch nicht der Fall. Niemand braucht zu die- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten sen Stiftungen zu gehen. Unter Druck steht aller- der GRÜNEN) dings jede Frau, jedoch weniger von außen als von innen, und diesen moralischen Druck kann ein Ge- setz, kann auch diese Stiftung nicht abnehmen. Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abge- Dies soll wohl auch nicht Aufgabe eines Gesetzge- ordnete Eimer. bers sein. (Vorsitz: Vizepräsident Frau Renger) Nun wird — und das habe ich schon angedeutet — von den Gegnern gesagt, das Stiftungskapital sei Eimer (Fürth) (FDP): Frau Präsident! Meine Da- viel zu gering. Ich sage Ihnen aber, im sozialen men und Herren! So schnell, wie wir es uns vorge- Bereich werden wir immer in einer Situation leben, stellt hatten, wurde dieses Gesetz zur Errichtung wo mehr Wünsche und mehr Bedürfnisse vorhan- einer Stiftung „Mutter und Kind" verwirklicht. Wir den sind, als erfüllbar sind. Diese Kluft wird eher hoffen dabei auch auf einen schnellen Durchgang breiter als schmaler, weil technisch immer mehr im Bundesrat und hoffen, daß den Frauen in Not Wünsche vorstellbar sind, als erfüllt werden kön- dann genauso schnell geholfen werden kann. nen. Tun wir doch lieber das, was wir tun können, Die Grundprinzipien, die dazu geführt haben, daß wozu wir die Mittel haben. Das ist seriöser, als dieses Gesetz geschaffen wurde, habe ich bereits in wenn wir etwas versprechen oder in Aussicht stel- der ersten Lesung vorgetragen. Es waren die flan- len, was wir dann nicht verwirklichen können. Auch von diesem Gesichtspunkt aus, meine ich, kann kierenden Maßnahmen zu § 218, das Bekenntnis zu - der derzeit gültigen Fassung des § 218, die Verant- man diesem Gesetzentwurf ohne weiteres zustim- wortung, die nicht abgenommen werden kann, die men. unmittelbar mit der Freiheit, die wir nach § 218 ge- Es wird weiter kritisiert, daß kein Rechtsan- ben, zusammenhängt, die Gewissensnöte und das spruch hesteht. Das ist richtig. Aber wir wollten Wissen, daß hier Gegebenheiten bestehen, die sich nicht den Dschungel einer neuen Bürokratie ein- menschlichem Richterspruch entziehen. richten. Dies alles, was ich in der ersten Lesung angespro- (Frau Nickels [GRÜNE]: Sie haben ein Fei chen habe, gilt nach wie vor. Aber dieses Gesetz ist genblatt konstruiert!) auch für diejenigen gemacht, die Abtreibung als un- erträglich empfinden, die für die Austragung des Wir glauben, daß wir den Stiftungen mehr Frei- Kindes und gegen die Abtreibung werben wollen, raum lassen sollen, um schnell und unbürokratisch für diejenigen also, die in der Lage sein wollen, helfen zu können. Hilfe anzubieten. Die Beispiele, die Sie, Frau Schmidt, angeführt Diese Stiftung ist auch für die gedacht, denen die haben, ziehen nicht so recht. Sie haben das Beispiel jetzige Fassung des § 218 nicht gefällt. Meine Da- Sozialhilfe angeführt, das Beispiel von der Putzfrau. men und Herren, der Staat kann nur dann inneren Das ist zwar richtig, aber das ist nicht ein Problem Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5651

Eimer (Fürth) der Stiftung, sondern es ist ein Problem der Sozial- Wenn Sie sich die Gelder ansehen, die verteilt wer- hilfe. den sollen, dann kann man weiß Gott nicht von (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sagen einer Verschlechterung, sondern nur von einer ganz Sie das mal der schwangeren Frau!) kräftigen Verbesserung dieser Situation sprechen. — Das zieht ja wohl nicht. Das Prinzip der Sub- (Frau Dr.Däubler-Gmelin [SPD]: Sie haben sidiarität ist von Ihnen nie angegriffen worden, nie eine komische Art zu rechnen!) bezweifelt worden. Ich habe hier im Plenum von Ich darf zusammenfassen: Wir sind für diese Stif- diesem Pult aus schon öfter darauf hingewiesen, tung, weil Hilfe für Frauen in Not geschaffen wird; daß mir dieses Prinzip nicht sonderlich gut gefällt, wir sind dafür, weil diese Hilfe unbürokratisch mög- weil es das Prinzip der Eigenleistung nicht entspre- lich ist; wir sind dafür, weil diese Stiftung ein Teil chend berücksichtigt, wie das Frau Schmidt vorhin der versprochenen flankierenden Maßnahmen zum dargestellt hat. Aber wie gesagt, das ist nicht ein § 218 ist; wir sind auch dafür, weil § 218 durch diese Problem der Stiftung, sondern es ist ein Problem Stiftung in keiner Weise angetastet wird. der Sozialhilfe. Ich habe nichts dagegen, wenn wir Vielen Dank. uns überlegen, wie wir die Sozialhilfe so gestalten, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) daß Eigenleistungen z. B. dieser Putzfrau nicht be- straft werden, sondern belohnt werden. Das ist ein Stück Leistungsprinzip, wie wir Liberale es uns vor- Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Geißler. stellen, und es ist genau das Gegenteil des Prinzips der Ellenbogengesellschaft, das uns oft unterstellt (Zuruf von der SPD: Auch das noch!) wird. Dr. Geißler, Bundesminister für Jugend, Familie Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter, ge- und Gesundheit: Frau Präsidentin! Meine sehr ver- statten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeord- ehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf neten Däubler-Gmelin? über die Einrichtung der Bundesstiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" muß ganz sicher, wie ich dies schon bei der letzten De- (Fürth) (FDP): Jawohl. Eimer batte gesagt habe, im Zusammenhang mit dem Ge- samtkonzept der familienpolitischen Maßnahmen Frau Dr. Däubler - Gmelin (SPD): Herr Eimer, wenn gesehen werden, die die Bundesregierung in dieser Sie mit uns darin übereinstimmen, daß der Frau, Legislaturperiode verwirklichen wird. Es ist ganz um die es geht, die Systematik ziemlich egal ist und sicher so, daß die Bundesstiftung für sich genom- daß sie Hilfe braucht: Meinen Sie nicht, daß es dann men nicht ausreichend wäre, um das Ziel zu errei- falsch ist irgendwann irgendwelche Änderungen chen, das wir uns auch mit dieser Stiftung gesetzt vorzunehmen? Meinen Sie nicht daß man vielmehr haben, nämlich dafür zu sorgen, daß in einem rei- nachdenken muß, bevor man eine neue Regelung chen Land wie der Bundesrepublik Deutschland trifft, die den Zustand undurchsichtiger macht, ihn niemand deswegen in eine soziale Notlage geraten bürokratisiert und verschlechtert? darf, weil ein Kind geboren wird. Dies muß am Anfang gesagt werden. Ich kann Eimer (Fürth) (FDP): Frau Kollegin, zunächst ein- und will Ihnen auch mitteilen — das ist zum Teil ja mal wird durch dieses Gesetz einer Frau kein Scha- auch schon in der Presse veröffentlicht worden —, den zugefügt, sondern es wird einer Frau geholfen. daß der Bundesfinanzminister und ich dem Bundes- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kabinett in der nächsten Woche einen Vorschlag Das ist genau das, was notwendig ist. Es wird unbü- über die Ausgestaltung unserer familienpolitischen rokratisch geholfen. Konzeption machen werden, der sowohl den Bun- deshaushalt 1985 als auch die mittelfristige Finanz- (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist planung berührt. Darüber wird im Kabinett in der ein Irrtum!) nächsten Woche grundsätzlich beschlossen- wer- Der zweite Punkt, die Sozialhilfe, die Sie immer den. wieder ansprechen: Da bin ich der Meinung, wir Im Mittelpunkt dieses Vorschlags wird die Ein- sollten uns wirklich überlegen, wie wir bessere Lö- führung eines Erziehungsgeldes in Höhe von DM sungen schaffen. Das hängt aber nicht mit diesem 600 monatlich für die ersten zwölf Monate im Leben Gesetz zusammen. eines Kindes stehen. Damit erreichen wir eine ent- Weiter das Beispiel von der Topfpflanze. Ich mei- scheidende Verbesserung der Hilfe für junge Fami- ne, Frau Kollegin, wenn einer Frau unbürokratisch, lien; von denen wir ja wissen, daß sie gerade dann, in kurzer Zeit geholfen werden kann, wenn beide Elternteile vorher gearbeitet haben, in (Zurufe von der SPD: Wenn!) eine wirtschaftlich schwierige Situation geraten, dann sollte man diese Hilfe nicht so leichtfertig wenn ein Kind auf die Welt kommt und wenn sich durch den Begriff „Topfpflanze" abwerten. ein Elternteil — entweder der Vater oder die Mutter — dafür entscheidet, beim Kind zu bleiben, was wir Etwas Weiteres verstehe ich nicht. Ich verstehe ja auch unter ärztlichen Gesichtspunkten, unter nicht, wie ein vorgesehenes Erziehungsgeld eine psychologischen Gesichtspunkten für unbedingt Verschlechterung für die Frauen bedeuten soll. notwendig halten. Dieses Erziehungsgeld wird ins- (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Ohne Ar gesamt ein Finanzvolumen von ungefähr 2,5 Milli- beitsplatzgarantie!) arden DM beinhalten. 5652 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bundesminister Dr. Geißler Wir wollen weiter Kinderfreibeträge in der Grö- Deswegen war meine Zwischenfrage völlig berech- ßenordnung von 2 400 DM pro Kind und Jahr ein- tigt. führen. Wir wollen eine steuerliche Entlastung ab (Fortgesetzte Zurufe von der SPD) 1. Januar 1985 bis zur Höhe von 4 000 DM für das — Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erste Kind für alleinstehende Erzieher, zuzüglich versuche hier lediglich eine Information zu geben, 2 000 DM für jedes weitere Kind. Wir schlagen ei- nen Kindergeldzuschlag von mindestens 44 DM pro (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Aber eine Kind und Monat für Familien mit einem geringen falsche! — Weitere Zurufe von der SPD) Einkommen vor. Und wir wollen ab 1. Januar 1985 die ja wohl nicht bestritten werden kann. Diese das Kindergeld für die Eltern wieder einführen, de- Kürzungen sind auch von der sozialdemokratischen ren Kinder arbeitslos sind oder keinen Ausbil- Partei mit beschlossen worden, dungsplatz haben — eine Leistung, die im Jahre (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Jetzt 1981 leider gestrichen worden ist. heißt es schon wieder „auch"! Er relativiert (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat Frau schon wieder! Schon wieder falsch!)\ Schmidt in der Eile vergessen!) und im Gegensatz zu den Kürzungen, die Sie mit Dies ist insgesamt eine entscheidende Verbesse- beschlossen haben, hat diese Bundesregierung und rung für unsere Familien in der Größenordnung hat die Mehrheit von CDU/CSU und FDP beschlos- von mehr als 8 Milliarden DM. Insofern, meine sehr sen, verehrten Damen und Herren, können wir mit Fug (Fortgesetzte Zurufe der Abg. Frau Dr. und Recht sagen, daß diese Bundesstiftung „Mutter Däubler-Gmelin [SPD]) eine sinnvolle und Kind" Ergänzung eines umfas- daß am 1. Juli dieses Jahres die Regelsätze in der senden Konzepts einer neuen Familienpolitik ist, Sozialhilfe wieder an die Steigerung der Lebenshal- die für unsere Familien in der Bundesrepublik tungskosten angeglichen werden. Wir haben damit Deutschland gegenüber dem jetzigen Zustand eine ebenfalls einen entscheidenden Schritt dafür getan, entscheidende Verbesserung bringen, die Wahlfrei- daß wir für die Hilfebedürftigen wieder mehr so- heit der Frauen verbessern ziale Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutsch- (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Und der land verwirklichen können. Männer?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und gleichzeitig dafür sorgen wird, meine sehr ver- ehrten Damen und Herren, daß auch die Familie in Vizepräsident Frau Renger: Herr Bundesminister, unserer Gesellschaft wieder einen höheren Rang gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abge- beigemessen bekommt; denn dies hängt auch davon ordneten Dr. Sperling? ab, welche Entscheidungen der Staat zugunsten der (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Er beant Familien zu treffen bereit ist. wortet doch wieder etwas anderes!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen fallen alle Anwürfe gegen die Bundes- Dr. Geißler, Bundesminister für Jugend, Familie stiftung, die da lauten, „es werden 50 Millionen DM und Gesundheit: Bitte schön. gegeben, und ihr habt vorher 320 Millionen DM beim Mutterschaftsgeld gestrichen", in sich zusam- Dr. Sperling (SPD): Herr Minister, können Sie Ihre men, weil das Gesamtvolumen der Verbesserung Information um den Sachverhalt ergänzen: daß die des Familienlastenausgleichs, über 8 Milliarden Streichung dieser Beträge auf Forderung der von DM, natürlich ein Vielfaches von dem beträgt, was der CDU/CSU gestellten Bundesratsmehrheit im bei diesen 320 Millionen DM gestrichen worden Vermittlungsausschuß zustande gekommen ist und ist. daß man das Ergebnis im Vermittlungsausschuß hier im Hause entweder nur ganz annehmen oder (Zurufe von der SPD) ganz ablehnen kann, so daß das, dem wir hier bei Um jetzt noch einmal zu Ihnen zu kommen, Frau diesem betreffenden Haushaltsstrukturgesetz- zu- Schmidt. Sie haben gesagt, die Mehrbedarfszu- stimmen mußten, nicht der Initiative der sozialde- schläge für schwangere Frauen seien von der neuen mokratischen Partei, sondern leider der Initiative Bundesregierung gekürzt worden. der von Ihnen geführten Bundesländer entsprang? (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Das habe (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Jetzt blei ich nicht gesagt! — Frau Dr. Däubler-Gme ben Sie aber bei der Wahrheit, Herr Mini lin [SPD]: Da spricht schon wieder der ster! — Weitere Zurufe von der SPD) CDU-Generalsekretär! Der hört nie zu!) — Ich habe es ja wohl so verstehen dürfen. Das Dr. Geißler, Bundesminister für Jugend, Familie haben Sie an unsere Adresse gesagt. Die Mehrbe- und Gesundheit: Verehrter Herr Kollege, es ist völ- darfszuschläge für schwangere Frauen sind im lig klar, daß diese und andere Streichungen im Ver- Jahre 1981 beim Haushaltsstrukturgesetz mit den mittlungsausschuß von Bundesrat und Bundestag Stimmen der sozialdemokratischen Partei gekürzt beschlossen worden sind. worden. Dies ist die Wahrheit. (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Auf CDU (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Schmidt Anregung, Herr Generalsekretär!) [Nürnberg] [SPD]: Im Vermittlungsaus Ich habe mich nur dagegen gewehrt, daß hier von schuß! — Weitere Zurufe von der SPD) diesem Pult aus der Eindruck erweckt wird, als ob Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5653

Bundesminister Dr. Geißler die Kürzung der Mehrbedarfszuschläge für schwan- und der Gesellschaft, eine soziale Situation herbei- gere Frauen das Ergebnis der Politik dieser Frak- zuführen, die dafür sorgt — ich muß es noch einmal tion sei, wiederholen —, daß deswegen, weil ein Kind auf die (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Peinlich, Welt kommt, soziale Probleme nicht entstehen. Sol- peinlich!) che sozialen Notlagen mögen in Peru oder in Boli- vien nicht zu verhindern sein; es ist aber unerträg- und dies ist einfach falsch, nachgewiesenermaßen lich, wenn in der Bundesrepublik Deutschland eine falsch. Diese Beschlüsse haben Sie als Sozialdemo- soziale Notlage eintritt, wenn ein Kind auf die Welt kraten mit gefaßt. kommt. Ich glaube sagen zu können, daß auf Grund (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Peinlich, des Gesamtkonzepts, das ich gerade vorgetragen peinlich, Herr Generalsekretär! Das war habe, insbesondere durch die Einführung des Erzie- die CDU, Herr Generalsekretär!) hungsgeldes, genau diese soziale Notlage in der Zu- Dies ist die Wahrheit, und das wollte ich hier zum kunft verhindert werden kann. Ausdruck bringen. Nun geht es bei der Bundesstiftung in der Tat (Zurufe von der SPD) nicht darum, einen zusätzlichen gesetzlichen An- spruch zu installieren, sondern wir haben ganz be- Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist wußt einen anderen Weg gewählt. Es ist auch von natürlich bei dieser Debatte auch die Frage aufge- Frau Schmidt wieder der Vorwurf erhoben worden, worfen worden, ob finanzielle Hilfen für schwan- die Bundesstiftung gewährleiste keine Rechtsan- gere Frauen in Not ein geeignetes Instrument sei- sprüche. Dies ist richtig, aber ich weise darauf hin, en, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in der daß wir in der gesamten Sozialpolitik immer die Bundesrepublik Deutschland zu senken. Es ist ganz Kombination von gesetzlichen Ansprüchen und sicher richtig, daß es Konfliktsituationen gibt, die freiwilligen Leistungen gehabt haben. Durch die Frauen in eine Notlage bringen, die nicht allein ma- freiwillige Leistung der Bundesstiftung wird nicht teriell begründet sind. Es ist von den Vorrednern ein einziger gesetzlicher Anspruch, der bisher vor- und den Vorrednerinnen zu Recht darauf hingewie- handen war, verkleinert, vermindert oder gar abge- sen worden, daß natürlich das gesellschaftliche schafft, sondern die gesetzlichen Ansprüche bleiben Klima eine große Rolle spielt: die Nachbarschaft, voll bestehen. die Eltern, der Ehemann und vieles andere mehr. Ich möchte hier zum Ausdruck bringen: Der Deut- Daß wir hier eine freiwillige Leistung haben, hat sche Bundestag sollte sich insgesamt energisch da- im Gegenteil einen großen Vorteil, und zwar deswe- gegen wehren, daß viele werdende Mütter auch gen, weil nur auf diese Weise schnell und unbürok- heute noch von ihrer Umgebung, vom Vater des ratisch geholfen werden kann, was ja mit dieser Kindes, aber auch von den Eltern und Geschwi- Stiftung erreicht werden soll. stern, von Freunden und Arbeitskollegen unter (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Wenn Sie Druck gesetzt werden. Dagegen sollten wir uns noch Geld haben!) wehren und deutlich zum Ausdruck bringen, daß wir eine solche Haltung mißbilligen. Wer nur gesetzliche Ansprüche in der Sozialpolitik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) realisieren will, meine sehr verehrten Damen und Herren, der wird bewirken, daß wir in konkreten Wir sind der Auffassung, daß die Beratungsstel- Situationen, die sich eben in Paragraphen nicht fas- len eine Aufgabe darin sehen müssen, den Frauen, sen lassen, nicht in der Lage sind, zu helfen. die schwanger geworden sind, die Furcht vor Dis- kriminierung zu nehmen. Die Beratungsstellen (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Aber können dies aber allein nicht leisten, sondern sie Herr Geißler, das ist doch völlig falsch!) sind darauf angewiesen, daß die Gesellschaft insge- Wer sich die Hände durch Paragraphen bindet, ist samt — aber vor allem auch die nähere Umgebung sehr oft gehindert zu helfen. einer Frau, die schwanger geworden ist — die Einstellung gegenüber dem werdenden Leben än- (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Aha!- Also dert. wollen Sie doch nicht helfen!) Aber es kann auch keine Frage sein, daß finan- Deswegen haben wir ja gerade das Instrument der zielle Belastungen oder Schwierigkeiten, die mit ei- freiwilligen Leistungen auch auf der kommunalen ner besseren sozialen Situation überwunden wer- Ebene. den können, eine entscheidende Rolle spielen. Der Bericht der Kommission zur Auswertung der Erfah- (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist rungen mit dem reformierten § 218 StGB, der von aber eine seltsame Interpretation!) der damaligen Bundesregierung im Jahre 1980 vor- Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus gelegt worden ist, sagt wörtlich: diesem Grunde — ich möchte dies klar sagen — Durchgängig wurden in allen angeführten Un- können wir nicht verhindern, es sei denn, wir gin- tersuchungen ... finanzielle Probleme am häu- gen hier nach egalitären Strickmustern vor, daß die figsten genannt. Nur 24 % der Frauen bzw. 22% Leistung z. B. in Hamburg etwas niedriger oder et- gaben an, daß dieses Motiv für ihre Entschei- was höher ist als in einem ähnlichen Fall in Baden- dung keine Bedeutung hatte. Württemberg oder in Nordrhein-Westfalen. Diese Tatsachen lassen sich einfach nicht wegdis- (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sie wol kutieren. Es ist deswegen eine Aufgabe des Staates len doch schwangeren Frauen helfen!) 5654 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bundesminister Dr. Geißler Dies können und wollen wir auch nicht verhindern, wendet, um eine Hilfe aus Mitteln der Bundesstif- wenn wir unbürokratisch und schnell helfen wol- tung zu erhalten, braucht keine zusätzlichen len. Schwierigkeiten und Diskriminierungen zu be- (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sie ver fürchten. Auch die Datenschutzvorschriften werden hindern, daß die Frauen Hilfe bekommen!) eingehalten. (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist Gerade dann, wenn eine Frau kommt, muß die Be- unwahr, Herr Minister!) ratungsstelle auch eine Hilfszusage geben können. Dann muß man, um es einmal auf deutsch zu sagen, Voraussetzungen für die Erlangung der Mittel der auch fünf gerade sein lassen können. Dann müssen Bundesstiftung sind erstens eine bestehende wir in Kauf nehmen, daß es in Hamburg um ein Schwangerschaft, zweitens die wirtschaftliche Not- paar hundert Mark anders aussieht als in Baden lage und drittens die Beratung durch eine aner- Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Mir kommt kannte Beratungsstelle. Dies sind die drei Voraus- es nicht so sehr darauf an, daß wir in einer egalitä- setzungen, die erfüllt werden müssen. ren Paragraphenreiterei überall in der Bundesrepu- Ich glaube, daß dies im Zusammenhang mit den blik Deutschland alles gleichbehandeln, sondern anderen familienpolitischen Leistungen eine wirk- darauf, daß schnell und unbürokratisch geholfen same Hilfe ist, mit dem Ziel, schwangeren Frauen werden kann. Das ist es, was notwendig ist. in Not zu helfen. Die Bundesstiftung ergänzt die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) jetzt schon vorhandenen Hilfen in den Ländern, in den Gemeinden und bei den kirchlichen Trägern. Das ist im übrigen bei anderen freiwilligen sozialen Ich hoffe, daß sie für viele Gruppen und Einrichtun- Leistungen ebenso. Das weiß jeder, der mit Sozial- gen in Staat und Gesellschaft Anlaß sein wird, auch politik zu tun hat und in Gemeinden oder Ländern ihrerseits die Anstrengungen um einen verbesser- Verantwortung für die Sozialpolitik getragen hat. ten Schutz des ungeborenen Lebens in unserem Auch dies muß gesagt werden: Es gibt für die Mit- Land zu verstärken. tel aus der Bundesstiftung keine bestimmten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Höchstbeträge. Was notwendig und möglich ist, muß vielmehr in jedem Einzelfall entschieden wer- den. Vizepräsident Frau Renger: Gestatten Sie eine Zwi- schenfrage der Abgeordneten Frau Schmidt (Nürn- Ich möchte noch einen weiteren Gesichtspunkt berg)? — Der Herr Minister hat seine Rede been- anführen. Die Weitergabe der Mittel über aner- det. kannte Beratungsstellen nach § 218 b StGB verän- Das Wort hat Frau Abgeordnete Schoppe. dert auch nicht, wie es manche sagen und auch heute wieder vorgetragen worden ist, die Situation der Beratung. Wenn sie sie verändert, dann zum Frau Schoppe (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine Besseren. Für diese Beratung schreibt nämlich das Damen und Herren! Ehe ich zum eigentlichen Gesetzbuch zwingend vor, daß die Frauen — ich Thema unserer heutigen Aussprache komme, zitiere wörtlich — „dort", nämlich in den Beratungs- möchte ich einige Bemerkungen zu den Begleitum- stellen, „über die zur Verfügung stehenden öffentli- ständen unserer letzten Debatte über dieses Thema chen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter machen. und Kinder beraten" werden, „insbesondere über Sie werden sich sicherlich daran erinnern, daß solche Hilfen, die die Fortsetzung der Schwanger- während meines Debattenbeitrags im Verlauf der schaft und die Lage von Mutter und Kind erleich- Sitzung am 24. Mai sich gewisse Turbulenzen ereig- tern". neten, — um mich zurückhaltend auszudrücken. Die Mittel der Stiftung verändern die Beratungs- Aus den Reihen der CDU/CSU kamen, wie im Pro- situation also nicht zum Negativen, sondern zum tokoll der Sitzung nachzulesen ist, Zwischenrufe Positiven. Die Stiftung stellt für die Beratung zu- wie: „Nazitöne!", „das hat bisher nur Goebbels ge- sätzliche Hilfen zur Verfügung. Für eine Erschwe- sagt!" und „SS-Methoden!". Mich haben diese Äuße- rung der Beratungssituation kann das nur jemand rungen damals dermaßen schockiert, daß -ich zu ei- halten, der den Gesetzestext nicht kennt oder nicht ner spontanen Reaktion nicht imstande war. erst nimmt oder eben aus ideologischen Gründen In der Zwischenzeit habe ich das Protokoll noch auf diesem Weg den Frauen in Not nicht helfen einmal durchgelesen und einige Überlegungen dazu will. angestellt. (Zuruf der Abg. Frau Dr. Däubler-Gmelin (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Ha [SPD]) ben Sie auch Ihre Äußerungen dazu gele Es ist auch, meine sehr verehrten Damen und sen?) Herren, ganz klar, daß hier keine unnötige bürokra- Ich finde Ihre Äußerungen, meine Herren Kollegen tische Erschwerung eintritt. Ganz im Gegenteil, wir von der CDU/CSU, unglaublich. Ich finde kein ad- haben gerade deswegen, weil es sich um eine frei- äquates Wort, Ihre Zurufe zu qualifizieren. Ich bin willige Leistung handelt, den unbürokratischen schlicht sprachlos, wie leichtfertig Sie mit derarti- Weg in dieser Form gewählt. gen Äußerungen um sich werfen. Zusammenfassend stelle ich noch einmal die Vor- (Beifall bei den GRÜNEN — Carstensen aussetzungen dar. Wer sich wegen einer Notlage an [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das ist doch eine anerkannte Beratungsstelle nach § 218b StGB wohl eine Unverschämtheit!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5655

Frau Schoppe Ich verstehe nicht, wie Sie angesichts der faschisti- stert das Schreckgespenst von den aussterbenden schen Vergangenheit dieses Landes zu Ihren Quali- Deutschen herum. Es wird die Horrormeldung ver- fizierungen kommen, und völlig unabhängig davon, breitet, der Rentenversicherungsbeitrag würde im wie scharf oder auch polemisch eine hier geäußerte Jahre 2035 auf 35 % anwachsen, oder die Rentnerin- Redewendung sein mag oder empfunden wird nen und Rentner würden nur die Hälfte ihrer bishe- (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Be rigen Bezüge erhalten. Verschwiegen wird bei die- leidigend war die! — Weitere Zurufe von ser Milchbubi-Rechnung die Tatsache — mal ange- der CDU/CSU) nommen, der Geburtenrückgang bleibt in dieser Kontinuität und die soziale Versicherung bleibt, wie — dies sind Geschmacks- und Stilfragen, über die sie ist, was auch nicht so sicher ist —, daß dem Beurteilungen bekanntlich weit auseinanderge- Mehraufwand bei der Rente Minderausgaben we- hen —, sind Ihre eben erwähnten Zwischenrufe ab- gen niedrigeren Bedarfs für die schulische und vor- solut unerträglich. Wer weiß, was SS-Methoden sind schulische Bildung, für Hochschulen, für Arbeitslo- und welche unvorstellbaren Verbrechen während sengeld, für Wohnungsbau, um nur einiges zu nen- der Nazi-Diktatur in Deutschland und anderen Tei- nen, gegenüberstehen würden. Auch die Rekruten- len der Welt verübt wurden, der kann meines Er- ausbildung würde sich mangels Masse um 33 % ver- achtens solche Zwischenrufe nicht machen und, mindern. Das bedeutete immerhin 1,1 Milliarden was meine Person betrifft, auch nicht dulden. Ich DM für bessere Zwecke. Alles in allem: Den Mehr- empfinde eine Äußerung wie „SS-Methoden" als Re- ausgaben stünden Minderausgaben gegenüber, die aktion auf meine Rede als eine nicht hinnehmbare sie aufheben würden. Verharmlosung von Nazi-Verbrechen und Verhöh- nung ihrer Opfer und bin unter keinen Umständen Aber nicht nur Herr Geißler sorgt sich. Auch Herr bereit, mich mit derartigen Äußerungen einfach ab- Wörner bangt um seinen Bedarf von 225 000 Män- zufinden. nern pro Jahr. Und aus dem Ernährungsministe- (Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der rium dringt Sorge um das Einkommen der Bauern, CDU/CSU: Wir mit Ihren auch nicht!) weil die für 2030 angenommenen 38 Millionen, die dann hier nur noch leben würden, nicht so viel ver- Vizepräsident Frau Renger: Frau Kollegin, gestat- schlingen könnten wie die 60 Millionen heute. Of- ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten fenbar stellt man sich vor, daß die Zahl der produ- Kroll-Schlüter? zierenden Bauern konstant bleibt, was weder der EG-Politik noch der erkennbaren Zeugungsfreudig- Frau Schoppe (GRÜNE): Nein. Herr Kroll-Schlü- keit des Landmannes entspricht. ter, es ist schon etwas spät geworden. (Lachen bei der CDU/CSU — Carstensen (Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜ [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das ist typisch!) NE]) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Wenn in einem der am dichtesten besiedelten Martin Kuschorke, Mitarbeiter am Evangelischen Länder wie dem unseren die Geburtenzahlen sin- Zentralinstitut für Familienberatung in Berlin, hat ken, warum geht dann nicht ein Aufatmen durch in einem Aufsatz mit dem Titel „Wie teuer ist Le- den Raum, wo doch damit unsere auf das höchste bensmut?" sehr gut beschrieben, welche Gründe überstrapazierten Lebensgrundlagen entlastet wür- eine Frau veranlassen, eine Abtreibung vornehmen den? Ich denke, es besteht für uns kein Grund, mit zu lassen. Er meint, es fehlt den Frauen letzten einem bevölkerungspolitischen Auftrag zu Bette zu Endes an Lebenskraft, ein Leben mit Kind und Fa- gehen. milie zu beginnen. Diese mangelnde Lebenskraft soll nun mit 3 000 DM eingehaucht werden. Er weist Wenn Sie allerdings das bevölkerungspolitische weiter darauf hin, daß durch das vorgesehene Ge- Kalkül leugnen und die Stiftung eine Maßnahme im bärprämiensystem die Beratungsgespräche in die Rahmen von Sozialpolitik sein soll — auch wenn es Ecke von Mißtrauen gedrängt werden, wo es nicht eine Ergänzungsmaßnahme ist, so handelt- es sich mehr möglich ist, Schwierigkeiten und Zweifel of- letztlich um Sozialpolitik —, so bleibt es doch nur fen vorzutragen. Wenn tatsächlich angenommen Almosenpolitik, auf jeden Fall bis 1986, denn erst wird, daß durch finanzielle Zuwendungen, zu dem dann sollen doch die vollmundig angekündigten von dieser beschämend geringen Art, die Frauen Veränderungen im steuerlichen Bereich wirksam beeinflußt werden könnten, verschließt die Augen werden und das Erziehungsgeld eingeführt wer- vor den wirklichen Problemen von Frauen. Wenn den. eine hinterlistige Beeinflussung der Frauen erfol- gen soll, damit sie nicht die Entscheidung treffen Zu den angekündigten Maßnahmen im sozialen können, die ihnen wirklich entspricht, ist das eine Bereich will ich nur kurz folgendes sagen. Die vor- verantwortungslose Maßnahme. Daß disziplinie- geschlagenen 44 DM Kindergeld für die Bezieher rend in die Entscheidung von Frauen eingegriffen unterer Einkommen stehen in krassem Mißverhält- werden soll, belegen die Äußerungen von Herrn nis zu der Tatsache, daß das Kindergeld seit 1975 Geißler, der sich eine Reduzierung der Abbrüche nicht erhöht wurde. Dieser Betrag bedeutet also um 20 000 vorstellt. nicht einmal einen Ausgleich der Inflationsrate und Seitdem 1980 eine interministerielle Arbeits- macht beileibe keinen Mut, Kinder großziehen zu gruppe ihren Bericht über die Bevölkerungsent - wollen. Meine Damen und Herren, ich halte es für wicklung in der Bundesrepublik vorgelegt hat, gei- eine unzulässige Verknüpfung, wenn eine Almosen- 5656 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Frau Schoppe gabe von 3 000 DM mit dem Schutz des ungebore- mich sorgen sie alle: Kirche, Staat, Ärzte und nen Lebens in Verbindung gebracht wird. Richter. Neun Monate lang. Wenn aber diese neun Monate vorbei sind, dann muß ich sehen, (Beifall bei den GRÜNEN) wie ich weiterkomme.

Ich habe schon einmal gesagt: Am besten schüt- (Beifall bei den GRÜNEN) zen Sie die Ungeborenen, indem Sie die Lebenden schützen und die Lebensgrundlagen für nachfol- gende Generationen sichern. Vizepräsident Frau Renger: Weitere Wortmeldun- gen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei den GRÜNEN) Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe die §§ 1 bis 3 in der Ausschußfassung auf. In Hamburg stieß die Giftküche Boehringer über Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen Jahre hinweg Dioxine aus. Hamburgs Müllplätze wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die sind voll von diesem Teufelszeug. Hamburg hat die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Paragraphen höchste Mißbildungsrate der Bundesrepublik und sind mit Mehrheit angenommen. die höchste Rate an schweren Mißbildungen; letz- tere Rate ist in Hamburg doppelt so hoch wie im Ich rufe § 4 in der Ausschußfassung auf. Hierzu Bundesdurchschnitt. Die Giftküchen brodeln aber liegt auf Drucksache 10/1687 ein Änderungsantrag nicht nur in Hamburg. Wenn wir den Anstieb von der Fraktion der SPD vor. Wer dem Änderungsan- Mißbildungen wie Spina bifida und schwersten For- trag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein men von Zyklopie erkennen, müssen wir uns dann Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — nicht fragen, ob der Schutz des ungeborenen Le- Der Antrag ist abgelehnt. bens nicht längst versagt hat? Wer dem § 4 in der Ausschußfassung zuzustim- men wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — (Beifall bei den GRÜNEN) Gegenprobe! — Enthaltungen? — § 4 ist mit Mehr- heit angenommen. Wenn trotz jahrelanger Mahnungen und durchführ- barer Gegenmaßnahmen Schwefeldioxid und Stick- Ich rufe § 5 in der Ausschußfassung auf. Hierzu oxide die Luft verpesten, wenn Gutachten den Zu- liegt auf Drucksache 10/1688 ein Änderungsantrag sammenhang von erhöhter Luftbelastung und der Fraktion der SPD vor. Wer diesem Antrag zuzu- Pseudokrupp erkennen lassen und diese Gutachten stimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- leichtfertig beiseite gelegt werden, wenn Gifte wei- chen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der An- terhin den Boden verpesten, wenn in zehn Jahren trag ist abgelehnt. Trinkwasser gepumpt wird, das wir heute vergiften, Wer § 5 in der Ausschußfassung zuzustimmen wie ernst wird dann der Schutz des Lebens und der wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge- Schutz kommender Generationen genommen? Ich genprobe! — Enthaltungen? — § 5 ist angenom- bin wütend und traurig über den geballten Unver- men. stand der herrschenden Politik. Der derzeitigen und Ich rufe die §§ 6 bis 14, Einleitung und Über- auch der vorangegangenen Bundesregierung sowie schrift, in der Ausschußfassung auf. Wer den aufge- den in den Ländern und Kommunen zuständigen rufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den Politikern werfe ich vor, daß sie für eine Umweltpo- bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — litik die Verantwortung tragen, die Erkrankungen Enthaltungen? — Dieses ist in der zweiten Lesung und Tod von Menschen zur Folge hat, und damit, angenommen. um mich zurückhaltend auszudrücken, grob fahr- lässig handelten bzw. handeln. Wir treten in die dritte Beratung Herrn Geißlers süffisante Almosenpolitik kann keine Sozialpolitik ersetzen. Wer Almosen verteilt, ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem wirkt nie überzeugend, auch wenn er sich sehr an- Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte strengt. ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltun- gen? — Das Gesetz ist gegen die Stimmen von SPD Ich möchte mit einem Zitat von Kurt Tucholsky und GRÜNEN angenommen. schließen, das zeigt, daß schon immer mit gespalte- Wir stimmen nunmehr über den Entschließungs- ner Zunge geredet wurde. Es lautet: antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/1665 ab. Wer diesem Entschließungsantrag zuzu- Die Leibesfrucht spricht: Für mich sorgen sie stimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- alle: Kirche, Staat, Ärzte, Richter. Ich soll neun chen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Ent- Monate schlummern; ich soll es mir gutgehen schließungsantrag ist abgelehnt. lassen. — Sie wünschen mir alles Gute, sie be- hüten mich. Gnade Gott, wenn meine Eltern Meine Damen und Herren, damit ist dieser Ta- mir etwas antun, dann sind sie alle da. Wer gesordnungspunkt beraten. mich anrührt, wird bestraft. Meine Mutter fliegt ins Gefängnis, mein Vater hintenach, der Arzt, der es getan hat, muß aufhören, Arzt zu Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 30: sein. Die Hebamme, die geholfen hat, wird ein- Beratung der Beschlußempfehlung und des gesperrt. — Ich bin eine kostbare Sache. Für Berichts des Verteidigungsausschusses (12. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5657

Vizepräsident Frau Renger Ausschuß) als 1. Untersuchungsausschuß Damen und Herren von der SPD, Sie wissen, daß nach Artikel 45a Abs. 2 des Grundgesetzs das Klima im Untersuchungsausschuß vorzüglich zu den Anträgen war. Wir haben das von unserer Seite bewußt so als Alternative zu den letzten Jahren, wo Sie verant- — der Fraktion der SPD und des Anschluß- wortlich waren, gestaltet. Wir können Ihnen Ihre antrages der Fraktion DIE GRÜNEN vom Rechte, die nach dem Grundgesetz und nach den 20. Januar 1984 zur Untersuchung der tat- IPA-Regeln verbrieft waren und verbrieft sind, sächlichen und rechtlichen Grundlagen nicht bestreiten. Wir mußten früher ständig zum der Entscheidung des Bundesministers Geschäftsordnungsausschuß laufen. Wir haben uns der Verteidigung Dr. Wörner, General Dr. von Anfang an darauf eingestellt, daß wir dieses Kießling zu entlassen Problem gemeinsam miteinander behandeln konn- — der Fraktion der CDU/CSU und des An- ten. schlußantrages der Fraktion der FDP vom 20. Januar 1984 zur Rechtmäßigkeit der Wir wissen eines in diesem Zusammenhang: Die- vorzeitigen Zurruhesetzung des Generals ser Untersuchungsausschuß, Herr Kollege Jahn, ist a. D. Dr. Kießling kein gerichtsähnliches Verfahren. Er ist ein parla- mentarisches Instrument. Wir wissen eines: daß wir — Drucksache 10/1604 — in diesem Untersuchungsverfahren natürlich nicht Berichterstatter: das politisch gewünschte Ergebnis gegen politische Abgeordnete Francke (Hamburg) Mehrheiten durchsetzen können. Aber eines war Hauser (Esslingen) uns allen klar: Wir haben in diesem Hause und in Jungmann diesem Lande gemeinsam mehr zu verlieren, als Dr. Klejdzinski uns manchmal bewußt ist. In diesem Ziele, glaube Ronneburger ich, haben wir uns alle über die Fraktionsgrenzen Vogt (Kaiserslautern) hinweg gefunden. Dr. Wittmann Eines muß man in diesem Zusammenhang auch Nach einer Vereinbarung des Ältestenrates sind einmal sagen, weil es von anderen, von der Presse für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Ist festgestellt worden ist. Wir haben hier ein partei- das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen übergreifendes gemeinsames Untersuchungsziel in Widerspruch; dann ist das so beschlossen. weiten Teilen gehabt. Ich glaube, das ehrt uns. Es Wünschen die Berichterstatter das Wort? — Das ist gar keine Frage, daß man in bestimmten Fragen ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. des Regierungshandelns anderer Auffassung war. Das Wort hat der Abgeordnete Wimmer. Eines muß hier festgestellt werden: Die Aufforde- rung des Bundeskanzlers, alles auf den Tisch zu legen, ist doch in diesem Ausschuß nahtlos erfüllt worden. Wimmer (Neuss) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihnen (Lebhafte Zurufe von der SPD) liegt der Abschlußbericht des Untersuchungsaus- schusses vor, und ich darf mich zunächst einmal Und das unterscheidet sich, Herr Kollege Jung- bedanken, bedanken vor allen Dingen bei den Mit- mann, von Ihrem Verhalten in vorherigen Untersu- arbeitern aller Fraktionen, den Herren Witting und chungsausschüssen. Mann von der Opposition und den Herren von Es ist natürlich einiges im Streit geblieben. Das Stechow und Bregenzer aus unseren Reihen, die wollen wir gar nicht bestreiten. Zum Beispiel bekla- zusammen mit Mitarbeitern des Ausschußsekreta- gen Sie, daß Herr General a. D. Dr. Kießling nicht riats, den Herren Aufenanger und Gohla eine vor- früher rehabilitiert worden sei. Wenn man es vom zügliche Arbeit zusammen mit uns geleistet haben. Ergebnis aufzäumt — das muß man doch einmal (Beifall bei allen Fraktionen) sagen —, sind wir tief unglücklich über diese Ge- Dieser Dank gilt natürlich auch den Stenographen schichte. Vom Ergebnis her hätte sie gar nicht statt- aus allen Bundesländern, die mitgearbeitet haben, finden dürfen. Aber eines müssen Sie sich doch fra- ebenso der Hausinspektion, alles natürlich mit ei- gen lassen, wenn Sie meinen, es wäre Ende Januar nem Dank an unsere beiden Vorsitzenden verbun- zu spät gewesen: Am 18. Januar dieses Jahres hat- den, die uns zügig geführt haben, und einem Danke- ten Sie durch das Angebot des Bundesministers der schön an die Presse, deren Berichterstattung wir in Verteidigung die Gelegenheit, die Zeugen aus der weiten Teilen fast für den Bericht hätten überneh- Kölner Polizei im Verteidigungsausschuß zu hören. men können. Sie haben das alles verhindert. Wenn wir sie hätten hören können, wäre uns sehr schnell klar gewor- Ich glaube, daß wir mit diesem Bericht alle zu- den, was wir dann erst nach mehreren Monaten im sammen einen Beitrag zur politischen Kultur unse- Untersuchungsausschuß mitgeteilt bekommen ha- res Landes und auch dieses Parlaments geleistet ben: daß die innere Verfassung des MAD, hohe Offi- haben. Das sieht man nicht zuletzt daran, daß wir in ziere, hohe Beamte, exakt eine Verfälschung der dieser schwierigen Materie einen fast übereinstim- Aussagen der Kölner Polizei vorgenommen hat mit menden Untersuchungsbericht vorgelegt haben, ei- dem Ergebnis, daß sich eine bemerkenswerte Täu- nen gemeinsamen Sachverhalt, eine gemeinsame schungslawine in Gang gesetzt hat, deren Opfer Bewertung, gemeinsame Schlußfolgerungen. Meine viele geworden sind. 5658 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter, ge- Hauses, als man ihm sagte, Bestimmtes unterneh- statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord- men zu müssen. neten Jahn? Dann ein Weiteres: Von Ihnen ist immer wieder vorgetragen worden, Herr Dr. Wörner habe Ehren- Wimmer (Neuss) (CDU/CSU): Beim Kollegen Jahn rühriges gegen General a. D. Dr. Kießling vorgetra- natürlich immer. gen. (Zuruf von der SPD: Natürlich!) Jahn (Marburg) (SPD): Können Sie mir einmal Ich will Ihnen nur eines sagen: Führende Vertreter helfen, Ihrer Logik auf die Spur zu kommen, Herr Ihrer Fraktion haben sich vor die Fernsehkamera Kollege Wimmer? Wenn Sie also meinen, der Aus- gestellt und üble Geschichten wiedergegeben, damit schuß hätte das erkennen können und es sei an den es auch alle hören konnten. Sozialdemokraten gescheitert, (Dr. Vogel [SPD]: Was haben Sie denn in (Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Richtig!) der Aktuellen Stunde geredet?) daß die Leute von der Kölner Polizei nicht gehört Wer also im Glashaus sitzt, muß wissen, daß er worden sind: Aber der Herr Wörner hat es schon nicht mit Steinen werfen darf. Und Sie sitzen in erkennen können, der Herr Bundeskanzler hat es einem großen Glashaus. erkennen können. Wozu brauchten die eigentlich noch die Hilfe des Ausschusses, um aus eigener Herr Abgeordneter, ge- Erkenntnis die richtigen Schlußfolgerungen zu Vizepräsident Frau Renger: statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord- ziehen? neten Klejdzinski?

Wimmer (Neuss) (SPD): Herr Kollege Jahn, die (Neuss) (CDU/CSU): Ja, von dem Doktor Antwort ist Ihnen doch bekannt: weil in diesem Wimmer immer. Hause Ihr Sachwissen auch erforderlich ist. (Lachen bei der SPD) Dr. Klejdzinski (SPD): Herr Kollege Wimmer, darf Wenn ich mir überlege, wie subtil Sie und wir alle ich Ihre heutigen Ausführungen dahin gehend ver- gefragt haben: Glauben Sie nicht, wir wären fündig stehen, daß Sie heute versuchen, all das zurückzu- geworden? Aber Sie müssen doch, wenn Sie ande- nehmen, was Sie damals in der Aktuellen Stunde in ren Vorwürfe machen, sich selbst fragen, warum irgendeiner Form als Anklage erhoben haben? haben Sie das mit Brachialgewalt am 18. Januar verhindert? Wenn Sie es nicht getan hätten, hätten Wimmer (Neuss) (CDU/CSU): Herr Kollege Dr. wir alle eine Chance mehr gehabt. Bevor Sie ande- Klejdzinski, ich kenne ja Ihre Reden; sie sind inzwi- ren etwas vorwerfen, müssen Sie sich das selbst fra- schen ja schon verteilt worden. Deshalb lassen Sie gen lassen. doch dem Kollegen Jungmann diesen Gag, damit er (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel das sagen kann. [SPD]: Das ist ein Kabarett! — Weiterer (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Zuruf von der SPD: Das ist die Höhe!) Niemand will bestreiten — Sie lesen ja alle die- Nur um einmal die Dimension klarzumachen: sen Untersuchungsausschußbericht —, daß Fehler Was ist gewesen? Die Leute der Kölner Polizei hat- gemacht worden sind. Ich meine, einiges ist für uns ten eine Zeugenaussage: daß jemand glaubte, einen alle unverständlich. Die römische Kurie würde nie bestimmten Herrn erkennen zu können, den er dort einen Kardinal zwischen Weihnachten und Neujahr vor zwölf Jahren gesehen habe. ins Kloster schicken, ohne die Stadt und den Welt- (Zuruf von der SPD: Vor zwölf Jahren!) kreis oder zumindest „dpa" zu unterrichten. Das ist Im MAD wurde daraus, daß er seit zwölf Jahren in natürlich etwas, was wir sehen müssen. Aber zu den bestimmten Kölner Lokalen verkehre. Ich will da- Fehlern, die gemacht worden sind, haben sich der mit nur einmal die Dimensionen aufzeigen, Bundeskanzler und Bundesminister Dr. -Wörner sel- ber geäußert. Es ist nicht meine Aufgabe, darauf (Jungmann [SPD]: Um das zu erkennen, noch anderthalbe zu setzen. war Herr Wörner zu dumm?) (Zuruf von der SPD: Und die Konse die deutlich machen, warum es nötig gewesen wäre, quenz?) das zu unternehmen. Sie haben das verhindert. — Hätten Sie immer Konsequenzen gezogen, hät- Wenn Sie im nachhinein sagen, daß Bestimmtes ten Sie schon 1970 die Regierung verlassen. hätte unterbleiben sollen, und wenn Sie im Verlauf des Untersuchungsverfahrens bei aller Fairneß, die Wir haben eines mit Nachdruck festgestellt, Herr Sie an den Tag gelegt haben, den Versuch unter- Kollege. Herr Dr. Wörner hat sich in jeder Phase nommen haben, so eine Art gequältes Gewissen des Verfahrens pflichtgemäß und rechtmäßig ver- herauszustilisieren, dann will ich Ihnen nur vorhal- halten. Aber es ist doch unbestritten, daß das für ten: Ihre Vertreter wurden am 9. Dezember 1983 uns alle keine strahlende Angelegenheit gewesen durch den Bundesminister von seiner Absicht un- ist. terrichtet. Sie haben natürlich nichts unternom- Wir müssen in diesem Lande doch feststellen: Es men, weil Sie genauso auf Herrn Dr. Wörner ver- gibt mit Sicherheit auch einmal einen Unterschied traut haben wie Herr Dr. Wörner natürlich auch auf zwischen allgemeiner Gerechtigkeit und formellem die militärische und zivile Führungsspitze seines Recht. Wenn beides nicht in Kongruenz gebracht Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5659

Wimmer (Neuss) werden kann, ist das formelle Recht im Grunde not- Vizepräsident Frau Renger: Gestatten Sie jetzt leidend. Aber derjenige, der nach bestem Wissen eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jahn und Gewissen gehandelt hat, hat in dieser Republik (Marburg)? auch einen Anspruch darauf, daß man ihm insoweit Gerechtigkeit widerfahren läßt. Herr Dr. Wörner Jahn (Marburg) (SPD): Herr Kollege Wimmer, ha- hat mit Sicherheit diesen Anspruch. ben Sie gar kein Gefühl für die Peinlichkeit, die darin liegt, daß Sie versuchen, hier alle Verantwor- (Beifall bei der CDU/CSU) tung auf den MAD, auf dessen Soldaten und Be- Was ist denn geschehen? Als sich das Fehlerhafte amte zu schieben und dadurch den Eindruck zu des Handelns herausgestellt hat, hat diese Regie- erwecken, daß derjenige, der zu prüfen und zu ent- rung gehandelt. Das ist doch ein großer Unterschied scheiden hatte, nämlich der Bundesminister der zu Ihnen. Erinnern Sie sich doch einmal an „Torna- Verteidigung Dr. Manfred Wörner, scheinbar gar do". Ihre Regierung hat doch in ähnlichen Fällen nichts mehr mit der Sache zu tun hat? die Wahrheit immer förmlich über das Knie gelegt. Das war doch Ihr Regierungsverhalten. Bei uns ist Wimmer (Neuss) (CDU/CSU): Herr Kollege Jahn, das eben anders. Es wird korrigiert. im Gegensatz zu Ihren Kollegen habe ich meine Ausführungen nicht verteilt. Sie können ja noch zu- (Zurufe von der SPD) hören. Vielleicht kommen Sie am Ende der Ausfüh- Wenn wir uns fragen, wer für dieses Verhalten rungen zu anderen Ergebnissen. verantwortlich war, müssen wir natürlich auch fest- (Zurufe von der SPD) stellen: Die von Ihnen übernommene Struktur und Ich muß mich natürlich fragen: Hätte man nicht das innere Verhalten des MAD haben den Grund unter Umständen auch gerade dem MAD ein beson- für das gelegt, was wir erkennen mußten. deres Augenmerk widmen können? Da kann ich na- türlich darauf verweisen: Was haben wir denn als (Zuruf von der SPD: Ach!) Ihr Erbe angetreten? Eine desolate Bundeswehrpla- Als der Bundesminister der Verteidigung nach sei- nung, einen Abmarsch Ihrer Partei aus einer Ge- nem Amtsantritt vier Abteilungsleiter in den einst- meinsamen Sicherheitspolitik. weiligen Ruhestand geschickt hat, waren Sie es (Zuruf von der SPD) doch, die aufgeheult haben. Sie haben Herrn Dr. Eines muß man in diesem Zusammenhang doch sa- Wörner ja schon förmlich mit Ihrem Kollegen gen. Minister Dr. Wörner hat in jedem Fall die Ehmke verglichen. Wenn man nun das Ergebnis Sicherheitspolitik dieses Landes und auch die sieht, muß man doch sagen, daß nicht genug getan Bun- deswehrplanung auf eine solide Basis gestellt. Und worden ist, daß noch zusätzlich etwas hätte getan wenn man schon fragt, ob es unterschiedliche Prio- werden müssen. ritäten geben soll, dann kann ich in diesem Zusam- Deswegen müssen wir uns mit der Frage ausein- menhang nur eines feststellen: er hat die richtigen andersetzen: Welches ist die Fehlerursache gewe- Prioritäten gewählt; es ist an einer Stelle geplatzt, sen? Heute ist man förmlich versucht, ein Hohelied wo wir es vielleicht so schnell nicht erwartet hätten. auf den Stabsfeldwebel Idel zu singen; denn er hat Deswegen kann man ihm doch nicht vorwerfen, daß mit Sicherheit eine souveräne Position eingenom- er korrekt und richtig in der Prioritätenverteilung men. Für andere gilt das nicht, wie etwa für den von gehandelt hat. Ihnen übernommenen ehemaligen Amtschef (Abg. Kolbow [SPD] meldet sich zu einer Schmähling. War es fair, den Amtsnachfolger ins Zwischenfrage) Messer laufen zu lassen? Das muß hier doch alles einmal gefragt werden. Und ein zentraler Punkt Vizepräsident Frau Renger: Gestatten Sie die Zwi- kommt hinzu. schenfrage? (Abg. Jahn [Marburg] [SPD] meldet sich zu Wimmer (Neuss) (CDU/CSU): Nein, nicht mehr. einer Zwischenfrage) — Herr Kollege Jahn, ich möchte gerade diesen Vizepräsident Frau Renger: Nein, ist in Ordnung. Satz zu Ende bringen. Wimmer (Neuss) (CDU/CSU): Wenn Sie mich fra- Ein zentraler Punkt kommt hinzu. Wir haben ge- gen, ob es nicht noch andere Fehler gegeben hat, meinsam im Untersuchungsverfahren festgestellt, sage ich: mit Sicherheit. daß überzogene Bedrohungsängste und nicht vor- (Zuruf von der SPD: Die können Sie gar handenes Wissen über die rechtlichen Grundlagen nicht aufzählen!) des MAD ein zentraler Punkt gewesen sind. — Herr Kollege Jahn, Sie stehen so schön da; deswegen — Ihre mit Sicherheit nicht. — Im November des sage ich es Ihnen ganz persönlich: das ist das trau- vergangenen Jahres hat der Staatssekretär Dr. rige Ergebnis von 13 Jahren sozialdemokratischer Hiehle eine Revision des Verfahrens in Sachen Dr. Regierungspolitik, daß das Rechtsbewußtsein in ei- Kießling angestrebt, weil er vielleicht das Gefühl nem zentralen Dienst dieses Landes nicht so war, hatte, daß vorher nicht alles richtig gelaufen war. daß wir alle uns, ohne rot im Gesicht zu werden, mit Wenn er das aber getan hat, warum hat er dann dieser Frage auseinandersetzen können. nicht das Verfahren in Sachen Sicherheitsüberprü- fung so penibel kontrolliert, daß mit Sicherheit dem (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von Bundesminister der Verteidigung im Dezember der SPD und den GRÜNEN) eine korrekte, überprüfte Grundlage für seine Ent- 5660 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Wimmer (Neuss) Scheidung vorgelegen hätte? Das sind natürlich Grunde, nachdem ich vieles auch zu Ihrem Verhal- Dinge, die uns betroffen machen. Man kann da nur ten gesagt habe — Sie werden zu unserem ja auch hoffen und wünschen, daß die neue Führungsspitze etwas sagen — nur an Sie appellieren, die gemein- des BMVg in diesen Dingen ein besonderes feeling, sam eingenommene Haltung der letzten Monate, ein besonderes Gefühl entwickelt. bei der wir an der Sache orientiert waren, auch in (Zuruf von der SPD) der Frage beizubehalten: Was geschieht mit der Spitzenorganisation und dem MAD weiter? Denn — Ja, wir haben neue Staatssekretäre bekommen; wir sind in diesem Lande zu mehr verpflichtet, als sonst müßte man Ihnen anraten, vielleicht mal zur nur des eigenen kurzlebigen Vorteils willen das Lehre einen benachbarten Gemeinderat aufzusu- eine oder andere zu unterdrücken; chen. (Zurufe von der SPD) Ich will in diesem Zusammenhang auf folgendes im Gegensatz zu Ihnen. hinweisen. Neben den gesetzgeberischen und admi- nistrativen Konsequenzen, die zu ziehen sind, muß Ich bedanke mich. man einmal an folgendes erinnern. Der Vorgänger (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Dr. Wörner hat sein Amt im Grunde verlassen in einem totalen Mißtrauen seinem Amt gegenüber. Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr Über die Ehmke-Kommission hat er versucht, im Abgeordnete Dr. Klejdzinski. Grunde einen administrativen Ministerstrang zu etablieren. Totales Mißtrauen im Amt! Das hat Herr (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- Dr. Wörner, obwohl Sie dieses Amt so verlassen hat- Dr. Klejdzinski men und Herren! Den Dank des Hauses an die Mit- ten, nicht getan und im Grunde kritisches Ver- arbeiterinnen und Mitarbeiter hat bereits Herr trauen als Führungsprinzip an die Stelle gesetzt. Wimmer ausgesprochen, dem möchte ich nichts (Zuruf von der SPD) hinzufügen, sondern ihn nur unterstreichen. Wir haben insgesamt erlebt, daß diesem kritischen Es ist die sozialdemokratische Bundestagsfrak- Vertrauen nicht entsprochen worden ist, und wir — tion gewesen, die am 20. Januar dieses Jahres die diese Regierung — haben gehandelt. Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Un- (Zuruf von der SPD: Was habt ihr ge tersuchungsausschuß beantragt hat. Wir haben da- macht?) mals diesen Antrag nicht leichten Herzens oder der Effekte willen gestellt. Richtig ist, daß eine Reihe — Wir haben in 28 Einzelpunkten der Höcherl von ernst zu nehmenden Kollegen hier in diesem Kommission die administrativen Konsequenzen ge- Haus auch noch bis zur Zeugenvernehmung Zweifel zogen. hatten und sich auch in diesem Sinne äußerten. (Zuruf von der SPD: Ab wann?) Doch wir Sozialdemokraten haben uns bereits da- mals eine andere parlamentarische Behandlung der Wenn ich mir das vor Augen halte, weiß ich, daß wir Angelegenheit vorstellen können. Wir fühlen uns uns hier zentral anders verhalten haben, als das heute durch das vorliegende Ergebnis dahin gehend früher bei Ihnen immer der Fall war. 13 Jahre ha- bestätigt, daß der Untersuchungsausschuß notwen- ben Sie uns und diesem Lande doch auch in diesen dig war. Fragen Sand in die Augen gestreut. Wir tun das nicht. Sie sollten darüber nicht betrübt sein. Ich muß leider daran erinnern, daß der Minister Wörner, als er am 18. Januar dieses Jahres im Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) teidigungsausschuß war, uns die rückhaltlose Auf- Ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang auch klärung zusagte, sie uns letztlich aber verweigert noch eines sagen. Wir werden natürlich bei der wei- hat. Wir wissen heute: Der Bundesminister Wörner teren Konsequenz eines bedenken: Ist das, was im hat dieses Parlament mit einer falschen und höchst Zusammenhang mit dem MAD gesetzgeberisch ge- lückenhaften Darstellung hinters Licht führen wol- schehen soll, in den Einzelpunkten so, wie es vorge- len. schlagen wird, wirklich adäquat? Da ergibt sich na- Gemeinsame Erfahrung aller Mitglieder- dieses türlich die parlamentarische Verantwortlichkeit. Ausschusses ist nicht nur die Erkenntnis über die Wir müssen eines sagen. Dieses Land insgesamt katastrophale Arbeit des MAD, sondern auch, wie — ich darf dabei den ehemaligen Bundesverfas- ich hinzufügen möchte, die menschlich bedrük- sungsrichter Hirsch zitieren — braucht in diesen kende Art, in der der Verteidigungsminister Wörner Diensten die Besten, die es hat; mit Sicherheit. Sie einen der drei ranghöchsten Bundeswehrgeneräle müssen sich aber auch — das sollten wir alle beden- in Pension geschickt hat und gleichzeitig so naiv ken — in diesem auf rechtsstaatliche Prinzipien ge- war, anzunehmen, dies könnte ohne Nachfragen der Öffentlichkeit und des Parlaments geschehen. gründeten Land in der Rechtsstaatlichkeit wie die Fische im Wasser bewegen können. Das ist eine Unsere gemeinsamen Erfahrungen in diesem Un- größere Voraussetzung als nur eine längere Steh- tersuchungsausschuß haben maßgeblich dazu bei- zeit. getragen, daß wir in einem beachtlichen Umfang zu gemeinsamen Feststellungen gekommen sind, und (Jungmann Eine kürzere Stehzeit!) [SPD]: davon wird dieser Bericht geprägt. Wir sind erstens — Oder auch kürzere Stehzeit. — Das ist mit Si- mit den Regierungsfraktionen gemeinsam zu einer cherheit eine größere Konsequenz, als uns lieb ist, Darstellung a) der Geschehnisse gekommen, die im die wir alle ziehen müssen. Deswegen kann ich im Jahre 1983 zur vorzeitigen Pensionierung des Gene- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5661

