Plenarprotokoll 15/132

Deutscher

Stenografischer Bericht

132. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Inhalt:

Begrüßung der neuen Abgeordneten Martina Ulrich Petzold (CDU/CSU) ...... 11999 D Eickhoff und Jutta Krüger-Jacob ...... 11981 A (BÜNDNIS 90/ Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- DIE GRÜNEN) ...... 12001 B neten Reinhold Hemker ...... 11981 B

Wahl der Abgeordneten Verena Wohlleben Tagesordnungspunkt 3: als ordentliches Mitglied in die Parlamenta- rische Versammlung des Europarats . . . . . 11981 B a) Antrag der Abgeordneten , Dr. , Dietrich Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Austermann, weiterer Abgeordneter und nung ...... 11981 B der Fraktion der CDU/CSU: Für eine sta- Absetzung der Tagesordnungspunkte 2, 23 bile Wirtschafts- und Währungsunion – und 29 b ...... 11983 A Europäischen Stabilitäts- und Wachs- tumspakt nicht ändern Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 11983 A (Drucksache 15/3719) ...... 12002 B b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Zusatztagesordnungspunkt 2: , , , weiteren Abgeordneten und der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs Umweltgutachten 2004 des Rates von Sach- eines Gesetzes zur Änderung des verständigen für Umweltfragen – Umwelt- Grundgesetzes (Aufnahme von Stabili- politische Handlungsfähigkeit sichern tätskriterien in das Grundgesetz) (Drucksache 15/3600) ...... 11983 B (Drucksache 15/3721) ...... 12002 C Michael Müller (Düsseldorf) (SPD) ...... 11983 B in Verbindung mit Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU) ...... 11985 C Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 11988 A Zusatztagesordnungspunkt 3: (FDP) ...... 11989 A Antrag der Fraktionen der SPD und des Birgit Homburger (FDP) ...... 11990 A BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Stabili- Astrid Klug (SPD) ...... 11992 A täts- und Wachstumspolitik fortsetzen – Den Europäischen Stabilitäts- und Wachs- Josef Göppel (CDU/CSU) ...... 11993 D tumspakt stärken Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/3957) ...... 12002 C DIE GRÜNEN) ...... 11995 A Friedrich Merz (CDU/CSU) ...... 12002 D Dr. (CDU/CSU) ...... 11995 D Joachim Poß (SPD) ...... 12005 D Marco Bülow (SPD) ...... 11997 D Dr. (FDP) ...... 12008 B II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 12009 B Fraktion der CDU/CSU: Flexibilität für das Schaustellergewerbe Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/3490) ...... 12024 B DIE GRÜNEN) ...... 12010 B h) Antrag der Abgeordneten Günther (CDU/CSU) ...... 12011 D Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van , Parl. Staatssekretär BMF ...... 12013 C Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ehemaligen Soldaten Dr. Andreas Pinkwart (FDP) ...... 12014 C der Nationalen Volksarmee das Führen Ernst Burgbacher (FDP) ...... 12016 B ihrer früheren Dienstgrade erlauben (Drucksache 15/3357) ...... 12024 B Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12017 A Dr. Andreas Pinkwart (FDP) ...... 12017 C Zusatztagesordnungspunkt 4: (CDU/CSU) ...... 12018 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 12020 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Protokoll V vom 28. No- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 12022 A vember 2003 zum VN-Waffen- Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . 12022 C übereinkommen (Drucksache 15/3937) ...... 12024 B b) Erste Beratung des von den Fraktionen der Tagesordnungspunkt 28: SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE b) Erste Beratung des von der Bundesregie- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Entschädi- Gesetzes zur Verbesserung des unfall- gungsgesetzes (Entschädigungsrechts- versicherungsrechtlichen Schutzes bür- änderungsgesetz – EntschRErgG) gerschaftlich Engagierter und weiterer (Drucksache 15/3944) ...... 12024 C Personen c) Erste Beratung des von den Fraktionen der (Drucksache 15/3920) ...... 12023 D SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE c) Erste Beratung des von der Bundesregie- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- Zweiten Gesetzes zur Änderung woh- ten Gesetzes zur Änderung eisenbahn- nungsrechtlicher Vorschriften rechtlicher Vorschriften (Drucksache 15/3943) ...... 12024 C (Drucksache 15/3932) ...... 12023 D d) Erste Beratung des von der Bundesregie- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- zes über die Rechtsbehelfe bei Verlet- setzes zu dem Abkommen vom 18. No- zung des Anspruchs auf rechtliches vember 2002 zur Gründung einer Gehör (Anhörungsrügengesetz) Assoziation zwischen der Europäischen (Drucksache 15/3966) ...... 12024 C Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaa- ten einerseits und der Republik Chile andererseits Tagesordnungspunkt 29: (Drucksache 15/3881) ...... 12023 D a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung e) Antrag der Abgeordneten Gero des von der Bundesregierung eingebrach- Storjohann, Dirk Fischer (Hamburg), ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- , weiterer Abgeordneter rung des Übereinkommens vom 29. Mai und der Fraktion der CDU/CSU: Führer- 1990 zur Errichtung der Europäischen scheinbürokratie verhindern – Führer- Bank für Wiederaufbau und Entwick- scheintourismus beenden lung (Drucksache 15/3716) ...... 12024 A (Drucksachen 15/3785, 15/3954) ...... 12024 D f) Antrag der Abgeordneten Wolfgang c) Zweite und dritte Beratung des von der Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Strobl (Heilbronn), weiterer Abgeordne- eines Gesetzes zur Änderung des Pa- ter und der Fraktion der CDU/CSU: tentgesetzes und anderer Vorschriften Heimkehrerstiftungsgesetz verlängern des gewerblichen Rechtsschutzes (Drucksache 15/3806) ...... 12024 A (Drucksachen 15/3658, 15/3970) ...... 12025 A g) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer d) Zweite und dritte Beratung des von der (Hamburg), , Eduard Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Oswald, weiterer Abgeordneter und der eines Gesetzes zu dem Vertrag vom Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 III

17. April 2003 zwischen der Bundesre- , Petra Ernstberger, Hans Büttner (In- publik Deutschland und der Tschechi- golstadt), weiterer Abgeordneter und der schen Republik über die Änderung des Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Verlaufs der gemeinsamen Staats- , Marianne Tritz, Volker grenze im Bereich der Autobahnbrü- Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der cke am Grenzübergang Waidhaus- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Rozvadov/Roßhaupt NEN: Verhinderung der Proliferation von (Drucksachen 15/3352, 15/3839) ...... 12025 B Massenvernichtungswaffen durch Abrüs- tung und kooperative Rüstungskontrolle e) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 15/1786, 15/3967) ...... 12026 D Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 12027 A des Abwasserabgabengesetzes (CDU/CSU) ...... 12028 A (Drucksachen 15/2950, 15/3791) ...... 12025 C Petra Ernstberger (SPD) ...... 12030 A f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag Harald Leibrecht (FDP) ...... 12031 D der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Ernst Hinsken, weiterer Abgeord- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ neter und der Fraktion der CDU/CSU: DIE GRÜNEN) ...... 12033 A Rahmenbedingungen für Geschäftsrei- (fraktionslos) ...... 12033 D sen verbessern (Drucksachen 15/1329, 15/3262) ...... 12025 D Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 12034 C g) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 12035 D Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu Hans Raidel (CDU/CSU) ...... 12038 A der Verordnung der Bundesregierung: Zweiundsechzigste Verordnung zur Än- derung der Außenwirtschaftsverord- Tagesordnungspunkt 5: nung (Drucksachen 15/3659, 15/3693 Nr. 2.1, Antrag der Abgeordneten , 15/3842) ...... 12026 A , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ h)–k) CSU: 7. EU-Forschungsrahmenprogramm Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- wirksam ausgestalten schusses: Sammelübersichten 149, 150, (Drucksache 15/3807) ...... 12039 B 151 und 152 zu Petitionen (Drucksachen 15/3815, 15/3816, 15/3817, Helge Braun (CDU/CSU) ...... 12039 C 15/3818) ...... 12026 A Andrea Wicklein (SPD) ...... 12041 A l) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- Ulrike Flach (FDP) ...... 12042 C schusses: Übersicht 8 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Streitsachen vor dem Bundesverfas- DIE GRÜNEN) ...... 12044 A sungsgericht Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (Drucksache 15/3790 ) ...... 12026 C (CDU/CSU) ...... 12045 C , Bundesministerin BMBF 12046 D Tagesordnungspunkt 4: (CDU/CSU) ...... 12049 B Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Ab- Tagesordnungspunkt 6: rüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (Jahresabrüstungsbericht 2003) desregierung eingebrachten Entwurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur Ände- (Drucksache 15/3167) ...... 12026 C rung des Bundesausbildungsförderungsge- setzes (21. BAföGÄndG) in Verbindung mit (Drucksachen 15/3655, 15/3969) ...... 12050 D (SPD) ...... 12051 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Dr. (CDU/CSU) ...... 12052 D Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/ schusses zu dem Antrag der Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 12054 A IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Cornelia Pieper (FDP) ...... 12055 B Jürgen Koppelin (FDP) ...... 12077 D Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär BMBF 12056 B Walter Schöler (SPD) ...... 12078 D Vera Dominke (CDU/CSU) ...... 12057 B Bernhard Kaster (CDU/CSU) ...... 12081 A Marion Seib (CDU/CSU) ...... 12058 C Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) ...... 12082 B

Tagesordnungspunkt 7: Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Eduard Oswald, Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Dirk Fischer (Hamburg), Georg Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und (Münster), weiterer Abgeordneter und der der Fraktion der CDU/CSU: Europäische Fraktion der FDP: Richtlinie des Europäi- Eisenbahnmagistrale Paris–Budapest schen Parlaments und des Rates über die im deutschen Abschnitt voranbringen Patentierbarkeit computerimplementier- (Drucksache 15/3715) ...... 12059 D ter Erfindungen (Drucksache 15/3240) ...... 12083 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- in Verbindung mit neten , Volkmar Uwe Vogel, Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Zusatztagesordnungspunkt 6: Planungs- und Finanzierungssicherheit Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Krings, für die ICE-Strecken ABS/NBS Nürn- , Dr. Norbert Röttgen, wei- berg–Erfurt (Verkehrsprojekt Deutsche terer Abgeordneter und der Fraktion der Einheit Nr. 8.1) und Erfurt–Leipzig/ CDU/CSU: Patentierbarkeit von Software Halle (Verkehrsprojekt Deutsche Ein- begrenzen heit Nr. 8.2) schaffen (Drucksache 15/3941) ...... 12084 A (Drucksachen 15/2653, 15/3580) ...... 12059 D Rainer Funke (FDP) ...... 12084 B Eduard Oswald (CDU/CSU) ...... 12060 A Dirk Manzewski (SPD) ...... 12085 A Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMVBW ...... 12060 D Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 12086 A Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 12061 D Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12087 D Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ Vera Dominke (CDU/CSU) ...... DIE GRÜNEN) ...... 12062 C 12088 D Dr. Uwe Küster (SPD) ...... 12089 C (CDU/CSU) ...... 12064 B Karin Rehbock-Zureich (SPD) ...... 12065 B Tagesordnungspunkt 10: Renate Blank (CDU/CSU) ...... 12066 B a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Rainer Fornahl (SPD) ...... 12067 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) ...... 12068 D zes zur Durchsetzung der Gleich- stellung von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr (Soldatinnen- und Tagesordnungspunkt 8: Soldatengleichstellungsdurchsetzungs- gesetz – SDGleiG) Erste Beratung des von der Bundesregierung (Drucksache 15/3918 ) 12091 A eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bun- b) Antrag der Abgeordneten Ursula Lietz, deshaushaltsplan für das Haushaltsjahr Christian Schmidt (Fürth), Annette 2004 (Nachtragshaushaltsgesetz 2004) Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter (Drucksache 15/4020) ...... 12070 A und der Fraktion der CDU/CSU: Solda- tinnen- und Soldatengleichstellungs- , Bundesminister BMF ...... 12070 B durchsetzungsgesetz zügig umsetzen Steffen Kampeter (CDU/CSU) ...... 12070 D (Drucksache 15/3717) ...... 12091 B Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ c) Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Klaus Haupt, Helga Daub, weiterer Abge- DIE GRÜNEN) ...... 12075 C ordneter und der Fraktion der FDP: Bun- Dietrich Austermann (CDU/CSU) ...... 12076 C deswehr stärken – Beschäftigungsbe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 V

dingungen für Soldatinnen und Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD) ...... 12109 C Soldaten verbessern (CDU/CSU) ...... 12111 C (Drucksache 15/3960) ...... 12091 B (Köln) (BÜNDNIS 90/ , Parl. Staatssekretär BMVg . . 12091 C DIE GRÜNEN) ...... 12111 D Ursula Lietz (CDU/CSU) ...... 12092 D Jörg van Essen (FDP) ...... 12112 D Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12094 A Tagesordnungspunkt 14: Ina Lenke (FDP) ...... 12095 A Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- Ursula Mogg (SPD) ...... 12096 A ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 12097 A Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, (Recklinghausen), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Tagesordnungspunkt 11: Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter (Drucksachen 15/924, 15/3907) ...... 12113 C Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Gudrun Schaich-Walch, Erika Lotz, Marga Elser (SPD) ...... 12113 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Erwin Marschewski (Recklinghausen) SPD sowie der Abgeordneten , (CDU/CSU) ...... 12114 D Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Die flächende- Tagesordnungspunkt 15: ckende ambulante hausärztliche Versor- gung sichern Zweite und dritte Beratung des von den Frak- (Drucksache 15/3581) ...... 12097 B tionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 12098 C Fünften Gesetzes zur Änderung des Sechs- (CDU/CSU) ...... 12099 C ten Buches Sozialgesetzbuch (Drucksachen 15/3443, 15/3973) ...... 12116 C Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . 12101 B Detlef Parr (FDP) ...... 12102 A Dr. Margrit Spielmann (SPD) ...... 12103 A Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Peter Rzepka, , Verena Butalikakis, Siegfried Tagesordnungspunkt 12: Helias, Günter Nooke und weiterer Abgeord- Antrag der Abgeordneten Ruprecht Polenz, neter: Flugverkehrskonzept für den Groß- Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Bötsch, raum Berlin überprüfen – Flughafen Ber- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der lin-Tempelhof offen halten CDU/CSU: Nichtstaatliche militärische Si- (Drucksache 15/3727) ...... 12116 D cherheitsunternehmen kontrollieren Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin (Drucksache 15/3808) ...... 12104 A BMVBW ...... 12117 A Ruprecht Polenz (CDU/CSU) ...... 12104 B Peter Rzepka (CDU/CSU) ...... 12118 A Volker Neumann (Bramsche) (SPD) ...... 12105 D Hellmut Königshaus (FDP) ...... 12119 D Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 12107 C Edeltraut Töpfer (CDU/CSU) ...... 12120 C Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12108 B Zusatztagesordnungspunkt 7: Tagesordnungspunkt 13: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Erste Beratung des von den Fraktionen der eines Gesetzes zur Verlängerung der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Geltungsdauer der §§ 100 g, 100 h StPO NEN eingebrachten Entwurfs eines Fünfund- (Drucksachen 15/3349, 15/3971) ...... 12121 C zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Einund- b) Beschlussempfehlung und Bericht des zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab- Europaabgeordnetengesetzes geordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, (Drucksache 15/3942) ...... 12109 B , weiterer Abgeordneter VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

und der Fraktion der FDP: Rechtsstaat- und des Rates über Mindestbedingun- lichkeit der Telefonüberwachung si- gen für die Durchführung der Richtli- chern nie 2002/15/EG sowie der Verordnung (Drucksachen 15/1583, 15/3971) ...... 12121 D (EWG) Nr. 3820/85 und (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über Sozialvor- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär schriften für Tätigkeiten im Kraftver- BMJ ...... 12121 D kehr Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) KOM (2003) 628 endg.; Ratsdok. 15688/03 (CDU/CSU) ...... 12122 D (Drucksachen 15/2373 Nr. 2.47, 15/3578) 12130 B Petra Pau (fraktionslos) ...... 12124 C Nächste Sitzung ...... 12130 D Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ ...... 12124 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Anlage 1 DIE GRÜNEN) ...... 12125 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12131 A Jörg van Essen (FDP) ...... 12126 A

Joachim Stünker (SPD) ...... 12126 D Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zusatztagesordnungspunkt 8: der Beschlussempfehlung und des Berichts: Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter (Ta- a) Antrag der Fraktionen der SPD und des gesordnungspunkt 14) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Ukraine nach der EU-Osterweiterung (BÜNDNIS 90/ und vor den Präsidentschaftswahlen am DIE GRÜNEN) ...... 12131 B 31. Oktober 2004 Dr. (FDP) ...... 12132 A (Drucksache 15/3958) ...... 12127 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Anlage 3 der Abgeordneten , Dr. Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Bötsch, des Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Än- weiterer Abgeordneter und der Fraktion derung des Sechsten Buches Sozialgesetz- der CDU/CSU: Für eine demokratische buch (Tagesordnungspunkt 15) und freie Präsidentenwahl 2004 in der Ukraine Erika Lotz (SPD) ...... 12132 B (Drucksachen 15/3799, 15/3968) ...... 12127 D Hildegard Müller (CDU/CSU) ...... 12133 A Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD) ...... 12128 A Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12134 C Tagesordnungspunkt 17: Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 12135 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anlage 4 Neuregelung der präventiven Telekommu- nikations- und Postüberwachung durch Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung das Zollkriminalamt (NTPG) des Antrags: Flugverkehrskonzept für den (Drucksache 15/3931) ...... 12129 D Großraum Berlin überprüfen – Flughafen Berlin-Tempelhof offen halten (Tagesord- nungspunkt 16) Tagesordnungspunkt 18: Siegfried Scheffler (SPD) ...... 12135 D a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ Bericht der Bundesregierung zur Situ- DIE GRÜNEN) ...... 12137 B ation des deutschen Güterkraftverkehrs- gewerbes im europäischen Wettbewerb (Drucksache 15/3637) ...... 12130 A Anlage 5 b) Beschlussempfehlung und Bericht des Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen zu der Unterrichtung durch – Antrag: Die Ukraine nach der EU-Ost- die Bundesregierung: Vorschlag für eine erweiterung und vor den Präsidentschafts- Richtlinie des Europäischen Parlaments wahlen am 31. Oktober 2004 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 VII

– Beschlussempfehlung: Für eine demokra- Anlage 7 tische und freie Präsidentenwahl 2004 in der Ukraine Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: (Zusatztagesordnungspunkt 8 a und b) – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung zur Situation des deutschen Güter- (CDU/CSU) ...... 12138 A verkehrsgewerbes im europäischen Wett- Claudia Nolte (CDU/CSU) ...... 12139 A bewerb Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ – Beschlussempfehlung: Vorschlag für eine DIE GRÜNEN) ...... 12140 B Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestbedingungen Harald Leibrecht (FDP) ...... 12141 A für die Durchführung der Richtlinie 2002/ 15/EG sowie der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 und (EWG) Nr. 3821/85 des Anlage 6 Rates über Sozialvorschriften für Tätig- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung keiten im Kraftverkehr des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung (Tagesordnungspunkt 18 a und b) der präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung durch das Zollkriminalamt (SPD) ...... 12145 D (NTPG) (Tagesordnungspunkt 17) Klaus Hofbauer (CDU/CSU) ...... 12146 D Joachim Stünker (SPD) ...... 12141 C Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU) ...... 12147 D Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) ...... 12142 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12143 C DIE GRÜNEN) ...... 12149 B Rainer Funke (FDP) ...... 12144 B (Bayreuth) (FDP) ...... 12150 A Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretä- , Parl. Staatssekretärin rin BMF ...... 12144 D BMVBW ...... 12151 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 11981

(A) (C) Redetext

132. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Um- weltgutachten 2004 des Rates von Sachverständigen für Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Umweltfragen – Umweltpolitische Handlungsfähigkeit si- Sitzung ist eröffnet. chern Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich be- – Drucksache 15/3600 – kannt, dass der Kollege Ernst Küchler am 15. Oktober Überweisungsvorschlag: 2004 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Sportausschuss verzichtet hat. Als seine Nachfolgerin hat die Abgeord- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit nete Martina Eickhoff am 18. Oktober 2004 die Mit- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und gliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Beifall) Ausschuss für Tourismus ZP 3Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des (B) Der Kollege Hubert Ulrich hat am 19. Oktober 2004 BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Stabilitäts- und Wachs- (D) auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag ver- tumspolitik fortsetzen – Den europäischen Stabilitäts- und zichtet. Für ihn hat die Abgeordnete Jutta Krüger- Wachstumspakt stärken Jacob am 19. Oktober 2004 die Mitgliedschaft im Deut- – Drucksache 15/3957 – schen Bundestag erworben. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) (Beifall) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich begrüße die beiden neuen Kolleginnen herzlich Haushaltsausschuss und wünsche gute Zusammenarbeit. ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Sodann gratuliere ich dem Kollegen Reinhold (Ergänzung zu TOP 28) Hemker, der am 8. Oktober seinen 60. Geburtstag be- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ging, im Namen des Hauses nachträglich sehr herzlich. ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll V vom 28. November 2003 zum VN-Waffenübereinkommen Die Fraktion der SPD teilt mit, dass die Kollegin Hedi – Drucksache 15/3937 – Wegener als ordentliches Mitglied aus der Parlamentari- Überweisungsvorschlag: schen Versammlung des Europarates ausscheidet. Nach- Auswärtiger Ausschuss (f) folgerin soll die Kollegin Verena Wohlleben werden. Verteidigungsausschuss Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und spruch. Dann ist die Kollegin Wohlleben als ordentliches Entwicklung Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Eu- b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des roparates gewählt. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Entschädi- Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Ta- gungsgesetzes (Entschädigungsrechtsänderungsge- gesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführ- setz – EntschRErgG) ten Punkte zu erweitern: – Drucksache 15/3944 – ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und Überweisungsvorschlag: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Kampf um Arbeits- Finanzausschuss (f) plätze unterstützen, Unternehmenskrisen meistern, Be- Rechtsausschuss schäftigungspotenziale erhalten – Restrukturierungsan- Haushaltsausschuss strengungen bei Karstadt/Quelle und GM/Opel stärken c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und (siehe 131. Sitzung) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten 11982 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung woh- ZP 8 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des (C) nungsrechtlicher Vorschriften BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Ukraine nach – Drucksache 15/3943 – der EU-Osterweiterung und vor den Präsidentschafts- wahlen am 31. Oktober 2004 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) – Drucksache 15/3958 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag ten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe der Abgeordneten Claudia Nolte, Dr. Friedbert Pflüger, bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Dr. Wolfgang Bötsch, weiterer Abgeordneter und der (Anhörungsrügengesetz) Fraktion der CDU/CSU: Für eine demokratische und freie Präsidentenwahl 2004 in der Ukraine – Drucksache 15/3966 – – Drucksachen 15/3799, 15/3968 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Berichterstattung: Innenausschuss Abgeordnete Jelena Hoffmann (Chemnitz) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Marianne Tritz Dr. Friedbert Pflüger ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- Harald Leibrecht schusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Uta Zapf, Petra Ernstberger, Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernhard Schulte- Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- Drüggelte, Peter H. Carstensen (Nordstrand), Dr. Christian neten Winfried Nachtwei, Marianne Tritz, Volker Beck Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Welternährung sichern – Eine globale Verantwortung für NISSES 90/DIE GRÜNEN: Verhinderung der Proliferation die nationale und europäische Agrarpolitik von Massenvernichtungswaffen durch Abrüstung und ko- – Drucksache 15/3940 – operative Rüstungskontrolle Überweisungsvorschlag: – Drucksachen 15/1786, 15/3967 – Ausschuss für Verbraucherschutz, Berichterstattung: Ernährung und Landwirtschaft (f) Abgeordnete Uta Zapf Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ruprecht Polenz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Marianne Tritz Entwicklung Harald Leibrecht Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Krings, ZP 10 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, weiterer Abgeord- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN neter und der Fraktion der CDU/CSU: Patentierbarkeit von eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes Software begrenzen zur Änderung der Vorschriften zum diagnose- – Drucksache 15/3941 – orientierten Fallpauschalensystem für Kran- (B) kenhäuser und zur Änderung anderer Vorschrif- (D) Überweisungsvorschlag: ten (Zweites Fallpauschalenänderungsgesetz – Rechtsausschuss (f) 2. FPÄndG) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 15/3672 – Technikfolgenabschätzung (Erste Beratung 121. Sitzung) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ausschuss für Kultur und Medien regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten ZP 7 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlänge- diagnoseorientierten Fallpauschalensystem für rung der Geltungsdauer der §§ 100 g, 100 h StPO Krankenhäuser und zur Änderung anderer Vor- – Drucksache 15/3349 – schriften (Zweites Fallpauschalenänderungsge- setz – 2. FPÄndG) (Erste Beratung 118. Sitzung) – Drucksache 15/3919 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) (Erste Beratung 131. Sitzung) – Drucksache 15/3971 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Aus- Berichterstattung: schuss) Abgeordnete Joachim Stünker Hans-Christian Ströbele – Drucksache 15/3974 – Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) Berichterstattung: Jörg van Essen Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab- Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung geordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Sibylle (13. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Dr. Hans Georg Faust, , Andreas Storm, FDP: Rechtstaatlichkeit der Telefonüberwachung si- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: chern Versorgungssicherheit für Patientinnen und Patienten – Drucksachen 15/1583, 15/3971 – durch sachgerechte Fallpauschalen Berichterstattung: – Drucksachen 15/3450, 15/3974 – Abgeordnete Andreas Schmidt (Mülheim) Joachim Stünker Berichterstattung: Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Hans-Christian Ströbele , , weiterer Abgeordneter Jörg von Essen und der Fraktion der FDP: Verwertung von Elektronikalt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 11983

Präsident Wolfgang Thierse (A) geräten ökologisch sachgerecht und unbürokratisch ge- debatte mit der Umweltpolitik beschäftigt. Ich danke al- (C) stalten len, die das beantragt haben. – Drucksache 15/3950 – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) DIE GRÜNEN – Dr. Peter Paziorek [CDU/ Innenausschuss CSU]: Warum so defensiv?) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und In der letzten Zeit war es häufig so, dass wir auf Veran- Landwirtschaft staltungen – wo auch immer sie stattfanden – gehört ha- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ben, die Umweltpolitik sei in den vergangenen 15 Jahren relevant gewesen; das sei vorbei, da man jetzt andere Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- Themen habe, und die Ökologie müsse ein wenig zu- weit erforderlich – abgewichen werden. rücktreten. In den letzten Monaten sind wir aber insbe- Des Weiteren sollen die Tagesordnungspunkte 2 – Neu- sondere aufgrund der Rohstoff- und Energiepreisent- regelung des Energiewirtschaftsrechts –, 23 – Auswir- wicklung von einer ganz anderen Wirklichkeit eingeholt kungen des GKV-Modernisierungsgesetzes – und 29 b – worden. Modernisierung des Schuldrechts – abgesetzt werden. Es gilt im Gegenteil: Die ökologische Frage gewinnt Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überwei- neue Bedeutung. Sie ist eine der zentralen Zukunftsfra- sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: gen. Jede Gesellschaft, die die ökologische Modernisie- rung vorantreibt, wird in Zukunft gute Karten haben. Der in der 124. Sitzung des Deutschen Bundestages Wer das versäumt, wird schlecht dastehen. überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Landwirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden. DIE GRÜNEN) Gesetzentwurf der Bundesregierung: Siebtes Ge- Das ist das Wichtigste, was man am Anfang der Debatte setz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbe- sagen muss. werbsbeschränkungen Herr Paziorek und Frau Homburger, in diesem Zu- – Drucksache 15/3640 – sammenhang hoffen wir, dass die alte Tradition, im Um- weltbereich möglichst viel gemeinsam zu machen, in überwiesen: dieser schwierigen Umbauphase wiederbelebt werden Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Rechtsausschuss kann. Das ist notwendig. Die Ökologie ist ein Quer- schnittsthema, sie ist oft zusätzlich zu der eigentlichen (B) Ausschuss für Kultur und Medien (D) Entscheidung zu beachten. Deshalb müssen wir in dieser Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – entscheidenden Zukunftsfrage der Ökologie, wo immer Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- es geht, ohne falsche Kompromisse zu machen und ohne sen. Konflikte zu vermeiden, mehr Gemeinsamkeiten haben. Ich rufe Zusatzpunkt 2 auf: Das ist unser Appell an Sie. In den 90er-Jahren war es immer ein gutes Zeichen, dass die Opposition, wo immer Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- es ging, weiter gehende ökologische Positionen einge- regierung klagt hat. Das sollte auch heute der Fall sein. Das ist not- Umweltgutachten 2004 des Rates von Sachver- wendig, damit unser Land zukunftsfähig bleibt. ständigen für Umweltfragen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Umweltpolitische Handlungsfähigkeit sichern DIE GRÜNEN) – Drucksache 15/3600 – Vor allem auf zwei Feldern wird es für uns sehr wich- Überweisungsvorschlag: tig, die Ökologie stärker voranzutreiben. Lassen Sie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) mich den ersten Punkt nennen. Wenn man – das klingt Sportausschuss jetzt etwas komisch – das abfließende Wasser in einer Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Badewanne beobachtet, dann sieht man in der Regel Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft über dem Abfluss einen Wirbel. Im ganzen Nordatlan- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen tik entstehen in der biologischen und dynamischen Ausschuss für Tourismus Pumpe des Wasserkreislaufes ebenfalls solche Druck- wirbel. In Forschungsergebnissen der NASA ist festge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für stellt worden, dass sich diese Druckwirbel im Nordatlan- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich tik abschwächten. höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Es gibt Studien beispielsweise des Goddard Institute, Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen wonach die Temperatur in unseren Breitengraden dann, Michael Müller, SPD-Fraktion, das Wort. wenn diese Druckwirbel gegen null tendieren, um 4 bis 5 Grad absinken kann. Es ist eine alarmierende Entwick- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): lung, dass sich diese Druckwirbel in den letzten zwei Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, Jahrzehnten um etwa 25 Prozent, also um ein Viertel, ab- dass sich der Bundestag wieder einmal in einer Kernzeit- geschwächt haben. Wir erleben auf einmal – das ist ein 11984 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Michael Müller (Düsseldorf) (A) Alarmsignal –, dass die Klimaproblematik, deren Aus- Für die Zukunft ist es ein entscheidender Punkt, dass wir (C) wirkungen bisher in erster Linie die tropischen und sub- in dieser Frage die Qualität über die Quantität setzen. tropischen Breiten erfahren, auch für Nordeuropa eine Das ist ökonomisch, beschäftigungspolitisch und sozial zentrale Herausforderung wird. Die Tatsache, dass der richtig. Druckwirbel nachlässt, ist eines der alarmierendsten Si- Wir begrüßen es sehr, dass das Umweltgutachten gnale dafür, dass das Klimasystem der Welt umkippt. auch eine breite Palette von kritischen Tönen enthält. Es Lange Zeit zeigten die Wasserkreisläufe nur bedingt wäre falsch, wenn das Gutachten keine kritischen Töne die Klimaveränderungen, weil sie träger reagierten. Jetzt umfasste, die uns anspornen. Kritik ist auch deshalb gut, aber beschleunigt sich dieser Prozess. Wir müssen – da- weil wir gegenüber den engstirnigen Interessenverbän- rum bitte ich Sie – die Alarmsignale ernst nehmen; denn den zeigen können, dass es andere Positionen gibt; denn wenn dieses System kippt, kann man es kurzfristig nicht man darf nicht kurzfristig denken. Nein, Ökologiepolitik mehr retten. Die Natur ist kein Netz, dessen Löcher man ist vor allem langfristig orientiert und muss sich dann im schnell wieder flicken kann, und schon funktioniert alles konkreten Alltag widerspiegeln. Das ist eine Politik, die wieder. Wenn dieses Netz reißt, passiert sehr viel mehr. viel stärker von uns verfolgt werden muss. Die Verantwortung dafür trägt nicht nur eine Partei, son- (Beifall bei der SPD) dern die Verantwortung dafür müssen wir als Politiker gemeinsam übernehmen. Die Leitlinie dieser Politik ist Nachhaltigkeit. Nachhal- tigkeit ist trotz der ökologischen Fundierung kein ökolo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gisches Thema. DIE GRÜNEN) (Beifall der Abg. Undine Kurth [Quedlinburg] Im europäischen Bereich ist es inzwischen zu einer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Erhöhung der Temperatur von ungefähr 1 Grad gekom- Es handelt sich um ein Thema, das in das Zentrum der men; die Europäische Umweltagentur geht von Gesellschaftspolitik gehört, weil es ein Integrationsprin- 0,95 Grad aus. Sie rechnet mit einer Bandbreite von 1,5 zip berührt, das versucht, eine zivilisatorische, eine ge- bis 6,3 Grad als Möglichkeit für dieses Jahrhundert. Das sellschaftspolitische Entwicklung abzubilden, die unter ist besorgniserregend genug. Diesen wichtigen Punkt globalen Gesichtspunkten heute verantwortbar ist. Inso- muss man einmal klar hervorheben. Wir müssen beim fern ist Nachhaltigkeit, anders als sie vielleicht noch in Klimaschutz die Dynamik und den Ehrgeiz verstärken. den 90er-Jahren gedacht wurde, in der Zwischenzeit die Nationale Klimaschutzpolitik muss ein Markenzeichen wichtigste Antwort auf die Herausforderungen der Glo- deutscher Politik bleiben und noch verstärkt werden. balisierung. Anders geht es nicht. (B) (Beifall des Abg. Dr. Ernst Ulrich von (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weizsäcker [SPD]) DIE GRÜNEN) Denn sie macht eine andere Möglichkeit des Fortschrei- Der zweite wichtige Punkt, den ich am Anfang an- tens von Wirtschaft und Gesellschaft möglich. Der Kern sprechen möchte, ist die Entwicklung auf den Roh- der Nachhaltigkeit ist ein vernünftiger Umgang mit Zeit stoff- und Energiemärkten. Sie haben in den letzten und Raum. Das ist etwas anderes als das, was wir bisher Tagen die Preisentwicklung insbesondere beim Öl er- hatten, als wir vor allem diese beiden Faktoren entweder lebt. Im Zusammenhang mit dieser Preisentwicklung maßlos genutzt oder aber alle Raumwiderstände aufge- beim Öl müssen wir als industrielle Welt, in der unge- löst haben. fähr 1,3 Milliarden Menschen leben, endlich zur Kennt- Bisher war die Umweltpolitik vom Verursacherprin- nis nehmen, dass schon in kurzer Zeit etwa 4 Milliarden zip, vom Vorsorgeprinzip und vom Kooperationsprinzip Menschen in dieser industriellen Welt leben wollen. Es geprägt. Diese drei Prinzipien, die in den 70er-Jahren geht einfach nicht, dass ein System, das schon heute un- entwickelt wurden, werden weiterhin wichtig bleiben. ter ökologischen Gesichtspunkten höchst problematisch Aber Nachhaltigkeit bedeutet, dass wir diese Prinzipien ist, auf dreimal so viele Menschen übertragen wird, ohne vor allem durch das Integrationsprinzip ergänzen müs- dass daraus ökologische Folgen entstehen. sen. Wir müssen erreichen, dass die Ökologie in allen entscheidenden Politikfeldern fest verankert und der Wir müssen unsere Möglichkeiten zur Gewinnung ökologische Maßstab zum Maßstab von Entscheidungen von Rohstoffen, Energien und Ressourcen überdenken. in der Außenpolitik, in der Energiepolitik, in der Wirt- Man kann nicht weiterhin glauben – das resultiert aus schaftspolitik, in der Bildungspolitik und wo auch im- meiner Sicht aus einer falschen Vorstellung der Aufklä- mer wird. Ökologie ist ein entscheidendes Kriterium für rung –, dass die Natur ein sich selbst immer wieder neu politische Entscheidungen und für politische Verantwor- regulierendes System ist. Nein, auch die Natur ist ein tung. System mit Grenzen. Wir müssen diese Grenzen in einer verantwortlichen Politik vernunftgerecht berücksichti- Wir wissen heute, dass wir vor allem in der Ökologie gen. Das bedeutet keine Philosophie eines Rückgangs mit vier großen Herausforderungen umgehen müssen. des Wachstums, sondern ein qualitatives Wachstum, Die erste ist das exponentielle Wachstum des Umwelt- Umsteuern also. verbrauchs und der Umweltzerstörung. Wenn man eine Bestandsaufnahme der letzten 500 Jahre macht, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird man feststellen, dass nach 1950 in den großen Sys- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) temen Wasser, Luft, Artenvielfalt und Bodenqualität Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 11985