Dr. Klejdzinski rais Kießling geführt haben, und b) derer, die im dieser Tätigkeit des MAD verlangt. Im Interesse Januar dieses Jahres zu seiner Wiederernennung der Gemeinsamkeiten, im Interesse der Erstellung und Rehabilitation geführt haben. Zweitens sind eines gemeinsamen Abschlußberichts haben wir wir — dies ist auch wiederum beachtenswert — dort unsere Position zurückgenommen. Wir Sozial- auch zu einer gemeinsamen Bewertung der Tätig- demokraten werden aber dafür sorgen, daß diese keit des Militärischen Abschirmdienstes gelangt. Überprüfungen im Bundesministerium der Vertei- Ich kann heute feststellen: Der ganze Untersu- digung ernstgenommen werden und daß sie mit chungsausschuß hat in vollem Umfang das bestä- dem gebotenen Nachdruck durchgeführt werden tigt, was der Vorsitzende der sozialdemokratischen und in einem überschaubaren Zeitraum erledigt Bundestagsfraktion, Dr. Hans Jochen Vogel, bereits werden. Ich hoffe, daß die traurigen Erfahrungen Mitte Januar ausgeführt hat. Er hat damals gesagt, im Untersuchungsausschuß uns alle ausreichend daß die angeblichen Erkenntnisse über General sensibilisiert haben. Wir sind nämlich der Meinung, Kießling — ich darf zitieren — „in vorschriftswidri- wir haben die Verantwortung für diejenigen Men- ger Weise beschafft, mangelhaft bewertet, fehler- schen, die möglicherweise zu Unrecht in die Müh- haft dargestellt worden sind und sie in der Sub- len des Militärischen Abschirmdienstes geraten stanz völlig unzureichend sind". Im gemeinsamen sind. Ich hoffe, Sie, Herr Minister, empfinden das in Bericht des Untersuchungsausschusses heißt es der gleichen Art und Weise wie wir. jetzt — ich zitiere wiederum — über die vorzeitige Wir kommen mit den Regierungsparteien auch zu Pensionierung des Generals Kießling, daß sie auf gemeinsamen Schlußfolgerungen für den Militäri- falschen Angaben beruhte, die in vorschriftswidri- schen Abschirmdienst. Wir Sozialdemokraten wür- ger Weise gewonnen wurden, fehlerhaft bearbeitet, digen dabei das hohe Maß an Gemeinsamkeiten in mangelhaft bewertet und unrichtig dargestellt wor- dieser Aufgabenstellung. Es dient der Sicherheit den sind. der Bundesrepublik Deutschland, der Bundeswehr, Daß Sie, meine Damen und Herren von der Re- und es dient letztlich dazu, die Rechte unserer Sol- gierungsfraktion, sich nun der Beurteilung des Op- daten vor unzulässigem und willkürlichem Handeln positionsführers angeschlossen haben, nehmen wir zu bewahren, zu schützen und zu sichern. Sozialdemokraten mit Befriedigung, ja, mit Genug- Ich erinnere mich sehr gut daran: Wie versteinert tuung zur Kenntnis. Sicherlich hätten wir es be- saßen die Kolleginnen und Kollegen der Regie- grüßt, wenn dieser Lernprozeß bei Ihnen ein biß- rungsfraktion auf ihren Stühlen, als der General chen früher eingetreten wäre. Es wäre doch besser, Kießling vor dem Untersuchungsausschuß mit gro- wenn Sie daraus frühzeitig die gebotenen Konse- ßem Ernst, aber mit viel Bitterkeit deutlich ge- quenzen gezogen hätten. Lernprozesse brauchen macht hat, wie tief ihn der Bundesminister Dr. Wör- nun einmal Zeit, und wir geben nicht auf. ner in seiner Ehre und in seiner Würde verletzt hat. Es gibt nach dem Ergebnis der Untersuchung für Wir wollen den Schaden, der der Bundesrepublik mich keinen Zweifel — dies sage ich mit aller Deut- Deutschland, der Bundeswehr und auch dem Gene- lichkeit —: Die Hauptlast der Verantwortung für ral Kießling zugefügt worden ist, heute bewußt be- die Versäumnisse trägt die politische Führung. grenzen. (Beifall bei der SPD) Um die Rolle, die Dr. Wörner hier gespielt hat, umfassend zu würdigen, möchte ich folgendes in Herr Minister, eigentlich müßte es Ihnen bei solch Erinnerung rufen. Herr Wörner hat 13 Jahre lang, einer Bemerkung in den Ohren klingen. Genau seit 1969, das Amt des Bundesministers der Vertei- diese Formulierung haben Sie nämlich selbst ein- digung angestrebt. Er hat diese Zeit als Mitglied des mal gewählt, als Sie den damaligen Bundesverteidi- Verteidigungsausschusses und dessen langjähriger gungsminister Leber auf seine Verantwortung im Vorsitzender in der ihm eigenen Art und Weise ge- Fall Lutze/Wiegel hingewiesen haben. nutzt. Wie kein anderer vor ihm hat er das Innenle- Lassen Sie mich aus dem Bericht, soweit es un- ben der Bundeswehr und des Bundesministeriums sere Schlußfolgerungen betrifft, einen Punkt her- der Verteidigung gekannt. In vielen Reden in die- ausgreifen: Das Bundesministerium der Verteidi- sem Hohen Hause in all den Jahren hat er den Ein- gung hat eine Überprüfung sämtlicher Sicherheits- druck zu erwecken vermocht, als sei kein anderer überprüfungen des MAD vorzunehmen, die im als er alleine prädestiniert, die Aufgaben des Bun- zweiten Halbjahr 1983 zur Ablehnung, zum Entzug desministers der Verteidigung Deutschlands zu er- oder zu einer Einschränkung eines erteilten Sicher- füllen. Nach nicht einmal 16 Monaten nach der von heitsbescheids geführt haben. Diese Forderung be- Genscher und Lambsdorff in wortbrüchiger Weise ruht wiederum auf einer gemeinsamen Feststellung inszenierten Wende hat der Verteidigungsminister des Untersuchungsausschusses, nämlich daß der Dr. Wörner nachgewiesen: Nichts ist vergänglicher MAD bei der Sicherheitsüberprüfung des Generals als Glitter, all sein Handeln ist nur Show, nichts als Kießling fortgesetzt und schwer gegen die dafür be- heiße Luft. Noch nicht einmal eine wichtige Perso- stehenden Dienstvorschriften verstoßen hat. Wegen nalangelegenheit unter Beachtung der gebotenen der Häufung der festgestellten Verstöße halten wir Sorgfalt zu lösen ist er imstande. Das sagen nicht es sogar für ausgeschlossen, daß es sich lediglich nur wir Sozialdemokraten, nein, das sagen auch Ge- um einen Einzelfall handelt. Es ist sehr wahrschein- neräle, das sagt beispielsweise auch General a. D. lich, daß es lediglich die Spitze eines Eisberges ist. Schmückle. Ich mache keinen Hehl daraus: Wir Sozialdemo- (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Und die kraten haben eine viel weitergehende Überprüfung GRÜNEN dürfen Sie nicht vergessen!) 5662 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Dr. Klejdzinski In der Zeit der sozialliberalen Koalition haben gen; so kann man hier doch nicht antreten. Wissen Sie, Herr Wörner, keine Gelegenheit ausgelassen, Sie eigentlich, was das heißt, Herr Minister? Sie, um unsere drei sozialdemokratischen Verteidi- Herr Minister, leugnen damit Ihre eigene, die poli- gungsminister in unverwechselbaren Anspruch zu tische Verantwortung. Bei Ihren Entscheidungen nehmen, garniert mit den höchsten moralischen müssen Sie sich gefälligst ein eigenes Bild machen, Wendungen, und auf ihre Pflicht gegenüber der wenn Sie sorgfältig handeln wollen. Bundeswehr und den Soldaten hinzuweisen. Im Ge- Sie, meine Damen und Herren von den Regie- gensatz zu Ihnen, Herr Wörner, hat jedoch kein rungsfraktionen, haben den Versuch unternommen, sozialdemokratischer Verteidigungsminister, weder den früheren Staatssekretär Dr. Hiehle für die Helmut Schmidt noch Georg Leber, noch Hans ganze Affäre verantwortlich zu machen. Apel, seine Sorgfalts- und Fürsorgepflichten jemals in der Art und Weise verletzt, wie Sie es getan (Francke [Hamburg] [CDU/CSU]: Das haben. stimmt ja nicht!) (Beifall bei der SPD) Wir als Parlament sind gut beraten, wenn wir die Keiner wäre auch nur auf den Gedanken gekom- politische Verantwortung dort belassen, wo sie ist, men, einen Soldaten der Bundeswehr oder gar ei- nämlich bei dem parlamentarisch verantwortlichen nen General so durch den Dreck zu ziehen, wie Sie Bundeskanzler und seinen Ministern. Daß Sie als das mit General Dr. Kießling getan haben. Bundesminister eine eigenständige Amtspflicht ha- (Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Üble Ver ben, wozu auch die Pflicht gehört, sorgfältig zu han- leumdung von „Klejdzi"!) deln, müßte eigentlich selbstverständlich sein. Ih- ren früheren Reden kann man auch entnehmen, Sie, Herr Wörner, werden nun heute von Ihren daß diese Selbstverständlichkeit Ihnen bekannt ist; leeren Reden aus Ihrer glorreichen Oppositionszeit zumindest haben Sie die Forderung an andere ge- erbarmungslos eingeholt. Geradezu höhnisch haben stellt. Oder gilt wirklich auch hier: Was interessiert Sie sich gegenüber unserem damaligen Minister mich mein Geschwätz von gestern? Leber im Zusammenhang mit dem Spionagefall Lutze/Wiegel darüber verbreitet, jeder habe sich Was Ihnen — wie übrigens der gesamten Regie- auf den anderen verlassen: der Verteidigungsmini- rung — fehlt, Herr Wörner, ist die Fähigkeit, Ihre in ster auf den Staatssekretär, der Staatssekretär auf flotten Reden verkündeten hohen Ansprüche auch den Generalinspekteur und dieser auf den MAD. nur ansatzweise in die Tat umzusetzen. Es kann Sie haben damals hinzugefügt — Herr Wörner, hö- nur Kopfschütteln hervorrufen, daß Sie die Ent- ren Sie bitte zu —, Sie haben damals erklärt: Ich scheidung, einen der ranghöchsten Generäle der habe wirklich den Eindruck, daß die Wörter Bundeswehr vorzeitig in Pension zu schicken, auf „Dienstaufsicht" und „Kontrolle" zu den Fremdwör- der Grundlage eines gerade eineinhalb Schreibma- tern im Bereich des Bundesministeriums der Ver- schinenseiten umfassenden Berichts des MAD ge- teidigung gehört haben. troffen haben. Sie haben keinerlei weitere Unterla- gen angefordert. Sie haben das Ehrenwort des Ge- (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Da hat er nerals Dr. Kießling vom Tisch gewischt und eine doch recht!) mit ihm schon getroffene Absprache über eine spä- Das ist der Sicherheit der Bundesrepublik Deutsch- tere Verabschiedung mit militärischen Ehren be- land abträglich. wußt gebrochen. Nun, wenn Sie nicht als Vertreter derjenigen gel- Wir Sozialdemokraten halten es nach unserem ten, die sagen: „Was interessiert mich mein Ge- Verständnis auch für völlig unerträglich, daß ein schwätz von gestern?", dann muß ich Ihnen vorhal- Personalratsmitglied sein Amt dazu mißbraucht, ten: Konsequenzen haben Sie aus derlei Einsichten statt seinen gesetzlichen Aufgaben nachzugehen, nicht gezogen. Gerüchte über einen Bediensteten der Bundeswehr (Beifall bei der SPD) in ehrabschneiderischer Weise zu verbreiten. Daran ist grotesk, daß Sie diese Gerüchte ungeprüft zu Sie haben vielmehr sämtliche Grundsätze der - Dienstaufsicht, der Kontrolle und der sorgfältigen Ihrer Entscheidungsgrundlage gemacht haben. Fra- Personalführung sowie die Prinzipien der Inneren gen Sie doch einen Ihrer Kollegen auf der Regie- Führung dauernd und nachhaltig verletzt. rungsbank, ob sonst noch jemand seine Entschei- dungen derart schlampig vorbereitet, obwohl wir (Beifall bei der SPD) auch ansonsten die Sachkompetenz dort nicht als Nur zu dem, was man von einem Menschen erwar- erfreulich feststellen können! Sollte einer Ihrer Mi- tet, der derartig versagt hat, nämlich den Hut zu nisterkollegen diese Frage mit Ja beantworten, nehmen, sind Sie nicht fähig. Als Bundesminister dann sollte er mit Ihnen gleichzeitig seinen Hut sind Sie nämlich für die Tätigkeit des MAD poli- nehmen, und zwar möglichst unauffällig, um das tisch verantwortlich. Sie aber haben sich in der gan- deutsche Volk nicht mit der beklommenen Erkennt- zen Zeit, in der die Angelegenheit des Generals nis zu erschrecken, wer hier tätig war. Kießling in der Öffentlichkeit diskutiert worden ist, (Zurufe von der CDU/CSU) immer darauf berufen, Sie hätten sich auf Ihren Staatssekretär, den Stellvertreter des Generalin- Nach den Bestimmungen unseres Grundgesetzes spekteurs und auf den MAD verlassen. Mit den ist der Bundesminister in Friedenszeiten Inhaber Fehlern anderer können Sie doch Ihre eigene der Befehls- und Kommandogewalt über die Bun- Schlampigkeit und Schludrigkeit nicht rechtferti deswehr. Wenn ein Bundesminister für sein Amt Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5663

Dr. Klejdzinski Autorität und Vertrauen braucht, dann ist es der den wenigstens annähernd wiedergutmachen kön- Bundesminister der Verteidigung. nen. (Zuruf von der SPD: Mehr als andere!) (Zuruf von der SPD: Da haben Sie recht!) Er ist mehr als jeder andere auf Autorität angewie- So ist ein nicht unerheblicher Rest geblieben, der — sen. Diese Autorität, Herr Wörner, haben Sie durch ich bedaure dies zutiefst — mit allen politischen Ihr Handeln verspielt. Wenn Sie noch eine Spur von und rechtlichen Mitteln, die dafür zu Gebote stehen, Anständigkeit, Verwirklichung von moralischen nicht zu beseitigen, Ansprüchen auch auf Ihre eigene Person beziehen, dann ist es der beste Dienst, den Sie der Bundes- (Zuruf von der SPD: Richtig!) wehr und dem Bündnis erweisen könnten, Ihren sondern nur noch durch die persönliche Kraft des Hut zu nehmen. Betroffenen zu überwinden ist. Diese persönliche Danke. Kraft — ich bitte, das nicht als pathetisch zu emp- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: finden — wünsche ich Herrn Dr. Kießling von die- Lieber heute als morgen! — Weitere Zurufe ser Stelle aus von ganzem Herzen. von der SPD und den GRÜNEN) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr Meine Damen und Herren, an dieser Stelle wäre Abgeordnete Ronneburger. vielleicht noch einmal der Dank fällig, den der Kol- lege Wimmer ausgesprochen hat und der vom Kol- legen Klejdzinski unterstrichen wurde, für die Lei- Ronneburger (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr stung unserer Mitarbeiter, Vorsitzenden usw., aber verehrten Damen und Herren! Die bedauerlichen auch für das Klima, in dem dieser Ausschuß gear- und belastenden Vorfälle um die vorzeitige Entlas- beitet hat, ein Klima, von dem ich allerdings in sung des Generals Dr. Kießling haben uns alle, Ihrer Rede, Herr Dr. Klejdzinski, die Sie soeben Herr Dr. Klejdzinski, wenn auch auf Antrag der gehalten haben, wenig wiedergefunden habe. SPD-Fraktion, trotz aller eher mäßigen Erfahrun- gen mit früheren Untersuchungsausschüssen ver- (Dr. Vogel [SPD]: In der von Herrn anlaßt, gemeinsam mit allen Fraktionen dieses Wimmer!) Hauses einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, Der Untersuchungsausschuß hat sich nach der um erst aufzuklären und dann zu beurteilen, welche Konstituierung überraschend schnell den sachli- Konsequenzen zu ziehen sind. chen Prüfungen der Arbeit von MAD und ASBw Die zunächst auf Grund einer scheinbar lückenlo- gewidmet, nicht durch Mehrheitsbeschluß, um ab- sen Beweiskette von Zeugen und Indizien als zwin- zulenken oder Verantwortlichkeiten zu verschie- gend erscheinende Notwendigkeit zu raschem Han- ben, auch nicht, Herr Dr. Klejdzinski, mit dem Ver- deln hatte schon im Vorfeld immer mehr an Schlüs- such, die Verantwortung allein auf den Staatssekre- sigkeit verloren, und die vermeintlich richtige Re- tär Dr. Hiehle zu legen. Vielmehr ergab sich diese aktion erwies sich als Irrtum. In einer solchen Si- Konzentration auf MAD und ASBw zwangsläufig tuation besteht für den Rechtsstaat die elementare aus den ersten Untersuchungen, die eklatante Verpflichtung, den Irrtum einzugestehen, ihn nicht Mängel bei der Information und Vorbereitung der nur ertragen zu können, sondern den dadurch ange- Entscheidungsgrundlagen für den Minister in der richteten Schaden zu beseitigen oder, wo es geht, Frage aufzeigten, ob General Dr. Kießling nach den ihn wiedergutzumachen. geltenden Bestimmungen ein Sicherheitsrisiko dar- stelle. Am 8. Februar 1984, meine sehr verehrten Kolle- gen, als wir uns hier das letzte Mal mit diesem Bei seinen Untersuchungen ging der Ausschuß Thema im Plenum beschäftigt haben, war die Ent- von zwei zentralen Leitsätzen aus, die zwar nicht scheidung, General Dr. Kießling vorzeitig in den expressis verbis ins Protokoll geschrieben worden Ruhestand zu versetzen, revidiert. sind, die aber dennoch das gesamte Verfahren- be- gleiteten. (Zurufe von der SPD) Dr. Kießling war rehabilitiert; aber Rehabilitierung Erstens. Die Frage, ob ein Sicherheitsrisiko be- ist schneller gesagt als getan. standen hat oder nicht, muß ex ante dem Erkennt- nisstand und den Beurteilungsmöglichkeiten in je- (Zuruf von der SPD: Aha!) ner damaligen Lage — das ist im übrigen wohl Ehre und Ansehen in einer Öffentlichkeit vollstän- unbestrittene Rechtssprechung — entnommen wer- dig wiederherzustellen, in der die erste Meldung den. Schlagzeilen macht, die zweite aber kaum mehr be- Zweitens. Der Grundgedanke, der für das ge- achtet wird, ist fast unmöglich. Wir haben uns von samte Recht gilt — denn wir müssen doch wohl von meiner Fraktion her weder an Indiskretionen noch der Einheit der Rechtsordnung ausgehen —, ist das an Vorverurteilungen, gegenüber wem auch immer, Prinzip der Güterabwägung, eine besondere Aus- beteiligt. Wäre diese Haltung durchgehend bei allen prägung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit. Mitgliedern der Fraktionen dieses Hauses und der Beteiligten auf der Hardthöhe durchgehalten wor- Während der Detailarbeit des Ausschusses sind den, dann hätte die Rehabilitierung des Generals diese Leitsätze nicht in Frage gestellt gewesen. Die Dr. Kießling den angerichteten persönlichen Scha einmütig verabschiedeten Teile der Beweisauf- 5664 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Ronneburger nahme des Untersuchungsausschusses weisen das Organisation durch die Organisation selbst ver- eindeutig aus. stellt, das Durchschauen des Ergebnisses der Arbeit Herr Dr. Klejdzinski, Sie haben eine — wie ich aller beteiligten Instanzen am Ende des Vorgangs meine, die zentrale — Feststellung des Berichts nur schon gar nicht mehr möglich. teilweise zitiert. Ich möchte es deswegen an dieser Die jeweils folgende Bearbeitung muß sich Stelle noch einmal vollständig tun. Es heißt dort: zwangsläufig auf die Zuverlässigkeit der Arbeit im Aufgrund der Ergebnisse der Beweisaufnahme vorangegangenen Bereich stützen. Jede der mit im Untersuchungsausschuß steht fest, daß die demselben Vorgang befaßten Personen ist darauf Entscheidung des Bundesministers der Vertei- angewiesen. Am Ende der Bearbeitung aber wird digung vom 8. Dezember 1983, beim Bundesprä- das Ergebnis als geprüft und stichhaltig unterstellt sidenten zu beantragen, General Dr. Kießling und verwandt, und zwar in jeder Instanz des Ver- zum 31. Dezember 1983 gemäß § 50 des Solda- fahrens. Je mehr Einzelzuständigkeiten ein Vor- tengesetzes in den einstweiligen Ruhestand zu gang durchlaufen muß, desto größer wird die Ge- versetzen, fahr, daß zunächst harmlose Belanglosigkeiten zu — hier setzt Ihr Zitat erst ein — eklatanten Fehlern werden. Das ist nicht einmal den beteiligten Personen vorzuwerfen. Vielmehr ist auf falschen Angaben und Informationen ba- es ein fast zwangsläufiges Ergebnis einer solchen sierte, die in — vorschriftswidriger Weise ge- Organisationsstruktur. wonnen, — ich betone es noch einmal — Wenn, wie wir bei den Untersuchungen des Aus- schusses selber festgestellt haben, zu viele Instan- — fehlerhaft bearbeitet, zen durchlaufen werden müssen — die Höcherl — mangelhaft bewertet und Kommission kommt bei ihren Recherchen auf Vor- — unrichtig dargestellt worden sind. gänge, die durch sage und schreibe 18 zuständige

Stellen laufen mußten — , Wir sollten uns dies als das Ergebnis unserer Unter- suchungen noch einmal vor Augen führen. (Zuruf von der SPD: Richtig!) (Sehr richtig! bei der SPD) dann ist angesichts der regelmäßig dürftigen Infor- In Ihrer Würdigung der Ergebnisse im Bericht, mationslage bei solchen Vorgängen schon eher mit aber auch heute in Ihrer Rede, Herr Kollege falschen als mit richtigen Ergebnissen zu rechnen. Dr. Klejdzinski, versucht die SPD-Fraktion jedoch, wie ich meine, aus taktischem Kalkül, die bereits (Zuruf von der SPD: Und die Konse vor Beginn des Ausschusses vorgenommene Verur- quenz?) teilung des Bundesverteidigungsministers allein im nachhinein zu rechtfertigen, als ob es die Arbeit des — Ich komme j a darauf. Seien Sie bitte nicht so Untersuchungsausschusses überhaupt nicht gege- ungeduldig, verehrter Herr Kollege! ben hätte. Hier hat die SPD-Mitglieder des Aus- schusses jetzt wohl wieder der oppositionelle Frak- Die FDP hat aus dieser Erkenntnis Schlußfolge- tionszwang eingeholt. rungen gezogen, die sowohl von unserem Koali- (Beifall bei der FDP — Zuruf von der SPD: tionspartner wie schließlich auch von der SPD Kommen Sie doch mal zur Konsequenz! — Fraktion mitgetragen worden sind. Wir haben Kon- Weitere Zurufe von der SPD) sequenzen daraus gezogen, daß sich gerade bei der Arbeit der Geheimdienste, von der der Betroffene, Bei der fairen und sachlichen Arbeit im Ausschuß wenn überhaupt, erst nach negativem Abschluß — ich sage es hier noch einmal ausdrücklich — sind Kenntnis erhält und sich dann der Übermacht eines wir auf dasselbe Phänomen hinsichtlich des MAD ganzen Apparates gegenübersieht, die Forderung und des ASBw gestoßen, das wir bei ähnlichen An- nach Schutz dieses einzelnen vor Übergriffen lässen bei anderen Nachrichtendiensten oder ande- grundsätzlich stellt. ren Behörden vorgefunden haben: auf eigentümli- - che Wesenszüge der Bürokratie. Die Forderungen der FDP-Fraktion für die Zu- (Zurufe von der SPD) kunft verlangen daher ein MAD-Gesetz, das die Aufgaben, Zuständigkeiten, Möglichkeiten und — Lassen Sie mich doch auch einmal reden; Ihre Grenzen auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit Fraktion hat zur Darstellung ihrer Meinung mehr des MAD mit anderen Behörden klar definiert. Wir Redezeit als ich. verlangen Regelungen und Begrenzungen der Wir haben feststellen müssen, daß sich Bürokra- Amtshilfe, eine parlamentarische Kontrolle des tie in einer ungesteuerten Eigendynamik entwik- MAD, die sich nicht auf das bisher praktizierte Ver- kelt, in einem System der Verantwortlichkeiten für fahren mit der Parlamentarischen Kontrollkommis- kleinste Zuständigkeitsbereiche, einem System, das sion beschränkt, sondern die eine Prüfung durch fast zwangsläufig dazu führt, daß mangelnde Klar- den Wehrbeauftragten vorsieht, um dem einzelnen, heit, Nachlässigkeiten, Fehlinterpretationen und der allein einer ganzen Maschinerie gegenüber- Fehler bei der Bearbeitung zu einem Ergebnis ku- steht, den notwendigen Schutz seiner Persönlich- mulieren können, wie es hier dem Minister als Ent- keitsrechte zu gewährleisten. Wir fordern die Neu- scheidungsgrundlage vorgelegt worden ist. Eine Ge- fassung der Sicherheitsrichtlinien dahin gehend, samtsicht ist dem jeweiligen Sachbearbeiter in der daß sie nicht Minderheiten diskriminieren oder gar Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5665 Ronneburger durch die Kodifizierung selbst potentielle Erpreß- Noch ein Wort zum Verteidigungsminister. Wal- barkeit schaffen. ter Henkels, einer der Seniorjournalisten in Bonn, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — hat in seinem Buch „Bonner Köpfe" 1981 über Dr. Wörner Zuruf von der SPD: Sie sitzen doch in der Regierung!) (Pfuhl [SPD]: 1981!) — Herr Kollege, wie ich meine Rede anlege, ist — 1981, j a, ja, Sie haben richtig gehört — u. a. wohl meine Sache, genauso wie Sie reden können, geschrieben — ich zitiere wörtlich — es klingt et- wie Sie wollen. was gespreizt, aber er sagt es treffend —: In diesem Zusammenhang ist allerdings anzu- Politik liegt bei mir zwischen Leidenschaft und merken, daß eine Änderung der Richtlinien allein Hobby. Und zögernd, aber freimütig: Vielleicht natürlich zur Lösung des damit angesprochenen werde ich mal ein Staatsmann. Noch bin ich es Problems nicht ausreichend ist. Hier müssen auch nicht. für die anderen einschlägigen Rechtsbereiche Kon- Und weiter sagt Walter Henkels: sequenzen gezogen werden, um eine Diffamierung von Minderheiten in Zukunft zu verhindern. Der Beobachter denkt und möchte es ihm gerne sagen; denn Wörner ist eine sympathi- (Beifall bei der FDP) sche Figur: Der Abschirmdienst soll nicht Nebengleis der (Dr. Klejdzinski [SPD]: Aber nur das!) Verwendung im Truppendienst sein. Gerade ein sol- cher Dienst im hochsensiblen Sicherheitsbereich Hoffentlich macht er nicht mal eine Bauchlan- braucht qualifiziertes, bewährtes Personal, das auf dung. Grund seines jeweiligen bisherigen beruflichen (Jungmann [SPD]: Er hat sie gemacht!) Werdegangs ausgeprägtes rechtsstaatliches Be- wußtsein erwarten läßt. Offensichtlich waren die Bedenken, die Walter Hen- kels 1981 väterlich, fürsorglich formulierte, nicht Organisation, Dienst- und Informationswege unbegründet, wenn auch vielleicht in einem ande- müssen klar gestrafft sein. Wir haben daher eine ren Sinne, als Walter Henkels es gemeint hatte. unmittelbare Zuordnung der Führung des MAD zur politischen Leitung der Hardthöhe vorgeschla- Das Amt, das Manfred Wörner schon damals an- gen. Und schließlich sollen nach unserem Vorschlag strebte, war zu keiner Zeit — und das gilt auch für durch eine entsprechende Änderung des § 88 der die sozialdemokratischen Vorgänger in diesem Amt — ein leichtes Amt. Wehrdisziplinarordnung die Rechte des einzelnen vor Übergriffen der prüfenden Behörde geschützt (Sehr richtig! bei der SPD) werden. — Lassen Sie mich diesen Teil im Augen- Die Erfüllung der Aufgaben des Bundesverteidi- blick auf diese wenigen Bemerkungen beschrän- gungsministers ist nicht leichter geworden, im Ge- ken. genteil. Aber gestatten Sie mir noch ein Wort zu dem (Pfuhl [SPD]: Richtig!) Minderheiten-Bericht der Fraktion DIE GRÜNEN. Wer möchte, meine Damen und Herren, eigentlich Die Zukunft verlangt die Lösung schwieriger Pro- nicht der Forderung zustimmen: MAD abschaffen? bleme, von denen ich hier beispielhaft nur die Per- Wer möchte eigentlich nicht noch viel weitergehen- sonal- und Strukturprobleme nennen will. Die Lö- den Forderungen zustimmen? Aber die Welt, in der sung dieser Probleme bedarf der Solidarität des diese Forderungen erfüllt werden können, muß ganzen Hauses. Für die FDP-Fraktion, Herr Bun- wohl erst noch geschaffen werden. Diese Welt, in desverteidigungsminister, kann ich Ihnen diese So- der wir gemeinsam leben, ist leider darauf angewie- lidarität für die zukünftige wie für die bisherige sen, dem Rechnung zu tragen, was es auf ihr gibt. Zusammenarbeit zusichern. (Beifall bei der FDP — Pfuhl [SPD]: Bruch (Frau Nickels [GRÜNE]: Das kann man - aber ändern!) piloten!) Und Sie ist nicht — ich betone das nachdrück- Für die unterlaufenen Fehler, auch die in seinem lich —, leider nicht jene Welt, auch durch Ihr Mit- Verantwortungsbereich, hat der Verteidigungsmini- wirken noch nicht, verehrte Frau Kollegin, die nur ster die politische Verantwortung übernommen und friedliches Miteinander zum Wohl aller kennt, son- darauf mit einem Rücktrittsgesuch reagiert, dern vielmehr eine Welt, die immer noch darauf (Pfuhl [SPD]: Zurücktreten muß er!) angewiesen ist, daß für den Schutz unserer freiheit- lichen Gesellschaftsordnung gesorgt wird. Der Min- das vom Bundeskanzler nicht angenommen, aber derheiten-Bericht der GRÜNEN ist die schriftliche mit den Worten kommentiert worden ist: Abmeldung aus der Verantwortung zum Erhalt un- General Dr. Kießling hat bittere Wochen durch- serer, zugegeben mit Mängeln behafteten und doch machen müssen. Aber auch für Manfred Wör- schützens- und verteidigungswerten freiheitlichen ner war dies eine Zeit, an die er sicherlich noch Gesellschaftsordnung. lange in seinem Leben zurückdenken wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Für uns bleiben am heutigen Tage die Konse- Frau Nickels [GRÜNE]: Was war denn die quenzen wichtig, die treffend in der „Zeit" vom Wörner-Affäre?) 15. Juni 1984 formuliert wurden: 5666 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Ronneburger Nahezu alles ist beim Abschirmdienst zur Kor- nössischen Affäre Wörner/Kießling nicht zu weit rektur empfohlen, seine Organisation und Per- treiben, obwohl es auffällige Berührungspunkte sonalpolitik, Vorschriften und Kontrollmecha- gibt. In beiden Fällen handeln Machtapparate ge- nismen. Über so eindeutige Ergebnisse und Ur- gen einen einzelnen aus ihrer Mitte. In beiden Fäl- teile wird niemand hinweggehen können. len versteifen sich Macht- und Staatsräson beden- Das ist der Auftrag aus dem Ergebnis des Unter- kenlos darauf, einen uniformierten Bürger um ele- suchungsausschusses. Als Konsequenz aus dem mentare Rechte zu bringen. In beiden Fällen wird parallel erarbeiteten Gutachten der Höcherl-Kom- beiläufig eine Minderheit in Verruf gebracht. In der mission hat der Verteidigungsminister mit Maß- Französischen Republik — als der Fall zwischen nahmen in seinem Bereich begonnen. Die parla- 1897 und 1899 schwelte — waren das die jüdischen mentarischen Aufgaben, meine Kolleginnen und Mitbürger, denn Dreyfus war Jude; in der Bundes- Kollegen, müssen wir erfüllen. republik Deutschland von 1984 waren es die gleich- geschlechtlich liebenden Mitmenschen. In beiden Ich danke Ihnen. Fällen bilden übersteigerte Feindbilder und Sicher- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — heitsneurosen von sogenannten Frontstaaten den Pfuhl [SPD]: Ihn abtreten lassen!) Nährboden für behördliche Aktionen, die geeignet sind, das Individuum zu zerbrechen. In beiden Fäl- Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr len aber werden auch Gegenkräfte mobilisiert, die, Abgeordnete Vogt (Kaiserslautern). gegen erhebliche Widerstände kämpfend, in quälen- den Verfahren zur Rehabilitierung des Geschädig- ten beitragen. Dreyfus wurde der Orden der Ehren- Vogt (Kaiserslautern) (GRÜNE): Meine sehr ver- legion gegeben, Kießling bekam immerhin seinen ehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Liebe Zapfenstreich. Kolleginnen und Kollegen, insbesondere natürlich Herr Ronneburger! Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie Und dennoch: Trotz all dieser Berührungspunkte einen Teil unseres Minderheitenberichtes hier be- und Parallelen gibt es einen Unterschied in der po- kanntgemacht haben. Sie schulden uns natürlich litischen Kultur der beiden Vorgänge. In dem noch den Vortrag unserer Begründung. Ich werde Ringen um den Fall Dreyfus standen sich wie der dies, wenn ich noch Zeit habe, gern nachholen. Dreyfus-Gegner Graf de Vogüe später formuliert Zunächst einmal möchte ich Sie aber fragen, hat, die edelsten Geister mit einer für beide Seiten liebe Kolleginnen und Kollegen, was Sie von folgen- gleichermaßen geltenden Aufrichtigkeit und Größe dem Zitat halten: der Emotionen gegenüber. In der Affäre Wörner versus Kießling des Jahres 1983/84 haben wir es Als Mensch war er bei seinen Offizierskamera- demgegenüber mit einem Schmierenstück zu tun, den nicht sonderlich beliebt. Steif, schweig- das in seiner teutonischen Dumpfheit kaum zu sam ... und beinahe unnatürlich korrekt; übertreffen ist. Deshalb habe ich meinen Beitrag ... seine übertriebene Korrektheit im Dienst auch so genannt: „J'accuse" als teutonische Farce war höheren Ortes bereits unangenehm aufge- 1984. Hier paaren sich Voyeurismus, Geltungs- fallen. Diese Charaktereigenschaften ließen ihn drang, Geschwätzigkeit und Karrieresucht soge- im Augenblick, als der Verdacht auf ihn fiel, nannter Untergebener mit dem verbissenen Macht- sogleich in einem ungünstigen Licht erschei- erhaltungstrieb des Mannes an der Spitze des Ver- nen ... Seine Schuld wurde augenblicklich als teidigungsministeriums. sicher angenommen. Da sich weder ein Motiv noch materielle Beweise fanden, schlossen die Lassen Sie mich den Vergleich mit dem Satz ei- mit der Untersuchung beauftragten Offizie- nes Klassikers aus dem 19. Jahrhundert beenden, re ... diese Lücke, indem sie geeignetes Bela- nämlich mit dem berühmten Satz aus „Der 18. Bru- stungsmaterial konstruierten und fabrizier- maire des Louis Bonaparte" aus dem Jahr 1869, der ten ... an eine Bemerkung Hegels anknüft, daß alle welt- geschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozu- (Zuruf von der SPD: Dreyfus!) sagen zweimal ereignen. Aber dann sagt der Autor: Das Dossier, das sie zusammentrugen, ... war „Er hat vergessen hinzuzufügen, das eine- Mal als so überzeugend, daß die Mitglieder des Gene- Tragödie, das andere Mal als Farce ..." ralstabes keinen Augenblick an der Schuld ... (Beifall bei den GRÜNEN) — j a, von wem? — zweifelten. Wir hatten es mit der Farce zu tun, Meine Damen und Herren, das ist ein Zitat der (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) US-amerikanischen Historikerin Barbara Tuch und es ist uns schwergefallen, ihr beizuwohnen. Die man. Sie hat hier mit wenigen Strichen dargestellt, 95 Stunden im Untersuchungsausschuß, weitere was der Auslöser eines dramatischen Ringens am zwölf Stunden im Interfraktionellen Gremium, un- Ende des letzten Jahrhunderts in Frankreich, be- gezählte Stunden des Aktenstudiums — all dies war kanntgeworden als die Dreyfus-Affäre, war. Aus Zeit, die für dringlichere Aufgaben fehlte. Man be- der SPD-Fraktion habe ich den Namen eben schon denke, daß diese Affäre und der Untersuchungsaus- mehrfach gehört. Literarisch verewigt wurde diese schuß das erste größere Ereignis im Verteidigungs- Affäre durch das „J'accuse" von Emile Zola. bereich nach dem Herbst 1982, nach der Raketen- Ich möchte den Vergleich zwischen dem klassi- stationierung war, nach einer militärischen Maß- schen und epochalen Fall Dreyfus und der zeitge nahme, die in ganz elementarem Sinne die Überle- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5667

Vogt (Kaiserslautern) benssicherheit der Menschen erschüttert hat. Die Kießling schon kurz nach Dienstantritt von Dr. leidenschaftliche Diskussion um diese Schicksals- Kießling so wenig konstruktiv gestaltete? frage der Gattung Mensch Zweitens. Ist es richtig, daß General Dr. Kießling (Zuruf von der CDU/CSU) gegenüber der Anlage des Manövers „Reforger '82", in dem erstmals das integrierte konventionelle, che- — Herr Kollege, auch Ihre Schicksalsfrage —, die mische und atomare Gefechtsfeld nach Air Land mit dazu beigetragen hat, daß DIE GRÜNEN als Battle erprobt wurde, erhebliche Bedenken geäu- neue Kraft in den Bundestag gekommen sind, ßert hat? wurde abgelöst von einer ganz anderen Debatte um Drittens. Welche Ergebnisse hatte die von Gene- Sicherheit, von der Frage nämlich, ob und inwieweit ral Dr. Kießling geleitete NATO-interne Arbeits- ein möglicherweise zu gleichgeschlechtlicher Liebe gruppe zur weiteren konventionellen Aufrüstung in neigender General die Sicherheit der Verteidigung den 90er Jahren, und ist es richtig, daß diese Ergeb- durch Bundeswehr und NATO gefährde. Monate- nisse jedenfalls zum Teil den Auffassungen von Ge- lang ist die Öffentlichkeit in monströser Weise von neral Rogers widersprachen? den Fragen nach Krieg und Frieden abgelenkt wor- den, die im Herbst und im Vorherbst 1983 aufgewor- Viertens. Wenn es richtig ist, daß der CIA in dem fen worden waren. schäbigen Spiel nicht mitgemischt hat, hat nicht etwa an seiner Stelle der NATO-eigene Geheim- (Beifall bei den GRÜNEN) dienst CI kräftig mit dazu beigetragen, eine Gerüch- Man stelle sich einmal vor, der Verteidigungsaus- teküche aufzubauen, in der der Fall Kießling ange- schuß oder der Unterausschuß des Deutschen Bun- rührt worden ist? destages für Abrüstung und Rüstungskontrolle hät- Hätte der Untersuchungsausschuß seine parla- ten sich mit gleicher Akribie und ähnlichem appa- mentarische Kontrollfunktion wirklich umfassend rativen Aufwand mit der Untersuchung der Risiken und politisch in Angriff genommen, dann hätte er und Folgen der neuen Rüstungsrunde befaßt! diesen Fragen nachgehen müssen. (Beifall bei den GRÜNEN) (Beifall bei den GRÜNEN — Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Die hätten Sie alle Vielleicht hätten wir dann von diesem Hause aus stellen können, aber Sie waren nicht da!) Hinweise zu rettenden Auswegen geben können. Aber dieser Untersuchungsausschuß — ich bedaure Das Hearing des Verteidigungsausschusses über das sagen zu müssen — war in wesentlichen Berei- Alternative Verteidigungsstrategien, das bei gutem chen ein Tabuisierungsausschuß. Damit hat er An- Willen in diesem Sinne hätte verstanden werden teil an der Farce, von der schon die Rede war. können, konnte vom Verteidigungsausschuß bisher nicht ausgewertet werden — das macht zur Zeit freundlicherweise der Wissenschaftliche Dienst —; Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter, ge- denn der Verteidigungsausschuß war als Untersu- statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord- chungsausschuß vollauf mit der Affäre Wörner/ neten Biehle? Kießling beschäftigt. Als Untersuchungsausschuß waren wir auch gefordert, die Würde und die Ehre Vogt (Kaiserslautern) (GRÜNE): Aber gern. eines Generals zu retten, der durch eine kranke Hierarchie in Bedrängnis gebracht worden ist. Biehle (CDU/CSU): Herr Kollege Vogt, würden Sie mir nicht beipflichten, daß die Beweisbeschlüsse Wir werden noch zu klären haben — und ich hof- des Untersuchungsausschusses weitestgehend ge- fe, die Journalisten, die geholfen haben, den Gene- meinsam und einstimmig gefaßt worden sind und ral zu rehabilitieren, verlieren nicht ihren Spür- daß Sie für Ihre Fraktion in den eben angeschnitte- sinn —, inwieweit die Existenzfragen des Herbst nen Fragen niemals einen Antrag für den Beweis- 1983 mit dem Bürgerrechtsfall Dr. Kießling verwo- beschluß gestellt haben und daß darüber hinaus ben sind. ausdrücklich festgestellt worden ist, daß der NATO Im „Spiegel" dieser Woche wird für die bevorste- Bereich in die Untersuchung nicht einbezogen- henden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsver- wird? fahren folgendes in Aussicht gestellt: (Kaiserslautern) (GRÜNE): Herr Kollege Dabei können die Ermittler dann erfahren, daß Vogt Biehle, das ist genau der Grund, den ich kritisiere. der General Kießling nicht nur Schlampereien Ich muß Ihnen als Vorsitzendem natürlich das beim MAD, sondern auch einer Intrige zwi- Kompliment machen, daß Sie geradezu eifersüchtig schen der NATO-Führung in Brüssel und der darüber gewacht haben, daß diese Begrenzungen, Spitze des Bonner Verteidigungsministeriums zum Opfer fiel. die ich hier kritisiere, eingehalten worden sind. (Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Sie hätten Wir müssen uns in diesem Zusammenhang Fra- andere Anträge stellen können!) gen stellen, die der Untersuchungsausschuß nicht klären konnte, die seine NATO- und Bundeswehr- — Seien Sie so nett, da ich nur begrenzt Zeit habe, treue Mehrheit aber auch nicht klären wollte: daß ich hier weiterfahren kann. Nehmen Sie doch zur Kenntnis — es war unser erster Untersu- Erstens. Welche militärpolitischen Meinungsun- chungsausschuß —, daß wir im Laufe der Zeit eini- terschiede waren es, die dazu führten, daß sich das ges dazugelernt haben, vielleicht auch selbstkri- Verhältnis zwischen den Generälen Rogers und tisch. 5668 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Vogt (Kaiserslautern) Bedenken Sie folgendes: Auslöser der Affäre und gehabt haben wie die Einfügung des Zusatzes „Lan- der Untersuchung war die Verdächtigung eines bei deskriminalamt" in dem Abschlußbericht des MAD, der NATO beschäftigten Bundeswehrgenerals, er wofür dann der General Behrendt gefeuert worden folge einer Neigung zur gleichgeschlechtlichen Se- ist. General Dr. Kießling hat bei seiner Verneh- xualität und sei deshalb ein Sicherheitsrisiko. Es mung bekundet, für ihn sei eine solche Äußerung wird dann ein parlamentarischer Untersuchungs- „unvorstellbar". ausschuß eingesetzt, der zunächst einmal be- schließt, alles, was auch nur im entferntesten mit Nun, meine Damen und Herren, dieser Wider- spruch blieb also aus Gründen der Staatsraison im NATO zu tun hat — wie es heißt: mit Rücksicht auf Untersuchungsausschuß unaufgeklärt. Und das das Bündnis —, aus der Untersuchung herauszuhal- ten. Dann wird unter Rücksichtnahme auf das, wie führt dazu, daß Zweifel an den Aussagen beider es heißt, Rehabilitierungsinteresse des Generals Zeugen bestehenbleiben — was, nebenbei bemerkt, verfügt, den ganzen Komplex der gleichgeschlecht- ein unfreundlicher Akt gegenüber dem Hauptge- lichen Liebe möglichst auszuklammern. Das gibt schädigten war, zu dessen rückstandsfreier Rehabi- litierung wir doch eigentlich beitragen wollten. natürlich keinen Sinn, wenn man dem Ehrenwort des Generals glaubt, er habe eine solche sexuelle (Beifall bei den GRÜNEN) Orientierung nie gehabt. Die Ausklammerung die- ses Bereichs kann doch nur schädlich sein für das Bei aller Anerkennung, die den Journalisten und Rehabilitierungsinteresse des Generals, wie sie den Medien insgesamt im übrigen gebührt, haben auch gefährlich ist für die ganze diskriminierte die Medien auch an diesem Punkt ihrer kritischen Minderheit gleichgeschlechtlich Liebender, denen Funktion nicht Genüge getan; denn der Vorgang wurde bis heute nicht inhaltlich, sondern allenfalls eine Tabuisierung nicht recht sein kann, weil sie die weit verbreitete Verkrampfung in bezug auf unter- äußerlich gewürdigt, und zwar, nachdem ich darauf- schiedliche sexuelle Orientierungen verstärkt. hin drei Sitzungen unter Protest fernblieb. Es wurde aber nicht transportiert, wogegen ich mit die- (Beifall bei den GRÜNEN) ser Protestaktion demonstrieren wollte. Ich will of- Doch damit nicht genug. Bei der ersten Unge- fenlassen, ob auch die Medien ein Faktor sind, die reimtheit von Aussagen aus dem Bereich der Bun- Staatsräson gegenüber der Bundeswehr hochzuhal- deswehrführung wird auch noch — wie es hieß und ten, oder ob es lediglich daran liegt, daß solche Ge- wie auch leider der Kollege Erwin Horn von der sten der Verweigerung aus gewaltfreiem Geist hier- SPD sagte — verfügt, diesen Widerspruch nicht auf- zulande nicht verstanden werden. Das ist auch sehr zuklären. Plötzlich werden die Spielregeln von schwierig, manchmal auch bei uns in der Fraktion. CDU/CSU, SPD und FDP gemeinsam neu definiert. Denken wir alle diese Beschränkungen streng zu Auf Seite 12 der Drucksache liest sich das so: Ende — also NATO-Bezüge bleiben außen vor, Ho- Der Untersuchungsausschuß entschied sich in mosexualität wird ausgeklammert, Widersprüche seiner Sitzung am 15. März 1984 mit den Stim- bei der Bundeswehrführung werden aus Staatsrä- men der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und son ausgespart —, dann führt das zu einer Reduzie- FDP, daß grundsätzlich Beweise durch den Un- rung des Untersuchungsgegenstandes auf Null. Die tersuchungsausschuß nur dann zu erheben Hartnäckigkeit, mit der im Verlauf des Untersu- sind, wenn sie von einem Viertel der Ausschuß- chungsprozesses von den anderen Fraktionen das mitglieder beantragt werden. Der Ausschuß Problem der gleichgeschlechtlichen Liebe ausge- stützte diese Auffassung auf die Regelung .. . klammert wurde, obwohl es als Tatbestandsmerk- und die IPA-Regeln. mal in den Sicherheitsrichtlinien betrachtet wird, Veranlassung für diese Entscheidung war ein forderte den GRÜNEN im Interesse dieser gesell- Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN vom schaftlichen Minderheit ab, hier gegenzusteuern 14. März 1984 auf nochmalige Einvernahme von (Dr. Klejdzinski [SPD]: Was Sie sagen, ist Zeugen. Dieser Antrag wurde aus den oben an- doch gar nicht wahr!) gegebenen Gründen als unzulässig zurückge- wiesen. und wenigstens auf eine Anpassung der Sicher- heitsrichtlinien an das im Zivilleben bereits er- Ich meine: eine phantastische Verdrängungslei- reichte Toleranzniveau zu drängen, obwohl es da- stung der Sachverhaltskonstrukteure. Kompliment! mit j a auch nicht so berühmt ist. Denn die beiden Zeugen waren keine Geringeren als der Generalinspekteur der Bundeswehr, Alten- (Beifall bei den GRÜNEN) burg, und Dr. Kießling selbst. Der Zeuge Altenburg Nach den Sicherheitsbestimmungen der Bundes- hatte auf meine Frage im Ausschuß seine frühere regierung vom 15. Februar 1971 gehört zu den soge- Äußerung bekräftigt, wonach Dr. Kießling ihm ge- nannten Sicherheitsrisiken, die in der Person des genüber am 15. September 1983 sinngemäß erklärt Betroffenen liegen, auch die sogenannte „abnorme habe: Ich habe einmal in einer persönlich schwieri- Veranlagung auf sexuellem Gebiet". Die Auswer- gen Lage etwas zugegeben und werde diesen Fehler tung der Antworten auf meine Fragen im Untersu- nie wieder machen. chungsausschuß hat ergeben, daß die Maßstäbe im Die Weitergabe dieser angeblichen Äußerung an MAD und bei den Führungspersönlichkeiten der den Minister war objektiv geeignet, bei ihm, dem Bundeswehr mehr als schwankend sind, was die Minister, Zweifel an der Richtigkeit der sogenann- Ausfüllung dieses Tatbestandsmerkmals angeht. ten MAD-Ermittlungen erst gar nicht aufkommen Auch die Höcherl-Kommission hat das in allgemei- zu lassen. Sie kann somit eine ähnliche Wirkung ner Form bestätigt, indem sie ausführt: „Von den Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5669