Michael Müller (Düsseldorf) (A) mehr zerstört wurde als in der gesamten Zeit davor. Das Präsident Wolfgang Thierse: (C) ist ein alarmierendes Signal, vor allem vor dem Hinter- Ich erteile das Wort Kollegen Peter Paziorek, CDU/ grund, dass erst ein Viertel der Welt unter industriellen CSU-Fraktion. Bedingungen wirtschaftet. (Beifall bei der CDU/CSU) Die zweite große Herausforderung der Ökologie ist, dass vieles erst mit Zeitverzögerung eintritt. Die Folgen vieler Umweltschäden, die wir heute anrichten, werden Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): wir erst in der Zukunft sehen. Besonders dramatisch Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wird das bei den Wasserkreisläufen sein. Deshalb bedeu- „Umweltpolitische Handlungsfähigkeit sichern“ lautet tet Umweltpolitik immer das Vorwegdenken der Zukunft die Überschrift des Umweltgutachtens 2004. Diese und das Einbeziehen von möglichen Folgen in die heuti- Überschrift wirft Fragen auf. Ist die Handlungsfähigkeit gen Entscheidungen. der Umweltpolitik in Deutschland nicht mehr gegeben? Drittens müssen wir wissen, dass viele Umweltpro- Gibt es in Deutschland eine Blockadesituation in der bleme möglicherweise noch gar nicht richtig erkennbar Umweltpolitik? Ist in der deutschen Politik eine Zurück- sind. Wir haben es in hohem Maße mit Unwissenheit haltung zu verzeichnen, wie es der Sachverständigenrat über kumulative Wirkungen, Anreicherungen etc. zu tun. in seinem Gutachten auch inhaltlich andeutet? Viertens. Es ist eine neue Qualität, dass die Ökologie- So fragt der Sachverständigenrat für Umweltfragen, schäden global sind. Das ist etwas ganz anderes als das, ob die umweltpolitische Zurückhaltung nur kurzfristig was wir aus der Geschichte kennen. Ich erinnere an die und einer extrem ungünstigen Konjunkturlage zuzu- berühmten Beschreibungen von Homer über die Zerstö- schreiben sei oder ob sie ein generelles Zurückschrauben rung der Baumlandschaft an der türkischen Ägäis und umweltpolitischer Ziele bedeute. Dies ist eine interes- die Berichte aus dem Mittelalter über die Abholzung im sante Fragestellung, insbesondere da die Regierungspar- Mittelmeerraum. Wir haben es heute mit einem globalen teien in ihrer Öffentlichkeitsarbeit nicht müde werden, Problem zu tun. Deshalb müssen unsere Antworten eine das falsche Bild einer dynamischen Umweltpolitik die- andere Qualität haben. ser Regierung zu zeichnen. Aber die Realität scheint Lassen Sie mich am Ende zwei wichtige Aspekte nen- eine andere zu sein. Ja, die Realität ist eine andere, nen, warum ich glaube, dass die Ökologie das entschei- meine Damen und Herren! dende Fortschritts- und Zukunftsmodell ist. Wenn die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zentrale Herausforderung in der Zukunft der Umgang mit Ressourcen ist, dann sind nicht alle die Wirtschaften Aber zunächst möchte ich im Namen der CDU/CSU- (B) bzw. die Ökonomien gut, die im Zusammenhang mit Bundestagsfraktion den Sachverständigen für dieses (D) Energiesparen über eine Verminderung von Energie- Gutachten danken. Wir teilen nicht alle Aussagen in die- einsatz nur reden und die Effizienz bei der Energie- sem Gutachten, zum Beispiel hinsichtlich der Forderung, umwandlung nur verbal kennen, sondern diejenigen, die die Ökosteuer auch weiterhin kontinuierlich aufzusto- Einsparungen von Ressourcen, Materialien und Rohstof- cken. Aber das Gutachten bietet eine klare und fundierte fen zu einem grundsätzlichen Prinzip machen. Wir wol- Analyse der Umweltsituation in Deutschland. len die effiziente Wirtschaft. Effizienz heißt nicht nur Kostensenkung beim Faktor Arbeit, sondern heißt vor Die Empfehlungen zu den einzelnen Handlungsfel- allem Einsparung von Kilowattstunden, von Material dern geben Anlass zum Nachdenken und Anstöße zur und von Rohstoffen. Effiziente Politik heißt, Produktivi- umweltpolitischen Arbeit. So ist die Aussage des Sach- tät mit intelligenter Produktentwicklung zu verbinden. verständigenrates richtig, dass eine langfristige Stabili- Das ist eine riesige Zukunftschance für Europa. sierung des Zustands der Umwelt notwendig ist und dass dieses Ziel auch bei wirtschaftlichen Problemen beibe- (Beifall bei der SPD) halten werden sollte. Wir müssen somit auch der Frage Der zweite wesentliche Punkt ist: Mit der heraufzie- nachgehen, inwieweit Umweltpolitik mithelfen kann, die henden Wissensgesellschaft kommt wieder eine Ent- wirtschaftlichen Probleme zu überwinden, und zwar da- wicklung auf uns zu, bei der vor allem die Kreativität durch, dass die Umweltpolitik selber effektiver wird und des Menschen gefordert ist. Wir kommen weg von der auf neue, unbürokratische Steuerungsansätze zurück- alten Massenproduktion hin zu intelligenten Lösungen. greift. Wer dabei gut ist, wird auch im internationalen Maßstab seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Die Ökosteuer!) Wissensgesellschaft heißt Intelligenz in der Produk- tion und Ökonomie. Sie bedeutet die Stärkung des Men- Deshalb muss jede Umweltpolitik zum Ziel haben, schen und seiner Fähigkeiten. Beides gemeinsam – die die Schöpfung zu bewahren und gleichzeitig die wirt- Wissensökonomie auf der einen Seite und die Ressour- schaftlichen Probleme unseres Landes mindern zu hel- cenwirtschaft auf der anderen Seite – stellt die große fen. Chance für unser Land und für Europa auf eine gute Zu- kunft dar. Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, diese (Beifall bei der CDU/CSU) Richtung einzuschlagen. Das sind die wirklichen Herausforderungen, vor denen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir in der Umweltpolitik stehen. Diese Herausforderun- DIE GRÜNEN) gen sind Sie, Herr Bundesumweltminister, nicht in der 11986 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Dr. Peter Paziorek (A) politischen Breite und mit dem notwendigen Tiefgang eine strategische Orientierung in der Naturschutz- (C) angegangen. Das müssen wir heute leider feststellen. politik im Sinne einer nationalen Biodiversitätsstra- tegie bislang nicht vorliegt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Dies sind die umweltpolitischen Felder, auf denen großer Handlungsbedarf besteht und auf denen weitere Angesichts der Themen, die Sie in den letzten Mona- Anstrengungen notwendig sind. Herr Bundesumweltmi- ten vornehmlich behandelt haben – Dosenpfand, Atom- nister, Sie haben diese Felder aber einfach links liegen ausstieg und erneuerbare Energien –, bleibt festzustel- gelassen. Das ist ein großer Fehler Ihrer Umweltpolitik. len: So wichtig die einzelnen Themen, zum Beispiel die erneuerbaren Energien, auch aus meiner persönlichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sicht sind: Ihr umweltpolitischer Politikansatz in den neten der FDP) vergangenen Monaten stellt in Wirklichkeit ein Auslauf- Dies wird offensichtlich auch von der Bevölkerung so modell der Umweltpolitik dar. gesehen. In einer aktuellen repräsentativen Umfrage des Emnid-Instituts im Auftrag des „Greenpeace Maga- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zins“ erhält die Bundesregierung für ihre Umweltpolitik der FDP) gerade einmal die Schulnote 3,8 und der Bundesumwelt- Sie arbeiten nämlich nur das ab, was als Traditionsthe- minister die persönliche Note 3,9. Interessant ist eben- men rot-grüner Umweltpolitik wichtig erscheint. falls, dass im Rahmen dieser Umfrage 89 Prozent der Befragten große Umweltprobleme in den Bereichen Sie haben aber noch nicht erkannt oder wollen es Wasser, Boden und Luftverschmutzung sehen, also in all nicht erkennen, dass die Umweltpolitik selber einem denjenigen Bereichen, in denen Ihre Umweltpolitik in Modernisierungsprozess mit technologisch innovativen den letzten Jahren weggetaucht ist, in denen Sie nichts Potenzialen unterliegt. In den Bereichen, in denen zum angepackt haben, vielleicht weil Sie selbst erkannt haben Beispiel vonseiten der Europäischen Union Neuerungen – das gebe ich zu –, wie schwierig diese Felder sind. auf uns zukommen – wie beim Emissionshandel –, ver- Aber so zu tun, als ob es ausreichend wäre, einige rennen Sie sich in bürokratischen Einzelheiten. Diesen Schwerpunkte der Umweltpolitik anzugehen, statt eine Vorwurf müssen wir Ihnen machen. wirklich umfassende Umweltpolitik zu machen, ist falsch. Das können wir nicht akzeptieren. Ihre Umwelt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) politik ist in vielen Teilbereichen leider weggetaucht. Ich glaube, auch vor dem Hintergrund des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Umweltgutachtens 2004 kann festgestellt werden: Die (B) Herr Bundesumweltminister, der entscheidende Vor- (D) Bilanz Ihrer Umweltpolitik ist ernüchternd, Herr Bun- wurf, den wir Ihnen machen müssen, ist, dass Sie vom desumweltminister. Ihre Politik ist einseitig. In den ver- Instrumentenansatz her nicht den Versuch unternehmen, schiedensten Bereichen haben Sie es schlichtweg ver- eine wirklich moderne Umweltpolitik zu betreiben. Das säumt, entscheidende neue Impulse zu geben. beginnt schon damit, wie Sie sich zu den vorhandenen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Konflikten – das bestreitet niemand – grundsätzlich po- sitionieren. Herr Müller hat gerade von der Nachhaltig- Dies schreibt Ihnen auch der Sachverständigenrat in sei- keit und davon gesprochen, dass Ökonomie, Ökologie nem Gutachten ins Stammbuch. So sieht er die Ökosys- und Soziales zusammengehören und dass es hier Kon- teme von Nord- und Ostsee durch die Vielzahl von flikte gibt, die man austarieren muss. Das alles ist zwar Belastungen, zum Beispiel durch den Eintrag von richtig. Aber nach unserer Auffassung ist Ihre Positio- Schadstoffen, als ernsthaft gefährdet an. nierung in Bezug auf die Umweltpolitik als totaler Ge- gensatz zur Ökonomie – auch in der öffentlichen Wahr- Die Bilanz beim Lärmschutz wird als ungünstig be- nehmung – falsch. Wer Umweltpolitik von vornherein so zeichnet. So haben die Lärmbelastung und -belästigun- positioniert und nicht den Versuch macht, durch entspre- gen in den vergangenen Jahren sogar zugenommen. chende öffentliche Darstellung einen Beitrag zur Aus- In der Abfallpolitik konnten keine Durchbrüche er- söhnung von Ökologie und Ökonomie zu leisten, der zielt werden. Dies gilt sowohl für das Abfallaufkommen positioniert die Umweltpolitik falsch. Das ist ein ganz als auch für den Rohstoffverbrauch. Wo ist die große zentraler Vorwurf, den wir Ihnen machen müssen. Wende in diesem Bereich? So fehlen zum Beispiel noch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in erheblichem Umfang Vorbehandlungskapazitäten, um neten der FDP) die unvorbehandelte Ablagerung bis 2005 einstellen zu können. Sie kommen durch ständige Schuldzuweisungen an die Wirtschaft im Umweltschutz nicht weiter. Die wachsende Inanspruchnahme von Flächen durch Was brauchen wir? Wir brauchen in Deutschland end- Siedlungen und den Verkehr bleibt – so das Gutachten – lich eine Umweltpolitik, die dem Grundsatz der Effi- ein ungelöstes Problem, ebenso wie die Bodenbelastung zienz gerecht wird. durch Schadstoffeinträge oder Altlasten. Die nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt ist auch dadurch er- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE schwert – ich zitiere nur aus dem Umweltgutachten –, GRÜNEN]: Sagen Sie mal, was Effizienz be- dass deutet!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 11987

Dr. Peter Paziorek (A) – Herr Beck, mit Ihrer Lautstärke dringen Sie mit Ihrem Es wird uns aber nur gelingen, diese Chancen zu nut- (C) Zuruf nicht zu mir durch. Ich habe ihn akustisch leider zen, wenn wir die Rahmenbedingungen vernünftig set- nicht verstanden. Aber Sie können ja eine Zwischen- zen und auch in der Umweltpolitik die Initiativen des frage stellen. Ich freue mich über jede Zwischenfrage. Einzelnen – des Mittelstandes und des einzelnen Unter- nehmers – besser berücksichtigen. Warum können wir in (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Deutschland nicht dazu übergehen, stärker als bisher GRÜNEN]: Ich schenke Ihnen keine Rede- freiwilliges umweltfreundliches Verhalten zu honorie- zeit!) ren? Als Grundsatz muss gelten, dass sich freiwilliges umweltfreundliches Verhalten lohnen muss. Warum wer- Herr Müller, Sie haben zum Beispiel gefordert, dass den unsere gesetzlichen Bestimmungen nicht dahin ge- Regierung und Opposition gemeinsame Positionen erar- hend geprüft, ob nicht ein Unternehmer, ein Mittelständ- beiten sollten. ler, der freiwillig mehr macht, als durch rechtliche (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Nicht Bestimmungen vorgegeben ist – etwa bei seinen Be- Positionen, sondern einen Grundkonsens! Das richtspflichten, die ihm nach den umweltrechtlichen Vor- ist etwas anderes! Das kann sich daraus erge- schriften auferlegt sind, oder bei ganz bestimmten Frei- ben!) stellungstatbeständen; sagen Sie nicht, dass es so etwas nicht gebe; ich könnte Ihnen genügend Beispiele nen- – Gut, einen Grundkonsens. – Ich kann Ihnen sagen: Es nen –, dort, wo es möglich ist, belohnt werden kann? gibt vielleicht die Möglichkeit, gemeinsame Positionen Wer freiwillig mehr macht, könnte zum Beispiel dadurch zu erarbeiten. Dabei denke ich zum Beispiel an die Dis- belohnt werden, dass er von bürokratischem Aufwand kussion in den letzten Tagen darüber, ob wir gemeinsam entlastet wird. eine Initiative zur Verbesserung der Exportchancen der erneuerbaren Energien starten sollen. Darüber können (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir durchaus gemeinsam nachdenken. Auf diese Weise würden Anreize in die Umweltpoli- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Na klar! tik eingebaut; dies wäre ein intelligenter Weg, um die Aber Sie müssen sich dann verändern!) Umweltpolitik in der täglichen Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Mittelstand attraktiver zu machen. Es In dieser Frage muss es doch nicht zu einem ideologi- reicht einfach nicht aus, solche Initiativen in einem In- schen Diskurs über Grundsatzpositionen kommen. Ich formationsblatt des Bundesumweltministeriums lobend bin zwar bereit, hier gemeinsame Positionen mitzutra- zu erwähnen, auch wenn dies schön und wichtig ist. Auf gen. Aber der entscheidende Punkt ist, welche Instru- Dauer muss von der Umweltpolitik das Signal kommen, (B) mente wir in einer schwierigen Situation für die Um- dass derjenige belohnt wird, der sich besonders umwelt- (D) weltpolitik einsetzen, die gleichzeitig der Erreichung der freundlich verhält. umweltpolitischen Ziele – das ist weiter als wichtig zu erachten – und der Stärkung der Wachstumskräfte in die- Wir brauchen ein unbürokratisches und flexibles Um- sem Land dienen. Umweltpolitik muss auch Bestandteil weltrecht. Deshalb benötigen wir auch einen neuen An- einer Modernisierungspolitik in Deutschland sein. Das satz für das Umweltgesetzbuch. Ferner haben wir die ist doch der entscheidende politische Ansatz. ebenfalls in dem Gutachten angesprochene spannende Frage zu beantworten, welche Zuständigkeiten im Hin- (Beifall bei der CDU/CSU) blick auf die Umweltpolitik künftig im Rahmen des Fö- deralismuskompromisses gelten werden. Hier muss eine Dafür gibt es zwar Chancen. Die entscheidenden Fragen vernünftige Aufteilung der Kompetenzen im Umwelt- sind aber: Wo geht die Regierung hier voran? Wo gibt es recht das oberste Ziel sein. Außerdem muss das deutsche wirklich neue Instrumente? Wir müssen leider feststel- Umweltrecht schlanker und transparenter gestaltet wer- len, dass die Bilanz der Regierung in dieser Hinsicht den. schlecht ist. Die Regierung ist hier nicht auf der Höhe der Zeit. Das kann man nur mit großem Bedauern fest- Für einen Umweltminister wäre es eine lohnende stellen. Aufgabe, deutlich zu machen, wie man sinnvolle An- reize für eine gute Umweltpolitik geben kann, anstatt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- laufend Schlagzeilen mit der Überschrift zu produzieren, neten der FDP) die Wirtschaft habe versagt. Machen Sie endlich Um- Wir verfügen in Deutschland über ein großes Wissen weltpolitik in einem positiven Sinne! Nehmen Sie die in der Umwelttechnik. Deutsche Unternehmen haben Menschen mit, zeigen Sie ihnen, dass es sich lohnt, für sich in diesem Bereich große Kompetenzen erarbeitet Umweltschutz zu arbeiten! Damit könnten Sie einen gro- und sind weltweit führend. Genau hierin liegen große ßen Erfolg für die Umweltpolitik erzielen. Chancen und ein ungeheures Innovationspotenzial für Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. unser Land. Schaue ich mir mit Blick auf die Industrie- staaten, insbesondere aber mit Blick auf die Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lungs- und Schwellenländer den großen weltweiten Be- darf an Umwelttechnik an, sehe ich hier ein erhebliches Wachstumspotenzial für unser Land und die heimische Präsident Wolfgang Thierse: Wirtschaft. Ich erteile Bundesminister Jürgen Trittin das Wort. 11988 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- gehören solche Projekte wie die Umsetzung des Prinzips (C) schutz und Reaktorsicherheit: „ein Stoff – eine Registrierung“. Das ist nicht nur gut, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr weil es Tierversuche vermeidet, sondern das ist auch Paziorek, Sie haben mir eben viele Felder vorgeschla- deshalb gut, weil es ein ganz wesentlicher Schritt ist, gen, die ich anpacken sollte, damit Sie, wenn ich es täte, Bürokratie im neuen Chemikalienrecht abzubauen. dagegen sein könnten. Insofern war dies kein hilfreicher (Birgit Homburger [FDP]: Bitte? – Dirk Beitrag. Niebel [FDP]: Haben Sie das mal mit der (Georg Girisch [CDU/CSU]: Herr Minister, BASF besprochen? – Zuruf von der CDU/ das ist zu billig!) CSU: Das kann doch nicht wahr sein!) – Das ist relativ einfach. Wenn ein Stoff nur einmal ge- Sie haben zu Recht auf das Motto des Gutachtens testet wird, vermindert das den Aufwand. Wenn der glei- hingewiesen: „Umweltpolitische Handlungsfähigkeit si- che Stoff zehnmal getestet wird, hat man den zehnfachen chern“. Will man die Handlungsfähigkeit der Umwelt- Aufwand. Einfacher geht Bürokratieabbau nicht, liebe politik sichern, muss man als Erstes vorhandene Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Erkenntnisse in Politik umsetzen. Wenn man beispiels- weise erkennt, dass wir in Deutschland zu viel Fläche Ein anderes Beispiel. Wenn man heute nicht nur Erb- verbrauchen und zugleich einen Wohnungsleerstand mit gut verändernde und Krebs erzeugende, sondern auch steuerfinanziertem Abriss bekämpfen, dann ist es sinn- schwere Allergien erzeugende und chronisch toxische, voll, eine umweltpolitisch kontraproduktive Subvention also hoch giftige Stoffe einer Autorisierung unterwirft wie die Eigenheimzulage endlich abzubauen. – das vertreten die Chemieindustrie und auch die Bun- desregierung –, dann sorgt man nicht nur dafür, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr für Gesundheit und Umweltschutz getan wird, son- und bei der SPD) dern dann reduziert man selbstverständlich auch volks- wirtschaftliche Kosten, die durch chronische und Damit, dass Sie gegen den Abbau dieser Subvention schwerste Erkrankungen entstehen. sind, belegen Sie, dass Sie umweltpolitisch nicht hand- lungsfähig sind. Neben dem Anpacken solch schwieriger Probleme heißt umweltpolitische Handlungsfähigkeit aber auch, Sie sprechen davon, Subventionen abbauen zu wol- die eigenen Instrumente zu überprüfen; da stimme ich len. Zur gleichen Zeit muss ich lesen, dass ausgerechnet Ihnen voll und ganz zu, Herr Paziorek. Dann lesen Sie der FDP-Abgeordnete Goldmann dafür plädiert, den Ab- aber auch einmal nach, was der Sachverständigenrat bau der Subventionierung des Agrardiesels rückgängig über die freiwilligen Selbstverpflichtungen sagt. Er zu machen oder diese Subvention gar noch zu erhöhen. sagt, das sei an vielen Stellen nichts anderes als business (B) (D) as usual. Das ist ein Instrument, das einer ganz genauen (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist doch Überprüfung bedarf. Es gibt gute Beispiele wie die keine Subvention!) Selbstverpflichtung zum Verzicht auf Fluorkohlenwas- Angesichts dessen kann ich nur sagen, dass es mit Ihrer serstoffe. Es gibt aber auch Beispiele dafür, dass eine umweltpolitischen Handlungsfähigkeit nicht weit her ist, Selbstverpflichtung schlicht und ergreifend versagt hat. meine Damen und Herren. Eine dieser Selbstverpflichtungen mussten wir gerade zusammen mit der CSU in Bayern – dafür bedanke ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mich ausdrücklich – korrigieren, nämlich die Selbstver- und bei der SPD – Georg Girisch [CDU/CSU]: pflichtung der deutschen Getränkeindustrie, 72 Prozent Das hat aber einen anderen Grund!) Mehrwegverpackungen zu erreichen. Man ist bei fast 50 Prozent gelandet. Deshalb war es an der Zeit, dazu Will man umweltpolitisch handlungsfähig sein, muss eine vernünftige Regelung zu finden. Dafür, dass jetzt man auch schwierige Probleme beherzt anpacken. In der eine vereinfachte Regelung gefunden wurde, danke ich Richtung haben Sie sich ja nicht sehr bewegt, Herr der Bayerischen Staatsregierung. Paziorek. Wir haben 1999 den Anstoß für eine neue Chemikalienpolitik innerhalb der Europäischen Union (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gegeben. Bis heute werden Zehntausende von Altstoffen SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Georg ungeprüft in Verkehr gebracht. Lesen Sie einmal nach, Girisch [CDU/CSU]: Nachbesserung in was der Sachverständigenrat dazu sagt! Er sagt – wörtli- Sicht!) ches Zitat –: Die alte Chemikalienpolitik ist ein Groß- Meine Damen und Herren von der CDU, Sie werden experiment mit Mensch und Natur. – Wir wollen dieses dann die Chance haben, Herrn Stoiber zu widerlegen. Großexperiment mit einem vereinfachten Verfahren be- Herr Stoiber hat nämlich gesagt, die CDU müsse aufhö- enden, nach dem alle Chemikalien, alte wie neue, regis- ren, im Bundestag ständig Umweltpolitik zu blockieren. triert werden und besonders gefährliche Stoffe entspre- Bei der Abstimmung über den Kompromiss des Bundes- chend autorisiert werden, und zwar nach strengen und rates zu einer einfachen Pfandregelung haben Sie, klar definierten Maßstäben. meine Damen und Herren von der CDU, also alle Chan- cen, Herrn Stoiber zu widerlegen. Mit dieser Position unterstützt der Sachverständigen- rat die Linie, die die Bundesregierung zusammen mit der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chemischen Industrie und der Chemiegewerkschaft ver- sowie bei Abgeordneten der SPD – Georg treten hat, nämlich für ein neues, umweltpolitisch ambi- Girisch [CDU/CSU]: Erst wollen wir wissen, tioniertes, aber auch schlankes Chemikalienrecht. Dazu ob er das auch gesagt hat!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 11989

(A) Präsident Wolfgang Thierse: – Nein, ich beantworte Ihre Frage noch. Danach dürfen (C) Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Sie sich setzen. Ich bin immer noch dabei, Ihre Frage zu Kollegen Niebel? beantworten. Immer mit der Ruhe! (Dirk Niebel [FDP]: Ich dachte gerade, Sie Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- reden mit einem anderen Kollegen!) schutz und Reaktorsicherheit: Nach Ihrem Recht war Coca-Cola mit Schnaps pfand- Bitte, bitte. frei, während Coca-Cola ohne Schnaps bepfandet war. Auch das haben wir abgeschafft. Dirk Niebel (FDP): (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist ja Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Minister, Sie spra- auch gut so!) chen gerade das Dosenpfand an, wie es im Volksmund Ich bin ganz froh, dass die FDP für weitere Vereinfa- genannt wird. Die EU-Kommission hat übrigens eine chungen beim Pfand eintritt. Wir alle sind froh darüber, eigene Meinung dazu. Sie sprachen in diesem Zusam- wenn Sie sich an solchen Vereinfachungen beteiligen. menhang von einer Vereinfachung. Als Arbeitsmarkt- Aber die erste Voraussetzung ist, Herr Niebel, dass Sie politiker versuche ich, mich da hineinzudenken; die Um- den Unsinn, den Sie 1998 an dieser Stelle angestellt ha- weltpolitiker haben ja ein sehr komplexes Themenfeld ben, mit uns endlich gemeinsam beseitigen. Wenn das zu bearbeiten. geschieht, dann sind wir wirklich auf einem vernünf- tigen Wege und dann reden wir über weitere Vereinfa- Können Sie mir erklären, was es für den Verbraucher chungen. einfacher macht, zu erkennen, wann Pfand zu zahlen ist und wann nicht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Erst trinken!) Jetzt dürfen Sie sich setzen. wenn zum Beispiel für einen Fruchtsaft, beispielsweise Umweltpolitik und umweltpolitische Handlungsfä- Orangensaft, kein Pfand notwendig ist, aber für ein higkeit beweist man im Übrigen auch durch Beharrlich- Fruchtsaftgetränk, beispielsweise Orangensaft mit Kal- keit. Wir müssen dafür sorgen – Michael Müller hat da- zium, vom gleichen Erzeuger, in der gleichen Flasche, rauf hingewiesen –, dass sich das globale Klima nicht Pfand notwendig ist? Ich verstehe nicht, was daran eine um mehr als 2 Grad Celsius erwärmt. Eines ist nach die- Vereinfachung ist. ser Sturmsaison in Japan, in Florida doch unübersehbar: (B) Nichtstun beim Klimaschutz ist schlicht und ergreifend (D) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der unverzeihlich. Ich höre immer wieder Argumente, wie CDU/CSU – Georg Girisch [CDU/CSU]: Man teuer Klimaschutz sei. Allein die vier Tornados dieses merkt es erst, wenn man es getrunken hat! – Jahres haben in Florida mehr als 25 Milliarden US-Dol- Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) lar Schaden angerichtet. Am teuersten käme es uns zu stehen, beim Klimawandel nichts zu tun. Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schutz und Reaktorsicherheit: und bei der SPD) Lieber Herr Niebel, ich kann mir auch noch einfa- Ich bin deswegen so froh, dass es gelungen ist, dass chere Regelungen vorstellen. Wenn Sie die Position der das Kioto-Protokoll demnächst in Kraft gesetzt wird. Bundesregierung dazu betrachten, dann müssen Sie fest- Mit der Ratifizierung wird dieser Deckel auf die globale stellen: Die von ihr vorgesehene Regelung war noch ein- Erwärmung völkerrechtlich verbindlich. Das ist ein Er- facher. folg europäischer Beharrlichkeit. Ich sage dem Bundes- Wenn Sie die jetzige Regelung aber mit dem Rechts- kanzler Danke schön, der sich an dieser Stelle wirklich zustand, den die FDP mit Frau Merkel und Herrn Kohl mit Nachdruck und Beharrlichkeit bei Russland dafür eingesetzt hat, dass es diesen Weg der Völkergemein- herbeigeführt hat, vergleichen, so sehen Sie die Verein- schaft mitgeht. fachung ganz klar. Nach Ihrem Recht gab es eine Unter- scheidung zwischen Mineralwasser mit und ohne Spru- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN del. Diese Differenzierung haben wir abgeschafft. und bei der SPD) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Bitte, nicht Dies ist aber nur der Anfang. Wir müssen diesen Weg weiter! Es stimmt nicht! – Georg Girisch auf der nächsten Klimakonferenz in Buenos Aires wei- [CDU/CSU]: Falsch!) tergehen. Klimaschutz ist eine langfristige Aufgabe. Wir müssen unsere Verpflichtungen erfüllen. Wir müssen – Doch, es ist so. Herr Kollege Girisch, die bisherige mehr Staaten – gerade diejenigen, die pro Kopf sehr viel Rechtslage ist, dass Mineralwasser mit Sprudel bepfan- Treibhausgase emittieren – einbeziehen und wir müssen det ist und Mineralwasser ohne Sprudel nicht bepfandet weiterhin unsere Rolle spielen, indem wir uns neue Ziele ist. Diese Unterscheidung haben wir gemeinsam abge- setzen. Die Bundesregierung hat vorgeschlagen, dass schafft. Seien wir froh darüber! Deutschland bis 2020 40 Prozent seiner Treibhausgas- emissionen einspart, wenn sich die EU zu einer Reduk- (Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]) tion von 30 Prozent in diesem Zeitraum verpflichtet. 11990 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Bundesminister Jürgen Trittin (A) Ich komme zum Schluss. Umweltpolitische Hand- Schauen wir uns einmal an, was der Sachverständi- (C) lungsfähigkeit gewinnt man unter anderem dadurch, genrat zur Zielsetzung der Umweltpolitik sagt: Er dass man beim Klimaschutz, beim Umweltschutz und schreibt Ihnen, Herr Umweltminister Trittin, ins Stamm- bei einer Politik der Nachhaltigkeit den Mut zu einer buch, dass das ursprünglich beschlossene nationale Ziel Vorreiterrolle hat. In diesem Sinne danke ich dem Sach- der Reduktion der Treibhausgasemissionen um verständigenrat, der uns in dieser Auffassung nachdrück- 25 Prozent verfehlt wurde. lich unterstützt hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU) und bei der SPD) Sie haben alle Warnungen ungehört verhallen lassen. Wir haben Sie mehrfach aufgefordert, auf ein effizientes Präsident Wolfgang Thierse: Instrument zurückzugreifen, nämlich den Emissions- Ich erteile das Wort der Kollegin Birgit Homburger, handel. Jetzt wird es gemacht, aber nur deshalb, weil die FDP-Fraktion. Europäische Union es uns vorschreibt, und Sie tun es dazu noch halbherzig und bürokratisch. Herr Kollege Birgit Homburger (FDP): Paziorek hat zu Recht schon auf diesen Punkt hingewie- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sen. Darüber hinaus verhalten Sie sich auch noch wider- sprechen heute in der Tat in der Kernzeit über ein um- sprüchlich: Sie führen zwar zum 1. Januar nächsten Jah- weltpolitisches Thema. So haben auch Sie, Herr Kollege res den Emissionshandel ein, der vom Instrument her Müller, am Anfang hier gesagt, man müsse die Aktivitä- eine Zielerreichung garantiert, behalten aber alle ande- ten in der Umweltpolitik einmal wieder in den Mittel- ren ordnungsrechtlichen Instrumente von der Ökosteuer punkt stellen. Schön wäre es, wenn Sie das wirklich ak- über das KWK-Gesetz bis hin zum EEG bei. tiv betrieben hätten. Tatsache ist doch, dass Sie die Reform des Energiewirtschaftsrechts, das heute Morgen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) hier in der Kernzeit hätte beraten werden sollen, nicht Das zeigt doch ganz klar: Sie wollten das Instrument fertig bekommen haben. Sie haben sich dann gefragt, nicht und vertrauen ihm nicht. Sie arbeiten mit Netz und was zu tun wäre, und haben das Umweltgutachten 2004 doppeltem Boden. Das ist nicht das, was wir brauchen. auf die Tagesordnung gesetzt. Das lag nämlich vor; das Vielmehr brauchen wir effizienten Umweltschutz. haben schließlich andere geschrieben, das haben Sie nicht selber machen müssen. Das entspricht meines Er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) achtens nicht der Schwerpunktsetzung in der Umwelt- politik, von der Sie in Ihrer Rede gesprochen haben. Dasselbe gilt doch auch für die Nutzung der flexiblen (B) Instrumente des Kioto-Protokolls. Wir könnten un- (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – glaublich viel für den Klimaschutz erreichen, wenn wir Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Mein endlich diese flexiblen Instrumente des Kioto-Protokolls Gott, sind Sie kleinkariert, Frau Homburger! in Deutschland zulassen würden. Das haben Sie eben- Kleinkariert bis dort hinaus! Das ist das Mar- falls versäumt. Auch die Linking Directive ist noch nicht kenzeichen der FDP!) umgesetzt. Wir handeln erst wieder aufgrund europäi- scher Richtlinien. Ich kann nur sagen, dieses Gutachten, das über 600 Seiten umfasst, gibt wirklich eine sehr umfassende (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es! Darstellung der Umweltpolitik. Man müsste sich auch Völlig richtig!) eine ganze Reihe von Dingen noch genauer anschauen, die man hier heute Morgen gar nicht so detailliert behan- Es hätte uns gut getan, zuzulassen, dass auch Minderun- deln kann. Es finden sich aber auch einige Punkte wie- gen der Emissionen, die deutsche Firmen durch Investi- der, die auch in der politischen Diskussion Schwer- tionen in den Klimaschutz im Ausland erzielen, in punkte darstellen. Deshalb wäre es, Herr Kollege Müller, Deutschland angerechnet werden; denn mit 1 Euro kön- schon angebracht gewesen, nicht Grundsatzdiskussionen nen sie im Ausland deutlich mehr erreichen als in über die weltpolitische Lage zu führen, sondern zu sa- Deutschland. Das Klima ist nun mal eine globale Er- gen, wie Sie diese Themenfelder, die hier angesprochen scheinung und nicht etwas, was hier in Deutschland al- wurden, politisch umsetzen und wie Sie insgesamt den lein zu regeln ist. Deswegen fordern wir Sie auf, solche Umweltschutz verbessern wollen. Das haben Sie heute Anrechnungsverfahren endlich auch in Deutschland zu- Morgen versäumt. zulassen. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie sind (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wirklich kleinkariert!) der CDU/CSU) Im Zusammenhang mit der Klimapolitik möchte ich Ich finde es schon bemerkenswert, dass die beiden Ihnen ganz klar sagen, dass es eine Gemeinsamkeit be- Protagonisten, die Herren Trittin und Müller, es vorzie- züglich des Ziels gibt, aber nicht über den Weg, wie die- hen, miteinander zu schwätzen, wie man im Süddeut- ses Ziel erreicht werden kann. Deswegen sollten Sie, be- schen sagt, anstatt der Debatte zu folgen. Umgekehrt er- vor Sie uns hier auffordern, gemeinsam etwas zu tun, heben sie aber immer den Anspruch, dass man zuerst einmal über Konzepte nachdenken und darüber, miteinander etwas ordentlicher umgehen sollte. Sie wie was vernünftig umgesetzt werden kann. könnten jetzt ein Zeichen dafür setzen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 11991

Birgit Homburger (A) (Dr. [CDU/CSU]: Arrogantes Ich möchte noch etwas zu dem Schwerpunkt Ener- (C) Gehabe auf der Regierungsbank und der Präsi- giepolitik sagen. Wenn wir den erneuerbaren Energien dent greift nicht ein! – Dr. Uwe Küster [SPD]: in Deutschland eine große Zukunftschance geben wol- Die beiden Herren können beides! Im Gegen- len, dann müssen wir auf der einen Seite den Export för- satz zu Ihnen! Sie können reden, ohne zu den- dern; das täten wir über die flexiblen Mechanismen des ken! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Paziorek Kioto-Protokolls. Zum anderen sollten wir die Energie- [CDU/CSU]: Was? Reden, ohne zu denken?) speicherforschung voranbringen. Wenn wir es schaffen würden, Energien, die jetzt nur zeitweise zur Verfügung Herr Minister Trittin, Sie haben in Ihrer Rede bemer- stehen, wie beispielsweise die Windenergie, dauerhaft zu kenswerterweise im Zusammenhang mit dem Thema speichern und damit grundlastfähig zu machen, dann Agrardiesel den Subventionsabbau angesprochen. wäre das ein großer Fortschritt im Bereich der erneuer- Dazu möchte ich Ihnen vor dem Hintergrund, dass un- baren Energien. sere deutsche Landwirtschaft sich im internationalen Wettbewerb behaupten muss, eines sagen: In Frankreich Wir haben im Rahmen des Haushalts und auch mit ei- wird gerade zu dieser Zeit die Steuer auf den Agrardiesel nem eigenen Antrag die Förderung der Speichertechno- von 5,7 auf 2 Cent je Liter gesenkt. In Deutschland da- logie und eine Aufstockung der Mittel dafür gefordert. gegen wird sie von 25 auf 40 Cent je Liter erhöht. Wir haben im Übrigen auch einen Gegenfinanzierungs- vorschlag dafür gemacht. Sie haben all diese Anträge ab- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau das ist gelehnt. Wenn so weitergemacht wird, kommen wir das Problem!) nicht voran. Die technischen Möglichkeiten müssen aus- Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Mit dieser Maß- geschöpft werden und es muss innovativ gedacht wer- nahme werden Sie nicht nachhaltig die klimapolitischen den. Das wollen wir und das unterscheidet uns. Ziele in Deutschland erreichen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Die machen Zum Thema Abfallpolitik, Herr Minister Trittin, nachhaltig etwas kaputt!) gäbe es viel zu sagen. Die Abschaffung der Gewerbeab- sondern die Landwirtschaft in Deutschland weiter fallverordnung würde – da stimmt uns der Sachverstän- schwächen und kaputtmachen. digenrat tatsächlich zu; das wird Sie nicht besonders er- freuen – umweltpolitisch keinerlei Nachteile bringen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aber einen großen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten. Um das eigene Versagen in der Klimapolitik zu vertu- Was das Zwangspfand angeht, Herr Minister Trittin, (B) schen, haben Sie im Koalitionsvertrag 2002 selber ein kommen Sie permanent mit den alten Argumenten. Sie (D) neues Ziel proklamiert, das Sie zum Ende Ihrer Rede müssen sich endlich einmal vor Augen halten, dass im hier angesprochen haben; es ist bemerkenswert, dass Sie Jahr 2000 eine entscheidende Wende erfolgt ist, weil wir sich das nach dem Gutachten des Sachverständigenrates seither neue Ökobilanzen haben. Seither fordert die FDP überhaupt noch trauen. Sie haben nämlich beschlossen, eine Neuorientierung, eine einfache, bürgerfreundliche dass man, wenn die EU bereit wäre, die Treibhausgase Lösung. Dem haben Sie sich die ganze Zeit störrisch bis zum Jahr 2020 gegenüber 1990 um 30 Prozent zu widersetzt. Jetzt haben Sie eine europarechtswidrige senken, in Deutschland eine Reduzierung um 40 Prozent Novelle nicht nur im Bundesrat beschließen lassen, son- erreichen wolle. Ich sage Ihnen einmal, was der Umwelt- dern auch noch übernommen. Das ist Unsinn und bringt rat dazu geschrieben hat: dass dies eine Diskreditierung keine Rechtssicherheit. Wir wollen in diesem Bereich eines zielorientierten Umweltpolitikansatzes und die eine einfache Regelung, die vor allem Rechtssicherheit Diskreditierung der Glaubwürdigkeit noch anspruchs- für die Betroffenen bringt. Die brauchen wir, wenn wir vollerer Zielvorgaben sei. die Investitionen fördern wollen. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Genau so ist es, Herr Minister Trittin. Das, was Sie Zusammenfassend möchte ich klarstellen, dass es in hier machen, ist für mich nichts anderes als versuchte allen Bereichen, die angesprochen wurden, unter der Volksverdummung. Das wird man Ihnen nicht abneh- Verantwortung von Rot-Grün mehr Bürokratie und we- men; ernsthafte Umweltpolitik sieht anders aus. niger Wettbewerb gibt. Damit haben Sie aber nicht un- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bedingt mehr umweltpolitische Handlungsfähigkeit erreicht. Wenn Sie die umweltpolitische Handlungsfä- Ich verstehe, dass Sie die Ratschläge der FDP higkeit sichern wollen, dann müssen Sie auch in der Um- ungerne hören. Vielleicht können Sie sich stattdessen die weltpolitik Wettbewerb zulassen. Dann müssen Sie Ratschläge Ihres eigenen Sachverständigenrates an- auch in diesem Bereich dafür sorgen, dass effizienter ge- schauen, in denen sich viele unserer Positionen zur Ener- arbeitet wird, weil damit erstens die Kosten für die Ar- giepolitik, zur Abfallpolitik, zur Energiespeicherfor- beitsplätze reduziert werden und zweitens die Bereit- schung, zum Lärmschutz oder auch zur Ökosteuer schaft der Bevölkerung, Umweltpolitik zu akzeptieren, – auch bei der Ökosteuer ist die Linie von Rot-Grün erhalten bleibt und ausgebaut wird. Das erreicht man nur nicht so klar übernommen – wiederfinden, die wir im- mit vernünftigen Regelungen und Kostenreduktion auch mer wieder vorgetragen haben. Zu all diesen Themen hat im Umweltschutzbereich. Ich will ein hohes materielles der Sachverständigenrat deutliche Hinweise gegeben. Umweltschutzniveau. Wir alle, die wir auf dem Gebiet 11992 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Birgit Homburger (A) der Umweltpolitik arbeiten, wollen dies. Aber ich politik und betont zu Recht die finale Verantwortung und (C) möchte auch, dass die Umweltpolitik effizient, wettbe- die Garantiefunktion der Politik in einem demokra- werblich und vor allen Dingen unbürokratisch organi- tischen Rechtsstaat; denn nur sie hat die Verpflichtung, siert wird. Daran sind Sie, Herr Trittin, gescheitert. Ge- auf das Allgemeinwohl zu achten, Zukunftsvorsorge zu nau darüber wird es in den nächsten zwei Jahren in betreiben und auch an die nächsten Generationen zu den- diesem Parlament eine Auseinandersetzung geben. ken. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mehr Politik heißt aber nicht automatisch mehr Büro- Präsident Wolfgang Thierse: kratie und mehr Gesetze. Politik heißt: klare, verlässli- Ich erteile das Wort Kollegin Astrid Klug, SPD-Frak- che Vorgaben und auch den Mut zur Vorreiterrolle, der tion. international verbindliche Regeln folgen. Ziel muss also sein, Probleme wie Luft- und Gewässerverschmutzung gar nicht erst entstehen zu lassen. Dann braucht man Astrid Klug (SPD): auch keine komplizierten Gesetze und Verordnungen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das um sie zu beseitigen. Umweltgutachten 2004, das wir heute diskutieren, offen- bart Licht und Schatten in der Umweltpolitik. Aber wen (Zuruf von der SPD: Richtig!) wundert’s? Der Sachverständigenrat befürchtet zu Recht ein ge- Mit der ökologischen Steuerreform, der Modernisie- nerelles Zurückschrauben umweltpolitischer Ziele in der rung des Naturschutzrechtes, dem Ausstieg aus der nationalen und in der europäischen Politik. In diesem Atomenergie und dem konsequenten Einstieg in die För- Sinne sind auch so manche aktuellen Tendenzen in der derung erneuerbarerer Energien haben wir in Deutsch- derzeitigen Föderalismusdebatte kontraproduktiv für land in den letzten Jahren wichtige Weichen für die öko- den Umwelt- und Naturschutz. Wer aufmerksam beob- logische Modernisierung gestellt, und das oft gegen achtet, wie die Bundesländer ihre Landesnaturschutzge- den nicht unerheblichen Widerstand der Opposition und setze der Rahmengesetzgebung des neuen Bundesnatur- von Teilen der Wirtschaft. schutzgesetzes anpassen, der kann sich über das breite (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Spektrum der Interpretationsfreude in den Ländern nur DIE GRÜNEN) wundern. Während sich einige Länder ernsthaft um eine konstruktive und sachdienliche Umsetzung der vorgege- (B) Aber der Sachverständigenrat beklagt zu Recht – wir benen Ziele bemühen, wollen andere in erster Linie (D) Umweltpolitiker spüren es jeden Tag; das gilt genauso durch die Hintertür den Naturschutz reduzieren und für die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU Standards absenken. Ein Wettbewerb um die beste Lö- und der FDP –, dass Zukunftsvorsorge schwerer durch- sung sieht anders aus. zusetzen ist in Zeiten, in denen Menschen um ihre Ar- beitsplätze bangen und in denen Unternehmen, die teil- Man kann sich ausmalen, wie der Wettbewerb aus- weise ihre Managementhausaufgaben nicht gemacht sähe, wenn es nicht wenigstens die Rahmengesetzge- haben, ihre Verantwortung für den Standort Deutschland bung des Bundes gäbe, wenn aber jedes Land seine eige- aufgeben und aus Gründen kurzfristiger Gewinnmaxi- nen Maßstäbe setzen könnte. Der Länderwettbewerb um mierung – das langfristige Denken, auch das wirtschaft- Umweltstandards wäre eine Abwärtsspirale und eine Ka- liche Denken, tritt dabei in den Hintergrund – ihre Zelte pitulation gegenüber der Zukunft. Luft, Flüsse und Le- am liebsten dort aufschlagen, wo Menschen zu bensräume enden nicht an Grenzen. Dann darf das dafür Niedrigstlöhnen beschäftigt werden können, wo es keine notwendige Naturschutzrecht auch nicht an Grenzen en- Arbeitsschutzbestimmungen und keinen Immissions- den. schutz gibt. Aber ohne Immissionsschutzgesetze und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entsprechende Regelungen, die die Politik vorgibt, wird des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Luft verpestet. Dadurch werden die Menschen krank und wird die Qualität des Klimas, das unsere Kinder und Gerade das gemeinsame europäische Umweltrecht Enkel einmal vorfinden werden, aufs Spiel gesetzt. In ei- hat für die Umweltpolitik Fortschritte gebracht, weil es nem unkontrollierten globalisierten Markt kann die Standards setzt, die europaweit gelten und die auch von Unternehmen offensichtlich niemand daran hindern. So unseren Nachbarn akzeptiert und umgesetzt werden. Das ist die Methode „Erpressung“, die in diesem Umweltgut- ist die richtige Antwort auf die Globalisierung und den achten beklagt wird und die zulasten der Umwelt und auf Wettbewerb. Anstatt Kompetenzen in Deutschland noch Kosten der nächsten Generationen angewandt wird, zu weiter aufzusplittern, muss das Umweltrecht im Gegen- einem zweifelhaften Spiel in der Politik geworden. teil einfacher und einheitlicher werden. Dann wären wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in der Lage, EU-Recht ohne Vertragsverletzungsverfah- DIE GRÜNEN) ren zeitnah in Deutschland umzusetzen. Deshalb freue ich mich über das deutliche Votum des Sachverständi- Herr Dr. Paziorek, wir brauchen deshalb ein Mehr an genrates für eine Stärkung der Bundeszuständigkeiten Politik und nicht weniger Politik. Das Gutachten macht im Wasserrecht, im Naturschutz und in der Landschafts- Vorschläge für neue Steuerungskonzepte in der Umwelt- pflege und unterstütze dieses Votum nachdrücklich. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 11993