Vogt (Kaiserslautern) MAD-Gruppen werden unterschiedliche Maßstäbe nachgedacht. Die anzuwendenden Verfahrensnor- für Erteilung bzw. Versagung von Sicherheitsbe- men bzw. mehr oder weniger verbindlichen Rege- scheiden angewendet." Für die, die das nicht wis- lungen zeigen immer wieder, daß wir für Untersu- sen: Das ist ruinös für die Karriere eines solchen chungsausschüsse eine klarere Verfahrensgrund- Soldaten. lage brauchen. Das hat sich auch in diesem Unter- Es hat sich gezeigt, daß ein Teil der Amtsträger suchungsausschuß immer wieder gezeigt. Seine im MAD und der Bundeswehr dazu neigt, jede ho- Mitglieder traten in den Rollen als Staatsanwalt, mosexuelle Orientierung von vornherein unter das Verteidiger und Richter auf, jeweils in einer Person. Tatbestandsmerkmal „abnorme Veranlagung auf In früheren Untersuchungsausschüssen kamen sie sexuellem Gebiet" zu subsumieren. Das ist natür- sogar als Zeugen in Betracht. Das ist meines Erach- lich ein unhaltbarer Zustand. Weil diese mißbräuch- tens kein gutes Verfahren und führt nicht immer zu liche Auslegung vorherrscht, fordern wir, daß dieses objektiven Ergebnissen. Merkmal in den Sicherheitsrichtlinien gestrichen Es war auch so, daß sich Zeugen — und wir hat- wird. ten nur Zeugen in diesem Untersuchungsausschuß (Beifall bei den GRÜNEN) — oft als Angeklagte fühlen mußten, ohne daß sie Ich meine auch, von der Führung der Bundeswehr die Rechte hatten, die Angeklagte haben. ist nicht zu erwarten — der Generalinspekteur Al- Die Möglichkeit, daß sich der Verteidigungsaus - tenburg hat sich leider für unzuständig erklärt, als schuß auf Grund unserer Verfassung als Untersu- er gefragt worden ist —, daß hier Abhilfe geschaf- chungsausschuß konstituiert, wurde 1956 in der fen wird. Die Bundeswehr muß ihrem Informations- Wehrverfassung eingeführt. Diese Regelung wurde auftrag dahin gehend nachkommen, daß die gleich- damals als Kern der parlamentarischen Kontrolle geschlechtliche Liebe unter Erwachsenen seit eini- über die Armee bezeichnet. Es mag damals sicher- gen Jahren nicht mehr strafbar ist und also auch lich mitgespielt haben, daß man mit früheren Ar- nicht als Sanktion gegen aufstiegsorientierte Solda- meen in Deutschland schlechte Erfahrungen ge- ten benutzt werden kann. macht hat und daß es ein verbreitetes Mißtrauen Ich komme aber noch zum ärgerlichsten und ab- gegen Militär gab. Subjektiv verständlich! Aber, schließenden Teil. meine Damen und Herren, heute nach nahezu 20 Jahren eigener Tradition und eines gewonnenen Vizepräsident Frau Renger: Verehrter Herr Kolle- Selbstverständnisses dieser Armee, dieser Bundes- ge, Sie kommen zum letzten Satz. wehr, glaube ich, müssen wir hier umdenken. Zu- mindest darf nicht der Eindruck entstehen, daß der Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß Vogt (Kaiserslautern) (GRÜNE): Ich komme tat- sächlich zum letzten Takt. Ich kann es auch kurz kraft Grundgesetzes sozusagen das konstitutionali- zusammenfassen, und ich darf Sie bitten, das im sierte Mißtrauen gegen unsere Bundeswehr ist und Bericht genauer nachzulesen. so verstanden wird. Herr Wörner, von einem bestimmten Punkt an (Zuruf von der SPD: Das will auch nie sind Sie nicht mehr Teil der Lösung des Problems mand!) gewesen, sondern Teil des Problems geworden. — Warten Sie nur! — Dieses Instrument muß daher An den Bundeskanzler möchte ich appellieren: sehr behutsam angewendet werden. Es darf nicht Lassen Sie nicht zu, daß der Minderheit, von der ich der Drohknüppel gegen die Bundeswehr sein. gesprochen habe, das Leben vergällt wird! Und las- Es ist besonders dann behutsam zu gebrauchen, sen Sie es nicht zu, Herr Bundeskanzler, daß dieser wenn nicht Sachfragen, sondern Personen im Vor- Bundesverteidigungsminister noch schlimmeren dergrund stehen; dies um so mehr weil, wie gesagt, Schaden anrichtet! Entlassen Sie diesen Bundes- die Rolle von Zeugen leicht in die von Angeklagten verteidigungsminister! hinüberwechselt, ohne daß ihre Rechte als Ange- (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord klagte gewahrt sind. Besonders mißlich wird es neten der SPD) dann, wenn die Untersuchung im Zusammenhang- mit Personen steht, gegen die sich die Untersu- Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Ab- chung nicht richtet, die aber gleichsam als Wurfge- geordnete Dr. Wittmann. schoß gegen die Bundesregierung oder einen Mini- ster benutzt werden sollen. In dieser Rolle mußte Dr. Wittmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! sich meines Erachtens in diesem Untersuchungs- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestat- ausschuß leider manchmal General a. D. Dr. Kieß- ten Sie mir eine kurze Vorbemerkung zu dem ling sehen. Ich wage sehr zu bezweifeln, ob wir dem Thema Untersuchungsausschüsse generell und ins- General in der Form der Untersuchung, aber auch besondere zu dem Verteidigungsausschuß hinsicht- in den Reden, die heute schon gehalten worden lich seiner verfassungsrechtlich vorgesehenen Mög- sind, einen guten Dienst erwiesen haben; denn lichkeit, als Untersuchungsausschuß tätig zu wer- manches Persönliche wurde unnötig hinterfragt den. und hat auch im Untersuchungsbericht ebenso wie Nicht ohne Grund haben in den 70er Jahren alle in den Reden soeben Niederschlag gefunden, ob- Fraktionen dieses Hauses in einer Enquete-Kom- wohl wir es anders vereinbart hatten. mission „Verfassungsreform" intensiv über die Re- In einem solchen Untersuchungsausschuß ist der form des Instituts der Untersuchungsausschüsse Vorsitzende in einer besonders schwierigen Lage, 5670 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Dr. Wittmann wenn er darauf achten muß, daß die vagen Verfah- Dr. Wittmann (CDU/CSU): Nein, nicht ganz. rensregeln und die Beweisthemen eingehalten wer- (Lachen und demonstrative Zustimmung den, wenn er die Ordnung des Verfahrens gewähr- bei der SPD — Zurufe von der SPD: Nicht leisten soll. Er ist ja schließlich auch Angehöriger ganz!) einer Fraktion. Um so bewundernswerter ist es, daß die Vorsitzenden dieses Ausschusses, die Herren Herr Kollege Jahn, man kann verschiedene Ak- Biehle und Kolbow, in jeder Lage die Ruhe behal- zente setzen. Herr Kollege Wimmer hat das global ten und hier sachgerecht gehandelt haben. Dafür gemeint; ich bin in einige Einzelheiten hineinge- möchte ich den beiden Herren ganz besonders dan- gangen, wobei ich Ihnen bei einer globalen Betrach- ken und den Dank auch anderen aussprechen. tung zugeben muß, daß wir fair miteinander umge- gangen sind. Das muß ich Ihnen bescheinigen, aber (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der auf diese Punkte sollte man doch hingewiesen ha- SPD) ben. Aber, meine Damen und Herren, die oft langatmi- Noch eine Gefahr hat dieser Untersuchungsaus- gen, oft neben der Sache liegenden Zeugenverneh- schuß, der sich aus dem Verteidigungsausschuß bil- mungen mit sich ständig wiederholenden Fragen det, mit sich gebracht. Ich glaube, wir sind in den ließen oft Zweifel aufkommen, was man eigentlich letzten Wochen dieser Gefahr nur knapp entgan- beabsichtigte. In bestimmten Fällen — und ich sage gen, manchmal vielleicht sogar erlegen: Wir mußten dies mit aller Deutlichkeit — war auch die Art der wegen der Identität der Mitglieder viele wichtige Vernehmung der Zeugen ihrer Stellung als Offi- Sachfragen im eigentlichen Verteidigungsausschuß ziere und Beamte nicht angemessen, selbst wenn zurückstellen oder konnten sie nur kurz behandeln. man berücksichtigt, daß manche Zeugen die Bereit- Ich hoffe, wir können dies nachholen. Wir sollten schaft zu umfassender und klarer Aussage vermis- überlegen, ob wir bei künftigen Untersuchungsaus- sen ließen. schüssen, die sich aus dem Verteidigungsausschuß bilden, nicht doch dazu übergehen sollten, einen (Pfuhl [SPD]: Da gibt es ja Unterschiede!) Unterausschuß zu bilden, was nach unserer Ge- — Wir vernehmen auch andere Bürger. Jeder hat schäftsordnung durchaus möglich ist, damit der or- das Recht. dentliche Verteidigungsausschuß weiterarbeiten kann. (Zurufe von der SPD) Meine Damen und Herren, ich wende mich jetzt Natürlich für Sie als Opposition ist es immer eine eigentlich nur an die SPD, weil die Ausführungen gewisse Verführung — für uns war es in früheren und Schlußfolgerungen der Fraktion DIE GRÜNEN Zeiten sicherlich auch eine Verführung —, die Be- so weit gehen, daß man sie manchmal nicht nach- fragungen möglichst umfassend anzulegen, Zeugen vollziehen kann, zu verunsichern. Herr Kollege Jahn, ich mache Ih- (Demonstrative Zustimmung bei Abgeord nen hier ein Kompliment. Sie waren da besonders neten der GRÜNEN) gut. Ich habe Sie manchmal bewundert, wie Sie durch die kalte Küche manche Fragen gestellt ha- und mit dem Thema nichts zu tun haben. ben, die Zeugen verunsichert haben. (Lachen bei den GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Der von der SPD mitgetragene gemeinsame Be- richt — das ist der größte Teil — und die eigenen (Vorsitz: Vizepräsident Stücklen) Begründungen der SPD tragen ihre Schlußfolge- rungen und Würdigungen der gegenüber Bundesmi- Aber das kann nicht die Aufgabe einer Untersu- nister Wörner erhobenen Vorwürfe nicht. Die SPD chung sein, die objektive Ergebnisse zutage fördern hat sich auch in viele Widersprüche verwickelt. Ich soll, sondern Ihr Ziel war es ja nur, die Zeugen möchte hier nicht auf die haltlosen Angriffe einge- unglaubwürdig zu machen, um womöglich dem Mi- hen, die Herr Klejdzinski hier vorgetragen hat. nister etwas am Zeuge flicken zu können. Herr Klejdzinki, ich fürchte, das, was Sie hier vor- (Abg. Jahn [Marburg] [SPD] meldet sich zu tragen, ist nicht einmal Ihre Meinung. -Sie haben einer Zwischenfrage) eben in Ihrer impulsiven Weise wieder einmal den starken Mann spielen wollen. Nur so kann ich das — Wenn die Frage nicht zu lang ist, gerne, Herr verstehen. Ernst nehmen kann ich das, was Sie in Kollege Jahn. dieser Form gegen den Minister gesagt haben, nicht. Wenn Sie den Rücktritt des Ministers fordern, Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter Jahn wie ihn auch in der schon an die Presse verteilten zu einer Zwischenfrage, bitte sehr! Rede Herr Kollege Jungmann fordert, muß ich ein- mal dem Herrn Kollegen Jungmann sagen — wo ist er denn? aha, hier vorn, er hat seine Hand vor dem Jahn (Marburg) (SPD): Herr Kollege Wittmann, Bart, und nur am Bart erkenne ich ihn —: sind Sie eigentlich sicher, daß Sie Ihre Rede mit dem Kollegen Wimmer abgestimmt haben? Das, (Zuruf von der CDU/CSU: Er ist auch das was Sie eben über den Untersuchungsausschuß ge- Wichtigste an ihm!) sagt haben, steht genau im Gegensatz zu dem, was Herr Kollege Jungmann, Sie widersprechen sich, Herr Wimmer vorhin gesagt hat. denn Sie fordern einerseits den Rücktritt des Mini- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5671

Dr. Wittmann sters, und andererseits ermuntern Sie den Minister führt oder angeordnet. Im übrigen hat die Ermitt- in Ihrer verteilten Rede — Sie werden es jetzt lungstätigkeit im Zusammenhang mit der Reisetä- wahrscheinlich nicht mehr sagen, weil ich das tigkeit gerade ergeben, daß ein Zeuge unglaubwür- schon wiedergebe —, mit der Reform des MAD wei- dig ist. terzumachen. Das ist ein Widerspruch; das muß ich Die Opposition macht dem Verteidigungsminister feststellen. und dem Bundeskanzler einerseits den Vorwurf, Dann behauptet die SPD in ihrem Teil des Unter- nicht genügend ermittelt zu haben, stößt sich aber suchungsberichts, die Vereinbarungen zwischen daran, daß bis zur Rehabilitierung des Generals dem General und dem Verteidigungsminister — ich Zeit ins Land gegangen sei. Es lag doch gerade im zitiere — seien „recht vage" geblieben. Andererseits Interesse des Generals, die Vorwürfe zu widerlegen. wirft man dem Minister einen Bruch der Vereinba- Wenn man bedenkt, daß am 27. Januar 1984 der rungen vor. Was ist nun richtig? Wenn es keine oder letzte Ermittlungsbericht eingegangen ist und die nur ganz vage Vereinbarungen gibt, kann es keinen Rehabilitierung am 1. Februar erfolgte, dann ist Bruch der Vereinbarungen geben. diese Zeitspanne durchaus angemessen. Dem Minister kann man nicht Fehlverhalten Meine Damen und Herren, man kann dem Bun- schon am 8. Dezember vorwerfen, will man ihm deskanzler, der von Ihnen auch angegriffen wird, nicht hellseherische Fähigkeiten zubilligen. Meine nicht abfordern, von seiner Richtlinienkompetenz Damen und Herren, gerade beim Militär, gerade in Gebrauch zu machen, wenn er — — der Verteidigung gelten Meldegrundsätze, von de- (Zurufe von der SPD: Rechtzeitig!) nen einer lautet: Eine Meldung muß stimmen. Auf dieses Postulat muß sich jeder, der mit Militär zu — Hören Sie doch mal mit Ihrem Geschrei auf; es tun hat, zunächst einmal verlassen können, denn ist kaum verständlich. sonst können wir beim Militär zusperren. Danach (Jahn [Marburg] [SPD]: Rechtzeitig!) hat auch der Minister handeln dürfen. — Moment, lassen Sie mich doch ausreden! (Pfuhl [SPD]: Wann kommt der Rücktritt? Im Dezember konnte er von seiner Richtlinien- — Dr. Klejdzinski [SPD]: Wann tritt er kompetenz nicht Gebrauch machen, weil er nicht jetzt zurück? — Pfuhl [SPD]: Ja, wann tritt wußte, was hinter diesen Berichten steckte. Als er er zurück?) im Januar die Ergebnisse hatte, hat er rechtzeitig — Er wird nicht zurücktreten. Herr Pfuhl, Sie kön- von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht. nen es ja gar nicht beurteilen. Sie waren nie im (Zurufe von der SPD: Nein!) Ausschuß, obwohl Sie auf dem Papier — das muß- ten wir erst nachfragen — als Stellvertreter stan- Meine Damen und Herren, man wird feststellen den. Sie können hier also gar nicht mitreden. Den müssen, daß die zur Entscheidung berufenen Perso- Bericht haben Sie mit Sicherheit auch nicht gele- nen in einem ständigen Wechselbad von Informa- sen, wie ich Sie kenne. tionen und in einem Dilemma zwischen Rechtslage, Wahrung der Persönlichkeitsrechte des Generals, Meine Damen und Herren, dem Minister macht Forderung nach Diskretion und Notwendigkeit der man den Vorwurf, er habe bis Dezember '83 selbst Aufklärung waren. Unter diesen Gesichtspunkten keine Ermittlungshandlungen vorgenommen. Man ist der Ablauf zu beurteilen, und unter diesen Ge- macht ihm dann anderserseits zum Vorwurf, daß er sichtspunkten hat der Minister nach meinem Da- im Rahmen des Disziplinarverfahrens selbst in die fürhalten, nach dem Dafürhalten unserer Fraktion, Ermittlungen eingetreten ist und Mitte Januar ei- in jeder Lage rechtmäßig und pflichtmäßig gehan- nige Zeugen angehört hat. Dies waren im übrigen delt, was ihm übrigens auch der General beschei- Anhörungen auf Anraten von Fachleuten, die unter nigt. anderem aus der Kriminalpolizei gekommen sind. Was ist nun richtig, meine Damen und Herren? Meine Damen und Herren, es ist schon gesagt Man kann nicht das eine und das andere sagen. Das worden, und ich möchte es wiederholen: Dieser Mi- geht nicht. Im übrigen hat der Minister selbst ein- nister hat den Apparat des MAD und die Hardthöhe- geräumt, daß die Anhörung des einen oder anderen im wesentlichen von seinen der SPD angehörenden Zeugen, im nachhinein betrachtet, vielleicht hätte Vorgängern übernommen. Das ist erst eindreivier- unterbleiben können. tel Jahre her. Sie hätten 13 Jahre Anlaß und Gele- genheit gehabt, im Bereich des MAD strukturelle Die Opposition wirft dem Minister vor, nicht ge- und personelle Änderungen vorzunehmen. Es ist nügend ermittelt zu haben, nichts geschehen, obwohl Sie dazu Anlaß gehabt (Dr. Klejdzinski [SPD]: Nein, das haben wir hätten. nicht vorgeworfen!) Damit trägt die SPD ein großes Stück Mitverant- und übt auch Kritik am Umfang der Ermittlungen wortung an den Ereignissen von September 1983 im Januar 1984. Entweder oder, entweder zuwenig bis Januar 1984. oder zuviel. Im übrigen muß man wissen, daß die Der Minister hat nicht nur in der speziellen Ermittlungen, die der Minister angeordnet hat, Sache selbst unverzüglich gehandelt, sondern auch nicht in Details gingen, Überprüfen von Reisetätig- die Konsequenzen gezogen, indem er auf Grund der keit, sondern es gab eine allgemeine Ermittlungs- Ergebnisse des Untersuchungsausschusses und der anordnung, und die Detailermittlungen wurden Empfehlungen der Kommission zur Überprüfung dann von den jeweils Ermittelnden selbst durchge des MAD 14 wesentliche Maßnahmen getroffen 5672 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Dr. Wittmann oder in die Wege geleitet hat, und das unverzüglich. gung und unserer Sicherheitspolitik nicht erkannt, Das wichtigste — neben allen rechtlichen und son- nicht angegangen ist und schon gar nicht gelöst hat. stigen Maßnahmen, die sind nicht so wichtig — Dieser Bundesminister hat sie vorgefunden und ist (Dr. Klejdzinski [SPD]: Daß er zurück an ihre Lösung herangegangen. tritt!) Die Bundesregierung und mit ihr der Bundesver- ist, daß die Auswahl, Ausbildung und Führung des teidigungsminister haben viel getan, um die Bun- Personals des MAD verbessert werden müssen. Bei deswehr aus dem Tief herauszuholen, in das sie in der Auswahl des Personals muß es vor allem darauf den Zeiten der SPD-geführten Regierungen geraten ankommen, daß Intelligenz und Charakter die Per war, sönlichkeiten bestimmen. (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Mehr da Ob ein MAD-Gesetz alle Probleme lösen könnte, von, Herr Wittmann! Mehr davon!) mag füglich bezweifelt werden. Ein solches Gesetz wird letztlich vom Parlament beschlossen. Aber die- um dem Nachlassen der Wehrbereitschaft entge- ses Parlament sollte darauf achten, sich durch ein genzuwirken. solches Gesetz nicht ein Alibi zu schaffen und dann (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Mehr da später die Kontrolle nicht mehr so auszuüben, wie von!) sie in manchen Punkten vielleicht erforderlich wäre. Auch kann ein MAD-Gesetz die Effizienz des — Sind Sie betrunken, Herr Kollege? Sie wirken MAD beinträchtigen, was wir auch alle nicht wol- so. len. (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Nein, kei (Dr. Klejdzinski [SPD]: Da ist nichts mehr neswegs! Wir wünschen mehr davon!) zu beeinträchtigen!) Die Sorge um den Soldaten ist in den Mittelpunkt Andererseits muß ich die — nicht hier in diesem getreten. Schwerpunkte wurden gebildet. Das Fehl Hause — wiederholt geäußerte Meinung zurückwei- an Zeit- und Berufssoldaten wurde noch 1982 von sen, der MAD habe insgesamt bisher illegal ge- der SPD-Regierung durch Kürzung der Veranla- wirkt. Das ist nicht richtig. Der MAD war an ein gungsstärke um 8 000 vergrößert. Dieser Fehler Bündel von Erlassen, Richtlinien gebunden und hat wurde sofort nach dem Regierungswechsel korri- sich vor allem an die allgemeinen Gesetze zu hal- giert. Im Jahre 1983 wurde die Veranlagungsstärke ten. Eine solche Auslassung, der MAD habe illegal um 3 000 erhöht, 1984 und 1985 jeweils um 4 500. gewirkt, muß ich als eine Beleidigung der Soldaten Dies wird Ausbildung, Erziehung und Dienstgestal- und Beamten zurückweisen. tung effektiver machen, dazu beitragen, daß die (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Oh, Herr Bundeswehr ihren Auftrag besser erfüllen kann, Wittmann! Was ist denn mit der Zersetzer und die Personalprobleme der Bundeswehr in den kartei?) 90er Jahren bewältigen helfen. Wir sollten auch darüber nachdenken — es wurde Das Problem des Verwendungsstaus ist seit Jah- hier schon angedeutet —, daß man vielleicht durch ren bekannt. Verteidigungsminister Wörner hat ein sogenanntes Zusammenarbeitsgesetz die Effi- endlich etwas getan. Bereits 1982 und noch einmal zienz aller Dienste verbessern könnte und den vom 1983 wurden für Zeit- und Berufssoldaten zusätzli- Verfassungsgericht im Volkszählungsurteil festge- che Planstellen bereitgestellt. Dies gestattet etwa legten Richtlinien Rechnung tragen könnte. Dabei 3 500 Personalbewegungen und Beförderungen bis sollte man aber nicht übersehen, daß der MAD eine 1985. Neue Vorschläge sind in Kürze zu erwarten. Art Werkschutz der Bundeswehr ist, also wesent- 1983/84 sind auch Stellen zur Realisierung der Hee- lich andere Funktionen als der Verfassungsschutz resstruktur geschaffen worden. Die Nutzung des und der Bundesnachrichtendienst hat. Auch die Reservistenpotentials wurde verstärkt. 1983/84 ist Kommission zur Überprüfung des MAD hat dies im die Veranlagungstärke für Wehrübende drastisch wesentlichen erkannt und deshalb keine Auswei- erhöht und damit der Ausbildungsstand -der Reser- tung des Zuständigkeitsbereiches gefordert. visten verbessert worden. Wie Herr Kollege Ronneburger möchte auch ich (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Kommen sagen, daß wir uns in Zukunft weit mehr als bisher Sie doch einmal zur Sache!) um die Strukturen im Verteidigungsbereich küm- mern sollten. Ich denke hier z. B. an die Organisa- Unter Verteidigungsminister Wörner sind die tion des Bundesministeriums der Verteidigung. Der neuen Spitzendienstgrade für Unteroffiziere end- Untersuchungsausschuß hat auch zutage gebracht, lich eingeführt worden. daß vielfältige Zuständigkeiten im Ministerium wirksames Handeln beeinträchtigen können. Aber auch Ungereimtheiten aus der Zeit der SPD-geführten Regierung wurden abgestellt. Ver- Wenn die SPD jetzt den erst eindreiviertel Jahre schuldete Ausfallzeiten müssen nun nachgedient im Amt befindlichen Verteidigungsminister für al- werden, so daß niemand mehr auf Kosten der Allge- les und jedes verantwortlich machen will — Herr meinheit weniger dienen kann. Klejdzinski hat das ja getan —, dann muß sie sich vorhalten lassen — ich habe es schon gesagt —, daß (Jungmann [SPD]: Das gab es schon im sie 13 Jahre lang wesentliche Probleme unserer mer! Dazu müssen Sie das Wehrpflichtge Bundeswehr, des Bundesministeriums der Verteidi- setz ansehen!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5673

Dr. Wittmann Zeit- und Berufssoldaten, die auf eigenen Antrag lege Biehle als Vorsitzender des Untersuchungsaus- ausscheiden, müssen angemessenen Ersatz der schusses hätte hier gesessen. Wenn er hier geses- Ausbildungskosten leisten. sen hätte, hätte er Ihnen mehrfach das Wort entzo- (Zuruf von der SPD: Welches Thema ist gen wegen Vorbeigehens am Thema. Das haben das?) Ihre Ausführungen ja ganz deutlich gemacht. — Sie haben j a auch nicht immer zum Thema ge- (Zuruf von der CDU/CSU: Legen Sie doch sprochen. Ich will Ihnen nur erwidern, Herr Klejd- richtig los!) zinski, weil Sie gesagt haben, dieser Minister habe — Moment, bleiben Sie doch einmal ganz ruhig, nichts getan. Darauf will ich Ihnen nur erwidern. Herr Kollege. Sie müssen nicht immer so nervös Als Beitrag zur Beseitigung des Lehrstellenman- sein. Wir kommen schon zur Sache. gels stellt die Bundeswehr fast 700 Ausbildungs- Herr Kollege Wittmann, ich werde mich aus Ihrer plätze zur Verfügung. An den Bundeswehrhoch- Sicht jetzt in einige Widersprüche verwickeln, aber schulen wurde der Lehrbetrieb reformiert. nicht in dem Teil der Rede, den Sie schon gelesen (Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: War das haben, sondern in einem anderen Teil, in dem ich Gegenstand des Untersuchungsausschus Ihnen jetzt antworte. ses?) Erstens stimme ich Ihnen zu, daß man überlegen — Gröhlen Sie doch nicht immer so und pöbeln Sie sollte, endlich straffere Regeln für die Führung von nicht so! Untersuchungsausschüssen einzuführen. Die Ausgaben für Truppenübungen sind in den Einen zweiten Punkt halte ich für überlegens- letzten Haushalten um mehr als 10 % erhöht wor- wert: Sie haben gefragt, ob es unbedingt notwendig den, so daß der Ausbildungserfolg, die Fähigkeit zur ist, daß der Verteidigungsausschuß — wenn er wei- Auftragserfüllung und die Motivation der Truppe ter das Recht behält, sich als Untersuchungsaus- gesteigert worden sind. schuß zu konstitutieren — als Untersuchungsaus- Von entscheidender Bedeutung ist die Leistung, schuß mit 27 Abgeordneten, in seiner vollen Größe, daß das internationale Vertrauen in die deutsche diese Untersuchungen führt. Wir werden das einge- Sicherheits- und Verteidigungspolitik wiederherge- hend prüfen und würden uns freuen, wenn wir ge- stellt worden ist. meinsame Initiativen ergreifen könnten. (Dr. Klejdzinski [SPD]: Herr Vorsitzender, Wir haben gemeinsam viele Dinge festgestellt. Sie müssen eingreifen!) Nur eins muß ich Ihnen noch sagen, Herr Kollege Damit ist auch ein wesentlicher Beitrag zur Festi- Wittmann: Ich war zu der Zeit, als der Untersu- chungsausschuß lief — Sie werden gemerkt haben, gung des Atlantischen Bündnisses geleistet worden. Vor allem ist auch das Verhältnis zu Frankreich in daß ich mein Redemanuskript noch gar nicht be- verteidigungspolitischer Beziehung wesentlich ver- nutzt habe —, im bayerischen Kommunalwahl- bessert worden. kampf. Bei meiner Veranstaltung traten dann auch Parteifreunde Ihrer Partei auf und behaupteten Meine Damen und Herren, CDU und CSU werden doch, daß die SPD-Mitglieder im MAD dem Herrn den Minister auf diesem eingeschlagenen Weg ei- Wörner ein Bein stellen wollten. Wissen Sie, was ich ner realen Sicherheitpolitik und einer auftragsbezo- ihnen geantwortet habe: Das waren die CDU-Mit- genen Bundeswehrpolitik weiterhin unterstützen glieder, die noch nicht gemerkt haben, daß die SPD und ermutigen. Sie werden auch nicht zulassen, daß gar nicht mehr an der Regierung ist. die SPD mit Hochspielen z. B. der Ergebnisse dieses Untersuchungsausschusses davon ablenkt, (Heiterkeit bei der SPD — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und damit führen Sie Wahl (Zuruf von der SPD: Daß Sie versagt ha kampf? — Carstensen [Nordstrand] [CDU/ ben!) CSU]: Wieviel Prozent haben Sie denn da daß sie sich im Grunde in den Fragen der Sicher- mit verloren?) heitspolitik in die 50er Jahre zurückbewegt — wie Wenn Sie sich einmal den Mann, der dazu -beigetra- es ja der Parteitag von Essen gezeigt hat —, und gen hat, daß wir diesen Untersuchungsausschuß ge- daß bedauerliche Ereignisse wie das zu Untersu- habt haben, ansehen und untersuchen, welche Ver- chende dazu mißbraucht werden, um unsere Vertei- bindung er zum Büro des Parlamentarischen digungspolitik nach Möglichkeit zu lähmen. Staatssekretärs, Kurt Würzbach, vielleicht auch zu (Dr. Klejdzinski [SPD]: Ich glaube, zur ihm selbst hat, und dann einmal prüfen, welches Sache haben Sie nichts gesagt!) Parteibuch er hat, werden Sie zu einem ganz ande- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit bei ren Ergebnis kommen, als Sie es heute vor diesem den Kollegen der CDU/CSU und der FDP. Hohen Hause ausgebreitet haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hört! Hört! bei der SPD — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Jetzt geht es los!)

Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- Wir haben also vieles gemeinsam festgestellt. Ge- geordnete Jungmann. meinsam haben wir auch festgestellt, daß wir eine gesetzliche Regelung brauchen. Die Frage ist nur: Muß es ein MAD-Gesetz sein oder kann es ein Ge- Jungmann (SPD): Herr Kollege Wittmann, als ich setz sein, das alle Dienste — so wie Sie es ja auch Sie gehört habe, habe ich mir vorgestellt, der Kol- angesprochen haben — umfaßt? Dies wird zu prü- 5674 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Jungmann fen sein. Damit werden wir uns in den Fraktionen Wir kommen also zur Zersetzungskartei. Stellen zu beschäftigen haben, um zu prüfen, zu welchem Sie also ab, daß diese Zersetzungskartei weiter be- Ergebnis wir kommen. Das darf nur nicht so sein, trieben wird, daß dort zahlreiche Bürger, die nur ihr daß diese Prüfungszeit bis zum Sankt-Nimmer- Grundrecht zur freien Meinungsäußerung und ihr leins-Tag — das gebe ich Ihnen zu; der MAD hat ja Grundrecht zur Demonstration wahrgenommen ha- auch schon zu Ihrer Regierungszeit vor 1969 be- ben, registriert werden. Denn es schafft nur Miß- standen — ausgedehnt wird und alles in einem trauen in der Bevölkerung und führt nicht dazu, Sommerloch verschwindet. Vertrauen in den MAD und in die Dienste zu erwek- ken, wenn derartige Karteien geführt werden. Wir wissen, daß die Errungenschaften des bürger- lichen Rechtsstaates dazu geführt haben, daß Ein- Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt aus griffe des Staates in die Freiheit des Bürgers nur den gemeinsamen Schlußfolgerungen, nämlich die auf Grund gesetzlicher Regelungen erfolgen dürfen. Sicherheitsrichtlinien, herausgreifen. Sie müssen Da diese Erkenntnisse schon älter sind als die Bun- geändert werden. Es kann nicht länger hingenom- desrepublik Deutschland, haben sie ihre Aufnahme men werden, daß in diesen Richtlinien eine ab- in unserer Verfassung gefunden. Wir sollten nicht norme Veranlagung auf sexuellem Gebiet als Si- zögern, diese Erkenntnisse auch im Bereich der cherheitsrisiko beschrieben wird. Nachrichtendienste durchzusetzen und ihnen Gel- (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Die tung zu verschaffen. Wir Sozialdemokraten halten Bestimmungen sind doch von Ihrer Regie es ebenfalls für erforderlich, daß Sie, Herr Minister rung in Kraft gesetzt worden, Herr Jung Wörner — jetzt komme ich zu dem Teil, den der mann!) Kollege Wittmann, der gerade rausgeht, vorhin an- — Ich gestehe doch auch Ihnen zu, daß Sie einmal gesprochen hat —, schlauer werden. Das war damals 1971; heute haben (Zuruf von der CDU/CSU: Der hat das ja wir 1984. Wir sind nicht auf dem Stand von 1971, schon gelesen!) sondern auf dem von 1984, Herr Kollege. die Tätigkeit des MAD auf die realen Sicherheits- (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: probleme der Bundeswehr begrenzen. Ich fordere Warum haben Sie es denn nicht vorher ge ihn dazu auf, weil ich ihn am Schluß nicht zum macht? Sie sind doch schon länger hier!) Rücktritt auffordere, da ich nämlich weiß, daß das Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß keinen Zweck hat. Die Minister haben nämlich fast ein straf- oder disziplinarrechtliches bedeutungslo- alle Pattex am Hintern und kleben auf ihren Stüh- ses sexuelles Verhalten eines Bürgers auch keine len, ohne daß sie dabei ihrer politischen Verantwor- anderweitigen rechtlichen und tatsächlichen Nach- tung gerecht werden. Deshalb lohnt es sich gar teile mit sich bringen darf. Das sexuelle Verhalten nicht, Sie zum Rücktritt aufzufordern. eines Bürgers ist als Anknüpfungspunkt zur Beur- (Beifall bei der SPD — Carstensen [Nord teilung eines Sicherheitsrisikos ungeeignet. Daher strand] [CDU/CSU]: Sie haben noch etwas muß ein solcher Anknüpfungspunkt abgelehnt wer- viel Natürlicheres am Hintern!) den. Lesen Sie einmal nach, was Sie haben. Da steht Den Versuch, den, meine Damen und Herren von nämlich etwas anderes drin. Darauf werde ich den GRÜNEN, hier leider heute auch wieder der nachher zurückkommen. Kollege Vogt gemacht hat, das gesellschaftliche Problem der Homosexualität oder der, wie Sie es Herr Wörner, Sie werden ja noch länger im Amt genannt haben, gleichgeschlechtlichen Liebe zur bleiben, wenn Herr Strauß nicht doch noch irgend- zentralen Frage des Untersuchungsausschusses zu wann eine Kabinettsumbildung im größeren Stil machen, haben wir, so wichtig dieses Problem auch durchsetzt. Tun Sie das, was Sie jetzt wieder einmal sein mag, für völlig verfehlt gehalten. Die Öffent- großspurig angekündigt haben! Wir werden vom lichkeit hätte über den Untersuchungsausschuß zu Verteidigungsausschuß her darauf achten, daß Recht ein vernichtendes Urteil gefällt, wenn er der diese Dinge auch tatsächlich in die Realität umge- Frage der Homosexualität sein Hauptaugenmerk- setzt werden. gewidmet hätte und damit zwangsläufig die schwe- Im MAD darf auch nicht länger — da stimme ich ren Fehler des Bundesministers Dr. Wörner sowie dem Kollegen Vogt von den GRÜNEN zu — die die von ihm vorgenommenen und zu verantworten- Zwangsvorstellung kultiviert werden, die Sicherheit den Verletzungen der Grundrechte des Herrn Kieß- der Bundeswehr und der Bundesrepublik sei auf ling in den Hintergrund getreten wären. das höchste bedroht. Der für jeden freiheitlich ge- sonnenen Bürger unerträgliche Zustand in Gestalt der sogenannten Zersetzungskartei hat auch schon Vizepräsident Stücklen: Gestatten Sie eine Zwi- zu unserer Zeit bestanden; das gebe ich auch zu. schenfrage des Abgeordneten Vogt (Kaiserslau- Das ist ein ganz schlimmes Wort. tern)? (Dr. Stavenhagen [CDU/CSU]: Wann wurde die denn eingeführt?) Jungmann (SPD): Ich habe nur noch sieben Minu- — Ich habe auch gar nichts gesagt. Bleiben Sie ten Zeit und muß noch so viel sagen. Ich bitte um ruhig, Herr Kollege Stavenhagen! Sie haben ja ge- Entschuldigung. hört, was der Kollege Wimmer gesagt hat: Nicht (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wir immer vorher rufen, sondern abwarten! haben das doch alles schriftlich vorliegen!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5675

Jungmann — Ich weiß ja nicht, ob Sie lesen können. — Ich stens, weil Sie im Januar Ihren ganzen Apparat in gestatte keine Zwischenfrage. Bewegung gesetzt und Ermittlungen angestellt ha- Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, ben, und zwar nicht, um Entlastendes zu finden, haben den Zeitaufwand kritisiert. Sie haben es sondern, wie wir das auch gemeinsam festgestellt heute noch einmal getan, Herr Kollege Vogt. Da haben, nur Belastendes; denn wenn Sie Entlasten- sind wir Sozialdemokraten ganz anderer Auffas- des hätten finden wollen sung. (Zuruf des Abg. Wimmer [Neuss] [CDU/ Es ist gut, daß die schweren Fehler des MAD auf- CSU]) gedeckt worden sind. Denn nur so können über- — das können Sie doch nachher richtigstellen; auch haupt die Voraussetzungen dafür geschaffen wer- Herr Franke kommt noch, auch seine Rede ist den, daß solche und andere Fehler in Zukunft mög- schon verteilt —, lichst vermieden werden. Es ist gut, wenn die Bür- (Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Das stört ger wissen, daß sich die Regierung nicht alles erlau- Sie auch! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sie ben darf und daß nicht ungestraft und unkontrol- haben eben „meine Damen und Herren" liert ein ganzer Machtapparat gegen einen Bürger vergessen!) in Gang gesetzt wird, ohne daß das Parlament da- von Kenntnis nimmt und dies kontrolliert. Herr Dr. Wörner, dann hätten Sie dem Ministerial- Es ist gut, wenn die Soldaten der Bundeswehr rat Dr. Fritz folgen müssen, der Sie am 14. Januar wissen, daß es eine parlamentarische Kontrolle 1984 vor bestimmten Unterstellungen des MAD ge- auch zu ihrem Schutz gibt. Es ging hier nicht nur warnt hatte. Sie haben dies nicht getan. Sie haben um die Ehre, um die Grundrechte und Menschen- weiter ermittelt. Und Sie haben weiter Negatives rechte des Herrn Kießling, sondern auch darum, ermittelt. den Soldaten in der Bundeswehr und der Öffent- Wenn ich mir vorstelle, wie die Vernehmung des lichkeit zu zeigen, daß dieses Parlament ihre Schriftstellers Ziegler aus der Schweiz stattgefun- Rechte gegenüber der Administration wahrnimmt. den hat, dann wird mir heute vor Peinlichkeit noch Die Einsetzung des Verteidigungsausschusses als übel. Und der Staatssekretär im Bundeskanzleramt Untersuchungsausschuß hat sich aus unserer Sicht hat dabeigesessen und wohlwollend alles mitange- gelohnt. hört. Damit Sie nicht zu kurz kommen, meine Damen (Beifall bei der SPD) und Herren von der CDU/CSU und der FDP, Ich will gar nicht darauf eingehen, was das alles komme ich nun zu Ihnen. Wir haben gemeinsam gekostet hat. Der Bericht des Rechnungshofes liegt Schlußfolgerungen gezogen. Diese gemeinsamen Ihnen doch vor. Schlußfolgerungen und all das, was wir gemeinsam gemacht haben, dürfen aber doch nicht vernebeln, (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: welche Verantwortung der Bundesminister der Ver- Sonst werden Sie auch nicht fertig!) teidigung dabei gehabt hat. Politische Verantwor- Gucken Sie einmal nach. Das hat mindestens den tung ist unteilbar. Sie kann nicht, wie es die Kolle- Wehrsold für eine Kompanie in einem ganzen Jahr gen Ronneburger, Wimmer und Wittmann versucht gekostet. Allein die Anhörung des Herrn Ziegler hat haben, scheibchenweise auf andere aufgeteilt wer- den Wehrsold für einen Wehrpflichtigen für ein den. Entweder ist der politische Kopf im Verteidi- ganzes Jahr gekostet. Andernfalls hätten Sie viel- gungsministerium oder nicht; wenn er es ist, muß er leicht die Wehrsolderhöhung, die nachher noch auch die politische Verantwortung tragen. drankommt, ein paar Tage vorziehen können. (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das vorzeitige wahr!) Verteilen Ihrer Rede hat einem jungen Der Bundeskanzler hat gemeint, Herr Wörner Baum das Leben gekostet!) verdiene Anerkennung dafür, daß er seine Fehler Die Veranstaltung mit Herrn Ziegler war peinlich, zugegeben habe. Wer im Untersuchungsausschuß geschmacklos und nicht mehr notwendig. dabei war, weiß, daß er diese Einsicht nicht gezeigt hat. Die Veranstaltung fand statt, als hier am 20. Ja- nuar die Aktuelle Stunde stattfand und alle Kolle- Bisher vermisse ich eigentlich, daß auch einmal gen meiner Fraktion und Herr Kollege Bastian Sie jemand von der Regierung hier oben zu dem Stel- aufgefordert hatten, endlich die Vorwürfe zurückzu- lung nimmt, was der Untersuchungsausschuß fest- nehmen. Sie haben diese Vorwürfe nicht zurückge- gestellt hat. Wenn das geschähe, würde sicherlich nommen, sondern Ihre Fraktionskollegen vielmehr deutlich werden, daß der Bundesminister der Ver- angehalten, noch neue Vorwürfe in die Debatte ein- teidigung dann einsichtig war, wenn es ihm genutzt zubringen, obwohl Sie gewußt haben, Herr Dr. Wör- hat, sein Amt zu behalten. Wenn es aber darum ner, daß wir, nachdem die PKK, der Verteidigungs- ging, sich in der Öffentlichkeit in Pose zu stellen, ausschuß getagt hatten, die Zeugen von der Polizei hat er immer gesagt, er habe nicht anders handeln gar nicht mehr brauchten. können und habe rechtmäßig und richtig gehandelt. Dies wagen wir zu bezweifeln. (Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Das war Für uns Sozialdemokraten sind Sie, Herr Wörner, doch zentral!) aus zwei schwerwiegenden Gründen als Bundesmi- Weil sich am Ende herausgestellt hatte, daß der nister der Verteidigung untragbar geworden: er- Minister eben nicht alles auf den Tisch gelegt hatte, 5676 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Jungmann haben Sie, der Kollege Franke, der Kollege Hauser, Bastian (fraktionslos): Herr Präsident! Meine Da- der Kollege Wimmer und wer noch alles, schlimme men und Herren! Wohl niemand im Hause, der den Vorwürfe aufgestellt. Bericht des Verteidigungsausschusses als Untersu- (Beifall bei der SPD) chungsausschuß in der Verleumdungskampagne gegen General Dr. Kießling gelesen hat, Ich weiß nicht — der Kollege Klejdzinski hatte (Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Wo haben schon danach gefragt; Sie werden es nachher sicher Sie ihn gelesen? In Peking?) ausführen —, ob Sie sich schon entschuldigt ha- ben. wird ihn ohne ein Gefühl tiefer Beklommenheit wieder aus der Hand gelegt haben. Das Horror- (Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Im Redetext szenario, das hier in dürren Worten beschrieben steht das aber ganz anders!) wird, ist ein Skandal, wie er an der Spitze einer — Ich wollte Sie wieder überraschen. Ich habe Ih- Armee, die mit dem Anspruch angetreten ist, in nen im Verteidigungsausschuß doch schon immer zeitgemäßer Menschenführung wegweisend zu sein gesagt: Ich bin immer für eine Überraschung gut. und die Würde jedes Soldaten zu achten, nicht hätte Sie glauben mir das ja nicht. vorkommen dürfen. (Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Da haben (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) Sie mir gestern aber etwas anderes ge Es ist freilich nicht ein Skandal des Bürgers in Uni- sagt!) form Dr. Kießling und auch nicht ein Skandal der Und die Schweine aus dem Dorf treiben, wie Sie das Bundeswehr schlechthin, deren Soldaten fassungs- gestern gesagt haben — das tun wir auch nicht. Wir los zur Kenntnis nehmen mußten, welcher Sumpf machen vielmehr die Schuld am Minister fest; denn aus Tratsch, Klatsch und gezielter Verleumdung, er trägt die politische Verantwortung in diesem Be- aus skrupelloser Vorverurteilung und banaler Unfä- reich und hat noch nicht einmal den Schneid, das higkeit im Bundesministerium der Verteidigung, zuzugeben. aber auch im deutschen Anteil beim höchsten alli- ierten Oberkommando SHAPE und im Amt für die (Beifall bei der SPD) Sicherheit der Bundeswehr herangefault war. Herr Kollege Ronneburger, nun komme ich auf (Beifall bei den GRÜNEN — Wimmer Sie und Ihre Rede. Ich will gar nicht alles das, was [Neuss] [CDU/CSU]: Das sagt der Blocka ich zur ,,Spiegel"-Affäre 1962 aufgeschrieben habe, debrecher!) sagen; aber daran sollten Sie sich als Freier Demo- krat einmal erinnern und auch daran, welche Pur- Es handelt sich vielmehr um einen Skandal der zelbäume — und Wenden — Sie geschlagen haben. Bundeswehrführung und zuallererst des Bundes- 12. Januar: Unterrichtung der Obleute, 18. Januar: verteidigungsministers selbst, eines Ministers, der Verteidigungsausschuß, 20. Januar: hier und dann noch wenige Wochen zuvor in makaberer Selbstge- Untersuchungsausschuß. Da müßten Sie als Libera- rechtigkeit gemeint hatte, die Bundeswehr aus den ler doch eigentlich blaugelb anlaufen. Aber das kön- Schlagzeilen herausgebracht zu haben, und der nun nen Sie nicht; deswegen tun Sie es auch nicht. Trotz selbst bösere Schlagzeilen lieferte, als sie jemals allem Brimboriums, das Sie gemacht haben, haben zuvor über den Inhaber der Befehls- und Komman- Sie dem Verteidigungsminister heute wieder einen dogewalt geschrieben worden waren. Persilschein ausgestellt. Dazu kam es, weil er nicht in der Lage gewesen war, den Hintertreppencharakter ebenso dürftiger Bei allem, was hier abgelaufen ist, Herr Wörner, wie dümmlicher Vorwürfe gegen einen der rang- hätten Sie, wenn Sie Schneid gehabt hätten, Ihr höchsten Generale der Bundeswehr zu erkennen, Amt zur Verfügung stellen müssen. Durch Ihren und sich deshalb leichtfertig vorschnell ein Urteil tatsächlichen Rücktritt hätten Sie beweisen kön- gegen den Verleumdeten anstatt gegen die Ver- nen, daß Sie es mit Ihren vorgeschobenen Rück- leumder im eigenen Haus und bei SHAPE bildete. trittsangeboten ernst meinen. „Ein Mann von Ehre" — so sagt der Publizist Johannes Gross — „hätte (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) - den Rücktritt nicht angeboten, sondern ihn erklärt." Die Folge waren immer neue Fehlentscheidungen, Damit hätten Sie den Weg freimachen können für an deren unrühmlichem Ende der Minister selbst einen neuen Anfang mit einem unbeteiligten Nach- Ansehen und Vertrauen verspielt hatte. folger im Amt des Bundesministers der Verteidi- (Biehle [CDU/CSU]: Wenn ehemalige Ge gung, im Interesse der Bundeswehr, ihrer Soldaten nerale vor Kasernentoren sitzen, ist das und im Interesse der Bundesrepublik Deutschland. auch kein Schönheitswettbewerb!) (Beifall bei der SPD) — Das hat eine ganz andere Qualität, Herr Biehle. Aber dazu sind Sie ja nicht in der Lage. Aber das verstehen Sie nicht; das ist mir vollkom- men klar. Darüber rede ich mit Ihnen auch gar Schönen Dank, meine Damen und Herren. nicht. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Wenn die Regierungsparteien dem verantwortli- der GRÜNEN) chen Minister im vorliegenden Untersuchungsbe- richt trotzdem bescheinigen, pflichtgemäß gehan- delt zu haben, muß man fragen, welche Art von Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Abge- Pflicht da denn wohl gemeint sein mag. Gewiß nicht ordnete Bastian. die Pflicht, das Recht und die Würde unterstellter Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5677

Bastian Soldaten zu achten, wie sie jedem Vorgesetzten auf- von der Opposition im Untersuchungsbericht darge- erlegt ist, und sicherlich auch nicht die Pflicht zur legten Gründen, die hier nicht wiederholt zu wer- zeitgemäßen Menschenführung auf der Grundlage den brauchen, und rechtswidrig auch, weil alle jene des anspruchsvollen Leitbildes vom Staatsbürger in zu Grunde liegenden Scheinerkenntnisse, die den Uniform oder die Pflicht zur Fürsorge für Unterge- General angeblich zum Sicherheitsrisiko stempel- bene. Beide Pflichten werden vom jüngsten Grup- ten, haargenau dieselben waren, die drei Monate penführer gefordert und müßten natürlich auch vorher eine Vereinbarung, den General im beider- vom höchsten Dienstherren in vorbildhafter Weise seitigem Einverständnis zum 31. März 1984 mit al- ernstgenommen werden. Tatsächlich sind sie je- len Ehren zu verabschieden, nicht unmöglich ge- doch gegenüber General Dr. Kießling vom amtie- macht hatten. renden Verteidigungsminister in unbegreiflicher und nicht zu rechtfertigender Weise mißachtet wor- (Ronneburger [FDP]: Sie wissen, daß das den. Nicht pflichtgemäß, wie die Regierungspar- nicht stimmt, was Sie sagen!) teien meinen, sondern pflichtwidrig, wie die Opposi- tion es im Untersuchungsbericht feststellt, hat Dr. — Es stimmt, Herr Ronneburger; es waren inhalt- Wörner deshalb gehandelt, als er sich fahrlässig An- lich und qualitativ dieselben. schuldigungen gegen den General zu eigen machte, (Ronneburger [FDP]: Nein, es waren nicht von denen der später ermittelnde Wehrdisziplinar- dieselben!) anwalt dem Untersuchungsbericht zufolge sagte, daß sie sich insgesamt ohne großen Untersuchungs- Lesen Sie den Untersuchungsbericht; ich habe ihn aufwand hätten widerlegen lassen. gelesen.

Pflichtwidrig hat der Minister auch gehandelt, als Mit seinem pflichtwidrigen Handeln hat der Mi- er bedenkenlos jede scheinbar belastende Aussage nister allerdings nicht nur dem von seinem Ermitt- noch so zwielichtiger Zeugen aufgriff und sich nicht lungseifer betroffenen General und dem Ansehen einmal scheute, die obskursten Belastungszeugen der Bundeswehr, sondern auch — und das darf höchstpersönlich in das Ministerium zu laden und nicht verschwiegen und vergessen werden — unse- dort selbst zu befragen, als das überfällige Einge- rer Gesellschaft schwer geschadet, indem er mit der ständnis, falsch gehandelt zu haben, doch schon unzulässigen Gleichsetzung von homosexuell und längst die einzig mögliche und auch einzig anstän- sicherheitsbedenklich, ja kriminell, die schwelen- dige Konsequenz gewesen wäre. Pflichtwidrig hat den Vorurteile gegen Homosexualität zum Nachteil der Minister auch gehandelt, als er veranlaßte, daß einer schutzbedürftigen Minderheit in der Bevölke- bei der fieberhaften Suche nach einem vermuteten rung neu belebt und damit das Leben vieler Mitbür- Belastungszeugen das Dateninformationssystem ger unnötig erschwert hat. der Bundeswehr in datenschutzrechtlich bedenkli- cher Weise zur Ermittlung aller Wehrpflichtigen (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) gleichen Namens mißbraucht worden ist. Es ist schwer vorstellbar, daß ein Minister, der Auch mit der Wahrheitspflicht, Grundpfeiler des Ansehen und Vertrauen mit einer so schweren Hy- Soldatengesetzes, haben es der Minister und seine pothek belastet hat, ohne Schaden für die ihm an- engsten Mitarbeiter nicht allzu genau genommen; vertrauten Aufgaben im Amt verbleiben kann. Die denn obwohl schon am 14. Januar 1984 feststand, unvermeidliche Erosion seiner Autorität muß viel- daß die gegen den General erhobenen Vorwürfe un- mehr von Übel sein. Der Bundeskanzler war des- haltbar waren, wurden sie vom Verteidigungsmini- halb schlecht beraten, als er das Rücktrittsangebot ster, vom Parlamentarischen Staatssekretär Würz- des Bundesministers der Verteidigung, wenn es ein bach und vom Pressesprecher Oberst Reinhard solches gegeben hat, nicht annahm. noch nach diesem Zeitpunkt bis weit in den Januar hinein öffentlich ganz unverfroren wiederholt. (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) (Beifall bei der GRÜNEN) Er hat damit weder seiner Regierung,- noch der Das alles war kein Glanzstück an Urteilsfähigkeit Bundeswehr, noch Dr. Wörner selbst einen Gefallen und Führungskunst, schon eher eine Schmierenko- getan. mödie peinlichster Art. Wäre ähnliches von einem Hauptmann im Truppendienst zu verantworten, Sie, Herr Dr. Wörner, haben es allerdings in der brauchte er sich kaum noch Hoffnung zu machen, Hand, diesen Schaden einzugrenzen, indem Sie in den weiterführenden Verwendungslehrgang jemals der Erkenntnis, durch eigenes Verschulden untrag- besuchen und bestehen zu können. bar geworden zu sein, dem Beispiel Ihres Kollegen Graf Lambsdorff folgen und Ihr Amt zur Verfügung (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) stellen.