Astrid Klug (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ckeln dafür die nationale Nachhaltigkeitsstrategie weiter. (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sorgen dafür, dass sie stärker mit der Tagespolitik vernetzt wird. Wir sind dankbar für die vielen hilfreichen Die Umweltpolitik ist in den Augen der Bürgerinnen Vorschläge, die das Umweltgutachten dazu enthält. Wir und Bürger keineswegs Luxus. Das zeigt die aktuelle müssen Politik heute so gestalten, dass sie auch morgen Umweltstudie über das Umweltbewusstsein in noch richtig ist. Deutschland. 92 Prozent der Bevölkerung halten den Umweltschutz für wichtig. 58 Prozent befürchten, dass Das Umweltgutachten gibt uns dabei viele Hausauf- wir auf eine Umweltkatastrophe zusteuern, wenn wir so gaben mit auf den Weg. Es mahnt noch mehr Entschlos- weitermachen wie bisher. Umweltpolitik ist also heute senheit bei der Durchsetzung von Umweltinteressen an. – auch in wirtschaftlich angespannten Zeiten – kein Es macht aber auch mit sehr vielen konkreten Vorschlä- Luxus. gen Mut. Das Gutachten ist ein wichtiger Beitrag zur Versachlichung vieler Debatten. Dafür ein ausdrückli- Aber die Umweltpolitik steht vor neuen Herausforde- ches Dankeschön an die Sachverständigen! rungen; denn es sind nicht mehr die stinkenden Flüsse, die die Menschen aufschrecken und aktiv werden lassen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 82 Prozent der Menschen sind mit der Umweltsituation 63 Prozent der Bevölkerung wollen ebenfalls, dass in ihrem unmittelbaren Umfeld durchaus zufrieden. Das wir im Umweltschutz noch stärkere Anstrengungen un- ist ein Erfolg der nationalen und europaweiten Umwelt- ternehmen. Wir fühlen uns bestätigt und bestärkt, unse- politik der letzten Jahre und Jahrzehnte. Die Luft- ren Weg weiterzugehen. reinhaltepolitik hat dafür gesorgt, dass die klassischen Luftschadstoffe erheblich gesunken sind. Die Schwefel- In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksam- dioxidemissionen sind in den letzten 20 Jahren um keit. 90 Prozent zurückgegangen. Handlungsbedarf gibt es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ noch beim lungengängigen Feinstaub. Deshalb freue ich DIE GRÜNEN) mich, dass auch der Sachverständigenrat die rot-grüne Forderung nach deutlich strengeren Partikelgrenzwer- ten für Dieselfahrzeuge ausdrücklich unterstützt. Wir Präsident Wolfgang Thierse: fühlen uns da in unserer Position bestätigt. Ich erteile das Wort Kollegen Josef Göppel, CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

(B) Die Herausforderungen ändern sich. Heute sind es die (D) globalen, langfristigen und oft nicht unmittelbar sichtba- Josef Göppel (CDU/CSU): ren Bedrohungen, wie der Klimawandel, die den Men- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schen Sorgen bereiten. Das sind die Bedrohungen, für Warum haben wir es momentan so schwer, vorsorgende die wir heute die Ursachen säen, deren Ernte aber erst Umweltpolitik durchzusetzen? Ich denke, einerseits die nächsten Generationen verdauen müssen. Die wer- kommt es daher, dass die ungeregelte Globalisierung un- den sich ganz übel daran verschlucken, wenn wir nicht sere deutsche Wirtschaftswelt und auch das Leben in den auch unter schwierigen Rahmenbedingungen damit wei- Industrieländern verändert. Mit ungeregelter Globalisie- termachen, Vorsorge zu betreiben, zum Beispiel damit, rung meine ich, dass sich im Wettbewerb diejenigen dass wir in die erneuerbaren Energien investieren und durchsetzen, die die geringsten Löhne zahlen und die nicht zulassen, dass fossile Energieträger irgendwann wenigste Rücksicht auf die Natur nehmen. Andererseits verbraucht sind und weltweit der Kampf um die letzten frage ich mich aber auch, ob nicht der Grundansatz der Energiereserven ausbricht. Der Preiskampf hat schon deutschen Umweltpolitik etwas damit zu tun hat. heute begonnen. Aber wenn die Reserven irgendwann Herr Minister Trittin, manchmal kommt es mir so vor, zur Neige gehen, wird es nicht bei einem Preiskampf als ob Ihre Umweltpolitik in der Gefühlswelt und im bleiben. Die Energiefrage wird noch mehr als heute eine Meinungsklima der 80er-Jahre wurzelt, existenzielle Frage von Krieg und Frieden werden. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stehen geblieben!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) als diese internationalen Anforderungen noch nicht an Was antworten wir, wenn unsere Kinder und Enkel uns gestellt wurden und wir uns in wirtschaftlicher Si- irgendwann fragen, warum wir nicht rechtzeitig umge- cherheit wähnten. Ich bin der Überzeugung, dass wir den steuert haben? Sagen wir ihnen dann: „Der eine Euro pro Grundansatz der deutschen Umweltpolitik so ändern Monat mehr auf der Stromrechnung, den das bedeutet müssen, dass Umweltvorsorge bewusst mit wirtschaftli- hat, war uns zu viel“? Wir sagen schon heute Nein und chen Effekten, mit Innovationen und neuen Arbeitsplät- steuern deshalb um. zen verbunden wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich nenne aus dem Gutachten des Umweltrates drei Die Antwort muss heute lauten: Wir setzen konse- konkrete Punkte: Der erste Punkt betrifft die Energie- quent auf eine nachhaltige Entwicklung. Wir entwi- einsparung im deutschen Altbaubestand. Das ist der 11994 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Josef Göppel (A) größte Einzelbeitrag, den wir in unserem Land zur Sen- bei dem dritten Beispiel: intakte Landschaften. Es gibt (C) kung des CO2-Ausstoßes erbringen können. Wenn wir eine Studie des Berlin-Instituts mit dem Titel „Deutsch- dafür Anreize geben, setzen wir zugleich Anreize für das land 2020“. Auch darin findet sich eine hochinteressante örtliche Bauhandwerk und damit zur Schaffung von Ar- Aussage in der Verknüpfung der Bevölkerungsentwick- beitsplätzen in Deutschland. Eigentümer würden durch lung, der wirtschaftlichen Weiterentwicklung Deutsch- eine Wertsteigerung ihrer Häuser profitieren. Mieter lands und der Einstellung der Menschen. Das Berlin-In- würden durch die Senkung der Heizkosten profitieren. stitut schreibt: Für den Staat sind solche Anreize schnell rentabel, weil das Geld dafür über andere Steuern wieder herein- … im Wettbewerb guter Standorte entscheiden ge- kommt. sunde Natur, reiches kulturelles Angebot und aus- geprägter Regionalcharakter. Immer mehr Men- Ich darf dazu aus dem Gutachten des Umweltrates zi- schen wollen Ruhe und Weite finden. Naturräume tieren: gewinnen einen besonderen Wert. Insbesondere im Wohnungsbestand sind … bislang (Zuruf von der CDU/CSU: In Bayern!) beträchtliche Energiesparpotenziale ungenutzt ge- blieben. … Daher kann von Investitionskostenzu- Ich würde mir wünschen, dass das nicht nur in Bayern so schüssen ein stärkerer Investitionsanreiz ausgehen ist. als von äquivalenten Energiepreissteigerungen. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Münster hat Was heißt denn das? Das heißt, dass das Setzen auf hö- den Preis gewonnen!) here Energiepreise nach Meinung des Umweltrates we- – Genau. niger bewirkt als konkrete Anreize zur Senkung des En- ergieverbrauchs im Altbaubestand. Herr Minister Trittin, wo bleibt Ihre Naturschutzstra- tegie? Wo bleiben die Konzepte zur besseren Einbin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. dung der Landnutzer? Nur mit der besseren Einbindung Birgit Homburger [FDP]) der Landnutzer, der Land- und Forstwirte und all derje- nigen, die in der Landschaft wirtschaften, werden wir Ich nenne ein zweites Beispiel: Flächenverbrauch. weiterkommen und eine attraktive Natur erhalten kön- Beim Flächenverbrauch geht es inzwischen nicht mehr nen. Natürlich können wir mit schönen Landschaften al- nur um Umweltschutz. Viele Kommunalpolitiker mer- lein keine Arbeitsplätze schaffen, aber mit einer zerrütte- ken, dass die Erschließung zusätzlicher Flächen auch die ten Natur erst recht nicht. Das ist der entscheidende Fixkosten für den laufenden Unterhalt erhöht. Jede Neu- Punkt. (B) erschließung erhöht die Kosten zum Beispiel für den (D) Fahrbahnunterhalt, für die Leitungsnetze, für Beleuch- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tung bis hin zum Schneeräumen. Der Sachverständigen- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN rat schlägt hier als eines der wichtigsten Instrumente zur und der FDP) Reduzierung der Flächeninanspruchnahme unter ande- rem die Einführung handelbarer Flächenausweisungs- Ich möchte zusammenfassend einfordern: Wir brau- rechte kombiniert mit der Flächensteuerung über die chen eine Offensive der deutschen Umweltpolitik, die Raum- und Bauleitplanung vor. vorsorgend angelegt und wirtschaftlich von Nutzen ist, die Innovationen und Arbeitsmöglichkeiten eröffnet und Herr Minister Trittin, ich warte auch auf Ihre Vor- sozial gerecht ist. Dann werden wir die Umweltpolitik schläge zur Umorientierung der Grunderwerbsteuer und wieder mit der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik ver- zur Differenzierung der Grundsteuer. Allein mit Appel- knüpfen und damit ins Zentrum der politischen Interes- len bezüglich des Flächenverbrauchs werden wir nicht sen rücken können. weiterkommen, sondern wir müssen mit den Augen der Kommunalpolitiker die Kostengesichtspunkte als Maß- Die Umweltpolitiker müssen die grundlegenden Zeit- stab nehmen. Dann werden wir auch Einsparungen bei strömungen zur Grundlage ihrer Strategie machen. In Überbauungen sowie Erfolge in den Bereichen Innenent- den 80er-Jahren gab es andere Zeitströmungen, bei- wicklung, Mischnutzung und Flächenrecycling haben. spielsweise das Erschrecken der Menschen über die Kehrseite des Wohlstands. In der Reinhaltung von Was- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ser, Boden und Luft ist viel erreicht worden. Es ist aber neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE schwer, den Menschen die großen internationalen Be- GRÜNEN und der Abg. Birgit Homburger drohungen zu vermitteln. Deswegen müssen wir die Ver- [FDP]) knüpfung mit den wirtschaftlichen Effekten zum Grund- tatbestand der deutschen Umweltpolitik machen. Ich bin auch als langjähriger Kommunalpolitiker der Überzeugung: Wer beim Kostensparen fantasiereicher (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und schneller ist als andere, der schafft sich Freiräume neten der FDP) im doppelten Sinn: im finanziellen, aber auch bei der Freihaltung der Landschaft und in ihrer Qualität. Präsident Wolfgang Thierse: Ökologie kommt von Haushalten. Haushalten heißt, Ich erteile das Wort der Kollegin Undine Kurth, mit knappen Mitteln das Ziel erreichen. Damit bin ich Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 11995

(A) Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (C) GRÜNEN): SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen: Gefährdung und Bedrohung müssen er- Sehr geehrte Gäste auf den Rängen! In dieser Debatte fasst werden. Erst beides gemeinsam gibt uns die richti- sind schon viele Bereiche angesprochen worden. Des- gen Argumente für einen wirksamen Naturschutz und halb möchte ich mich auf den Bereich konzentrieren, der eine richtige Nachhaltigkeitspolitik an die Hand. Einflie- bisher noch nicht so häufig erwähnt worden ist, nämlich ßen müssen unsere Erkenntnisse über die Veränderungen Artenschutz, Naturschutz Schutz, der Biodiversität. der biologischen Vielfalt in viele Politikfelder. Wir kön- Vielleicht liegt es an der Sperrigkeit des Begriffs Biodi- nen mit dem Artenreichtum nicht umgehen, wie es in der versität, dass er nicht immer in den Vordergrund gestellt früheren DDR mit dem so genannten Volkseigentum ge- wird. Man wird den Verdacht nicht los, dass zwar die tan wurde, das angeblich allen gehörte, für das aber nie- Übersetzung verstanden wird, aber nicht unbedingt die mand zuständig war. Vielmehr gilt: Für den Natur- und Bedeutung. Ich glaube, dass es richtig ist, und ich be- Artenschutz müssen wirklich alle zuständig sein. Er ist danke mich dafür, dass im Umweltgutachten die Biodi- eine Querschnittsaufgabe im wahrsten Sinne des Wortes. versität einen wichtigen Punkt darstellt. „Querschnitt“ bedeutet allerdings nicht, dass man diese Wir erleben zwar, dass sie in aller Munde ist, aber sie Aufgabe quer verschieben kann; denn sie geht wirklich wird in der Regel darauf beschränkt, den Rückgang der alle an. Arten zu konstatieren. Wer Biodiversitätsschutz nur so Meine Damen und Herren, wir kennen derzeit kein versteht, springt deutlich zu kurz. Biodiversitätsverlust objektives Maß für den Punkt, ab dem der Artenrück- muss als Verlust an Leistungsfähigkeit des Naturhaus- gang für den Menschen bedrohlich wird. Diesen Punkt halts, also als ein Verlust an unserer ureigenen Lebens- können wir noch nicht definieren. Allerdings glaube ich, grundlage verstanden werden. dass wir ihn gar nicht definieren müssen; denn wir soll- ten wissen, dass alles, was wir an Natur vorfinden, aus (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sich selbst heraus eine Existenzberechtigung hat. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ich weiß, dass eine solche Haltung in Zeiten wirt- Es ist daher nur folgerichtig, dass die Bundesregierung schaftlicher und sozialer Umbrüche oft sehr wenig Ver- den Schutz der Biodiversität als Schwerpunkt in die ständnis findet. Deshalb wünsche ich mir und uns allen Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen hat. Das ist viel- eine viel breiter geführte gesellschaftliche Debatte über leicht auch ein Teil der Antwort darauf, Herr Göppel, die Schutzwürdigkeit der biologischen Vielfalt und unse- wie die Naturschutzstrategie verankert wird. Die Nach- rer Lebensgrundlagen. Dabei sollten wir eines bedenken: (B) haltigkeitsstrategie wird hier der Schwerpunkt sein. Kenntnislücken dürfen auf keinen Fall als Argument, (D) nicht zu handeln, benutzt werden. Im Gegenteil, gerade Verlust an Biodiversität findet an vielen Orten statt; bei Kenntnislücken müssen wir ganz besonders vorsich- das wissen wir. Es ist auch unstrittig, dass er direkt bzw. tig vorgehen, um keine irreversiblen Schäden anzurich- indirekt auf menschlichen Einfluss zurückgeht. Für uns ten. ergeben sich daraus zwei Herausforderungen: Zum einen müssen wir unser Wissen verbessern. Wir müssen die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Biodiversität besser erfassen, abbilden und analysieren, SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) wir müssen einfach mehr davon verstehen. Zum anderen müssen wir das, was wir wissen, in Handlungsstrategien Dieses höhere Maß an Verantwortung sollte uns allen umsetzen. Das ist der Sinn unserer Politik. sehr wichtig sein; denn wenn wir erst den Point of no Return erreicht haben, kann es zu spät sein, und zwar Unsere Forschung, zum Beispiel zu den Roten Listen nicht nur für Tiere und Pflanzen. Weil wir alle, wie ich – sie sind der wichtigste Indikator für den Zustand der glaube, diesen Punkt nicht erreichen wollen, kann ich Biodiversität –, müssen wir auf jeden Fall verbreitern. mir nur wünschen, dass wir klug genug sind, rechtzeitig Wir brauchen Langzeitforschung und eine europäisch das Richtige zu tun. Die Anleitungen und Anregungen bzw. international abgestimmte, interdisziplinäre Aus- aus dem Umweltgutachten werden uns dabei sehr hilf- richtung dieser Forschung. Vor allem langfristige Pro- reich sein. zesse bedürfen einer zentralen Erfassung. Es ist meine Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Überzeugung, dass wir in Deutschland ein nationales Monitoringzentrum brauchen, in dem Daten gesammelt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und ausgewertet sowie Gefahren- und Bedrohungspoten- und bei der SPD) ziale analysiert werden. Wir werden den Problemen der Artenvielfalt auf keinen Fall gerecht, wenn in Präsident Wolfgang Thierse: 16 Bundesländern nebeneinander Daten erhoben werden Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Bietmann, und so getan wird, als hielten sich ökologische Probleme CDU/CSU-Fraktion. an Verwaltungsstrukturen. Es muss zweifellos ein Ergeb- nis der Föderalismusdebatte sein, dass die Voraussetzun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen für den länderübergreifenden Arten- und Natur- schutz verbessert werden. Das, Herr Paziorek, ist meiner Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): Ansicht nach die richtige, die vernünftige Antwort; denn Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- wir brauchen auf diesem Gebiet keine Kleinstaaterei. gen! Im Umweltgutachten wird der Umweltpolitik der 11996 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Dr. Rolf Bietmann (A) Bundesregierung wahrhaft kein gutes Zeugnis ausge- Ökosteuer rot-grüner Prägung auszusteigen und eine (C) stellt. Vielmehr betonen die Sachverständigen bereits in wirklich ökologische Steuerreform in Angriff zu neh- ihrer Eingangsbemerkung, dass die Umweltpolitik der men. rot-grünen Bundesregierung deutlich an Dynamik verlo- ren habe. Die Umweltpolitik stehe unverkennbar im Zei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen einer mehrjährigen wirtschaftlichen Stagnation mit neten der FDP) ihren gravierenden Folgewirkungen auf den Arbeits- Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie bekom- markt und die sozialen Sicherungssysteme. Die Sachver- men doch durch dieses Gutachten eine schallende Ohr- ständigen attestieren der deutschen Umweltpolitik sogar feige. Darin heißt es, dass die ökologische Steuerreform eine defensive Situation. unter ökologischen Gesichtspunkten fragwürdig ist, da Diese Eingangsbemerkungen des Umweltgutachtens das Abstellen auf den Energiegehalt keinen verlässlichen dokumentieren einerseits, dass eine erfolgreiche Um- Indikator der jeweiligen Umweltbelastungen darstellt. weltpolitik nur derjenige betreiben kann, der auch er- Sie mögen das noch so sehr belächeln, aber die Sachver- folgreich Wirtschaftspolitik gestaltet. Wirtschafts- und ständigen kommen in ihrem Umweltgutachten zu dieser Umweltpolitik gehören zusammen. Wer, wie Rot-Grün, Erkenntnis. Das belegt, dass die Ökosteuer ein Schritt in in der Wirtschaftspolitik versagt, gerät umweltpolitisch die falsche Richtung war. notwendigerweise in die Defensive. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Andererseits kann eine falsche Umweltpolitik zu neten der FDP) wirtschaftlicher Stagnation und zum Verlust von Ar- Das zweite große Thema, das Sie angepackt haben, beitsplätzen führen. Wir müssen heute feststellen, dass nachdem das erste gescheitert ist, ist der langfristige sich die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik Ausstieg aus der Kernenergie. Bis heute kann niemand Deutschland nach sechs Jahren rot-grüner Umweltpolitik die Frage beantworten, wie der Anteil von 29 Prozent durch langfristig angelegte, falsche Entscheidungen ver- unseres Stromverbrauchs, der derzeit über Kernkraft schlechtert hat. Ich nenne nur den bislang nicht nach- produziert wird, ersetzt werden kann. Wer aber die Frage vollziehbaren Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der nach dem Ersetzen des Ausfalls von 29 Prozent unserer Kernenergie Stromerzeugung nicht beantworten kann, der kann aus (Marco Bülow [SPD]: Oh ja!) Gründen der Zukunftsverantwortung für unser Land an einem pauschalen Beschluss zum Ausstieg aus der fried- und die ökologische Steuerreform, die letztlich kläglich lichen Nutzung der Kernenergie nicht festhalten. gescheitert ist. Selbst Minister Trittin musste vor weni- gen Tagen eingestehen, dass weitere Erhöhungen der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (D) Ökosteuer mit Blick auf die wirtschaftliche Situation in So richtig der Einstieg in die erneuerbaren Energien Deutschland nicht vertretbar sind. ist, so falsch ist es, zu glauben, über erneuerbare Ener- (Beifall bei der CDU/CSU) gien innerhalb eines überschaubaren Zeitraums von zehn Jahren wegfallende Kernenergieanteile ersetzen zu kön- Die Höhe der Ökosteuer ist der maßgebliche Grund nen. für das unvertretbare Ansteigen der Energiepreise. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Richtig!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Noch verantwortungsloser ist es ausweislich des Sach- Die hohen Energiepreise wiederum führen zur Schwä- verständigengutachtens, wenn Rot-Grün den Bürgern chung der Wirtschaftskraft und zum Verlust von Arbeits- vorgaukelt, über einen höheren Anteil von Kohleverstro- plätzen. Die Deindustrialisierung des Wirtschaftsstand- mung bzw. über Erdgas könne ein umweltgerechter Aus- ortes Deutschland und der Verlust von Tausenden gleich geschaffen werden. Der Umweltrat betont nach- Industriearbeitsplätzen werden maßgeblich von dieser drücklich, dass eine Strategie, die vorrangig auf Umweltpolitik beeinflusst, die zu im europäischen Ver- Kohleverstromung setzt, ökologisch wie ökonomisch gleich enorm hohen Energiepreisen geführt hat. Wer den unvertretbar ist. Staatsanteil an den Energiepreisen immer weiter in die Höhe schraubt, der verjagt Unternehmen aus unserem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Land. neten der FDP)

Eine unionsgeführte Bundesregierung wird an dem Der CO2-Ausstoß in Deutschland wird infolge einer sol- Gedanken einer ökologischen Steuerreform festhalten. chen Politik dramatisch ansteigen. Ein Umsteigen bei Eine solche ökologische Steuerreform macht Sinn, wenn der Kraftwerkserneuerung auf Erdgas wäre auf den die Bemessungsgrundlage der Ökosteuer mittelfristig ersten Blick sicherlich empfehlenswert, führte aber zu auf die CO2-Intensität der Energieträger umgestellt wird. unvertretbaren Abhängigkeiten der Bundesrepublik Deutschland von den Erdgas produzierenden Ländern. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) Die Importabhängigkeit des Industrielands Deutschland Genau dies empfehlen im Übrigen auch die Sachverstän- würde ins Unermessliche gesteigert. Veränderungen des digen, die dazu zu Recht eine weitere Harmonisierung politischen Gefüges, zum Beispiel in Russland oder im der Energiebesteuerung auf EU-Ebene anraten. Vor dem asiatischen Raum, könnten zu einer katastrophalen ener- Hintergrund dieser klaren Aussagen des Umweltrates ist giepolitischen Entwicklung in unserem Land führen und es höchste Zeit, aus der ökologisch völlig wirkungslosen damit die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft ins- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 11997

Dr. Rolf Bietmann (A) gesamt lähmen. Ein für jedermann erkennbares Beispiel Deutschland. Auch hier wird der Bundesregierung attes- (C) ist doch die Ölpreisentwicklung. Vergleichbare Preisent- tiert, dass Ziele, die formuliert worden sind, nicht glaub- wicklungen bei Erdgas würden die Wettbewerbsfähig- würdig verfolgt werden. Zur Entwicklung der CO2- keit der deutschen Wirtschaft nachhaltig zerstören und Emissionen führt der Sachverständigenrat wörtlich aus: damit Arbeitsplätze vernichten. Für eine solche Politik reichen wir unsere Hand nicht. Bei einem zielorientierten Ansatz kommt es nicht notwendigerweise auf eine punktgenaue Zielerfül- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lung an, wohl aber auf einen politisch ernsthaften neten der FDP) Umgang mit Zielverfehlungen. Die Dethematisie- rung einer Zielverfehlung diskreditiert einen ziel- Die Union bekennt sich zu einem ausgewogenen orientierten Umweltpolitikansatz und damit auch Energiemix mit erneuerbaren Energien, aber auch mit die Glaubwürdigkeit noch anspruchsvollerer Ziel- Kernenergie. Es macht keinen Sinn, aus rein ideologi- vorgaben für die weitere Zukunft. schen Gründen Kernenergieausstiegsbeschlüsse zu zele- brieren und damit auf der anderen Seite Ressourcenpro- bleme mit all ihren negativen Auswirkungen für die Präsident Wolfgang Thierse: Entwicklung in Deutschland zu schaffen. Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. (Horst Kubatschka [SPD]: Es geht nicht um Ideologie! Es geht um die Sicherheit der Be- Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): völkerung!) Ich komme zum Schluss. – Dieser Aussage des Sach- verständigenrats über die fehlende Glaubwürdigkeit ist Diese Politik muss und wird scheitern. nichts hinzuzufügen. Eine glaubwürdige Umweltpolitik Meine Damen und Herren, es ist für mich in diesem ist Voraussetzung für die Erreichung weiterer Klima- Zusammenhang völlig unverantwortlich, wie der Bun- ziele. An dieser Glaubwürdigkeit fehlt es Rot-Grün ein- desumweltminister mit der Entsorgung atomarer Ab- deutig. fälle umgeht. Ich denke, im Deutschen Bundestag muss (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- immer wieder darüber gesprochen werden. Das über neten der FDP) zwei Jahrzehnte betriebene Endlagerkonzept soll nun- mehr dem Gedanken des Ein-Endlagers weichen. Folge wäre, dass milliardenschwere Investitionen in Konrad Präsident Wolfgang Thierse: und Gorleben als Ruinen für die Nachwelt erhalten blie- Ich erteile dem Kollegen Marco Bülow, SPD-Frak- ben. Dabei könnten sowohl Konrad als auch Gorleben in tion, das Wort. (B) einem überschaubaren Zeitraum realisiert und in Betrieb (D) genommen werden. Marco Bülow (SPD): Führt man sich nun vor Augen, dass zum Beispiel im Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Forschungszentrum Karlsruhe zwei Drittel der schwach- Liebe Damen und Herren! Herr Professor Bietmann, es und mittelradioaktiven atomaren Abfälle Deutschlands ist ja schön, dass Sie, wie Sie am Anfang sagten, für al- oberirdisch gelagert werden, dann wird doch auch dem les offen sind. Das ist sehr nett. Nicht so schön finde ich, Letzten deutlich, wie zwingend notwendig es ist, in dass Sie den Hauptteil Ihrer Rede dazu benutzt haben, Konrad nun endlich zu einem Genehmigungsverfahren um zu sagen, dass Sie die Atomenergie wollen und dass und damit zu einer Inbetriebnahme zu kommen. Das das das wichtigste umweltpolitische Programm der wäre bis 2010 möglich. Sie aber erhöhen durch Ihr Ver- Union sei. halten die Sicherheitsrisiken für die Bevölkerung. Das (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Hat er doch ist unverantwortlich. gar nicht gesagt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Alles andere ist Ihnen nicht besonders wichtig. Immer Herr Trittin, wer nicht bereit ist, die Endlagerfrage für wieder sind Sie auf die Atomenergie zurückgekommen. hochradioaktive Stoffe zu beantworten, und stattdessen Es ist wirklich das Allerhöchste, das dann noch mit der der deutschen Bevölkerung erklärt, es sei sinnvoller, Generationengerechtigkeit zu verbinden. Zwischenlager im Land verteilt zu errichten, der drückt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich vor der Lösung des Problems, weil es ihm aus ideo- DIE GRÜNEN) logischen Gründen nicht passt, obwohl er genau weiß, dass es eine Aufgabe dieser Generation und nicht eine Die künftigen Generationen werden es ausbaden müs- Aufgabe zukünftiger Generationen ist, das Problem zu sen, wenn wir die Entsorgung des Atommülls von heute lösen. Wir könnten es lösen, wenn wir wollten. in die Zukunft verschieben. Dann werden sie den Müll von uns zu entsorgen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. [CDU/CSU]: Das ist (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Dann löst unverantwortlich!) doch das Problem der Endlagerung!) Es gibt eine Vielzahl weiterer Themen, die im Um- Meistens sagen wir zu den Kindern, sie sollten darauf weltgutachten angesprochen werden. Ich nenne insbe- hören, was ihre Eltern ihnen sagen. Beim Klimawandel sondere die Entwicklung des Kraftwerksparks in sind es die Eltern, die auf ihre Kinder hören sollten. – 11998 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Marco Bülow (A) Mit diesen Worten schloss Tony Blair seine Rede zur uns auf diese Ziele, auch wenn sie uns noch so viel ab- (C) Bekämpfung der Klimaveränderung. verlangen, einlassen. Die Regierung hat sich deshalb dem Ziel, die Treibhausgase bis 2020 um 40 Prozent zu (Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) reduzieren, verpflichtet. Nicht erst seit heute sind wir da- Immer mehr Politiker kommen zu dieser Einsicht und bei, für die Erreichung dieses Ziels die geeigneten In- Wissenschaftler predigen es schon lange. Selbst im Pen- strumente zu finden und einzusetzen. Unsere Aufgabe tagon ist angekommen, wie bedrohlich der Klimawandel wird es sein, diese zu präzisieren und dort, wo sich noch für unsere Welt und für uns Menschen ist. Außer einigen nichts oder noch nicht genug bewegt, zu optimieren und Unverbesserlichen und einer immer geringer werdenden zu ergänzen. Zahl von Unwissenden zweifelt niemand mehr daran, Die Sachverständigen haben einige der Instrumente dass der Klimawandel kommen wird. Jetzt geht es da- unter die Lupe genommen und dazu deutliche Vor- rum – das ist das Wichtigste –, dass die Einsicht überall schläge unterbreitet. Diese müssen wir uns näher an- in konkrete Maßnahmen und Handlungen umgesetzt schauen; denn bei allem internationalen Lob für die wird. deutsche Klimapolitik und bei allem bereits Erreichten Die seriöse Wissenschaft ist sich einig: Ein Anstieg gibt es doch Defizite festzustellen und vor allem gibt es von über zwei Grad gegenüber dem vorindustriellen noch viel zu tun. Ich will nur auf einige Punkte einge- Wert hätte fatale Auswirkungen auf unseren Lebens- hen, wohl wissend, dass die Diskussion deutlich um- raum; wir haben es heute schon gehört. Einen Anstieg fangreicher ist, wenn am Ende alle Stränge zusammen- von 0,6 bis 0,7 Grad haben wir schon zu verzeichnen. geführt werden. Ein weiterer Anstieg um 0,6 bis 0,7 Grad lässt sich nicht Was mir bei den Reden der Opposition aufgefallen ist mehr verhindern, weil die Emissionen für diese Erwär- – diesen Fehler will ich nicht wiederholen –, ist, dass Sie mung schon in der Atmosphäre sind. Es bleibt also ein auf keine konkreten Vorschläge des Sachverständigenra- Bremsweg von maximal 0,7 oder 0,8 Grad Celsius. Dies tes eingegangen sind oder nur dann, wenn es Ihnen ins ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Energiebe- Konzept gepasst hat. Die eigenen Schwächen haben Sie darf einer wachsenden Erdbevölkerung weiter ansteigt. nicht betont. Also auch ein halbherziger Klimaschutz wird uns nicht mehr weiterhelfen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zu diesem Ergebnis kommt wie viele vorherige Stu- dien auch das Umweltgutachten des Sachverständigenra- Ich fange deswegen mit einem Kritikpunkt im Gut- tes für Umweltfragen. Die Sachverständigen präsentie- achten an. Die Sachverständigen kritisieren, dass wir das ren aber außer Szenarien auch sehr fundierte Analysen alte nationale Klimaziel einer Reduzierung der Treib- (B) (D) und – das ist fast noch wichtiger – daraus resultierende hausgase um 25 Prozent zwischen 1990 und 2005 ver- Bewertungen und konkrete Handlungsvorschläge. Wenn schweigen. Ich bin überzeugt, dass das neue Ziel, das ich wir die beschriebene Erwärmung um zwei Grad nicht gerade benannt habe, mehr als eine Flucht nach vorn ist. überschreiten wollen, raten die Sachverständigen, der Dennoch muss ich den Sachverständigen Recht geben, von vielen internationalen Organisationen aufgestellten dass es für die Zukunft wichtig ist, zu analysieren, wa- Forderung zu folgen, nämlich, ausgehend von 1990 die rum das alte Ziel wahrscheinlich nicht erreicht wird und Treibhausgase bis 2020 um 40 Prozent und bis 2050 um was wir in Zukunft verbessern können, damit wir die 80 Prozent zu reduzieren. Das gilt international wie na- neuen Zielvorgaben einhalten. tional. In dem Gutachten werden auch Defizite analysiert. Im Bericht wird im Einzelnen vorgerechnet, dass dies Ein Bereich ist die Kraft-Wärme-Kopplung. Dies ist sowohl technisch machbar als auch wirtschaftlich ver- ein sehr wichtiger Bereich, weil durch die gleichzeitige tretbar ist. Letzteres gilt vor allem deshalb – vielleicht Nutzung von Strom und Wärme viel Energie eingespart passen jetzt einmal die Wirtschaftspolitiker der Union werden kann. Ziel der von der Bundesregierung einge- auf –, weil die zunächst erbringbaren Aufwendungen im setzten Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung war es, Verhältnis zu den zu erwartenden volkswirtschaftlichen von 1998 bis 2005 mindestens 10 Millionen Tonnen Kosten sehr gering sind. Mein Kollege Michael Müller Kohlendioxid und bis 2010 mindestens 20 Millionen hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir es uns vor al- Tonnen Kohlendioxid einzusparen. Die Sachverständi- len Dingen nicht leisten können, jetzt beim Klimaschutz gen weisen auf die Schwächen des Förderungsgesetzes zu sparen. hin und gehen davon aus, dass diese Zielvorgaben nicht erreicht werden. In absehbarer Zeit wird ein Monitoring- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bericht vorgelegt. Ich glaube daran, dass wir nach einer DIE GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth genaueren Analyse, welche die Signale aus der Branche [CDU/CSU]: Deshalb haben sich die SPD- aber wahrscheinlich bestätigen, handeln müssen, um Wirtschaftspolitiker so gegen die trittinschen diese Zielvorgaben mittelfristig doch noch zu erreichen. Vorschläge gewehrt!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wenn wir den wissenschaftlichen Berechnungen fol- gen, darf es kein Geschachere darum geben, ob wir die Die Schadenfreude, die teilweise bei Ihnen, meine angestrebten Reduzierungen nicht vielleicht doch um Damen und Herren der Opposition, zum Ausdruck kam, 10 Prozent kürzen wollen. Nein, wenn uns die Zukunft zum Beispiel indem gesagt wurde, dieses Gutachten sei der nachfolgenden Generation nicht egal ist, müssen wir eine schallende Ohrfeige für uns, sollten Sie sich lieber Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 11999