Einem Bundesminister der Verteidigung soll frei- (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD — lich aus einem solchen Fehlverhalten kein Nachteil Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Und Sie soll erwachsen. Und das, obwohl im Endergebnis festzu- ten auf Ihre Pension verzichten!) stellen ist, daß die Entscheidung des Bundesmini- sters der Verteidigung, General Dr. Kießling zum Die notwendige Wiederherstellung des verlorenge 31. Dezember 1983 zur schlichten Entlassung vorzu gangenen Vertrauens in eine untadelige Amtsfüh schlagen, rechtswidrig war; rechtswidrig aus all den rung an der Spitze des Verteidigungsministeriums 5678 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bastian läßt Ihnen keine andere Wahl. Es würde Sie ehren, Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter Horn, wenn Sie wenigstens dies zu erkennen vermöch- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abge- ten. ordneten Graf Stauffenberg? (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD — Zuruf von der SPD: Der sollte mal zuhö Horn (SPD): Ich würde das gern machen. Aber ich ren!) muß Ihnen sagen: Die Zeit läuft mir hier wirklich davon; haben Sie Verständnis dafür, daß ich das im Zusammenhang darstelle. Ich bin sonst immer wie- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- der bereit, zu Fragen auch Auskunft zu geben. geordnete Horn. Lassen Sie mich hier auf drei Aspekte hinwei- sen. Erstens. Einige Soldaten und Beamte haben (SPD): Herr Präsident! Meine Damen, meine Horn durch ihr Handeln im Zusammenhang mit der An- Herren! Wenn wir in dem Ausschuß politisch Bilanz gelegenheit des Generals Kießling ihre Dienst- ziehen, dann haben wir einen Verteidigungsmini- pflicht nachhaltig und schwerwiegend verletzt. ster, der sein Amt mit großen Erwartungen angetre- ten hat und der nach 16 Monaten im Ansehen der (Zuruf von der SPD: Das ist wahr!) Bundeswehr auf den totalen Nullpunkt gekommen Disziplinarverfahren wären eigentlich am Platze. ist; Wie das mit der Tatsache in Einklang gebracht wer- (Beifall bei der SPD) den soll, daß Sie, Herr Minister, für Ihre eigenen Amtspflichtsverletzungen nicht zur Rechenschaft dann haben wir einen Staatssekretär im Bundes- gezogen worden sind, wird Ihr Geheimnis dabei kanzleramt, Herrn Professor Schreckenberger. Der bleiben. Untersuchungsausschuß hat bestätigt, ihm sind Ak- ten zuwider, er mag sie nicht lesen und überhaupt (Lutz [SPD]: Und das des Kanzlers!) nicht prüfen; dann haben wir einen Bundeskanzler, Oder soll nun wieder das alte Sprichwort Geltung der seinem Verteidigungsminister zwar Aufträge haben, daß man die Kleinen hängt und die Großen erteilt, ihre Durchführung aber noch nicht einmal laufen läßt? überprüft. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Meine sehr verehrten Damen und Herren, neuer- Gleiche Brüder, gleiche Kappen!) dings reden Sie von der Regierungspartei ja so Einige deutsche Offiziere, z. B. im NATO-Haupt- gerne von chaotischen Verhältnissen und vom Cha- quartier, haben eifrig und beflissen — — os, das ausbrechen würde, wenn Sie, meine Herren, (Jungmann [SPD]: Wer war das? Jancke nicht mehr regierten. Ich sage Ihnen: Kein Minister und von Boguslawski?) in der dreizehnjährigen Epoche der sozialliberalen Koalition hat ein solches Chaos angerichtet wie die- — Sie haben die Namen gesagt, Herr Kollege Jung- ser Verteidigungsminister. Wenn Franz Josef mann. Ich möchte sie deshalb nicht benennen, weil Strauß sagt, daß in dieser Regierung nicht das orga- die abstoßende Art und Weise, in der hier über nisierte Chaos, sondern das chaotische Chaos einen Kameraden gesprochen wird, geradezu wi- herrscht, dann weiß er, worüber er spricht. derlich ist. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Das ist wahr!) Wenn die Regierung und die sie tragenden Frak- tionen allerdings der Vorstellung huldigen sollten, Sie haben an der Verbreitung der Gerüchte über mit dem heutigen Tage sei die Sache endgültig zu General Kießling mitgewirkt. Diese Soldaten haben den Akten gelegt, dann kann ich Ihnen versichern: ihre Pflicht zur Kameradschaft verletzt. Die breite Daraus wird nichts. Sie, Herr Minister, wenn Sie Öffentlichkeit und auch wir Sozialdemokraten kön- sich im Augenblick auch nicht dort auf die Regie- nen keinerlei Verständnis dafür aufbringen, wenn Beamte und Soldaten, von denen ich hier rede, für rungsbank begeben haben, wo sie eigentlich hinge- - hören — denn wir sprechen nicht zu dem Abgeord- ihre Pflichtverletzungen demnächst sogar mit Be- neten Wörner, sondern wir sprechen zu dem Mini- förderungen belohnt werden, während der kleine ster Wörner; Stabsfeldwebel mit allen möglichen Verfahren überzogen wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) eine gleiche Stillosigkeit hätte Georg Leber nie be- Der zweite Aspekt hat seine Wurzeln im Solda- gangen; als wir hier im Parlament die Angelegen- tengesetz. Das verpflichtet jeden Vorgesetzten, in heit Krupinski/Franke diskutierten —, seiner Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel zu (Zurufe von der SPD) geben, also Vorbild zu sein. Wie wollen Sie eigent- Sie, Herr Minister, werden tagtäglich von dieser Af- lich, Herr Minister Wörner, von den Unteroffizieren färe eingeholt. Es ist ja nicht nur der MAD, dessen und Offizieren der Bundeswehr glaubhaft diese ge- Struktur sicher tiefgreifende Änderung bedarf; setzliche Pflicht einfordern, wo Sie doch selbst über auch bei einer Vielzahl von künftigen Personalent- Wochen hinweg in aller Öffentlichkeit das schiere scheidungen — eine sehr sensible Angelegenheit, Gegenteil von dem vorgeführt haben, was vorbildli- gerade im Bereich der Bundeswehr — werden wir che Haltung und Pflichterfüllung gebieten? die Nachwehen dieses Falles verspüren. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5679

Horn Das Soldatengesetz verpflichtet außerdem jeden hörung, jede Sorgfalt und jedes Verantwortungsge- Vorgesetzten, für seine Untergebenen zu sorgen. fühl vermissen ließen? Wie wollen Sie eigentlich, Herr Minister, von denje- Das alles zeigt: Dr. Manfred Wörner hat alle die nigen, die in der Bundeswehr militärische Vorge- Grundsätze mißachtet, die in der Bundeswehr für setzte sind, die Erfüllung ihrer Vorgesetzten- und das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Unterge- Fürsorgepflicht gegenüber ihren Untergebenen ver- benen sowie den Soldaten untereinander nicht nur langen, wo Sie doch über Wochen hinweg — und selbstverständlich sein sollten, sondern gesetzlich das noch mit abstoßenden Mitteln — damit beschäf- tigt waren, nur Nachteiliges und Belastendes im vorgeschrieben sind. Deswegen ist Herr Dr. Wörner Blick auf General Kießling zu beschaffen? als Bundesminister der Verteidigung auch untrag- bar. (Wimmer [Neuss] [CDU/CSU]: Herr Kolle (Sehr wahr! bei der SPD) ge, das stimmt nicht! — Biehle [CDU/CSU]: Herr Kollege Horn, das, was Sie sagen, ist Sie sind, Herr Dr. Wörner, selbst wenn Sie das woll- die Unwahrheit! — Weitere Zurufe von der ten, gar nicht mehr imstande, die Ihnen vom Grund- CDU/CSU — Biehle [CDU/CSU]: Es sind gesetz verliehene besondere Stellung als Inhaber doch gefälschte Berichte dem Minister vor der Befehls- und Kommandogewalt über die Bun- gelegt worden! Das ist doch die reine Un deswehr auszuüben, weil jeder Soldat mit dem Fin- wahrheit!) ger auf Sie zeigen und fragen kann: Und wie hast du in entsprechender Situation gehandelt? — Sie wissen ganz genau, daß das stimmt. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Das Soldatengesetz sagt weiter: „Der Zusammen- der GRÜNEN) halt der Bundeswehr beruht wesentlich auf Kame- radschaft. Sie verpflichtet alle Soldaten, die Würde, Die für Sie niederschmetternde Bemerkung Ihres die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten Fraktionsvorsitzenden Dr. Dregger, daß im Krisen- und ihm in Not und Gefahr beizustehen." fall der Oberbefehl ohnehin auf den Kanzler über- gehe, kann für uns und unsere Soldaten kein Trost (Zuruf des Abg. Wimmer [Neuss] [CDU/ sein. Diese Bemerkung ist allenfalls ein deutliches CSU]) Symptom für die Einschätzung der Qualitäten des Dann sagen Sie doch bitte einmal, wie der Minister Herrn Dr. Wörner durch seine Fraktion. Wörner von den Soldaten unserer Bundeswehr Ka- (Beifall bei der SPD) meradschaft verlangen will, wo er doch über Wo- chen hinweg mit der Würde und der Ehre des Gene- Ich sehe nicht, wie Sie als angeschlagener Mini- rals Schindluder getrieben und auch seine Rechte ster im Kabinett im Widerstreit mit Interessen an- gröblich mißachtet hat. derer Ressorts die Entscheidungen durchsetzen wollen, die für die Streitkräfte notwendig sind, etwa (Beifall bei der SPD — Berger [CDU/CSU]: gegenüber dem Finanzminister. Da regiert ja, wie Hat er nicht! — Wimmer [Neuss] [CDU/ wir wissen, inzwischen auch der Außenminister CSU]: Wie war das mit dem Bademantel? hinein, der seit Jahren bei den Wiener Truppenab- Wer ist das gewesen?) bauverhandlungen kräftig mauert und jetzt den Wie wollen Sie denn eigentlich von den Soldaten Umfang der Bundeswehr bestimmen will. Dem Ver- der Bundeswehr verlangen, daß sie sich in Not un- teidigungsminister ist doch politisch längst das tereinander beistehen, wo dieser Minister dem in Rückgrat gebrochen worden. Er ist nur noch ein Jo- schwere seelische Not geratenen General Kießling Jo in der Hand des Kanzlers. nicht nur nicht beigestanden, sondern ihn durch (Zustimmung bei der SPD — Dr. Klejd sein eigenes Handeln an den Rand einer persönli- zinski [SPD]: Wo ist denn der Jo-Jo?) chen Katastrophe getrieben hat? Das sind die Personalprobleme der Bundeswehr, (Beifall bei der SPD — Zuruf des Abg. Gat die er ohne jede Perspektive und ohne jedes Kon- termann [FDP]) zept vor sich herschiebt. Ich sage Ihnen, die- Zustim- Drittens weise ich darauf hin, daß auch die mung der Sozialdemokraten zu den vielfältigen Maßnahmen werden Sie nur dann erlangen, wenn Grundsätze der Inneren Führung — sie sind Inhalt einer Zentralen Dienstvorschrift — verbindlich Sie an die unumgängliche Strukturveränderung der sind. Wie wollen Sie eigentlich, Herr Minister, diese Bundeswehr herangehen. Wir — das Parlament — und Grundsätze glaubwürdig vertreten und ihnen mit die Bürger draußen, insbesondere aber die Sol- Nachdruck Geltungskraft verleihen, wo Sie doch im daten, müssen wissen, wohin die Reise geht. Falle des Generals Kießling wesentliche Grund- Auch im westlichen Bündnis können Sie, Herr sätze der Inneren Führung mißachtet und mit Fü- Dr. Wörner, die Interessen der Bundesrepublik gar ßen getreten haben? Ein Grundsatz der Inneren nicht mehr nachhaltig zur Geltung bringen. Schuld Führung lautet: Die Ausübung der Disziplinarge- daran ist allerdings die gesamte ,,Wende"-Regie- walt erfordert große Sorgfalt und hohes Verantwor- rung, weil — wie es Helmut Schmidt vor einem hal- tungsgefühl. Wie wollen Sie von denjenigen, die in ben Jahr vorausgesagt hat — die Bundesregierung der Bundeswehr als Vorgesetzte Disziplinargewalt den Spielraum deutscher Politik inzwischen verge- ausüben, die Verwirklichung dieses Grundsatzes ben hat. Da wird der Bundesaußenminister in Wa- verlangen, wo sie doch selbst bei der Ausübung shington unter „ferner liefen" behandelt, und der Ihrer Disziplinargewalt, etwa bei Ihrer Zeugenan- Verteidigungsminister Wörner ist nur noch ein Ob- 5680 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Horn jekt in einem Konzert, das andere zum Nachteil der Lassen Sie mich zu Beginn eine positive Feststel- Bundesrepublik Deutschland dirigieren. lung zum Gesamtkomplex machen. (Dr. Hupka [CDU/CSU]: Eine Märchen stunde ist das, die Sie abhalten! — Weitere Vizepräsident Stücklen: Gestatten Sie eine Zwi- Zurufe von der CDU/CSU) schenfrage des Herrn Abgeordneten Jungmann? Sprachlos haben Sie es doch hinnehmen müssen, Herr Minister, daß Sie bei der NATO-Tagung im Francke (Hamburg) (CDU/CSU): Nein, gestatte ich April in der Türkei von Verteidigungsminister nicht. Weinberger in der Frage der Weltraumrüstung der USA schlicht desavouiert worden sind. Das Geran- Vizepräsident Stücklen: Gilt das für die Gesamt- gel bei der NATO-Frühjahrstagung um den finan- zeit Ihrer Ausführungen'? ziellen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland hat doch das ganze Dilemma deutlich gemacht. Die Francke (Hamburg) (CDU/CSU): Das ist richtig, Bundesregierung redet — nur noch verbal — von Herr Präsident. Rüstungskontrolle und Abrüstung. Eine aktive Si- Einsetzung, Verlauf und Ergebnis des Untersu- cherheitspolitik, die diesem Ziel dient, ist jedoch chungsausschusses, vor allen Dingen aber die zü- nicht vorhanden. gige und vollständige Rehabilitierung von Herrn (Dr. Todenhöfer [CDU/CSU]: Das ist doch General Dr. Kießling, sind ein erneuter nachhalti- falsch! — Zuruf von der FDP: Das ist Ver ger Beweis für die Fähigkeit des demokratischen leumdung!) Rechtsstaates, mit aufgetretenen Problemen offen im Rahmen bestehender Gesetze und Vorschriften Die Stationierung amerikanischer Mittelstrecken- fertigzuwerden. waffen erfolgt heute ausschließlich in der Bundes- republik. Die Bundesregierung läßt der Raketensta- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tionierung in unserem Land freien Lauf. Für die Hier sind Fehler, Schwächen und Versäumnisse Neuaufnahme von Verhandlungen setzt sie sich nur sachlicher wie menschlicher Art ohne Ansehen der noch mit Worten ein. Person und des Amtes öffentlich untersucht und (Zurufe von der CDU/CSU) bewertet worden. Daß die beiden Hauptbetroffenen, General Dr. Kießling und Bundesminister Dr. Wör- Die Amerikaner fühlen sich getäuscht von diesem ner, unabhängig von den sachlichen Notwendigkei- Verteidigungsminister mit großen Versprechungen ten, sich am Ende menschlich verständigen konn- von Santa Barbara bis nach München, die er nicht ten, ehrt beide. einzuhalten imstande ist. (Zuruf von der SPD: Was? — Weitere Zu (Zuruf von der CDU/CSU) rufe von der SPD) Das ist ja auch kein Wunder. Der Bundeskanzler ist Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine hauptsächlich mit dem Zustand seiner Regierung zusätzliche Bemerkung machen. In der Öffentlich- befaßt, der Außenminister mit dem Zustand seiner keit sind gelegentlich Parallelen zu historischen Partei und der Verteidigungsminister mit den Fol- Ereignissen gezogen worden. Ich weise diese mit gen seiner Affäre. Nachdruck zurück, und zwar vor allem aus zwei (Beifall bei der SPD — Zurufe von der Gründen: CDU/CSU) Erstens. Der freiheitlich-demokratische Rechts- Ihnen, Herr Minister Wörner, haftet das Markenzei- staat braucht sich nicht mit den Verhältnissen einer chen an „nur bedingt handlungsfähig". Ein solcher Diktatur in einen Topf werfen zu lassen. Minister kann die Probleme der Bundeswehr nicht Zweitens. Moralisch-politischer Ansatz, Ablauf lösen, und man kann ihm auch die Fragen der mili- der Ereignisse und Folgen der Fritsch-Affäre zeigen tärischen Sicherheit nicht anvertrauen. in keinem einzigen Punkt Vergleichsmöglichkeiten Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. zu dem hier in Rede stehenden Vorfall. - (Beifall bei der SPD und bei den GRÜ Meine Damen und Herren, die Öffentlichkeit, wir, NEN) die Betroffenen fragen: Wie konnte dies alles ge- schehen? Ich will versuchen, die wesentlichsten Ab- läufe nachzuzeichnen und eine kurze Bewertung Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- vorzunehnen. geordnete Francke (Hamburg). Am Anfang stand das Gerücht. (Dr. Klejdzinski [SPD]: Herr Francke, wo (Dr. Klejdzinski [SPD]: Stand das Wort!) ist der Minister?) Wie ein Krebsgeschwür wucherte es seit Jahren, mal als Frage „Trifft es zu?", mal als halbe Feststel- Francke (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Präsident! lung, mal auch nur als bissige, ironische Berner Meine Damen und Herren! Herr Kollege Horn, die kung unter „Kameraden". Maßlosigkeit und das Pathetische Ihres Vortrags Lassen Sie mich hier eine Feststellung treffen, stehen in deutlichem Gegensatz zum Wahrheitsge- die sich im Bericht nicht wiederfindet, die aber not- halt Ihrer Ausführungen; ich komme darauf aber wendig ist: Alle, die sich an diesem Gerücht in noch zurück. irgendeiner Weise beteiligt haben, sind schuldig ge- (Beifall bei der CDU/CSU) worden. Es wäre nach meiner Auffassung selbstver- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5681

Francke (Hamburg) ständliche Pflicht, vor allen Dingen Kamerad- gearbeitet worden ist. Da sagt ein Regierungsdirek- schaftspflicht, gewesen, dem Gerücht entgegenzu- tor zu dem mit den Ermittlungen beauftragten treten, es totzutreten, Stabsfeldwebel „Schreiben Sie mal", obwohl er (Jungmann [SPD]: Der Minister hat das selbst gar nicht ermittelt hat. Gerücht, das totgetreten werden sollte, auf (Zuruf von der SPD: Sehr eindrucksvoll!) genommen und ein „Sicherheitsrisiko" dar aus gemacht!) Im Protokoll der Vernehmung liest sich dies wie folgt: Daraufhin habe ich — der Stabsfeldwebel — und dies im Sinne des Betroffenen wie auch im ihm — dem Regierungsdirektor — gesagt, ich habe Sinne der doch bekannten und zu Recht bestehen- hier eine Erkenntnis von einer Person, die ich nicht den Sicherheitsvorschriften. kenne, die wiederum einem Kommissar etwas be- Nachdem nun durch die bekannten Abläufe die richtet hat, der wiederum einem Hauptkommissar Angelegenheit aktenkundig wurde, hätte man er- etwas berichtet hat, der wiederum mich jetzt ange- warten dürfen, ja, erwarten müssen, daß unabhän- rufen hat. Ich halte dies nicht für rund. Was sollen gig vom Dienstgrad des Beschuldigten die Verant- wir machen? Sollen wir weitere Ermittlungen vor- wortlichen auch verantwortlich gehandelt hätten. nehmen? Die Antwort des Regierungsdirektors: Nein, das reicht. Daraufhin habe ich — sagt der (Demonstrative Zustimmung bei der SPD) Stabsfeldwebel — ihn gefragt, wie ich dies formulie- Aber nichts dergleichen ist geschehen. ren solle, weil ich es j a nicht selbst ermittelt habe, (Zurufe von der SPD: Das ist wahr! — Sehr weil ich nicht tätig geworden bin. — Daraufhin kam eben der schlimme erste Satz der Meldung zustan- gut!) de, wonach gesagt wurde, ich sollte schreiben: — Mit Ihren lautstarken Artikulierungen würde ich Durch geeignete Erkenntnisse wurde bekannt ... bedächtiger sein. Sie sollten erst hören, was ich zu sagen habe. (Dr. Klejdzinski [SPD]: Das war der Schu lungsbericht!) Da erhält der Amtschef des ASBw, Admiral Schmähling, die Meldung und läßt sie unbearbeitet Ich habe dann darauf hingewiesen, daß wir selbst liegen, j a, er hält es noch nicht einmal für nötig, nicht tätig geworden sind und wir auch nicht festge- unverzüglich von dem aufgetauchten Verdacht an stellt haben, ob zu dem Zeitpunkt, der j a nicht be- die für die Fachaufsicht zuständigen Vorgesetzten kannt war, der General überhaupt in Köln hätte bzw. an den Minister Meldung zu machen. sein können oder an welchem Ort er gesehen wor- den ist. Ich habe darauf verwiesen, daß dies nicht (Jungmann [SPD]: Der war gerade im Ur durch uns ermittelt worden ist. Ich habe gefragt, laub!) wie ich dies jetzt schildern sollte. Normalerweise ist Admiral Schmähling hat schuldhaft — ich wieder- es ja so üblich, daß eine Sache rund ist und daß man hole es: schuldhaft — ein frühes Handeln unterlas- sagt: Okay, so ist die Sache. Er aber — der Regie- sen. rungsdirektor — sagte zu mir: Ja, das können wir noch später machen. — So weit das Zitat aus dem (Jungmann [SPD]: Erzählen Sie hier doch Protokoll. auch einmal, mit welcher schmutzigen In trige Schmähling von wem abgelöst wor Trotz weiterer Einwände des Stabsfeldwebels be- den ist!) stand der Regierungsdirektor darauf, daß der Hätte er pflichtgemäß und überlegt gehandelt, hätte Stabsfeldwebel einen Bericht schreibe. Laut Aus- wahrscheinlich alles Weitere einen für alle Beteilig- sage des Stabsfeldwebels lautete die Weisung sogar: ten besseren Verlauf genommen. „Sie müssen einen Bericht schreiben, das ist eilig." Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, Meine Damen und Herren, sind die Schuldigen der Kollege Biehle, hat in anderem Zusammenhang allein im unteren und mittleren Bereich der Hierar- einmal gesagt: Wir haben den Übergang vom Mo- chie zu suchen nach dem Motto: „Die Kleinen hängt - rast in den abgrundtiefen Sumpf erlebt. man, die Großen läßt man laufen"? Nein, eindeutig nein. Der Vortrag des Amtschefs des ASBw, Gene- (Zurufe von der SPD: Sehr richtig! --- Das ral Behrendt, am 14. September 1983 bei Minister ist wahr!) Dr. Wörner ist so, wie er gehalten worden ist, nicht Meine Damen und Herren, diese Feststellung kann zu rechtfertigen. Ich sage dies nicht aus der Rück- man getrost auf das gesamte Verfahren der Infor- schau. General Behrendt hätte klar sein müssen, mationsgewinnung und der Informationsbearbei- daß er nicht, wie geschehen, einen unzureichend tung des MAD anwenden. ermittelten Sachverhalt als eindeutiges Ermitt- lungsergebnis hätte darstellen dürfen. Dies ist aber (Dr. Klejdzinski [SPD]: Einschließlich Mi geschehen und, was erschwerend hinzukommt, ob- nister! — Jungmann [SPD]: Sie machen für wohl, wie die Ermittlungen eindeutig ergeben ha- Ihren Minister einen Persilschein!) ben, Dr. Wörner nachhaltig gefragt hat, ob nicht Es war erschütternd, nachvollziehen zu müssen, mit eine Verwechselung oder eine Intrige oder schlicht welcher Inkompetenz, Fahrlässigkeit, Wichtigtue- Ermittlungsfehler vorliegen könnten. Alle diese rei, Intriganz und Unfähigkeit Fragen wurden fahrlässig vernachlässigt. (Dr. Klejdzinski [SPD]: Der Minister ge (Abg. Jahn [Marburg] [SPD] meldet sich zu handelt hat!) einer Zwischenfrage) 5682 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter ten Ermittlungsstopp begründet wurde. Wesentli- Francke, es bleibt dabei, daß Sie keine Zwischenfra- ches Ziel der Vereinbarung war, Aufsehen in der gen zulassen? Öffentlichkeit zu vermeiden. Für das menschlich richtige Verhalten von Francke (Hamburg) (CDU/CSU): Ich möchte mich Dr. Wörner muß darüber hinaus festgehalten wer- jetzt kurz den Ereignissen vom November/Dezem- den, daß er Herrn General Dr. Kießling und dessen ber 83 zuwenden. Der Vorschlag von Staatssekretär Vertrauensperson immer seine Bereitschaft zum Dr. Hiehle, die Sicherheitsüberprüfung fortzuset- Gespräch bekundet haben. General Dr. Kießling hat zen, entsprach formal den seit 1972 bestehenden sich jedoch, wie wir wissen, als Gesprächspartner Sicherheitsbestimmungen. Es müssen jedoch er- mehrfach General Altenburg gesucht. Dies ist in hebliche Zweifel angemeldet werden, ob dies ein keiner Weise zu beanstanden. Aber umgekehrt sachgerechter Vorschlag vor. Jedenfalls ist die wei- kann — das sage ich an die Adresse der SPD — tere Behandlung der Angelegenheit nachhaltig zu dem Bundesminister nicht angelastet werden, daß beanstanden. Wir wissen heute, daß die Fortsetzung er von sich aus nicht das Gespräch gesucht hätte. der Sicherheitsüberprüfung lediglich darin bestand, den alten Bericht aus dem August/September im (Jungmann [SPD]: Wieso denn das nicht?) wesentlichen neu zu formulieren und um die zwei- Warum hielt die Vereinbarung vom 19. Septem- felhaften, völlig unzureichenden „Ermittlungsergeb- ber nicht? Ich habe bereits unsere Kritik an der nisse" der Kölner Kriminalpolizei anzureichern — Entscheidung von Staatssekretär Dr. Hiehle zur mit einem wesentlichen Unterschied: aus „Kölner Fortsetzung der Sicherheitsüberprüfung, dem Er- Kriminalpolizei" wurde schlicht „LKA", Landeskri- gebnis und seinen Folgen dargestellt; ich will mich minalamt. Der oberflächliche Beobachter mag dies nicht wiederholen. Es darf aber auch nicht verkannt übersehen. Wir konnten leider auch nicht mit letz- werden, daß das Verhalten von General Dr. Kieß- ter Sicherheit klären, wer diese Veränderung vorge- ling ebenfalls dazu beigetragen hat, daß die Verein- nommen hat. Aber für den weiteren Gang der Er- barung brüchig wurde. Die Vereinbarung hatte zum eignisse, für die Bewertung durch alle damit dann Inhalt — ich zitiere aus dem Bericht —: beschäftigten Personen war dies von entscheiden- der Bedeutung. „LKA", Landeskriminalamt, gab der Bundesminister Dr. Wörner und General ganzen „Ermittlung" die verstärkende höhere Wir- Dr. Kießling kamen endgültig überein, es bei kung. dem früher vereinbarten Zeitpunkt der Verset- zung in den Ruhestand zum 31. März 1984 zu Ich kehre zu den Ereignissen des August/Sep- belassen. General Dr. Kießling sollte nach Be- tember 83 zurück. Dabei darf ich zunächst in Ihr ginn eines ab 3. Oktober 1983 ohnehin vorgese- Gedächtnis zurückrufen: General Dr. Kießling hatte henen Krankenhausaufenthaltes seinen Dienst bereits vor den Gesprächen am 15./19. September nicht wieder aufnehmen und sich so verhalten, mehrfach Dr. Wörner um Ablösung von seinem Po- daß durch sein Auftreten in der Öffentlichkeit sten in Brüssel gebeten, und zwar aus gesundheitli- an seinem Krankheitszustand kein Zweifel ent- chen Gründen, und unabhängig von den dienstli- stehen könnte. chen Verbindungen der Herren Dr. Wörner und Dr. Kießling waren sie miteinander gut bekannt. Tatsächlich aber hat das Auftreten von Dr. Kießling in der Öffentlichkeit die Gefahr herbeigeführt, daß Bei seinem Amtsantritt hat Dr. Wörner unter an- der Krankheitszustand in Brüssel angezweifelt derem geschworen, „Gerechtigkeit gegen jeder- wurde. Dem Bundesminister wurden entspre- mann" zu üben. chende Recherchen der Presse bereits Ende Okto- (Jungmann [SPD]: Selbstgerechtigkeit!) ber berichtet. Nicht umsonst hat doch General Al- Dr. Wörner hat im Untersuchungsausschuß und tenburg General Kießling an diesen Teil der Verein- mehrfach an anderer Stelle überzeugend dargelegt, barung fernmündlich nachdrücklich erinnern müs- daß er trotz bestehender Zweifel und seiner persön- sen. lichen Betroffenheit den Sicherheitsinteressen der Wenden wir uns nun dem Datum vom 8. Dezem- Vor- Bundesrepublik Deutschland den eindeutigen ber 1983 zu: Durch den Bericht des ASBw vom geben mußte: Im Zweifel für die Sicherheit. rang 8.sind Dezember der Bundesminister 1983 und ein (Jungmann [SPD]: Für den Angeklagten!) Teil seiner Berater getäuscht worden. Er ist von den Er hat nach unserer festen Überzeugung richtig ge- für die Dienst- und Fachaufsicht zuständigen Vor- handelt, und aus seinem damaligen Verhalten ist gesetzten falsch beraten worden. ihm kein Vorwurf zu machen. (Jungmann [SPD]: Das stimmt nicht!) Daher war auch aus diesem Zusammenhang die Trotz seiner erneuten Nachfragen und Zweifel eine angemessene Absprache vom 19. September konnte er nach unserer festen Überzeugung weder und sachgerechte Lösung. Sie berücksichtigte die die Täuschung erkennen noch — folglich — den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik, und sie entsprechenden falschen Ratschlägen entgegentre- berücksichtigte umfassend die persönlichen Inter- ten. Es bleibt in diesem Zusammenhang festzuhal- essen von General Dr. Kießling. Ich sage dies mit ten, daß die gesamte militärische und zivile Spitze aller Klarheit, weil natürlich Dr. Kießling wissen des BMVg ein sofortiges Handeln des Ministers ein- mußte, daß mit dieser von ihm getroffenen Verein- mütig forderte und befürwortete. barung andererseits auch ein Widerspruch zwi- schen seinem natürlichen Aufklärungsersuchen Nach unserem Erkenntnisstand mußte der Mini- und dem gleichzeitig in seinem Interesse vereinbar- ster wie geschehen handeln. Er hatte dafür drei Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5683

Francke (Hamburg) Handlungsmöglichkeiten, drei Konzepte: erstens Die Ermittlungen wurden sachgerecht durchge- den Entzug der Sicherheitsbescheide, zweitens eine führt und wurden nach belastenden und entlasten- vorläufige Dienstenthebung und drittens das Vor- den Beweisen ausgerichtet. ziehen der Zurruhesetzung. (Weitere Zurufe des Abg. Jungmann (Dr. Klejdzinski [SPD]: Und viertens den [SPD]) Hut zu nehmen!) Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter Von diesen drei Möglichkeiten hat er sich bekann- Francke, einen Augenblick. Ich bitte, Herr Abgeord- termaßen für die letzte Möglichkeit, das Vorziehen neter Jungmann, nicht permanent dazwischenzure- der Zurruhesetzung, entschieden. Damit, meine Da- den. men und Herren, hat der Minister — trotz der für ihn subjektiv verschärften Sachlage — erneut die (Zuruf von der SPD: Zwischenfragen zulas Maßnahme ergriffen, die sowohl für das Ansehen sen!) General Dr. Kießlings als auch für das Wohl der Bundesrepublik die beste war. Francke (Hamburg) (CDU/CSU): Dies ist keine Bewertung, Herr Horn und Herr Jungmann, son- Die Entscheidung des Ministers, General dern es ist das, was Sie selber mit uns gemeinsam Dr. Kießling nach § 50 Soldatengesetz vorzeitig zu im Untersuchungsbericht festgestellt haben. entlassen, war rechtmäßig. Dies ist der Kern der Feststellung des Untersuchungsausschusses. Die Ziel der Bemühungen des Bundesministers war SPD-Fraktion verkennt nach meiner Auffassung es, keinen Freispruch zweiter Klasse zu erreichen. bei ihrer rechtlichen Beurteilung, daß zwar die dar- Deshalb wurde auch das Ermittlungsverfahren zum aufhin im Dezember vom Bundespräsidenten ge- frühestmöglichen Zeitpunkt abgeschlossen; schnel- troffene Entscheidung aufgehoben werden mußte, ler ging es nicht. Dies ist unsere objektive Feststel- weil sie auf falschen Tatsachen beruhte; für die Be- lung. urteilung der Entscheidung des Bundesministers, Damit komme ich zum letzten Punkt. Die SPD einen Antrag nach § 50 Soldatengesetz zu stellen, Fraktion behauptet, die Rehabilitierung hätte frü- kann jedoch nur auf die subjektive Lage des Bun- her erfolgen können. Dem muß ich widersprechen. desministers abgestellt werden. Die Rehabilitierung durch den Bundeskanzler und den Bundesminister wurde zum frühestmöglichen Ich möchte mich vor einigen Schlußbemerkungen Zeitpunkt und im größtmöglichen Umfang vorge- dem Januar/Februar 1984 zuwenden. Durch das nommen. Insbesondere auch der Bundeskanzler Verhalten von Staatssekretär Dr. Hiehle anläßlich hat unter Berücksichtigung seiner sonstigen Amts- des Gesprächs am 13. Dezember 1983 in München geschäfte, der Reise nach Luxemburg und dem Be- wurde die Situation verschlechtert. Ich bedaure such in Israel, schnell und umsichtig gehandelt. diese Feststellung um so mehr, als ich Staatssekre- Ich will darauf verzichten, mich mit einem Teil tär Dr. Hiehle stets als einen untadeligen, korrekten des weiteren Umfeldes in dieser Affäre zu beschäf- Beamten kennen- und schätzengelernt habe. tigen. Nur dies sei noch gesagt: Einen breiten Raum in der öffentlichen Diskus- (Bindig [SPD]: Sie lesen ja alles ab! Reden sion, meine Damen und Herren, und auch im Unter- Sie mal frei!) disziplinaren Vorer- suchungsausschuß haben die Ich habe die Hoffnung, daß alle Beteiligten in Zu- eingenommen; hier sollte auch nichts mittlungen kunft die Lehre beherrschen: Reden ist Silber, beschönigt werden. So notwendig sie waren — denn Schweigen ist Gold. Unüberlegte Reden haben in Dr. Kießling hatte das Verfahren selbst bean- allen Phasen des Geschehens nicht geholfen, eher tragt —, so wäre ein Weniger besser gewesen. Oder verletzt und geschadet, und ich bedaure, feststellen anders gesagt: Auch hier waren die Ratschläge, die zu müssen, daß ich diesen Satz auch auf die Ausfüh- gegeben wurden, keine guten Ratschläge; rungen des Kollegen Horn beziehe. (Dr. Klejdzinski [SPD]: Wer war denn da (Zuruf von der SPD: Und auf Ihre eigene- verantwortlich?) Rede!) nicht jedem Ratschlag hätte gefolgt werden sollen. Welches sind die Schlußfolgerungen? Dabei verkenne ich durchaus nicht, daß Zeitdruck Erstens. Die Forderung nach dem Rücktritt von und die öffentliche Diskussion starke Einflüsse aus- Bundesminister Dr. Wörner ist nicht gerechtfertigt, geübt haben. Die Unterstützung der Einleitungsbe- (Zurufe von der SPD) hörde durch weitere Stellen des BMVg ist rechtlich im übrigen nicht zu beanstanden; sie war sogar im seine im September bzw. Dezember getroffenen Endergebnis hilfreich, zumal die Tätigkeit der er- Entscheidungen waren rechtmäßig, und Dr. Wörner mittelnden Beamten und Soldaten koordiniert war. genießt das uneingeschränkte persönliche und poli- Nur so konnten im übrigen die Ermittlungen inner- tische Vertrauen der CDU/CSU-Fraktion. halb kürzester Zeit abgeschlossen werden. (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD) Herr Jungmann und Herr Horn, Sie haben hier die Unwahrheit gesagt. Zweitens. Die Tätigkeit des MAD ist für die Auf- rechterhaltung der Sicherheit der Bundesrepublik (Jungmann [SPD]: Gelogen hat der Mini unerläßlich. Der vorgelegte Bericht zeigt schlimme ster vor dem Parlament am 25. Januar!) Mängel auf. Es wäre jedoch ein Fehler, diesen Be- 5684 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Francke (Hamburg) richt zum generellen Maßstab der Beurteilung der haben durch die Mißachtung, die Sie über weite Arbeit des MAD zu machen. Strecken dieser Debatte dem Deutschen Bundestag, Drittens. Die CDU/CSU-Fraktion erwartet, daß dem Parlament durch Ihr Verhalten haben zuteil der Bundesminister der Verteidigung auf der Basis werden lassen. des Berichts der Höcherl-Kommission umgehend (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) alle notwendigen Maßnahmen ergreift, und wir be- Es wird Ihr Geheimnis bleiben, wie Sie jungen Sol- grüßen es daher sehr, daß erste Entscheidungen ge- daten die Hochachtung vor diesem Parlament ver- troffen sind. mitteln wollen, wenn Sie sich so verhalten, wie Sie Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen dies bei vielen Rednern in dieser Debatte getan Sie mich ein abschließendes Wort an General haben. Dr. Kießling richten. Ich übernehme zu diesem (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Zweck den Schlußsatz aus dem Schreiben von Dr. Wörner an Dr. Kießling vom 1. Februar 1984. Ich Herr Bundeskanzler, Herr Wörner hatte doch zitiere: selbst zumindest einen Augenblick lang das richtige Ich habe zu keinem Zeitpunkt Ihre Ehre in Gespür, als er Ihnen am 30. Januar 1984 schriftlich seinen Frage gestellt. Ich bedaure, daß es über meine Rücktritt angeboten hat. Damals stand ihm damalige Entscheidung zu öffentlichen Erörte- wohl einen Moment lang vor Augen, daß der unta- rungen gekommen ist und daß Sie schwere delige Demokrat Georg Leber im Februar 1978 zu- Kränkungen erfahren haben. rücktrat, weil er für Fehler seiner Mitarbeiter ein- stand, von denen er persönlich gar nichts wußte. (Zuruf von der SPD: Sehr peinlich!) (Beifall bei der SPD) Dies habe ich nicht gewollt. Ich wünsche Ihnen, daß Sie über diese schweren Wochen bald hin- Sie, Herr Kollege Wörner — das würde Sie eh- wegkommen. ren —, hielten wohl selbst zunächst den Gedanken, im Amt zu bleiben, obwohl Sie nicht nur fremdes (Zuruf von der SPD: Wo bleibt die Ent Fehlverhalten, sondern schwerwiegende Fehler in schuldigung?) dieser Sache zu vertreten hatten, für unerträglich, Ich bedanke mich. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fehler — das stelle ich mit Anerkennung fest —, die im Untersuchungsbericht im Hinblick auf Ihren Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- Umgang mit Ihrem Schweizer Gewährsmann sogar geordnete Dr. Vogel. von Ihren eigenen Parteifreunden einstimmig auf Seite 51 des Berichts festgestellt worden sind, ein- stimmig! Dr. Vogel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver- ehrten Damen und Herren! Die bisherige Debatte (Beifall bei der SPD — Lutz [SPD]: Viel hat deutlich gemacht, daß in der Personalangele- leicht hört er mal zu, der Herr Wörner! — genheit des Generals Dr. Kießling Angehörige des Weitere Zurufe von der SPD) MAD, aber auch der Bundesverteidigungsminister — Ich finde es bemerkenswert, daß Sie all diese versagt haben. Versagt hat aber noch ein weiterer Umstände ebenso erheitern wie den Bundeskanz- politischer Verantwortlicher, versagt haben Sie, ler; ich kann nichts Heiteres an der Auseinander- Herr Bundeskanzler. setzung, die wir hier führen, finden. (Beifall bei der SPD — Zustimmung des (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Abg. Dr. Ehmke [Ettlingen] [GRÜNE]) Vielleicht, Herr Kollege Wörner, haben Sie in Dabei denke ich nicht in erster Linie an die Sorglo- dem Augenblick, in dem Sie Ihr Rücktrittsangebot sigkeit, mit der Sie die Ruhestandsversetzung des schriftlich dem Bundeskanzler überreichten, der es Generals Dr. Kießling trotz der mahnenden Stim- dann zerriß, auch einen Augenblick an die schnei- men aus dem Bundeskanzleramt im Dezember 1983 dende Schärfe gedacht, mit der Sie damals- Georg gebilligt haben. Ich denke auch nicht in erster Linie Leber zum Rücktritt gedrängt haben, oder daran, in daran, daß die Rehabilitierung des Generals von welch' peinliche Situation der Herr Bundespräsi- Ihnen im Januar 1984 grundlos um mindestens eine dent durch Sie in dieser Sache gebracht worden Woche verzögert wurde. Nein, Ihr Versagen — ich ist. wähle jetzt die Ihnen auf Grund Ihrer Sitzwahl an- gemessene Anrede —, Herr Abgeordneter Kohl, be- (Beifall bei der SPD) steht vor allem darin, daß Sie Herrn Wörner im Um so mehr, Herr Bundeskanzler, die Frage an Amt beließen, obwohl er sich jedenfalls durch sein Sie: Warum haben Sie den Rücktritt nicht ange- Verhalten im Januar 1984 nach allen politischen nommen? Maßstäben und allen soldatischen Grundsätzen für (Feilcke [CDU/CSU]: Aus guten Gründen!) das Amt des Bundesverteidigungsministers und als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt über Sie muten auf Grund der Entscheidung, die Sie zu die Bundeswehr ein für allemal disqualifiziert hat. vertreten haben, der Bundeswehr, der deutschen Öffentlichkeit und unseren Verbündeten als Vertei- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) digungsminister einen Mann zu, der seit dieser Af- Ich bedauere, Herr Kollege Wörner, hinzufügen färe ständig dem ausgesprochenen oder unausge- zu müssen, daß Sie sich heute auch disqualifiziert sprochenen Vorbehalt begegnet, er sei kritischen Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5685

Dr. Vogel Situationen nicht gewachsen, einen Mann, der sel- Dann haben Sie an den damaligen Bundeskanz- ber nicht das getan hat, was er von anderen ver- ler die Frage gestellt: langt, nämlich mit der vollen eigenen Person für Herr Bundeskanzler, wie wollen Sie mit einem Fehler einzustehen und geradezustehen. solchen Verteidigungsminister draußen und in- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) nen in der Bundesrepublik um Vertrauen wer- Herr Bundeskanzler, Sie halten einen Mann im ben? Amt, der bewiesen hat, daß ihm die rücksichtslose Ich richte diese Frage heute an Sie. Verfolgung eigener politischer Interessen, daß ihm Und ich frage weiter: Warum handeln Sie jetzt in die Selbstverteidigung wichtiger ist als die Wah- der Verantwortung des Bundeskanzlers nicht nach rung der Rechte derer, die seiner Fürsorge anver- Ihren eigenen Grundsätzen? Sie tun das doch nur traut sind. Ich spreche nur vom Januar, davon, was deshalb, weil es damals um den Sozialdemokraten er im Januar noch in die Wege geleitet hat. Georg Leber ging und weil es heute um den Christ- (Beifall bei der SPD) demokraten Manfred Wörner geht. Das ist doch der Sie halten einen Mann im Amt, den seit jenen ganze Unterschied. Vorgängen eine Atmosphäre der Verlegenheit, ja (Beifall und Pfui-Rufe bei der SPD) der Peinlichkeit umgibt, die in Neustadt bei Mar- Auch das, Herr Bundeskanzler, haben Sie selber burg bei dem Zapfenstreich anläßlich der Verab- gesagt, nicht heute; heute schweigen Sie oder ver- schiedung von General Dr. Kießling geradezu kör- folgen die Debatte mit übertünchtem Lächeln. Da- perlich zu spüren war. Und die unverändert andau- mals, am 26. Januar 1978, haben Sie gesagt — wie- ert, wenn dieser Minister mit der Truppe, mit den derum zitiere ich Sie wörtlich —: Soldaten, mit den Bürgern zusammentrifft. Es geht doch längst nicht mehr um den Bun- (Beifall bei der SPD — Francke [Hamburg] desminister ... Es geht um die schwierige [CDU/CSU]: Barer Unsinn!) Arithmetik der Koalition. Es geht um den Er- Herr Bundeskanzler, Sie halten einen Mann im halt der Macht. Amt, der in seinem Amt an Vertrauen und Autorität Sie haben sich selbst die Antwort gegeben, Herr mehr eingebüßt hat, als gerade dieses Amt verträgt Bundeskanzler. und der diese Einbuße auch nicht dadurch wettma- chen kann, daß er seit kurzem in der Öffentlichkeit (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) wieder mit der überzogenen Forschheit auftritt, die So bleibt nur die Erkenntnis, daß Sie Ihre eige- er schon früher fälschlicherweise für soldatisch nen Prinzipien, daß Sie Ihre eigene Glaubwürdig- hielt und die doch nur eine tiefe Unsicherheit ver- keit, daß Sie die Glaubwürdigkeit des Staates, der birgt und überspielen soll. Ihnen anvertraut ist, weil Sie für ihn Verantwor- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) tung tragen, daß Sie all das mit Füßen treten und leicht beseite räumen, wenn Ihnen das aus tagespo- Herr Bundeskanzler, Sie haben doch selber hier litischen Rücksichten opportun erscheint. Das ist im Deutschen Bundestag am 26. Januar 1978 als ein schlimmes Beispiel, das Sie da geben. Dabei Sprecher der damaligen Opposition den Rücktritt sind Sie doch gerade als Oppositionsführer nicht eines Verteidigungsministers gefordert und dabei müde geworden, die Bedeutung des persönlichen Maßstäbe entwickelt, denen wir auch heute noch Beispiels hervorzuheben. Auch das ist ein Wort aus unverändert zustimmen können. Ich zitiere Sie Ihrem Mund: wörtlich: Geistig-politische Führung erfordert mehr als Wenn ein Bundesminister Appelle und Reden: auch das ganz persönliche — so sagte der damalige Abgeordnete Kohl — Beispiel. für sein Amt Autorität und Vertrauen braucht, Wie wahr, Herr Bundeskanzler! dann ist es der Bundesminister der Verteidi- (Beifall bei der SPD) gung. Er ist mehr als jeder andere auf Autorität angewiesen, Welches Beispiel haben Sie denn in dieser Sache gegeben? Ich kann nur sagen: Ein überaus betrübli- — wie wahr — ches. — Das wird auch dadurch nicht besser, daß und Autorität ist immer die Autorität des Am- Sie gerade in diesem Zusammenhang Ihre Lebens- tes und die Autorität der Person. freude betont haben, daß Sie ausgerechnet nach all dem, was hier einem Bürger in Uniform angetan Ich würde sogar sagen: in erster Linie die Autorität worden ist, nach einer an Peinlichkeit nicht zu der Person, der Glaubwürdigkeit. überbietenden Pressekonferenz am 11. Februar (Beifall bei der SPD) 1984 Ihren Zuhörern versicherten, daß Sie das Le- Dann Trug der Abgeordnete Kohl den damaligen ben liebten und sich und Ihrem Kabinett auch Bundeskanzler, und ich frage heute Sie: durch diese Vorgänge die Lebensfreude nicht ver- gällen ließen. Das mögen Sie subjektiv so sehen, Haben Sie einmal überlegt ..., was ein Kompa- Herr Bundeskanzler. nieführer von 28, 29 Jahren, der in allen Berei- chen der gleichen Pflicht unterliegt wie auch (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sauertopf!) Sie, denken soll, wenn er dieses Ihr Beispiel Ob es geschmackvoll ist, dies gerade bei dieser Ge- sieht? legenheit mitzuteilen, ist schon eine andere Frage. 5686 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Dr. Vogel Außerdem: Die Erhaltung und Steigerung Ihrer Argumentationskraft und seiner Sachkunde auch Lebensfreude ist eine Sache, die Erfüllung Ihrer bei dieser Gelegenheit meinen Respekt erweise. Pflichten eine andere. (Feilcke [CDU/CSU]: Vorher machen Sie (Beifall bei der SPD) ihn mies! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU) Unserem Volk, Herr Bundeskanzler, schulden Sie So kommt eines zum anderen. Weil Sie, Herr die Erfüllung Ihrer Pflichten als Kanzler auch Bundeskanzler, nicht die Kraft hatten, Graf Lambs- dann, wenn das Ihre Lebensfreude mindert. dorff zur rechten Zeit zu entlassen, konnten Sie (Beifall bei der SPD) Herrn Wörner nicht entlassen. Weil Sie Herrn Wör- ner nicht entlassen haben, können Sie sich von den Gerade Sie, Herr Bundeskanzler, wollten doch Herren Schwarz-Schilling und Engelhard nicht den preußischen Tugenden wieder zum Durchbruch trennen, obwohl beide nicht nur nach unserer Mei- verhelfen. Sie wollten doch die Politik geistig und nung eine Belastung dieses Kabinetts sind. moralisch erneuern. Die deutschen Sozialdemokra- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) ten sind weiß Gott nicht die Fürsprecher der preußi- schen Monarchie. Aber glauben Sie im Ernst, daß Weil das so ist, werden Sie wohl auch an Herrn Möl- im alten Preußen ein Minister, der sich so verhalten lemann festhalten. Diese Voraussage sei gestattet. hätte wie Herr Wörner, auch nur einen Tag länger Mit all dem schwächen Sie Ihre Regierungsfähig- im Amt hätte bleiben können? keit. Das ist in erster Linie Ihr Problem. Sie fügen damit aber auch den Interessen unseres Volkes (Beifall bei der SPD) Schaden zu. Das ist auch unser Problem. Es ist auch „Geistig-moralische Erneuerung!" Ich meine, es ist unsere Aufgabe als Opposition, von unserem Volk hoch an der Zeit, daß Sie diese anspruchsvolle Vo- Schaden abzuwenden. Wir sind dieser Aufgabe im kabel aus Ihrem Sprachschatz tilgen, daß Sie mit Falle Wörner mit dem auf unseren Antrag einge- der geistig-moralischen Erneuerung erst einmal bei setzten Untersuchungsausschuß und seiner Hilfe — Ihrer eigenen Politik beginnen. ich benütze die Gelegenheit, dem Ausschuß für seine korrekte und sorgfältige Arbeit zu danken — (Beifall bei der SPD) gerecht geworden, soweit das in unserer Macht stand, mit einem Ausschuß, den Sie, nach unserem Es gibt ja nicht nur den Fall Wörner. Sie sind ja Antrag tagelang noch für überflüssig und unnötig auch der erste Bundeskanzler der Republik seit erklärt haben. Alles andere Herr Bundeskanzler, 1949, dessen Kabinett bis gestern ein Minister ange- liegt in Ihrer Verantwortung. hörte, gegen den schon vor Monaten Anklage we- gen Bestechlichkeit erhoben worden ist. Im Namen der sozialdemokratischen Opposition fordere ich Sie auf, dieser Verantwortung gerecht (Berger [CDU/CSU]: Das ist stillos! — Pfui zu werden. Sonst geht es nicht nur um den Bundes- Rufe von der CDU/CSU) verteidigungsminister. Sonst verkommen die Insti- tutionen unseres Staates. Er ist der erste Bundeskanzler, der mit Ihrer Billi- gung, vielleicht sogar auf Ihre Veranlassung weiter (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten amtierte, als ob nichts geschehen wäre, obwohl je- der GRÜNEN) der kleine Beamte im gleichen Fall bis zur Klärung Sonst verfällt nicht nur Ihre Koalition, sondern un- der Vorwürfe sofort und noch am gleichen Tage sere parlamentarische Demokratie. Dieser Verfall, suspendiert wird. dieser Fäulnisprozeß ergreift dann auch das Rechts- und Verantwortungsbewußtsein der Men- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) schen. Lamentieren Sie nicht bei jeder Gelegenheit Es ist ein Minister — auch das ist ohne Beispiel —, über vermeintliche oder wirkliche Exzesse anderer. dessen Zugehörigkeit zum Kabinett nicht die politi- Sorgen Sie dafür, Herr Bundeskanzler, daß das Re- sche Entscheidung des Kanzlers, sondern das Straf- den und das Handeln des deutschen Bundeskanz- gericht durch die Ankündigung einer Entscheidung lers wieder übereinstimmen. - beendet hat. (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall des Abg. Bastian [fraktionslos]) Wissen Sie eigentlich, Herr Bundeskanzler, was Sie da der Öffentlichkeit und auch dem Betroffenen selbst zugemutet haben? Einem Mann, der übrigens Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- — das darf ich in diese Richtung sagen — von sei- geordnete Rühe. nen Parteifreunden in den letzten Tagen schlimmer behandelt worden ist als von seinen politischen Gegnern, Rühe (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Vogel, nach diesem politi- (Widerspruch bei der FDP) schen Rundumschlag nehmen Sie doch wohl nicht dem ich unbeschadet der Frage von Schuld oder im Ernst an, daß man auf das eingeht, was Sie vor- Unschuld, über die allein die Gerichte zu befinden getragen haben als eine Plichtübung der Opposi- haben, und unbeschadet aller Gegensätze, die es tion. weiß Gott zwischen Graf Lambsdorff und uns gab, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — an dieser Stelle wegen seines Engagements, seiner Lachen bei der SPD) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5687

Rühe Sie haben nur ein bißchen mehr Stimme aufgelegt. Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist ein- Das war eine Schaufensterrede, die, wie ich glaube, stimmig angenommen. der guten Arbeit des Untersuchungsausschusses nicht gerecht wird. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auf: Sie haben im übrigen doch versucht, die Debatte a) Beratung der Sammelübersicht 35 des Peti- vom Februar wiederaufleben zu lassen. Schon An- tionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge fang Februar ist hier erklärt worden, daß Fehler zu Petitionen gemacht worden sind. Das ist eingestanden worden. — Drucksache 10/1556 — Sie haben versucht, das wieder nach vorne zu schie- b) Beratung der Sammelübersicht 36 des Peti- ben. Inzwischen haben wir unser Versprechen tionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge wahrgemacht und haben im Untersuchungsaus- zu Petitionen schuß schonungslos aufgeklärt. Sie haben noch gar nicht zur Kenntnis genommen, was die deutsche — Drucksache 10/1557 — Öffentlichkeit längst weiß: daß sich der Verteidi- Es liegen Ihnen zu diesem Tagesordnungspunkt gungsminister seit Monaten wieder seiner Arbeit Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor, und zugewandt hat, Herr Dr. Vogel. Sie versuchen, wei- zwar zur Sammelübersicht 35 auf Drucksache ter in der Vergangenheit herumzukramen. 10/1667 und zur Sammelübersicht 36 auf Druck- Im übrigen — eine letzte Bemerkung —: Sie ha- sache 10/1668. ben in den letzten Monaten Fragen an uns, Fragen Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat an den Verteidigungsminster richten können. Das für die Aussprache zwei Beiträge bis zu je fünf war Ihr gutes Recht. Diese Zeit ist jetzt vorbei. In Minuten für jede Fraktion vereinbart. Ist das Haus Zukunft richten wir wieder Fragen an Sie, z. B.: Wie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen stehen Sie zum Bündnis? Widerspruch. Es ist so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Reuter. Wie wollen Sie nach den Beschlüssen Ihres Bundes- parteitages Frieden und Sicherheit unseres Landes Ich bitte die Damen und Herren, die den Beratun- gewährleisten? gen weiterhin zu folgen wünschen, Platz zu neh- men. Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Reuter, (Bindig [SPD]: Ablenker!) bis wir soweit durchgedrungen sind. — Danke, ich Im übrigen: Seien Sie sicher, daß Sie keinen Keil glaube es geht jetzt. zwischen unsere Fraktion und die Bundesregierung Herr Abgeordneter Reuter, bitte schön. treiben können. Die Bundesregierung, der Verteidi- gungsminister haben die volle Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für ihre wichtige Reuter (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehr- und schwierige Aufgabe. ten Damen und Herren! Zur Sammelübersicht 36 des Petitionsausschusses hat die SPD-Fraktion Än- Schönen Dank. derungsanträge vorgelegt. Ich möchte einen davon (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) begründen und sagen, daß wir uns uneingeschränkt zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst beken- nen, daß aber die seitherigen Entscheidungen des Vizepräsident Stücklen: Weitere Wortmeldungen Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwal- liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache. tungsgerichts aus meiner Sicht im Einzelfall als (Zurufe von der SPD: Der Bundeskanzler verfehlt anzusehen sind. drückt sich!) Die politische Treuepflicht, aus dem frühen Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschluß- 19. Jahrhundert, ist ein Begriff, der einer Überprü- empfehlung des Verteidigungsausschusses auf fung bedarf. Verfassungstreuepflicht gehört zu den Drucksache 10/1604 — — hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamten- tums nach Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes. Aber (Anhaltende Zurufe von der SPD) eine Fülle von Einzelfragen sind nach meiner Mei- — Ich bin in der Abstimmung. Sie sollen doch ver- nung nicht eindeutig genug geklärt. Die hier vorlie- stehen, worüber Sie abzustimmen haben. gende Petition hat uns Veranlassung gegeben, ei- (Bindig [SPD]: Der Bundeskanzler drückt nen Antrag einzubringen. sich aber! — Weitere Zurufe von der SPD) Es handelt sich um einen Zollobersekretär aus Das kann man doch nur, wenn Sie aufmerksam Hamburg, einen untadeligen Beamten, der seine zuhören. Wehrpflicht erfüllt und einige Wehrübungen absol- viert hat und der auch gute Benotungen hat. Er hat Ich wiederhole diesen Satz: Wer der Beschluß- in seinem dienstlichen Bereich keinerlei Veranlas- empfehlung des Verteidigungsausschusses auf sung zur Kritik gegeben. Aber er hat 1978 und 1982 Drucksache 10/1604 zuzustimmen wünscht, den zweimal für die DKP in Hamburg kandidiert. Er bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! bekennt sich in seinen Vernehmungen zur freiheit- — Keine. Enthaltungen? — Keine. lich-demokratischen Grundordnung. Ich stelle fest, (Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Wozu denn die die Verfassungsmäßigkeit der DKP ist noch nie von Aufregung?) dem dafür zuständigen Verfassungsgericht über- 5688 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Reuter prüft worden. Hier gibt es einige Merkwürdigkei- durchgeführt werden soll; denn der Petent ist Be- ten, die mir aufgefallen sind. So zum Beispiel die amter und aktiv für die Ziele einer unzweideutig Tatsache, daß ich eine ganze Reihe von Postbeam- verfassungsfeindlichen Partei eingetreten. Wenn ten kenne, die schon einmal für die NPD kandidiert bei einem solchen klaren Sachverhalt, so wie die haben, ohne daß sie in ihrem dienstlichen Bereich SPD-Fraktion das jetzt verlangt, nicht mal mehr ein irgendeiner disziplinarrechtlichen Verfolgung un- Verfahren durchgeführt werden kann, in dem die terzogen wurden. Für die Bürger ist unverständlich, Verfassungstreue des Beamten geprüft werden daß eine Partei bei Wahlen zugelassen wird, aber darf, dann allerdings verlassen Sie die rechtsstaat- diejenigen, die dafür kandidieren, mit der unbarm- lich gesetzten Pfeiler und Eckwerte, die das Bun- herzigen Härte eines Disziplinarverfahrens überzo- desverwaltungsgericht in vielen Entscheidungen gen werden mit dem Ziel ihrer Entlassung. dazu gesetzt hat, die das Bundesverfassungsgericht Hier gibt es eine Menge Ungereimtheiten. Ich fra- bestätigt hat und die von den von Ihnen geführten ge: Wer stellt eigentlich fest, welche Partei verfas- Regierungen jahrelang praktiziert worden sind. sungsmäßig handelt und verfassungsmäßig ist? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Doch mit Sicherheit nicht Parteivorsitzende, wie Herr Wallmann aus Hessen, von dem in einem Zei- Einträchtig wollen — das ist der eigentliche Tat- tungsartikel berichtet wird: „Der SPD und ihrem bestand, um den es hier geht — GRÜNE und SPD Landesvorsitzenden Holger Börner warf Wallmann Fraktion Verfassungsfeinden den Weg in den öf- vor, mit dieser Politik Schleusen der Infiltration von fentlichen Dienst ebnen. Das ist im Grunde genom- ,grünen` Verfassungsgegnern in den Regierungsap- men der Tatbestand. Der rechtliche Tatbestand parat geöffnet zu haben." aber heißt, daß, wer sich aktiv für eine verfassungs- feindliche Partei engagiert, gleich, ob wie im vorlie- Ich bin in Sorge, ob nicht vielleicht heute die genden Fall DKP oder — zu dieser Grundsatzfrage GRÜNEN, morgen Sozialdemokraten mit Diszipli- hätten Sie eigentlich etwas sagen müssen — NPD, narmaßnahmen überzogen werden. (Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Dazu schwei (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) gen die Herren!) Ich frage: Wo liegt die Verhältnismäßigkeit, ob man kann nicht Beamter sein. Den Beamten obliegt Lokomotivführer, Briefträger, Zollobersekretäre nach § 52 des Beamtengesetzes gegenüber Staat mit gleichen Maßstäben messen muß wie Richter, und Verfassung eine besondere politische Treue- Staatsanwälte oder andere Berufe? Wer schadet ei- pflicht, an der festgehalten werden muß. gentlich unserer Demokratie mehr, 100 Briefträger, die einmal für die DKP kandidiert haben, oder ein Herr Kollege Reuter, wenn Sie die Frage stellen, Staat, der sich bei den Berufsverboten so verhält, wer stellt denn die Verfassungsfeindlichkeit fest: wie wir das in dieser Petition erleben? Bundesverwaltungsgericht, Bundesverfassungsge- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) richt haben die Verfassungsfeindlichkeit der DKP wie auch der NPD incidenter in vielen Urteilen die- Wenn in Frankreich ein Verkehrsminister Kommu- ser Art zu Recht festgestellt. Meine Damen und nist sein darf, dann müßten wir es in unserem Staat Herren, wenn die SPD einwendet — Sie haben das doch auch ertragen, wenn ein Zolloberinspektor schon im Ausschuß getan —, es sei widersprüchlich, oder ein anderer Beamter, der dort arbeitet, in daß einerseits die DKP zu Wahlen zugelassen sei, Hamburg ein oder zweimal für die DKP kandidiert andererseits ihre Kandidaten aus dem Beamtenver- hat. hältnis entlassen würden, dann möchte ich Sie fra- (Beifall des Abg. Schily [GRÜNE] — Jäger gen, wie Sie es eigentlich mit der NPD halten. Dann [Wangen] [CDU/CSU]: Was sagen Sie zu müßten Sie konsequenterweise — wenn Sie NPD Nazis? Dürfen die auch?) Mitglieder, die sich aktiv beteiligen und Wahlkampf für die NPD betreiben, nicht im öffentlichen Dienst Ich meine, unsere Demokratie ist so gefestigt, daß haben wollen — nach Ihrer Logik die Verfassungs- wir das ertragen können. Darum bringen wir diesen feindlichkeit der NPD durch einen Verbotsantrag Änderungsantrag ein. feststellen lassen. - Wir fordern die Bundesregierung auf, dieser Peti- (Zuruf von der SPD: Die dürfen in die tion zum Durchbruch zu verhelfen, damit Gerech- Schulen!) tigkeit praktiziert und nicht mit Kanonen auf Spat- zen geschossen wird. Wir sind gegen einen solchen Verbotsantrag. Wir (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) sind der Meinung, daß solche verfassungsfeindli- chen Parteien nicht verboten werden sollten, damit sie nicht in den Untergrund verdrängt werden und damit sich DKP und NPD bei jeder Wahl eine klare Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- Abfuhr vom Volke holen, meine Damen und Her- geordnete Dr. Göhner. ren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Göhner (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Wenn Sie sagen: Wir wollen Mitglieder einer Partei, Damen und Herren! Bei der streitigen Petition geht die zu einer Wahl zugelassen sind, auch im Beam- es um ein Disziplinarverfahren, das nach dem Wil- tendienst zulassen, dann haben Sie die Möglichkeit, len des Petenten eingestellt werden soll, von dem über Ihre Landesregierung nach § 43 des Bundes- wir aber meinen, daß es rechtsstaatlich und fair verfassungsgerichtsgesetzes oder aber auch hier als Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5689