Marco Bülow (A) verkneifen. Wir bemühen uns und machen dabei auch neuerbare Energien ersetzt werden kann. Aber auch hier (C) Fehler; einige Fehler sind in dem Gutachten offenbart gibt der Sachverständigenrat eine wichtige Bewertung worden. Aber im Gegensatz zu Ihnen sind wir lernfähig. ab, die ich zum Teil teilen kann. Wir lehnen nicht alles ab, was mit Klimaschutz zu tun hat; denn fast alle Anträge, die wir zum Klimaschutz Probleme habe ich allerdings mit der einseitigen Pri- oder zu den erneuerbaren Energien eingebracht haben, vilegierung von Gas. Die Energieerzeugung durch Gas- werden vor allen Dingen von der FDP, aber teilweise lei- kraftwerke ist zwar effizienter und klimaschonender als der auch von der CDU/CSU abgelehnt. Am Ende jedoch die durch Kohlekraftwerke; allerdings halte ich die beim sind Sie es, die am lautesten schreien, wenn bestimmte Gas nicht gegebene Versorgungssicherheit schon für ein Zielvorgaben nicht erreicht werden. Problem und für nicht vernachlässigbar. Das ist doppelzüngig und solche Reden sollten wir (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Aha!) aus diesem Hause verbannen. Die Gaslieferungen aus Russland erscheinen einiger- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten maßen sicher, aber wir wissen nicht, wie die Lage in Zu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kunft aussieht. Wir können auf die Gasvorräte in Europa demnächst nicht mehr zurückgreifen, weil sie erschöpft Als Berichterstatter für erneuerbare Energien freue ich sein werden. Außerdem wird – das ist ein Mangel dieser mich, dass der Sachverständigenrat die Regierungspoli- Studie – nicht über die Endlichkeit der Ressourcen ge- tik im Bereich der erneuerbaren Energien ausdrücklich sprochen. Gas geht viel schneller zu Ende als Kohle. unterstützt. Der Gipfel der Rede von Frau Homburger Auch darauf müssen wir uns einrichten. war, als sie Passagen aus dem Bericht des Sachverständi- genrates herausgesucht hat, die belegen sollen, warum Vieles müsste man in Bezug auf den Klimaschutz wir so vieles bezüglich der erneuerbaren Energien falsch noch ansprechen. Vieles steht im Gutachten und einiges machen. Frau Homburger, lesen Sie sich das Kapitel wurde hier nur kurz angeschnitten. Man müsste zum über erneuerbare Energien noch einmal gut durch! Der Beispiel noch über die Emissionen durch den Verkehr Sachverständigenrat bestätigt darin nämlich, dass der sprechen, über den Emissionshandel und über die Ener- Weg, den wir mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz ein- gievermeidung. Mit diesem Punkt will ich enden; denn geschlagen haben, genau der richtige ist und dass wir ihn er zeigt, dass neben Politik und Wirtschaft alle Bürgerin- fortsetzen sollen. Das hätten Sie auch erwähnen können. nen und Bürger in Bezug auf Klimaschutz in der Verant- wortung stehen. Keiner darf sich dieser Verantwortung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ entziehen. Aktuelle Umfragen zeigen, dass das Umwelt- DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [FDP]: bewusstsein wieder ansteigt und vor allem der Klima- (B) Seite 35, Speichertechnologie, durchlesen schutz für die Deutschen eine hohe Bedeutung hat. Es (D) bitte!) muss aber auch gelingen, dass das Bewusstsein jeden – Sie haben von erneuerbaren Energien geredet. Wir ha- Einzelnen dazu bringt, dass er einen Beitrag leistet. Die- ben das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg ge- sen Beitrag kann man in seinem Haushalt leisten. Allein bracht, das von vielen Instituten – unter anderem vom durch das Abschalten von Stand-by-Geräten könnte ein Worldwatch Institute – und jetzt auch vom Sachverstän- Haushalt 70 Euro im Jahr sparen. digenrat gelobt wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mittlerweile werden über 10 Prozent des Stroms aus Die Theorie kennen viele, doch die Umsetzung in der erneuerbaren Energien gewonnen und wir sparen über Praxis müssen wir endlich alle lernen. Das Gutachten hat 50 Millionen Tonnen Kohlendioxyd jährlich ein, was ein uns dazu eine gute Nachhilfestunde gegeben, die hof- großer Beitrag zum Klimaschutz ist. Diesen Anteil wol- fentlich Wirkung bei uns allen zeigt. len und werden wir in Zukunft weiter ausbauen. Ich danke Ihnen. Wir müssen bei den Planungen auch berücksichtigen, dass – auch das sagt der Sachverständigenrat – die Kos- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten für erneuerbare Energien kontinuierlich sinken wer- DIE GRÜNEN) den, während die Kosten für die herkömmlichen Ener- gien weiter steigen werden. Die internationale Politik Präsident Wolfgang Thierse: bezüglich der erneuerbaren Energien zeigt, dass die Vor- Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Petzold, CDU/ reiterrolle Deutschland nicht geschadet hat, sondern CSU-Fraktion. diese im Gegenteil der deutschen Wirtschaft im Endef- fekt zugute kommt. (Beifall bei der CDU/CSU) Bei den weiteren Emissionsreduzierungen kommt es darauf an, nicht nur die Gewichtung der einzelnen Ener- Ulrich Petzold (CDU/CSU): gieträger zu berücksichtigen, sondern auch die Effizienz Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- der Kraftwerke zu erhöhen. Bei der anstehenden Kraft- ren! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Bülow, wir sollten werksparkerneuerung kann durch neue, effizientere genau das machen, was Sie angemahnt haben, nämlich Kraftwerke viel CO2 eingespart werden. Jedem noch so uns genauer zuhören; denn Professor Bietmann hat klar großen Freund der erneuerbaren Energien ist klar, dass und deutlich davon gesprochen, dass es eine Versor- nur ein Teil des Kraftwerksparks durch Anlagen für er- gungslücke in Ihrem Energieversorgungskonzept gibt. 12000 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Ulrich Petzold (A) Das ist ein Thema, über das wir uns intensiv unterhalten Dagegen schlägt das Gutachten die Streichung der (C) müssen. Möglichkeit der Verrechnung der Abwasserabgabe ge- gen die Investitionsausgaben im Abwasserbereich vor. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) Von der im Gutachten verfolgten Systematik her ist eine Das Umweltproblem „neue Bundesländer“ gibt es solche Streichung vielleicht noch nachvollziehbar. Sie nicht mehr und das ist gut so. Die ökologischen Hinter- würde jedoch dünn besiedelte Räume in den neuen Bun- lassenschaften zweier Diktaturen auf dem Gebiet der desländern sehr hart treffen. In diesen Regionen können, neuen Bundesländer sind so weit aufgearbeitet, dass sie nachdem die größeren Kommunen jetzt an Kläranlagen als spezielles Problem keine Erwähnung mehr im Um- angeschlossen sind, endlich auch die kleineren Orte an weltgutachten des Sachverständigenrates finden müssen. die Lösung ihrer Abwasserprobleme gehen. Mit der Zwar gibt es noch Probleme, die einer Lösung bedürfen, Streichung der Verrechnungsmöglichkeit würden die Be- doch gerade im industriellen Bereich haben die neuen wohner und Unternehmen dort dafür hart bestraft, dass Bundesländer in Umweltfragen eine Vorreiterrolle ein- sie über Jahre die Investitionen in den größeren Kommu- genommen. Die Ungleichheiten bestehen also eher in nen über ihre Abwasserzweckverbände mitfinanziert ha- speziellen Bereichen, die sich nicht mehr einfach nach ben und nun zusätzlich zu ihren eigenen Investitionen Ost und West trennen lassen; sie kommen – egal ob Ost noch eine Abwasserabgabe zahlen müssten. Wir sollten oder West – in bestimmten Regionen oder zu Sachver- dem Gutachten in diesem Punkt nicht kritiklos folgen. halten verstärkt oder vermindert vor. Bei der Finanzknappheit der Kommunen würde eine Ab- gabe, die zusätzlich zu den Investitionen zu zahlen wäre, Wiederholt habe ich bereits bei der Beratung der eher Investitionen hemmen. Emissionshandelsgesetzgebung auf den Umstand der re- gional unterschiedlichen Wirkung von Umweltgesetzen (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) hingewiesen. So werden beim Emissionshandel die in- Auch in der Frage der Flächeninanspruchnahme dustriellen Vorreiter bei der CO2-Emissionsminderung, die vor allem in Nordrhein-Westfalen und in den neuen hätte ich mir in dem Gutachten klarere Ausführungen Bundesländern angesiedelt sind, gleich schlecht behan- gewünscht. Wieder einmal wird zu wenig zwischen Flä- delt. Dieses führt insgesamt zur Benachteiligung von cheninanspruchnahme und Flächenversiegelung diffe- Regionen. Eine Gleichbehandlung Ungleicher – eine renziert. Gleichbehandlung von Vorreitern und Nachzüglern bei (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ja! Das der Emissionsminderung, ja, eine Bevorzugung der ist das Problem!) Nachzügler – sichert keine umweltpolitische Handlungs- fähigkeit, sondern führt zur Zurückhaltung bzw. zur all- In der Umwandlung einer intensiv genutzten Ackerflä- (B) gemeinen Stagnation im umweltbewussten Handeln. che in einen ökologisch angelegten Hausgarten kann ich (D) im Grundsatz sogar etwas Positives für Natur und Um- (Beifall bei der CDU/CSU) welt sehen. Es ist aber kaum zu verstehen, dass eine sol- Es gilt also regionale Besonderheiten zu beachten, che Flächeninanspruchnahme für einen Hausgarten eine um einen größtmöglichen Effekt unseres umweltpoliti- ähnliche Ausgleichsmaßnahme erfordert wie die Versie- schen Handelns zu erreichen. Zum Beispiel kann man gelung mit Beton und Asphalt. bei der Abwasserentsorgung in Gebieten mit einer sehr Warum wird nicht endlich einmal die Größe der täg- hohen Bevölkerungsabwanderung unmöglich die erfor- lich versiegelten Flächen genannt? Die Benennung der derlichen Maßnahmen aus dicht bevölkerten Regionen allgemeinen Flächeninanspruchnahme, ohne dass man mit entsprechender Zuwanderung übernehmen. Leider gleichzeitig die Größenordnung der viel bedeutsameren haben unseriöse Berater viel zu vielen Kommunen in Flächenversiegelung angibt, ist gerade im ökologischen den neuen Bundesländern überdimensionierte Abwas- Bereich nur eine ungenügende Aussage. Ein Verweis auf seranlagen aufgeschwatzt. Diese Anlagen sind teilweise die Wiedernutzung industrieller und gewerblicher so überdimensioniert, dass sie in verbrauchsschwachen Brachflächen ist ebenfalls nur bedingt aussagefähig. Zeiten ihre Funktionsfähigkeit verlieren. Um diesem Diese Brachflächen, die oftmals jahrelang nicht genutzt Problem entgegenzuwirken, werden aus weit entfernten wurden, haben sich gerade auch in den Städten zu Bioto- Kommunen über Abwasserfernleitungen Abwässer he- pen entwickelt. Richtig wäre, die Größe der im Rahmen rangeleitet. des wirtschaftlichen Handelns versiegelten Flächen aus- Schon allein der Bau dieser Abwasserfernleitungen zuweisen und diesem Wert die Größe der entsiegelten mit seinem Flächenverbrauch und den Nachfolgekosten Flächen gegenüberzustellen, um diese gegeneinander zu für Wartung und Instandhaltung ist in höchstem Maße verrechnen. kritikwürdig. Schlimm ist jedoch oft, dass Wasser damit Statt der Ausgleichsmaßnahmen, die sich zu oft in ei- direkt den Vorflutern zugeleitet und nicht mehr der Ver- ner Bepflanzung von landwirtschaftlichen Nutzflächen sickerung und damit dem Grundwasser in der Region zu- erschöpfen, sollte die Entsiegelung von Flächen als Aus- geführt wird. Dezentrale Anlagen und Kleinkläranlagen gleichsmaßnahme viel deutlicher als bisher festgeschrie- haben unter den derzeitigen Bedingungen keine Chance. ben werden. Gerade in Regionen mit schrumpfenden Be- Leider findet dieses Problem keine Berücksichtigung im völkerungszahlen dürfte dies kein Problem darstellen. vorliegenden Gutachten. Solange jedoch für Waldflächen Boden- und Wasserab- (Beifall des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/ gaben gezahlt werden müssen, die dann tatsächlich für CSU]) die Entwässerung von Waldgebieten – so ein Nonsens! – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12001

Ulrich Petzold (A) eingesetzt werden, und gleichzeitig versiegelte Straßen- ihnen gerade passt. Das ist keine angemessene Form der (C) flächen nicht von diesen Abgaben betroffen sind, hält Auseinandersetzung mit einem solchen Gutachten. sich meine Hoffnung auf ein sinnvolles Handeln der Re- gierung in Grenzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Opposition hat keinen Grund zur Selbstgerechtig- Richtig finde ich, dass in dem Umweltgutachten er- keit. Wenn Sie das Umweltgutachten genau durchlesen, neut eine bundesweite Erfassung bzw. eine fundierte Ab- werden Sie in vielen Fällen keine wissenschaftlich fun- schätzung der von Bodenverdichtung und Bodenerosion dierte Kritik zugunsten Ihrer Positionen, sondern Ihre betroffenen Flächen eingefordert werden. Winderosion Annahmen als falsche Ansätze widerlegt finden. In man- auf Ackerflächen wird viel zu oft unterschätzt. Dass sich chen Punkten werden Ihre Positionen aber auch bestä- der Bundesumweltminister aber ausgerechnet Über- tigt. Nehmen Sie dies als differenzierte Kritik für alle, schwemmungsflächen als Haupterosionsflächen ausge- die Umweltpolitik machen und Verantwortung tragen! sucht hat, hat den Entwurf eines Hochwasserschutzge- setzes bei den Experten eher lächerlich gemacht. Lassen Sie uns einmal im Detail anschauen, was uns die Experten sagen! Egal welche Bereiche man nimmt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- es wird immer wieder die Aussage deutlich: Wir haben neten der FDP) in der Umweltpolitik einiges erreicht, ob bei der Gewäs- ser- und der Luftreinhaltung oder beim Naturschutz. In Die jetzt als erosionsgefährdete Flächen eingestuften allen Bereichen sind wir auch dank der permanenten An- Abflussbereiche sind im Gesetzentwurf nicht einmal de- strengungen der Umweltpolitiker aller Couleur vorange- finiert und somit der Zufälligkeit der Rechtsprechung kommen. Aber die Experten sagen auch, dass wir in vie- ausgesetzt. Damit werden diese Abflussbereiche ge- len Punkten stehen geblieben sind. Die Opposition nauso streitbefangen sein wie die Einschränkungen, die behauptet sogar, dass es keine Innovation und keinen die Landwirtschaft in den Überschwemmungsgebieten Fortschritt mehr gegeben habe. Festzuhalten ist jeden- hinnehmen soll. falls, dass sich das Tempo des Umweltschutzes auf allen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ebenen verlangsamt hat, dass es Stagnation gibt. Wer seine umweltpolitische Handlungsfähigkeit si- Zur Energiepolitik, insbesondere zu den erneuerbaren chern will, sollte keinen unsinnigen Streit provozieren, Energien: Ein Abgeordneter Ihrer Fraktion – er ist Pro- wo er sich mit Sicherheit vermeiden lässt. Umweltschutz fessor – hat behauptet, dass es laut vorliegendem Um- lässt sich am besten, sinnvollsten und wirtschaftlichsten weltgutachten dringend notwendig sei, im Interesse des (B) nicht gegen die Betroffenen, sondern mit ihnen durchset- Klimaschutzes die Atomtechnologie weiter zu betreiben. (D) zen. Klare, nachvollziehbare Vorgaben mit sinnvollen Ich kann nicht erkennen, wo dies in dem Gutachten Grenzen und Grenzwerten schaffen Verständnis und steht. Dazu werden Sie in diesem Gutachten mitnichten Mitarbeit. Das Umweltgutachten kann hierzu Anregung ein Wort finden. Vielmehr finden Sie dort die Botschaft und Richtschnur sein, wenn wir es nicht zum Dogma er- der Gutachter, dass die erneuerbaren Energien, Effi- heben. zienzsteigerungen und das Energiesparkonzept zusam- men zum Klimaschutz beitragen und wir in diesem Be- Danke. reich konsequenter voranschreiten müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dann wird auf eine Reihe ungelöster Probleme hinge- neten der FDP) wiesen, etwa auf die POPs, die permanenten organischen Schadstoffe, die schon seit langem die Umwelt verseu- Präsident Wolfgang Thierse: chen und die wir noch nicht in den Griff bekommen ha- Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Hermann, ben. Ferner wird darauf hingewiesen, dass wir viele Pro- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. bleme seit Jahren kennten und nicht gelöst hätten. Kollege Petzold hat das Problem des Flächenverbrauchs angesprochen. Aber auch hier muss ich Ihnen Folgendes Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sagen: So richtig es ist, beim Flächenverbrauch zu dif- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ferenzieren, so richtig ist es auch, dass es nicht nur um Herren! Am Ende einer im Prinzip guten Debatte möchte den schönen Garten geht, der auf einer Fläche Artenviel- ich zu einigen Diskussionspunkten Stellung nehmen und falt erzeugt, die vorher ein Acker war, der keine Arten- aus Sicht der Grünen noch etwas zum Umweltgutachten vielfalt mehr aufwies. Man weiß genau, wofür heute Flä- und seinen Kernaussagen anmerken. Zuerst möchte ich chen verbraucht werden: Der Flächenverbrauch von festhalten, dass sich das vorliegende Gutachten auf die derzeit 105 Hektar pro Tag bundesweit bedeutet für mehr Umwelt und nicht in erster Linie, sondern nur in Teilen als die Hälfte Bebauung – dieser Boden ist für die Natur auf die Umweltpolitik der Bundesregierung bezieht. In verloren –; ein Großteil der restlichen Fläche wird als vielen Teilen bezieht es sich auch auf die Politik der Verkehrsfläche verwandt. Nur der übrig bleibende Teil ist Landesregierungen sowie die Wirtschaftspolitik und die unter Umständen in ökologischer Hinsicht verbessert. Agrarpolitik in diesem Lande. Das muss ich Ihnen schon sagen, weil offenbar nicht alle Ihre Redner dieses Um- Von den Gutachtern wird angemahnt, dass es in allen weltgutachten ausführlich, sondern nur selektiv gelesen Themenfeldern Durchsetzungsprobleme und Vollzugsde- haben. Manche haben nur den Teil herausgegriffen, der fizite gibt. Dies gilt für die Gewässerreinhaltungspolitik 12002 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Winfried Hermann (A) ebenso wie für die Umsetzung der europäischen Wasser- Austermann, weiterer Abgeordneter und der (C) rahmenrichtlinie, die einen guten ökologischen Zustand Fraktion der CDU/CSU für alle Gewässer verlangt. Auf diesem Gebiet haben wir Für eine stabile Wirtschafts- und Währungs- ein anspruchsvolles Konzept, dessen Umsetzung aber union – Europäischen Stabilitäts- und Wachs- sehr langsam vonstatten geht: Erst ist der Bund am Zuge, tumspakt nicht ändern dann sind es die Länder, bei denen es sehr lange dauert und von denen nicht alle mitmachen. Dies ist also eine – Drucksache 15/3719 – klare Mahnung an die Adresse der Länder mitzumachen. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wir brauchen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Akzeptanz in der Bevölkerung!) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Damit komme ich zum Schluss meines kurzen Bei- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst trags auf einen mir sehr wichtigen Gedanken zu spre- Burgbacher, Rainer Funke, Otto Fricke, weiteren chen: Ein Kernproblem in Deutschland ist die Aufspal- Abgeordneten und der Fraktion der FDP einge- tung der Kompetenz in Umweltfragen zwischen Bund brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ländern. Dies erschwert und verzögert die Umset- des Grundgesetzes (Aufnahme von Stabilitäts- zung des EU-Rechts. Bei uns gibt es eine Konkurrenz in kriterien in das Grundgesetz) der Gesetzgebung, die letztlich oft zu Blockaden führt. Wenn wir im Rahmen der Föderalismusreform nicht zu – Drucksache 15/3721 – einer klaren Kompetenzaufteilung und einer klaren Überweisungsvorschlag: Kompetenzstärkung des Bundes im Bereich Umwelt bei- Rechtsausschuss (f) tragen, dann haben wir verloren. Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Haushaltsausschuss Dann wäre auch all das, was Sie von der Opposition ge- ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD fordert haben, nicht zu erreichen. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Eine weitere Zersplitterung der Umweltkompetenz, Stabilitäts- und Wachstumspolitik fortsetzen – die sich durch den Vorschlag von Kollegen der CDU/ Den europäischen Stabilitäts- und Wachstums- (B) CSU, aber in Teilen auch der SPD ergäbe, ein Zugriffs- pakt stärken (D) recht der Länder zu schaffen, bedeutete faktisch, dass es – Drucksache 15/3957 – bei uns nur noch pro forma einheitliche Standards gäbe. Überweisungsvorschlag: In der Realität hätten wir es mit einem unendlichen Finanzausschuss (f) Flickenteppich im Bereich des Naturschutzes, der Ge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit wässerreinhaltungspolitik usw. zu tun. Dies wäre kontra- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union produktiv und im Sinne einer dauerhaft erfolgreichen Haushaltsausschuss Umweltpolitik schädlich. Daher bitte ich Sie alle, im Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Rahmen der Föderalismusreform gemeinsam für eine die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Stärkung der Bundeskompetenz zu kämpfen. Nur so höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. ließe sich auch ein Umweltgesetzbuch schaffen. Ohne eine solche Kompetenz bräuchten wir kein Umweltge- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen setzbuch mehr. Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Walter Schöler [SPD]: Testament?) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Josef Göppel [CDU/CSU]) Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Präsident Wolfgang Thierse: ren! Am 2. Dezember 1992 hat der Deutsche Bundestag Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die einen Entschließungsantrag zur Wirtschafts- und Wäh- Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3600 an rungsunion und zum Vertrag über die Europäische die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Union angenommen. In diesem Entschließungsantrag schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der heißt es unter anderem: Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Der Deutsche Bundestag nimmt die Besorgnisse in Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie der Bevölkerung über die Einführung einer gemein- den Zusatzpunkt 3 auf: samen europäischen Währung ernst. Es muss daher alles getan werden, damit sich diese Sorgen als ge- 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten genstandslos erweisen. Die Stabilität der Währung Friedrich Merz, Dr. Michael Meister, Dietrich muss unter allen Umständen gewährleistet sein. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12003

Friedrich Merz (A) Etwas weiter heißt es in diesem Entschließungsan- chen später hat der Europäische Gerichtshof entschieden, (C) trag: dass die Kommission damals Recht gehabt hat, dass sich die Mehrheit der Mitgliedstaaten ins Unrecht gesetzt hat Der Deutsche Bundestag wird sich jedem Versuch und dass massiv gegen den Stabilitäts- und Wachstums- widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, pakt verstoßen worden ist. die in Maastricht vereinbart worden sind. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) Einen gleich lautenden Entschließungsantrag hat we- nige Tage später der Bundesrat angenommen. Dieser Verstoß hält bis heute an, meine Damen und Her- ren! Was ich Ihnen hier gerade auszugsweise vorgetragen habe, meine Damen und Herren, ist die Geschäftsgrund- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lage der Bundesrepublik Deutschland für den Beitritt zur Währungsunion im Rahmen der Europäischen Union ge- Sie verstoßen damit nicht gegen irgendeine Regel der wesen. Heute gibt es Anlass, an diese Geschäftsgrund- Europäischen Union, sondern Sie verstoßen damit gegen lage zu erinnern. Wir haben dem Deutschen Bundestag die zentrale Rechtsordnung, die sich die Europäische einen Antrag vorgelegt, der diese Geschäftsgrundlage Union auf dem Weg in die politische Union und mit der noch einmal bekräftigt. Wirtschafts- und Währungsunion gegeben hat. Sie höh- len nicht nur das Fundament unserer gemeinsamen Wäh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung aus, Sie höhlen auch das Vertrauen der Menschen in die Zukunft der gemeinsamen europäischen Währung Es gibt bedauerlicherweise einen sehr akuten Grund aus, ja, Sie zerstören es. und Anlass, dies zu tun und erneut über die Geschäfts- grundlage des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zur Wirtschafts- und Währungsunion zu sprechen. Was hier stattfindet, ist in seinen Konsequenzen ver- Wenn im Deutschen Bundestag über ein solches heerend. Was Deutschland und Frankreich im letzten Thema in der Kernzeit diskutiert wird Jahr begonnen haben, setzt sich in einer ganzen Reihe von weiteren Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fort. Es überträgt sich mittlerweile auch auf einige Staa- NEN]: Extra für Sie, Herr Merz!) ten, die der Europäischen Union erst am 1. Mai 2004 und die Regierungsbank so besetzt ist – außer dem Bun- beigetreten sind. Schon heute ist absehbar, dass der Sta- desumweltminister hält es nicht ein einziger Bundesmi- bilitäts- und Wachstumspakt der Europäischen Union so nister für richtig, an dieser Debatte teilzunehmen; der ausgehöhlt wird, dass so beständig gegen Geist und (B) Bundesumweltminister ist nur noch da, weil er nicht mit- Buchstaben dieses Vertrages verstoßen wird, dass er (D) bekommen hat, dass sich hier mittlerweile das Thema wahrscheinlich auf Dauer in einer größer werdenden geändert hat –, Europäischen Union und in einer größer werdenden Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion keinen (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wo ist da Bestand mehr haben wird. Was Deutschland hier anrich- ein Bundesminister? Ich sehe keinen Bundes- tet, ist das glatte Gegenteil von dem, was wir in diesem minister! – Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Die Parlament den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes haben alle ein schlechtes Gewissen! – Volker einstimmig versprochen haben, meine Damen und Her- Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ren. Bei Ihnen war die erste Reihe leer! Jetzt wol- len wir mal nicht so tun! – Christine Scheel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist eigent- Gestern hat in Luxemburg der Finanzministerrat ge- lich Frau Merkel? Wo ist Ihr wirtschaftspoliti- tagt. Bei dieser Gelegenheit ist das Verhalten Griechen- scher Sprecher?) lands zu Recht kritisiert worden: Griechenland hat seinen dann lässt das auch Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit Beitritt in die Europäische Wirtschafts- und Währungs- zu, mit der die Bundesregierung dieses Thema behan- union offenkundig mit gefälschten Zahlen ermöglicht. delt. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sozialisti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sche Regierung!) Wir haben vor ziemlich genau einem Jahr im Parlament Aber wie reagiert der Rat und wie reagiert Deutsch- und in den Parlamentsausschüssen eine hochstreitige Dis- land? Die Kommission ist darum bemüht, aufzuklären, kussion über die Entscheidung der EU-Kommission ge- was war. Dazu braucht die Kommission Zugang zu den führt, das Defizitverfahren gegen die Bundesrepublik Daten. Der Bundesfinanzminister selbst sagt sehr öffent- Deutschland fortzusetzen. Damals hat uns der Bundesfi- lichkeitswirksam: Das muss jetzt mit aller Konsequenz nanzminister im Plenum und in einer gemeinsamen Sit- von der Kommission aufgeklärt werden. – Im selben zung des Finanzausschusses, des Haushaltsausschusses Atemzug enthalten die Bundesrepublik Deutschland und und des Europaausschusses erklärt, die Haltung der Bun- mit ihr eine Reihe von anderen Mitgliedsländern der desregierung sei rechtlich in Ordnung, die Kommission Europäischen Kommission das Instrumentarium vor, das befinde sich sozusagen im Rechtsirrtum über die Anwen- zur Aufklärung dieses Sachverhaltes notwendig ist. Die dung der Regeln, im Rat der Finanzminister sei ein Votum Kommission braucht Zugang zu den Daten. Wenn die der EU-Kommission überstimmt worden. Wenige Wo- Bundesrepublik Deutschland diesen Zugang verweigert, 12004 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Friedrich Merz (A) dann macht sie sich erneut eines schweren Vergehens ge- vor wenigen Wochen, am 7. September, klar und deut- (C) gen Geist und Buchstaben des Vertrages über die Euro- lich zu Protokoll gegeben: päische Wirtschafts- und Währungsunion schuldig. Der Stabilitätspakt hat kein Ausgestaltungs-, son- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dern ein Umsetzungsproblem. Das, was Sie, meine Damen und Herren auf der Re- Die Reformvorschläge machten das bestehende Regel- gierungsbank und in der Koalition, hier machen, ist nicht werk komplizierter und unübersichtlicher. Der Anreiz zu eine aus der Not des Augenblicks geborene, kurzfristige einer soliden Haushaltspolitik in den Mitgliedstaaten der Entscheidung gegen den Stabilitäts- und Wachstums- Währungsunion werde verringert und es werde ein fal- pakt, sondern eine systematische Aushöhlung einer sches Signal an die Länder gegeben, in denen die Wäh- Rechtsgrundlage, die Sie in Wahrheit nie gewollt haben. rungsunion bisher noch nicht eingeführt worden sei. – Denn die Diskussionen über die Unabhängigkeit der Das sagt die Bundesbank. Sie hat die originäre Zustän- Zentralbanken, die Diskussion über die Unabhängigkeit digkeit, die Währungspolitik zu begleiten und die Grundlagen für eine stabile Währung zu schaffen. der Europäischen Zentralbank haben in der SPD, bei den Grünen und auch bei den Gewerkschaften bis heute Was fällt diesem Bundesfinanzminister ein, in einer in Wahrheit nicht aufgehört. Presseerklärung, also öffentlich und nicht irgendwie zu- fällig, der Bundesbank dringend zu empfehlen, sich zu- Sie können das wie einen roten Faden durch die letz- rückzuhalten? Was ist das eigentlich für eine Haltung ge- ten Jahre verfolgen. Sie verstoßen in diesem Jahr zum genüber einer der wichtigsten Institutionen im gesamten dritten Mal hintereinander bewusst gegen den Stabili- Gefüge der Währungs- und Finanzpolitik, gegenüber ei- tätspakt. Sie werden im nächsten Jahr erneut, zum vier- ner Institution, die immer noch mit die höchste Achtung ten Mal, bewusst gegen den Stabilitäts- und Wachstums- in der gesamten Bundesrepublik Deutschland und ihrer pakt verstoßen. Das sind doch keine Kassandrarufe der Bevölkerung genießt? Was ist das für ein Politikver- Opposition. Hier sitzt die Vorsitzende des Finanzaus- ständnis, das da zum Ausdruck kommt? schusses des Deutschen Bundestages, eine Kollegin aus der Fraktion der Grünen. Sie hat in dieser Woche in ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nem öffentlichen Interview erneut gesagt: Jawohl, wir Ob von den Wirtschaftsforschungsinstituten oder vom werden wahrscheinlich im nächsten Jahr wieder gegen Geschäftsführenden Direktor des Internationalen Wäh- den Stabilitäts- und Wachstumspakt verstoßen. – Zum rungsfonds – wohin Sie auch hören, von allen Seiten vierten Mal hintereinander verstoßen Sie gegen den wird dem Versuch, die Regeln des Stabilitäts- und Stabilitäts- und Wachstumspakt. Zum dritten Mal hinter- Wachstumspaktes aufzuweichen, eine klare Absage er- einander legen Sie uns in diesem Jahr einen Nachtrags- (B) teilt. Wir legen Ihnen heute einen Entschließungsantrag (D) haushalt vor, obwohl Sie schon zu Beginn des Haus- vor, die Geschäftsgrundlage – ich habe es bereits haltsjahres gewusst haben, dass keine Zahl, die Sie dem gesagt –, die der Deutsche Bundestag sich selbst und da- Parlament hier vorgelegt haben, stimmt. mit unserem Land gegeben hat, noch einmal zu bekräfti- gen. Es darf an den Regeln des Stabilitäts- und Wachs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tumspaktes nichts geändert werden. Es darf vor allen Das lässt Rückschlüsse auf Ihr Denken zu, und zwar Dingen nichts geändert werden, was dazu führen könnte, nicht nur auf Ihr Denken in der Finanzpolitik und in der dass das Vertrauen der Menschen in unsere gemeinsame Haushaltspolitik, sondern auch auf Ihr Denken in Bezug Währung, den Euro, weiter erschüttert wird. auf die Verantwortung der Institutionen füreinander. Sie Meine Damen und Herren, spätestens der nachfol- beseitigen die Rechtsgrundlagen des europäischen Stabi- gende Redner wird die Frage stellen, was denn ange- litäts- und Wachstumspaktes und Sie höhlen das Budget- sichts der sich ständig weiter verschlechternden Lage der recht des Parlaments systematisch aus. Das, was hier ge- öffentlichen Haushalte die Alternative zu einer sich stän- schieht, hat Langfristfolgen, die wir heute noch gar nicht dig weiter erhöhenden Verschuldung ist. Ich will Ihnen wirklich abschätzen können. Es wird – auch für das dazu einen kurzen Satz aus dem Herbstgutachten der Rechtsbewusstsein der Bevölkerung insgesamt – verhee- wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute vor- rende Folgen haben. tragen, das sich ausführlich mit der Finanzpolitik be- schäftigt. Der Kernsatz lautet: (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist leider wahr!) Die Finanzpolitik lässt nach wie vor ein klares Kon- zept vermissen, mit dem das Wachstum gestärkt Sagen Sie bitte nicht, das sei nun wiederum nur Op- werden kann. positionsrhetorik! Sie, die Kommission und einige Finanzminister der Europäischen Union stoßen mit dem Wenig später heißt es: Wunsch, einen Teil des Stabilitäts- und Wachstumspak- Zudem gehen die ohnehin bescheidenen Schritte tes der Europäischen Union zu ändern, auf den erbitter- zur Konsolidierung des Staatshaushalts wieder ein- ten Widerstand der gesamten Fachöffentlichkeit. Die mal zulasten der öffentlichen Investitionen und da- Europäische Zentralbank hat sich unmittelbar nach der mit jenes Teils der Staatsausgaben, von dem am Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die ehesten positive Wirkungen auf das Wachstum aus- Vertragsverletzung klar und deutlich gegen eine Ände- gehen. rung des EG-Vertrages und des Stabilitäts- und Wachs- tumspaktes geäußert. Die Deutsche Bundesbank hat (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12005