Dr. Göhner Fraktion über den Bundestag den Versuch zu unter- daille geehrt, sein dienstliches Verhalten nie mißbil- nehmen, ein Verfahren mit dem Ziel des Verbots ligt worden. dieser Parteien einzuleiten. Sie tun dies nicht. Ich Der einzige Vorwurf besteht darin, daß er zwei- begrüße das. Aber dann können Sie auch nicht mal für eine zugelassene Partei zu Wahlen für die ernsthaft Ihre Argumentation aufrechterhalten, Sie Bezirksversammlung Hamburg-Wandsbek kandi- wollten bei aktiven Mitgliedern verfassungsfeindli- diert hat. Sicher, er hat sich für die Deutsche Kom- cher Parteien, die nicht verboten seien, ernsthaft munistische Partei um ein Mandat beworben. Diese die Auffassung vertreten, diese könnten im öffentli- Partei ist zugegebenermaßen nicht jedermanns chen Dienst vertreten sein. oder jederfraus Sache. Sie unterscheiden zwischen Verfassungsfeinden, (Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sie ist verfas und zwar im wahrsten Sinne des Wortes zwiespäl- sungsfeindlich!) tig. Sie unterscheiden: NPD-Mitglieder — davon darf ich doch wohl ausgehen — sollen aus dem — Herr Kollege, sie ist nicht vom Bundesverfas- öffentlichen Dienst entfernt werden, DKP-Mitglie- sungsgericht für staats- und verfassungswidrig er- der aber nicht. Wir bleiben dabei: Verfassungsfein- klärt worden de, gleich, ob DKP oder NPD, ob linksradikal oder (Berger [CDU/CSU]: Sie verfolgt aber ver rechtsradikal, haben im öffentlichen Dienst nichts fassungsfeindliche Ziele! — Weiterer Zuruf zu suchen. Wir sind für ein faires rechtsstaatlich des Abg. Jäger [Wangen] [CDU/CSU]) durchzuführendes Verfahren, auch im vorliegenden — ich würde nicht so laut brüllen; dann können Sie Fall. nämlich nicht zuhören — und folglich eine legale (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Partei wie die im Bundestag vertretenen auch. So- lange eine Partei als legal anerkannt ist, darf sie und dürfen ihre Mitglieder keine Beschränkungen Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- in der politischen Tätigkeit erfahren. geordnete Krizsan (Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Göhner [CDU/CSU]: Auch die NPD nicht? Wie hal Krizsan (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen ten Sie es mit der NPD?) und Herren! Bei dieser Petition, die wir hier verhan- Das ist der Tenor unserer Verfassung. deln — Herr Reuter hat darauf schon hingewie- sen —, geht es um ein Berufsverbot, also um einen Wie schwach muß ein Staat sein, der einige we- sehr dunklen Fleck auf dem geflickten Hemd unse- nige Kommunisten im Staatsdienst nicht ertragen rer Demokratie. kann, sondern sie durch jahrelange Überprüfungen und Verhöre fertigmacht und ihnen ihre Lebens- (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Um ein Verfah grundlage entzieht? ren!) (Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sagen Sie „Berufsverbot" ist ein deutsches Wort, das bisher in doch einmal etwas zur NPD!) keine andere Sprache übersetzt wurde und doch in den Sprachschatz vieler Nachbarländer übernom- Es stände der Finanzverwaltung und dem Fi- men wurde. Berufsverbote gibt es merkwürdiger- nanzminister, Herr Kollege, wenn er sich denn als weise, Herr Dr. Göhner, nur bei uns. überzeugter Demokrat versteht, gut an, diese Prak- tiken einzustellen und den Petenten Uwe Scheer an (Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Das gibt es seinem Arbeitsplatz zu belassen. Wir GRÜNEN eben nicht bei uns! Unfug! Das ist eine Ver meinen, daß diese Petition wirklich zur verstärkten leumdung der Bundesrepublik!) Berücksichtigung dem Finanzminister überwiesen Dieses Wort kennzeichnet die üble Methode, mit werden sollte. der Androhung eines Berufsverbotes politische Ge- (Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Göhner sinnung abzutöten, Herr Kollege. Das ist nämlich [CDU/CSU]: Würden Sie das auch sagen, der einzige Zweck und das einzige Ziel dieser Maß- wenn es ein NPD-Mann wäre?) nahmen. - Was wirft der Bundesfinanzminister, Dr. Stolten- Das Wort hat der Herr Ab- berg, nun dem Petenten Uwe Scheer, seit mehr als Vizepräsident Stücklen: geordnete Neuhausen. zwanzig Jahren im Zolldienst tätig, an dienstlichen — das muß ich betonen — Verfehlungen vor, die eine Entfernung aus dem Staatsdienst rechtfertigen Neuhausen (FDP): Herr Präsident! Meine Damen könnten? und Herren! Herr Kollege Krizsan, mit einigen pole- (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Nicht der Finanz mischen Allgemeinheiten ist es nicht getan, und, minister!) Herr Kollege Reuter, Nüchternheit tut auch in die- sem Falle wohl. — Er untersteht dem Finanzminister, logischer- weise. Der Petitionsausschuß hatte sich mit einer Peti- tion zu befassen, in der der Petent — es wurde (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Der Oberfinanz gesagt: ein Zollobersekretär — die Einstellung oder präsident entscheidet selbständig!) zumindest die Aussetzung des ihm angelasteten Nichts wird diesem Zollsekretär vorgeworfen. Der Disziplinarverfahrens wegen des Verdachts der Petent ist sogar wegen seines Einsatzes bei Verletzung der ihm als Beamten obliegenden der Flutkatastrophe 1962 mit einer Verdienstme Treuepflicht durch seinen aktiven Einsatz für die 5690 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Neuhausen DKP verlangt. Es handelt sich also um ein laufen- höre ich, weiterhin Konsens. 1979 wurde die Regel- des Disziplinarverfahren. Nach Auffassung des anfrage bei der Einstellung von Beamten für den Bundesfinanzministers, dem der Petitionsausschuß Bund abgeschafft. Disziplinarverfahren müssen mit seiner Mehrheit gefolgt ist, besteht kein Anlaß, alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigen. Für in den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensab- diesen Abwägungsprozeß gibt es keine Kataloge lauf einzugreifen. Dieser Auffassung sind wir wei- und keine Regelvermutungen. Liberale Innenmini- terhin. ster haben Grundsätze für eine Einstellung von Be- werbern im öffentlichen Dienst erarbeitet. Von Be- Der Ausschuß hat sich mit dieser Petition beson- rufsverboten zu sprechen ist völlig abwegig. Sie ders sorgfältig befaßt, was u. a. auch dadurch zum werden dem Maßstab gerecht, den die Liberalen an Ausdruck kam, daß Staatssekretär Kroppenstedt die Einstellungspraxis im öffentlichen Dienst anle- vom Bundesinnenministerium gegenüber dem Peti- gen; denn einerseits muß sichergestellt werden, daß tionsausschuß in bezug auf alle Seiten, auch in be- kein Verfassungsfeind im öffentlichen Dienst täig zug auf die NPD, sehr klar Stellung genommen werden kann, andererseits darf aber der Schutz des hat. freiheitlichen Staates nicht zu einer Gefährdung Das Disziplinarverfahren wurde ausgelöst durch dieser Freiheitlichkeit umgekehrt werden. die unbestrittenen Aktivitäten des Petenten für die (Krizsan [GRÜNE]: Schöne Worte!) DKP. Das Bundesverwaltungsgericht hat u. a. in seiner Entscheidung vom 29. Oktober 1981 festge- Daß es hierbei, Herr Krizsan und Herr Reuter, stellt, daß die Ziele der Deutschen Kommunisti- Probleme und Fragen gibt, die zu klären und zu schen Partei mit der freiheitlich-demokratischen besprechen wären, ist unbestritten. Ich finde prinzi- Grundordnung unvereinbar sind. Das Gericht hat piell, daß die Methode der Besprechung einer Peti- weiter ausgeführt, daß im Disziplinarverfahren zu tion hier dem Problem nicht gerecht wird. überprüfen ist, ob eine nicht verbotene politische (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Partei eine Organisation ist, die mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung unvereinbare Ziele Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- verfolgt, von denen sich ein Beamter distanzieren geordnete Kirschner. muß. Das Parteienprivileg nach Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes steht dem — so das Gericht — nicht (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver- entgegen. Kirschner ehrten Damen und Herren! Die SPD-Bundestags- (Sehr richtig! bei der CDU/CSU) fraktion legt zur Sammelübersicht 36 des Petitions- Nach den dem Petitionsausschuß vorliegenden ausschusses zwei weitere Änderungsanträge vor, Unterlagen hat sich die Oberfinanzdirektion in Anträge, die von Bürgern gestellt werden und die Hamburg mit der Einleitung des Verfahrens an die die Wiederherstellung der früheren, von sozialde- ständige höchstrichterliche Rechtsprechung sowohl mokratischen Arbeits- und Sozialministern ge- des Bundesverwaltungsgerichts wie auch des Bun- schaffenen Freifahrtregelung für Schwerbehin- desverfassungsgerichts gehalten. Weder der Deut- derte fordern. Wir haben den Regierungsfraktionen sche Bundestag noch der Petitionsausschuß haben im Petitionsausschuß einen Kompromiß angeboten, daher derzeit Anlaß, in dieses Verfahren einzugrei- diese Petitionen der Bundesregierung zur Erwä- fen, das sich zudem erst im Stadium der Untersu- gung zu überweisen. Sie sind bedauerlicherweise chung befindet, in dem geklärt werden soll, ob eine nicht darauf eingegangen. Sie fordern zwar in dem Verletzung der Treuepflicht vorliegt. Meines Erach- einen Fall, die Petition der Bundesregierung zur tens hätte es dieser hier geführten Kurzdebatte Erwägung zu überweisen, aber nur dahin gehend, nicht bedurft. Nein, sie wird dem Anliegen, das hier daß die 120 DM Selbstbeteiligung, die Sie für die lautstark vertreten wird, nicht gerecht. Es bedarf Freifahrtberechtigung eingeführt haben, in vier gründlicherer Überlegung. Teilzahlungsbeträgen sollen bezahlt werden kön- nen. Dies ist jedoch gar nicht das Anliegen der Die Aussprache bietet mir Gelegenheit, noch ein- Petentin; sie fordert vielmehr eine Wiederherstel- mal kurz die grundsätzliche Position meiner Partei lung des alten Rechts. Dies will ich hier- zur Klar- in diesem Bereich zu erläutern. stellung ganz eindeutig sagen, denn ein Außenste- (Krizsan [GRÜNE]: Jetzt kommt der libe hender könnte hier von Ihrem Votum getäuscht rale Standpunkt!) werden. Ich will feststellen, daß Sie mit Ihrem Vo- tum in keiner Weise auf das Begehren der Petentin Wir bejahen die besondere politische Pflicht des eingehen. Beamten gegenüber dem Staat und der Verfassung. Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesver- Bei der anderen Petition wird die Wiedereinbe- fassungsgericht — letzteres insbesondere in seinem ziehung des Schienenverkehrs in die unentgeltli- Grundsatzbeschluß vom 20. Mai 1975 — haben in che Beförderung — und hier speziell für die Gehör- einer Vielzahl von Entscheidungen die verfassungs- losen — gefordert. rechtlich vorgegebene Pflicht der Verfassungstreue Meine Damen und Herren von den Regierungs- bestätigt. Extremisten gehören nicht in den öffentli- fraktionen, wenn Sie die Briefe, die an uns, an den chen Dienst. Petitionsausschuß, gerichtet wurden und gerichtet werden, lesen, wenn Sie den Behinderten helfen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wollen, wenn Sie es nicht nur bei schönen Sonn- Aber dieses Ziel darf nur mit strikt rechtsstaatli- tagsreden belassen wollen, dann stimmen Sie mit chen Mitteln erreicht werden. Hierüber besteht, so uns und schließen sich unserem Votum an. An Geld Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5691

Kirschner kann es in diesem Bundeshaushalt ja nicht fehlen. ben, zu, diese Petitionen der Bundesregierung zur Gestern hat die Mehrheit des Bundestages ein 22- Berücksichtigung zu überweisen! Milliarden-Subventionspaket auf die nationale (Beifall bei der SPD) Reise geschickt. Die Belastungen des Bundeshaus- halts durch die Wiederherstellung des alten Rechts der unentgeltlichen Beförderung — einmal als Kri- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- terium die 80% MdE — und die Wiedereinführung geordnete Jagoda. der unentgeltlichen Beförderung im Schienenver- kehr im Umkreis von 50 km vom Wohnort, wie wir Jagoda (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr Sozialdemokraten es auch während der Beratungen verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich erst zum Bundeshaushalt 1984 in Anträgen gefordert einmal im Namen meiner Fraktion bei den Peten- haben, belaufen sich schätzungsweise auf 80 Millio- ten für die Petitionen bedanken, die sie eingereicht nen DM pro Jahr. Sie könnten also anstelle des haben, und möchte ihnen sagen, daß wir sehr gro- gestern von Ihnen verabschiedeten 22-Milliarden- ßes Verständnis für die Argumente haben, die dort DM-Agrarsubventionspakets — — vorgetragen worden sind. (Dr. Göhner [CDU/CSU]: 19,4!) (Peter [Kassel] [SPD]: Das ist jetzt der Sonntag!) — Auf diese paar kommt es j a nun wirklich auch nicht mehr an. Ich glaube auch, daß wir im Rahmen unserer Peti- tionsarbeit sehr deutlich machen können, (Jagoda [CDU/CSU]: So haben Sie immer (Peter [Kassel] [SPD]: Jetzt ist Sonntag, gerechnet!) Herr Jagoda!) — Hören Sie mal, „so haben Sie immer gerechnet"? daß wir diese Petitionen sehr eingehend beraten Es gibt doch wohl kein Sozialgesetz, Herr Kollege haben und mit hochwertigen Voten versehen ha- Jagoda, dem Sie in der Opposition nicht zugestimmt ben. haben. Sie sollten sich doch einmal zu Ihrer eigenen (Vorsitz: Vizepräsident Wurbs) Politik bekennen. Das gleiche gilt auch für die Steu- ergesetzgebung. Ich will hier nur feststellen, daß Für meine Fraktion kann ich sagen, daß wir es dieses nationale Agrarsubventionspaket dazu rei- uns bei der Sanierung des Staatshaushalts nicht chen würde, beispielsweise die kostenlose Frei- leichtgemacht haben, Einschnitte in das soziale fahrtregelung, so wie sie bisher bestanden hat und Netz vorzunehmen. Den Kolleginnen und Kollegen wie wir sie fordern, 300 Jahre lang zu finanzieren. der SPD möchte ich an dieser Stelle das in Erinne- Dies muß man sich einmal vor Augen halten. Das rung rufen, was ihr damaliger Bundeskanzler ihnen heißt, es kann ja gar nicht am Geld liegen wie Sie in der bekannten Juni-Sitzung zugerufen hat: daß, der Öffentlichkeit immer erzählen. Dies möchte ich wer diesen Staatshaushalt in Ordnung bringen will, an dieser Stelle noch einmal ganz eindeutig mit noch viel tiefer einschneiden muß, als Sie es damals dem Hinweis auf die finanziellen Größenordnungen bereits gemacht hatten. vor Augen führen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich auf zwei Punkte in den Peitionen einge- Wir fordern Sie deshalb auf, den Schwächsten der Gesellschaft zu helfen und dem Begehren dieser hen, erstens auf die Beförderung im Schienenver- Petitionen letzten Endes Rechnung zu tragen. Ich kehr und zweitens auf die Frage des Zuschusses glaube, das sind wir uns schuldig, wenn wir uns — von 120 DM im Jahr. bzw. Sie sich — nicht dem Vorwurf aussetzen wol- Der Grundgedanke war seit 1943 — seitdem gibt len, daß Sie zwar an Sonntagen für die Behinderten es diese Regelung —, daß man Schwerbehinderten, reden, aber an Werktagen nicht entsprechend han- die tatsächlich erheblich in ihrer Bewegungsfähig- deln. keit im Straßenverkehr beeinträchtigt sind, einen Nachteilsausgleich gewähren sollte. Sie haben aber (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) 1979 alle Schwerbehinderten mit einer Minderung Meine Damen und Herren Kollegen von den Re- der Erwerbsfähigkeit von 80 % gleichgestellt. Das gierungsfraktionen, ich frage Sie: Können Sie sich hat zu dem Ergebnis geführt, daß 3,3 Millionen Be- eigentlich vorstellen, wie wichtig es beispielsweise hinderte berechtigt gewesen sind, in einem Um- für Gehörlose ist, daß sie miteinander kommunizie- kreis von 50 km kostenlos zu fahren. Ich möchte ren können? Diese Menschen sind auf die Freifahrt- Ihnen in Erinnerung rufen, daß man in der Druck- regelung im Schienenverkehr angewiesen. Mit der sache, die Ihre Regierung damals vorgelegt hat, da- Herausnahme des Schienenverkehrs benachteili- von ausgegangen ist, daß nur 45% der Schwerbehin- gen Sie ganz eindeutig die Behinderten, die in den derten diese Freifahrt in Anspruch nehmen kön- Ballungsräumen wohnen, und Sie haben mit Ihrer nen. Darauf war Ihr Finanzgebäude aufgebaut. Regelung das Finalitätsprinzip der Behindertenge- (Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Hört! Hört!) setzgebung, das wir 1974 gemeinsam geschaffen ha- Deswegen ist es heute nicht mehr zu bezahlen, und ben, in einem wichtigen Punkt grundlos zum Nach- deswegen haben wir leider diese Einschnitte vor- teil der Behinderten durchbrochen. Dies muß man nehmen müssen. ganz deutlich sagen. Bei der Eisenbahnbenutzung war an den Nahver- Ich möchte deshalb an Sie appellieren: Stimmen kehr gedacht. Es geht nämlich um die Frage, ob der- Sie den Änderungsanträgen, die wir vorgelegt ha- jenige, der gehbehindert ist und eine Strecke von 5692 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 Jagoda 2 km nicht zu Fuß bewältigen kann, das Nahver- Wertmarke werden Zustände herbeigeführt, die zu kehrsmittel in Anspruch nehmen kann. Das war die einem Leistungsabbau führen. Vorher waren die Ausgangsposition. Die haben wir für diejenigen Leistungen kostenlos, und jetzt muß man für diese wiederhergestellt, die wirklich gehbehindert sind. verringerten Leistungen auch noch 120 Mark im So war es vorher gewesen. Für diejenigen, die vor Jahr bezahlen. Das ist gerade für arme Leute wie 1979 berechtigt waren, kostenlos befördert zu wer- Heimbewohner mit einem Taschengeld von nur 100 den, haben wir den Rechtszustand beibehalten. DM im Monat fast unerschwinglich. Dagegen wen- Der zweite Punkt, den der Herr Kollege Kirsch- den sich die Petenten zu Recht. ner hier angesprochen hat, betrifft die Zahlung ei- Ich möchte jetzt einige lesenswerte Stellungnah- nes Beitrages von 120 DM im Jahr. Hier hat z. B. men des Ministers für Arbeit und Soziales zu den das Land Berlin einen Weg aufgezeigt für seine Be- berechtigten Anliegen der Petenten hier vorlesen hinderten, daß man diesen Betrag auch teilweise und kommentieren, und zwar möchte ich drei bezahlen kann. Wir wollen mit diesem Votum errei- Punkte herausgreifen, erstens die spezielle Proble- chen, daß es den anderen Ländern ebenfalls ermög- matik der Gehörlosen, denen man die freie Fahrt licht wird, den Gehbehinderten entgegenzukom- mit dem Argument gestrichen hat, wesentliche Stö- men. rungen der Orientierungsfähigkeit könnten bei die- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sem Personenkreis nicht angenommen werden. Das mußten diese Opfer fordern, weil das Ergebnis Ih- ist richtig, die Gehörlosen haben zwei Beine, mit rer Politik so negativ gewesen ist. denen sie laufen können, aber sie müssen sehr (Beifall bei der CDU/CSU) weite Strecken bewältigen, wenn sie sich wirklich verständigen wollen. Die können nur Taubstum- Ihre beißende Kritik an dieser Regierung ist für mensprache verstehen, und dazu müssen sie weite mich unverständlich. Wäre diese Regierung nicht so Strecken zurücklegen, damit sie sich mit Leidensge- erfolgreich gewesen, hätten wir den Anweisungen nossen treffen können. Das kostet viel Geld, was die Ihres früheren Bundeskanzlers folgen und noch tie- Leute in der Regel nicht haben. fer einschneiden müssen. Daß wir nicht noch tiefer einschneiden müssen, liegt an dem Erfolg dieser Der zweite Punkt betrifft die Bitte der Petenten, Regierung. Das muß man heute einmal sagen. Die wieder beides zuzulassen, Steuerermäßigung für die Opfer getragen haben, können heute auch se- Kraftfahrzeuge und kostenlose Beförderung. Dazu hen, daß die Erfolge bereits jetzt eingetreten sind. meint der Minister lapidar: „Die Petenten können Wir können in naher Zukunft über eine Steuerent- zwischen beiden Vergünstigungen wählen." Sehr lastung reden. Wir können in naher Zukunft dar- schön, aber das geht an der Realität vorbei. Durch über reden, daß wir die Familie besserstellen kön- zunehmende Streckenstillegungen ist der Behin- nen. Diese Opfer sind leider erforderlich gewesen, derte geradezu zur Kombination Auto/öffentlicher um die Staatsfinanzen wieder solide zu machen. Ich Nahverkehr verdammt. kann Ihnen sagen, wenn die Staatsfinanzen in Ord- Dasselbe gilt für den Wegfall der kostenlosen Be- nung sind, werden wir weiter gestaltend tätig wer- nutzung von Nahverkehrszügen. Dazu meint der den. Minister: „Der Eisenbahnverkehr dient typischer- Wir werden Ihren Antrag ablehnen, nicht weil wir weise nicht dem örtlichen Nahverkehr." Dabei läßt kein Herz für die Behinderten haben, sondern weil er außer acht, daß es auf dem Land keine S-Bahn die Staatsfinanzen dies einfach nicht ermöglichen. gibt und die Reisen mit Bussen halbe Tagesreisen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind, allein wenn man zur Kreisverwaltung fahren will, schon für Gesunde. Wie soll da der Behinderte Vizepräsident Wurbs: Das Wort hat Frau Abgeord- noch zu seinem Kreistag fahren? Aber wahrschein- nete Nickels. lich meint die Regierung, der hat das nicht nötig. Der Minister meint zu dieser strukturellen Be- Frau Nickels (GRÜNE): Meine Damen und Her- nachteiligung — ich zitiere wieder —: ren! Das Hauptanliegen dieser Regierung waren die Es ist jedoch nicht Aufgabe des Schwerbehin- Gesellschaft mit menschlichem Gesicht und die dertengesetzes, solche Nachteile auszugleichen. Haushaltskonsolidierung. Man muß leider feststel- Diese Nachteile sind nicht behinderungsbe- len, daß die Gesellschaft mit menschlichem Gesicht dingt, sondern beruhen auf verkehrlichen Ge- der Haushaltskonsolidierung zum Opfer gefallen gebenheiten am Wohnsitz. ist. Herr Blüm hat erklärt, daß es eine Notwendig- keit zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte Hier stellt der Minister also klipp und klar fest, daß gebe, und die zwinge ihn zu sinnvollen Einschrän- diese Benachteiligung Produkt der Verkehrspolitik kungen. Diese sogenannten sinnvollen Einschrän- ist. Wer macht denn eigentlich die Verkehrspolitik? kungen haben leider nur die kleinen Leute getrof- Schon Gesunde müssen halbe Weltreisen unterneh- fen, die man sowieso schon an den Rand unserer men, um zur Kreisverwaltung zu kommen, aber der Leistungsgesellschaft gedrängt hat, und dazu ge- Behinderte wird durch diese Bedingungen geradezu hören auch die Behinderten. Das hat zu einer Flut an seinen Wohnort festgenagelt. Den Behinderten von Petitionen geführt, die wir als GRÜNE nachhal- — das muß hier klipp und klar gesagt werden — tig unterstützen, vor allen Dingen Petitionen zur entstehen Nachteile dadurch, daß unsere Gesell- Wertmarkenregelung des Haushaltsbegleitgesetzes schaft nur auf gesunde und leistungsfähige Perso- 1984. Die Wertmarkenregelung verdient den Namen nen ausgerichtet ist; dementsprechend ist auch die „Wert" überhaupt nicht, denn durch die sogenannte Infrastruktur. Diese Nachteile müssen durch das Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5693

Frau Nickels Behindertengesetz und Vergünstigungen so lange Ich habe bereits bei der Aussprache über den ausgeglichen werden, bis die Behinderungen und Jahresbericht des Petitionsausschusses diese Nachteile beseitigt sind. meine Zweifel über die Methode und nicht, Herr Kastning, der Sie sich da hinten empören, über den Wenn nicht einmal mehr der Petitionsausschuß Inhalt geäußert. Wir müssen uns zwar damit be- diese Dinge klar beim Namen nennen kann — und schäftigen, aber die Art und Weise, hier in Fünf- das bedeutet, diese berechtigten Anliegen der Re- Minuten-Debatten etwas zu besprechen, von dem gierung zur Berücksichtigung zu überweisen — , ich annehme, verehrter Herr Kollege Kastning, daß wer soll es denn sonst in diesem Parlament tun? Sie das nicht so genau gelesen haben, halte ich Anderenfalls werden die Petenten — die Überset- zung des Wortes „Petent" ist ja „Bittsteller" — wirk- nicht für seriös. lich zu armen Bittstellern herabgewürdigt, degra- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) diert; dem sollten wir vorbeugen. Meine Damen und Herren, die notwendige Kon- Wir werden den Antrag der SPD hier unterstüt- solidierung der Haushalte machte eben Einschnitte zen. notwendig; wir haben sie bedauert. (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) (Abg. Kastning [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsident Wurbs: Das Wort hat der Abgeord- — Nein, bei fünf Minuten nicht, Herr Kastning, das nete Neuhausen. geht nicht. — Aber neben diesen haushaltspoliti- (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Ganz überra schen Überlegungen hat ja auch eine Rolle gespielt, schender, seltener Auftritt!) daß die bisherige Fiktion, jeder Behinderte mit ei- ner Minderung der Erwerbsfähigkeit von minde- stens 80 % sei gehbehindert, in der Bevölkerung — machen wir uns doch nichts vor — zunehmend auf (FDP): Herr Präsident! Meine Damen Neuhausen Kritik gestoßen ist. Ich liebe den Begriff der Akzep- und Herren! — Ich kann Ihnen das leider nicht tanz wahrhaftig nicht, aber daß hier Irritationen ersparen. — Verehrte Frau Kollegin Nickels, blei- waren, kann überhaupt niemand bestreiten. ben wir auf dem Boden der Tatsachen. (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Das fällt denen Diese Gesichtspunkte sind in den Beratungen des schwer!) zuständigen Bundestagsausschusses — lesen Sie es nach; Herr Jaunich wird es ja wissen — zumindest Niemand kann bestreiten, daß dann, wenn Vergün- von seiten der Regierungskoalition diskutiert wor- stigungen durch gesetzliche Maßnahmen einge- den; nicht einvernehmlich, das ist ganz klar. Dabei schränkt werden, Probleme und Härten entstehen, ist auch erkannt worden, daß die jetzige Regelung die nicht leichthin übergangen werden können. Nie- Probleme für Personengruppen — sie sind genannt mand hat das im Petitionsausschuß getan und tut worden — wie Gehörlose mit sich bringt; das ist das hier. Es sollte aber ebenso ein Gebot der Ver- alles völlig klar. nunft sein, solche Auswirkungen sorgfältig zu un- tersuchen und zu prüfen und nicht durch Schnell- Man muß sicher auch einräumen, daß die Selbst- schüsse zu reagieren, wo gründliche Abwägungen beteiligung in Höhe von 120 DM für die Bezieher notwendig sind. niedriger Einkommen nicht unerhebliche Probleme schafft. Deshalb ist j a immer wieder der Gedanke (Zuruf der Abg. Frau Nickels [GRÜNE]) erörtert worden, ob in diesem Bereich nicht Teil- — Oh doch! — zahlungen sinnvoll und notwendig sind. Aber es ste- Die Anträge des Petitionsausschusses, die ver- hen natürlich auch Bedenken dagegen: im Hinblick schiedenen Petitionen von Behinderten der Bun- auf die Praxis der Bundesländer, im Hinblick auf desregierung zur Erwägung — und da gilt nicht, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in die- Herr Kirschner, da könnte ein Außenstehender et- sem Lande, in dem es keine Besser- und Schlechter- was falsch verstehen; das ist ernst gemeint — bzw. stellungen geben sollte. Das alles muß doch- gründ- als Material und den Fraktionen zur Kenntnis zu lich überlegt werden. Ich halte einen Zeitpunkt so überweisen, entsprechen dieser Notwendigkeit. Ich kurz nach Verabschiedung des Gesetzes — man meine, Ihr Antrag auf unmittelbare Berücksichti- mag dazu stehen, wie man will — nicht für einen gung kann nicht als seriös angesehen werden. Das geeigenten Zeitpunkt, die gesamte parlamentari- wird auch schon dadurch deutlich — ich wiederhole sche Debatte durch den Berücksichtigungsantrag mich jetzt zum fünften Male —, daß eine solche des Petitionsausschusses sozusagen außer Kraft zu Fünf-Minuten-Debatte den Anliegen der Petenten setzen. nicht gerecht wird. Ich halte es also für zu früh, gesetzgeberische (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Maßnahmen in Aussicht zu stellen; aber man wird — das sage ich für meine Fraktion ausdrücklich — Ebensowenig wird sie den Erörterungen im zustän- zusichern, daß die Auswirkungen dieser Maßnah- digen Bundestagsausschuß gerecht. Wir, der Peti- men sorgfältig zu beobachten sind; denn nach Auf- tionsausschuß, sind nicht der Ausschuß der für alle fassung unserer Partei und meiner Freunde kommt Probleme den Stein der Weisen ständig vor sich es darauf an, daß die vorhandenen knappen Mittel herträgt. wirklich auf die Schwerstbehinderten und Bedürf- (Beifall des Abg. Dr. Göhner [CDU/CSU]) tigsten konzentriert werden, und wir werden diese 5694 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Neuhausen Dinge, entsprechend den Beschlüssen des Petitions- Berger (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr ausschusses, sehr sorgfältig überprüfen. geehrten Damen und Herren! Wer über Wehrsold Vielen Dank. redet, redet auch über Wehrpflicht, und wer über Wehrpflicht redet, redet auch über Freiheit; denn (Beifall bei der FDP und CDU/CSU) Freiheit, meine Damen und Herren, wird es nur dort und nur so lange geben, wie sie verteidigt wird. Wehrpflicht und Freiheit sind, so gesehen, zwei Sei- Vizepräsident Wurbs: Weitere Wortmeldungen lie- ten derselben Medaille. gen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Unser Staat garantiert die Freiheit des einzelnen Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe zunächst Bürgers. Er wird dies nur können, wenn seine Bür- die Änderungsanträge der Fraktion der SPD auf ger dies auch wollen und wenn sie bereit sind, diese den Drucksachen 10/1667 und 10/1668 auf. Sind Sie große Aufgabe für ihn, für den Staat, zu erfüllen. damit einverstanden, daß über diese Änderungsan- Verteidigung wird so zur Bürgerpflicht. Nur wer un- träge gemeinsam abgestimmt wird? — Das ist der seren freiheitlich verfaßten Staat bejaht, wer un- Fall. sere freie Gesellschaft schätzt, weil er seine eigene Wer den Änderungsanträgen auf den Druck- Freiheit liebt, wird auch bereit sein, diese Wertord- sachen 10/1667 und 10/1668 zuzustimmen wünscht, nung zu verteidigen. Nur er wird bereit sein, auch den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstim- dafür zu kämpfen. Das aber ist es, was die in unse- men? — Enthaltungen? — Das zweite war die Mehr- rer Verfassung begründete Wehrpflicht von allen heit. Die Änderungsanträge sind abgelehnt. Bürgern fordert, nämlich — so heißt es im Soldaten- gesetz und im Wehrpflichtgesetz — die Bereit- Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung schaft, der Bundesrepublik Deutschland treu zu die- des Petitionsausschusses auf den Drucksachen nen und das Recht und die Freiheit des deutschen 10/1556 und 10/1557 ab. Wer den Beschlußempfeh- Volkes tapfer zu verteidigen. lungen, die in den Sammelübersichten 35 und 36 (Frau Nickels [GRÜNE]: Bis zum bitteren enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen Ende!) wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ge- genstimmen? — Enthaltungen? — Das erste war die Das ist eine starke Forderung, die, wie Sie sehr Mehrheit. Die Beschlußempfehlungen des Peti- wohl erkannt haben, aufs Ganze geht. „Tapfer zu tionsausschusses sind angenommen. verteidigen", dazu genügt es eben nicht, sich etwa nur vor eine Kaserne zu setzen, sondern das bedeu- tet, notfalls sein Leben für Recht und Freiheit des Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf: Nächsten einzusetzen. Zweite und dritte Beratung des von den Das ist auch eine Forderung, die alle angeht. Las- Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- sen wir uns nicht von der Tatsache täuschen, daß brachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur heute nicht alle dienen und daß nicht einmal alle Änderung des Wehrsoldgesetzes gebraucht werden, unabhängig von den verschie- denen Gründen, die zu dieser Praxis geführt haben. — Drucksache 10/1475 — Wir müssen diese Gründe übrigens immer wieder a) Beschlußempfehlung und Bericht des In- nachprüfen, ihre Berechtigung abwägen, zumal sie nenausschusses (4. Ausschuß) den Kerngedanken verwässern, um den es geht, daß — Drucksache 10/1592 — es nämlich eine allgemeine Pflicht ist, eine Pflicht Berichterstatter: für alle Bürger, dem Staat für die Erfüllung dieser Abgeordnete Bernrath seiner erstrangigen Aufgabe, nämlich Schutz des Dr. Olderog Rechts und der Freiheit des Volkes, zu dienen. Meine Damen und Herren, es ist keine blasse b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Theorie, die ich hier vortrage. Wenn auch nicht alle Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsord- Armeen im westlichen Verteidigungsbündnis Wehr- nung pflichtarmeen sind, so steht doch in der besonderen- — Drucksache 10/1593 — Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland Berichterstatter: außer Frage, daß wir nur mit Hilfe des Instruments Abgeordnete Kühbacher der Wehrpflicht einen ausreichenden Beitrag an Gerster (Mainz) den Streitkräften stellen können, die uns seit Frau Seiler-Albring 35 Jahren im Bündnis Freiheit und Frieden erhal- (Erste Beratung 72. Sitzung) ten. Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Nickels die Aussprache ein Beitrag von bis zu 10 Minuten [GRÜNE]: Und die die USA von uns for für jede Fraktion vereinbart worden. Sind Sie mit dern!) dieser Regelung einverstanden? — Ich sehe keinen Wehrpflicht ist das Instrument, mit dessen Hilfe Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. wir die beiden entscheidenden Eckdaten unserer Sicherheitspolitik erreichen können; nur mit deren Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Hilfe können wir sie erreichen. Ohne sie können — Das ist nicht der Fall. wir die Bundesrepublik Deutschland in ihrer beson- Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort deren geographischen Lage nicht verteidigen. Das hat der Abgeordnete Berger. ist zum einen eine ausreichende präsente Friedens- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5695

Berger Streitkraft und zum anderen der Aufwuchs des not- hen und als es dem langfristigen Zyklus entspräche. wendigen Verteidigungsumfanges im Falle einer Zweitens tun wir dies auch früher, als es in Ihrer Krise. Anders ausgedrückt: Die allgemeine Wehr- Regierungsverantwortung geschehen ist. pflicht ist in der gegebenen Lage der Garant unse- (Beifall bei der CDU/CSU) rer äußeren Sicherheit. Wehrpflicht sichert die Frei- heit des einzelnen und die politische Handlungsfrei- Sie haben sich sogar einmal vier Jahre Zeit gelas- heit des Staates. sen, und das zu einer Zeit, in der die Inflationsrate besonders hoch gewesen ist. Drittens tun wir das in Gestatten Sie mir noch einen Hinweis allgemei- einer Zeit, in der die Inflationsrate nur noch halb so ner Natur. Die allgemeine Wehrpflicht ist ein kon- hoch ist wie in der Zeit Ihrer Regierungsverantwor- stituierendes Element für Geist und inneres Gefüge tung. Viertens legen wir in unserem Gesetzentwurf der Armee. Die stetige Personalauffüllung unserer auch besonderes Gewicht auf eine angemessene Er- Bundeswehr mit jungen Wehrpflichtigen ist ein höhung des Weihnachtsgeldes. Fünftens schließlich wichtiger Beitrag dazu, daß die Soldaten Bürger in handelt es sich bei dieser Wehrsolderhöhung unter Uniform sind. dem Strich nicht nur um einen Inflationsausgleich, Meine Damen und Herren, mir war es wichtig, sondern um einen — wenn auch geringfügigen — diese grundsätzlichen Betrachtungen meinen Aus- realen Zuwachs, während Sie in der letzten Erhö- führungen zu den anstehenden Änderungen des hung nicht einmal die Inflationsrate ausgleichen Wehrsoldgesetzes voranzustellen. Sie waren auch konnten und dabei auch noch das Kunststück fer- der Grund dafür, daß meine Fraktion bereit gewe- tiggebracht haben, durch die damalige Streichung sen ist, trotz der Notwendigkeit der Haushaltssanie- der Sparprämie den Wehrpflichtigen das wieder rung, von der wir soeben auch gehört haben, und aus der Tasche zu ziehen, was Sie ihnen mit der abweichend von der mit dem Haushaltsgesetz 1984 Wehrsolderhöhung gerade gegeben hatten. verabschiedeten mittelfristigen Finanzplanung die Diesen Trick der doppelten Tasche wird es bei nächste Wehrsolderhöhung um sechs Monate vor- der Union nicht geben. zuziehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wären wir nur der bisherigen Übung gefolgt, den Keine Sorge, meine Damen und Herren, die Grund- Wehrsold alle dreieinhalb bis vier Jahre zu erhöhen, wehrdienstleistenden wissen, daß ihr Dienst bei dann hätten wir auch der mittelfristigen Finanzpla- dieser Bundesregierung und der Koalition der nung folgen können. Genau das hatte sie nämlich Mitte die gebührende Anerkennung findet. Das vorgesehen. Aber spätestens seitdem feststand, daß Vorziehen der Wehrsolderhöhung um 6 Monate diese Wehrsolderhöhung zum 1. Oktober 1984 aus zeigt, daß für uns der Mensch wirklich im Mittel- Mitteln des laufenden Haushaltes finanziert wer- punkt steht. den könnte, haben die Verteidigungspolitiker mei- ner Fraktion nicht geruht, bis sie die Zustimmung (Beifall bei der CDU/CSU) der Gesamtfraktion zu dieser demonstrativen Geste Eine Armee besteht aus Menschen, die Waffen tra- an unsere Grundwehrdienstleistenden erlangen gen, und nicht etwa aus Maschinen und ihren Be- konnten. Insofern ist diese Wehrsolderhöhung 1984 dienern. Das werden wir übrigens im Laufe des auch ein echtes Initiativgesetz, das von den Koali- Jahres auch noch durch weitere Initiativen von Re- tionsfraktionen eingebracht wurde und das inzwi- gierung und Koalition verdeutlichen. schen auch von der Opposition mitgetragen wird. Zum Schluß noch zwei Anmerkungen. Gewiß, es hat auch eine Initiative der Opposition in die gleiche Richtung gegeben, sogar eine weiter- Erstens. Bei den Vorbereitungen dieser Gesetzes- gehende als die unsrige, die aber, wie wir glauben, initiative hat es auch in unseren eigenen Reihen die nicht zu finanzieren war. Sie hätte den Haushalt Überlegung gegeben, ob es angemessen wäre, den 1984 um zusätzlich etwa 150 Millionen DM belastet, Wehrsold zu erhöhen, wo doch die Beamten eine die dessen Rahmen gesprengt hätten. Es mag sein, Nullrunde hätten. Ich stelle dazu fest, daß es eine daß die Opposition glaubt, solche Zusammenhänge Koppelung zwischen Beamtengehältern und Wehr- - vernachlässigen zu können, sold bisher nicht gegeben hat. Das war bisher nicht der Wille des Gesetzgebers, und der soll es auch in (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Das hat sie jahre Zukunft nicht sein. Dann sollten wir diese Koppe- lang getan!) lung auch nicht etwa im Negativen herstellen. es mag auch sein, daß diese Initiative der Opposi- Zweitens und letztens. Diese Wehrsolderhöhung tion, von der ich gesprochen habe, es uns leichter ist auch ein kleiner Beitrag zu etwas mehr Wehrge- gemacht hat, unser Begehren in der Fraktion rechtigkeit. Sie verringert nämlich den Abstand der durchzusetzen. Eines gestehe ich der Opposition al- materiellen Ausstattung zwischen denen, die die- lerdings nicht zu, und zwar den Vorwurf, daß ein nen, und denen, die nicht dienen. Dabei dürfen wir den wirtschaftlichen Verhältnissen angemessener es aber nicht bewenden lassen. Wir alle wissen, daß Wehrsold bei der Union keinen hohen Stellenwert wir darüber nachdenken müssen, ob heute noch ge- hätte. setzlich begründete Wehrdienstausnahmen für die (Beifall bei der CDU/CSU) Zukunft zugelassen werden können. Wir dürfen uns Das hat folgende Gründe: auch nicht darüber hinwegtrösten, daß etwa in Bälde alle Jahrgänge voll ausgeschöpft werden, um Erstens. Wir erhöhen, wie gesagt, den Wehrsold überhaupt genügend Wehrdienstleistende in unse- jetzt sechs Monate früher, als ursprünglich vorgese- rer Armee zu haben. Wir müssen einen Beitrag 5696 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Berger dazu leisten, daß es nicht so ist, daß 60 % dienen, Herr Kollege Berger, Sie und auch die anderen während 40 % nicht dienen, und daß diejenigen, die Kollegen aus dem Verteidigungsausschuß müssen für ihr Vaterland dienen, dafür auch noch materiell doch sehen, daß es im Grunde ein beschämender bestraft werden. Vorgang ist, daß die Regierungskoalition vor weni- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. gen Wochen den Gesetzentwurf der SPD-Bundes- tagsfraktion zur Änderung des Wehrsoldgesetzes (Beifall bei der CDU/CSU) mit Wirkung vom 1. Januar 1984 abgelehnt hat, ebenso den im Ausschuß angebotenen Kompromiß, ab 1. Juli die Erhöhung vorzunehmen. Kein Wort Vizepräsident Wurbs: Das Wort hat Herr Abgeord- davon, daß hier gemeinsames Bemühen im Vorder- neter Heistermann. grund stand. Daß Sie sich in Ihren Parteien nicht haben durchsetzen können, dürfen Sie doch nicht einer anderen Fraktion anlasten. Dafür tragen doch Heistermann (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Sie politisch Verantwortung. men und Herren! Ich habe die Ausführungen des Kollegen Berger hier mit Interesse zur Kenntnis (Berger [CDU/CSU]: Wir erhöhen doch genommen. Nur muß man einmal fragen, was das jetzt!) alles mit dem Wehrsold zu tun hatte, was er hier — Herr Kollege Berger, es wäre doch einmal inter- lang und breit dargestellt hat. Ich werde darauf essant gewesen, die Begründung für die Ablehnung aber gleich noch zurückkommen. unseres Antrages zu hören. Ich fange einmal damit an, Herr Kollege Berger, das zu zitieren, was vor rund vier Jahren der Vorsit- Was hat sich eigentlich zwischen dem Zeitpunkt zende der Arbeitsgruppe Verteidigung, der Kollege unseres Antrages und dem der Behandlung Ihres Willi Weiskirch, dem ich auch von dieser Stelle be- Antrages geändert? Welche wirtschaftliche Verän- ste Genesungswünsche übermitteln möchte, im derung ist denn tatsächlich eingetreten? Sie finden Pressedienst seiner Partei geschrieben hat. Er und Sie haben keine plausible Begründung, um das sagte dort: hier in aller Schlichtheit festzustellen. Die Ankündigung einer Wehrsolderhöhung für Daß die Koalitionsfraktionen dazu gebracht wer- die Bundeswehrsoldaten durch den Parlamen- den konnten, ihre Absicht aufzugeben, erst ab näch- tarischen Staatssekretär im Verteidigungsmi- stem Jahr den Wehrsold zu erhöhen, Herr Kollege nisterium von Bülow kann nur Kopfschütteln Berger, liegt doch sicherlich daran, daß die starken und Befremden hervorrufen; denn die vom Ver- Proteste der Wehrpflichtigen, die sich schon als teidigungsminister für den 1. Oktober 1981 oder Prügelknaben in Uniform fühlen mußten, die stän- 1. Juli 1981 vorgesehene Erhöhung ist, wie von digen Mahnungen des Wehrbeauftragten, die nach- Bülow richtig sagt, überfällig. Allerdings hätte haltigen Forderungen des Deutschen Bundeswehr- sie nach Ansicht der CDU/CSU längst vorge- verbandes und der Gesetzentwurf der SPD-Bundes- nommen werden müssen und wird, wenn man tagsfraktion dazu beigetragen haben, die Regie- den Inflationsverlust einrechnet, im nächsten rungskoalition weichzuklopfen. Das ist der Tatbe- Jahr nur noch ein Tropfen auf einen heißen stand. Stein sein. Und ich füge hinzu: Dieser gemeinsame Erfolg (Berger [CDU/CSU]: Das war damals auch läßt auch für die Zukunft hoffen, daß das gemein- so!) same Wirken der von mir hier Genannten dafür sor- In Anlehnung an diese Aussage, Herr Kollege gen wird, daß die sozialen Verhältnisse der Solda- Berger, stelle ich für die SPD-Bundestagsfraktion ten in Ordnung bleiben. fest, daß die damalige Äußerung der CDU/CSU auf Wir stimmen diesem Gesetzentwurf, der von Ih- die heutige Situation genau zutrifft. nen eingebracht worden ist, zu. Wir haben keine (Berger [CDU/CSU]: Leider nein!) Berührungsängste, etwas mit Ihnen gemeinsam zu tun. Wir wären dankbar, wenn Sie auch bei anderer Ihre Aussage von damals holt Sie heute wieder ein; Gelegenheit ein wenig mehr auf Zusammenarbeit so schnell geht das manchmal. und Kooperation Wert legten. Wir stimmen zu, weil Nun komme ich auf die Begründung des heutigen wir mithelfen wollen, die soziale Situation der Antrags der Koalitionsfraktionen auf Wehrsolder- Wehrpflichtigen und, was hier verschwiegen wor- höhung zu sprechen. In dieser Begründung heißt den ist, der Zivildienstleistenden, die doch nach es: demselben Gesetz bezahlt werden, ein wenig zu ver- Im Hinblick auf die zwischenzeitlich eingetre- bessern. tene Veränderung der wirtschaftlichen Verhält- Wir halten aber grundsätzlich an unserer Auffas- nisse sollen der Wehrsold, die besondere Zu- sung fest, daß der 1. Januar der richtige Termin für wendung und das Entlassungsgeld mit Wir- die Erhöhung gewesen wäre. Die CDU/CSU wird kung vom 1. Oktober erhöht werden. sich wirklich fragen lassen müssen, ob es nicht bes- Vergleichen Sie das einmal mit dem, was der Kol- ser gewesen wäre — und dies insbesondere im Hin- lege Berger hier alles ausgeführt hat! Von dem, was blick auf die Erhöhung —, das im Verteidigungsaus- Sie hier an inhaltlichen Begründungen ausgeführt schuß gemeinsam zu tragen. Vor allen Dingen wird haben, bleibt nichts. Und das alles noch im Zeichen sie sich fragen lassen müssen, welches Verhältnis des Aufschwungs! sie tatsächlich zur Wehrgerechtigkeit hat. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5697

Heistermann Ich glaube, die Zivildienstleistenden und Wehr- dauernd Wehrgerechtigkeit im Munde führen und pflichtigen haben die Debatte sehr genau verfolgt dann, wenn man politisch gefordert ist, nicht ja und erkannt, wer im Parlament ihre Interessen sagen. Der Wehrbeauftragte hat seit 1982 darauf wahrgenommen hat und wer nicht, wer erst zu ei- hingewiesen, wie die soziale Situation der Wehr- ner politischen Entscheidung gedrückt werden pflichtigen ist. Es hätte Ihnen gut angestanden, dem mußte. SPD-Entwurf vor einigen Wochen hier im Hause Nun zu der Frage der Wehrpflicht, die Sie, Herr zuzustimmen. Kollege Berger, hier noch angesprochen haben. Ich (Berger [CDU/CSU]: Sie haben damals vier stelle in aller Deutlichkeit fest: Gerade unter sozial- Jahre zugewartet!) demokratischen Verteidigungsministern ist diese — Nein, Kollege Berger. Wir hätten gemeinsam et- Bundeswehr zu dem geworden, was sie heute ist, was tun können, wenn Sie es gewollt hätten. Ich nämlich einer der schlagkräftigsten Armeen, die in wiederhole noch einmal: Wir haben keine Berüh- dieser Welt existieren. Und das ist teilweise gegen rungsängste gegenüber Ihnen. Wir haben keine Be- den Widerstand der damaligen Opposition durchge- denken, diesen Gesetzentwurf zu übernehmen und führt worden. mit zu tragen. Ich appelliere an Sie aber, hier nicht (Jung [Lörrach] [CDU/CSU]: Rauschender nur Worte in den Raum zu stellen, sondern künftig Beifall! — Weitere Zurufe von der CDU/ auch unter Beweis zu stellen, was Sie unter Koope- CSU) ration in sozialen Fragen verstehen. — Ich lade Sie ein, mit mir einmal durch die Bun- (Beifall bei der SPD) deswehr zu fahren. Das Wort hat der Herr Abge- (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Da habe ich bes Vizepräsident Wurbs: ordnete Kleinert (Marburg). sere Partner!)

Wir können das an jedem Ort der Bundesrepublik Kleinert (Marburg) (GRÜNE): Herr Präsident! durchführen. Und dann werden wir das feststellen Meine Damen und Herren! Berührungsängste ha- können. ben auch die Grünen nicht, aber ich muß schon (Würzbach [CDU/CSU]: Laden Sie mal die sagen Kollegen ein, die vor den Kasernen blok (Reents [GRÜNE]: Es wurde gefragt, ob du kieren und demonstrieren! Gehen Sie mal gedient hast!) mit denen zu den Soldaten!) — ist das erheblich, Herr Würzbach?; Sie werden — Herr Kollege Würzbach, auch wir beide könnten das sicher besser wissen —, selbstverständlich — Sie als zuständiger Staatsse- (Würzbach [CDU/CSU]: Ihre Kollegen ha kretär sollten das Angebot vielleicht einmal anneh- ben gefragt, nicht ich!) men — gemeinsam einen Truppenbesuch machen. Dann werden wir die Soldaten fragen können. Wir daß es mir nach den markigen Sprüchen von Herrn sollten sie dann fragen, ob sie sich in dieser Zeit in Berger und auch nach Herrn Heistermanns Begei- der Bundeswehr wohlgefühlt haben oder ob das sterung über die Schlagkraft der Bundeswehr ganz eine so untragbare Last war, die erst durch die besonders schwerfällt, hier zu einem Gesetzentwurf Übernahme der Regierung durch Sie erleichtert Stellung zu nehmen, den wir trotz schwerwiegender werden konnte. Bedenken im Endeffekt zusammen mit Ihnen ver- abschieden wollen, dem wir also zustimmen wer- (Zustimmung bei der SPD) den. Wir wollen allerdings aus ganz anderen Grün- Ich sage hier deutlich, damit Sie das auch einmal den als denen zustimmen, die Herr Berger hier vor- registrieren: Die Bundeswehr ist keine Einrichtung getragen hat. Wir wollen nicht deshalb zustimmen, der Parteien, schon gar nicht der CDU/CSU, son- um zu einer Effektivierung, Verbesserung und Har- dern eine Einrichtung dieses Staates. Wir lassen monisierung der Armee beizutragen. Einen solchen uns hier auch von niemandem ein Bonbon auf die Beitrag werden Sie von uns nicht bekommen und Backe drücken, wie das teilweise von dem Kollegen vermutlich auch nicht erwarten. Sie werden- ihn je- Berger wieder versucht worden ist. Sie sollten diese denfalls so lange von uns nicht bekommen, so lange Versuche langsam aufgeben. Die Gemeinsamkei- diese Armee nichts anderes als ein Glied in der ten, die hier immer wieder angesprochen werden, Kette eines gigantischen Militärapparates ist, der sind größer, als Sie sie teilweise hier in den Diskus- mit modernster Waffentechnik unsere Zukunft sionsbeiträgen darstellen. nicht schützt, sondern eben eher bedroht. Ginge es um eine solche Begründung, wie sie von Herrn Ber- Nun noch eine kurze Bemerkung: Hier wird im- ger vorgetragen wurde, so würden wir diese Erhö- mer die Koalition der Mitte angesprochen. hung ebenso kritisieren und bekämpfen wie die (Zuruf von der CDU/CSU: Das ärgert Sie!) ständige Aufblähung des Rüstungshaushalts, die — Nein, das ärgert mich überhaupt nicht. Ich sage wir in der Vergangenheit bekämpft haben und die nur: Dies ist nicht eine Koalition der Mitte. Diese wir in der Zukunft ebenso bekämpfen werden. Koalition hat vielmehr an bestimmten Stellen Un- Wenn wir diesem Gesetzentwurf dennoch zustim- wuchten. Diese Unwuchten äußern sich darin, daß men werden, so liegt das daran, daß bei dieser Sie immer ganz bestimmten Personengruppen ganz Frage auch ganz andere Gesichtspunkte zu berück- bestimmte Dinge auflasten. Das war auch in diesem sichtigen sind. In allererster Linie gilt dies für den Fall bei den Wehrpflichtigen so. Man kann nicht Gesichtspunkt, daß es um Zigtausende von Wehr- 5698 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Kleinert pflichtigen und Zivildienstleistenden geht. Das sind Benachteiligten in eine bessere Lage zu bringen Zigtausende von Menschen, die auch während der und hier einen sozialen Ausgleich in Gang zu set- Zeit, in der sie ihren Militärdienst oder ihren Zivil- zen. dienst ableisten bzw. ableisten müssen, ein Recht (Zuruf des Abg. Dr. Bötsch [CDU/CSU]) darauf haben, ein Leben nach ihren zivilen Bedürf- nissen, wie ich es einmal nennen möchte, zu füh- — Es kann doch wohl kein Zweifel daran bestehen, ren. Herr Bötsch, daß diejenigen, die außer ihrem Wehr- (Zuruf des Abg. Würzbach [CDU/CSU]) sold keine weiteren Einkünfte haben, eine Anpas- sung an die wirtschaftliche Verschlechterung, der — Herr Würzbach, ich habe nur noch sieben Minu- sie ausgesetzt sind, sehr viel nötiger haben als bei- ten Redezeit. Ich werde nicht fertig, wenn ich Ihnen spielsweise ein Offizier, der neben seinem Wehrsold jetzt die gebührende Aufmerksamkeit widme. noch ein stattliches Gehalt bezieht. (Würzbach [CDU/CSU]: Trotzdem stimmt (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wie es, was ich sage!) viel denn?) Das sind Bedürfnisse, die ja nun nicht einfach beim Eintritt in die Bundeswehr oder in den Zivil- Wir sehen in dem vorliegenden Gesetzentwurf ei- dienst beim Wachhäuschen oder sonstwo abgege- nen verspäteten und ungenügenden Beitrag zur Be- ben werden. In der Tat — soweit ist der Begrün- hebung einer sozialen Situation, die unbedingt ver- dung des Regierungsentwurfs zuzustimmen — hat bessert werden muß. Dies haben auch die Interes- sich die wirtschaftliche Situation seit der letzten sensvertretungsorganisationen der Wehr- und Zivil- Wehrsolderhöhung im Jahre 1981 derart rapide ver- dienstleistenden in der Vergangenheit immer wie- schlechtert, daß nicht einmal mehr elementare der gefordert. Daß sich die Koalitionsparteien heute Grundbedürfnisse befriedigt werden können. Wir mit ihrer Initiative zum Fürsprecher dieser Interes- vermögen nicht einzusehen, warum gerade Wehr- sen machen, das hat wohl in erster Linie mit dem und Ersatzdienstleistende, deren soziale Rechte oh- erheblichen Druck zu tun, der unter anderem auch nehin weitgehend eingeschränkt sind, die Opfer ei- von dieser Seite entstanden ist. Der vorliegende ner wirtschaftlichen Entwicklung sein sollen, die Entwurf der Koalitionsparteien muß deshalb auch die herrschende Wirtschaftspolitik und damit auch als Versuch angesehen werden, stärkere Unruhe in diese Bundesregierung zu verantworten hat. der Truppe zu vermeiden und einen gewissen sozia- len Zündsatz herauszunehmen. Wir haben den Ein- Es erscheint uns in diesem Zusammenhang als druck, daß sich an dieser Stelle der Kreis zu den merkwürdiger Kontrast, daß Milliarden für Kriegs- grundsätzlichen militärpolitischen Vorstellungen gerät und neue Waffensysteme verpulvert werden, der Regierung schließt. Mit einem Stückchen sozia- daß aber die Wehrdienstleistenden in ihrer sozialen len Frieden wollen Sie zur Verbesserung und Effek- und materiellen Situation am Ende der Skala ste- tivierung der Rolle dieser Armee beitragen. Die hen. Dieser Widersinn wird verschärft, wenn wir Rolle dieser Armee besteht allerdings vor allen Din- bedenken, daß es nicht nur um die Prioritätenset- gen darin, daß sie mitzuwirken hat bei der Organi- zung bei staatlichen Militärausgaben geht, die diese sierung und Verbreitung von militärischen Gefahr- soziale Benachteiligung zur Folge hat, sondern daß potentialen. es zu einem nicht unerheblichen Teil gerade die staatlichen Ausgaben für Rüstungsgüter sind, die (Berger [CDU/CSU]: Das ist dummes Zeug, zur Verschlechterung der allgemeinen wirtschaftli- was Sie reden!) chen Lage beigetragen haben, sei es durch Be- schleunigung inflationärer Prozesse, sei es durch — Ach Herr Berger, glauben Sie im Ernst, daß uns den Umstand, daß staatliche Mittel zur Ankurbe- Ihre markigen Sprüche vorhin hier weitergebracht lung einer wirtschaftlichen Entwicklung in sinnvol- hätten? len Bereichen fehlen. (Frau Nickels [GRÜNE]: Na klar glaubt er Die Fraktion der GRÜNEN kann sich von daher das!) - aus prinzipiellen, sozialen Erwägungen heraus ei- ner Erhöhung des Wehrsoldes trotz aller grundsätz- Ich komme zum Schluß: Wenn wir also dennoch lichen Bedenken nicht verschließen. Ich will aller- einer Wehrsolderhöhung zustimmen, dann tun wir dings an dieser Stelle gleich dazusagen, daß die von das nicht zuletzt auch deshalb, weil wir anerken- Ihnen gewünschte Anhebung des Wehrsoldes ei- nen, daß es sich bei Wehr- und Zivildienstleistenden gentlich völlig unzureichend ist, um hier in der um eine Gruppe handelt, die durch die allgemeine Sache auch nur die dringendsten sozialen Proble- Wehrpflicht und nicht aus eigenem Antrieb — im me, die Sie ja in Ihrer Begründung selbst nicht Unterschied etwa zu den Berufssoldaten — zur leugnen, ein Stückweit zu lösen. Bundeswehr und zur Erfüllung der Aufgaben, die sie dort wahrnehmen müssen, gekommen sind. Aus Wir hätten es darüber hinaus für sinnvoller ge- der von Staats wegen vorgenommenen Rekrutie- halten, wenn eine Staffelung bei der Anhebung der rung darf den Betroffenen nicht auch noch ein ma- Sätze vorgenommen worden wäre, wenn die un- terieller Nachteil erwachsen. Deshalb fühlen auch teren Mannschaftsdienstgrade und die einfachen wir uns gefordert, unter Zurückstellung der Beden- Soldaten stärker begünstigt, also in den unteren ken, die ich vorhin genannt habe, einer längst über- Tagessatzbereichen stärkere Anhebungen vorgese- fälligen und im übrigen unzureichenden sozialen hen worden wären mit dem Ziel, die am stärksten Maßnahme zur Verbesserung der Einkommens- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5699

Kleinert situation von Wehrdienst- und Zivildienstleistenden des zu ermöglichen. Diese Unterstützung hat es den unsere Zustimmung zu geben. verantwortlichen Abgeordneten erleichtert, die (Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der Sachentscheidung so zu treffen, wie wir es hier CDU/CSU: Na also!) heute vor haben. Die Entscheidung betrifft ja insbesondere die Vizepräsident Wurbs: Das Wort hat der Herr Abge- Gruppe junger Menschen, deren Einsatz für unsere ordnete Dr. Weng. Freiheit und Rechtsordnung nicht nur Verbalcha- rakter hat, sondern sich durch tatsächliche Opfer Dr. Weng (FDP): Herr Präsident! Meine sehr ver- an Zeit, persönlichem Vorankommen und Komfort ehrten Damen und Herren! Wer die ganze Latte an dokumentiert. Änderungswünschen des Vorredners gehört hat, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) muß sich eigentlich wundern, warum er diese Ände- Die Wehrdienstleistenden ebenso wie die Zivil- rungen nicht beantragt hat, als in den Ausschußsit- dienstleistenden in unserem Lande sollen sich zungen dazu Gelegenheit gewesen wäre. durch diese deutliche Geste in ihrer Einsatzfreude Im Unterschied zu der Opposition, die das Wün- bestärkt fühlen. Wir, die Öffentlichkeit der Bundes- schenswerte fordern kann, ohne die Realisierung republik, sind auf ihre Leistungsbereitschaft ange- vorweisen zu müssen, sind wir als Regierungsfrak- wiesen. — Danke schön. tion aufgefordert, seriöse Vorschläge zu machen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die dann, meine Damen und Herren, auch die Mehr- heit dieses Hauses finden können. Das Wort hat der Herr Bun- Meine Fraktion freut sich, dem vorgelegten Ge- Vizepräsident Wurbs: desminister der Verteidigung. setzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Erhöhung des Wehrsolds, der besonderen Zuwendungen und des Entlassungsgeldes vorbehaltlos zustimmen zu Dr. Wörner, Bundesminister der Verteidigung: können. Schließlich sind die entsprechenden Sätze Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen zuletzt mit Wirkung vom 1. Juli 1981 erhöht worden. und Kollegen! Die Wehrpflichtigen erhalten mit die- Seither haben sich die wirtschaftlichen Verhält- sem Beschluß des Parlaments eine wohlverdiente nisse deutlich verändert. Dies ändert nichts daran, materielle Entschädigung für das Opfer, das sie im daß wir im Zeittakt günstig aussehen. Ich erinnere Dienste der Allgemeinheit bringen. Das ist auch der daran, daß die letzte Erhöhung von Januar 1978 bis Grund, warum das Bundesministerium der Vertei- zum Juli 1981, also dreieinhalb Jahre, gebraucht digung, ich selbst und die Bundesregierung dazu hatte, während vorher sogar vier Jahre — zwischen beigetragen haben, daß das in diesem Jahr noch 1974 und 1978 — verstrichen sind, ehe erhöht wur- möglich wurde. de. Dazu — wie Herr Kollege Berger vorhin ausge- Ich will keinen Zweifel daran lassen, daß jeder führt hat — ist hier häufig nicht einmal um den von uns den Wehrpflichtigen gerne noch mehr — Wertverlust des Geldes erhöht worden. und sicher auch früher — gegeben hätte. Verdient Natürlich gab es gerade bei uns die Abwägung hätten sie es. zwischen dem Erfordernis solider Haushaltsfüh- Andererseits habe ich bei vielen Diskussionen rung, das starke Zurückhaltung bei den öffentlichen draußen in der Truppe und im Gespräch mit den Personalausgaben bedeuten muß, und dem Wunsch, jungen Leuten festgestellt, daß sie sehr wohl ein der begründeten Forderung der Soldaten nachzu- Verständnis dafür haben, daß und warum die Haus- kommen. In der notwendigen Abwägung haben wir haltsenge nicht jede Erfüllung aller Forderungen uns dazu entschlossen, diesem Wunsch, der ja auch zuläßt. von allen Verbänden der Betroffenen getragen wur- de, zu entsprechen und diesen Gesetzentwurf zum Ich möchte zum Charakter des Wehrsolds eine 1. Oktober des Jahres entsprechend der Vorlage auf Bemerkung machen, damit kein Mißverständnis Drucksache 10/1475 in Kraft zu setzen. aufkommen kann. Wehrsold ist kein Gehalt. Ich sage das den Wehrpflichtigen genauso, wie ich es Meine Damen und Herren, wir sind uns der Tat- hier sage. Mit der Wehrpflicht erfüllen sie nicht nur sache bewußt, daß es keine alltägliche Entschei- eine staatsbürgerliche Pflicht, sondern sie tun die- dung ist, dies im laufenden Haushaltsjahr zu än- sen Wehrdienst im Grunde genommen auch sich dern. Gerade deshalb sind wir dem Verteidigungs- selbst zuliebe und im Vertrauen darauf, daß andere minister dankbar, daß sein Haus trotz der auch dort nach ihnen mit ihrem Dienst dann ihre Freiheit engen Haushaltslage, die sich aus den zahlreichen und ihren Frieden schützen. dringend notwendigen Beschaffungsmaßnahmen ergibt, die Mittel für die noch im Jahre 1984 ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) plante Änderung aus dem laufenden Etat zur Verfü- Von daher müssen sie sich mit einer Entschädigung gung stellt. Dieses war ja, wie Sie wissen, die zufriedengeben und haben keinen Anspruch auf Grundlage der Zustimmung zumindest des Haus- etwa ein Gehalt. haltsausschusses zu der Vorlage. Ich will ein anderes sagen: Die Wehrpflichtigen Im Beschluß der Koalitionsfraktionen findet zu- tun ihre Pflicht gut. Wir haben im Augenblick eine sätzlich das Engagement unserer Parteien Nieder- Generation von Wehrpflichtigen in der Bundes- schlag. Ich will hier gerne auf den von den Jungen wehr, die willig sind, die wenn sie vernünftig ge- Liberalen angeregten Beschluß des FDP-Bundes- führt und vernünftig gefordert werden, ihre Wehr- parteitages verweisen, die Anhebung des Wehrsol- pflicht gut, in einigen Fällen sogar sehr gut erfüllen. 5700 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Bundesminister Dr. Wörner Von daher möchte ich auch als Bundesminister der den Wehrpflichtigen — nicht uns und nicht mir —, Verteidigung von dieser Stelle aus meinen Dank draußen in ihren Parteigliederungen dafür einzu- den Wehrpflichtigen aussprechen. treten, daß sie auch dort den nötigen Respekt für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ihren Dienst in der Bundeswehr erhalten. Reents [GRÜNE]: Die sind in der Kneipe, (Beifall bei der CDU/CSU — Horn [SPD]: die hören das nicht! — Weitere Zurufe von Da brauchen wir ein Vorbild!) den GRÜNEN) Nicht die paar Pfennige, lieber Herr Horn, die wir — Ich würde mir diese Zwischenrufe schenken, wie ihnen hier geben, ist das Entscheidende. Entschei- überhaupt das einzige, was ich zu dem Beitrag von dend ist, daß sie wissen, daß die Vertreter in diesem Herrn Fischer sagen möchte, — — Parlament — auch Herr Horn — draußen zu ihnen (Frau Nickels [GRÜNE]: Der Herr Fischer stehen ist gar nicht da!) (Zuruf des Abg. Horn [SPD]) — War es nicht der Herr Fischer? Entschuldigen und dafür sorgen, daß ihre Parteien geschlossen zu Sie bitte, es ist manchmal etwas schwierig, Sie aus- ihnen stehen. einanderzuhalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Reents [GRÜNE]: In der nächsten Legisla turperiode lernen Sie das zu unterschei den! — Weitere Zurufe von den GRÜNEN) Vizepräsident Wurbs: Meine Damen und Herren, Herr Abgeordneter, ich bitte um Vergebung. weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich (Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: Herr schließe die Aussprache. Wörner, das hätte Ihnen doch nicht passie Zu einer Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 ren dürfen!) unserer Geschäftsordnung erteile ich der Abgeord- Das einzige, was ich zum Abgeordneten Kleinert neten Frau Nickels das Wort. — ist das jetzt der richtige Name? — sagen möchte, ist: Ihre markigen Reden von dieser Stelle aus sind nur deswegen möglich, weil die Wehrpflichtigen der Bundeswehr ihren Dienst in der Bundeswehr er- Frau Nickels (GRÜNE): Meine Damen und Herren, füllen. auch ich werde dem Gesetz zustimmen, aber aus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ganz anderen Gründen als z. B. Herr Berger. Ich habe viele Gründe dafür, aber ein Grund ist auch Materielle Anerkennung — lassen Sie mich das der, daß man das Leben als W 15er eigentlich nur zum Schluß sagen — ist wichtig. Wichtiger aller- im Suff oder, wie mein Kollege Roland Vogt früher, dings ist die ideelle Anerkennung des Dienstes der während Ableistung seines Wehrdienstes sagte, Wehrpflichtigen. Dazu nur ganz wenige Bemerkun- durch das Lesen geistig hochstehender Literatur er- gen: Wir alle haben dafür zu sorgen, daß nicht derje- tragen kann. Und Bier und Bücher werden ja be- nige als der Dumme gilt, der seine staatsbürgerli- kanntlich immer teurer. che Pflicht erfüllt. (Berger [CDU/CSU]: Das muß man mal in (Beifall des Abg. Würzbach [CDU/CSU]) der Bundeswehr verbreiten, was die Dame Das zweite: Wir alle respektieren das Recht auf sagt! — Weitere Zurufe von der CDU/ Wehrdienstverweigerung. Gleichwohl darf es keine CSU) falsche Glorifizierung der Wehrdienstverweigerung geben. (Reents [GRÜNE]: Eine „Glorifizierung des Vizepräsident Wurbs: Meine Damen und Herren, Wehrdienstes"!) wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Das Recht der Wehrdienstverweigerer ist nur so Ich rufe die §§ 1 und 2, Einleitung und Überschrift- lange geschützt, als die Mehrheit der jungen Staats- auf. — Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzu- bürger ihre Uniform anzieht und ihren Wehrdienst stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzei- leistet. chen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? Die auf- gerufenen Vorschriften sind angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drittens. Viele von den Sprüchen würden sich er- Wir treten in die übrigen, wenn man von seiten aller Parteien — dritte Beratung auch in diesem Bundestag — entschiedener jenen ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem entgegentreten würde, die beispielsweise im Heil- Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte bronner Aufruf die Bundeswehr außerhalb der Le- ich, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthal- galität stellen und zur Wehrdienstverweigerung tungen? — Das Gesetz ist angenommen. auffordern. Das ist schon schlimm genug. Schlimmer allerdings ist es, wenn sich darunter eine ganze Reihe von Mitgliedern der SPD findet, ohne daß daraus irgendwelche Konsequenzen gezo- Meine Damen und Herren, ich rufe die Tagesord- gen werden. Ich kann nur sagen, Sie schulden es nungspunkte 33 bis 35 auf: Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5701 Vizepräsident Wurbs 33. Beratung des Antrags der Fraktion der kommt. Zum anderen handelt es sich um Initiati- SPD ven, die international bereits angelaufen sind, die Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskon- von unserer Seite aus unterstützt werden sollen, um trolle Initiativen, an denen sich bereits zahlreiche Regie- rungschefs in tiefer Sorge über die uferlosen Gefah- — Drucksache 10/1298 — ren des Wettrüstens beteiligen. Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Wir fordern deshalb die Bundesregierung mit un- Verteidigungsausschuß seren Anträgen auf, initiativ zu werden, damit es zu 34. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD einer Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen auf der Grundlage eines rea- Abrüstungsinitiative aus vier Kontinenten listischen Verhandlungsansatzes kommt. Wir sehen — Drucksache 10/1573 diesen Ansatz in einer Zusammenfassung der bis- —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: herigen Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen Auswärtiger Ausschus (federführend) und sogenannte strategische Systeme. Nach unse- Verteidigungsausschuß rer Auffassung sind die Verhandlungen über eu- 35. Beratung des Antrags der Fraktion DIE rostrategische Systeme auch deshalb gescheitert, GRÜNEN weil das damit verbundene künstliche Heraus- Nichtaufhebung der WEU-Rüstungsbe- schneiden des Verhandlungsgegenstandes aus dem schränkungen untrennbaren Zusammenhang der atomaren Rake- tenpotentiale in Ost und West die Situation keines- — Drucksache 10/1624 (neu) wegs erleichtert, sondern offenkundig erschwert Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: hat. So ist die Frage der Berücksichtigung der briti- Auswärtiger Ausschuß (federführend) schen und der französischen Atomwaffen nur bei Verteidigungsausschuß verbundenen Verhandlungen zu klären. Ich komme ferner zu der jetzt zu verlesenden Zusatzvereinbarung. Nach einer interfraktionellen Wir wissen, daß gegenwärtig weder die USA noch Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung die Sowjetunion zu solchen verbundenen Verhand- erweitert werden um den Zusatzpunkt 4: lungen bereit sind. Wir wissen aber auch, daß die Eurogroup der NATO-Verteidigungsminister im De- Beratung des Antrags der Fraktionen der zember 1983 in dem Vorschlag verbundener Ver- CDU/CSU und der FDP handlungen, den wir bereits lange zuvor gemacht Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik hatten, eine realistische Möglichkeit gesehen hat — Drucksache 10/1674 — und daß viele Kundige innerhalb der Bundesregie- rung uns inoffiziell recht geben. und den Zusatzpunkt 5: Offiziell hält sich aber die Bundesregierung bis- Beratung des Antrags des Abgeordneten her bedeckt. Deshalb sollte der Bundestag in dieser Frage die Bundesregierung zu einer klaren Position Reents und der Fraktion DIE GRÜNEN veranlassen, denn die Zeit für vernünftige Lösun- Aufhebung der Herstellung von weitreichen- gen drängt. Es muß alles politisch Mögliche ver- den Raketen und strategischen Bombern auf sucht werden, um durch geeignete Initiativen das dem Gebiet der Bundesrepublik Deutsch- weitere Zupflastern Deutschlands, und zwar beider land Teile Deutschlands, mit atomaren Mittelstreckenra- — Drucksache 10/1685 — keten einerseits und mit atomaren Kurzstreckenra- Sind Sie damit einverstanden? Es erhebt sich keten andererseits zu beenden. kein Widerspruch. Dann rufe ich auch diese beiden (Zustimmung bei der SPD) Zusatzpunkte auf. Meine Damen und Herren, für die Tagesord- Wir erwarten deshalb auch, daß die Bundesregie- nungspunkte 33 bis 35 und die Zusatzpunkte 4 und 5 rung die Initiative unterstützt, die Pierre Trudeau ist eine gemeinsame Beratung mit einer Runde ver- als kanadischer Ministerpräsident für eine Konfe- einbart worden. Sind Sie mit der Regelung einver- renz aller fünf Atomwaffenstaaten ergriffen hatte. standen? — Es erhebt sich kein Widerspruch; dann Helmut Schmidt hat sich am 21. November 1983 ist so beschlossen. hier im Bundestag voll hinter diesen Vorschlag ge- stellt. Das Zustandekommen eines solchen Treffens Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — ist eine Pflicht der Atomwaffenstaaten gegenüber Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Scheer. der übrigen Welt. Trotzdem gab es bisher keine Zu- sammenkunft dieser Art, die klären sollte, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Schrit- (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Dr. Scheer ten die Welt vom Alptraum atomarer Vernichtungs- und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hat dem gefahren seitens der Atommachtpotentiale befreit Deutschen Bundestag zwei Entschließungsanträge werden könnte. vorgelegt, in denen die Bundesregierung zu Initiati- ven zur Abrüstung und Rüstungskontrolle aufgefor- Wir wissen, daß wiederum auch manche in den dert wird. Es handelt sich dabei zum einen um die Regierungsparteien eine solche Konferenz für not- Aufforderung zu Initiativen, die die Bundesregie- wendig oder zumindest für sinnvoll halten. Wenn rung von sich aus im deutschen Interesse ergreifen der Premierminister unseres NATO-Partners Ka- soll, damit der Abrüstungsprozeß wieder in Gang nada monatelang durch die Welt reist, um für dieses 5702 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Dr. Scheer Begehren Unterstützung zu finden, ist auch in die- kes ist. Eine zweite Konferenz der Nichtatomwaf- sem Fall das Abwarten, Schweigen und Zaudern fenstaaten ist mindestens so wichtig wie die erste. der Bundesregierung unverständlich. Alle von uns eingebrachten Vorschläge ergänzen (Beifall bei der SPD) einander. Eine Konferenz der Nichtatomwaffen- staaten könnte ein konkretes Resultat der Vier- Wir fordern die Bundesregierung deshalb auch Kontinente-Abrüstungsinitiative sein, die Fünf- auf, daß sie die Abrüstungsinitiative aus vier Konti- mächtekonferenz der Atomwaffenstaaten ein weite- nenten unterstützt, die der schwedische Minister- rer konkreter Schritt in dieser Richtung. präsident Palme, Papandreou, Frau Gandhi, der tansanische Ministerpräsident Nyerere, der mexi- Beim Ost-West-Gegensatz stehen wir auf der kanische Präsident de la Madrid und der argenti- Seite des Westens, aber bei dem politischen Gegen- sche Präsident Alfonsin ergriffen haben. Es geht satz zwischen den Staaten mit und denen ohne hier um ein Einfrieren der Atomrüstung und um Atomwaffen müssen wir auf der Seite der Nicht- Schritte zu atomarer Abrüstung, ausgehend von der atomwaffenstaaten stehen. Dies gebieten uns alle Einschätzung, daß die bisherigen Verhandlungen diesbezüglichen Verpflichtungen der Bundesrepu- keine Abrüstung, sondern nur geregelte Aufrüstung blik Deutschland und die politische und militä- gebracht haben. rische Lage unseres Landes. (Beifall bei der SPD) Sozialisten, Liberale und Konservative aus allen demokratischen Ländern haben sich dieser Initia- Wir sind der Auffassung, daß die Bundesrepublik tive bereits angeschlossen. Republikanische Sena- Deutschland bei allen diesen Initiativen dabeisein toren aus Washington und namhafte CDU-Mitglie- sollte. Jeder denkbare und mögliche Weg muß von der wie der stellvertretende DGB-Vorsitzende Feh- uns genutzt werden, einen aktiven Beitrag zur Be- renbach stimmen damit überein. Papst Johannes endigung des Rüstungswettlaufs zu leisten. Paul II. unterstützt diese Initiative ebenso wie der (Beifall bei der SPD) Generalsekretär des Weltkirchenrats, Philip Potter. Es ist besser, eine Initiative zuviel als eine zuwenig Sie alle haben die Befürchtung, daß die Welt dem- zu versuchen. Die Abrüstungsverhandlungen sind nächst verbrennen könnte. zum völligen Stillstand gekommen, aber das Rü- Nur die Bundesregierung schweigt wiederum und stungsrennen beschleunigt sich immer mehr. Eine hält sich in scheinbar lähmender Sorglosigkeit zu- politische Bewegung, ein Aufstand der Vernunft ist rück, obwohl auf dem Boden unseres Landes die deshalb nötig, um Druck zu machen, denn sonst weltweit größte Ansammlung von Atomwaffen la- passiert nichts, zuwenig, oder es passiert zu spät. gert. Deshalb sind alle in Unruhe: die Gewerkschaften, die Kirchen, die ältere wie die jüngere Generation. Die SPD unterstützt mit Nachdruck diese welt- Wir wollen bei dieser Sache keine billige parteipoli- weite Initiative. tische Kontroverse, sondern eine einhellige Willens- (Beifall bei der SPD) bekundung des Parlaments. Wir wollen abrüstungsdiplomatische Bemühun- Wir hoffen und wünschen, daß sich der gesamte gen nicht ersetzen, wie sie etwa auch im Antrag der Deutsche Bundestag ihr anschließt. Es werden in Koalitionsfraktionen zum Ausdruck kommen, aber ihr eigene Anstöße der nichtatomaren Staaten ge- wir sind der Meinung, diese Initiativen können nur fordert, die Atommächte an den Verhandlungstisch wieder in Gang kommen, in Gang gesetzt werden zu bringen. Je mehr sich an diesem Begehren aktiv mit einer Unterstützung der Weltöffentlichkeit. Nur beteiligen, desto weniger werden sich die Atom- dann sind wahrscheinlich die Voraussetzungen in mächte dem verschließen können. Einen solchen absehbarer Zeit zu schaffen, daß die Abrüstungs- Anstoß regen wir selbst in unserem Antrag an, der diplomatie rasch und zügig konkrete Vereinbarun- die Bundesregierung auffordert, die Initiative zu ei- gen ausarbeiten kann. Das ist der Stellenwert unse- ner Konferenz aller Nichtatomwaffenstaaten zu er- rer Vorschläge, wirkungsvolle politische Anstöße zu greifen. geben. Wie naheliegend und realistisch dieser Vorschlag Wir bitten deshalb nicht um eine kleinliche par- ist, zeigt das Beispiel aus dem Jahre 68, in dem es teiliche Kontroverse mit den entsprechenden Eitel- bereits einmal eine solche Konferenz gab. Willy keiten angesichts der Probleme und Gefahren, um Brandt, Außenminister der Großen Koalition, gab die es geht. Lassen Sie uns gemeinsam — wir sind seinerzeit dieser Konferenz wesentliche Impulse dazu bereit — Initiativen, die wir eingebracht ha- und hatte maßgeblichen Anteil an ihrem Zustande- ben, vielleicht auch mit einigen Anregungen von kommen. Sie bewirkte, daß sich inzwischen mehr anderer Seite in den Ausschüssen beraten, um dann als 100 Staaten dem atomaren Nichtverbreitungs- vielleicht eine gemeinsame Chance zur Lösung der vertrag anschlossen in der Erwartung, daß ihr völ- Fragen zu suchen, die viele hoffnungslos machen! kerrechtlicher Verzicht auf Atomwaffen ergänzt Vielen Dank. wird durch die Einlösung der völkerrechtlichen Ver- pflichtung der Atomwaffenstaaten auf atomare Ab- (Beifall bei der SPD) rüstung. Dieser Verpflichtung wurde sträflich zuwi- dergehandelt. Im nächsten Jahr findet die dritte Überprüfungskonferenz statt, die vielleicht ent- Vizepräsident Wurbs: Darf ich fragen, ob weiterhin scheidend für das Weiterleben dieses Vertragswer- das Wort zur Begründung gewünscht wird? — Das Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5703

Vizepräsident Wurbs ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. breitungsvertrages erfüllen und konkrete nukleare Das Wort hat der Abgeordnete Wilz. Abrüstungsmaßnahmen vereinbaren, daß die ein- seitig von den Sowjets abgebrochenen Verhandlun- gen über nukleare Rüstungskontrolle wiederaufge- Wilz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen nommen werden und ein weltweites Verbot der che- und Herren! Die SPD kann wahrlich meisterlich mischen Waffen erzielt wird. sein, wenn es um den Versuch geht, die Öffentlich- keit zu verwirren, (Beifall bei der CDU/CSU) (Zurufe von der SPD: Na!) Die Forderung der SPD dagegen, die Stationie- rung von atomaren Mittel- und Kurzstreckenrake- den Geist zu vernebeln, ten vor Wiederaufnahme der Verhandlungen über (Erneute Zurufe von der SPD: Na!) atomare Abrüstung zu stoppen, würde die massive Sachverhalte zu verdrehen und dahinter die eige- Überlegenheit der Sowjets in Europa anerkennen nen wahren Gedanken und Absichten zu verber- und zementieren. Die UdSSR hätte damit ihr politi- gen. sches Ziel erreicht und keinen zwingenden Grund, an den Verhandlungstisch für Verhandlungen über (Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es! — Car Kontrolle und Abrüstung zurückzukehren. Dies be- stensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Nebel weist nicht zuletzt die Tatsache, daß die Sowjets auf kerzenwerfer! Da sind die GRÜNEN ehrli den bereits vollzogenen oder noch geplanten Abzug cher! — Widerspruch bei der SPD) von 2 400 Nuklearsprengköpfen aus Westeuropa mit Ihre Anträge sind teilweise Etikettenschwindel einer drastischen Aufrüstung durch SS-20 und son- und daher überflüssig, weil zahlreiche Forderungen stige Raketen geantwortet und sich eine Überlegen- seit vielen Jahren unbestrittener Bestandteil unse- heit von 1 100 : 40 Flugkörpern gesichert haben. rer deutschen Rüstungskontrollpolitik sind. Das Interesse der Sowjets an wirklichen Abrü- (Beifall bei der CDU/CSU) stungsgesprächen würde bei Übernahme der politi- Andere Empfehlungen sind überholt, weil die schen Zielvorstellungen der SPD um so geringer Außenminister der Atlantischen Allianz mit ihrer sein, als die Sozialdemokraten bei ihrem wortbrü- Washingtoner Erklärung über die Ost-West-Bezie- chigen Nein zum NATO-Doppelbeschluß bleiben, hungen vom 31. Mai erneut ein deutliches Signal (Zurufe von der SPD: Hoi!) ihrer Bereitschaft zur Verständigung und zum Aus- gleich mit den Staaten des Ostens gesetzt haben. unsere einseitige Aufgabe der nuklearen Abschrek- Allerdings haben sie sich dabei im Gegensatz zu kung fordern und zusätzliche Mittel für eine kon- Ihrer — der der SPD — spätestens in Afghanistan ventionelle Stärkung ablehnen. Worüber sollten die zusammengebrochenen Entspannungseuphorie er- Sowjets eigentlich noch ernsthaft verhandeln wol- freulicherweise an realistischer Entspannungspoli- len, wenn Sie obendrein bereit sind, das alliierte tik und gleichzeitiger Beibehaltung einer notwendi- Konzept der Vorneverteidigung aufzugeben, und gen Verteidigungsfähigkeit orientiert. statt dessen den Einsatz von Reservisten-Jäger- kompanien planen? Dann bricht die Glaubwürdig- Schließlich aber enthält ein weiterer Teil Ihrer keit unserer Verteidigungsbereitschaft in sich zu- Initiative keine neuen, konstruktiven Vorschläge sammen. Ihre hintersinnige Europawahl-Forderung zur Friedenssicherung, sondern würde bei Realisie- nach einer autonomen Sicherheitspolitik Europas rung zu einer Gefährdung unserer Sicherheit und — läuft dies nicht alles auf eine faktische Aufkündi- Freiheit führen. Ich empfehle Ihnen deshalb: Ver- gung unserer Mitgliedschaft in der NATO hinaus? zichten Sie auf Ihre Anträge, kehren Sie zu einer Politik zurück, die uns Frieden und Freiheit bisher (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das ist ja doll! — erfolgreich gesichert hat. Weitere Zurufe von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Wollen Sie Westeuropa von den Vereinigten Staa- Abg. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]) ten wirklich abkoppeln Schließen Sie sich also, Herr Kollege Ehmke, dem (Zurufe von der SPD: Hoi!) - Antrag auf Drucksache 10/1674 an, den CDU/CSU und FDP zur Sicherheits- und Rüstungskontrollpo- und damit dem SS-20-Ziel der Sowjets zum Erfolg litik eingebracht haben. verhelfen, Für uns bleibt es bei den bewährten Zielen der (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ziel erkannt!) Bundesregierung, einerseits Frieden in Freiheit die Staaten Westeuropas durch die UdSSR politisch durch ausreichende Verteidigungsfähigkeit zu si- erpreßbar und uns darüber hinaus — mit Ihren chern, sicherheitspolitischen Konzepten — militärisch (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Ja wehrlos zu machen? Sagen Sie uns endlich, was Sie wohl!) wirklich im Schilde führen! Warum übernehmen Sie eigentlich sowjetische Forderungen — schon in andererseits alle ihre Bemühungen fortzusetzen, der NATO-Debatte und auch jetzt mit Ihrer Initia- über Abrüstung in Ost und West und durch gegen- tive — ohne jedweden Vorbehalt? seitige Rüstungskontrolle zu einem Gleichgewicht auf möglichst niedrigem Niveau zu gelangen. So (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das setzen wir uns mit der Bundesregierung dafür ein, ist die Aussteigermentalität! — Zurufe von daß die Kernwaffenstaaten Art. VI des Nichtver der SPD) 5704 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 Wilz Denn was anderes als rein sowjetische Vorschläge die Abrüstungsverhandlungen selbst. Ein bloßes stellen Ihre Vorschläge dar — ich weiß, daß Ihnen Einfrieren würde deshalb zu einer erheblichen Ver- das unangenehm ist, weil es die Wahrheit ist —, zögerung der dringend erforderlichen Reduzie- (Zurufe von der SPD) rungsmaßnahmen führen. Darüber hinaus würden bestehende Ungleichgewichte festgeschrieben und z. B. die britischen und französischen Nuklearwaf- gerade damit die Chancen umfassender Abrü- fen einzubeziehen stungsmaßnahmen gefährdet. Nur dann, wenn Ab- (Gansel [SPD]: Da sehnt man sich nach rüstung Vorrang vor bloßem Einfrieren hat, würde dem moderaten Todenhöfer! — Kittelmann dem auch von uns so dringend vorgebrachten Anlie- [CDU/CSU]: Die SPD ist total verunsi gen Rechnung getragen, einen eskalierenden Rü- chert!) stungswettlauf zu verhindern und endlich zu kon- kreten Abrüstungsmaßnahmen zu kommen. und einen sofortigen beiderseitigen Stationierungs- stopp vor die Wiederaufnahme der Verhandlungen Wir fordern deshalb die Sowjetunion auf, endlich zu schalten? Ist Ihr Verhalten schon der Erfolg der an alle Verhandlungstische zurückzukehren und sowjetischen SS 20-Bedrohungspolitik, oder wollen sich mit den konstruktiven Vorschlägen des We- Sie sich aus der Solidarität unseres Bündnisses lö- stens auseinanderzusetzen. sen, nur um neue rote und grüne Wählerschichten gewinnen zu können? Beides wäre schlimm und (Beifall bei der CDU/CSU) verwerflich genug. In diesem Zusammenhang sei ergänzend er- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Ehmke wähnt, daß wir ausdrücklich das engagierte Eintre- [Bonn] [SPD]: Herr Kollege, Sie sind ten der Bundesregierung für ein Zustandekommen scharfsinnig!) der Konferenz über vertrauens- und sicherheitsbil- Ich kann Ihnen — ruhig Blut! — jedenfalls an dende Maßnahmen und Abrüstung in Europa be- einem Beispiel darstellen, welchen Eindruck Ihr grüßen. Verhalten bei unseren Verbündeten erweckt. Angesichts der im Jahre 1985 stattfindenden (Zurufe von der SPD) 3. Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen heben wir die Bei einem deutsch-amerikanischen Parlamentarier- Bedeutung einer möglichst universalen Geltung treffen vor einigen Wochen in Salzburg äußerte im dieses Vertrages hervor und unterstützen die Bun- Anschluß an die Darstellung der SPD-Verteidi- desregierung in ihrem Bestreben, weitere Staaten gungspolitik, an der auch Ihr Kollege von Bülow zum Beitritt zu ermutigen. Gleichzeitig weisen wir mitwirkte, ein amerikanischer Politiker zwar iro- auf die Tragweite des Art. VI dieses Vertrages hin, nisch, aber doch vor ernstem Hintergrund sinnge- der die Kernwaffenstaaten verpflichtet, in redlicher mäß: Ich glaubte bisher, daß die Gefahr für die Frei- Absicht Verhandlungen über wirksame Maßnah- heit von der Sowjetunion ausgeht; nunmehr glaube men zur nuklearen Abrüstung zu führen. Die Fort- ich allerdings, daß uns aus eigenen Verbündetenrei- setzung der sowjetischen Weigerung, zu den Genfer hen noch größere Gefahren zuwachsen. INF- und START-Verhandlungen zurückzukehren, (Kittelmann [CDU/CSU]: Der wußte nicht, wäre mit dieser Verpflichtung unvereinbar. wie schwach die SPD ist! — Zurufe von der SPD) In Übereinstimmung mit Ihnen fordern wir die Bundesregierung auf, sich weiter für ein umf assen- Lassen Sie mich hier wegen des Zusammenhangs des Verbot der Kernwaffenversuche einzusetzen. auch gleich kurz auf Ihren Antrag zur Abrüstungs- Allerdings ist angesichts der großen militärischen initiative aus vier Kontinenten eingehen. Wir re- Bedeutung eines solchen Teststopps, der einer Par- spektieren und begrüßen den aufrichtigen Wunsch tei wichtige militärische Vorteile bringen würde, der sechs Staaten — ich wundere mich, daß Sie falls unentdeckte Umgehungen nicht ausgeschlos- Argentinien in ihrem schriftlichen Antrag, nicht in sen werden können, eine zuverlässige Verifika- der Begründung, außen vorgelassen haben —, tionsregelung unabdingbare Voraussetzung- für das Kernwaffen zu kontrollieren und zu reduzieren. Zustandekommen eines Verbotsabkommens. (Zurufe von der SPD) Was das Thema der chemischen Waffen angeht, Wir sehen darin das gemeinsame Bestreben, den so unterstützen wir mit unseren Anträgen nachhal- Ausbruch eines Nuklearkrieges zu verhindern. Al- tig das Engagement der Bundesregierung im Gen- lerdings verbleiben wir aus den soeben dargestell- fer Abrüstungsausschuß für ein weltweites nach- ten Sachgründen bei unserer Auffassung, daß Abrü- prüfbares Verbot aller chemischen Waffen. Wir be- stung den Vorrang vor dem Bestreben haben muß, grüßen den kürzlich von den Vereinigten Staaten die bestehenden Potentiale lediglich auf dem heuti- eingebrachten Vertragsentwurf als einen konkre- gen Stand einzufrieren. ten und realistischen Beitrag zur Abschaffung einer (Beifall bei der CDU/CSU — Reents [GRÜ gesamten Waffenkategorie. Wer das Ziel einer welt- NE]: Wer hat Sie eigentlich trainiert? War weit nachprüfbaren Abrüstung chemischer Waffen das auch der Herr Derwall?) erreichen will, darf diesen Vorschlag nicht ableh- nen, sondern muß sich in den Verhandlungen kon- Verhandlungen über ein überprüfbares Einfrie- struktiv mit ihm auseinandersetzen. ren unterliegen eben denselben Problemen hin- sichtlich der dafür nötigen Kontrollmaßnahmen wie (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5705 Wilz Wir fordern deshalb die Sowjetunion zur Über- klearwaffen völlig überflüssig machen und einem prüfung ihrer ablehnenden Haltung auf und erwar- potentiellen Angreifer vor Augen führen könnte, ten von ihr die Bereitschaft zur Zulassung von in- daß jede Form eines Raketenangriffs von vornher- ternationalen Inspektionen vor Ort sowie insbeson- ein sinnlos würde. Auch sollte beachtet werden, daß dere auch die Bereitschaft zu deren Ausweitung auf es sich um für einen Angriff völlig ungeeignete De- Lager und Produktionsstätten. fensivwaffen handeln könnte, die nicht gegen Men- Die hilfsweise von der SPD geforderte C-waffen- schen gerichtet sind. freie Zone übersieht, daß selbst die Satellitenstaa- Wir fordern die Sowjetunion mit allem Ernst und ten der UdSSR — einschließlich der „DDR" — che- Nachdruck auf, endlich einzusehen, daß der Westen mische Kampfstoffe produzieren und die Sowjets niemals angreifen wird, daß deshalb ihre militäri- jedwede Form der Kontrolle von Produktion und sche Überlegenheit und ständige Auf- und Vorrü- Lagerung ablehnen. Dies wiegt um so schwerer, als stung unnötig, zutiefst mißtrauensbildend und für die Sowjets allem Anschein nach entsprechende die gesamte Welt sicherheitsgefährdend sind. Stoffe völkerrechtswidrig in Afghanistan eingesetzt Sie, meine Damen und Herren von der SPD, aber und auf die vielfältigen Angebote des Westens zur rufe ich auf: Sehen Sie den Realitäten ins Auge! Vernichtung aller C-Waffen bisher mit einem kon- Ordnen Sie Ursachen und Wirkungen richtig ein! stanten Nein geantwortet haben. (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das Vizepräsident Wurbs: Herr Abgeordneter, gestat- wäre das erste Mal, wenn sie das täten!) ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Küh- Sorgen Sie mit dafür, daß in unserem Volk die Tat- bacher? sachen richtig eingeschätzt werden! Kehren Sie endlich zurück zu einer gemeinsamen Basis unse- Wilz (CDU/CSU): Ich bin, glaube ich, in der Zeit. — rer Sicherheitspolitik! Bitte. Ich bedanke mich, Herr Kollege Ehmke. Kühbacher (SPD): Herr Wilz, würden Sie es wie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ich als einen Mangel empfinden, daß weder der sowjetische noch der amerikanische Botschafter Ih- ren Ausführungen folgen kann? Vizepräsident Wurbs: Das Wort hat Herr Abgeord- neter Gansel. Wilz (CDU/CSU): Wissen Sie, ich halte beide für geistig in der Lage, meinen Ausführungen zu fol- Gansel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und gen. Sie werden dies auch rechtzeitig tun. Herren! Die scharfsinnigen wie nüchternen und Wir befürchten, daß eine chemiewaffenfreie Zone kühlen Ausführungen meines Kollegen Vorredners vom Atlantik bis zum Ural die Sicherheit nicht er- machen es mir leicht, mich ausschließlich auf die höht: Eine verläßliche Überprüfung der Vertrags- in den Anträgen der GRÜNEN angesprochenen einhaltung in einer solchen Zone würde die Pro- Rüstungskontrollen der WEU zu beschränken. bleme erheblich vergrößern, die in der Frage einer Mit Eintritt in die WEU hat sich die Bundesrepu- weltweiten Verifikationsregelung bestehen. Ein ge- blik Deutschland vor über 30 Jahren zu bestimmten tarntes Einführen chemischer Kampfstoffe in eine Rüstungskontrollen und -beschränkungen ver- solche Zone wäre kaum zu verhindern. Statt dessen pflichtet. Die meisten Verpflichtungen sind von erinnern wir an die vom Deutschen Bundestag 1958 bis 1980 bei zehn Gelegenheiten vom WEU- einstimmig gefaßte Entschließung vom 3. Dezember Ministerrat aufgehoben worden. Geblieben ist das 1982. Verbot zur Herstellung von ABC-Waffen. Seine Ab- CDU/CSU und FDP unterstützen nachhaltig die schaffung wäre auch nur durch einen völkerrecht- Bemühungen der Bundesregierung, einen Rü- lichen Vertrag möglich. In den letzten vier Jahren stungswettlauf im Weltraum zu verhindern. Wir be- hat die Beratende Versammlung der WEU mehr- dauern, daß die Sowjets auch auf diesem Gebiet seit fach empfohlen, die verbliebenen Beschränkungen vielen Jahren durch Forschung, Entwicklung und im Bereich der Produktion konventioneller- Waffen Produktion bis hin zu Satellitenkillern vorgeprescht aufzuheben. Dabei spielen Interessen an einer stär- sind und die Vereinigten Staaten in Zugzwang ge- keren Rüstungskooperation eine Rolle. setzt haben. Wir fordern die UdSSR nachdrücklich auf, in der Genfer Abrüstungskonferenz endlich an Aber gewiß ist in diesen Empfehlungen der WEU einer Arbeitsgruppe teilzunehmen, die die Möglich- Parlamentarier auch zum Ausdruck gekommen, keiten für eine weitere Begrenzung militärischer daß die Bundesrepublik im westlichen Bündnis zu- Aktivitäten im Weltraum untersuchen soll. nehmend Vertrauen gefunden und aus der Sicht ihrer Verbündeten den Anspruch auf Gleichbehand- Was die Frage der weltraumgestützen Anti-Rake- lung erworben hat. ten-Verteidigung betrifft, begrüßen wir die Bereit- schaft der Vereinigten Staaten, im Interesse der Aus diesen letzten Gründen haben die SPD-Mit- Sicherheit aller Staaten mit der Sowjetunion die glieder in der WEU-Versammlung bei den Abstim- Auswirkungen von Raketen-Abwehrsystemen zu mungen über die Empfehlung entweder nicht teil- erörtern. genommen oder sich der Stimme enthalten. Man sollte meines Erachtens bei dieser Problem- (Zurufe von der CDU/CSU) stellung trotz mancher Zweifel nicht ganz von der Diese Haltung schien uns der Verantwortung vor Hand weisen, daß der Aufbau solcher Systeme Nu- unserer Geschichte gerecht zu werden. 5706 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Gansel Ich halte es für müßig, darüber zu streiten, ob Ist die Bundesregierung darüber informiert? Wird diese Rüstungsverbote eine Diskriminierung der sie die nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz erfor- Bundesrepublik Deutschland darstellen. Tatsache derlichen Genehmigungen erteilen? Und hat dies ist, daß sie die Folgen des vom Deutschen Reich alles bei ihren Bemühungen, sogenannte Diskrimi- begonnenen und verlorenen Zweiten Weltkriegs nierungen aufzuheben, eine Rolle gespielt? So frage sind. ich die Regierungsbank. Zu Recht hat der Bundesaußenminister in seiner Eine Bundesregierung, die mit Saudi-Arabien Rede vor der WEU, die übrigens im großen und gan- eine verteidigungspolitische Zusammenarbeit ver- zen ganz ordentlich war, darauf hingewiesen, daß einbart und Waffen in die explosivste Region der der Beitritt der Bundesrepublik zur WEU z. B. die Weltpolitik liefern will, Aufhebung des Besatzungsstatuts und die Erlan- (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Lassen Sie gung der Souveränität für die Bundesrepublik doch Helmut Schmidt in Ruhe!) Deutschland ermöglichte. Damals betrachtete man die Rüstungskontrollen als Gegenleistung oder als steht schon in dem allgemeinen Verdacht, der Pro- historische Lehren aus einer militaristischen Ver- duktion von Raketen und strategischen Bombern gangenheit, die in das Verbrechen des Zweiten gegenüber auch aus Exportgründen aufgeschlossen Weltkrieges geführt hatte. Der Zusammenhang zwi- zu sein. schen diesem Verbrechen und seinen Folgen ist zu (Kittelmann [CDU/CSU]: So eine Rede schwer und zu schwierig, als daß man sich mit sei- muß man ja ablesen!) ner Benennung als Diskriminierung freisprechen könnte. Es gibt aber auch einen konkreten Anlaß, danach zu fragen. Die Bundesregierung weiß, daß in der Vor der WEU-Versammlung hat der Außenmini- Vergangenheit zwischen Vorstandsmitgliedern der ster die Rüstungskontrollen als „Diskriminierung" Dynamit Nobel AG und ägyptischen Offizieren über bezeichnet. Ich zitiere aus seiner Rede: die Entwicklung einer Langstreckenrakete, Typen- bezeichnung LORM, verhandelt worden ist. Und der Deshalb ist die Aufhebung dieser Bestimmun- Kollege Feldmann von der FDP hat dazu zwei Fra- gen eigentlich mehr als nur eine Selbstver- gen an die Bundesregierung gerichtet, die mit va- ständlichkeit. Es ist eine Notwendigkeit für un- gen Formulierungen beantwortet worden sind. sere Zusammenarbeit. Ob man etwas darf und ob man es tut, sind zwei verschiedene Dinge. Ich wiederhole diese Fragen und frage zusätzlich: Aber dürfen wollen wir schon. Ob wir es tun, ist Ist die Bundesregierung bereit, klipp und klar zu eine ganz andere Frage. Einfluß auf die Waffen- erklären, daß sie die Produktion dieser Langstrek- exportpolitik der Bundesrepublik Deutschland kenraketen nicht genehmigen wird und daß sie wird das überhaupt nicht haben. auch die Genehmigung für den Verkauf von Kon- struktionsplänen nicht erteilen wird? (Kittelmann [CDU/CSU]: Diese Selbstbe schränkung ist für einen Sozialisten uner (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das wird sich findlich!) zeigen!) Meine Frage an die Regierungsvertreter ist, ob Auf Ihrem Essener Parteitag hat die SPD eine sie es wollen dürfen und ob sie es tun werden. Ich neue Militärstrategie des Bündnisses vorgeschla- meine, die Produktion von Raketen größerer Reich- gen. weite und von strategischen Bombern in der Bun- (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das war eine desrepublik Deutschland. dunkle Stunde der Partei!) Ich habe dem Außenminister der Bundesrepublik die wirksamer zur Kriegsverhütung beitragen kann diese Frage vor der internationalen Versammlung als die zur Zeit geltende. in der französischen Hauptstadt nicht gestellt. Aber (Beifall bei der SPD) ich stelle sie hier vor dem Deutschen Bundestag, Wir haben gefordert, die konventionelle Rüstung und ich kann eine klare und faire Antwort erwar- - ten: Geht es für die Bundesregierung nur um die schrittweise auf eine Defensivstruktur im Sinne ei- Aufhebung dessen, was sie als Diskriminierung ver- ner strukturellen Nichtangriffsfähigkeit umzustel- steht, oder geht es um eine neue Runde in der Auf- len. Eine solche Umrüstung würde die Warschauer rüstung durch konventionelle Waffen? Sind Presse- Vertragsorganisation bei einem konventionellen berichte in der taz zutreffend, daß die Firma MBB Angriff mit einem untragbaren Risiko belasten und mit einem französischen Rüstungsunternehmen dadurch abschrecken. Sie würde aber auch den Staaten Sicherheit gewähren, die uns aus ihrer Per- (Zurufe von der CDU/CSU) spektive als den möglichen Angreifer betrachten. einen Lenkflugkörper LKF 90 ANS produzieren (Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/ will, der eine Reichweite von 200 km haben soll? Ist CSU]: Den Satz müssen Sie noch mal vorle es richtig, daß dieselbe Firma in einer deutsch- sen!) britisch-amerikanischen Gemeinschaftsproduktion eine Rakete größerer Reichweite mit der Bezeich- Für eine solche neue und zur bisherigen alterna- tive Strategie können weiterreichende Abstands- nung LR-SOM herstellen will? waffen durchaus notwendig sein, deren Produktion (Kittelmann [CDU/CSU]: Ist das taz oder der Bundesrepublik bisher durch die WEU-Bestim- TASS?) mungen verboten war. Andererseits war der Bun- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5707 Gansel desrepublik auch bisher die Produktion bestimmter delten, ohne daß die europäischen Staaten in Ost Waffen erlaubt, die durchaus auf der Basis einer und West die Kraft und den Willen hatten, daran Offensivstrategie als Offensivwaffen einzustufen mitzuwirken. Wenn die Bundesregierung jetzt gewesen wären. Ich will damit deutlich machen, daß meint, die politische Konsequenz bestünde in mehr ein großer Teil der WEU-Kontrollbestimmungen Gremienbürokratie, mehr Rüstungskooperation durch die Strategie-Diskussion und die waffentech- und konventioneller Aufrüstung — und das alles nologische Entwicklung obsolet geworden ist. unter der Überschrift „Revitalisierung der WEU" —, Ich will aber zugleich und in aller Eindringlich- so ist das nicht unsere Meinung. keit für die SPD-Fraktion erklären: (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Helmut Schmidt Erstens. Konventionelle Abstandswaffen mit ei- will 30 Divisionen!) ner Reichweite über 70 km sind für uns eine Alter- Wir stehen einer Belebung und Stärkung der WEU native zu den nuklearen Gefechtswaffen und nu- grundsätzlich nicht ablehnend gegenüber. Sie kann klearen Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite ein Beitrag zur Selbstbehauptung Europas sein. Wir und möglicherweise auch zu bestimmten Kriegs- verlangen dafür aber ein politisches und kein bloß schiffstypen. Im Unterschied zum WEU-Vertrag, der militärisches Konzept. sich auf „Flugkörper großer Reichweite und Lenk- flugkörper" bezieht, spricht der zweite Antrag der (Beifall bei der SPD) GRÜNEN — Drucksache 10/1685 — von „weiterrei- chenden Raketen". Diese Differenzierung ist sinn- Sollte die WEU zum institutionellen Instrument der voll. Sie eröffnet Möglichkeiten, die unseren Überle- Umsetzung des Rogers-Planes werden, so würde sie gungen entsprechen. damit nicht belebt, sondern mißhandelt werden. Wir werden auch nicht dulden, daß dieses unter dem Zweitens. Die Bundesregierung wird aber auf un- Mantel eines konservativen Antiamerikanismus ge- seren Widerstand stoßen, wenn sie nicht alternativ, schieht, und zwar nach dem Motto: Rüsten, wie Ro- sondern zusätzlich zu atomaren Kurz- und Mittel- gers es sagt, aber mit westeuropäischen Waffen und streckenraketen jetzt auch noch mit weiterreichen- mit dem Ziel der militärischen und politischen Des- den konventionellen Waffen aufrüsten will. integration der NATO. Nach der Debatte von heute (Beifall bei der SPD) morgen füge ich, ebenfalls als persönliche Bemer- kung, Drittens. Wir lehnen Produktion und Besitz von strategischen Raketen und strategischen Bombern (Kittelmann [CDU/CSU]: Genug mit Strip ab, die die Sowjetunion erreichen können. tease!) Viertens. Wir lehnen jede Strategie und Bewaff- hinzu: auch nicht unter französischem Atom- nung ab, die von den anderen osteuropäischen Staa- schirm. ten als Gefahr eines begrenzten konventionellen Angriffskrieges empfunden werden kann. (Beifall bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/ Fünftens. Wir lehnen jede Entwicklung und Pro- CSU]: Was halten Sie von Helmut duktion von weiterreichenden Waffen auch zu Schmidt?) Zwecken des Kriegswaffenexportes ab. Meine Damen und Herren, wir halten es für not- Wir werden nach der Sommerpause die Konse- wendig, daß über die Bedeutung der WEU für eine quenzen aus der undurchsichtigen Haltung der europäische Friedensordnung eine breite Diskus- Bundesregierung ziehen und durch Novellierungs- sion beginnt. Die beiden Anträge der GRÜNEN anträge zum Kriegswaffenkontrollgesetz Klarheit können dafür ein Anlaß sein. Wir beantragen des- schaffen. Die Bundesregierung kann schon jetzt ei- halb Überweisung an die Ausschüsse. Bestehen die nen Beitrag dazu leisten und die Bundesrepublik GRÜNEN auf einer Abstimmung, so werden wir fol- vor internationalen Mißverständnissen und Ver- gendermaßen verfahren. dächtigungen schützen, indem sie hier verpflich- (Kittelmann [CDU/CSU]: Jetzt ganz vor tend erklärt, daß sie von den durch die Änderung - sichtig formulieren!) des WEU-Protokolls eröffneten Möglichkeiten zur Produktion weiterreichender Raketen und strategi- Der Antrag auf Drucksache 10/1624 kann nur abge- scher Bomber keinen Gebrauch machen werde. lehnt werden, weil er ein Verfahren vorschlägt, das Meine Damen und Herren, nachdem Willy Brandt so nicht Sinn hat. Was die GRÜNEN wollen, würde im vergangenen Jahr ein Wort Kennedys aufge- eine neue völkerrechtliche vertragliche Verpflich- nommen und von der Stärkung der europäischen tung bedeuten. Das entspricht auch nicht dem, was Säule gesprochen hat, hat diese Vokabel auch Ein- ich eben im einzelnen vorgetragen habe. gang in den Sprachgebrauch der Bundesregierung Was den Antrag der GRÜNEN auf Drucksache gefunden. Wir haben damit die Stärkung der politi- 10/1685 betrifft, so können wir ihm auf der Grund- schen Kraft Westeuropas gemeint, ein selbstbewuß- lage meiner Erklärung zustimmen. Ich halte es aber teres Auftreten innerhalb der NATO gegenüber un- für besser wenn wir beide Anträge gründlich in den serem amerikanischen Verbündeten, aber auch ge- Ausschüssen beraten. genüber der Sowjetunion. Das war die Erfahrung aus dem deprimierenden Ausgang der Genfer Mit- Ich habe gerade gesehen, daß von der FDP eine telstreckenraketenverhandlungen, bei denen die Erklärung gekommen ist, in der die Abgeordneten Supermächte über das Schicksal Europas verhan- Hirsch und Feldmann fordern, daß die Bundesre- 5708 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 Gansel gierung sich verpflichtet, keine strategischen Bom- ist, abzubauen. Ein Staat, dessen Bürger so glaub- ber zu produzieren. würdig ihren Friedenswillen bekunden, kann nicht (Beifall bei der SPD) als Bedrohung empfunden werden. Ich weiß nicht, ob das nur eine Erklärung für die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) letzten Liberalen in der FDP oder eine Erklärung Die breite öffentliche Diskussion dieses Themas für eine ganze Koalitionsfraktion ist. Diese Erklä- sollte aber auch für uns im Parlament ein Beispiel rung ist ein Ansatz. Ich muß den Kollegen Feld- sein, die zentralen Fragen der Friedenssicherung mann allerdings fragen, ob es ein Zufall ist, daß die immer wieder vorurteilsfrei und offen zu diskutie- strategischen Raketen dabei nicht erwähnt worden ren. Niemand, Herr Kollege Scheer, will die totale sind. Konfrontation und kleinliches Parteigeplänkel in Von seiten der Union fehlt eine solche Erklärung dieser Frage. ganz. Wenn Sie vorhin einen allgemeinen Antrag Meine Damen und Herren von der SPD, der An- zur Rüstungskontrolle eingebracht haben, so trag der Koalition liegt auf der Linie der Entspan- könnte es hier konkret werden. Wenn all das nungspolitik, die wir Liberale zusammen mit Ihnen stimmt, was der Bundesaußenminister und andere in den letzten Jahren praktiziert haben. Unser An- öffentlich über die Konsequenzen der Aufhebung trag zeigt, daß die Bemühungen um Rüstungskon- der WEU-Bestimmung erklärt haben, müßten Sie trolle und Abrüstung auch in dieser Regierung mit eigentlich auch in der Lage sein, dem Antrag der der gleichen Intensität fortgeführt werden. GRÜNEN zuzustimmen. Daß er gerade von den GRÜNEN gekommen ist, sollte kein Anlaß sein, Die SPD-Fraktion, Herr Kollege Ehmke, fordert nein zu sagen, wenn es — das möchte ich zu später in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die USA Stunde noch einmal ganz ernst sagen — zu Verhandlungen über die Weltraumwaffen zu (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Es wird noch viel drängen. Ich glaube, diese Aufforderung ist nicht später! Wir haben noch mehrere Tagesord notwendig. Der Bundesverteidigungsminister hat nungspunkte!) gegenüber den US-Plänen nicht nur in Cesme deut- lich seine Bedenken angemeldet, und auch der Vor- darum geht, ein Stückchen von unserer Geschichte stoß des Bundesaußenministers in Washington, der wirklich zu bewältigen. sofort danach erfolgte, zeigt, daß es dieser Aufforde- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. rung durch die Opposition nicht bedarf. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Für meine Fraktion habe ich diese Pläne sehr Vizepräsident Wurbs: Das Wort hat der Herr Abge- entschieden abgelehnt und tue dies auch heute. Ab- ordnete Feldmann. gesehen von den irrsinnigen Kosten eines Antira- ketensystems besteht auch die Gefahr, daß sich auf Dr. Feldmann (FDP): Herr Präsident! Meine sehr der Grundlage der Weltraumrüstung innerhalb der verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gansel, NATO Zonen unterschiedlicher Sicherheit entwik- wenn ich das richtig verstanden habe, ist der erste keln. Antrag der Fraktion der GRÜNEN durch den zwei- Mein Koalitionskollege Wilz hat schon darauf ten Antrag in Drucksache 10/1624 mit dem Zusatz hingewiesen, daß wir in unserem Antrag die So- „neu" überholt. Zu der Presseerklärung der Abge- wjetunion auffordern, ihren Widerstand gegen die ordneten Feldmann und Hirsch werde ich nachher Mitarbeit in einer Arbeitsgruppe in der Genfer Ab- noch Stellung nehmen. rüstungskonferenz der Vereinten Nationen aufzu- Wir sind ja heute nacht hier wieder in kleiner, geben, die Möglichkeiten der Rüstungskontrolle im vertrauter Runde. Es ist uns aber doch sehr bewußt, Weltraum prüfen soll. Wo verhandelt wird, ist zweit- daß wir die Fragen der Sicherung des Friedens hier rangig. Hauptsache, es wird verhandelt, und zwar ausführlich diskutieren müssen und daß diese Fra- mit dem intensiven Willen, bald zu einer befriedi- gen wie kaum ein anderes Thema in der Öffentlich- genden Lösung zu kommen. keit breit, offen und kontrovers diskutiert werden. - Ich glaube aber, daß in multilateralen Verhand- Unsere Bürger haben dabei nicht nur die eigene lungen im Rahmen der Vereinten Nationen größere Sicherheit im Auge, sondern sie haben ein hohes Chancen liegen können; denn schließlich ist j a von Maß von Sensibilität für die Sicherheitsbedürfnisse anderer Staaten entwickelt. der Rüstung im Weltall die Sicherheit vieler Staa- ten bedroht. Ich fühle mich in dieser Frage durch Die Art und Weise, wie diese Diskussion geführt eine in die gleiche Richtung zielende heutige Auf- wird, ist ein eindrucksvoller Beweis, wie tief der forderung der neutralen Staaten bestätigt. Friedenswille in unserer Bevölkerung verwurzelt ist. Auch die Sowjetunion sollte daher an diesem Herr Kollege Scheer, Ihre Feststellung ist leider Friedensengagement erkennen, daß von unserer de- nicht ganz unrichtig. Der Abrüstungsdialog zwi- mokratischen Gesellschaft keine Bedrohung für sie schen Ost und West ist auf vielen Gebieten zum ausgeht. Stillstand gekommen. Aber von totalem Stillstand kann wirklich nicht die Rede sein. Wir haben nach (Beifall des Abg. Dr. Todenhöfer [CDU/ wie vor die MBFR-Verhandlungen, zugegeben: mit CSU]) bisher mäßigem Erfolg. Bei den Genfer Gesprächen Sie hat daher allen Grund, das übertriebene Sicher über ein C-Waffen-Abkommen — das werden Sie heitsbedürfnis, das eine Ursache des Wettrüstens bestätigen — sind erste Annäherungen erzielt wor- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5709