Friedrich Merz (A) Das heißt, das, was Sie tun, stellt eine Korrektur über Schulden macht. Hören Sie also auf, hier mit irgendwel- (C) die Einnahmenseite dar. Sie versuchen, mit Steuererhö- chen Formulierungen einen Popanz aufzubauen, die uns hungen den Staatshaushalt wieder ins Gleichgewicht zu nicht weiterhelfen, sondern im Gegenteil von dem ablen- bringen. Korrekturen auf der Ausgabenseite finden über- ken, was wirklich notwendig ist. wiegend an der falschen Stelle, nämlich bei den investi- ven Ausgaben der öffentlichen Hand statt. Meine Damen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Herren, dazu gibt es eine Alternative. Die Alterna- neten der FDP) tive lautet: eine wirklich vorurteilsfreie Überprüfung der Meine Damen und Herren, wir brauchen in Deutsch- konsumtiven Ausgaben, einschließlich aller Subventio- land eine ganz grundlegende Neuausrichtung der Politik nen der sozialen Sicherungssysteme. auf Wachstum und Beschäftigung. Die Lösung der Bud- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! – getprobleme in Deutschland ist ausschließlich durch eine Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Konsolidierung der Ausgabenseite des Haushaltes und NEN]: Kopfpauschale!) durch eine wachstums- und beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik möglich. Es kann nicht gut gehen – das ist jetzt keine Kas- sandra-Opposition; Sie brauchen nur das nachzulesen, Wir beklagen uns alle völlig zu Recht darüber, dass was Herr Professor Sinn heute in einem umfassenden gegenwärtig mit Opel und Karstadt zwei wichtige Unter- Beitrag in der Zeitung „Die Welt“ veröffentlicht hat –, nehmen in der Krise stecken. Wir übersehen dabei, dass wenn wir aus dem laufenden Etat des Bundes jedes Jahr seit Jahren Woche für Woche dasselbe wie bei Karstadt einen Zuschuss von im Augenblick rund 80 Milliarden und Opel passiert, nur ist das nicht so spektakulär, weil Euro an die Rentenversicherungen überweisen. es sich nicht um solche bedeutenden Markennamen han- delt. In Deutschland gehen seit geraumer Zeit, seit meh- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reren Jahren, jede Woche 10 000 Beschäftigungsverhält- NEN]: Was schlagen Sie denn mit der Kopf- nisse verloren. Im Jahr macht das eine halbe Million aus. pauschale vor, Herr Merz? 40 Milliarden aus dem Staatshaushalt!) Wenn Sie Ihre Wirtschaftspolitik nicht korrigieren, wenn Sie Ihre Arbeitsmarktpolitik nicht darauf ausrich- Es geht nicht gut, wenn Sie nur Lasten verschieben: aus ten, dass die Beschäftigung in Deutschland steigt, und den sozialen Sicherungssystemen in den Staatshaushalt. endlich Konkurse und Abwanderung stoppen, dann wer- Hier müssen ganz grundlegende Reformen durchgeführt den wir die Budgetprobleme nicht lösen können. werden. Ich gestehe zu, Sie haben im Bereich der Ren- tenpolitik etwas gemacht – allerdings sehr spät und nur (Dr. [FDP]: So ist es!) (B) als Korrektur einer Regelung, die Sie lediglich hätten Dann werden Sie alle, die Sie jetzt hier sitzen, wenn Sie (D) beibehalten müssen. Mit der Aussetzung des demogra- eines Tages von der politischen Bühne abtreten – und phischen Faktors, den Sie ja später wieder eingeführt ha- das wird geschehen –, sich zum Abschluss Ihrer Regie- ben, haben Sie einen schweren politischen Fehler began- rungstätigkeit den schlimmsten Vorwurf machen lassen gen. Das wäre vermeidbar gewesen. müssen, den man in einer Demokratie gegenüber einer (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Regierung erheben kann, nämlich auf Kosten nachfol- NEN]: Das haben Sie schon zehnmal gesagt! – gender Generationen gearbeitet zu haben. Gegenruf des Abg. [CDU/ Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. CSU]: Trotzdem richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen jetzt auch eine grundlegende Kurskorrek- tur bei den Krankenversicherungen einleiten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Poß. neten der FDP) Dass das schwer ist, brauchen Sie uns nicht zu sagen. Joachim Poß (SPD): Wenn aber dieses System nicht demographiefest ge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines macht wird, dann werden alle Anstrengungen, den scheint mir nahezu sicher zu sein, Herr Merz: 2006 wer- Staatshaushalt in Ordnung zu bringen, zum Scheitern den wir nicht gehen. Ich glaube, dass die Menschen das verurteilt sein. inzwischen spüren und dass die Entwicklung in den Um- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fragen das auch widerspiegelt. NEN]: Sollten Sie einmal Herrn Meister sa- (Zuruf von der CDU/CSU: Abwarten!) gen, der Steuererhöhungen vorschlägt!) In den Umfragen spiegelt sich wider, dass es Ihnen über- Wir, meine Damen und Herren, können hier lange haupt nicht gelingt, eine widerspruchsfreie Politik zu über strittige Fragen wie die Eigenheimzulage und an- formulieren, weder in der Gesundheitspolitik noch in der deres diskutieren. Ich vermute, auch dieses wird hier Steuerpolitik noch in der Finanzpolitik. Sie sind voller heute noch einmal eine Rolle spielen. Selbst wenn wir Widersprüche. die Eigenheimzulage sofort komplett streichen würden, würden wir damit im ganzen Jahr 2005 nur so viel spa- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren, wie der Bundesfinanzminister jede Woche an neuen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 12006 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Joachim Poß (A) Herr Merz, Ihr Beitrag hier war wieder ein Beleg da- Abfolge von Aufschwung und Abschwung im Kon- (C) für, dass man von rednerischen Fähigkeiten nicht unbe- junkturzyklus mehr, wie es vielleicht in den Lehrbü- dingt auf logische oder politische Fähigkeiten rück- chern steht. Das ist die Realität, meine Damen und Her- schließen kann. ren. Wir müssen realitätstaugliche Konzepte entwickeln, statt sozusagen abgehobene Betrachtungen anzustellen, (Lachen bei der CDU/CSU) wie Sie das hier getan haben. Der Europäische Gerichtshof hat sich – anders, als In den entwickelten europäischen Ökonomien folgt Sie hier suggeriert haben – gar nicht zur Sache geäußert, auf einen Abschwung offensichtlich nicht mehr in ab- sondern zum Verfahren. Wenn Sie an die ersten Ent- sehbarer Zeit ein entsprechender konjunktureller Auf- schließungen Anfang der 90er-Jahre erinnern, wo es in schwung. Die über Jahre andauernde Stagnation hat zu unserer Debatte um Währungsstabilität ging – vollkom- folgenschweren nachhaltigen Absenkungen des Be- men richtig –, dann müssen Sie doch auch dazusagen, schäftigungsniveaus und des Niveaus der staatlichen dass wir trotz dreijähriger Stagnation in den entwickel- Steuereinnahmen gegenüber dem erwarteten Niveau ge- ten europäischen Staaten eine absolute Stabilität des führt. Hier – und nicht in mangelnder Sparsamkeit oder Euro hatten. Das ist doch wohl unbestritten, meine Da- öffentlicher Verschwendung – liegt zumindest in men und Herren. Deutschland die Ursache für das stark angestiegene (Beifall bei der SPD) Staatsdefizit. Wovon reden Sie eigentlich, wenn Sie den Eindruck er- Darauf wollen die Union und leider auch ein Teil der wecken, man müsse verhindern, dass der Euro ge- Wirtschaftswissenschaftler mechanistisch mit rigiden schwächt wird? und kurzfristigen Konsolidierungsauflagen reagieren. Dadurch würden aber die nach wie vor bestehenden Ri- Sie haben als Zeugen für Ihre Position die Europäi- siken für die Wirtschaftsentwicklung verstärkt. Sie wol- sche Zentralbank und die Bundesbank zitiert. Ja, erwar- len die Wirtschaft wieder in einen Abschwung hinein- ten Sie denn, dass die Erfinder des Stabilitäts- und sparen. Das machen wir nicht mit! Wachstumspaktes diesen selbst infrage stellen? Das ist doch wohl überhaupt nicht zu erwarten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lassen Sie uns über die Alternativen reden. Ihre Al- Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Er hat den ternative ist, dass wir Kürzungen vornehmen sollen; das Bericht der Sachverständigen nicht gelesen!) sagt ja auch die Mehrheit der Institute. Aber welche Konsequenzen hätte es denn, wenn wir mit Kürzungen Sie wollen dadurch die Möglichkeiten einer nachhal- (B) von 10 oder 12 Milliarden Euro hineingingen? tigen, aktiven Wachstumspolitik verringern. Aber auf (D) eine aktive Wachstumspolitik, die auf Bildung und Inno- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir können ja vation setzt, kommt es jetzt an. Ich nenne deswegen Ihre mal mit 1 Million Euro anfangen!) Position schlichtweg ökonomisch hilflos und unsinnig. Eine solche Maßnahme würde sich sofort bei den Inves- Die wirtschafts- und finanzpolitisch Verantwortlichen titionen auswirken. Das heißt, wir würden in einen der Union sind heute offensichtlich immer noch nicht wirtschaftlichen Aufschwung, der nicht ohne weltwirt- weiter als der ehemalige CSU-Bundesfinanzminister schaftliche Risiken ist, hineinsparen. Das kann doch Theodor Waigel, der seine ökonomischen Vorstellungen ökonomisch keinen Sinn machen, was Sie da vorschla- mit seinem schon in den 90er-Jahren sehr fragwürdigen gen, Herr Merz und meine Damen und Herren von der und kritikwürdigen Statement „3,0 Prozent sind 3,0 Pro- Union! zent“ dokumentiert hatte. (Beifall bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Er [FDP]: Abenteuerlich! Sie haben das Sparen konnte noch rechnen!) aufgegeben!) Aber statt juristisch formaler Aussagen – was Sie hier Der Antrag der Union lässt deutlich erkennen, dass vorgetragen haben, war Ihre juristische Interpretation die Union weiterhin einer rein mechanistischen Ausle- dieser Aussagen, Herr Merz – ist eine ökonomisch sinn- gung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspak- volle Auslegung des Stabilitätspaktes die richtige ökono- tes das Wort redet und in der Währungs-, Wirtschafts- mische Antwort. Sie haben hier Juristerei gemacht. Wir und Finanzpolitik weiterhin von einem simplen ökono- machen dagegen das – das ist die Alternative –, was für mischen Weltbild ausgeht. die deutsche Volkswirtschaft, für die Arbeitsplätze in Deutschland und für die Stabilisierung des Aufschwun- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Und Sie produ- ges notwendig ist. zieren Chaos!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Die Union und hier an erster Stelle Herr Merz ignorieren GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU) wesentliche ökonomische Zusammenhänge. (Lachen bei der CDU/CSU) Der EU-Währungskommissar Almunia weiß das. Er hat deshalb am 3. September dieses Jahres Vorschläge Mit einer drei Jahre andauernden Stagnation bzw. zu einer Auslegung bzw. Anwendung des europäischen Wachstumsschwäche in nahezu allen EU-Mitgliedstaa- Stabilitäts- und Wachstumspaktes gemacht – ich möchte ten, die erst jetzt zu Ende geht, haben wir keine schlichte unterstreichen: Wachstumspaktes –, die angemessener Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12007

Joachim Poß (A) auf die Situation anhaltender Wachstumsschwäche Hinzu kommt die offensichtliche Unfinanzierbarkeit (C) reagieren. So ist es unter anderem notwendig, stellt Herr Ihrer Steuervorschläge. Das haben im Frühjahr die Almunia fest, stärker als bisher der jeweiligen wirt- Finanzminister aller Länder unabhängig von der Partei- schaftlichen Situation und Entwicklung in den einzelnen zugehörigkeit festgestellt. 30 Milliarden Euro Steueraus- Mitgliedstaaten Beachtung zu schenken. Die Vorschläge fälle, die sich nach Ihren Vorschlägen ergeben würden, Almunias sind eine gute Grundlage für die entsprechen- sind angesichts der Situation, in der sich die öffentliche den Beratungen im Europäischen Rat der Wirtschafts- Hand befindet, für Bund, Länder und Kommunen – es und Finanzminister. geht hier nicht nur um den Bund – überhaupt nicht zu verkraften. Ihre Vorschläge würden im Sinne des Sie können doch hier nicht das Fehlen von Herrn Maastricht-Defizitkriteriums für Deutschland eine Erhö- Eichel beklagen, wenn er heute in Luxemburg deutsche hung um 1,5 Prozentpunkte bedeuten. Dabei sind Sie es Interessen im Ecofin vertritt, Herr Merz. Das geht nicht. doch, die immer Stabilität nach dem Motto „3 Prozent Herr Eichel ist entschuldigt. sind 3 Prozent“ einfordern. Wenn man Ihren Vorschlä- gen folgte, lägen wir im nächsten Jahr nicht bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 3,0 Prozent – diesen Wert wollen wir ja erreichen –, son- DIE GRÜNEN) dern würden bei 4,5 Prozent landen. Ihre Vorstellungen zum Stabilitätspakt, meine Damen (Lachen bei der CDU/CSU) und Herren von der Union, sind dagegen kein gangbarer Weg. Das alles passt doch nicht zusammen. Die von Ihnen für sich in Anspruch genommene Re- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gierungsfähigkeit würde vielmehr voraussetzen, auf die DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ bestehenden Probleme und Erfordernisse mit reali- CSU]: Spaßmacher! Karneval fängt erst in ei- tätstauglichen und widerspruchsfreien Politikkonzepten nem Monat an!) zu reagieren. Bei Ihnen ist das Gegenteil der Fall. Das ist – Herr Austermann, nach all den Fehlprognosen, die Sie – neben persönlichen Gründen – auch der tiefere Grund sich in den letzten Jahren auch in der Haushaltspolitik für Ihren Rückzug aus Ihren Partei- und Fraktionsäm- erlaubt haben, tern, Herr Merz. Das wissen Sie. (Lachen bei der CDU/CSU) Schon mindestens seit dem Bundesparteitag der CDU in Leipzig im letzten Dezember war den Verantwortli- sollte man Ihren Äußerungen nicht mehr allzu viel Be- chen und den einigermaßen Sachkundigen in der Union deutung zumessen. (B) klar, dass das Kopfpauschalenmodell von Frau Merkel (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist ja (D) die von Herrn Merz in seinem Steuerreformkonzept ver- wohl der Hammer!) sprochenen Steuersenkungen prinzipiell nicht zulässt. Es war schon damals klar, dass das Kopfpauschalenmodell Steuererhöhungen oder ein massiver zusätzlicher von Frau Merkel im Gegenteil sogar Steuererhöhungen Aufwuchs der Staatsverschuldung – das ist die Zukunfts- für den so genannten Sozialausgleich zur Folge haben perspektive der Union. Sie sind entgegen dem Bild, das würde. Sie erzeugt haben, in Wahrheit eine Steuererhöhungspar- tei. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Es kann (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist ein doch einmal genannt werden!) Beitrag zum Rosenmontag!) Sie, Herr Merz, haben zusammen mit Frau Merkel Ihren In der Tatsache, dass das Rechnen in Milliarden offen- eigenen Parteitag getäuscht. So gehen Sie mit Ihrer Basis kundig nicht zu den Stärken von Frau Merkel und Herrn um. Das ist die Wahrheit. Merz zählt, sehe ich die tatsächliche Gefährdung des eu- ropäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Sie sind (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die eigentliche Gefahr für den Stabilitäts- und Wachs- DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ tumspakt. CSU]: Thema verfehlt! Setzen! Sechs!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie sollten sich einmal anschauen, wie die Wirt- DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – schaftsverbände, insbesondere die der mittelständischen Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer regiert Wirtschaft, auf die verschiedenen Modelle zum Sozial- denn?) ausgleich – beispielsweise wurde ein entsprechender Soli vorgeschlagen – reagiert haben. Man muss dabei die Ihr Rücktritt, Herr Merz, ist eindeutig das Eingeständ- Tatsache berücksichtigen, dass 85 Prozent der Unterneh- nis des Scheiterns der eigenen Steuer- und Finanzpolitik. men in der Bundesrepublik Deutschland Einkommen- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- steuer als Unternehmensteuer zahlen. Das ist nur ein NEN]: Genau!) Beispiel für etliche Ungereimtheiten; man könnte noch weitere nennen. Frau Merkel hat mit Ihrer Zustimmung, Für mich war dieser Rücktritt deshalb zwangsläufig. Herr Merz, beide nicht miteinander zu vereinbarenden Gleichzeitig ist dieser Rücktritt – das macht seine eigent- Konzepte – Kopfpauschale und Steuerreform – auf dem liche Bedeutung aus – die erste nennenswerte personelle Leipziger Parteitag beschließen lassen. Konsequenz aus der Tatsache, dass bei der Union 12008 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Joachim Poß (A) Steuerpolitik und Sozialpolitik nach wie vor überhaupt nen jedenfalls wir nur feststellen: Sie leiden nach wie (C) nicht konzeptionell zusammenpassen. vor, und zwar verstärkt, unter einem Realitätsverlust. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Gucken (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie doch einmal auf die Tagesordnung! – Wei- tere Zurufe von der CDU/CSU) Dies ist aus meiner Sicht eine nicht mehr zu verant- wortende Politik. Der Bundeskanzler hat unlängst in ei- Jetzt kommt zum Vorschein, dass Sie in Wahrheit eine ner Regierungserklärung gesagt, er wolle eine Politik Steuererhöhungspartei sind. Man braucht gar nicht das machen, die in großer Verantwortung gegenüber den Wort des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber von Kindern und Enkelkindern, in Verantwortung gegenü- den „Leichtmatrosen“ bemühen. Aber kompetent und re- ber der nächsten Generation stehe. Als Mitglied dieses gierungsfähig ist all das, was sich unter der Verantwor- Hauses sage ich Ihnen: Ich fühle mich beschwert durch tung der Partei- und Fraktionsvorsitzenden Angela eine Bundesregierung, die in dieses Parlament Haus- Merkel abspielt, nicht. haltspläne einbringt, die bereits bei der Vorlage erkenn- bar Makulatur sind und nur von Tricksen, Tarnen und Ihre Vorschläge führen im Übrigen – das hat Herr Täuschen leben. So können Sie mit dem Parlament und Seehofer vorgerechnet – zu Finanzrisiken von mehr als mit der deutschen Öffentlichkeit nicht weiter umgehen. 100 Milliarden Euro. Wenn wir dann noch Ihren Be- schluss zur Abschaffung der Gewerbesteuer hinzuneh- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) men, dann sind wir bei gut 125 Milliarden Euro. Die Grünen, die im Finanz- und Haushaltsausschuss Eine Konsequenz all Ihrer Beschlüsse ist die Ent- zum Teil in vielen Punkten Übereinstimmung mit Anträ- wicklung Ihrer Umfrageergebnisse: Herr Merz und Frau gen der Opposition gezeigt haben – ich erinnere an unse- Merkel sind und bleiben ein 125-Euro-Milliarden-Ri- ren Entwurf eines Subventionsabbaugesetzes vor der siko. Sommerpause –, (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE NEN]: Merz nicht mehr! Merz hat sich ja zu- GRÜNEN]: Sagen Sie mal etwas zum Subven- rückgezogen!) tionsabbau im Bundesrat!) Das ist nicht gut für den Standort Deutschland und das in der Sache also oft zustimmen, beteiligen sich durch ist nicht gut für den Stabilitäts- und Wachstumspakt. ihr Abstimmungsverhalten nach wie vor an dem Marsch in den Schuldenstaat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Elke Ferner [SPD]: Was tun Sie denn im (B) DIE GRÜNEN) (D) Bundesrat?) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie haben sich von der Politik der Nachhaltigkeit längst Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas verabschiedet und betreiben nur noch eine Politik der Pinkwart. Kurzatmigkeit. Das ist Ihre Bilanz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und NEN]: Das ist doch Quatsch! Ihre eigenen Herren! Gestern äußerte Kollege Wend von der SPD in Länder betreiben die Destruktion!) einer Fernsehdiskussion, bezogen auf die großen Struk- Herr Poß, beim Stabilitäts- und Wachstumspakt han- turprobleme unseres Landes, dass die beiden großen delt es sich nicht um eine rechtliche Konstruktion. Es Volksparteien in den vergangenen 15 Jahren – so sagte er handelt sich um ein Versprechen der deutschen Politik an dort – offenbar unter einem Realitätsverlust gelitten hät- die Menschen in diesem Lande, die Erfolgsgeschichte ten. Heute beraten wir hier unter anderem einen Antrag der D-Mark – eine Erfolgsgeschichte, die in beiden Tei- von den Koalitionsfraktionen und hören Äußerungen len Deutschlands als eine solche erlebt und wahrgenom- von Herrn Poß, die Bundesregierung habe auf die men worden ist –, schwache wirtschaftliche Entwicklung mit der – ich zi- tiere die Bundesregierung – „Fortsetzung der Konsoli- (Joachim Poß [SPD]: Ist der Euro nicht stabil? dierung der Haushalte“ reagiert. Was wollen Sie denn damit sagen? Der Euro ist doch zu stabil!) (Lachen des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]) diese Stabilitätskultur auf den Euro zu übertragen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir zum drit- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten Mal hintereinander Haushaltspläne vorgelegt bekom- men – dies gilt auch für die Aufstellung des nächsten; es Jetzt machen Sie zweierlei: Sie stellen erstens die Re- geschieht also zum vierten Mal –, die erkennbar verfas- geln infrage und zweitens – – sungswidrig sind, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Sie in diesem Jahr zum dritten Mal und nach Aus- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sage des Herbstgutachtens auch im kommenden Jahr ge- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen gen die Kriterien von Maastricht verstoßen werden, kön- Spiller? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12009

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Erst das Zweite, hört? Sind Sie bereit, zuzugeben, dass es innerhalb der (C) dann die Frage!) Europäischen Währungsunion noch nie eine so breite, in der gesamten Zone wirkende innere Geldwertstabilität Dr. Andreas Pinkwart (FDP): gegeben hat und dass der Außenwert des Euro nicht nur Ich würde meine Ausführungen gerne zunächst zu ein Ausdruck der Dollarschwäche ist, sondern auch ein Ende führen. Danach gestatte ich gerne die Zwischen- Zeichen der Stärke, denn gegenüber dem britischen frage. Pfund oder dem Schweizer Franken ist der Außenwert seit der Einführung des Euro nicht gesunken, sondern eher gestiegen? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie haben noch zwei Minuten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Zum einen stellen Sie die Regeln infrage. Sie wollen Dr. Andreas Pinkwart (FDP): sie in Brüssel aufweichen. Herr Kollege Spiller, ich bin gerne bereit, Ihnen zu sa- Letzte Woche sind zwei Ökonomen mit dem Nobel- gen, dass es die Vorgängerregierung war, die dies in den preis ausgezeichnet worden, die sich mit eben diesen 90er-Jahren mit den europäischen Nachbarländern im Fragen beschäftigt haben, nämlich mit zeitlicher Inkon- Euroraum ausgehandelt hat, und dass es aufgrund der sistenz von Politik, mit den Folgen von Vertrauensbruch vernünftigen Grundanlagen dieses Stabilitäts- und durch Politik für die Ökonomie. Die beiden Ökonomen, Wachstumspakts und der Tatsache – das bringen Sie zu die in diesem Jahr den Nobelpreis bekommen, haben Recht in Ihrem Entschließungsantrag noch einmal zum wissenschaftlich unterlegt nachgewiesen, dass ein derar- Ausdruck; insofern teile ich Ihren Antrag an dieser Stelle tiger Vertrauensbruch durch Politik nachhaltig zur Schä- ausdrücklich –, dass die anderen europäischen Länder digung von Volkswirtschaften beiträgt. die Einhaltung dieser Kriterien ernst genommen und un- sere Stabilitätsstruktur angenommen haben, tatsächlich (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) zu Stabilitätsfortschritten in der Eurozone gekommen ist. Das ist völlig richtig. Das ist aber der Erfolg des von Darüber hinaus haben sie in ihren wissenschaftlichen der Vorgängerregierung mit den anderen europäischen Arbeiten belegt: Wir brauchen nicht nur Regeln, die ein- Ländern vereinbarten Stabilitäts- und Wachstumspakts. gehalten werden, sondern wir brauchen auch Institutio- nen, die die Einhaltung der von der Politik vorgegebe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen Regeln unabhängig überprüfen (B) Sie aber, Herr Spiller, stellen jetzt dieses Fundament (D) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) des Erfolges des Euro infrage. und damit zu deren Einhaltung beitragen können. Was ( [CDU/CSU]: Die legen die aber machen Sie? Sie weichen nicht nur Kriterien auf, Axt ans Fundament! – Abg. Jörg-Otto Spiller Sie stellen sie nicht nur infrage und zerstören dadurch [SPD] nimmt wieder Platz) Vertrauen, sondern Sie hebeln auch Institutionen wie die Kommission, die die Einhaltung der Defizitkriterien – Herr Spiller, ich bin noch bei der Beantwortung Ihrer überprüfen soll, aus. Frage. (Joachim Poß [SPD]: Unglaublich, was Sie Ergänzend dazu möchte ich Ihnen gerne beantworten, sagen!) was Sie für sich in Anspruch nehmen, um den Art. 115 Im Deutschen Bundestag geht der Finanzminister noch erfüllen zu können: Sie wollen nämlich zum dritten – wie jüngst geschehen – hin und kritisiert den Präsiden- Mal – Sie müssen das noch beschließen; Ihr Bundeskabi- ten der Deutschen Bundesbank dafür, dass er öffentlich nett hat das schon getan – die Störung des gesamtwirt- Kritik an dem Verhalten der Bundesregierung geübt hat. schaftlichen Gleichgewichts feststellen. Da müssen wir Sie beschädigen nicht nur die Regeln, sondern auch die uns doch einmal fragen: Welche der vier Ziele sind denn Institutionen. Die Folge ist ein nachhaltiger doppelter gestört? Vertrauensbruch in diesem Land. (Joachim Poß [SPD]: Danach hat er nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gefragt!) Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Quatsch!) – Doch, das ist genau der Punkt. Jetzt lasse ich die Zwischenfrage zu. (Joachim Poß [SPD]: Danach hat Herr Spiller nicht gefragt! – Christine Scheel [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach dem Geldwert Jörg-Otto Spiller (SPD): hat er gefragt!) Herr Kollege Pinkwart, sind Sie bereit, zuzugeben, dass der Euro eine stabile Währung ist, dass er sowohl – Er hat gefragt, warum ich der Auffassung sei, dass bezüglich der inneren Geldwertstabilität als auch bezüg- durch Ihre unvernünftige und verfehlte Haushalts- und lich seines Außenwertes, also im Verhältnis zu anderen Finanzpolitik die Stabilität des Euro gefährdet wird. Das Währungen, zu den stabilsten Währungen überhaupt ge- ist doch Ihre Frage gewesen. 12010 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Dr. Andreas Pinkwart (A) (Joachim Poß [SPD]: Jetzt wird es aber lus- die Perspektive Deutschlands sein soll, dann aber wirk- (C) tig! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE lich gute Nacht, Stabilitäts- und Wachstumspakt! GRÜNEN]: Das ist Ihre Interpretation!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Stabilität des Euro wird doch durch Ihre Haus- und bei der SPD) halts- und Finanzpolitik gefährdet: weil Sie die Regeln Dieser Stabilitäts- und Wachstumspakt liegt im Übri- infrage stellen und weil Sie die Institutionen schwächen. gen – das wird von der Union und von der FDP immer Damit bewirken Sie, was Sie als Störung des gesamt- wieder unterschlagen – nicht nur in der Verantwortung wirtschaftlichen Gleichgewichts in diesem Land feststel- der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen, len. Nicht nur der Arbeitsmarkt, sondern auch das sondern auch in der Verantwortung der Länderhaushalte. Wachstum hat sich in diesem Land durch Ihre Politik in Das heißt, wir haben hier eine gesamtstaatliche Verant- den letzten Jahren eben nicht hinreichend entwickelt. wortung: Sie betrifft den Bund, Deshalb wollen Sie zum dritten Mal in Serie eine gravie- rende Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Aber der Bund wichts für sich in Anspruch nehmen, Herr Spiller. Das ist überschreitet doch seine Quote!) doch der Punkt. sie betrifft die Länder und sie betrifft natürlich auch die sozialen Sicherungssysteme. Sie wissen sehr gut, dass Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: diese Bundesregierung im Bereich der sozialen Siche- Herr Kollege Pinkwart, kommen Sie bitte zum rungssysteme Strukturveränderungen vorgenommen Schluss. hat, die natürlich – das ist ganz normal, das sagt Ihnen jeder Ökonom und jeder Wissenschaftler – ihre Wirkung Dr. Andreas Pinkwart (FDP): erst mit einer gewissen Zeitverzögerung entfalten kön- Gut, ich komme zum Schluss, ich will aber den Ge- nen. Deswegen ist es richtig, dass wir sagen: Wir halten danken, wenn ich darf, zu Ende führen. selbstverständlich daran fest. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist ein zentraler Pfeiler makroökonomi- Ich will nur noch sagen: Durch Ihre Politik wird das scher Stabilität. Daran rüttelt niemand. Darum geht es in Vertrauen zerstört. Dadurch kommt es zur Konsumzu- der Diskussion auch nicht. rückhaltung, zum Investitionsattentismus und deshalb zu dem geringen Wachstum, das von Ihnen dann als Grund Ich möchte Ihnen, Herr Merz, sagen: Ich verstehe es dafür angeführt wird, weshalb Sie in Serie gegen die gut, dass Sie – in gewisser Weise muss man es ja so nen- Verfassung in diesem Land verstoßen. Darin sehen Sie nen – desertiert sind. die Folgen Ihrer verfehlten Politik, die am Ende auch das (Lachen bei der CDU/CSU – Dietrich (B) gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht mit Blick auf die (D) Austermann [CDU/CSU]: Aus Angst vor Frau Preisstabilität gefährden wird. Scheel!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich habe wirklich Verständnis dafür, dass Sie die Chaos- truppe in der Führung Ihrer Fraktion verlassen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel. (Joachim Poß [SPD]: Aber er hat selbst kräftig zum Chaos beigetragen!) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was man sich heute aber fragen muss, ist: Was ist das, Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! was Herr Merz hier vorträgt? Ist das seine persönliche Herr Merz hat gefragt: Was ist denn die Perspektive? Meinung, die in der Fraktion nicht den nötigen Rückhalt findet, oder ist das die Meinung der Fraktion? Da Sie (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ihren Rückzug angekündigt haben, gehen wir davon aus, NEN]: Das ist eine gute Frage! Aber er hat dass es sich nicht um die Meinung Ihrer Fraktion, son- keine Antwort gegeben!) dern um Ihre persönliche Meinung handelt, die ich übri- – Das ist eine gute Frage. Wenn man sich anschaut, was gens sehr schätze. Sie tragen hier also nicht das vor, was sich die Union als Perspektive überlegt hat – in allen Ir- sich innerhalb der CDU/CSU-Fraktion abspielt. Das rungen und Wirrungen; das muss man dazusagen –, dann muss man in diesem Kontext bewerten. stellt man fest: Die Perspektive ist eine Kopfpauschale (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ mit einem Finanzierungsdefizit von nach wie vor DIE GRÜNEN und der SPD) 40 Milliarden Euro. Nun möchte ich noch etwas zu den im Herbstgutach- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Thema!) ten formulierten Prognosen der führenden Wirtschafts- Die Perspektive ist ein merzsches Steuerkonzept mit ei- forschungsinstitute sagen. Wenn man die einzelnen Zah- nem Finanzierungsdefizit, selbst wenn man die Subven- len bereinigt, wenn man also die Feiertagseffekte aus tionen mit einem Volumen von 25 Milliarden Euro in den Wachstumsprognosen herausrechnet – diese Zahlen den jeweiligen Jahren gegenrechnet. Die Perspektive ist, sind ehrlicher –, dann beträgt das Wachstum in der Bun- dass Sie weitere Ausgaben in anderen Bereichen tätigen desrepublik Deutschland in diesem Jahr 1,3 Prozent. Die wollen. Alles zusammen schraubt sich der Fehlbetrag Perspektive für das Jahr 2005 liegt bei 1,7 Prozent. Es – Herr Poß hat das völlig richtig gesagt – auf ein Volu- gibt also positive wirtschaftliche Tendenzen, die auch men von insgesamt 125 Milliarden Euro hoch. Wenn das Sie zur Kenntnis nehmen und akzeptieren müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12011

Christine Scheel (A) (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist ein mit meiner Redezeit. – Mir geht es top. (C) Irrglaube!) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das wünschen Daher bitte ich Sie: Hören Sie endlich damit auf, dieses wir Ihnen persönlich auch!) Land schlechter zu reden, als es ist! Da Sie von der Union jetzt freudestrahlend gucken, muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich Ihnen sagen: Diese Aussage bezog sich nur auf und bei der SPD) meine Redezeit; alles ist bestens um mich bestellt. Es gibt positive Tendenzen, die uns von der OECD, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag und Ja, das haben wir verstanden. von anderen Wirtschaftsverbänden bestätigt werden. Diese Tendenzen müssen wir verstetigen und ausbauen, um die Beschäftigungsschwelle positiv zu gestalten. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Wissensgesellschaft ist unsere Chance für mehr ( [CDU/CSU]: Was heißt denn Beschäftigung. Wir tun alles, um dieses Ziel zu errei- das?) chen. Daher bitte ich Sie: Unterstützen Sie die Vor- Das bedeutet ganz konkret Folgendes: Heute ist die Be- schläge, die von uns zum Thema Subventionsabbau vor- schäftigungsschwelle bei einem Wachstum von 1,9 Pro- gelegt worden sind. zent stabil. Das heißt, dass die Arbeitslosigkeit dann (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ach, haben Sie nicht steigt. Durch die Strukturreformen, die die rot- Vorschläge vorgelegt?) grüne Bundesregierung beschlossen hat – ich meine Hartz IV und andere Maßnahmen –, liegt diese Schwelle Helfen Sie mit, Strukturveränderungen durchzuführen. in Zukunft bei 1 Prozent. Das heißt, dass der Status quo Dann haben wir eine gute Chance, den Stabilitäts- und zukünftig durch ein Wachstum von 1 Prozent gesichert Wachstumspakt im nächsten Jahr einzuhalten. wird. Wenn es zu einem Wirtschaftswachstum von Danke schön. 1,7 Prozent kommt, wird die Beschäftigung sogar anstei- gen. Das ist gut und das sollte man nicht unter den Tisch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kehren. und bei der SPD)

Ich bin froh, dass amerikanische Magazine, wie zu le- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sen ist, mittlerweile titeln: „ is back“. Nach Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietrich dreijähriger Stagnation verbessert sich die Situation. Es Austermann. (B) zeigen sich auch im internationalen Wettbewerb positive (D) Entwicklungen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dietrich Austermann (CDU/CSU): und bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Den dritten verfassungswidrigen Haushalt ha- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man fasst sich an den Kopf, wenn man die Lage in Deutsch- ben wir!) land betrachtet: Wir befinden uns in der schlimmsten Wir haben radikale Strukturveränderungen durchgeführt. Finanz-, Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Haushalts- Jetzt müssen wir darauf achten, dass Wertschöpfungsket- krise – und der Kollegin Scheel fällt nichts anderes ein, ten, die es mit deutschen Standorten zu verknüpfen gilt, als den Kollegen Merz anzumeiern und hier über Feier- auch international genutzt werden. Das ist nicht nur die tagseffekte und Verlustabschreibungen zu reden. Aufgabe der Politik, sondern auch die Aufgabe der Wirt- Ich möchte im Hinblick auf die tatsächliche Situation schaft. Die Wirtschaft hat in den letzten Jahren viele in unserem Land zwei Anmerkungen machen. Das Erste Fehler gemacht. Es wurden auf der Managementebene ist: Wenn ich heute die Bilanz der europäischen Finanz- falsche Entscheidungen getroffen. minister sehe und die Aufforderung des Bundeskanzlers Das müssen wir auch in unseren Haushalten ausba- an die europäischen Staaten, sie mögen doch die Schul- den. Denn alles, was in den Sand gesetzt wurde, findet denkriterien einhalten, sie mögen mehr sparen, dann sich zum Beispiel in Form von Verlustabschreibungen in muss ich feststellen: Sie haben Deutschland in eine Situ- unseren Haushalten wieder. ation gebracht, dass wir heute die Aufnahmekriterien für die Eurozone nicht erfüllen würden. Das heißt, Deutsch- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ich sage nur: land ist inzwischen bei der Neuverschuldung und beim Dosenpfand und Maut!) Gesamtschuldenstand in einer Situation, die an andere Auch das muss man sehen. Deswegen haben wir hier Länder außerhalb des Euroraums erinnert. eine Verantwortung, die nicht nur wir, sondern selbstver- Das hängt natürlich mit anderen Dingen zusammen. ständlich auch die Wirtschaft bzw. das Management zu Wenn Sie heute Bilanzen über die Sozialausgaben und tragen haben. die Arbeitsmarktlage in Deutschland betrachten, können Frau Präsidentin, ich bin gleich am Ende Sie feststellen: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Verschuldungspolitik und der Gesamthöhe der (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP] – Schulden auf der einen Seite und der Höhe der Sozial- Lachen bei der CDU/CSU) ausgaben und den Arbeitsmarktzahlen auf der anderen 12012 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Dietrich Austermann (A) Seite. Sie können das auch an den Bundesländern sehen. Länder und Gemeinden zusammen die restlichen 55 Pro- (C) Zum Flächenland Schleswig-Holstein will ich nur sagen: zent. Jetzt schaue ich mir die Situation einmal an: Sie ha- höchster Schuldenstand – höchste Sozialausgaben. Das ben seit 1999 immer den größeren Teil an den Schulden heißt, wenn Sie eine verantwortungslose Finanz- und gemacht. In diesem Jahr wird es so sein, dass Sie mit Haushaltspolitik machen, dann „gewährleisten“ Sie da- ständigen Sprüngen auf inzwischen 25 Milliarden Euro mit gleichzeitig, dass die Arbeitslosigkeit steigt und das über dem Limit gekommen sind. Das ist insgesamt ein Wachstum sinkt. Anteil von etwa drei Vierteln der Schulden, die gemacht werden. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) Sie berufen sich darauf, Sie würden durch die höheren Der Bund macht allein drei Viertel der Schulden! Sie Schulden, die Sie gemacht haben, den Aufschwung sta- wollten aber nur 45 Prozent der Schulden machen. Wenn bilisieren. Das ist genau das Gegenteil von der Wahrheit. man das abzieht, was der Bund unverantwortlicherweise an zusätzlichen Schulden aufnimmt, können wir die (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) 3 Prozent einhalten. So werden wir das nicht, obwohl Sie es immer wieder prognostizieren. Denn höhere Schulden bedeuten eindeutig höhere Ar- beitslosigkeit. Sie können diese Tendenz dem Herbstgut- Was Sie diesem Parlament, das die Haushaltshoheit achten entnehmen. Die Gutachter sagen nicht: Wegen hat, mit ständigen falschen Prognosen zu Beginn des der außerplanmäßigen zusätzlichen 15 Milliarden Euro Jahres, im Laufe des Jahres und am Ende des Jahres zu- Schulden, die Sie machen, wird das Wachstum im nächs- muten, das ist eine einzige Frechheit. Sie belügen das ten Jahr nach oben gehen. Sie sagen, dass es wieder nach Parlament, sie belügen die Bevölkerung. Das halte ich unten geht. Das Wachstum – das Kümmerwachstum –, für unverantwortlich, weil es Misstrauen sät und das das wir unter Ihrer Regierung haben, hat nicht ausge- Investitionsklima kaputtmacht. reicht, mehr Beschäftigung zu schaffen, sondern die Zahl der Beschäftigten sinkt weiterhin. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Das müssen gerade Sie Ihre verhängnisvolle Wirtschafts-, Finanz- und Haus- sagen!) haltspolitik hat dazu beigetragen, dass das Wachstum in den Keller geht, die Arbeitslosigkeit und die Sozialaus- – Herr Poß, der Beitrag war ja wohl völlig daneben. gaben aber nach oben. Das ist eine verhängnisvolle Ent- Zu meiner Prognosefähigkeit: Im Februar dieses Jah- wicklung, die völlig im Gegensatz steht zu dem gesetzli- res habe ich gesagt, dass Sie am Ende des Jahres ein chen Rahmen, den es spätestens seit 1967 – nicht 1987 – Loch von 15 Milliarden Euro haben werden. Ich glaube, mit dem Gesetz zur Förderung der Stabilität und des das Loch im Haushalt beträgt 14,9 Milliarden Euro. Je- (B) Wachstums der Wirtschaft gibt. (D) der hat es gewusst. Sie haben es sicher nicht gewusst. Wenn man heute einem Studenten erklären will, was Das glaube ich Ihnen gerne. der Unterschied zwischen Verfassungsrecht und Verfas- sungswirklichkeit ist, braucht man bloß Ihre Haushalts- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) politik zu nehmen. Wenn man so lange in der sozialistischen Jugend veran- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kert war, dann ist klar, dass die Zusammenhänge für neten der FDP) wirtschaftliches Denken nicht ganz ausgeprägt sind. Auf der einen Seite haben wir das Verfassungsrecht, das (Joachim Poß [SPD]: Sie halten eine vollkom- gar nicht verändert werden muss. Art. 115 des Grundge- men sinnfreie Rede!) setzes sagt: Die Grenzen der Schulden sind dort, wo man Die Prognosen von Herrn Eichel haben das Verfallsda- neues Vermögen schafft. Das machen Sie schon lange tum einer Milchtüte. nicht mehr. In diesem Jahr werden Sie doppelt so viel neue Schulden machen, wie Sie investieren. (Joachim Poß [SPD]: Sie machen das wie im- Jetzt wird darauf hingewiesen, dass der Bund seine mer: Sie halten eine sinnfreie Rede!) Verantwortung wahrgenommen hat, die Länder aber Der Unterschied ist aber, dass die Leute schon sauer nicht. Frau Scheel, hier sind Sie fundamental im Irrtum. sind, bevor sie das Produkt überhaupt genossen haben. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) NEN]: Ich habe gesagt: Alle müssen ihre Ver- antwortung tragen!) Nein, ich glaube, Sie sollten zur Wahrheit zurückkeh- ren. Manch einer wird enttäuscht sein. Wie unsere Kolle- Sie haben nicht nur die europäische Verfassung gebro- gen auch sehe ich die Hauptverantwortung beim Bun- chen, Sie haben nicht nur die deutsche Verfassung ge- desfinanzminister. Deshalb habe ich bei jedem Beitrag brochen, Sie haben auch den nationalen Stabilitätspakt gesagt, er müsse zurücktreten und den Kutschbock ver- gebrochen. Ich will Ihnen das konkret vorrechnen. Die lassen, da es keinen Wert hat. Länder und der Bund haben sich geeinigt: Keiner soll mehr Schulden machen als einen Betrag X, damit das (Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das doch noch Kriterium für die Neuverschuldung von 3 Prozent nicht zehnmal! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ überschritten wird. Das bedeutet, der Bund sollte höchs- DIE GRÜNEN]: Das ist doch völlig ausge- tens 45 Prozent der höchstens 3 Prozent aufnehmen, lutscht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12013