Dr. Feldmann den, und ein Abkommen scheint mir durchaus mög- vorher: Wir haben weiterhin einen guten Außenmi- lich zu sein. Die KVAE ist ein weiteres wichtiges nister. Forum für den Prozeß der Entspannung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Meine Damen und Herren von der Opposition, Zurufe von der SPD) auch diese Bundesregierung läßt nichts unversucht, Die seit gestern aufgehobenen Rüstungsbe- das Zustandekommen von Vereinbarungen zu för- schränkungen der WEU hatten den Sinn, das Wie- dern und Gesprächsfäden dort, wo sie abgerissen dererstarken einer deutschen Militärmacht nach sind, wieder aufzugreifen. dem Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Diese Be- schränkungen waren Relikt geworden; denn von Herr Kollege Wilz, Sie haben bereits die Abrü- stungsinitiative aus vier Kontinenten begrüßt. unserer Politik geht keine Bedrohung für andere Diese Initiative stellt auch eine interessante neue Länder aus. Es ist in diesem Zusammenhang sicher Variante im Nord-Süd-Dialog dar. Ihre Forderung erwähnenswert, daß die Bundesrepublik bereits nach einem Stopp für atomare Tests und Freeze freiwillig auf Besitz und Produktion von A-, B- und sind mir nicht ganz unverständlich. Denn niemand C-Waffen verzichtet hat. Ich begrüße sehr, daß die kann bestreiten, daß die Atomwaffenarsenale auf Bundesregierung heute auf meine Anfrage erklärt beiden Seiten bedrohliche Ausmaße angenommen hat — jetzt, Herr Kollege Gansel und meine Damen haben. Meines Erachtens aber kann Freeze nur und Herren von der Fraktion der GRÜNEN, darf ich dann sinnvoll sein, wenn von vornherein ein Zeit- um Ihre besondere Aufmerksamkeit bitten —, sie limit gesetzt wird, so daß keine Hoffnungen ge- beabsichtige nicht die Herstellung von Raketen und weckt werden, durch Freeze einseitige Überlegen- Bombern für strategische Zwecke. heit festigen zu können. Freeze, meine Damen und (Beifall des Abg. Schwenninger [GRÜNE]) Herren, gibt es nur global. — Ich freue mich über Ihren Beifall. — Damit Lassen Sie mich zur Forderung nach einem Ab- dürfte Ihre Frage, Herr Kollege Gansel, und auch kommen über einen Stopp für atomare Tests noch Ihr Antrag, meine Damen und Herren von den einiges sagen. Immer neue Runden des Wettrüstens GRÜNEN, gegenstandslos sein. sind auch eine Folge davon, daß die Forschung und (Reents [GRÜNE]: Keineswegs!) Entwicklung neuer Waffensysteme praktisch kein Thema der Rüstungskontrolle ist. Auch bei einigen Vizepräsident Wurbs: Herr Abgeordneter, gestat- geltenden Abrüstungs- und Rüstungskontrollver- ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gan- einbarungen ist das Verbot der Forschung ausge- sel? klammert worden. Das gilt sowohl für das B-Waf- fen-Übereinkommen wie auch für den ABM-Ver- (FDP): Ja, doch, ja, sehr gern, Herr trag. Ohne diese Unterlassung wäre unsere heutige Dr. Feldmann Kollege Gansel. Diskussion über ein mögliches Wettrüsten im All vielleicht überflüssig. Gansel (SPD): Herr Feldmann, haben Sie eine Er- Es scheint ein geradezu zwanghafter Drang zu klärung dafür, warum die Bundesregierung Ihnen bestehen, den technologischen Fortschritt auch nicht diese Antwort gegeben hat, als Sie nach den waffentechnisch umzusetzen. Das Ergebnis sind Absichten der Dynamit Nobel AG gefragt haben, nicht nur intelligente Waffen, sondern auch Waffen- zusammen mit der ägyptischen Regierung eine systeme, die das System der gegenseitigen Ab- Langstreckenrakete zu konstruieren? schreckung destabilisieren. Deshalb ist die Forde- rung nach einem Abkommen über einen Stopp für atomare Tests vernünftig. Erst durch fortgesetzte Dr. Feldmann (FDP): Herr Kollege Gansel, Sie ha- unterirdische Atombombenversuche wird eine Wei- ben meine Presseerklärung bereits zitiert. Diese Er- terentwicklung und Verfeinerung dieser Waffen klärung war heute vormittag abgegeben worden. möglich. Die Antwort der Bundesregierung habe ich erst vor vier Stunden erhalten. Es ist ein rein zeitlicher Ver- Noch ein Wort zum Teststoppabkommen, das zug, der diese Angelegenheit erklärt. auch die unterirdischen Versuche umfaßt. Es muß überprüfbar sein. Es darf nicht sein, daß eine Macht Vizepräsident Wurbs: Herr Abgeordneter, gestat- heimlich weiterforscht und experimentiert und dar- ten Sie eine weitere Zwischenfrage der Frau Abge- aus einseitige Vorteile zieht. Aber wir dürfen nicht ordneten Kelly? vergessen, daß auch die seismologische Forschung Fortschritte gemacht hat. Die Seismologen sind heute in der Lage, unterirdische Atomwaffentests Dr. Feldmann (FDP): Nein. von Erdbeben zu unterscheiden. Es sollte daher zu- mindest in absehbarer Zeit möglich sein, die Ein- Vizepräsident Wurbs: Lassen Sie grundsätzlich haltung eines umfassenden Testverbotes durch ein keine Zwischenfragen mehr zu? globales Netz seismologischer Stationen unter Auf- sicht der Vereinten Nationen zu überprüfen. Dr. Feldmann (FDP): Nein, ich komme sonst mit Jetzt ein Wort zu Ihnen, Herr Kollege Gansel. Es meiner Zeit nicht mehr hin, Herr Präsident. Ich bit- freut mich, daß Sie anerkannt haben, daß unser te, keine weiteren Zwischenfragen mehr zu stellen. Außenminister vor der WEU eine ordentliche Rede Ich denke, dieser Verzicht, Herr Kollege Ehmke gehalten hat. Ich nehme an, das wußten Sie schon und Herr Kollege Gansel, ist ein überzeugender und 5710 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Dr. Feldmann vorbildlicher Beitrag zur Vertrauensbildung. Dar- WEU als europäischen Pfeiler des Nordatlanti- über sind wir uns doch sicher einig. schen Bündnisses. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Graf Huyn [CDU/CSU]: Ist auch richtig Ich darf zum Schluß noch feststellen, daß die so!) FDP-Fraktion das engagierte Eintreten der Bundes- Das heißt mit anderen Worten: Die Bundesregie- regierung für das Zustandekommen der KVAE in rung hat den WEU-Staaten gesagt: erteilt uns die Stockholm begrüßt. Diese Konferenz ist ein sichtba- Erlaubnis, künftig weitreichende Raketen und stra- res Ergebnis der Entspannungspolitik in Europa. tegische Bomber produzieren zu dürfen, dann arbei- Aber noch ein Wort zum Gewaltverzicht, der in ten wir mit euch sicherheitspolitisch auch enger zu- diesem Zusammenhang erörtert wird. Was soll ein sammen. Wenn man das noch kürzer ausdrückt, Gewaltverzicht, der nicht mehr beinhaltet als das, würde man das als politische Erpressung bezeich- was bereits in der UN-Charta festgeschrieben ist? nen, obwohl man in diesem Punkt etwas vorsichtig Lassen Sie mich dazu wiederholen, was der Bun- sein muß mit dem Begriff der politischen Erpres- deskanzler im Juli 1983 in Moskau und der Bundes- sung; denn es ist nicht so, daß sich alle anderen außenminister zu Beginn der KVAE in Stockholm WEU-Staaten dazu haben erpressen lassen müssen. in diesem Jahr hierzu erklärt haben: Es gibt ein wohlweisliches Interesse auch anderer Eine erneute verbindliche Bekräftigung des WEU-Staaten daran, daß die Bundesrepublik das Gewaltverbots kann zu einer Verbesserung der Recht auf Herstellung strategischer Bomber und internationalen Lage beitragen, wenn dadurch weitreichender Raketen erhält. die Gewaltanwendung konkret verhindert wird, Staatsminister Möllemann hat in seiner Antwort Gewaltanwendung dort, wo sie andauert, been- weiter gesagt, die geplante Aufhebung der WEU det wird. Rüstungsbeschränkung stünde in keinem Zusam- Ich möchte mit diesen Worten schließen und mich menhang mit konkreten Rüstungsvorhaben. Und für Ihre Aufmerksamkeit bedanken. wörtlich: „Die Bundesregierung beabsichtigt nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die Produktion von strategischen Bombern und Ra- keten." Das ist das, was Herr Feldmann eben auch noch einmal aus einer Antwort wiederholt hat, die Vizepräsident Wurbs: Das Wort hat der Abgeord- Herr Möllemann ihm heute offensichtlich auch nete Reents. noch einmal gegeben hat. Ich muß allerdings sagen, daß ich diese Änderung nicht unbedingt ernst Reents (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen nehme; und Herren! Ich will zu den Anträgen der SPD und der CDU/CSU nur insoweit etwas sagen — die An- (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Weil träge werden ja alle an die Ausschüsse überwiesen sie nicht in Ihr Konzept paßt!) und dort behandelt; insofern brauchen wir das hier denn sein Amtskollege Staatsminister Mertes hat nicht so ausführlich debattieren —, als ich darauf auf eine entsprechende gleiche Frage von mir im aufmerksam machen will: Der NATO-Solidaritäts- Auswärtigen Ausschuß geantwortet, daß er per fu- resolution der CDU/CSU-Fraktion werden wir turum keine Versicherung geben könne, ob denn selbstverständlich nicht zustimmen. Das ist Ihnen nicht in der Bundesrepublik doch weitreichende klar. Dem SPD-Antrag „Abrüstungsinitiative aus Raketen und strategische Bomber produziert wür- vier Kontinenten" stehen wir positiv gegenüber. den. Auch das ist bekannt, nicht zuletzt auf Grund der Mitarbeit von Mitgliedern unserer Fraktion. Den Wer von Ihnen vor sechs Tagen, am 22. Juni, die anderen Antrag können wir leider nur ablehnen, FAZ gelesen hat, der konnte dort zitiert finden, daß obwohl er positive Elemente beinhaltet wie das sich auch der Bundesaußenminister, Herr Gen- Teststoppabkommen und ähnliches mehr. Gleich- scher, dahin gehend geäußert hat, daß die Frage der zeitig enthält er aber doch eine Festlegung auf die Herstellung von diesen Raketen und Bombern geltende NATO-Doktrin. Daß wir das nicht mitvoll- nicht mit dieser Aufhebungsgeschichte zusammen- - ziehen, ist Ihnen auch bekannt. hänge, daß es aber eine andere Frage sei, ob die Bundesrepublik diese Waffensysteme auch produ- Ich will aber jetzt zu unseren beiden Anträgen zieren wolle. So steht es zumindest in der FAZ vom etwas sagen, die wirklich mit Konsequenzen ver- 22. Juni dieses Jahres. bunden sind. Da die anderen Anträge eigentlich nur dazu dienen, sich noch einmal so ein bißchen zu Ich denke, es ist wenig glaubhaft, daß man uns bestätigen, aber keine unmittelbaren Konsequen- diesen Antrag auf Anhebung der WEU-Rüstungs- zen haben, will ich mich nur mit dieser WEU-Sache beschränkung quasi nur als eine Art juristische befassen. Herr Staatsminister Möllemann hat am Selbstbefriedigung der Bundesregierung und der 8. Juni dieses Jahres in Beantwortung einer schrift- Bundesrepublik verkaufen möchte und so tun will, lichen Frage von mir ausgeführt — ich zitiere: als ob das nun überhaupt keine Konsequenzen habe. Konsequenzen und Überlegungen praktischer Eine Beseitigung dieser anachronistischen Ver- Art hat es auch schon bislang in diesem Bereich bote — gemeint sind diese Rüstungsbeschrän- gegeben. Dazu werde ich gleich etwas sagen. kungen in der WEU — ist aus der Sicht der Bundesregierung ein wichtiger Schritt auf dem Ich möchte vorweg eins zu dem Gerede von der Weg zu einer aktiven deutschen Mitwirkung Diskriminierung sagen. Das Gerede von der Besei- bei den Bemühungen um eine Belebung der tigung von Diskriminierungen im Rüstungsbereich, Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5711 Reents denen die Bundesrepublik unterliegt, ist nach unse- Wir haben Informationen erhalten, rer Auffassung erstens absolut unerträglich in ei- (Zuruf von der CDU/CSU: Woher?) ner derart überrüsteten Welt, wie wir sie haben. daß für die Beschaffung dieser Rakete ANS mit 200 (Beifall bei den GRÜNEN) km Reichweite ab Mitte der 90er Jahre bereits rund Es ist zweitens absolut absurd, hier von Aufhebung 2,8 Milliarden DM vorausberechnet sind. von Diskriminierungen zu sprechen, wenn man (Schwenninger [GRÜNE]: Schweinerei!) weiß — Herr Gansel hat dazu etwas ausgeführt —, Zweitens. Es gibt bereits ein Memorandum of Un- daß diese WEU-Festlegung damals aus der Überle- derstanding zwischen der US-amerikanischen, der gung heraus erfolgt ist, daß man ein Wiedererstar- britischen und der Bundesregierung über eine ge- ken eines militärisch großmächtigen Deutschland meinsame Konzeptphase einer Abstandsrakete für damit verhindern wollte. den Tornado, die nach den Vorstellungen des Bun- Das beinhaltet drittens eine ganz gefährliche Lo- desverteidigungsministeriums eine Reichweite von gik, denn wenn man davon spricht, dann ist es 40 bis 120 km haben soll, also auch oberhalb der bis- zumindest immanent logisch, daß man auch irgend- lang gegoltenen Reichweitengrenze für deutsche wann einmal davon anfangen könnte zu sprechen, Produktion liegt. Nach amerikanischer Vorstellung daß es eine Diskriminierung sei, daß sich die Bun- sollte dies weitaus mehr sein. Das kann man in der desrepublik auf einen Nichtbesitz und eine Nicht- Mai-Ausgabe der „Wehrtechnik" dieses Jahres mitverfügung über Atomwaffen eingelassen habe. nachlesen. Für die Produktion haben ebenfalls zwei Da könnte logischerweise genau das gleiche Argu- Konsortien, das eine mit Beteiligung von MBB, das ment gelten. Wer die Meinungen von Herrn Mertes andere mit Beteiligung von Dornier, ihr Interesse und Herrn Dregger vor einigen Wochen in der angemeldet, und in der bereits erwähnten Ausgabe „Zeit" dazu gelesen hat, wer das gelesen hat, was von „Aviation Week and Space Technology" wurde Herr Todenhöfer neulich noch dazu gesagt hat, der unter anderem der CDU-Bundestagsabgeordnete weiß: In der CDU/CSU sind einige wieder dabei, den Volker Rühe — da sitzt er — mit dem Satz zitiert: Griff zur Atomwaffe auszubauen. We must have Long Range Stand off Missile or (Dr. Todenhöfer [CDU/CSU]: Sie haben es change all of our operational plans for the Tor- offenbar nicht richtig gelesen! — Eigen nado. [CDU/CSU]: Eine Diffamierung! — Zurufe Auf deutsch, damit es auch der Bundeskanzler an- von der CDU/CSU: Sie haben es gelesen, schließend im Protokoll lesen kann: aber nicht verstanden!) Wir müssen diese weitreichenden Abstandsra- Die wollen das, das weiß man. Wir müssen gewärtig keten haben oder unsere gesamten operationel- sein, daß die Logik auch darauf angewandt wird. len Konzepte für den Tornado ändern. Ich will folgendes zu den Konsequenzen sagen. Sie wollen sie haben. Dieser Beschluß wird Konsequenzen haben. In ge- Wir haben zu diesem Projekt die Information er- wisser Weise wird er auch eine Entwicklung legali- halten — das sage ich auch hier im Anhang —, daß sieren, die längst angefangen hat. Erstens. Dieses für die Beschaffung von 500 dieser Abstandsrake- Beispiel hat Norbert Gansel schon angesprochen. ten in den 90er Jahren rund 1,5 Milliarden DM Ich will es aber trotzdem der Vollständigkeit halber bereits vorausberechnet worden sind. Hinzuzufü- erwähnen, zumal Sie sich sehr darüber empört ha- gen ist im übrigen, daß diese Waffe für die offensive ben, daß sich Norbert Gansel dabei auf die „taz", auf Luftangriffsführung geeignet ist, wie sie sich aus die „tageszeitung" bezogen hat. dem Air/Land-Battle-Konzept ergibt. (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wir Drittens. Die deutsche Forschungs- und Ver- haben uns nicht empört, wir haben uns nur suchsanstalt für Luft- und Raumfahrt, DFVLR, ar- gewundert, daß er so etwas liest!) beitet im baden-württembergischen Lampoldshau- Es gibt bereits seit Mai 1984 ein Memorandum of sen an der Entwicklung von eigenen Marsch-Flug- Understanding zwischen der französischen und der körpern großer Transportleistung in Zusammenar- Bundesregierung über die Entwicklung eines See- beit mit den Rüstungsfirmen MBB und Rheinme- zielflugkörpers ANS für die 90er Jahre. Ich zitiere tall. Das Bundesverteidigungsministerium unter- jetzt nicht die „tageszeitung", sondern die Zeit- stützt die Forschungsarbeit der DFVLR in diesem schrift „Aviation Week and Space Technology" — Haushaltsjahr mit 56,7 Millionen DM. Zusätzlich er- die werden Sie für Ihre Kreise vielleicht als seriöser hält die DFVLR noch 4,4 Millionen DM aus baden- ansehen als die „tageszeitung". Die schrieb zu die- württembergischen Landesmitteln. sem ANS-Projekt in ihrer Ausgabe vom 21. Mai die- Ein viertes und letztes Beispiel in dieser Serie: Zu ses Jahres: „Development work is under way." Be- erinnern ist in diesem Zusammenhang auch noch teiligt hieran sind Messerschmitt Bölckow Blohm einmal an die ominöse Gesellschaft OTRAG, die und Aérospetiale aus Frankreich. Dieser Seeziel- nach verschiedenen Informationen in den 70er Jah- flugkörper soll eine Reichweite von 200 km haben. ren auf einem riesigen Gelände in Zaire, so groß Unter anderem deswegen hat die Bundesregierung wie das Gebiet der DDR, Mittelstreckenraketen und die WEU-Rüstungsbeschränkung aufheben lassen, Cruise missiles entwickelte und erprobte, die nach denn diese haben nur eine maximale Reichweite eigenen Angaben eine Reichweite bis zu 1 000 Kilo- von 70 km für maritime Lenkflugkörper in deut- meter haben sollten. Ein Korrespondent der The scher Herstellung erlaubt. New York Times behauptete damals, daß die Rü- 5712 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Reents stungsfirmen MBB und Dornier etwas mit dieser gebaut werden dürfen, die durchgesetzt hat, daß die OTRAG zu tun hätten. Sicher ist zumindest, daß die Bundesmarine jetzt auch nördlich des 61. Breiten- OTRAG als Abschreibungsgesellschaft umgeleitete grades operieren darf, schwer ist, wenn ihr dazu Steuergelder in erheblichem Umfang kassiert hat jetzt eine andere Haltung einnehmen müßt. Das und daß die mit der OTRAG verquickte Stuttgarter kann ich verstehen. Firma Technologie-Fosschung zumindest in den (Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist „euch"?) Jahren 1972 bis 1974 14,6 Millionen DM aus dem Bundesforschungsministerium für Raketenstudien Ich denke aber schon, daß, wenn es nach außen hin erhielt. Auch diese schon vor Jahren getätigten Ra- ein bißchen glaubwürdiger sein soll, die SPD sich ketenentwicklungen können jetzt durch die Aufhe- dann nicht in der Weise, wie Norbert Gansel das bung der WEU-Rüstungsbeschränkungen eine un- gemacht hat, hier hinstellen kann und erst große geahnte Wiederbelebung erhalten und brauchen Reden gegen ANS und gegen diese Beschlüsse hält, sich dann vor allen Dingen nicht mehr in Zaire zu und dann im Nachschub sagt: Im Grunde genom- verstecken, sondern können zukünftig auch hier in men wollen aber auch wir weiterreichende Raketen der Bundesrepublik stattfinden. und weiterreichende Abstandswaffen, weil wir das als Alternative zur atomaren Rüstung wollen, Jetzt möchte ich an dieser Stelle — ich muß mich hier wohl sowieso kürzer fassen — doch ein paar (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Der Antrag Worte zu Herrn Gansels Ausführungen sagen. Ich selbst spricht doch nur von strategischen begrüße es ja sehr, daß die SPD unseren zweiten Raketen!) Antrag, womit zumindest eine verpflichtende Erklä- wobei jeder weiß, Herr Ehmke — Sie können das rung der Bundesregierung eingefordert wird, befür- sagen, solange Sie wollen —: Die atomare Rüstung worten will. wird mit der jetzigen US-Regierung und auch mit (Zurufe von der CDU/CSU) einer sie möglicherweise ablösenden Regierung und mit der politischen Konstellation hier sowieso — Ich sage an dieser Stelle gleich: Wir wollen es nicht geändert. abstimmen lassen. (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Dann ist es ja (Dr. Todenhöfer [CDU/CSU]: Wie lange soll gut!) denn diese kommunistische Kampfrede noch gehen?) Das heißt, Sie schaffen lediglich die Ersatzstücke, die auch diese Regierung, diese Koalition und die — Benehmen Sie sich hier doch nicht immer wie USA im Zusammenhang mit dem Rogers-Plan, im ein Sack voll Knallerbsen! Gehen Sie dann heraus Zusammenhang mit dem Air/Land-Battle-Konzept in eine Kneipe oder ins Restaurant oder in Ihre gefordert haben. Das ist die Widersprüchlichkeit: Wohnung und führen sich da so auf. „Kommunisti- Zwei Seelen ruhen, ach, in meiner Brust, sche Infiltration", was soll denn das? (Beifall bei den GRÜNEN) (Beifall bei den GRÜNEN — Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das ist ja wohl die bei der SPD vorhanden ist. Dem können wir uns das letzte! — Zuruf von der CDU/CSU: Wie natürlich nicht anschließen. Ich denke, daß sich die führen Sie sich denn auf?) SPD da noch ein bißchen durchringen muß. Herr Gansel hat ausgeführt, daß weiterreichende (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn Sie wenig Abstandswaffen durchaus sinnvoll wären, die auch stens denken würden!) unter die bisherigen Rüstungsbeschränkungen fal- Ich will jetzt, weil meine Zeit abgelaufen ist, zum len, und er hat gesagt, daß konventionelle Abstands- Schluß folgendes zur Frage der „Diskriminierung" waffen oberhalb von 70 Kilometer für die SPD eine sagen. Alternative zu atomaren Waffen wären. Da würde mich jetzt denn doch interessieren, ob die SPD bei (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: all der Kritik, die Norbert Gansel vorgetragen hat Dann können Sie wieder Hammer und Si — Erwähnung des ANS-Projektes vorhin — sich chel in die Hand nehmen!) - nicht darauf bezieht; denn dieses ANS-Projekt hat Ich glaube, man sollte da wirklich aufhören. Wenn eine Reichweite von 200 Kilometern. Und ich denke, Sie jetzt mit ziemlichem psychologischen Geschick daß die SPD dann wirklich klar Farbe bekennen von der Europäisierung der Sicherheitspolitik spre- muß und deutlich sagen sollte, ob sie auch gegen chen, steckt dahinter nämlich im Grunde genom- diese ANS ist. Lehnt ihr auch diese Abstandsrake- men nichts weiter als ein weiterer Boom in der ten ab? Seid ihr gegen die Raketen für die Torna- Rüstungsproduktion, ein weiterer Boom in der Rü- dos, die in diesen Bereich gehen? Was heißt das stungskooperation. Dahinter steckt auch — ich überhaupt für die SPD, zu sagen, man müsse in wende mich vor allen Dingen an die rechte Seite dem Bereich wohl über 70 Kilometer hinausgehen, des Hauses —, d. h. natürlich schon, die bisherigen Beschränkun- gen aufzuheben? (Zuruf vo der CDU/CSU: Was steckt denn bei Ihnen dahinter?) Ich kann in gewisser Weise verstehen, daß das für eine Partei, die noch am 21. Juli — oder war es Westeuropa über die WEU stärker in eine weltwei- Juni, ihr wißt es genauer — 1980 in der Regierung te, militärisch abgesicherte Krisenpolitik, Eindäm- in der WEU die Aufhebung beantragt und durchge- mungspolitik und Gendarmpolitik an der Seite der setzt hat, daß zukünftig Schiffe beliebiger Tonnage USA einzubetten. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5713

Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter, handlungsstruktur könnte das bislang in dieser Ihre Redezeit ist zu Ende. Sie ist schon überschrit- Hinsicht Erreichte ganz oder teilweise wieder zu- ten. nichte machen. Sodann gilt aber auch hier, daß jeder ernsthafte Reents (GRÜNE): Ich darf einen Schlußsatz sa- gen, Frau Präsidentin. Mein Schlußsatz gegen das sowjetische Vorschlag gründlich geprüft wird. Ge- Gerede von der Beseitigung der Diskriminierung: rade der Gedanke der Verschmelzung von INF und Wir brauchen wirklich in diesem Land keine Eman- START ist allerdings von der sowjetischen Seite zipation hin zu mehr Rüstung, sondern wir brau- bislang als indiskutabel zur Seite geschoben wor- chen eine Emanzipation weg von der Rüstung. Des- den. Übrigens würde die Lösung des Problems der wegen ist das ganze Gerede von der Aufhebung der Drittstaatensysteme durch diese Verschmelzung Diskriminierung Unfug. keineswegs erleichtert. Der Gedanke eine Fünfer Konferenz, der von Premierminister Trudeau in die (Beifall bei den GRÜNEN) internationale Diskussion eingeführt worden ist, hat bei den Atommächten selbst bisher keinen gro- Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und ßen Widerhall gefunden. Wir von seiten der Bundes- Herren, das Wort hat Herr Staatsminister Mölle- regierung schließen allerdings nicht aus, daß diese mann. Idee auf längere Sicht Bedeutung erlangen könnte. (Krizsan [GRÜNE]: Herr Geschäftsmann!) Im Bereich der strategischen Waffen liegt es nach Auffassung der Bundesregierung im Interesse aller Möllemann, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen Beteiligten, daß sich die USA und die Sowjetunion, und Herren! Ich möchte an dieser Stelle nicht die solange ein START-Abkommen nicht ausgehandelt sicherheitspolitischen Diskussionen die im Grund- ist, an gewisse Obergrenzen für strategische Sy- satz schon gelegentlich ausgetragen worden sind, steme halten. Eine solche Regelung sollte daher erst recht nicht um diese Uhrzeit, noch einmal auf- auch für die Zeit nach Ablauf des SALT II-Abkom- mens gefunden werden. rollen, sondern versuchen, auf die konkret zur Bera- tung anstehenden Punkte einzugehen. Ich würde Aus dem, was ich bisher ausgeführt habe, wird ganz gerne vor allen Dingen auf das eingehen, was klar, daß die Bundesregierung den Wunsch der die Kollegen Scheer und Gansel an Fragen an die Staats- und Regierungschefs von Argentinien, Bundesregierung gerichtet haben. Griechenland, Indien, Mexiko, Schweden und Tan- Zunächst zum Thema der INF-Verhandlungen, sania teilt, die nukleare Rüstung unter Kontrolle zu der Verhandlungen über die landgestützten Mittel- bringen und zur Verringerung der Gefahr eines streckenraketen. Nuklearkrieges beizutragen. Nach Auffassung der Bundesregierung sind jedoch einschneidende Redu- (Zuruf von der SPD) zierungen der Waffen einem bloßen Einfrieren des — Sie müssen aufpassen, daß Ihr Kollege Reents jetzigen Bestandes vorzuziehen. sich nicht gleich zu Ihnen umdreht und auch an Sie die Adresse mit dem Sack voll Knallerbsen richtet. (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Eins nach dem Ich finde schon, daß Sie die Erwartungen, die Sie im anderen!) Blick auf das Verhalten Ihrer parlamentarischen — Ja, ob das funktioniert, Herr Ehmke, wissen wir Kollegen richten, gelegentlich ebenfalls erfüllen eben beide nicht. Das Einfrieren würde einen un- sollten. Ich finde das schon in Ordnung. ausgewogenen, ungleichen Zustand festschreiben, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der erhebliche Risiken für die Stabilität in sich Der erste Punkt, der anzusprechen ist, sind die birgt. Diese Beurteilung hatten wir ja bis vor eini- ger Zeit noch gemeinsam. INF-Verhandlungen, die Frage, wie man diese wie- der in Gang bekommen kann. Herr Scheer, Sie wis- (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Herr Feldmann sen so gut wie wir, daß die Forderung der Sowjet- hat gerade das Gegenteil gesagt!) union bislang lautet, zunächst den in Kraft gesetz- — Nein, der Kollege Feldmann hat nicht das Gegen- ten Doppelbeschluß außer Kraft zu setzen und die - teil gesagt. Es macht auch wenig Sinn, Herr Kollege bereits aufgestellten landgestützten Mittelstrecken- Ehmke, daß Sie glauben, sich nach Bedarf einzelne systeme abzubauen, bevor man bereit sei, mit Ver- Äußerungen von FDP-Kollegen herauspicken zu handlungen zu beginnen. Ich habe aus Ihren Aus- können, und dann versuchen, diese in einen Gegen- führungen nicht entnommen, daß Sie dieser Forde- satz zueinander zu bringen. rung zustimmen. Es wäre gut, wenn wir uns weiter- hin darin einig bleiben könnten, daß wir diese Posi- (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Fragen Sie ihn tion der Sowjetunion zurückweisen. doch! Er hat es soeben gesagt!) Sie haben dann angeregt, man solle eine Verän- — Nein, er hat eben nicht gesagt, daß Unausgewo- derung der Verhandlungsstruktur vornehmen. genheit nicht Gefahr für die Stabilität bedeute. Das Sollte der Westen eine solche veränderte Verhand- hat er nun ausdrücklich nicht gesagt; ich habe ihm lungsstruktur vorschlagen? Wir meinen, daß dabei genau zugehört. — Ich meine, daß auf dem Weg zweierlei zu bedenken ist: Zunächst, daß die bisheri- über ausgewogene Reduzierungen ein stabiles gen Verhandlungen zu einer weitgehenden Klärung Gleichgewicht geschaffen werden kann. Wenn ich des Verhandlungsstoffes geführt haben. Verhand- den letzten Aufsatz des früheren Bundeskanzlers lungstechnisch wäre ein INF-Abkommen in wenigen Helmut Schmidt zu diesem Thema richtig verstan- Monaten auszuhandeln. Jede Änderung der Ver- den habe, teilt er diese Meinung nach wie vor. 5714 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Staatsminister Möllemann Zweitens. Es ist notwendig, die strategische Sta- fenden Verhandlungen in Stockholm und Wien; in bilität auch dadurch zu fördern, daß die bestehen- beiden Verhandlungen hat der Westen unter akti- den Regelungen über Rüstungskontrolle im Welt- ver Beteiligung der Bundesregierung in diesem raum weiterentwickelt und ausgebaut werden. Wir Jahr wichtige Initiativen eingebracht. setzen uns mit Nachdruck dafür ein, alle Möglich- Ich komme nun zu den Anträgen der GRÜNEN, keiten auszuschöpfen, um ein vollständiges Verbot betreffend die Nichtaufhebung der WEU-Rüstungs- von Antisatellitensystemen zu erreichen. Die So- beschränkungen. Der erste Antrag ist insofern wjetunion, die bis jetzt als einzige Macht über ein überholt, als die Bundesregierung bereits das Ver- einsatzfähiges Antisatellitensystem verfügt, sollte fahren zur Aufhebung der noch im WEU-Vertrag ein solches Verbot durch die Bereitschaft zum nach- verbliebenen Rüstungsbeschränkungen für konven- prüfbaren Abbau dieser Systeme erleichtern. tionelle Waffen eingeleitet und am 15. Juni 1984 ei- Es ist noch nicht abzusehen, zu welchem Ergeb- nen entsprechenden Antrag beim Ständigen Rat nis die sowohl in den USA als auch in der Sowjet- der WEU gestellt hat. Der Rat hat den Antrag ge- union laufenden Forschungsarbeiten über Rake- stern, am 27. Juni 1984, einstimmig angenommen. tenabwehrsysteme neuer Art führen werden. Es Nachdem ich in den letzten Wochen je nach Bedarf dürfte sich daher als schwierig erweisen, Rüstungs- gelegentlich hohe Anerkennung für die niederländi- kontrollverhandlungen über diese Systeme schon sche Regierung, dann wieder gelegentlich für die jetzt einzuleiten. Dennoch erscheint es uns notwen- französische Regierung gehört habe, möchte ich dig und wichtig, solche Gespräche zwischen den nur erwähnen, daß diese, jedenfalls in diesem Fall, USA und der Sowjetunion auf Regierungsebene zu auch zugestimmt haben. führen mit dem Ziel, mögliche künftige Entwicklun- Die Gründe, die die Bundesregierung veranlaßt gen in stabilitätsorientierte Bahnen zu lenken. Wir haben, den Antrag zu stellen, sind folgende. Die hoffen, daß die Sowjetunion auf das entsprechende Bundesregierung hat keineswegs die Absicht, ei- Angebot der amerikanischen Regierung bald ein- nen, wie es die Fraktion der GRÜNEN darstellt — geht. Herr Reents, Sie haben das auch noch einmal un- Drittens. Art. 6 des Nichtverbreitungsvertrages terstrichen —, neuen Rüstungswettlauf zu begin- verpflichtet alle Vertragsparteien zu ernsthaften nen. Es geht vielmehr um die Beseitigung der letz- Verhandlungen über nukleare Abrüstung und Rü- ten, nur die Bundesrepublik Deutschland diskrimi- stungskontrolle. Es kann nicht die Rede davon sein, nierenden Herstellungsverbote des WEU-Vertrages, die hier in erster Linie angesprochenen Kernwaf- die, aus ihrer Entstehungsgeschichte verständlich, fenstaaten des Vertrages seien dieser Verpflichtung aber seit langer Zeit überholt und anachronistisch bisher überhaupt nicht nachgekommen, auch wenn sind. ihre Verhandlungen erst teilweise zu Ergebnissen geführt haben. Wir werden daher weiterhin darauf (Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: Was ist drängen, daß der Nichtverbreitungsvertrag auch im denn das?) Hinblick auf Art. 6 voll erfüllt wird. Wir fordern die Ich entsinne mich auch einer anderen Diskussion Sowjetunion auf, wieder an den Verhandlungstisch als der, die der Kollege hier angesprochen hat. über die nuklearen Waffen, also zu den INF- und Wenn ich das richtig gelesen habe, war auch in der den START-Verhandlungen, zurückzukehren. Wir früheren Bundesregierung diese Auffassung nicht werden dies insbesondere auch auf der stattfinden- streitig. Das ist hier also keine neue Position der den 3. Konferenz zur Überprüfung des Nichtver- jetzigen Bundesregierung. breitungsvertrages tun, die ja allen beteiligten Staa- (Frau Gottwald [GRÜNE]: Deswegen wird ten eine gute Gelegenheit zu einem umfassenden sie auch nicht richtiger, Herr Möllemann!) Dialog über alle Fragen der Nichtverbreitung bie- ten wird. Im übrigen werden wir uns weiter nach- — Nein, Frau Gottwald, daß muß Sie nicht überzeu- drücklich für einen verläßlich überprüfbaren um- gen, aber man wird sich gelegentlich auch noch an fassenden Atomteststopp einsetzen. die größere Oppositionsfraktion wenden dürfen. Viertens. Die Bundesregierung mißt den Ver- Die militärische Integration in die NATO und das handlungen über ein weltweites, umfassendes und Vertrauen, das sich in den letzten Jahrzehnten- un- verläßliches verifizierbares Verbot chemischer ter den Freunden und Verbündeten Westeuropas Waffen hohe Priorität bei. Dieses Ziel würde durch entwickelt hat, sind zukunftsweisend. Die militäri- eine parallele europäisch-regionale Initiative unter- sche Integration läßt einseitige Diskriminierungen laufen. Die Verhandlungsschwierigkeiten wären im eines einzelnen Partnerstaates nicht zu und gibt übrigen ebenso groß, in der Verifikationsfrage mög- gleichzeitig so detaillierten Einblick in die militäri- licherweise sogar größer. schen Potentiale aller Verbündeten, daß auf Miß- (Frau Gottwald [GRÜNE]: So ein Unsinn!) trauen gegründete, an der Vergangenheit orien- tierte Bestimmungen nicht mehr gerechtfertigt Angesichts des Einsatzes chemischer Waffen im sind. Ein geeintes Europa läßt sich nicht auf Miß- Iran und des entsprechenden Verdachts in anderen trauen und Diskriminierungen gründen. Staaten der Dritten Welt wäre es im übrigen ge- fährlich, diesen Staaten ihre Mitverantwortung für (Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: Aber auf ein Ergebnis praktisch abzunehmen. Raketen!) Fünftens. Die Bundesregierung mißt der Stabili- Die von über 30 Jahren aufgestellte Liste der aus sierung im konventionellen Bereich in Europa schließlich die Bundesrepublik Deutschland betref größte Bedeutung zu. Diesem Ziel dienen die lau- fenden Herstellungsbeschränkungen für konventio- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5715

Staatsminister Möllemann nelle Waffen wurde deshalb bereits in der Vergan- Möllemann, Staatsminister im Auswärtigen Amt: genheit mehrfach revidiert und verkürzt. Übrigge- Frau Kollegin, wenn Sie den Beratungen im Aus- blieben war lediglich das Verbot, Flugkörper größe- schuß regelmäßiger folgen würden und sich weni- rer Reichweite sowie Lenkflugkörper und Bomben- ger mit neuseeländischen Kollegen unterhalten flugzeuge für strategische Zwecke herzustellen. würden, dann wüßten Sie, daß die Bundesregierung 1982 und 1983 hatte die WEU-Versammlung dem diese Aussage klar und eindeutig gemacht hat. WEU-Rat eine Empfehlung vorgelegt, in der u. a. die (Zurufe von den GRÜNEN) Beseitigung dieser Verbote gefordert wird. Die WEU-Versammlung, also die Parlamentarier, hat- Ich wiederhole die Aussage: Die Bundesregierung ten dies empfohlen. Dem wird jetzt Rechnung ge- beabsichtigt nicht, die Produktion strategischer tragen. Bomber und weitreichender Raketen in Auftrag zu geben. Der Rüstungsbedarf der Bundeswehr ergibt Zu dem Antrag der GRÜNEN vom 28. Juni 1984, sich nicht aus dem, was wir produzieren können die Bundesregierung aufzufordern, eine verpflich- und dürfen, sondern aus dem, was die Bundesrepu- tende Erklärung abzugeben, daß eine nach der Auf- blik Deutschland benötigt, um ihre Sicherheit aus- hebung der Rüstungsbeschränkungen in der WEU reichend zu gewährleisten. völkerrechtlich möglich gewordene Herstellung von weitreichenden Raketen und strategischen Bom- Vizepräsident Frau Renger: Herr Staatsminister, bern auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutsch- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abge- land und ebenso eine Kooperation bundesdeutscher ordneten Dr. Ehmke (Bonn) und des Herrn Abge- Rüstungsbetriebe mit ausländischen Rüstungsbe- ordneten Reents? trieben für solche Herstellungen nicht zugelassen werden, möchte ich ebenfalls Stellung nehmen: Möllemann, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Ich wiederhole das, was wir in mehreren Antwor- Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen zulas- ten auf Fragen von Kollegen gesagt haben. Die Auf- sen. hebung der Herstellungsverbote durch den WEU Rat steht in keinem Zusammenhang mit konkreten Vizepräsident Frau Renger: Geben Sie mir ein Zei- Rüstungsvorhaben. Die Bundesregierung beabsich- chen, wenn Sie doch noch eine Zwischenfrage zu- tigt nicht, die Produktion strategischer Bomber und lassen wollen? weitreichender Raketen in Auftrag zu geben. Sie haben hier angesprochen, der Kollege Mertes Möllemann, Staatsminister im Auswärtigen Amt: habe in einer Antwort auf eine Frage im Ausschuß Ja, das würde ich dann sagen. erklärt, er könne dies nicht für alle Zeiten aus- Die Bundesregierung ist allerdings der Meinung, schließen. Ich habe mich gerade vergewissert, daß daß die WEU das Ziel einer engeren sicherheitspo- er erklärt hat, er könne das z. B. nicht für alle denk- litischen Zusammenarbeit der Europäer im Rah- baren Bundesregierungen ausschließen. Ich finde men des Nordatlantischen Bündnisses, über das all- es doch sympathisch, wenn der Kollege Mertes dar- gemeine Einigkeit besteht, nur dann wirksam erfül- über nachdenkt, ob es vielleicht in 20, 30 Jahren len kann, wenn diese Zusammenarbeit auf der auch einmal wieder eine andere Bundesregierung Gleichberechtigung aller Mitgliedstaaten beruht. geben kann. Die Aufhebung der Herstellungsverbote ist dem- nach ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer aktiven deutschen Mitwirkung bei den Bemühun- Vizepräsident Frau Renger: Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten gen um eine Belebung der WEU. Frau Kelly? Bei der Belebung der WEU geht es wirklich nicht darum, wie Sie gesagt haben, Herr Kollege Reents, durch die Militarisierung Europas eine aggressive Staatsminister im Auswärtigen Amt: Möllemann, Politik zu betreiben, sondern es geht darum, etwas Ja, sicher. — Bitte. zu tun, was in diesem Parlament immer wieder von allen Fraktionen — manchmal sogar, glaube- ich, Frau Kelly (GRÜNE): Herr Staatsminister Mölle- von der Ihren — gefordert worden ist, nämlich eine mann, ich möchte Sie jetzt ganz klar fragen, ob Sie stärkere europäische Zusammenarbeit auf dem in bezug auf den Antrag der GRÜNEN auf der Feld der Sicherheit und der Verteidigung zu betrei- Drucksache 10/1685, den Sie gerade zitiert haben, ben eine Antwort mit einem klaren Ja oder Nein geben (Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: Der Ab können, denn Sie haben mir gerade vor zwei Tagen rüstung!) im Auswärtigen Ausschuß recht zynisch die Ant- wort gegeben, es sei ja klar, daß die Bundesregie- — ja, Sicherheit schließt auch Rüstungskontrolle rung nicht solche Aufträge erteile, also z. B. die Rü- und Abrüstung ein —, die es möglich macht, die stungsindustrie. Was Sie hier sagen, ist eine Augen- Interessen Europas gegenüber Dritten wirksamer wischerei. Ich möchte hier eine klare Antwort hö- zur Geltung zu bringen. ren. Ich unterstreiche ferner: Der Beschluß vom 27. Juni 1984 berührt nicht den im WEU-Vertrag ebenfalls enthaltenen Verzicht der Bundesrepublik Vizepräsident Frau Renger: Verzeihen Sie, keine Deutschland auf die Herstellung von A-, B- und C Kommentare, meine Dame! Waffen. Die Bundesregierung hält an diesem Ver- (Zurufe von der CDU/CSU) zicht fest und leistet damit einen besonders wichti- 5716 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Staatsminister Möllemann gen und beispielhaften Beitrag zu Frieden, Abrü- träge — sowohl für Antrag Drucksache 10/1624 als stung und Rüstungskontrolle. auch für Antrag Drucksache 10/1685 — Sofortab- Nun, Herr Kollege Gansel, noch zu zwei Punkten, stimmung beantragen und das wie folgt kurz be- auf die Sie mich ebenfalls konkret angesprochen gründen. haben, erstens betreffend die Anfragen, die der Kol- Antrag Drucksache 10/1624 — Nichtaufhebung lege Feldmann bezüglich der Raketenlieferungen der WEU-Rüstungsbeschränkungen — ist nicht an Ägypten an die Bundesregierung gerichtet hat. etwa hinfällig, sondern wir beantragen die Wieder- Herr Kollege Feldmann hat keine unzutreffenden inkraftsetzung des vorherigen Vertragszustands. oder vernebelnden Antworten bekommen, sondern er hat von seiten der Bundesregierung die Antwort Zur Begründung möchte ich folgendes an Daten bekommen, daß ihr keine Anträge auf Genehmi- in Erinnerung rufen. Ich habe mich am 13. Juni in gung solcher Exporte vorliegen. Er hat dementspre- einem Telefongespräch mit dem leitenden Beamten chend eine klare Antwort bekommen. der Abteilung 200 des Auswärtigen Amts, Herrn Dr. Schilling, erkundigt, wie der Stand des Aufhe- Zweitens haben Sie nach dem französischen bungsantrags der Bundesregierung sei. Man hat ANS-Projekt gefragt. Hier gibt es in der Tat Stu- mir am 13. Juni gesagt, er sei in der Ausarbeitung. dien über ein System zur Bekämpfung von Seezie- Wir haben daraufhin zwei Tage später, am 15. Juni, len mit einer Rakete, die eine Reichweite von etwa unseren Antrag gedruckt vorgelegt, diesen Antrag 120 bis 150 km hat und möglicherweise als Kormo- nicht zu stellen. Noch am selben Tag, als wir unse- ran-Nachfolger betrachtet werden könnte, aller- ren Antrag gestellt hatten, hat die Bundesregierung dings eine höhere Reichweite hätte. Über die Pro- ihren Aufhebungsantrag der WEU zugeleitet. duktion dieses Systems ist bisher nicht entschie- den. Aber es gibt keinen Zweifel, daß dies nicht (Reddemann [CDU/CSU]: Gott sei Dank! unter die Kategorie strategischer Systeme fällt, Die Regierung ist vernünftig im Gegensatz wenn eine Entscheidung etwa so getroffen würde. zu Ihnen, Herr Kollege!) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Am 20. Juni hat Herr Genscher vor der WEU-Ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sammlung in Paris noch erklärt, daß sich der Rat der ständigen Vertreter damit in Kürze befassen wird. Gestern hat er sich damit befaßt und kam zur Vizepräsident Frau Renger: Weitere Wortmeldun- gen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Aufhebung. Wir kommen zur Abstimmung über die Vorlage (Zurufe von der CDU/CSU) zu dem Zusatzpunkt 5. Da gibt es aber noch Mel- Heute findet die Bundestagsdebatte statt. dungen zur Geschäftsordnung. Deshalb lasse ich erst über die Anträge abstimmen, deren Überwei- Das ist meine Begründung, weshalb wir um sofor- sung unstrittig ist. tige Abstimmung bitten. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor- Der Zeitplan macht es offensichtlich: Die Bundes- lagen zu den Tagesordnungspunkten 33 bis 35 auf regierung hat gewußt, daß wir dazu eine Parla- den Drucksachen 10/1298, 10/1573 und 10/1624 — — mentsdebatte vor der Sommerpause wollten. Sie (Reents [GRÜNE]: Meine Geschäftsord hat aber nichts Eiligeres zu tun gehabt, als dieser nungsmeldung bezieht sich auch auf Parlamentsdebatte und der Entscheidung vorzu- Punkt 35!) greifen in der Sicherheit, daß die Koalitionsmehr- heit sowieso jeden Schritt der Regierung akzeptie- — Gut. Wenn es so ist, dann verzeihen Sie bitte. Das ren wird, den die Regierung kommandiert. war hier nicht klar. Dann lasse ich erst zur Geschäftsordnung spre- (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU) chen. Das Wort zur Geschäftsordnung hat zuerst Die Regierung hat im Vorgriff auf diese Parla- Herr Abgeordneter Bötsch. mentssitzung diesen Beschluß herbeigeführt. Weil das so ist, sind wir der Meinung, daß- sich der Dr. Bötsch (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Bundestag ohne Verzug sein Recht heute wiederer- sehr verehrten Damen und Herren! Hier liegen An- obern muß, darüber zu bestimmen, ob diese Rü- träge der Koalition, der SPD und der GRÜNEN zu stungsbeschränkungen aufgehoben werden sollen einem im wesentlichen gleichen Sachverhalt vor. oder nicht. Deswegen beantragen wir sofortige Ab- Wir sind deshalb der Auffassung, daß all diese An- stimmung. träge, wie es schon in der Tagesordnung ausge- (Beifall bei den GRÜNEN) druckt ist, zu überweisen sind. Nur so ist eine sach- gemäße und dem Parlament würdige Behandlung Zu unserem zweiten Antrag: Davon ausgehend, gewährleistet. daß diese Regelungen momentan nun einmal aufge- hoben sind, wollen wir diese verbindliche Erklä- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung. Wenn es so ist, wie Herr Möllemann hier erklärt hat, daß das entgegen anderslautenden Äu- Vizepräsident Frau Renger: Das Wort zur Ge- ßerungen, die wir hier zitiert haben, die Wiedergabe schäftsordnung hat Herr Abgeordneter Reents. des Standpunktes der Bundesregierung sei, steht doch nichts im Wege, daß heute der gesamte Bun- Reents (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine Da- destag sagt: Wir fordern die Bundesregierung auf, men und Herren! Ich möchte für unsere beiden An- auf diese Herstellung zu verzichten und daß die Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5717