Dietrich Austermann (A) – Herr Poß, ich glaube, wenn Sie die Lage in Deutsch- Interessant ist, dass diese Wachstumspolitik natürlich (C) land betrachten, dann werden Sie meinem Bild zustim- auch dazu beitragen würde, dass es dem Staat besser men. – Ich habe den Eindruck, die Finanzgeschäfte sind ginge. Dieses zusätzliche Wachstum des Bruttoinlands- wie eine galoppierende Kutsche. Vorne sind die Haus- produkts um 100 Milliarden Euro würde bedeuten, dass haltsgäule. Früher saß einmal jemand auf dem Kutsch- der Gesamtstaat 20 Milliarden Euro an Mehreinnahmen bock und hat versucht, das Ganze mit den Zügeln in den hätte. Damit könnte der Bund die doppelten Investitions- Griff zu bekommen. Inzwischen ist Herr Eichel vom ausgaben tätigen. Bock heruntergestiegen und hält sich hinten an der Lade- klappe fest. Die Haushaltsdinge schleifen und er be- Das alles findet aufgrund der Situation nicht statt, zeichnet das als sinnvolle und gestaltende Politik. dass wir keinen Finanzminister mehr haben und dass auch der Bundeskanzler nicht dafür sorgt, dass ein ande- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) rer an seine Stelle tritt. Ich sage: Man braucht seinen Rücktritt nicht zu fordern; Herzlichen Dank. denn er ist gar nicht mehr da. Er nimmt überhaupt keinen Einfluss mehr auf die Entscheidungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Stellen Sie sich einmal vor, wofür sich jeder ordentli- Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär che Staat einen Finanzminister hält und einschließlich Diller. der Ministerialzulage auch bezahlt. Natürlich tut man das, damit er Einfluss darauf nimmt, dass das Geld zu- Karl Diller, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister sammengehalten wird, dass man wieder ein stabiles der Finanzen: Wachstum hat. Er ist aber gar nicht da und nimmt sein Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol- Amt nicht wahr. Ich werde nie wieder fordern, dass er lege Merz, es ist bezeichnend für Ihren Stil: Sie wissen, zurücktreten soll, weil ich ihn nicht mehr zur Kenntnis dass der Bundesfinanzminister seit gestern an der Sit- nehme zung des Ecofin-Rats in Luxemburg teilnimmt, und be- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- klagen hier trotzdem lauthals seine Abwesenheit. NEN]: Da wird er aber weinen!) (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ich habe die und weil er vor allen Dingen in der Politik nicht mehr Bundesregierung angesprochen! Vielleicht wachen Sie einmal auf!) (B) zur Kenntnis genommen werden kann. Es tut mir Leid, (D) so ist die tatsächliche Lage. Das disqualifiziert Sie, Herr Merz. Das ist Scheinheilig- (Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie doch noch et- keit hoch drei. was zur Kopfpauschale und zu deren Finanzie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung!) DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, wir werden in diesem Jahr Aus den wenigen Ihrer angeblichen Argumente und eine Rekordverschuldung haben. Es ist der absolute Re- Hinweise greife ich heraus, dass Sie gesagt haben, dass kord in der Nachkriegszeit. Die Kollegen, die nachher wir aus dem Bundeshaushalt ungefähr 80 Milliarden zum Nachtragshaushalt sprechen, werden das deutlich Euro an die Rentenversicherungskassen überweisen. machen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie einmal etwas NEN]: Jedes Jahr!) zu Ihren Steuerreformvorschlägen!) Das ist einer der wenigen Punkte, die in Ihrer Rede Ich will ein Letztes sagen: Die Politik, die Sie betrei- stimmten. In der Tat: Fast ein Drittel unserer gesamten ben, macht Deutschland ärmer. Wenn wir das durch- Ausgaben geht ausschließlich an die Rentenversiche- schnittliche Wachstum aller Länder um uns herum der rung. letzten drei Jahre gehabt hätten, dann läge unser Brutto- inlandsprodukt heute um über 100 Milliarden Euro hö- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wer her. Davon könnten sich die Deutschen übrigens hat denn das so hochgeschraubt? Das waren 5 Millionen Opel Astra leisten. doch Sie!) In den letzten drei Jahren hätten wir dann das durch- Nun hat Herr Ministerpräsident Stoiber im Frühjahr vor- schnittliche Wachstum von England gehabt. Das hätte geschlagen, 5 Prozent aller Ausgaben im Bundeshaus- ein zusätzliches wirtschaftliches Wachstum für uns be- halt zu streichen. Kürzlich hat er noch einmal gesagt, deutet. Das setzt sich jedes Jahr fort. Das heißt, Sie nicht 5 Prozent sollten gestrichen, sondern haben Deutschland um Zukunftschancen und eine wirt- 12,9 Milliarden Euro sollten eingespart werden. Man schaftliche Entwicklung und die Menschen um Arbeits- fragt sich natürlich: Wie kommt er auf 12,9 Milliarden? plätze betrogen, weil Sie eine Politik betreiben, die auf- Ganz einfach: Er hat das Ausgabenvolumen mit grund des Übermaßes der von Ihnen zu verantwortenden 5 Prozent multipliziert und kommt auf die Verschuldung gegen Wachstum gerichtet ist. 12,9 Milliarden. 12014 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Parl. Staatssekretär Karl Diller (A) Was heißt das jetzt? Herr Stoiber fordert namens der (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Entwickeln Sie (C) CDU/CSU, den Zuschuss an die Rentenversicherung um doch einmal ein Konzept für die Zukunft!) 5 Prozent gleich 4 Milliarden Euro zu kürzen. Das kann überhaupt nicht funktionieren; denn in diesen (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie versu- flexibilisierten Titeln sind sämtliche Personalausgaben chen, den Rentnern Angst zu machen!) enthalten und man kann nicht einfach 10 Prozent der Bundesgrenzschutzbeamtinnen und -beamten in Luft Dies bedeutet, die Rentenversicherungskasse müsste auflösen. entweder den Einnahmeausfall aus der Bundeskasse durch Beitragssatzsteigerungen ersetzen. Das wäre eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beitragssatzsteigerung um 0,4 Prozentpunkte. Wollen DIE GRÜNEN) Sie das? Dann sagen Sie es. Oder es wäre eine Kürzung auf der Ausgabenseite der Rentenkasse notwendig. Das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: heißt, Sie fordern, den Rentnerinnen und Rentnern 1 bis Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage 2 Prozent weniger Rente auszuzahlen. des Kollegen Pinkwart? (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Reden (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hosenflat- Sie doch einmal über Ihr Konzept!) tern!)

Wollen Sie das? Dann sagen Sie das im Klartext und re- Karl Diller, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister den Sie nicht so allgemein darüber. der Finanzen: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ja. DIE GRÜNEN) Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Interessant ist, dass die CDU/CSU-Fraktion die Auf- Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Sind Sie bereit, fassung von Herrn Stoiber nicht teilt. In der ersten Le- einzuräumen, dass seitens der Koalitionsfraktionen wie sung des Haushalts 2005 hat sich keiner Ihrer Rednerin- auch von der Bundesregierung trotz der im Herbstgut- nen und Redner die Forderung von Herrn Stoiber zu achten genannten weiteren Haushaltsrisiken von 10 Mil- Eigen gemacht, sondern Sie sagen alle, dass eine Einspa- liarden Euro für den Haushalt 2005 im Rahmen der rung von 12,9 Milliarden Euro zu viel ist und nicht zu Haushaltsberatungen bislang keinerlei substanziellen schaffen ist. Sie sagen, dass 3 Prozent gestrichen werden Kürzungsanträge vorgelegt worden sind? Wären Sie da- sollen, das wären 7,5 Milliarden Euro. Jetzt beobachten rüber hinaus so freundlich, aus der Sicht des Finanzmi- wir natürlich im Haushaltsausschuss die Kürzungsan- nisteriums – wie ich meine, haben wir als Parlament ein (B) träge der Union. Recht darauf – darzulegen, wie Sie dafür Sorge tragen, (D) dass im kommenden Jahr sowohl die Maastricht-Krite- Die dicken Brocken kommen noch. Ich sage Ihnen rien als auch die Vorgaben des Grundgesetzes eingehal- voraus, was der dickste Brocken sein wird. Die ten werden können? 4 Milliarden Euro, die wir als Zuschuss für die Bundes- anstalt etatisiert haben, werden die Damen und Herren (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) von der Union auf null setzen wollen. Das bedeutet aber eine dramatische Steigerung der Arbeitslosenzahlen. Karl Diller, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister Wollen Sie das? der Finanzen: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jochen- Herr Professor Pinkwart, ich bin Ihnen für diese Frage Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wer hat denn sehr dankbar, gibt sie mir doch Gelegenheit, darauf hin- zuweisen, was wir auf der Ausgabenseite alles schon diesen Unsinn versucht?) geleistet haben. Erstens. Seit der Regierungsüber- Dann werden Sie sicherlich darauf zurückkommen, nahme 1998 haben wir 10 Prozent aller Ausgaben beim was Sie schon einmal beantragt haben, nämlich Bundeshaushalt – das sind über 25 Milliarden Euro – ge- 10 Prozent aller flexibilisierten Titel zu streichen. genüber Ihrem Bundeshaushalt 1998 gestrichen. 10 Prozent der flexibilisierten Titel machen bei einem (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auf Län- Volumen von 15 Milliarden Euro 1,5 Milliarden Euro der und Gemeinden geschoben!) aus, die gestrichen werden sollen. Herr Austermann, er- zählen Sie doch endlich Ihrer Fraktion, was das bei- Was die aktuelle Situation angeht, so haben der Spre- spielsweise im Haushalt des Verteidigungsministeriums cher Walter Schöler und die Sprecherin im bedeuten würde! Haushaltsausschuss erklärt, dass man sich in Kenntnis der im November, also in wenigen Wochen, vorzulegen- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das wis- den Steuerschätzung vorbehält, sen sie genau!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Aha!) Der Haushalt des Verteidigungsministeriums würde um entsprechende Konsequenzen bei der Ausgabengestal- 700 Millionen Euro gekürzt. Wollen Sie das? Erzählen tung und der Einnahmengestaltung zu ziehen. Es wäre Sie bitte auch, was das im Haushalt des Bundesinnenmi- wünschenswert, dass Sie fordern, bei der Sanierung des nisteriums bedeuten würde! Hier würden allein im Kapi- Haushalts nicht nur auf der Ausgabenseite anzusetzen; tel Bundesgrenzschutz, in dem 1,6 Milliarden Euro etati- siert sind, 160 Millionen Euro gestrichen. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12015

Parl. Staatssekretär Karl Diller (A) wir müssen auch auf der Einnahmenseite ansetzen. Sie werte des EG-Vertrages, nämlich das Defizitkriterium (C) dürfen es nicht als Steuererhöhung diffamieren, wenn von 3 Prozent und das Schuldenstandskriterium von wir sagen, dass die größte Subvention, die es gibt, end- 60 Prozent, nicht geändert werden. lich gestrichen werden muss. Da kneifen Sie und das ist Die gegenwärtige Diskussion, nicht zuletzt ausgelöst Ihr Versagen. durch die Klage der Kommission gegen den Rat vor dem (Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Europäischen Gerichtshof, zeigt, dass unterschiedliche Subventionsabbau wird blockiert! 25 Milliar- Ansichten darüber bestehen, wie diese Instrumente im den!) Einzelfall angewandt werden sollen. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil den von der Kommission Nun sollte in der Diskussion auch einmal über die angestrebten Automatismus beim Defizitverfahren klar Landesgrenzen hinausgeschaut werden. Deswegen zi- abgelehnt. Der Europäische Gerichtshof hat deutlich ge- tiere ich aus einer aktuellen Übersicht der Europäischen macht, dass der Ecofin-Rat bei der Anwendung der ge- Kommission, die die Defizitquoten der Mitgliedstaa- meinsamen Regeln über ein Ermessen verfügt. Die Erfah- ten der EU des Jahres 2001 mit den voraussichtlichen rung zeigt, dass eine Handhabung der Regeln, die allein Defizitquoten des Jahres 2004 vergleicht. Es handelt auf das kurzfristige Erreichen quantitativer Vorgaben aus- sich also um einen Zeitraum von drei Jahren. Es ist in gerichtet ist, die Glaubwürdigkeit dieser Regeln schwä- der Tat beklagenswert, dass wir eine Verschlechterung chen kann. Auch eine Zentralbank fällt nicht automatisch von 0,8 Prozentpunkten haben. Eine Verschlechterung eine Zinsentscheidung, wenn ein einzelner Indikator ei- haben aber auch andere Länder, und zwar in viel größe- nen Grenzwert überschreitet. rem Umfang. Das hängt mit Ereignissen zusammen, die (Beifall bei der SPD – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: viele von uns längst wieder vergessen haben. In den Jah- Sie verfehlen doch alle drei Kriterien!) ren 2000 und 2001 gab es die BSE-Krise, ich erinnere ferner an den 11. September, SARS und den Irakkrieg. Auch hat sich gezeigt, dass der Pakt nicht zu einer ausreichenden Konsolidierung in konjunkturell guten (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Den hat Zeiten beitragen konnte. In Zeiten schwachen Wachs- England nicht gehabt, das ist wahr!) tums wurden zum Teil restriktiv und prozyklisch wir- Ich nenne Ihnen, Herr Austermann, jetzt die Daten kende Maßnahmen empfohlen, die den angestrebten der Länder, die mit uns in der Europäischen Union sind: Konsolidierungserfolg letztlich gefährdet hätten. Dänemark hat eine Verschlechterung um 1,8 Prozent- An diesem Punkt setzt die Europäische Kommission punkte, Frankreich um 2,1 Prozentpunkte, Luxemburg mit ihren Vorschlägen an, die nach Auffassung der Bun- um 8,3 Prozentpunkte, die Niederlande um 3,5 Prozent- desregierung ein guter Ausgangspunkt sind, um eine (B) punkte, ökonomisch sinnvolle und stabilitäts- und wachstums- (D) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das orientierte Anwendung des Paktes sicherzustellen. macht doch unsere Lage nicht besser!) Dies ist übrigens auch die Meinung anderer EU-Mit- gliedstaaten, wie sie bei der ersten Beratung der Kom- Finnland um 3,2 Prozentpunkte, Schweden um 2,6 Pro- missionsvorschläge im Rat zum Ausdruck gekommen zentpunkte und das Vereinigte Königreich um 3,5 Pro- ist. zentpunkte. Genau diese Position ist auch im Antrag der Koali- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Lesen Sie tionsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen doch einmal das Wachstum dieser Länder enthalten. Wir bedanken uns dafür, dass sie die Position vor!) der Bundesregierung unterstützen. Wir aber haben nur eine Verschlechterung um Der Antrag der Koalitionsfraktionen setzt darauf, dass 0,8 Prozentpunkte. Das zeigt, dass wir auch in dieser sich die Bundesregierung vor dem Hintergrund der schwierigen Situation jede Kraftanstrengung unternom- Kommissionsvorschläge aktiv und konstruktiv an der men haben, zu kürzen und zu sparen, wo immer es geht. Diskussion auf europäischer Ebene beteiligt. Wir werden Wir sind aber bei all unseren Vorschlägen auf Ihren er- entschieden Ansätzen entgegentreten, die zu einer Auf- bitterten Widerstand gestoßen, nicht zuletzt im Bundes- weichung des Paktes führen werden. Wir wollen aus den rat. Erfahrungen mit der Anwendung des Paktes solche Vor- schläge prüfen, die ihn wetterfest für die Zukunft ma- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen. DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Amen!) Deswegen tragen Sie ein gerütteltes Maß an Mitverant- Heute ist – auch von dem FDP-Redner – wenig über wortung an der augenblicklichen Situation. den Gesetzentwurf der FDP gesprochen worden, der Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit festhalten: Zur ebenfalls unter diesem Tagesordnungspunkt zur Bera- Sicherung der Stabilität der Europäischen Wirtschafts- tung steht. und Währungsunion sind solide öffentliche Finanzen un- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sehen Sie abdingbar. Selbstverständlich brauchen wir auch in sich die SPD-Fraktion an! Die ist schon einge- Zukunft einen funktionsfähigen und glaubwürdigen Sta- schlafen! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß bilitätspakt zur Koordinierung der nationalen Finanzpo- [SPD]: Sehr sachlich!) litiken. Es besteht zwischen allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Einvernehmen, dass die Referenz- Lassen Sie mich deshalb einige Sätze dazu ausführen. 12016 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Parl. Staatssekretär Karl Diller (A) Der Gesetzentwurf der FDP konterkariert die derzeiti- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Georg (C) gen Reformüberlegungen. Auch der Stabilitätspakt, Herr Schirmbeck [CDU/CSU]) Professor Pinkwart, lässt aus sehr guten Gründen in sei- ner derzeitigen Form und Handhabung Ausnahmerege- Ich will das sehr offensiv ansprechen, weil ich die lungen – beispielsweise zur 3-Prozent-Defizitobergren- Sorge habe, dass diese Reform von beiden Seiten verhin- ze – zu, während Sie ein starres Korsett vorsehen. dert wird. Die Ministerpräsidenten haben sich in ihrem Papier gegen Steuerautonomie und Steuerwettbewerb Aber Sie sind auch zu kurz gesprungen. ausgesprochen. Die Bundesregierung – man lese in die- sem Zusammenhang das Interview der Bundesjustizmi- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wir sind nisterin in der „Zeit“ – versucht, die Kommission sozu- eingeschlafen!) sagen abzuwürgen. Ich sage Ihnen: Sowohl die Sie lassen in Ihrem Gesetzentwurf offen, wie hoch der Bundesregierung als auch die Ministerpräsidenten müs- Anteil des Bundes auf der einen Seite und der Länder auf sen dann auch die Verantwortung tragen, wenn der Kar- der anderen Seite am zulässigen Defizit sein darf. Sie ren an die Wand gefahren wird, was wir uns gerade aus lassen offen, ob die im Gesetzentwurf enthaltene Festle- Haushaltsgründen eigentlich nicht leisten können und gung für die Ländergesamtheit oder für jedes einzelne dürfen. Land gilt und wie zu verfahren ist, wenn ein Land die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Grenze unterschreitet und andere Länder sie überschrei- ten und von dem einen Land erwartet wird, dass es umso Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich dezidiert für mehr spart, damit sie selber die Grenze überschreiten Steuerautonomie und damit für Steuerwettbewerb ein; können. Deswegen halten wir Ihren Gesetzentwurf nicht denn Steuerwettbewerb kann einiges initiieren, was wir für zustimmungsfähig. zum Abbau der Verschuldung dringend brauchen. Steu- erwettbewerb führt zu mehr Effizienz bei öffentlichen Lassen Sie mich zum Abschluss Folgendes betonen: Leistungen, zu Kostenersparnissen und zu Innovationen. Wir brauchen eine Regelbindung für die finanzpolitische Wenn das von verschiedenen Seiten abgelehnt und in der Koordinierung in der EU. Jede Regel muss aber im Licht Föderalismuskommission sogar zum Tabu erklärt wird, einer ökonomischen Analyse des Einzelfalles angewandt dann werden Sie auf unseren entschiedenen Widerstand werden. Nicht zuletzt brauchen wir in Zukunft wieder stoßen. Wir werden eine Steuerreform zum Druckthema Debatten über Inhalte und weniger Streitereien über Ver- in der Kommission machen, weil wir etwas durchsetzen fahren. wollen. Deshalb haben wir unseren Gesetzentwurf vor- (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU) gelegt. (B) (D) Ich bedanke mich, dass auch bei Ihnen die Einsicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten eingekehrt ist. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wenn es Steuerwettbewerb zwischen den verschiede- DIE GRÜNEN) nen Ebenen gibt, müssen wir aber nach wie vor garantie- ren, dass die Maastricht-Kriterien gültig bleiben. Genau dazu haben wir Vorschläge gemacht. Bund, Länder und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gemeinden müssen gemeinsam in der Verfassung ver- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher. pflichtet werden, die Maastricht-Stabilitätskriterien ein- zuhalten. Wir dürfen uns doch nicht Schritt für Schritt daran gewöhnen, diese Kriterien zu verletzen. Vielmehr Ernst Burgbacher (FDP): müssen wir zu ihrer Einhaltung stehen. Das ist der Sinn Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! unseres vorgelegten Gesetzentwurfs. Herr Staatssekretär Diller, es ist zwar schön, dass Sie sich mit unserem Gesetzentwurf beschäftigen, aber es (Beifall bei der FDP) wäre besser, sich damit inhaltlich auseinander zu setzen, statt lediglich irgendwelche Punkte herauszugreifen und Ich bitte an dieser Stelle um zwei Dinge: Beschäfti- festzustellen: Das geht nicht. Ich habe jegliche inhaltli- gen Sie sich ernsthaft mit unserem Gesetzentwurf, der che Auseinandersetzung mit dem Gesetzentwurf ver- als Grundlage einer Garantie für Währungsstabilität im misst. Darauf werde ich gleich weiter eingehen. Euroraum und insbesondere in unserem Land anzusehen ist! Machen Sie zusammen mit uns in der Föderalismus- Gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung. Die kommission den Schritt hin zu mehr Steuerautonomie Föderalismuskommission, die auch von diesem Parla- und Steuerwettbewerb! Beides kann unserem Land so- ment eingesetzt worden ist, tritt gerade in die entschei- wie seinen Bürgerinnen und Bürgern nur gut tun. dende Phase ihrer Arbeit ein, die aber in dieser Debatte komischerweise keine Rolle gespielt hat. Sie hat aber Herzlichen Dank. sehr viel damit zu tun. Die Verflechtung, die in unserem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Staat besteht, hat mit dazu geführt, dass wir einen gigan- der CDU/CSU) tischen Schuldenberg aufgetürmt haben. Deshalb ist die Forderung nach Entflechtung nicht nur in der Gesetzge- bung, sondern auch in den Finanzbeziehungen gerade in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: diesem Zusammenhang eine der zentralen Forderungen. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anna Lührmann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12017

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Aber sicher.

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Danke sehr. – Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen Vielen Dank, Frau Kollegin Lührmann. – Können Sie und Herren! 14 Jahre bevor ich geboren worden bin, gab mir bestätigen, dass bei Regierungsübernahme durch es das letzte Mal einen ausgeglichenen Bundeshaushalt. SPD und Grüne die Neuverschuldung mit 2,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und die gesamtstaatliche Ver- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schuldung unter den für Maastricht relevanten Kriterien NEN]: Meine Güte!) von 3 bzw. 60 Prozent lagen, wohingegen die jetzige Re- gierung zum dritten Mal in Folge – in diesem Jahr mit Das war im Jahr 1969. Danach, vor allem in den Jahren einer Neuverschuldung von 3,8 Prozent und einer Ge- der Kohl-Ära, ist die Staatsverschuldung rapide ange- samtverschuldung von deutlich über 60 Prozent – beide stiegen. Gleichzeitig sind die Ausgaben für die soziale zentralen Ziele des Maastricht-Vertrags verfehlt? Sicherung in die Höhe geschnellt. Diese Fehlentwick- lung hat dazu geführt, dass der größte Teil der Ausgaben (Lothar Mark [SPD]: Wir haben von Ihnen des Bundes festgelegt ist; denn der Bund muss heute eine Zinsbelastung von 80 Milliarden DM rund 70 Prozent der Haushaltsmittel für Alterssicherung, übernommen!) Arbeitslosigkeit und Zinszahlungen ausgeben. Schon heute sind wir in der Situation, dass wir für die Zahlung Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Zinsen neue Schulden aufnehmen müssen. Daher ist Herr Kollege Pinkwart, vielen Dank für Ihre Frage; so der Spielraum für Zukunftsinvestitionen so gering ge- kann ich diesen Gedanken in meiner Rede noch etwas worden. Das liegt vor allen Dingen daran, dass es ver- weiter ausführen. passt worden ist, in konstanten Wachstumsphasen den angehäuften Schuldenberg abzubauen. Im Gegenteil: (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Frage Munter wurden immer weiter neue Schulden gemacht. beantworten!) Herr Pinkwart, Sie wagen es, von einer Kultur der Diese Zahlen habe ich nie bestritten. Mir ging es aber Stabilität in der Bundesrepublik Deutschland vor der rot- um die Frage, wie es dazu kommt, dass wir in einem sol- grünen Bundesregierung zu sprechen. Dabei hat Ihre un- chen Schlamassel stecken. verantwortliche Politik zu der Situation geführt, in der (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Da müssen Sie (B) wir uns jetzt befinden, nämlich dazu, dass es jetzt – nach auf die Regierungsbank gucken!) (D) jahrelanger wirtschaftlicher Stagnation und wegen der Kosten der Wiedervereinigung – für Deutschland so – Wenn Sie mir zugehört hätten, hätten Sie das schon schwierig ist, die Kriterien des Wachstums- und Stabili- vorhin gehört. tätspaktes einzuhalten. Angesichts der Realität eines Schuldenberges von 1,4 Billionen Euro hat meine Gene- Lag nicht die Schuldenquote zu dem Zeitpunkt, als ration eine gesunde Ironie entwickelt. Ich kann nur sa- die Kohl-Regierung antrat, bei knapp 40 Prozent? Als gen: Vielen Dank für das großzügige Erbe! Vielen Dank wir die Regierung übernommen haben, lag sie bei dafür, dass wir heute nur noch so wenig Gestaltungs- 60 Prozent. Die heutigen Zahlungen für Zinsen schlagen spielraum haben! beträchtlich zu Buche. Darauf haben wir heute aber kei- nen Einfluss; die Spielräume sind uns damals von Ihnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – weggenommen worden. Deshalb bitte ich Sie, hier zu Ih- Elke Wülfing [CDU/CSU]: Seid ihr nicht mit rer Verantwortung zu stehen. an der Regierung gewesen?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die haushälterischen Fehler der CDU/CSU in der und bei der SPD – Lothar Mark [SPD]: Verant- Vergangenheit waren schlimm. Aber schlimmer ist, dass wortung ist für einige ein Fremdwort!) Sie noch immer keine schlüssigen Konzepte haben. Um – Das glaube ich auch. das zu erkennen, reicht ein Blick in den Antrag, den Sie heute zur Debatte gestellt haben. In diesem Antrag for- Wir stehen in der Tat in der Verantwortung, zu einer dern Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, besseren Haushaltssituation zu kommen. Ihre multiplen dass „die zukunftsgerichteten, durchgreifenden Refor- Positionen, meine Damen und Herren von der CDU/ men in der Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts-, Arbeits- CSU, stellen hier jedoch einen Widerspruch in sich dar. markt- und Sozialpolitik in Deutschland endlich ange- gangen werden“. Welche strukturellen Reformen meinen (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie damit? Die der CDU oder die der CSU, die von NEN]: Multipel, genau!) Herrn Merz oder die von Frau Merkel? In der heutigen Debatte wurde bereits deutlich, dass Sie auf der einen Seite unsere Vorschläge zum Subventions- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: abbau in zweistelliger Milliardenhöhe abgelehnt haben, Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Kohle Pinkwart? oder was?) 12018 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Anna Lührmann (A) auf der anderen Seite aber bei der Krankenversicherung Meine Damen und Herren von der Opposition, helfen (C) ein Loch in zweistelliger Milliardenhöhe reißen wollen. Sie mit! Helfen Sie Deutschland aus der Schuldenfalle! Einerseits verlangen Sie die Einhaltung der Stabilitäts- Machen Sie Ihre Hausaufgaben in den Länderhaushal- paktkriterien; andererseits mauern Sie im Bundesrat ten! Stimmen Sie dem Abbau von Subventionen endlich munter weiter, wenn es um konkrete Vorschläge zur zu! Das sind Sie meiner Generation und auch den künfti- Haushaltskonsolidierung geht. gen Generationen wirklich schuldig. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist Vielen Dank. falsch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was Sie hier betreiben, ist Volksverdummung und keine und bei der SPD) verantwortungsvolle Politik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: und bei der SPD) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Nicht, dass Sie mich jetzt falsch verstehen: Fahrenschon. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: So schwer (Beifall bei der CDU/CSU) ist es nicht!) Ich halte ausdrücklich am europäischen Stabilitäts- und Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Wachstumspakt fest. Fiskalpolitische Kontrollmechanis- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau men, die die Mitgliedstaaten von einer übermäßigen Ver- Kollegin Lührmann, wissen Sie, was das Problem ist? schuldung abhalten sollen, sind für eine Währungsunion Draußen im Lande glaubt Ihnen niemand mehr. Nie- unverzichtbar. Ziel einer nachhaltigen Finanzpolitik mand glaubt mehr den Worten, die Sie hier sprechen. muss es weiterhin sein, auch in wirtschaftlich schwieri- Wenn man auf die Fakten sieht, erkennt man, dass Sie gen Zeiten die Grenzen von 3 Prozent des BIP bei der hier jenseits von gut und böse argumentieren. Neuverschuldung und von 60 Prozent bei der Gesamt- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verschuldung nicht zu überschreiten. neten der FDP) Allerdings zeigen gerade die Erfahrungen in Deutsch- Wir müssen uns das einmal ansehen. Im Jahr 2002 land, dass der Pakt ergänzt werden muss, um dieses Ziel wurde der Stabilitätspakt gebrochen. Im Jahr 2003 zu erreichen. Wie ich schon eben ausgeführt habe, hätten wurde der Stabilitätspakt gebrochen. Im Jahr 2004 wird wir im Jahre 2003 kein Defizit von 4 Prozent gehabt, der Stabilitätspakt gebrochen. Gestern war von der Ex- wenn früher begonnen worden wäre, strukturelle Refor- (B) pertin für Friendly Fire aus Ihrer Fraktion zu lesen: Auch (D) men anzupacken und die Staatsverschuldung abzubauen. im Jahr 2005 werden wir den Stabilitätspakt wieder bre- Deswegen bin ich für die Vorschläge der EU-Kommis- chen. – Nach alter Manier versucht der Bundesfinanzmi- sion für den Stabilitätspakt aufgeschlossen. Diese Vor- nister jetzt, die Sache wieder zu retten, und sagt: Wir tun schläge geben der Kommission und dem Ecofin die unser Bestes. – Wir werden ihn in nicht langer Zeit vor Möglichkeit, von den Euroländern den Abbau des Defi- uns stehen haben und von ihm hören: Es tut uns Leid; es zits und strukturelle Reformen zu verlangen. Wird dies geht leider nicht anders. in konjunkturell besseren Zeiten angepackt, können die Länder in einem Konjunkturtal ohne ein allzu hohes De- Dann wird das Argument gebracht, die Weltwirt- fizit auskommen. Mit dieser Ergänzung kann das Ver- schaft sei schuld. trauen in den Pakt und seine Glaubwürdigkeit gestärkt werden. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einfluss hat sie! Großen Einfluss!) Die EU-Kommission schlägt außerdem vor, die Schuldenquote nicht nur in ihrer quantitativen, sondern Herr Poß, Herr Staatssekretär, Sie zitieren viele Progno- auch in ihrer qualitativen Dimension zu erfassen. Hierzu sen, aber die wesentlichen Zahlen lassen Sie beiseite. müsste die öffentliche Verschuldung vor allen Dingen in Vor zwei Wochen war Ihr Finanzminister Teilnehmer der Beziehung zur Entwicklung des Wissens- und Kapital- G-8-Konferenz im Rahmen der Weltbanktagung und hat stocks der Volkswirtschaften gesehen werden. So wird mit seiner Stimme die Prognose der Weltbank mitgetra- man auch den Zukunftsaufgaben der Gesellschaft und gen. Darin steht, dass die Weltwirtschaft so gut wie seit künftigen Generationen eher gerecht. 25 Jahren nicht mehr läuft: 5 Prozent Wachstum der Weltwirtschaft. Nur Deutschland ist unter dem Durch- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum schnitt. Angesichts dessen frage ich Sie: Was ist das Pro- Schluss kommen. blem in Deutschland? Das Problem ist doch nicht die (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Gern!) Weltwirtschaft. Das Problem ist die von Ihnen hausge- machte Politik. Ich trete dafür ein, den Stabilitätspakt zukunftsorientiert zu gestalten. Nur so schaffen wir es, glaubwürdig zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bleiben und Vertrauen zu erhalten. Die EU-Staaten müs- Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das sen verpflichtet werden, die erforderlichen Strukturrefor- kann eigentlich nicht sein, nur Deutschland! – men anzupacken und entschlossen umzusetzen sowie Joachim Poß [SPD]: Die Aussage sollten Sie – das ist die wichtige Neuerung – in Wachstumszeiten noch einmal überprüfen! Das kommt allein lo- den Schuldenberg abzubauen. gisch nicht hin!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12019

Georg Fahrenschon (A) Um beim Thema zu bleiben: Weil sich die Franzosen denstand von 1,41 Billionen Euro. Dafür sind Sie verant- (C) auf ihre Innenpolitik konzentrieren, weil sie sich um ihre wortlich. Dafür muss man insbesondere die grüne Frak- Binnenkonjunktur kümmern, schaffen sie es, den Stabili- tion in die Verantwortung nehmen. Sie haben sich von tätspakt im nächsten Jahr wieder einzuhalten, Ihren Zielen „Nachhaltigkeit“ und „sanfter Umgang mit den Ressourcen“ schon längst verabschiedet. Sie ver- (Joachim Poß [SPD]: Das wissen Sie schon prassen das Geld der jungen Generation und Sie haben jetzt?) sich aus der Debatte zurückgezogen. im Gegensatz zu Deutschland, das nach den Erwartun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gen das einzige Land in Europa sein wird, das auch im Joachim Poß [SPD]: Das müssen Sie gerade nächsten Jahr zum wiederholten Male gegen die Krite- sagen! An Ihrer Stelle wäre ich etwas ruhiger!) rien des Stabilitätspakts verstoßen wird. Beim Umgang mit den finanziellen und den sozialen Deutlicher als der deutsche Finanzminister, der sich Ressourcen dieses Landes lassen Sie alle fünf gerade anschickt, den Stabilitätspakt zum vierten Mal zu bre- sein. Das zentrale Prinzip der Haushaltspolitik, nämlich chen, kann ein Finanzminister gar nicht zeigen, was er nicht mehr auszugeben, als man einnimmt, haben Sie vom Stabilitätspakt hält. Seit 2002 ist es jedes Jahr das- schon vor Jahren zu Grabe getragen, meine Damen und selbe Trauerspiel. Erstens sagt Hans Eichel lauthals, er Herren von Rot und Grün. Stattdessen legen Sie jetzt ei- halte die Maastrichter Vorgaben im kommenden Jahr nen Antrag vor, der eindeutig dem Motto „Haltet den ein. Zweitens legt er auf der Basis von Wunschprogno- Dieb!“ folgt. Unter Punkt II, zweiter Spiegelstrich, for- sen seinen Haushalt vor. Drittens werden in den Medien dern Sie, „gestützt auf das Urteil des Europäischen Ge- in Nebensätzen erste Zweifel geäußert. Viertens erklärt richtshofes den im Stabilitäts- und Wachstumspakt ver- in der Vorwärtsbewegung die Vorsitzende des Finanz- ankerten politischen Ermessensspielraum zu sichern“. ausschusses für die grüne Fraktion: Es klappt doch Genau das ist ein Irrweg. Wenn politischer Ermessens- nicht. – Dann muss Hans Eichel die Hosen herunterlas- spielraum irgendwohin nicht gehört, dann in den Bereich sen, der auf Kante genähte Haushalt fliegt ihm um die der Garantie von Stabilität und Wachstum in Europa. Ohren und er steht da wie der Kaiser in „Des Kaisers Gerade eine solche Frage dürfen wir nicht zum Spielball neue Kleider“. politischer Philosophien machen. (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Der hatte keine an!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist die Wahrheit. Das ist das Trauerspiel, das Sie hier Die Wahrheit ist doch, dass die unheilige Allianz der jedes Jahr aufführen. Defizitsünder, die den Pakt am 25. November 2003 (B) durch Aussetzung des Verfahrens ausgehebelt hat, vom (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Europäischen Gerichtshof gestoppt wurde. Der Ver- neten der FDP) such der Kommission, jetzt in die Debatte einzutreten, ist der letzte Versuch, den Stabilitätspakt zu retten, um Was macht der Finanzminister, nachdem sich das mit den großen Euroländern überhaupt wieder ins Ge- vierte Mal ein Verstoß abzeichnet? Er macht keine An- spräch zu kommen. Vor Gericht sind sie schon geschei- stalten, die strukturellen Defizite im Haushalt zu beseiti- tert. Hören Sie endlich mit der Unterminierung des Sta- gen, sondern er versucht, gemeinsam mit anderen Haus- bilitätspakts auf und machen Sie sich doch stattdessen haltssündern in Europa, die Stabilitätsregeln flexibler eher seine Integrationskraft zu Eigen! Überlegen Sie auszulegen. doch einmal, welche Chancen der Stabilitäts- und Die laufende Debatte über die Modifikation des Wachstumspakt für die Aufstellung des Haushalts ei- Stabilitätspakts ist definitiv die falsche Antwort. Sie gentlich bietet, um wieder für solide Finanzen zu sorgen. können einem Regelwerk nicht zuerst den Todesstoß Die EZB und die Bundesbank sind nicht ohne Grund versetzen und dann versuchen, es durch Veränderung in der Diskussion um die Modifizierung des Stabilitäts- wiederzubeleben. Sie müssen sich den Regeln unterwer- pakts zurückhaltend bis ablehnend. Wer gegen beste- fen. Sie müssen als ersten Schritt die Neuverschuldung hende Verträge verstößt, der gefährdet die Grundlagen wieder unter die Grenze von 3 Prozent des Brutto- der Währungsunion und schadet dem weltweiten Anse- inlandsprodukts zurückführen. Wenn das geschehen ist, hen der gemeinsamen Währung. Das ist doch die Wahr- dann kann man sich darüber unterhalten, inwieweit man heit. an der einen oder anderen Stelle die Erfahrungen aus den ersten Jahren des Stabilitätspakts einfließen lässt. So und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nicht andersherum wird ein Schuh daraus. Sie verletzen Joachim Poß [SPD]: Bei der Bayerischen Lan- Vertrauen in den Standort. Das Ergebnis dessen, was Sie desbank war der!) zu verantworten haben, können wir jetzt sehen. Herr Poß, statt die Spielregeln im Nachhinein zu än- Liebe Frau Lührmann, ich will auf eine andere Zahl dern und damit Vertrauen zu verspielen, wären Sie gut hinweisen – diese Zahl muss eigentlich gerade junge Ab- beraten, den Weg einer glaubhaften Konsolidierungsstra- geordnete erschrecken –: Seit dem 12. Oktober dieses tegie zu verfolgen. Aber dazu fehlt Ihnen schon heute Jahres zeigt die Schuldenuhr in Deutschland einen die Durchsetzungskraft und das ist zu bedauern. neuen Höchststand an. Pro Sekunde werden 2 660 Euro Schulden gemacht. Damit einher geht ein Rekordschul- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 12020 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: verhalten – die Frage gestellt: Herr Duisenberg, können (C) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz. Sie sich vorstellen, dass es einmal eine Parität zwischen Dollar und Euro geben könnte? Da hat er sich kaputtge- Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): lacht; das konnte er sich nicht vorstellen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inzwischen ist eine völlig andere Situation eingetre- Friedrich Merz ist hier, seinem künftigen Hauptberuf als ten. Der Euro ist so stabil, dass diese Stabilität manchem Rechtsanwalt getreu, eingestiegen, indem er zunächst Wirtschaftspolitiker sogar schon Sorgen macht. Von den einmal formal abgeschichtet hat, damit man sich mit der Gefahren Destabilisierung oder Inflation kann doch Sache erst gar nicht mehr befassen muss. So laufen ja die überhaupt nicht die Rede sein. meisten Gerichtsverfahren. Wir möchten uns aber gern mit dem Kern des Problems befassen und uns nicht aus- (Beifall bei der SPD) schließlich an formalen Kriterien festhalten. In der Europäischen Union der 15 gab es in den letzten Ich persönlich bin – wie übrigens fast alle anderen Fi- Jahren über den Daumen gepeilt eine Inflationsrate von nanz- und Wirtschaftspolitiker in den Mitgliedsländern unter 3 Prozent. Obwohl wir in Deutschland riesige Pro- der Eurozone und der Präsident der Europäischen Kom- bleme hatten, lag sie bei uns im Schnitt unter 2 Prozent. mission, Prodi, an der Spitze – der Auffassung, dass wir Deutschland schneidet trotz seiner großen ökonomi- einer vernünftige Aufarbeitung des Vertrages, des Ver- schen Probleme, trotz des Problems der Verschuldung, tragstextes, seiner Wirkungsweise und seiner Auslegung das zum Teil mit der deutschen Einheit zusammenhängt, dringend bedürfen. und trotz großer Strukturprobleme auch in dem Punkt Preisstabilität besser als der Durchschnitt der Länder in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Europäischen Union ab. Diese Tatsache darf man hier doch nicht vernebeln. Die stabilste Währung, die In allen Politikbereichen, in denen neue Regelwerke wir jemals hatten, ist der Euro, obwohl es ohne Frage in Kraft gesetzt werden, wird nach einer bestimmten Zeit Probleme mit dem Kriterium der Verschuldung gibt. evaluiert, wie sie wirken und ob das Vorgehen richtig Vielleicht besteht da auch nur ein mittelbarer Zusam- war. Damit stelle ich die zentralen Kriterien von menhang. Vielleicht sind viele Bezüge politisch nur 3 Prozent und von 60 Prozent nicht infrage. Der Stabili- künstlich hergestellt worden. Das muss man doch einmal täts- und Wachstumspakt besteht aus diesen beiden überprüfen dürfen. In jedem Fall ist das Ergebnis hervor- wichtigen Bestandteilen. Als er damals aufgestellt ragend, egal warum. Die Ziele, die erreicht werden soll- wurde, richtete sich der Fokus auch der deutschen Öf- ten, wurden auf jeden Fall nicht gefährdet und sind auch fentlichkeit und der Politik deswegen im Wesentlichen in Zukunft nicht gefährdet. (B) auf den Aspekt Stabilität, weil man zum einen glaubte, (D) stetiges Wachstum komme von selbst – drei Jahre Sta- Die Frage der Schulden macht natürlich auch uns gnation konnte sich kein Mensch ernsthaft vorstellen, sehr besorgt. Wir reißen uns wirklich ein Bein aus, um weder bei uns noch in anderen europäischen Ländern –, Positionen im Bundeshaushalt, also in dem Bereich, für und zum anderen eine Vertrauensgrundlage für die neue den wir die Verantwortung tragen, entsprechend zu kür- europäische Währung Euro schaffen wollte. Der Euro zen. Herr Diller hat darauf hingewiesen. Wenn Sie aber sollte mindestens so stark wie die Deutsche Mark sein. durch Blockade des Steuersubventionsabbaugesetzes Man wollte Inflationsängsten begegnen, die die ältere und des Haushaltsbegleitgesetzes verhindern, dass wei- Generation aufgrund der Erfahrungen aus den Zeiten vor tere Subventionen in Höhe von 25 Milliarden abgebaut der Währungsreform 1949 und aus der Weimarer Repu- werden, womit ein erheblicher Beitrag zur Konsolidie- blik hatte, und eine Vertrauensbasis für diese Währung rung geleistet werden könnte, dann müssen Sie und die schaffen. von Ihnen regierten Bundesländer, die das verhindern, auch die Verantwortung für die Konsequenzen tragen. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Die zerstören Sie!) (Beifall bei der SPD) – Diese ist überhaupt nicht zerstört worden. Man kann Die Ursachen für die Schuldenentwicklung liegen na- doch mit Stolz bzw. voller Staunen sagen: Obwohl be- türlich in der wirtschaftlichen Entwicklung. Ein Punkt stimmte instrumentelle Kriterien wie erlaubte Höchst- ist aber auch, dass das zweite wichtige Ziel des Stabili- verschuldung und Neuverschuldung wiederholt in vielen tätspaktes, nämlich Wachstum – es ging ja um Stabilität Ländern der Europäischen Union gerissen worden sind, und Wachstum –, nicht hinreichend quantifiziert und in- ist der Euro trotzdem zu einer der stabilsten Währungen strumentell unterlegt worden ist. der Welt geworden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Ich erinnere mich daran – ich war ja Berichterstatter für Er ist für viele kleinere Währungen zur zweiten Anker- das Euro-Einführungsgesetz und auch im Zusammen- währung neben dem Dollar geworden und hat den Dollar hang mit dem Vertrag von Maastricht –, dass es heftige in diesem Punkt sogar überholt. Ich erinnere mich an ablehnende Reaktionen aggressivster Art gab, wenn je- eine Diskussion mit Wim Duisenberg, die der Finanz- mand den Begriff „wirtschaftspolitische Koordinierung ausschuss seinerzeit bei der EZB in Frankfurt geführt im Euroraum“ überhaupt nur in den Mund genommen hat. Da habe ich ganz vorsichtig und nett – so muss man hat. Daran darf ich Sie freundlich erinnern. Heute weiß sich ja solchen ehrwürdigen Herrschaften gegenüber jeder, dass es nicht nur zwingend erforderlich ist, für Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12021