Reents Bundesregierung das akzeptiert. Das heißt, es geht damit etwas anderes meinen, weil Sie fluselig for- darum, daß der Bundestag angesichts dieser von muliert haben, so ist das Ihr Fehler, und Sie dürfen der Bundesregierung geschaffenen Situation hier das nicht mit Unterstellungen gegen die SPD beant- und heute entscheidet, ob in der Bundesrepublik worten. strategische Bomber und weitreichende Raketen (Beifall bei der SPD) gebaut werden dürfen. Wir wollen hier und heute Bei den Juristen gibt es den Satz: Gesetze sind klü- wissen, wer in diesem Hause das will und wer es ger als ihre Verfasser. Jedes Mitglied einer gesetz- nicht will. gebenden Versammlung kann das nachvollziehen. (Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der Das gilt übertragen auch für die Verfasser von An- CDU/CSU: Polemik! — Dr. Todenhöfer trägen. Wir halten uns an den Wortlaut des Antra- [CDU/CSU]: Das hat doch damit nichts zu ges der GRÜNEN. Wir finden ihn akzeptabel, und tun!) wir meinen, daß wir, wenn Sie, Herr Minister, zu dem Wortlaut Ihrer Erklärung stehen, über den Ausschuß später im Plenum zu einer gemeinsamen Zur Geschäftsordnung Vizepräsident Frau Renger: verbindlichen Verpflichtung der Bundesrepublik hat der Abgeordnete Gansel das Wort. Deutschland kommen könnten, nicht nur weiterrei- chende Raketen und strategische Bomber nicht sel- Gansel (SPD): Frau Präsidentin! Ich möchte vor- ber zu produzieren, sondern auch, nicht zu erlau- wegschicken, die Tatsache, daß die Bundesregie- ben, daß sie in diesem Lande produziert werden rung heute im WEU-Ministerrat die Aufhebung der und wieder Unglück über die Welt bringen. — Ich Rüstungskontrollbeschränkungen herbeigeführt danke Ihnen. hat, obwohl sie wußte, daß der Bundestag heute dar- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN so über debattieren und entscheiden will, halten wir wie des Abg. Schäfer [Mainz] [FDP]) Sozialdemokraten für einen schlechten Stil. So geht man nicht mit einem Parlament um, auch nicht mit der kleinen Oppositionsfraktion. Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung. Ich Nun zur Sache: Wir akzeptieren den Vorschlag lasse getrennt abstimmen. Wer den vorgeschlage- zur Überweisung unserer Anträge und schlagen nen Überweisungen des Antrags der Fraktion der vor, auch beide Anträge der GRÜNEN in die Aus- SPD — Drucksache 10/1298 —, des Antrags der schüsse zu überweisen, und zwar aus folgenden Fraktion der SPD — Drucksache 10/1573 — und des Gründen — ich bitte jetzt, noch einmal genau hin- Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zuhören —: — Drucksache 10/1674 — zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! (Reents [GRÜNE]: Vorhin hast du etwas — Enthaltungen? — Dies ist so beschlossen. anderes gesagt!) Wir müssen uns nun noch mit dem Antrag der Der Minister Möllemann GRÜNEN auf Drucksache 10/1624 (neu) sowie dem (Zuruf von der FDP: Staatsminister!) Antrag der GRÜNEN auf Drucksache 10/1685 — — der Staatsminister Möllemann; da liegt die Asso- Zusatzpunkt 5 zur Tagesordnung — befassen. Der ziation zu Staatsmann natürlich näher, aber das Überweisungsantrag geht vor. Wer der Überwei- muß ja nicht sein — hat gesagt, die Bundesregie- sung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein rung beabsichtige nicht, die Produktion von strate- Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — gischen Raketen und Bombern in Auftrag zu geben. Gegen einige Stimmen der GRÜNEN ist die Über- Das läßt sehr viel offen, weisung so beschlossen. Die Überweisungsvor- schläge entnehmen Sie bitte der Tagesordnung. (Zuruf von der CDU/CSU: Was hat das mit der Geschäftsordnung zu tun?) Da der Überweisungsvorschlag zu Zusatzpunkt 4 zur Tagesordnung noch nicht ausgedruckt ist, u. a. die Frage, ob man nicht die Rüstungsindustrie möchte ich hier nachtragen, daß die Vorlage- dem für sich und ohne Auftrag arbeiten lassen will. Auswärtigen Ausschuß — federführend — und dem Auf der anderen Seite deckt sich das, was die Verteidigungsausschuß — mitberatend — überwie- Bundesregierung durch ihren Vertreter erklärt hat, sen wurde. im Wortlaut mit dem, was die GRÜNEN beantragt haben. Und nun meine ich: Wenn das auch die Mei- nung der Union ist, sollten wir wirklich im Aus- Ich rufe jetzt Punkt 36 der Tagesordnung auf: schuß die Chance nutzen, das zu klären, um viel- Erste Beratung des von der Bundesregierung leicht zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kom- eingebrachten Entwurfs eines Steuerbereini- men. gungsgesetzes 1985 (Werner [CDU/CSU]: Dann können Sie — Drucksache 10/1636 — auch uneingeschränkt Herrn Bötsch zu- Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: stimmen!) Ausschuß für Finanzen (federführend) Zu dem Vorschlag der GRÜNEN, jetzt sofort ab- Innenausschuß zustimmen, möchte ich in Anbetracht der Ausfüh- Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit rungen von Herrn Reents sagen: Herr Reents, wir Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen stimmen dem Wortlaut Ihres Antrages zu. Wenn Sie Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO 5718 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Vizepräsident Frau Renger Dazu liegt eine Wortmeldung des Abgeordneten Hierzu liegen Ihnen zwei Änderungsanträge der Gattermann zur Geschäftsordnung vor. Fraktion der SPD auf den Drucksachen 10/1666 und 10/1669 vor. Gattermann (FDP): Frau Präsidentin! Meine lie- Im Ältestenrat wurde eine Debatte mit Beiträgen ben Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben ein- bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart. vernehmlich auf die Debatte über den jetzt aufgeru- Ist das so beschlossen, oder wollen Sie darüber gar fenen Tagesordnungspunkt verzichtet, und zwar im nicht debattieren? — Debatte wird gewünscht. Es Sinne eines Beitrags zur Humanisierung der Ar- hätte auch anders sein können; es ist schließlich beitszeit und der Arbeitsbedinungen für Abgeord- schon 20 Minuten vor elf. — Dann ist so beschlos- nete im Zeitalter der 35-Stunden-Woche. Wir haben sen, wie im Ältestenrat vereinbart. das alle aus Überzeugung und gerne getan. Ich habe mich jetzt hier zu Wort gemeldet, um zum Ausdruck In der Aussprache hat der Herr Abgeordnete zu bringen, daß solche Akte der Einsicht und der Müller (Wesseling) das Wort. Vernunft eigentlich schon unseren Ältestenrat be- wegen sollten, wenn er die Tagesordnung zusam- menstellt, damit gewisse Arbeitsleistungen von den Müller (Wesseling) (CDU/CSU): Frau Präsident! Kolleginnen und Kollegen nicht unnötig erbracht Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das heute werden. zur Verabschiedung anstehende Gesetz soll ge- Herzlichen Dank. währleisten, daß die allgemeinen Sozialversiche- rungswahlen im Jahre 1986 mit einem verbesserten (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Wahlrecht und einem vereinfachten Wahlverfahren SPD) durchgeführt werden können. Der Gesetzgeber un- terstreicht mit der heutigen Beschlußfassung die Interfraktionell ist ver- Vizepräsident Frau Renger: Bedeutung, die er der sozialen Sicherung und den einbart, über diesen Punkt keine Aussprache zu Sozialversicherungswahlen beimißt. führen. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf Ich möchte in dieser Debatte gleich zu Beginn ein der Bundesregierung auf Drucksache 10/1636 feder- eindeutiges Bekenntnis zum gegliederten System führend an den Finanzausschuß, zur Mitberatung der Sozialversicherung ablegen. an den Innenausschuß, den Ausschuß für Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schaft, den Ausschuß für Jugend, Familie und Ge- Dieses System wird seit Jahrzehnten von der Part- sundheit, den Ausschuß für innerdeutsche Bezie- nerschaft zwischen Arbeitgebern und Versicherten hungen sowie zur Mitberatung und gemäß § 96 der in der Selbstverwaltung getragen und hat sich be- Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu stens bewährt. Wir lehnen daher auch alle Versu- überweisen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — che, hier eine Systemänderung vorzunehmen, wie Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen. dies von den GRÜNEN bei der ersten Lesung gefor- Ich rufe jetzt Punkt 37 der Tagesordnung auf: dert worden ist, mit Entschiedenheit ab. Erste Beratung des von der Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eingebrachten Entwurfs eines Strafverfah- Die Sozialversicherungswahlen folgen aus dem rensänderungsgesetzes 1984 (StVÄG 1984) Prinzip der sozialen Selbstverwaltung. — Drucksache 10/1313 — (Dr. Blüm [CDU/CSU]: So ist es!) Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß Sie sind für mich auch ein sichtbares Zeichen, daß die christlich-sozialen Prinzipien der Subsidiarität Auch hierzu wird das Wort nicht begehrt. und der Solidarität in unsere Sozialpolitik fest ver- Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf ankert sind. der Bundesregierung auf Drucksache 10/1313 an den Rechtsausschuß zu überweisen. Erhebt sich da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann Die rund 1 300 Krankenkassen, Rentenversiche- ist es so beschlossen. rungsträger und Berufsgenossenschaften können im Rahmen ihrer Selbstverwaltung eigenverant- Ich rufe Punkt 38 der Tagesordnung auf: wortlich handeln. Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Daß wir die gesetzlichen Rahmenbedingungen desregierung eingebrachten Entwurfs eines verbessern müssen, darauf haben die Bundeswahl- Gesetzes zur Verbesserung des Wahlrechts beauftragten in ihrem Schlußbericht über die allge- für die Sozialversicherungswahlen meinen Wahlen in der Sozialversicherung in den — Drucksache 10/1162 — Jahren 1974 und 1980 nachdrücklich hingewiesen. Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Wir haben zahlreiche wertvolle Vorschläge aus die- schusses für Arbeit und Sozialordnung sen Berichten in den Beratungen des Arbeits- und (11. Ausschuß) Sozialausschusses aufgegriffen und einige gewich- — Drucksache 10/1658 — tige Dinge in die Gesetzesmaterie aufgenommen. Die gravierendsten Mängel des derzeit noch gülti- Berichterstatter: gen Gesetzes sind bereits bei der ersten Lesung Abgeordneter Müller (Wesseling) angesprochen worden. Staatssekretär Wolfgang (Erste Beratung 64. Sitzung) Vogt hat einige überzeugende Beispiele für die Not- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5719

Müller (Wesseling) wendigkeit von Gesetzesänderungen genannt. Ich kussion gegeben. Die Sozialdemokraten haben den verzichte aus Zeitgründen auf die Wiederholung Änderungsantrag von CDU/CSU und FDP zum Re- dieser Mängel. gierungsentwurf zum Anlaß genommen, das ge- samte Gesetz abzulehnen. Meine Damen und Her- Meine Damen und Herren, es liegen also zwin- ren von der SPD, ich habe diese Ihre Haltung im gende Gründe vor, das bisherige Recht für die So- Ausschuß nicht verstehen können, weil wir uns in zialversicherungswahlen zu verbessern, und ich bin den Zielen einig sind. Meiner Fraktion — ich glau- überzeugt davon, daß uns dies mit der Verabschie- be, ich kann das auch für die Kollegen der FDP dung des vorliegenden Gesetzentwurfes gelingt. sagen — kam es darauf an, durch eine Absenkung Das neue Gesetz konkretisiert, was unter dem der geforderten Unterschriftenzahl den Wettbewerb Begriff der Arbeitnehmervereinigungen zu verste- zwischen den Gewerkschaften und den sonstigen hen ist. Damit entsprechen wir auch einem am Arbeitnehmervereinigungen zu erhalten. Das Argu- 14. Juni 1984 ergangenen Urteil des Bundessozialge- ment der Sozialdemokraten, damit würde der richtes. Das Gesetz stellt erstens klar, welche An- Schutz des Wählers vor reinen Wahlvereinen ausge- forderungen zukünftig an eine Gruppierung gestellt höhlt, halte ich keineswegs für stichhaltig. Die ho- werden, damit sie als Arbeitnehmervereinigung an- hen Anforderungen an die Satzung der Arbeitneh- erkannt wird und Vorschlagslisten einreichen kann. mervereinigung sowie die in § 48 a Abs. 3 formu- Die sozial- und berufspolitische Tätigkeit der Ar- lierte Regelung, wonach der Anteil der Bedienste- beitnehmervereinigungen darf sich nicht mehr nur ten des Versicherungsträgers nicht mehr als 25 auf die Einreichung von Vorschlagslisten zu Wah- betragen kann, zerstreuen diese Sorge. len beschränken. Vielmehr müssen die Arbeitneh- Man muß den vorliegenden Gesetzentwurf, meine mervereinigungen auch als ihre eigenständige Auf- Damen und Herren, in seiner Gesamtheit sehen. gabe ansehen, sich für die Verwirklichung sozial- Dann kann ich nur sagen: Die im derzeitigen Wahl- oder berufspolitischer Ziele der Versicherten einzu- verfahren aufgetretenen Mängel werden durch das setzen. Damit wird den reinen Wahlvereinen ein neue Gesetz beseitigt. Riegel vorgeschoben. Die Möglichkeit zur Einrei- chung freier Listen bleibt jedem unbenommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit der Gesetzesänderung wird auch ein zweiter Wir verbessern damit nachhaltig das Wahlrecht für Mißstand beseitigt: „Der Name und die Kurzbe- die Sozialversicherungswahlen. zeichnung einer Arbeitnehmervereinigung dürfen Meine Damen und Herren, der vorliegende Ge- nicht mehr geeignet sein, einen Irrtum über Art, setzentwurf sieht noch zwei weitere Änderungen Umfang und Zwecksetzung der Vereinigung herbei- vor, die ich herausstellen möchte. zuführen." In der Vergangenheit haben ja einige Wahlvereine unter einem sehr anspruchsvollen Na- Erstens. Arbeitslos gewordene Versicherte kön- men ihre Listen eingereicht, hatten in Wirklichkeit nen bei den Sozialversicherungswahlen weiterhin keine Mitglieder hinter sich und hatten auch kei- mitwirken. Ihre Wählbarkeit bleibt trotz des Verlu- nerlei Tätigkeit im Sinne sozial- oder berufspoliti- stes der Gruppenzugehörigkeit erhalten. scher Ziele ausgeübt. Zudem dürfen nur noch Ar- Zweitens. Wir sind einem dringenden Wunsch der beitnehmer in einer Arbeitnehmervereinigung maßgebenden Einfluß haben. Stadtstaaten nachgekommen und wollen ihnen die Möglichkeit geben, ihre staatliche und kommunale Es wird drittens mit den Gesetzesänderungen er- Unfallversicherung durch eine selbständige Unfall- reicht, daß eine Arbeitnehmervereinigung dann kasse durchführen zu lassen. nicht vorschlagsberechtigt ist, wenn der Anteil der Meine Damen und Herren, der vorliegende Ge- Bediensteten des Versicherungsträgers mehr als setzentwurf sieht für die kommenden Sozialversi- 25 % beträgt oder in der ihnen auf andere Weise ein cherungswahlen Übergangsregelungen vor. Mit die- nicht unerheblicher Einfluß eingeräumt ist; eine sen ganz entscheidende Änderung. Übergangsregelungen wurde eine Lösung ge- funden, die dem Grundgedanken des Vertrauens- Lassen Sie mich auch den vierten Punkt anspre- schutzes Rechnung trägt. Den kleineren Arbeitneh- chen, der das Vorschlagsrecht der Arbeitnehmer- mervereinigungen, die bisher in der Vertreterver- vereinigungen nachhaltig berührt. Die Arbeitneh- sammlung vertreten waren, wird damit eine Hilfe- mervereinigung muß zukünftig von Beginn des Ka- stellung gegeben. Wir wollen verhindern, daß sich lenderjahres an, das dem Jahr der Wahlausschrei- bei den nächsten Wahlen kleinere Arbeitnehmer- bung vorangeht, ständig eine Anzahl von beitrags- vereinigungen vor der Tür der sozialen Selbstver- zahlenden Mitgliedern haben, die, so sagt der heute waltung wiederfinden, die bisher gute Arbeit im zur Beschlußfassung vorliegende Gesetzentwurf, Sinne der Versicherten geleistet haben und sich auf mindestens der Hälfte der nach § 48 Abs. 2 geforder- die neuen Bestimmungen nicht in so kurzer Zeit ten Unterschriftenzahl entspricht. Das tatsächliche umstellen konnten. Beitragsaufkommen muß die Arbeitnehmervereini- Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, gung in die Lage versetzen, ihre Vereinstätigkeit der mit dem Gesetzentwurf geändert werden soll. nachhaltig auszuüben und den Vereinszweck zu verfolgen. Wir sind für die generelle Einführung der Brief- wahl, weil die Wahlräume bei den letzten Sozialver- Es hat im Ausschuß über die Frage der Unter- sicherungswahlen kaum noch benutzt wurden. Die schriftenzahl zwischen Vertretern der Koalitions- neue Regelung hat drei Vorteile. Erstens erleich- parteien und der Opposition eine kontroverse Dis- tern wir die Organisation der Sozialversicherungs- 5720 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Müller (Wesseling) wahlen. Zweitens sparen wir Kosten, da nunmehr Ich komme damit zu der Begründung unserer keine Wahlräume mehr benötigt werden. Drittens beiden Anträge. Mit Sorge beobachten wir, wie sich erhoffen wir uns von dieser neuen Regelung eine seit geraumer Zeit in einigen Bereichen die Ten- höhere Wahlbeteiligung. denz entwickelt, daß sich die Beschäftigten der Ver- Meine Damen und Herren, es gibt noch einen sicherungsträger selbst über von ihnen initiierte Li- letzten Punkt, der umstritten war, nämlich die Fra- sten ihre Interessenvertreter in die Selbstverwal- ge: Sollen wir einer klarstellenden Regelung im tungsorgane wählen lassen. Das wird natürlich er- Aufsichtsrecht nach § 89 zustimmen? Die Mehrheit leichtert durch die veränderte Fassung der Regie- des Ausschusses hält eine solche klarstellende Re- rungsvorlage. Die Regierungsvorlage war vernünf- gelung nicht für erforderlich. Damit hätten wir nur tig, und die wollen wir wiederherstellen. Es geht nur eine unnötige Bürokratie entfacht und eine unnö- darum, diese Regierung in diesem Punkte zu unter- tige Perfektion erreicht. Es ist heute schon selbst- stützen, d. h. die ehemalige Fassung des Regierung- verständlich, daß die gerichtliche Anordnung einer sentwurfs wiederherzustellen. sofortigen Vollziehung von der Aufsichtsbehörde (Zustimmung bei der SPD — Dr. Blüm vollzogen werden kann. Aus diesem Grunde haben [CDU/CSU]: Warum nur in diesem Punk sich fast alle Verbände gegen eine Änderung ausge- te?) sprochen. — In diesem und auch noch in einem zweiten. Ich (Dr. George [CDU/CSU]: Ein ganz wichti komme noch dazu. Was meinen Sie, wie kooperativ ger Punkt!) wir sein können, wenn wir wollen. Im übrigen, so meinen wir, sollte eine eventuell not- (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU und wendige Änderung der gerichtlichen Befugnisse ei- der FDP) ner Neuregelung des Prozeßrechts überlassen blei- — Aber, bitte, das muß sich doch wirklich auf die ben. Punkte beschränken, die sich aus der sozialdemo- Der vorliegende Gesetzentwurf stellt mit seinen kratischen Sicht lohnen. im Ausschuß beschlossenen Änderungen die Sozial- (Dr. George [CDU/CSU]: Alles lohnt sich versicherungswahlen auf eine bessere Grundlage bei uns!) und sorgt damit für mehr Rechtssicherheit. Ich bitte Sie im Namen der CDU/CSU-Fraktion um Ihre Wir können ja nicht jeden Unsinn der Regierung Zustimmung. — Vielen Dank. mitmachen. Das geht nun wirklich nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen in diesem Punkte des erhöhten Quo- rums für die sogenannten freien Arbeitnehmerli- sten die Regierungsvorlage wiederherstellen, weil wir glauben, daß freie Arbeitnehmerlisten mit ei- Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Ab- geordnete Glombig. nem Unterschriftenquorum von 1 000 Unterschrif- ten einfach nicht die Gewähr dafür bieten können, daß es später in den Selbstverwaltungsorganen auch eine qualifizierte Arbeit gibt. Stellen Sie sich Glombig (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Haben Sie keine Angst, daß ich um einmal vor, was das bei der Bundesversicherungs- zehn vor elf eine sozialpolitische Debatte führe. Das anstalt, die ja eine zentrale Anstalt ist mit Millionen wäre in höchstem Maße — — Ich verkneife mir das, Versicherten, für die Selbstverwaltung in diesem was ich jetzt sagen wollte, weil das sicherlich nicht Zweig der Sozialversicherung bedeutet. ganz parlamentarisch wäre. Das kann eigentlich (Dr. George [CDU/CSU]: Da machen auch nur höherer Einsicht entsprechen. 10 000 nichts aus! Das ist doch kein Argu (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Heute ist ein Frie ment!) denstag!) Es ist mir völlig klar, daß Sie das auf Betreiben oder Um so mehr, Herr Kollege Blüm, bedauere ich, auf Druck der FDP gemacht haben; denn wir waren daß sich Herr Müller (Wesseling) von seinem Ma- uns bei der Vorbereitung des Gesetzes ja- alle einig. nuskript nicht hat trennen können um diese Zeit. Sie sind da erpreßbar. Das bedaure ich außeror- Denn dieses hölzerne Bekenntnis zum gegliederten dentlich. System, das in Wahrheit ein zergliedertes System (Widerspruch bei der CDU/CSU — Dr. Ge ist, können wir eigentlich nicht ganz glauben. Aber orge [CDU/CSU]: Wir beugen uns der Ver gut. Darüber können wir heute keine Grundsatzde- nunft!) batte führen. Das soll natürlich auch ganz bewußt ein Schlag Auf jeden Fall soll der zur Verabschiedung anste- gegen die Gewerkschaften sein. hende Gesetzentwurf der Bundesregierung offen- (Feilcke [CDU/CSU]: Das ist aber ein böses kundige Mängel im Wahlrecht für die Sozialversi- Wort gewesen!) cherungswahlen beseitigen. Die abschließende Be- ratung sollte heute für uns auch Gelegenheit zu Herr George, das kann Sie vielleicht auch erfreuen. einer Bewertung des Rangs sein, den die Sozialver- Mich kann das nicht erfreuen. sicherungswahlen im Bewußtsein der Öffentlich- Aber wie immer das auch sein soll: Ich bitte Sie, keit haben. Ich glaube, hier liegt ein wichtiges Pro- mit uns dafür zu sorgen, daß eine solche Praxis blem. Aber wir haben dazu keine Zeit, was ich au- unterbunden wird, weil sie nicht vertretbar ist. Des- ßerordentlich bedaure. halb bitte ich, unseren Antrag anzunehmen und die- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5721

Glombig sen Überlegungen der Koalition einen Riegel vorzu- Jetzt kommt die Frau Kollegin Dr. Adam- schieben. Schwaetzer. (Beifall bei der SPD)

Angesichts der mir zur Verfügung stehenden Frau Dr. Adam - Schwaetzer (FDP): Frau Präsiden- kurzen Zeit möchte ich mich den weiteren Details tin! Meine Damen und Herren! Ein zu dieser Stunde des Gesetzentwurfs nicht näher widmen, zumal relativ wohlgefülltes Haus könnte einen tatsächlich nach ausgiebigen Beratungen im Ausschuß in vie- noch verführen, eine wirkliche sozialpolitische De- len Fragen, eigentlich in fast allen Fragen Einver- batte zu beginnen. Aber ich will mich doch an die nehmen erzielt werden konnte. gute Übung halten, die der Kollege Glombig gerade Lassen Sie mich gleich zu unserem zweiten Ände- angefangen hat. rungsantrag kommen. Ich möchte ihn kurz begrün- Ich glaube, ich brauche weiter nicht zu betonen, den. Auch hier ist unser Anliegen, den ursprüngli- daß wir Freien Demokraten selbstverständlich für chen Regierungsentwurf wiederherzustellen und die gewachsene Gliederung unseres Sozialversiche- die Änderungen, die die Koalition an diesem Regie- rungssystems sind. Herr Kollege Glombig, wir hal- rungsentwurf vorgenommen hat, rückgängig zu ma- ten dieses durchaus nicht für eine Zergliederung, chen. Wir befinden uns hier voll auf der Linie der sondern für eine sehr sinnvolle Veranstaltung, Bundesregierung. Es geht dabei um die Frage, in- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wieweit Anordnungen der Aufsichtsbehörden, Herr die dazu führt, daß Wettbewerb und Vielfalt vor- Dr. George, gegenüber den Sozialversicherungsträ- herrschen. Wettbewerb und Vielfalt sind eigentlich gern auch mit den Mitteln des Verwaltungsvoll- die besten Garanten dafür, daß die beste Leistung streckungsverfahrens durchgesetzt werden können. für den Versicherten erbracht werden kann. Bisher Daß dies notwendig ist, hat ein Vorgang der Schwä- sind uns noch keine rein staatlich gelenkten Sy- bisch Gmünder Ersatzkasse gezeigt, gegen die jetzt steme bekanntgeworden, die das besser könnten als ein Verfahren erfolgreich beim Bundessozialgericht ein solches gegliedertes System. Ich brauche auch, abgeschlossen werden konnte, weil dort Manipula- glaube ich, nicht mehr zu betonen, daß wir für tionen bei der Wahl zu den Selbstverwaltungsorga- Selbstverwaltung sind, daß wir die Rechte der Ver- nen dieser Kasse stattgefunden haben. Dies hätten sicherten stärken wollen, daß wir auch im Bereich wir längst erledigt haben können, wenn es eine sol- der Sozialversicherung der Meinung sind, daß weni- che Möglichkeit gegeben hätte. Die im Sozialgesetz- ger Staat mehr für die Versicherten bedeutet. buch festgelegten Bestimmungen des Wahlrechts kennen hierzu leider bisher keine konkrete Aussa- Herr Kollege Glombig, die Änderungen, die jetzt ge. Deshalb unser Antrag, den ursprünglichen Wort- vorgelegt werden mit der Neuordnung des Rechts laut des Gesetzentwurfs der Regierung wiederher- der Sozialversicherungswahlen basieren weitge- zustellen. Die Kontroversen, die wir hier geführt hend auf den Erfahrungen, die Sie selber als Wahl- haben, haben wir im Interesse der Bundesregie- leiter der letzten Sozialversicherungswahlen ge- rung und einer vernünftigen Durchführung der So- macht haben und die wir ausgewertet haben. Auf zialversicherungswahlen geführt. Herr Kollege dieser Grundlage verstehe ich ja auch das Koopera- Müller (Wesseling), ich hoffe, Sie sind Arbeitneh- tionsangebot, das Sie uns gemacht haben. In der mervertreter. Ich habe mal gehört, Sie seien ein sol- Tat stimmt ja wohl auch die SPD den meisten der cher. vorgelegten Änderungen zu, wobei eigentlich nur eines umstritten ist, und das ist die Frage des Quo- (Zuruf des Abg. Müller [Wesseling] [CDU/ das erfüllt sein muß, wenn ein Arbeitnehmer- CSU]) rums, verein zur Sozialversicherungswahl antreten will. — Ja, wenn es so ist — — Daß die Sozialdemokraten mit diesem Quorum ei- (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Wir alle sind Arbeit nige Probleme haben, ist wohl gut zu verstehen, nehmervertreter!) denn Sozialdemokraten sind immer mehr für die Stärkung von Großorganisationen, von Massenor- Sie sind es nicht alle. Selbst bei Ihnen habe ich ganisationen. inzwischen Zweifel, Herr Kollege Blüm, ob Sie ein - (Beifall des Abg. Cronenberg [Arnsberg] solcher sind. [FDP] — Zurufe von der SPD) (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Bleiben Sie hier Daß sich hier die Liberalen auf die Seite kleinerer glaubensstark!) Organisationen schlagen, ist genauso verständlich, Aber ich bin guten Mutes, daß Sie hier für unseren genauso selbstverständlich, wie die Haltung der So- Antrag stimmen werden, denn das ist Ihr Antrag, zialdemokraten selbstverständlich ist. der Antrag der Regierung, Sie sitzen hier auf den (Beifall des Abg. Cronenberg [Arnsberg] Abgeordnetenbänken. Wir erwarten, daß Sie für [FDP]) diesen Antrag der SPD-Fraktion zur Wiederherstel- lung des Regierungsentwurfs stimmen werden. — Herr Kollege Glombig, Sie haben hier eben mit Schönen Dank. Nachruck die Regierungsvorlage verteidigt und ha- ben beklagt, daß die Koalitionsfraktionen im Aus- (Beifall bei der SPD) schuß Änderungsanträge zur Regierungsvorlage vorgelegt haben. Diese Änderungsanträge zeigen aber doch gerade, daß die Fraktionen gegenüber Vizepräsident Frau Renger: Zehn Minuten zu re- der Regierung durchaus ihren eigenen Standpunkt den ist keine Pflicht, wollte ich nur mal sagen. vertreten und auch durchsetzen können — im Ge- 5722 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Frau Dr. Adam-Schwaetzer gensatz zu dem, was von dieser Stelle aus, aber ganisationen angehören, die Teilnahme an der auch im Ausschuß vielfach behauptet worden ist. Selbstverwaltung der Sozialversicherung zu er- Die Freien Demokrakten tragen nun die Ände- schweren. rungsanträge der Sozialdemokraten selbstverständ- (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) lich nicht mit. Begründet wird diese Einschränkung demokrati- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum scher Rechte in Form von Verschärfungen der Ver- Schluß noch anmerken, daß wir es begrüßen, daß fahrensbestimmungen zur Aufstellung von Wahl- wir eine Neuregelung des § 89 nicht vorgenommen listen damit, daß in der Vergangenheit durch diese haben; denn wir wollten verhindern, daß zusätzli- sogenannten sonstigen Arbeitnehmervereinigun- cher staatlicher Einfluß auf die Selbstverwaltungs- gen unlauterer Wettbewerb und Etikettenschwindel organe ausgeübt werden kann. Wir sind sicher — betrieben worden seien. wir haben es auch gehört —, daß eine Mehrheit weit über die Koalitionsparteien hinaus für den Verzicht auf diese Änderung vorhanden ist, und wir sind Vizepräsident Frau Renger: Frau Kollegin, gestat- sicher, daß die Sozialversicherungsträger dem auch ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten gern zustimmen werden. Heyenn? Die Voraussetzungen für notwendigen Wettbe- werb auch bei den zukünftigen Sozialversiche- Frau Potthast (GRÜNE): Dazu reicht, glaube ich, rungswahlen sind mit den vorgelegten Änderungen die Zeit nicht. verbessert worden. Uns kam es darauf an, einen Beitrag zur Erhaltung von Pluralismus und Wahl- (Lachen bei der CDU/CSU) freiheit für die Versicherten zu leisten. Ich denke, Außerdem willst du mich nur ärgern! wir haben das mit den vorgelegten Änderungen er- (Heiterkeit) reicht. Wir würden es begrüßen, wenn diese Geset- zesvorlage eine breite Zustimmung im Hause fin- Ich habe bereits in meinem Debattenbeitrag vom den würde. 5. April darauf hingewiesen, Vielen Dank. (Kolb [CDU/CSU]: Das war aber nicht schwesterlich!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) daß ich bezweifle, (Weitere Zurufe) Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat Frau Ab- gordnete Potthast. — seien Sie ruhig und hören Sie jetzt wieder zu! — daß Auswüchse von arbeitnehmerfeindlichen Ar- beitnehmervereinigungen nach dem Motto der al- Frau Potthast (GRÜNE): Guten Abend! ten Tradition des Machiavellismus „Der Zweck hei- (Zurufe: Guten Abend!) ligt die Mittel" Oder aber auch: gute Nacht, Demokratie. (Dr. Vogel [SPD]: Nur nicht übertreiben!) (Dr. George [CDU/CSU]: Guten Morgen, mit der Holzhammermethode über den Verwal- Chaos!) tungsweg beseitigt werden können. So möchte Mann — und auch Frau — sagen, wenn Wenn in die bisherige Praxis der Sozialversiche- er — und sie — sich einmal vergegenwärtigen, wie rungswahlen mehr Demokratie einziehen soll, muß in diesem Lande Gesetze unter den großen Organi- dafür gesorgt werden, daß die Versicherten über sationen und Institutionen ausgekungelt werden. ihre Rechte und Mitbestimmungsmöglichkeiten or- Auf der Strecke bleiben in erster Linie der kleine dentlich informiert werden. Mann und die kleine Frau. (Dr. George [CDU/CSU]: Durch die GRÜ Dieser vorliegende Gesetzentwurf ist der beste NEN!) Beweis dafür, sieht er doch angeblich eine Verbes- Nur wenn deutlich wird, welche Interessen- sich hin- serung des Wahlrechts für die Sozialversicherungs- ter bestimmten Listen verstecken, kann einem Miß- wahlen vor; brauch vorgebeugt werden. „Aufklärung statt De- (Zuruf von der CDU/CSU: Wissen Sie über mokratieabbau" heißt hier die Devise, die wir GRÜ- haupt, was das ist?) NEN empfehlen. daß diese angeblichen Verbesserungen in Wirklich- Ich möchte auf einzelne Kritikpunkte dieses Ge- keit eine Einschränkung demokratischer Rechte setzentwurfs unsererseits nicht noch einmal einge- darstellen, scheint die Kungelpartner und die eta- hen, sondern hier die Gelegenheit nutzen, einige blierten Parteien nicht zu stören. grundsätzliche Einschätzungen der sogenannten (Zuruf von der CDU/CSU: Keine Ahnung!) Selbstverwaltung in den Sozialversicherungen aus grüner Sicht abzugeben. In trauter Brüderlichkeit — Frauen sind ja immer noch aus den Entscheidungsgremien ausgeschlos- Die GRÜNEN sind ja bekanntlich die Partei, die sen, natürlich abgesehen von den GRÜNEN — sich am vehementesten für Selbstverwaltung, Selbstbestimmung und Dezentralisierung einsetzt. (Zurufe von der CDU/CSU) Die derzeit praktizierte Art der Selbstverwaltung in beschließen die großen Organisationen, kleinen Ar den Sozialversicherungen wird dagegen von uns beitnehmervereinigungen, die nicht den großen Or eher skeptisch betrachtet. Dafür haben wir auch Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5723 Frau Potthast gute Gründe. Unsere Hauptkritik richtet sich er- stens alle Menschen, die nicht regelmäßig in Er- stens gegen das Prinzip einer in unseren Augen werbsverhältnissen stehen, benachteiligt, und das scheinheiligen Sozialpartnerschaft von Lohnabhän- sind, wie Sie vorhin schon sehr richtig gesagt ha- gigen und Arbeitgebern und zweitens gegen das ben, Frauen und Behinderte und psychisch Kranke, Prinzip einer Sozialversicherung, und zweitens steht immer die Wiedererlangung der (Kolb [CDU/CSU]: Ihr schafft beides ab!) Erwerbsfähigkeit im Vordergrund. Im Rehabilita- tionsrecht führt das zu dem Skandal, daß der das soziale Leistungen an die Erwerbsarbeit kettet Grundsatz „Rehabilitation vor Rente" für gerade und in der Sozialpolitik den Arbeitgebern einen un- die benachteiligten Gruppen des Arbeitsmarktes, angemessenen bedeutenden Platz einräumt. also für ältere Arbeitnehmer, für Frauen, kaum (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Die werden noch gilt. Dieser Erwerbsarbeitszentrismus der So- totgeschlagen!) zialversicherung, dieses zergliederte Chaos, das in dieser Form im übrigen international einzigartig — Nein, nicht totschlagen, rausschmeißen. dasteht, verhindert eine ganzheitliche Sozialpolitik. Es verstärkt die Ausgrenzung Behinderter und psy- Zum ersten. Diese Sozialpartnerschaft, die Inter- essengegensätze verschleiern hilft, findet ihre chisch Kranker, die Benachteiligung von Frauen in Lobby hier genau im Plenum und powert in einer der Gesellschaft und ein Krankheitswesen, daß un- Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung jetzt ein Ge- fähig ist, eine ordentliche Gesundheitssicherung, setz durch auf Kosten der Möglichkeit der Aufstel- eine ordentliche Gesundheitsvorsorge zu betrei- lung von kleinen Listen. Eine echte Sozialpartner- ben. schaft wird uns hier auf höchster Funktionärs- und Wir GRÜNEN wissen, daß wir noch die einzigen Stellvertreterebene vorgeführt. Staunend stehen sind, die sich an die Heilige Kuh des Sozialversiche- wir wieder einmal vor dieser Ausgeburt an echter rungschaos herantrauen. Wir erarbeiten derzeit Brüderlichkeit. Wenn diese Art der Sozialpartner- eine Reihe von Konzepten, die für eine Regionali- schaft allerdings solche Auswirkungen zeigt, daß sierung der sozialen Finanzen und für eine Univer- sich bei der Frage nach der Finanzierung von Prä- salisierung der sozialen Leistungen sorgen sollen. ventionsmaßnahmen zunehmend betriebswirt- Aus diesem Grunde halten wir beispielsweise schaftliche Kalküle in den Vordergrund schleichen, nichts von der Einführung einer vierten Säule der dann ist allerhöchste Eisenbahn für eine Umstruk- Sozialversicherung, der Pflegeversicherung, wie sie turierung dieser Selbstverwaltungsgremien gebo- derzeit in den Kreisen der Spitzenverbände der ten. Wohlfahrtspflege, der SPD oder der ÖTV diskutiert (Kolb [CDU/CSU]: Auflösen, das ist eure wird. Wir halten nichts davon, das Chaos in der Methode!) Sozialpolitik durch ein weiteres System noch zu er- weitern, und werden daher im Herbst dieses Jahres Denn Gesundheit stellt für uns eine Aufgabe dar, zu ein Bundes-Pflegegesetz als Bundesleistungsgesetz der mehr als nur Krankenreparatur gehört. Wir in den Bundestag einbringen. Pflegehilfen sollen GRÜNEN fordern entsprechend nun als längst unabhängig von der Rolle im Erwerbsleben, selbst- überfälligen Schritt den Hinauswurf der Arbeitge- bestimmend und in dezentraler Verantwortung an- ber aus den Gremien der Sozialversicherung. Sie geboten werden. haben dort nichts zu suchen, denn ihre Beitragsan- teile sind nichts anderes als vorenthaltene Lohnan- Wir GRÜNEN lehnen aus all diesen Gründen den teile. Das muß auch der Bevölkerung genau so ge- vorliegenden Gesetzesentwurf ab, weil er nämlich sagt werden, selbst wenn die etablierten Parteien einen Schritt zurück in die Bismarksche Ära der noch so sehr zetern. Sozialpolitik ist, aus der wir langsam herauskom- men wollten. (Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei den GRÜNEN) — Das macht nichts, wir schicken denen das Proto- koll. Vizepräsident Frau Renger: Jetzt kommt der Herr Zum zweiten geht es um die derzeitige Organisie- Staatssekretär Höpfinger. Bitte sehr, Herr Staatsse- rung der Sozialversicherung selbst. Ständig hört kretär, Sie haben das Wort. man in Veranstaltungen und liest in Hochglanzbro- schüren, daß sich das gegliederte System der So- zialversicherungen bewährt habe. Wir teilen diese Höpfinger, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- Meinung in vielen Punkten nicht. Wer sich nur ein ster für Arbeit und Sozialordnung: Frau Präsident! bißchen in der Sozialpolitik auskennt, weiß, wie Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu- chaotisch dieses zergliederte System in Wirklich- nächst darf ich mich dem Kollegen Glombig zuwen- keit ist. Vor allem im Bereich der Behindertenpoli- den. Ich glaube, Herr Kollege Glombig, Sie haben tik, in der Rehabilitation und bei den Hilfen für psy- gefragt, ob Norbert Blüm der richtige Arbeitneh- chisch Kranke und Behinderte ist der sozialpoliti- mervertreter sei. Darauf kann ich nur sagen: Wer sche Alltag geprägt von Streitigkeiten mit und zwi- Norbert Blüm in seiner Haltung und in seiner Ar- schen diversen Kostenträgern. Leidtragende sind in beit kennt, der weiß, daß er der hervorragendste aller Regel die Betroffenen. Arbeitnehmervertreter ist, den es gibt. Der Hintergrund ist klar: Weil die Sozialversiche- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — rungen beitragsbezogen sind, vom Prinzip her also Lebhafte Zurufe von der SPD und den auf die Erwerbsarbeit zentriert sind, werden er- GRÜNEN) 5724 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Parl. Staatssekretär Höpfinger Und weil er Sozialpolitik, Wirtschafts- und Finanz- Höpfinger, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- politik in einer Zusammenschau sieht, ist er auch ster für Arbeit und Sozialordnung: Das kann ich der beste Mann am richtigen Platz. nicht verneinen, Herr Kollege. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Glombig (SPD): Das habe ich mir gedacht. — Herr Staatssekretär Höpfinger, die Logik Ihrer Ausfüh- Herr Staatssekretär, Vizepräsident Frau Renger: rungen müßte doch eigentlich zur Folge haben, daß gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sie unseren Anträgen zustimmen. Dreßler? — Keine Zwischenfragen.

Höpfinger, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- Höpfinger, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- ster für Arbeit und Sozialordnung: Ich kann Ihnen ster für Arbeit und Sozialordnung: Meine sehr ver- schon sagen, warum wir nicht zustimmen werden. ehrten Damen und Herren, jetzt aber einige Anmer- kungen zum Gesetzentwurf. Das erste, was ich sa- (Glombig [SPD]: Sie wollen nicht?) gen darf, ist: Im Ausschuß wurde diese Vorlage sehr Das ist nicht erforderlich; in den Ausschüssen zügig beraten. Dafür danke ich allen Beteiligten. wurde sehr klar gesagt, warum weder dem ersten Ziel des Gesetzes ist es, das Wahlrecht für die Antrag zugestimmt zu werden braucht, was also das Wahlen zu den Selbstverwaltungsorganen in der Quorum anlangt, — — Sozialversicherung zu verbessern, die Selbstverwal- (Glombig [SPD]: Wir wollen es von Ihnen tung zu stärken, den Versicherten mehr Mitwir- hören!) kungsmöglichkeiten zu gewährleisten und den Ver- Wir sind nämlich der Meinung, daß kleinere sicherten als Wähler bei den Sozialwahlen mehr Organisationen die Möglichkeit haben sollten, daß Klarheit und Durchblick über die Organisationen sie auch mit der Hälfte des Unterschriftenquo- und Programme zu ermöglichen, die zur Wahl ste- rums — — hen. (Glombig [SPD]: Dann stimmen Ihre Aus- Es gab Mängel in der Vergangenheit, die mit die- führungen nicht!) sem Gesetz behoben werden sollen. Sie wurden be- reits angesprochen, ich brauche nicht näher darauf — Doch, doch, die stimmen trotzdem. — Der zweite einzugehen. Antrag braucht deshalb nicht angenommen zu wer- den. Wir sind der Meinung, daß diese Passage nicht Der Gesetzentwurf trifft Vorsorge, daß künftig herein muß, weil praktisch durch die jetzigen Über- nur noch solche Gewerkschaften und Arbeitneh- legungen schon sichergestellt ist, daß Ausführungs- mervereinigungen Vorschlagslisten einreichen kön- bestimmungen auch befolgt und durchgeführt wer- nen, die in der Lage sind, durch ihre Vertreter eine den. vernünftige und wirksame Sozialpolitik in den Selbstverwaltungsorganen zu betreiben. (Glombig [SPD]: Dann können Sie das auch in das Gesetz aufnehmen!) (Glombig [SPD]: Das stimmt doch nicht, Herr Höpfinger!) Im übrigen braucht man das nicht in ein Gesetz hineinzuschreiben, deshalb blieb es auch weg. Das stellt Anforderungen an die einzelnen Vereini- Kleinere Arbeitnehmervereinigungen leisten bei gungen, und dies mit Recht. Der Bürger muß sich auf seine Vertreter in den Selbstverwaltungsorga- einem engagierten Mitgliedereinsatz genauso wir- nen verlassen können, und die Organisationen, die kungsvolle Arbeit in der gesamten Selbstverwal- sich zur Wahl stellen, müssen an ihren Mitgliedern tung. Die Regierungsfraktionen wollen, daß auch die kleineren Arbeitnehmervereinigungen in der Sozialarbeit betreiben. Das war ein Grundgedanke Selbstverwaltung eine Chance haben. bei dieser Gesetzesvorlage. Das Gesetz bringt mehr Klarheit, hindert aber Die ergänzenden Regelungen kommen allen Ar- niemanden an einer Wahlbeteiligung. Es bleibt je- beitnehmervereinigungen zugute, die eine gesunde dem unbenommen, unter seinem Namen mit ande- Basis für die Tätigkeit der Organmitglieder in den ren Versicherten eine eigene Liste einzureichen. Selbstverwaltungsorganen der Versicherungsträger Hier besteht eine Meinungsverschiedenheit zwi- bieten. Die Voraussetzungen des neuen § 48 a des schen Regierungsparteien und der SPD. Kontrovers Vierten Buches des Sozialgesetzbuchs müssen im Zusammenhang gesehen werden. — Das ist also ist, welche Mitgliederzahl eine Arbeitnehmerverei- nigung haben muß, damit sie Gewähr für Ernsthaf- praktisch noch einmal ein Hinweis auf Ihre Anfra- tigkeit und Dauerhaftigkeit der sozial- oder berufs- ge, Kollege Glombig. — Sie stellen sicher, daß nur politischen Zielsetzung und Zwecksetzung bietet. solche Gewerkschaften und sonstige Arbeitnehmer- Wir meinen, daß die Größe einer Arbeitnehmerver- vereinigungen sich an den Wahlen beteiligen kön- einigung für sich allein noch nichts aussagt über die nen, die als Organisation in der Lage sind, eine tatsäch- Qualität der Arbeit. Der Geist weht schließlich, wo sozial- oder berufspolitische Zwecksetzung lich und nachdrücklich zu verfolgen. Dazu gehört er will. Ehrlichkeit des Namens der Vereinigung — man (Beifall bei der SPD) muß wissen, um wen es sich handelt —, Anforde- rung einer soliden finanziellen Grundlage und eine Vizepräsident Frau Renger: Herr Staatssekretär, bestimmte Mitgliederzahl — und zwar beitragzah- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten lende Mitglieder — und als Anlaufzeit eine gewisse Glombig? Zeit des Bestehens. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984 5725

Parl. Staatssekretär Höpfinger Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich der SPD vor. Wer diesem Änderungsantrag zuzu- nenne einige weitere Punkte des Gesetzentwurfs: stimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- Abschaffung der Wahlräume, allgemeine Einfüh- chen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser rung der Briefwahl. Da könnte man sagen: Einmal Antrag ist abgelehnt. sparen Sie Kosten, zum anderen aber — da treffen Wir stimmen jetzt über den Art. 1 Nr. 4 in der wir uns, Kollege Glombig — muß die Wahl zu den Ausschußfassung ab. Wer dem zuzustimmen Selbstverwaltungsorganen viel tiefer in das Be- wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge- wußtsein der Bevölkerung eindringen. Ich glaube, genprobe! — Enthaltungen? — Art. 1 Nr. 4 in der daß das eine Regelung wäre, um auch die Wahlbe- Ausschußfassung ist angenommen. teiligung zu steigern, also zur Beteiligung an der Wahl zu ermuntern. Ich rufe Art. 1 Nr. 5 bis Nr. 11 c in der Ausschuß- fassung auf. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen Zustimmung dürfte auch die Regelung über die wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge- Haftungsbegrenzung der Organmitglieder finden. genprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen Meine sehr verehrten Damen und Herren, in An- mit Mehrheit angenommen. betracht der Zeit möchte ich mich gleich dem Die Fraktion der SPD beantragt auf Drucksache Schluß zuwenden. 10/1669 die Einfügung einer Nr. 12 in Art. 1. Wer die- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um GRÜNEN) ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? Ich möchte ein Wort zur Bedeutung der Selbstver- — Mit größerer Mehrheit abgelehnt. waltung sagen. Weit über 90 % unserer Bevölkerung Meine Damen und Herren, ich rufe die Art. 2 bis sind von den verschiedenen Zweigen der Sozialver- 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfas- sicherung erfaßt und damit mittelbar von jeder sung auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zu- Neuregelung betroffen. Schauen wir uns einmal das zustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- Finanzvolumen an, das in der Selbstverwaltung im chen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei eini- Jahr bewältigt wird! Wenn wir nur die beiden Berei- gen Enthaltungen angenommen. che gesetzliche Krankenversicherung und Renten- versicherung nehmen, dann sind das 275 Milliarden Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. DM in einem Jahr. Vergleichen wir das einmal mit Wir treten in die dem Bundeshaushalt! Mit diesem Hinweis will ich die Bedeutung der Selbstverwaltung hervorheben dritte Beratung und allen danken, die sich für die Mitarbeit in den ein. Selbstverwaltungsgremien zur Verfügung stellen. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Die Ge- bitte Sie um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf genstimmen! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist der Bundesregierung. mit großer Mehrheit gegen einige Gegenstimmen Herzlichen Dank. und bei einigen Enthaltungen angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, im übrigen hat der Deutsche Bundestag den Bericht der Bundesregie- rung zu Fragen der Selbstverwaltung in der Sozial- Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und versicherung auf Drucksache 10/1264 zur Kenntnis Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. genommen. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ein- Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Ta- zelberatung und Abstimmung. gesordnung angekommen. Ich rufe auf die Art. 01 und 1 Nr. 01 bis Nr. 3 in der Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste Ausschußfassung. Wer diesen Vorschriften zuzu- Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, stimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- Freitag, den 29. Juni 1984, 8 Uhr ein. chen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen. Die Sitzung ist geschlossen. Ich rufe Art. 1 Nr. 4 auf. Hierzu liegt auf Druck- sache 10/1666 ein Änderungsantrag der Fraktion (Schluß der Sitzung: 23.21 Uhr) 5726* Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode - 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Juni 1984

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten

Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 29. 6. Antretter * 29. 6. Frau Dr. Bard 29. 6. Böhm (Melsungen) * 28. 6. Büchner (Speyer) * 29. 6. Conradi 29. 6. Dr. Enders * 29. 6. Frau Fischer 29. 6. Dr. Glotz 28. 6. Haase (Fürth) * 29. 6. Dr. Hackel * 28. 6. Dr. Häfele 28. 6. Haehser 29. 6. Frau Hoffmann (Soltau) 29. 6. Dr. Holtz ** 29. 6. Jäger (Wangen) * 29. 6. Junghans 29. 6. Kittelmann * 29. 6. Dr. Kunz (Weiden) 29. 6. Lenzer * 29. 6. Dr. Mertes (Gerolstein) 29. 6. Dr. Müller * 29. 6. Neumann (Bramsche) * 29. 6. Pohlmann 29. 6. Polkehn 29. 6. Porzner 29. 6. Reddemann * 29. 6. Dr. Rumpf * 29. 6. Saurin 29. 6. Schlatter 29. 6. Schmidt (München) * 29. 6. Schulte (Unna) * 29. 6. Schwarz * 29. 6. Seehofer 28. 6. Seiters 29. 6. Dr. Stark (Nürtingen) 29. 6. Verheyen (Bielefeld) 29. 6. Vogt (Kaiserslautern) * 29. 6. Voigt (Sonthofen) 29. 6. Weiskirch (Olpe) 29. 6. Weiß 28. 6. Dr. Wulff * 29. 6.

* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an einer Arbeitsgruppe der Interparlamenta- rischen Union