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Geldwertstabilität zu sorgen und Schulden zu managen, Wachstum heute liegen würden! Das wäre schlicht eine (C) sondern dass auch an anderen Rädern gedreht werden Katastrophe. muss, damit Wachstum zustande kommt und sich ein ge- samtwirtschaftliches Gleichgewicht einstellt. Wenn man Aber wir haben mit der Steuerreform natürlich in den Blick ausschließlich auf Geldwertstabilität oder auf Kauf genommen, dass uns die entsprechenden Beträge Schulden richtet, ist das so, als wenn wir uns als Finanz- bei der Finanzierung unserer Haushalte fehlen. Man politiker auf zwei der vier Grundrechenarten beschrän- kann nicht beides gleichzeitig haben, auf jeden Fall nicht ken. Das tun wir doch auch nicht. aus dem Stand heraus. Die Wirtschaft erholt sich nur all- mählich. Wenn wir den Privaten Geld geben, geben sie Wir müssen alles zusammen sehen: die Zeiträume, dieses aus, wodurch Wachstum entsteht, aber das ge- die Zukunftsfähigkeit, die Erholung der Wirtschaft, die schieht natürlich nicht von einem Sonntag auf den Investitionen der öffentlichen Hand und der Privaten so- nächsten, sondern das ist ein mühseliger, langfristiger wie die Nachfragefähigkeit des Staates und der Men- Erholungsprozess, der erst zum Schluss in den öffentli- schen, die von staatlichen Leistungen abhängig sind. All chen Haushalten ankommt. das gehört zu einer ausgewogenen Balance. Wir können nicht ausschließlich zugunsten der Konsolidierung das Das heißt, man muss sehen, was man will. Wenn Sie Fallbeil auf die anderen Elemente heruntersausen lassen. hier die nächste Steuerreform ankündigen, dann möchte Wenn wir das tun, brauchen wir uns nicht zu wundern, ich gerne einmal wissen, wie Sie das mit Ihren Konsoli- wenn wir das zarte Wachstum gefährden und möglicher- dierungszielen bzw. mit dem Ziel der Aufrechterhaltung weise sogar ins Gegenteil verkehren. eines funktionierenden, funktionsfähigen Staates, der in dieser Gesellschaft die wichtigsten Aufgaben wahr- (Beifall bei der SPD) nimmt, was das Soziale, die Sicherheit, Innovation und Bildung angeht, in Einklang bringen wollen. Deswegen bedarf es neben der kritischen Begleitung der Ausgabenentwicklung der öffentlichen Haushalte, Eine differenziertere Betrachtung des Mechanis- auch des Bundes, also der Ausgabensteuerung, künftig mus wie der Maastricht-Kriterien muss Einzug halten. stärker einer Einnahmensteuerung. Man kann einen Wir können uns nicht, wie die FDP es tut, einige Jahre funktionierenden Staat, der Aufgaben in der Aufrechter- nach Maastricht hier hinstellen und die Aufnahme der haltung der inneren und äußeren Sicherheit sowie in der verengten Sicht – wobei richtig bleibt, dass der Schul- Sicherstellung vernünftiger sozialer Lebensbedingun- denstand und die Neuverschuldung kritisiert werden; gen hat, der Bildung sichern und Forschung ermöglichen dennoch greift man mit dieser verengten Sicht zu kurz soll, nicht ständig einer Rutschpartie in die Minderaus- und sie ist insgesamt gesehen auch falsch – ins Grundge- gaben aussetzen. Wer das verursacht, wird auch das setz fordern, wodurch sie Verfassungsrang erhielte. (B) (D) Wachstum von übermorgen und überübermorgen infrage stellen. Wer in der Zukunft Wachstum will, muss dafür (Beifall bei der SPD – Dr. Andreas Pinkwart sorgen, dass neue Wertschöpfungsketten und überhaupt [FDP]: Unglaublich!) Neues entsteht. Dafür muss zum richtigen Zeitpunkt und Das wäre ein ökonomischer Purzelbaum, der geradezu produktiv Geld in die Hand genommen werden. albern wäre und auch der Diskussion in der von Ihnen zi- tierten Fachöffentlichkeit, die ja manchmal Gott sei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dank gegenüber der eigentlichen Öffentlichkeit weitge- Wenn wir keine Defizite wollen, dann müssen wir da- hend der Geheimhaltung unterliegt, widersprechen für sorgen, dass die Einnahmen stimmen. Damit meine würde. ich nicht Steuererhöhungen – damit das nicht falsch ver- Nichtsdestotrotz mehren sich inzwischen die Stim- standen wird –, sondern das bedeutet, dass wir die Steu- men, die, ähnlich wie seinerzeit bei der Diskussion über erquellen, die wir haben, die Möglichkeiten, Steuern zu das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz in Deutschland, erheben, lückenlos und hart nutzen müssen. mehr Ziele in den Fokus gerückt haben wollen als nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das Stabilitätsziel im engeren Sinne. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich glaube, dass eine rein mechanistische Sicht wirt- Das gilt für den Umsatzsteuerbetrug und die Schwarzar- schaftliche Dynamik erstickt. Wenn wir sozusagen mit beit, gegen die wir kämpfen müssen, und für jede Art der Peitsche durchsetzen würden, dass sich auf lange von Schlupfloch, das wir schließen können. Nur so kön- Sicht alle Staaten der Eurozone strikt und unabhängig nen wir bei insgesamt vernünftigen Steuersätzen dahin von der wirtschaftlichen Situation an die Schuldenkrite- kommen, dass unser Gemeinwesen finanzierbar ist und rien halten, dann würden wir eine zunehmende Anglei- die Defizite beherrschbar sind. chung sämtlicher ökonomischer Prozesse auf immer niedrigerem Niveau erreichen. Es wäre eine Rutschpar- Wir haben es riskiert, die größte Steuerreform seit tie. Wir könnten regionale Sonderentwicklungen und be- der Nachkriegszeit auf den Weg zu bringen, mit sondere Entwicklungen in den einzelnen Branchen nicht 56 Milliarden Euro Entlastung für alle, obwohl wir in mehr berücksichtigen. Außerdem könnten wir auf die den Haushalten außerordentlich große Schwierigkeiten Notlage von staatlichen Haushalten nicht mehr reagie- haben. Wir haben das getan, damit auf der Nachfrage- ren. Es gäbe, wie gesagt, eine Angleichung auf niedrige- seite nicht noch mehr wegbricht. Stellen Sie sich einmal rem Niveau, weil das Wachstum beschnitten würde. Das vor, wir hätten das nicht getan, wo wir dann mit unserem wäre ein Programm des Niedergangs. 12022 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Wirtschaft ist ein atmendes System. Das Korsett darf sen. Der Euro kämpft an dieser Stelle noch immer. Laut (C) deshalb nicht zu eng angelegt werden. Die Atmung EU-Kommission sind 67 Prozent der Deutschen un- würde immer flacher werden. Das Leben wird dadurch glücklich über die Euroeinführung. nicht leichter. Das wissen alle diejenigen – ich selber hatte noch nicht das Vergnügen –, die ein Korsett tragen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich glaube, wir müssen insgesamt etwas kreativer bei Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des der Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele Kollegen Schultz? vorgehen. Wir müssen die Wirtschaft atmen lassen und dürfen wirtschaftspolitische Prozesse nicht durch eine Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): verengte mechanistische Vorgehensweise unterdrücken. Ja, gerne. Vielen Dank. Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lieber Herr Kollege Nüßlein, wir beide lieben Spa- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nien, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Stimmen Sie mir zu, dass es im Wesentlichen der Stabilisierung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: des spanischen Staatshaushaltes durch europäische Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Nüßlein. Transfers zu verdanken ist, dass Spanien Mitglied der Eurozone sein kann? Wenn man diese Transfers kom- (Beifall bei der CDU/CSU) plett streichen würde, dann wäre bei gleichen Investi- tionen die Schuldensituation in Spanien deutlich Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): schlechter als bei uns. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Das Problem mit dieser Art von Finanzausgleich ist: Schultz, um Ihre Worte zu gebrauchen: Der Fokus ist im- Die reicheren Länder geben den ärmeren etwas ab. Wir mer auf Stabilität gerichtet. Denn Stabilität ist ex defini- beschneiden dadurch unsere Handlungsfähigkeit, auch tione kein kurzfristiges Moment. Vertrauen ist die Wert- in Bezug auf die Konsolidierung unseres Haushaltes, zu- basis jeder Währung. Die D-Mark besaß dieses in Zeiten gunsten der Staatshaushalte anderer Länder. Dafür ist des wirtschaftlichen Aufstiegs Deutschlands gewachsene Spanien das beste Beispiel. Vertrauen. Hätten wir die D-Mark noch immer, ginge die expansive Ausgabenpolitik und die verfehlte Wirt- (Beifall bei der SPD) schaftspolitik dieser Regierung sicher zulasten der Stabi- lität der D-Mark. (B) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): (D) Ich bin davon überzeugt, dass der Euro für Stabilität Herr Kollege Schultz, Sie werden doch nicht bestrei- sorgt. Heute, in Zeiten des Euro, ist es nun einmal so, ten wollen, dass die Finanzpolitik Spaniens durchaus in dass die Stabilitätsländer für die Haushaltspolitik der die richtige Richtung geht. Bundesregierung büßen. Stabilitätsländer wie Österreich (Stephan Hilsberg [SPD]: Das war nicht die oder Spanien werden sich das – davon bin ich über- Frage!) zeugt – nicht dauerhaft gefallen lassen; sie werden sich dagegen wehren. – Schauen Sie sich doch einmal die Entwicklung an! – Sie werden doch nicht den europäischen Ausgleich und Ich muss deutlich sagen: Die Hoffnung, dass sie das die gesamte Politik der Europäischen Union infrage stel- tun, klingt ein wenig wie Hohn. Denn gerade Deutsch- len wollen. land hat sich für den Stabilitätspakt stark gemacht. Die Deutschen haben mit der D-Mark etwas aufgegeben, (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das was für Wirtschaftswunder, Stabilität und eben Ver- nehme ich zur Kenntnis!) trauen stand. Die Politik damals – inklusive der Minis- Es ist doch richtig und wichtig, dass wir die Infrastruktur terpräsidenten Eichel und Schröder – hat den Menschen in den ärmeren Ländern der EU aufbauen und dort tätig dafür einen Stabilitätspakt versprochen. werden. Sie sollten sich nicht auf Spanien fokussieren. Entsprechend hat sich die CDU/CSU vehement dafür Schauen Sie sich doch einmal die Entwicklung in Öster- eingesetzt, dass Preisstabilität in den Zielkatalog der eu- reich oder in den anderen Ländern an! Tun Sie das! ropäischen Verfassung aufgenommen wird. Das ist ganz (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Ich wichtig. Das alles kann aber nicht das Zuckerl, das muss ja andächtig stehen bleiben, da Sie mir Trostpflaster oder die kurzfristig wirkende Beruhigungs- antworten!) pille für die Menschen sein. Wenn wir mit dem Stabili- tätspakt so umgehen würden, wie Sie das gerne hätten, Beides, eine Unterstützung der ärmeren Länder und die dann würden wir nicht nur den Euro, sondern auch die Einhaltung des Stabilitätspaktes, muss möglich sein; das deutsche Politik weiter in die Vertrauenskrise manövrie- werde ich im Laufe meiner Rede begründen. ren. Meine Damen und Herren, der Euro ist, wie gesagt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine junge Währung. 67 Prozent der Deutschen sind laut EU-Kommission unglücklich über die Euroeinführung. Ich sage Ihnen ganz offen: Der Euro ist eine junge Das liegt daran, dass die gefühlte Inflation höher ist als Währung. Das Vertrauen in diese Währung muss wach- die gemessene. Die gemessene beträgt 1,1 Prozent. Laut Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12023

Dr. Georg Nüßlein (A) „Capital“-Umfrage sind 32 Prozent der Menschen der nicht durch zusätzliche Einsparungen ausgleichen zu (C) Meinung, dass die Preise in Deutschland um 5 Prozent müssen. steigen. 25 Prozent meinen, die Preise würden um 10 Prozent steigen. Man hat bei Ihnen ein bisschen den Eindruck, als sei das 3-Prozent-Defizitkriterium ein Ziel. Nein, es geht (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Aber hier um eine Grenze. Ich bin der Überzeugung, dass es wer orientiert sich daran?) die Option, mit staatlichen Schulden über die 3-Prozent- Das kommt auch daher, Grenze hinaus die Konjunktur anzukurbeln, nicht mehr gibt. Wir können uns das im Interesse der jungen Gene- (Joachim Poß [SPD]: Das kommt auch daher, ration im Sinne einer nachhaltigen Finanzpolitik nicht dass Sie so viel Quatsch reden!) leisten. Eine relativ starke ältere Generation kann nicht dass bei uns beim täglichen Bedarf ein Preisanstieg deut- die Probleme und Schuldentilgungslast auf eine kleiner lich spürbar ist. Das kommt natürlich von diversen Steu- werdende junge Generation verlagern. Wir brauchen ererhöhungen, insbesondere von der Ökosteuer und den mittelfristig Überschüsse statt Defizite, um der demogra- indirekten Steuern, für die Sie verantwortlich sind. phischen Entwicklung in Deutschland Rechnung zu tra- gen. Ich weiß, das geht nicht von heute auf morgen. Ich kann mir eine Bemerkung zur Ökosteuer nicht Aber nach sechs Jahren an der Regierung kann man verkneifen. Ich bin nur ein einfacher Betriebswirt, aber nicht so tun, als habe man gerade erst angefangen zu re- mir ist klar: Ölpreise, die aufgrund der Marktentwick- gieren. lung steigen, sind konjunkturschädlich. Aber ich frage mich, warum dann Energiepreise, die aufgrund der Öko- Die widersprüchlichen Reformschritte – erst alles zu- steuer steigen, nicht konjunkturschädlich sein sollen. rücknehmen und dann durch die Hintertür wieder ein- Vielleicht denken Sie einmal darüber nach! führen – kosten Zeit und Vertrauen. Deshalb: Ändern Sie Ihre Politik, nicht den Stabilitätspakt! Schaffen Sie Ver- Nun haben heute diverse Kollegen unbekümmert die trauen! Anmerkung gemacht: Was wollt ihr eigentlich, der Euro ist stabil; die Zinsen und auch die Inflation sind niedrig. Vielen herzlichen Dank. Oberflächlich betrachtet könnte man dem sogar zustim- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men. Selbst die Ecofin-Entscheidung, das Defizitverfah- ren ruhen zu lassen, blieb ohne nennenswerte Reaktion der Finanzmärkte. Nun stellt sich die Frage, woher das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kommt. Ich bin der Überzeugung: Das kommt daher, Ich schließe damit die Aussprache. dass andere Länder für Stabilität stehen und dass die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (B) Auswirkungen von anderen Aspekten überlagert wer- den Drucksachen 15/3719, 15/3721 und 15/3957 an die (D) den, zum Beispiel dadurch, dass wir weltweit eine hohe in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Liquiditätsausstattung des Marktes haben. schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Aber auf dieses Glück können wir uns nicht dauerhaft Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. verlassen. Als ehemaliger Banker darf ich Ihnen sagen, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 b bis 28 h sowie dass Finanzmärkte gelegentlich mit Verzögerung und die Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf: häufig unberechenbar reagieren. Ich will an dieser Stelle nicht den Teufel an die Wand malen, aber denken wir 28 b) Erste Beratung des von der Bundesregierung doch einmal darüber nach, was ein Zinsanstieg konjunk- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- turell, aber auch für die Schuldenlast dieses Staates be- besserung des unfallversicherungsrechtlichen deuten würde. Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen Doch zurück zum Stabilitätspakt. Griechenland hat ihn seit 2000 verletzt und Zahlen verschleiert; auch darü- – Drucksache 15/3920 – ber haben wir heute schon gesprochen. Das ist nicht ver- Überweisungsvorschlag: trauensfördernd. Die EU-Kommission muss die Verläss- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) lichkeit der Zahlen sichern. Die Bundesregierung hat Innenausschuss keine Chance, mit dem Finger auf die Griechen zu zeigen: Sportausschuss Verteidigungsausschuss Vor der Bundestagswahl hat Herr Eichel die Haushalts- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zahlen vorsätzlich vergessen und jeden Verstoß gegen das Defizitkriterium bestritten. Der deutsche Haushalt strotzt c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- vor Luftbuchungen. Wir erwarten im Jahre 2004 eine Re- gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur kordverschuldung, wobei Finanzminister Eichel schon Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften heute den ersten Korrekturbedarf ankündigt. – Drucksache 15/3932 – Wir müssen die Politik und nicht den Stabilitätspakt Überweisungsvorschlag: ändern. Der Stabilitätspakt ist meiner festen Überzeu- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) gung nach ausreichend flexibel. 3 Prozent, bezogen auf Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und das Verhältnis des gesamtstaatlichen Defizits zum Brut- Landwirtschaft Haushaltsausschuss toinlandsprodukt, sind genug Spielraum, um in schwieri- gen Konjunkturphasen automatisch Stabilisatoren wir- d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ken zu lassen, das heißt, geringere Steuereinnahmen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem 12024 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Abkommen vom 18. November 2002 zur Überweisungsvorschlag: (C) Gründung einer Assoziation zwischen der Eu- Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss ropäischen Gemeinschaft und ihren Mitglied- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe staaten einerseits und der Republik Chile an- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und dererseits Entwicklung – Drucksache 15/3881 – b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Überweisungsvorschlag: und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Auswärtiger Ausschuss brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän- zung des Entschädigungsgesetzes (Entschädi- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero gungsrechtsänderungsgesetz – EntschRErgG) Storjohann, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Drucksache 15/3944 – der CDU/CSU Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Führerscheinbürokratie verhindern – Führer- Rechtsausschuss scheintourismus beenden Haushaltsausschuss – Drucksache 15/3716 – c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Überweisungsvorschlag: und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Rechtsausschuss Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 15/3943 – Überweisungsvorschlag: f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Strobl (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Heimkehrerstiftungsgesetz verlängern Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügenge- – Drucksache 15/3806 – setz) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) – Drucksache 15/3966 – Verteidigungsausschuss (B) Überweisungsvorschlag: (D) Haushaltsausschuss Rechtsausschuss (f) g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Innenausschuss Fischer (Hamburg), Gero Storjohann, Eduard Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- der CDU/CSU ten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vor- geschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung Flexibilität für das Schaustellergewerbe aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit – Drucksache 15/3490 – einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- Überweisungsvorschlag: weisungen so beschlossen. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und 29 c bis Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus 29 e auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Essen, Tagesordnungspunkt 29 a: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Ehemaligen Soldaten der Nationalen Volks- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs armee das Führen ihrer früheren Dienstgrade eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkom- erlauben mens vom 29. Mai 1990 zur Errichtung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und – Drucksache 15/3357 – Entwicklung Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) – Drucksache 15/3785 – Innenausschuss (Erste Beratung 129. Sitzung) Rechtsausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- ZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- schusses (7. Ausschuss) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- tokoll V vom 28. November 2003 zum VN- – Drucksache 15/3954 – Waffenübereinkommen Berichterstattung: – Drucksache 15/3937 – Abgeordneter Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12025

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3954, Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache (C) den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die 15/3839, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – das Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen oder Enthal- Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit mit tungen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist den Stimmen des gesamten Hauses angenommen wor- damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen den. worden. Tagesordnungspunkt 29 c: Dritte Beratung Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer zur Änderung des Patentgesetzes und anderer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz- Vorschriften des gewerblichen Rechtsschutzes entwurf ist damit auch in dritter Beratung einstimmig an- genommen worden. – Drucksache 15/3658 – Tagesordnungspunkt 29 e: (Erste Beratung 126. Sitzung) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften schusses (6. Ausschuss) Gesetzes zur Änderung des Abwasserabgaben- – Drucksache 15/3970 – gesetzes Berichterstattung: – Drucksache 15/2950 – Abgeordnete Dirk Manzewski (Erste Beratung 118. Sitzung) Jerzy Montag Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Rainer Funke ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (15. Ausschuss) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- – Drucksache 15/3791 – empfehlung auf Drucksache 15/3970, den Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Berichterstattung: diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Abgeordnete sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gibt es Ulrich Petzold Winfried Hermann (B) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf (D) ist damit in zweiter Beratung angenommen worden. Birgit Homburger Dritte Beratung Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Drucksache 15/3791, den Gesetzentwurf in der Aus- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Gegenstimmen oder Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen ist damit auch in dritter Beratung einstimmig angenom- wollen, um das Handzeichen. – Gibt es Gegenstim- men worden. men? – Enthaltungen? – Auch dieser Gesetzentwurf ist Tagesordnungspunkt 29 d: damit in zweiter Beratung einstimmig mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Dritte Beratung zu dem Vertrag vom 17. April 2003 zwischen und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wenn der Bundesrepublik Deutschland und der Sie dem Gesetzentwurf auch in der dritten Beratung zu- Tschechischen Republik über die Änderung stimmen wollen. – Stimmt jemand dagegen? – Das ist des Verlaufs der gemeinsamen Staatsgrenze im nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit auch in drit- Bereich der Autobahnbrücke am Grenzüber- ter Beratung einstimmig angenommen worden. gang Waidhaus – Rozvadov/Roßhaupt Tagesordnungspunkt 29 f: – Drucksache 15/3352 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Erste Beratung 118. Sitzung) richts des Ausschusses für Tourismus (19. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- Brähmig, Jürgen Klimke, Ernst Hinsken, weiterer gen Ausschusses (3. Ausschuss) Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU – Drucksache 15/3839 – Rahmenbedingungen für Geschäftsreisen ver- Berichterstattung: bessern Abgeordnete Petra Ernstberger – Drucksachen 15/1329, 15/3262 – Dr. Klaus Rose (Augsburg) Berichterstattung: Dr. Rainer Stinner Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm 12026 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (C) 15/1329 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- ausschusses (2. Ausschuss) empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Sammelübersicht 152 zu Petitionen Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/ – Drucksache 15/3818 – CSU und FDP angenommen worden. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Tagesordnungspunkt 29 g: stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Sammelüber- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sicht 152 ist angenommen mit den Stimmen der Koali- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition. (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundes- Tagesordnungspunkt 29 l: regierung Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- Zweiundsechzigste Verordnung zur Änderung ausschusses (6. Ausschuss) der Außenwirtschaftsverordnung Übersicht 8 – Drucksachen 15/3659, 15/3693 Nr. 2.1, 15/3842 – über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- Berichterstattung: ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- Abgeordnete Gudrun Kopp gericht Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung dieser Än- – Drucksache 15/3790 – derungsverordnung auf Drucksache 15/3659 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. fehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen nun zu einer Reihe von Beschlussemp- Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatz- fehlungen des Petitionsausschusses. punkt 5 auf: Tagesordnungspunkt 29 h: 4 Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- regierung ausschusses (2. Ausschuss) Bericht der Bundesregierung zum Stand der Be- (B) (D) Sammelübersicht 149 zu Petitionen mühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwick- – Drucksache 15/3815 – lung der Streitkräftepotenziale (Jahresabrüs- tungsbericht 2003) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Stimmt jemand dagegen? – Enthaltungen? – Sammel- – Drucksache 15/3167 – übersicht 149 ist einstimmig angenommen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Tagesordnungspunkt 29 i: Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ausschusses (2. Ausschuss) Entwicklung Sammelübersicht 150 zu Petitionen ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung des Auswär- tigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag – Drucksache 15/3816 – der Abgeordneten Uta Zapf, Petra Ernstberger, Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung – Gegen- Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer Abgeordne- stimmen? – Enthaltungen? – Sammelübersicht 150 ist ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- ebenfalls einstimmig angenommen. neten Winfried Nachtwei, Marianne Tritz, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Tagesordnungspunkt 29 j: Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Verhinderung der Proliferation von Massen- ausschusses (2. Ausschuss) vernichtungswaffen durch Abrüstung und Sammelübersicht 151 zu Petitionen kooperative Rüstungskontrolle – Drucksache 15/3817 – – Drucksachen 15/1786, 15/3967 – Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Berichterstattung: Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Sammelüber- Abgeordnete Uta Zapf sicht 151 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Ruprecht Polenz Marianne Tritz Tagesordnungspunkt 29 k: Harald Leibrecht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12027

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die fentlich seinen umfassenden Verzicht auf Massenver- (C) Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen nichtungswaffen erklärt. Das ist ein Erfolg. Wir hoffen, Widerspruch. Dann ist so beschlossen. dass dies Signalwirkung auf andere Länder in der Re- gion haben wird. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Frau Staatsministerin Kerstin Müller. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass wir uns Amt: große Sorgen über Nordkorea und das iranische Nukle- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spätes- arprogramm machen. Vor allem bezüglich des Iran rich- tens seit dem 11. September 2001 wissen wir: Die alten ten wir unsere Anstrengungen darauf, eine iranische Gewissheiten einer bipolaren Weltordnung aus den Zei- Nuklearwaffenkapazität zu verhindern. Gemeinsam mit ten des Kalten Krieges gibt es nicht mehr. Wir sind heute seinem französischen und seinem britischen Kollegen mit ganz neuen und komplexen Sicherheitsrisiken kon- hat Bundesminister Fischer hierzu im letzten Jahr, wie frontiert. Neben dem internationalen Terrorismus und ei- Sie wissen, die Initiative ergriffen. Die Teheraner Erklä- nem unverändert hohen regionalen Konfliktpotenzial rung vom 21. Oktober letzten Jahres war ein großer Er- steht dabei vor allem die Gefahr der Verbreitung von folg der europäischen Diplomatie. Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln im Vordergrund. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Uns ist dabei klar: Diese neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen kann kein Staat im Alleingang mit In diesem Rahmen hat sich der Iran gegenüber den Aussicht auf Erfolg meistern. Vielmehr brauchen wir drei europäischen Staaten vor allem zur vollen Koopera- mehr denn je das gemeinsame Handeln aller Mitglieder tion mit der IAEO, zur Zeichnung und vorläufigen der internationalen Staatengemeinschaft. Deshalb ver- Anwendung des IAEO-Zusatzprotokolls sowie zur Sus- folgt die Bundesregierung einen kooperativen sicher- pendierung seiner Aktivitäten im Bereich der Urananrei- heitspolitischen Grundansatz, der multilateralen Normen cherung und -wiederaufbereitung verpflichtet. Damit und Regimen verpflichtet ist. Diesen wollen wir im Rah- wurden zentrale Forderungen der internationalen Staa- men einer wirksamen internationalen Ordnungspolitik tengemeinschaft erfüllt. Gleichzeitig eröffnet die Tehera- verwirklichen. ner Erklärung die Perspektive für eine langfristige Lö- sung. Dabei ist die Nichtverbreitung von Massenvernich- (B) tungswaffen eine ganz zentrale Aufgabe, der sich die Wir befinden uns derzeit in einer ganz entscheidenden (D) Bundesregierung in besonderer Weise verpflichtet fühlt. Phase. Der IAEO-Gouverneursrat wird im November Wir setzen hierbei vor allem auf eine ursachenorientierte dieses Jahres auf Basis eines umfassenden Berichts des Politik und auf die Nutzung und Stärkung des politi- Generaldirektors entscheiden, ob im Hinblick auf die Er- schen und diplomatischen Instrumentariums. Es gilt, die füllung der Verpflichtungen Irans gegenüber der IAEO Proliferation und neue Rüstungswettläufe durch vertrag- weitere Schritte erforderlich sind. Die Zeit bis zum liche Abmachungen und die Stärkung bestehender multi- nächsten Gouverneursrat ist knapp. Wir rufen den Iran lateraler Regime zu verhindern. Hierfür ist die am deshalb nachdrücklich dazu auf, den Resolutionen des 12. Dezember 2003 durch den Europäischen Rat verab- IAEO-Gouverneursrates in vollem Umfang zu entspre- schiedete EU-Strategie gegen die Verbreitung von Mas- chen und auch die Suspendierung seiner anreicherungs- senvernichtungswaffen ein ganz wichtiger Meilenstein. bezogenen Aktivitäten wiederherzustellen. Sie schafft eine umfassende, sie schafft eine kohärente (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundlage für das Handeln der Europäischen Union. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Daneben wollen wir auch in den Vereinten Nationen FDP) den strategischen Konsens und die internationale Ge- Das ist für uns ein ganz zentraler Schritt zur Vertrauens- schlossenheit bei der Proliferationsbekämpfung stärken. bildung. Der Iran sollte ihn sofort, ohne weitere Verzö- Hier haben wir im letzten Jahr ebenfalls Fortschritte ge- gerung, umsetzen. macht. Die unter deutscher Präsidentschaft im Sicher- heitsrat der Vereinten Nationen im April dieses Jahres Die internationale Gemeinschaft braucht objektive verabschiedete Resolution schließt wichtige Regelungs- Garantien, dass Irans friedliches Nuklearprogramm nicht lücken bei der Proliferationsbekämpfung. Sie verpflich- für Ziele benutzt wird, die mit den im Nichtverbreitungs- tet alle Staaten der internationalen Gemeinschaft dazu, vertrag vorgesehenen Rechten und Pflichten unvereinbar Maßnahmen zur Kriminalisierung der Proliferation, zur sind. Gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien Gewährleistung strikter Exportkontrollen und zur Siche- werden wir nicht nachlassen, den Iran davon zu überzeu- rung relevanter Materialien zur Herstellung von Massen- gen, freiwillig auf die Schließung des Brennstoffkreis- vernichtungswaffen zu ergreifen. laufes zu verzichten. Meine Damen und Herren, die Gefahren der Verbrei- Meine Damen und Herren, der Ihnen vorliegende tung von nuklearen Waffen stehen gegenwärtig im Mit- Jahresabrüstungsbericht 2003 vermittelt ein umfassen- telpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit – zu Recht, des Bild über die bestehenden rüstungskontrollpoliti- wie ich meine. Libyen hat am 19. Dezember 2003 öf- schen Aufgaben und Herausforderungen. Er ist Ausweis 12028 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Staatsministerin Kerstin Müller (A) des klaren Bekenntnisses der Bundesregierung zu einer Lassen Sie mich jetzt zu einem der Schwerpunkte des (C) aktiven Rüstungskontrollpolitik. Jahresabrüstungsberichts 2003 ausführlicher etwas sa- gen: zur Situation im Iran. Natürlich besteht weltweit Abschließend möchte ich Ihnen ausdrücklich dafür die Sorge, dass Iran nach der Atomwaffenoption stre- danken, dass die Bundesregierung in ihrem Engagement ben könnte. Die IAEO hat „failures and breaches“ des für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung Nichtverbreitungsvertrages festgestellt, weil der Iran auf die breite Unterstützung durch Sie, den Bundestag, nicht angezeigt hat, Uran importiert sowie eine Anrei- zählen kann. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft mit Ih- cherungsanlage in Natanz und eine Schwerwasserpro- rer Unterstützung in diesem Bereich rechnen können. duktionsanlage in Arak aufgebaut zu haben. Es gibt eine Danke schön. Reihe noch offener Fragen, etwa die Herkunft der Mischproben; hier ist die Kooperation mit Dritten nötig, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um das aufzuklären. Offen ist sicherlich auch die Frage und bei der SPD) der Dimensionierung der Anlagen im Iran, über die ich gerade gesprochen habe; denn für eine alleinige zivile Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nutzung sind sie zweifellos bei weitem überdimensio- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz. niert. Man muss diese Sorge auch im Zusammenhang mit Ruprecht Polenz (CDU/CSU): den iranischen Anstrengungen zur Rüstung mit ballisti- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und schen Raketen sehen. Die „Schahab 3“ kann mit ihrer Herren! Rüstungsexporte von heute können leicht zu den Reichweite von 1 300 Kilometern auch den Staat Israel Abrüstungsproblemen von morgen werden. Deshalb erreichen. Ballistische Raketen mit herkömmlichen möchte ich zu Beginn eine Bewertung der Rüstungsex- Sprengköpfen machen strategisch relativ wenig Sinn. portpolitik zitieren, die wir im „Spiegel“ dieser Woche finden und in der die Sache zutreffend beschrieben wird: (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: So ist es!) Die Menschenrechte sind zur nachrangigen Größe Dazu kommt – auch das steht im Jahresabrüstungsbe- geworden, ehemals verpönte Waffengeschäfte sto- richt 2003 – der relativ schlechte Zustand der konventio- ßen selbst bei den Grünen nur noch auf wenig Pro- nellen iranischen Streitkräfte. Auch das könnte ein Indiz test. dafür sein, dass der Iran die Atomwaffenoption anstrebt. Diese Beobachtung ist richtig. Der Iran will nun den vollen Brennstoffkreislauf. Dies wird als notwendig für zivile Zwecke deklariert. Aber Ich finde es übereilt, dass der Außenminister für die der volle Brennstoffkreislauf wäre eben auch dicht an (B) (D) Aufhebung des Waffenembargos gegen Libyen gestimmt der Schwelle für eine militärische Nutzung. Das Ganze hat, muss man vor dem Hintergrund sehen, dass man den (Beifall bei der CDU/CSU) Atomwaffensperrvertrag mit einer Frist von drei Mona- ten kündigen kann. Eine solche Kündigungsfrist würden und ich finde es falsch, dass sich der Bundeskanzler wir in der deutschen Diskussion über den Kündigungs- nach wie vor für die Aufhebung des EU-Waffenembar- schutz nicht akzeptieren, aber im Atomwaffensperrver- gos gegen China einsetzt – trag ist diese Frist so kurz festgelegt. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sind uns einig im Ziel, aber nicht im Weg, wie trotz der Menschenrechtslage in diesem Land, trotz der wir es erreichen, den Iran wieder in den Atomwaffen- wachsenden Spannungen mit Taiwan und der Rüstungs- sperrvertrag, den er ja unterzeichnet hat, einzubinden anstrengungen, die China gegenüber Taiwan vor Ort un- und ihn dauerhaft und verlässlich von einem Streben ternimmt. nach Atomwaffen abzuhalten. Die Europäische Union, vertreten durch die Außenminister Frankreichs, Eng- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr lands und Deutschlands, setzt auf eine Verhandlungslö- wahr!) sung, die Vereinigten Staaten meinem Eindruck nach na- hezu ausschließlich auf Druck. Die Erklärung von Die Beruhigungspille, man wolle sich an die eigenen, re- Teheran – Sie haben sie erwähnt – hat einen ersten Er- striktiven Rüstungsexportrichtlinien halten, ist eigentlich folg dargestellt. Dieser resultiert aus beidem: Nur weil nicht mehr sehr überzeugend vor dem Hintergrund der die Amerikaner Druck gemacht haben, konnte die Ver- Spekulationen über die Erwartungen von EADS an die Zeit nach einem Fall des Waffenembargos. handlungslösung in Form der Erklärung von Teheran er- reicht werden. Ich möchte hinzufügen: Auch die Russen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE waren hilfreich, auch die Weltgemeinschaft, soweit sie GRÜNEN]: Das sind Spekulationen!) sich im IAEO-Gouverneursrat wiederfindet. Alle haben dem Iran deutlich gemacht: Die Welt will keinen nuklear Ganz abgesehen davon birgt die Haltung der Bundes- bewaffneten Iran. regierung im Schulterschluss mit Frankreich gerade in dieser Frage das Risiko eines neuen Konflikts mit den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vereinigten Staaten; auch das bedenkt die Bundesregie- der SPD) rung offensichtlich nicht. Seit der Teheraner Erklärung gibt es ein Hin und Her (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der iranischen Politik. Sie kooperiert bei den Inspek- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12029

Ruprecht Polenz (A) tionen – das ist positiv –, bei der Zusicherung, die Uran- strategie – ohne ein Druckpotenzial gänzlich außen vor (C) anreicherung zu suspendieren, schwankt sie aber immer zu lassen – sicherlich mehr Erfolg verspricht. wieder hin und her. (Beifall des Abg. Erich G. Fritz [CDU/CSU]) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Der NVV gibt dem Iran das Recht zu einer friedlichen Solms) Nutzung inklusive der Anreicherung; ich habe das schon gesagt. Wir sollten den Iran beim Wort nehmen. Er hat Der nächste Bericht wird am 25. November 2004 vorge- immer wieder gesagt, er wolle ein friedliches Pro- legt. Das Ziel lautet – so habe ich Sie verstanden; Sie ha- gramm und er sei auch bereit, das zu garantieren. Wir ben das gerade entsprechend formuliert –, dass der Iran müssen fragen, welche Garantien der Iran zu geben be- bis dahin zur vollständigen Suspendierung zurückge- reit ist. Ein freiwilliger Verzicht wird sicherlich nicht kehrt sein sollte. Das heißt, wir sind noch nicht soweit. endgültig zu erreichen sein. Mit einer Perspektive von Nun möchte ich etwas zur Druckstrategie sagen. Ich zehn Jahren wäre aber auch schon etwas gewonnen. Eine glaube, dass Druck allein nicht zum Ziel führt. Die Ame- zehnjährige Suspendierung der Anreicherungsaktivitäten rikaner streben offensichtlich an, die ganze Sache vor wäre hilfreich, um das Vertrauen, das durch die Verheim- den UN-Sicherheitsrat zu bringen. Die erste Frage, die lichung und Heimlichtuereien verloren gegangen ist, sich vor diesem Hintergrund stellt, lautet: Wird es dort wieder herzustellen. überhaupt zu nennenswerten Beschlüssen kommen; Wenn man eine Anreizstrategie entwickelt, dann darf denn China ist auf iranisches Öl angewiesen und auch man nicht vergessen, dass das Ganze für den Iran auch Russland ist gegenüber einem Sanktionsregime relativ eine Prestigefrage ist. Er hat im Irakkrieg die Erfahrung skeptisch? Die zweite Frage, die sich stellt, hat damit zu gemacht, dass dem Feind Waffen geliefert wurden, er tun, dass der Iran vortragen könnte, er nehme mit der selbst aber isoliert war. Auch beim Atomkraftwerk Bu- Anreicherung lediglich ein Recht wahr, das ihm aus dem schehr gab es immer wieder Anstrengungen von außer- Sperrwaffenvertrag zustehe, nämlich die friedliche Nut- halb, die Fertigstellung dieses Kernreaktors zu verhin- zung der Kernenergie einschließlich der Anreicherung. dern. Wenn man sich die iranische Interessenlage anschaut, stellt man fest, dass in dieses Programm eine Schauen wir uns nun die Sanktionen an, die möglich ganze Menge investiert worden ist. wären: ein Waffenembargo und Handelssanktionen. Ein Waffenembargo besteht de facto bereits und der Iran ist Iran muss – sonst wird dies nach meiner Überzeugung der viertgrößte Ölexporteur der Welt. Ich kann mir nur nicht funktionieren – eine sichere Brennstoffversor- schwer vorstellen, dass wir in der jetzigen Energie- gung garantiert werden. Das heißt, er braucht eine situation Sanktionen beschließen, wodurch dieses Öl zu- Marktzutrittsgarantie und die Sicherheit, dass er nicht (B) (D) sätzlich vom Weltmarkt genommen würde. Bezüglich aus politischen Gründen daran gehindert wird, Brenn- der Sanktionen darf man auch nicht übersehen, dass stäbe für seine zivile Nutzung zu kaufen, so lange er sich Druck solidarisiert und dass die Öffnung und die Refor- an den Atomwaffensperrvertrag hält. In diesem Zusam- men im Iran wahrscheinlich gehemmt würden. Auch das menhang kann die Sicherheit der Versorgung durch läge nicht in unserem Interesse. Diversifizierung der Belieferung gewährleistet werden, und zwar mit Russland, möglicherweise aber auch mit Nun gibt es Spekulationen über militärische Präven- Europa. tivschläge. Diese Spekulationen kommen daher, dass Israel den irakischen Reaktor Osirak, der auch Bestand- Damit – ich komme zum Schluss – möchte ich noch teil eines Programms war, das zu Atomwaffen führen ein Problem ansprechen. Die Deutschen können nicht sollte, 1981 zerstört hat. Man darf nicht übersehen: Zehn liefern, weil Rot-Grün aus der Atomenergie aussteigen Jahre später haben die Inspekteure der Vereinten Na- will. Die Franzosen brauchten zum Liefern deutsche tionen im Irak ein außerordentlich und erschreckend Lizenzen. Die Frage ist: Wie stellt sich die Bundesregie- weit fortgeschrittenes Atomwaffenprogramm identifi- rung dazu? Die Briten brauchten, um zu liefern, das ziert. Mit diesem Präventivschlag war also nicht einmal amerikanische Einverständnis. Die Lieferdiversifizie- eine Suspendierung der Anstrengungen auf zehn Jahre rung kommt also aufgrund rot-grüner Ausstiegspolitik in verbunden. einen gewissen Zwiespalt. Ich wünsche mir, dass dieser Zielkonflikt in einer vernünftigen Weise gelöst wird, so- Präventivschläge hätten unabsehbare Kollateralschä- dass die Atomwaffenoption im Iran wirklich dauerhaft den zur Folge. Die gegenwärtige Regierung würde si- vom Tisch kommt. Dieses Ziel verfolgen wir gemein- cherlich deutlich gestärkt werden. Sie hätten auch mas- sam. Es ist aller Anstrengungen wert; denn wenn wir es sive Auswirkungen auf andere Länder. Ich sehe auch nicht schaffen, dann werden wir erstens einen atlanti- eine erhebliche Eskalationsgefahr. Ich nenne als Beispiel schen Split bekommen – dagegen ist nach meiner Über- mögliche Antworten der Iraner, die sie ja auch schon zeugung das Problem mit dem Irak noch gering – und während dieser Spekulation gegeben haben: Man könnte zweitens wäre ein nuklear aufgerüsteter Iran eine Bedro- sich einen israelischen Kernreaktor zur Vergeltung aus- hung für die Stabilität der Region, möglicherweise sogar suchen und man könnte Einfluss auf die Hisbollah im für den Weltfrieden. Libanon nehmen, damit sie wieder gegen Israel vorgeht. Vielen Dank. Natürlich gibt es für den Iran auch ein Eskalationspoten- zial im Irak und – nicht zu vergessen – auch in Afghanis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- tan. Das sollte deutlich genug machen, dass eine Anreiz- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 12030 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Vizepräsident Dr. : Internationale Abkommen müssen auch verifizierbar (C) Das Wort hat die Kollegin Petra Ernstberger von der sein. Dazu benötigen wir die entsprechenden Verifika- SPD-Fraktion. tionsregime und die Überprüfungsmechanismen. Abrüs- tungsinitiativen müssen Glaubwürdigkeit und Vertrauen Petra Ernstberger (SPD): schaffen. Aktuelle Proliferationsfälle – darauf weist die Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Bundesregierung in dem hier zu behandelnden Jahresbe- gen! Abrüstung und Rüstungskontrolle sind in der jetzi- richt hin – machen es weiterhin notwendig, verstärkt an gen internationalen Situation ein wichtiger und immer der Kontrolle von Nichtverbreitungsverpflichtungen im wichtiger werdender Eckpfeiler deutscher Außen- und Hinblick auf Kernwaffen zu arbeiten. Wir müssen wei- Sicherheitspolitik. Wir verfolgen die Prinzipien des Mul- terhin die Wirksamkeit des Vertrages über die Nichtver- tilateralismus, der rechtlichen Verbindlichkeit von Ver- breitung von Kernwaffen, des NVV, stärken und so auch trägen und der Universalität von internationalen Abkom- die Nutzung von ziviler Atomtechnologie für militäri- men. sche Zwecke ausschließen. Im Bereich der Atomwaffen sind diese Prinzipien (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schon weit gehend in die Realität umgesetzt und werden DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald auch von vielen Staaten akzeptiert. Dennoch sind es ge- Leibrecht [FDP]) rade die kritischen Staaten wie eben Nordkorea oder Diese Kontrolle muss aber auch einen präventiven Iran, die weiterhin negativ im Mittelpunkt der Welt- Aspekt haben. Leider – das bedauere ich sehr – steckt öffentlichkeit stehen, wenn es um Atomprogramme und der Prozess der präventiven Rüstungskontrolle fest. die Verbreitung entsprechender Technologien geht. Auch Der Stillstand in der Genfer Abrüstungskonferenz muss hier gilt es, das Prinzip der Universalität durchzuset- mit allen Möglichkeiten überwunden werden. Dazu zen. Dafür macht sich die Bundesregierung stark. Zum muss sich die Bundesregierung weiterhin anstrengen. Iran hat der Kollege Polenz schon eine ganze Menge ge- Die Bundesregierung muss sich bemühen, dass die EU- sagt. Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernich- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Recht tungswaffen weiter vorangebracht wird, dass aber auch Kluges gesagt!) die Zusammenarbeit mit Russland im Rahmen der G 8 intensiviert wird, eine Universalisierung des umfassen- – Das bestreite ich gar nicht. Ich kann vieles von dem, den Verbotes von Nukleartests angestrebt wird, Träger- was er gesagt hat, unterstreichen. Aber ich glaube nicht, technologien besser erfasst und kontrolliert werden und dass wir jetzt unsere Ausstiegspolitik wegen der Liefe- das internationale Abkommen über Biowaffen gestärkt rung von Brennstäben in den Iran ändern werden. wird. (B) (D) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Zu einer umfassenden Strategie gegen die Verbreitung hätte uns gerade noch gefehlt! – Winfried von Massenvernichtungswaffen gehört aus meiner Sicht Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie aber auch, dass solche Staaten, die auf die entsprechen- bekommen sie auch so!) den Waffen nachweisbar verzichten, verstärkt wieder in die internationale Gemeinschaft integriert oder reinte- – Eben. Ich muss noch ein paar Worte zum Iran sagen. griert werden. Der Verzicht auf atomare, biologische Für die SPD-Fraktion möchte ich deutlich machen, dass oder chemische Waffen sollte also international aner- auch der Iran die weltweite Gültigkeit und Beteiligung kannt werden und aus der Isolation herausführen. Dass an den Rüstungskontrollregimen akzeptieren und vor al- solche Signale kein Freifahrtschein sein können, wird lem mit ihnen kooperieren muss. Ich möchte an dieser nirgendwo bezweifelt. Auch materielle Belohnungen Stelle noch einmal Minister Fischer für die Anregung können keine Lösung darstellen. zum Dialog mit den beiden Kollegen aus Großbritannien und Frankreich ganz herzlich danken; denn es kann nicht Wie es aber gehen kann, hat uns der Besuch des sein, dass sich der Iran durch die Hintertür von interna- Kanzlers in Libyen gezeigt. Gaddafi ist sicherlich eine tionalen Abkommen verabschiedet. Ein geheimes Atom- äußerst umstrittene Figur, aber das Beispiel Libyen programm ist einfach nicht zu akzeptieren. könnte als Signal an andere Länder verstanden werden; denn nach dem Verzicht auf Massenvernichtungswaffen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Dezember 2003 stehen dem Land nun Perspektiven DIE GRÜNEN) einer Kooperation mit der Europäischen Union, aber Die Bemühungen um den Iran gehen weiter und müs- auch eine mögliche Integration in die Welthandelsorga- sen auch weitergehen. Dabei setzen wir einmal auf be- nisation offen. Ob dies gelingt, hängt zum großen Teil währte Instrumente, nämlich den kritischen Dialog und von Libyen ab; denn die Hand, die die internationale Ge- die weitere Arbeit der IAEO, die insgesamt anerkannt meinschaft ausgestreckt hat, ist da. Die Chance auf eine wird. Aber wir müssen auch auf etwas setzen, was sich Rückkehr aus der Isolation und somit auch auf eine wei- bisher noch nicht bewährt hat, nämlich auf die Dialog-, tere friedliche Entwicklung der Region Nordafrikas ist und Kooperationsbereitschaft von Teheran. Die iranische gegeben. Sie muss auch angenommen werden. Politik muss sich in meinen Augen bewegen. Ich möchte an dieser Stelle aber auch noch auf einen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aspekt der Abrüstung eingehen, der sich eher ein wenig DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der im Abseits der allgemeinen Öffentlichkeit vollzieht und CDU/CSU) nicht so intensiv wahrgenommen wird wie die Gefahr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12031

Petra Ernstberger (A) der Massenvernichtungswaffen. In Zeiten, in denen wir Was die Vermittlung von Waffengeschäften betrifft, (C) täglich neue Berichte über Bürgerkriege, ethnische Kon- können die Geschäfte von Deutschen im Ausland nur er- flikte oder bewaffnete Auseinandersetzungen auf den schwert oder gar nicht strafrechtlich verfolgt werden. Bildschirmen sehen, spielt auch die Kontrolle und die Auf internationaler Ebene erscheint es zudem problema- Abrüstung von konventionellen Waffen, insbesondere tisch, dass Bemühungen um eine Höchstgrenze an von Kleinwaffen und Minen, eine ganz entscheidende Kleinwaffen, die sich im Besitz von Staaten befinden Rolle. dürfen, von vielen Regierungen abgelehnt werden. Es werden oft nur solche Verfahren akzeptiert, die den ille- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ galen Besitz von Kleinwaffen beschränken sollen. Diese DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Friedbert Verfahren sind allerdings in ein viel zu weit gestricktes Pflüger [CDU/CSU] und Harald Leibrecht Fahndungsnetz eingebunden. Dieses Netz viel enger zu [FDP]) fassen, müsste Gegenstand der künftigen Bemühungen Oft sind die Ursachen, Akteure und Betroffenen der hinsichtlich der Kontrolle von Kleinwaffen sein. besagten Konflikte nicht staatlicher Natur und manch- Wir müssen uns insofern auch auf internationaler mal schwer zu identifizieren. Es stehen sich nicht unbe- Ebene stärker als bisher auf die Kleinwaffenproblematik dingt Nationen in Kriegen gegenüber. Es sind vielmehr konzentrieren. Dazu gehören auch die Entwaffnung und Warlords, bewaffnete Banden oder terroristische Verei- Wiedereingliederung von Soldaten in Krisenregionen. nigungen, die Angst und Schrecken verbreiten und so politische Systeme destabilisieren. Es sind die Frauen Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf das und die Kinder, die an den Folgen dieser Bürgerkriege Thema Antipersonenminen eingehen. In die Anstren- leiden. Im Bereich der konventionellen Waffen funk- gungen zur Bekämpfung von Minen müssen auch die tionieren diese Mechanismen zwischen den Parteien über 50 noch aktiven Herstellerländer mit einbezogen durchaus anders als im Bereich der nuklearen Bedro- werden, die noch immer außen vor sind. Auch muss be- hung. Während es bei nuklearen Abrüstungsbemühun- rücksichtigt werden, dass Minen, die im Grunde zum gen darum geht, dass die betroffenen Staaten die Zahl ih- Schutz von Soldaten der kämpfenden Armeen eingesetzt rer Atomwaffen begrenzen, verhandeln Gegner, die werden, langfristige – um nicht zu sagen: jahrhunderte- konventionelle Waffen wie Maschinengewehre besitzen, lange – Folgen für die Bevölkerung haben. eben nicht über die Begrenzung der in ihrem Besitz be- findlichen Waffen. Kleinwaffen befinden sich zudem Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie sehen, wird häufig in der Hand von Kindersoldaten und bedrohen die Abrüstung immer wichtiger. Wir danken der Bundes- auch nach der Beendigung von Konflikten weiterhin die regierung, die den Jahresabrüstungsbericht vorgelegt Zivilbevölkerung. hat, für ihre Bemühungen. Die einzelnen Schritte müs- (B) sen intensiv weiterverfolgt werden. (D) Deswegen ist die Staatengemeinschaft aufgefordert, erweiterte Lösungen zu suchen, um solchen Herausfor- Wir stehen zu den Vertragssystemen. Denn Verträge derungen noch besser Herr zu werden. Es gibt auch hier sollen bewirken, dass sich die Parteien, die sie unter- schon Erfolge zu vermelden. Zum Beispiel ist im No- zeichnen, vertragen. Deswegen ist es ein Ziel der Ver- vember 2003 im Rahmen der Vertragsstaatenkonferenz tragssysteme, eine entsprechende Rüstungskontroll- und des VN-Waffenübereinkommens ein Protokoll zum Abrüstungspolitik zu betreiben. Thema „Explosive Kampfmittelrückstände“ verabschie- Vielen Dank. det worden. Des Weiteren konnte nach der Fünften Ver- tragsstaatenkonferenz des Ottawa-Übereinkommens im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ September 2003 eine durchaus positive Bilanz gezogen DIE GRÜNEN) werden, da der Export von Antipersonenminen annä- hernd beendet worden ist und 51 Staaten ihre Bestände Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zerstört haben. Zusätzlich hat die VN-Staatenkonferenz Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von eine neue Arbeitsgruppe mit dem Ziel eingerichtet, der FDP-Fraktion. Kleinwaffen künftig zu kennzeichnen und deren Weg nachvollziehbar zu machen. Harald Leibrecht (FDP): Diese Schritte sind zwar richtig, aber wir können so- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene Meine Damen und Herren! Zwischen dem schönfärberi- noch mehr tun. Auf nationaler Ebene sollte die Vernich- schen Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung und tung überflüssiger Munition vorangetrieben und ver- dem sehr realistischen und kritischen Antrag von der sucht werden, Munitionsexporte besser zu kontrollieren. SPD und den Grünen, der auch von der FDP mitgetragen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird, besteht eine große Diskrepanz, DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) Leibrecht [FDP]) die deutlich macht, dass in Abrüstungsfragen bei der Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Einbeziehung des Bundesregierung Wunschdenken und Wirklichkeit weit Bundesgrenzschutzes und der Polizei der Länder drin- auseinander liegen. gend geboten. In diesem Zusammenhang ist eine kohä- rente Politik notwendig. (Beifall bei der FDP) 12032 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Harald Leibrecht (A) Die Bundesregierung weist in ihrem Bericht darauf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) hin, dass viele ihrer Vorschläge zur Abrüstung auf inter- der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- nationalen Konferenzen positiv aufgenommen wurden, SES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: so zum Beispiel die Exportkontrollen bei so genannten Die grüne Politik ist hier sehr scheinheilig, Dual-Use-Gütern oder im Bereich der biologischen und wenn man sich die Parteitagsbeschlüsse an- der chemischen Waffen. Diese Erfolge sind zwar lobens- guckt!) wert, aber genau genommen nur ein Tropfen auf den hei- ßen Stein. Abgesehen vom Haager Verhaltenskodex – Stimmt. fand seit Mitte der 90er-Jahre eigentlich kein richtiger Durchbruch in der Abrüstung statt. Die Abrüstung befin- Wenn es der Bundesregierung mit der Abrüstung det sich heute ziemlich im Stillstand und deshalb – wie Ernst wäre, dann müsste sie ihr Augenmerk stärker auf in dem vorliegenden Antrag richtig vermerkt – in der den Nahen Osten und Asien richten. Nordkorea hat Krise. ein weit entwickeltes Atomprogramm und ist der welt- größte Proliferateur von Massenvernichtungswaffen. Die (Beifall bei der FDP) Staatengemeinschaft und insbesondere die Bundesregie- rung müssen solche Länder in die Schranken weisen. Zwar wurden in den letzten Jahren zahlreiche interna- Auch der Iran macht uns Sorgen. Als wir vor einem Jahr tionale Abkommen über die Ächtung von Waffen, und im Bundestag über den letzten Jahresabrüstungsbericht zwar im Bereich sowohl der Massenvernichtungswaffen debattierten, gab uns die iranische Erklärung vom als auch der Kleinwaffen und der Trägertechnologien, 26. Oktober 2003 noch Hoffnung, dass die iranische Re- also der Raketen, unterzeichnet, aber immer nur von gierung bei ihrem Atomenergieprogramm auf einen ge- denjenigen Staaten, die im Besitz von wenigen solcher schlossenen Brennstoffkreislauf verzichtet und somit Waffen sind. Staaten, die es eigentlich betrifft, weigern kein waffenfähiges Material produziert. Inzwischen sind sich allzu oft, solchen Abkommen beizutreten. Die wir hier nicht mehr allzu zuversichtlich; denn die Über- Atommächte Indien, Pakistan und Israel treten dem Ver- wachung durch die in Wien ansässige Internationale trag zur Verhinderung der Proliferation von Kernwaffen Atomenergieorganisation gestaltet sich dort als äußerst nicht bei. Mehrere Staaten des Nahen Ostens ratifizieren schwierig. Gerade heute wird in Wien mit den Iranern nicht das Übereinkommen über das Verbot von biologi- wieder verhandelt. Ich hoffe, dass diesmal gute Ergeb- schen und chemischen Waffen. nisse zustande kommen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist der entschlossene Wille zur Abrüstung, der vie- (B) (D) len Ländern oft fehlt. Am deutlichsten wird diese Tatsa- Die Bundesregierung muss mit der iranischen Regie- che bei der Genfer Abrüstungskonferenz. Dort wird seit rung sprechen und auf die Einhaltung internationaler Re- sage und schreibe fünf Jahren verhandelt, ohne einen gelungen bestehen. Internationaler Druck, zum Beispiel Durchbruch zu schaffen, nur weil sich die USA und durch die erfolgreiche Arbeit der PSI, Proliferation Se- China nicht über eine Rüstungskontrolle im Weltraum curity Initiative, verbunden mit der Perspektive auf wirt- einigen. Keinen Durchbruch gibt es ebenfalls bei der schaftliche Zusammenarbeit, kann zum Erfolg führen, Ächtung von Antifahrzeug- und Antipersonenmi- wie das Beispiel Libyen zeigt. Es zeigt außerdem, dass nen, die nicht über eine so genannte Wirkzeitbegrenzung Kontrollen dann erfolgreich sind, wenn befreundete verfügen, die sich also nicht nach einer bestimmten Zeit Staaten in Fragen der Bedrohung durch Massenvernich- selber entschärfen. Bedauerlicherweise weigern sich ein- tungswaffen sehr eng zusammenarbeiten. Dabei ist mal mehr gerade diejenigen Staaten mit dem höchsten wichtig, dass bestehende Abrüstungsverträge immer Bestand an Minen, dem Ottawa-Abkommen beizutreten. wieder auf ihre Aktualität überprüft und gegebenenfalls Das ist angesichts von fast 12 000 Minenopfern allein im auf einen neuen Stand gebracht werden. letzten Jahr traurig. Das ist eine erschreckend hohe Zahl. Die Dunkelziffer liegt aber sicherlich weitaus höher. Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag zur Verhinderung der Proliferation von Massenvernich- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Petra tungswaffen geht in die richtige Richtung. Fast ein Jahr Ernstberger [SPD]) haben wir im Unterausschuss für Abrüstung und Rüs- tungskontrolle an diesem Antrag gearbeitet und Punkt Viele der bestehenden Abrüstungsabkommen dienten für Punkt verhandelt. Die Arbeit hat sich gelohnt. Heute vor allem der Entschärfung des Ost-West-Konfliktes. liegt uns ein umfassender und zukunftsweisender Antrag Die politische Landschaft hat sich aber – Gott sei Dank – vor, der von weiten Teilen dieses Hohen Hauses getra- verändert. Aus früheren Feinden wurden Freunde. Viele gen wird. Jetzt liegt es an der Bundesregierung, diese Länder des ehemaligen Warschauer Pakts sind heute hoch gesteckten und ehrgeizigen Abrüstungsziele im In- Mitglieder der NATO. Zu Recht wird aber in dem Jah- teresse der Sicherheit und Stabilität in der Welt durchzu- resabrüstungsbericht 2003 kritisiert, dass zum Beispiel setzen. Russland seine Truppen noch immer nicht aus Molda- wien und Georgien abgezogen hat. Diese längst überfäl- Ich danke Ihnen. ligen Truppenabzüge wären ebenfalls ein wichtiger Ab- rüstungsbeitrag und dienten – was Georgien betrifft – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Entschärfung der Krise im Kaukasus. der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12033

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen Bundeswehreinsätze finden in Nachkriegsgesell- (C) Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei vom schaften statt, die ein hohes Konflikt-, Gewalt- und Bündnis 90/Die Grünen. Waffenpotenzial aufweisen. Hier sind die UN-manda- tierten Einsätze tatsächlich quasi erste Stufen von Rüs- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tungskontrolle und Abrüstung, die dann, wie zum Bei- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! spiel auf dem Balkan zu sehen, durch vertragsgestützte Kollege Leibrecht, in der Tat besteht keine Veranlassung Rüstungskontrolle und Abrüstung ergänzt werden. zur Schönfärberei. Diese allerdings betreibt der Bericht In den so genannten Einsatzgebieten stehen Klein- nach meiner Auffassung keineswegs. Zuvörderst möchte waffen und leichte Waffen im Mittelpunkt. Zu Recht auch ich unsere Freude darüber zum Ausdruck bringen, konstatiert der Bericht, dass Kleinwaffen und leichten dass wir heute gemeinsam mit einem Teil der Opposi- Waffen in jedem Jahr viel mehr Menschen zum Opfer tion, der FDP-Fraktion, diesen wichtigen und guten An- fallen als allen anderen Waffenkategorien. Man muss da- trag zur Nichtproliferation verabschieden können. von sprechen, dass Kleinwaffen und leichte Waffen die Das Jahr 2003 brachte enorme Rückschläge für die realen alltäglichen Massenvernichtungswaffen sind. weltweite Rüstungskontrolle und Abrüstung. Der Be- Es gibt sehr gute Ansätze und Bemühungen, dieser richt schildert, wie erfolgreich Inspektoren der Vereinten tödlichen Flut Herr zu werden. Hervorragend sind dabei Nationen und der Internationalen Atomenergiebehörde in der Bundesrepublik die Beiträge zum Beispiel vom im Irak waren und dass nur noch wenige Monate nötig Internationalen Konversionszentrum Bonn und anderen gewesen wären, um zu sicheren Ergebnissen zu kom- Nichtregierungsorganisationen, von der Gesellschaft für men. Die US-Regierung erzwang einseitig den Abbruch Technische Zusammenarbeit mit ihrem Sektorvorhaben der Inspektionen und griff den Irak an. Dies war nicht Kleinwaffenkontrolle und schließlich nicht zuletzt von nur ein Schlag ins Gesicht der multilateralen Nichtver- der Bundeswehr mit dem Zentrum für Verifikationsauf- breitung und der Staatengemeinschaft, sondern gab zu- gaben. Wer weiß schon, dass im letzten Jahr vonseiten gleich Gewalt- und Terrorpotenzialen enormen Auftrieb. der Bundeswehr 190 000 überschüssige Kleinwaffen Mehrfach angesprochen wurde schon die Stagnation nicht an andere weiterverscherbelt, sondern vernichtet bei der Genfer Abrüstungskonferenz. Nicht voran wurden? kommt man vor allem beim angestrebten Verbot der Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN duktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke, aber auch und bei der SPD sowie des Abg. Harald beim Verbot der Waffenstationierung im Weltraum. Bei Leibrecht [FDP] – Zuruf von der SPD: Im Ge- beiden wichtigen Projekten ist die Beteiligung entschei- gensatz zur alten Bundesregierung!) (B) dender Player ein regelrechtes Trauerspiel. Gleichwohl (D) sind hier neue Anstrengungen notwendig. Das darf allerdings nicht – das muss ich anmerken – durch zweifelhafte Rüstungsexporte, zum Beispiel nach Aber das Jahr 2003 brachte auch einzelne Fortschritte Saudi-Arabien, konterkariert werden. und Lichtblicke. Nach längeren Verhandlungen erklärte Libyen am 19. Dezember letzten Jahres einen umfassen- Insgesamt hat die Kleinwaffenkontrolle in der inter- den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen sowie seine nationalen Politik verglichen mit der Nichtverbreitung Bereitschaft, diesen Verzicht auch umfassend verifizie- ein zu geringes Gewicht. Dem müssen wir eindeutig ent- ren, also kontrollieren zu lassen. Inzwischen ist Libyen gegenwirken. Deshalb ist es angebracht, dass die Klein- allen relevanten Verträgen und Konventionen im Bereich waffenproblematik im nächsten Bericht mehr vorn, an der Nichtverbreitung und Abrüstung beigetreten. Dies prominenter Stelle behandelt wird. halte ich für einen sehr wichtigen Fortschritt. Herzlich zu danken habe ich im Namen meiner Frak- Deutliche Fortschritte gab es auch bei der so genann- tion den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auswär- ten Abrüstungszusammenarbeit mit der Russischen Fö- tigen Amtes und anderer befreundeter Ressorts, die zu deration. Hier geht es um die Bewältigung von Altlasten dieser Leistung beigetragen haben. des Kalten Krieges, also von chemischen Kampfstoffen und den vielen immer mehr verrottenden russischen Danke schön. Atom-U-Booten. Mit deutscher Hilfe wurde im Novem- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ber 2003 die Vernichtung des gesamten russischen Vor- und bei der SPD) rats an Lost, einem Hautkampfstoff, abgeschlossen. In diesem Bereich ist die Bundesrepublik nach den USA der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zweitgrößte Geber. Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. Einen dritten Fortschritt stellt die europäische Strate- gie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaf- Petra Pau (fraktionslos): fen dar. Sie ist ein Beispiel für effektiven Multilateralis- mus und einen breiten sicherheitspolitischen Ansatz im Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Dienste des Systems der Vereinten Nationen. debattieren den Jahresabrüstungsbericht der Regierung für das Jahr 2003. Er datiert vom 14. Mai dieses Jahres Der Bericht beschreibt ausführlich Auslandseinsätze und umfasst nahezu 200 Seiten. Er enthält wichtige der Bundeswehr. Man fragt sich, was sie mit Rüstungs- Details über internationale Bemühungen, zum Beispiel kontrolle und Abrüstung zu tun haben. Sämtliche jetzi- zur Nichtverbreitung von Atomwaffen. Er unterschlägt 12034 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Petra Pau (A) allerdings erneut wesentliche Widersprüche der rot-grü- auch dieser Bombenabwurfplatz, wenn Sie ihn interna- (C) nen Rüstungspolitik. tional vermarkten, unter die Exportrichtlinien. Ich darf namens der PDS im Bundestag an Folgendes Danke. erinnern: SPD und Grüne waren 1998 mit hehren Zielen angetreten. Diese fanden Eingang in die politischen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Grundsätze der Bundesregierung für den Export von ja nun sehr merkwürdig! Dieser Vergleich Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern vom Januar passt wirklich überhaupt nicht!) 2000. Gleich im ersten Satz steht: Die Rüstungsexport- politik soll restriktiv gestaltet werden. – Nach Berech- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nungen verschiedener Institute liegt die Bundesrepublik Das Wort hat jetzt der Kollege Erich Fritz von der mit ihren Rüstungsexporten weltweit auf Platz drei. Ein CDU/CSU-Fraktion. Beleg für eine restriktive Gestaltung ist das nicht; im Ge- genteil. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Erich G. Fritz (CDU/CSU): GRÜNEN]: Sie haben die Richtlinie gar nicht gelesen! Was ist denn im Bündnis, in der EU?) Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen! Dem Jahresabrüstungsbericht 2003 kann man ent- Die deutsche Rüstungsindustrie exportierte im Be- nehmen, dass bei der Entscheidung über den Export richtsjahr Kriegs- und kriegsfähiges Material in über von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern die 100 Länder. Auch diese Zahl widerspricht jedem Selbst- „Politischen Grundsätze“ der Bundesregierung vom lob aus den Reihen von Rot-Grün. 19. Januar 2000 die maßgebliche Richtlinie bilden. Ich Aber die Verstöße gegen die eigenen Richtlinien ge- bin neugierig, wie damit im nächsten Jahresabrüstungs- hen noch tiefer. In diesen Richtlinien steht unmissver- bericht umgegangen wird. Man stellt nämlich fest, dass ständlich: Die Lieferung von Rüstungsgütern wird nicht diese Grundlage in Wirklichkeit immer mehr verwässert genehmigt in Länder, die in bewaffnete Auseinanderset- wird und dass Sie, wenn Entscheidungen zu treffen sind, zungen verwickelt sind. – Geliefert wurde dennoch zum immer weniger darauf schauen. Der Bundeskanzler um- Beispiel nach Israel, also in eine Region, die durch armt den einen oder anderen Diktator in der Welt, spricht unkalkulierbare Risiken gekennzeichnet ist. das Wort „deutsche Interessen“ aus und schon gelten diese Richtlinien ganz offensichtlich nicht mehr. Dieser Tage gab es weitere Schlagzeilen: Deutsche Konzerne profitieren vom Irakkrieg. – Der Hinter- Die Zeichen stehen auf Liberalisierung der deut- (B) grund: Deutsche Rüstungsexporte sind ausgerechnet in schen Exportpraxis. Was kürzlich noch als ausgespro- (D) jene Länder gestiegen, die am Irakkrieg beteiligt sind. – chen heikel galt, ist nun fast selbstverständlich. „Die Sagen Sie mir nun nicht, das seien NATO- bzw. EU- Welt“ fragte in einer Überschrift: Staaten, also Bündnisstaaten! Die Richtlinien, die Sie Verliert die rot-grüne Regierung jetzt ihre rüstungs- sich selbst gegeben haben, schließen Rüstungsexporte in exportpolitische Unschuld? alle Länder aus, die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind, die nicht von der UNO gedeckt sind. Ich denke, diese Frage ist bereits beantwortet. Der Irakkrieg ist völkerrechtswidrig und zugleich ein Wir alle konnten der Presse der letzten Tage und Wo- Affront gegen die UNO. Im Interesse der Bundesrepu- chen entnehmen, wie groß das rot-grüne Chaos in der blik ist er auch nicht. Das haben Sie selbst betont. Nach Rüstungsexportpolitik ist. Versuche des Parlamentari- Ihren eigenen Richtlinien hätten Sie diese Rüstungs- schen Staatssekretärs Schlauch in der gestrigen Sitzung exporte also dreifach begründet verhindern müssen. des Wirtschaftsausschusses, jede Auskunft mit Blick auf Die Beispiele ließen sich fortsetzen. seine Nichtmitgliedschaft im Bundessicherheitsrat zu verweigern, entlarven doch nur die innerhalb der Bun- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- desregierung herrschende Uneinigkeit und Nervosität. NEN]: Das sind sehr schräge Beispiele!) Das von Rot-Grün beschlossene formale Ausschlusskri- So ist es kein Wunder, dass in der „Welt“ vom terium „Krisengebiet“ oder „Verletzung der Menschen- 12. Oktober 2004 genüsslich kommentiert wird: rechte“ zählt offenbar nicht mehr. Rüstungsexport ist kein rot-grünes Reizthema (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehr. Auf Drängen des Kanzlers fallen jetzt reihen- Der Bundessicherheitsrat genehmigt den Export von weise die Tabus. 20 Fuchs-Transportpanzern in das Kriegsgebiet Irak. Das alles verschweigen Sie aber in Ihrem Bericht und Grünen-Parteichefin Roth, bemüht um Schadensbegren- das macht ihn unglaubwürdig. Zugleich frohlockt die zung und Beruhigung, sagt dazu: Ausrüstungshilfe ist Rüstungslobby. Gerade heute wurde am Rande des Luft- kein Rüstungsexport. Das ist eine sehr feine Unterschei- fahrtkongresses Rot-Grün dafür gelobt, dass es endlich dung. Ist eine Aufrüstung dieser Fuchs-Panzer ausge- alle Restriktionen bei Waffenexporten aus dem Weg schlossen? – Nein! schafft. Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen Das trifft übrigens auch auf das Bombodrom in der der Lieferung des Transportpanzers Fuchs an den Irak Kyritz-Ruppiner Heide zu; denn genau betrachtet, fällt und der nach Israel? Auch diese Frage wollte Herr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12035

Erich G. Fritz (A) Schlauch gestern nicht beantworten. Warum? Weil es (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE (C) keine logische Erklärung für ein solches Vorgehen gibt. GRÜNEN]: Und ob!) Außerdem wird die mögliche Lieferung von Kampf- Natürlich muss man deutlich darauf hinweisen, dass au- panzern an die Türkei diskutiert. Dazu sagt Außenmi- ßenpolitische, wirtschaftspolitische und sicherheitspoli- nister Fischer, dass die Lage im Lichte der veränderten tische Gründe eine Rolle spielen können. Wir haben im- Realitäten neu bewertet werden müsse, wenn sich die mer davor gewarnt, ausschließlich nach einzelnen ganz Dinge veränderten. Was heißt „im Lichte der veränder- bestimmten Kriterien vorzugehen. Eine solche Haltung ten Realitäten“? Amnesty International würde Ihnen sa- ist immer falsch. Denn in jedem Einzelfall sind Abwä- gen, dass es zu früh ist, eine wesentliche Verbesserung gungsprozesse und Entscheidungen nötig, bei denen nie- der Menschenrechtslage in der Türkei infolge formaler mals nur ein Kriterium zugrunde gelegt werden kann. gesetzlicher Veränderungen erkennen zu können. Tat- Man muss immer dafür sorgen, dass die Entscheidungen sächlich gibt es weiterhin vielfältige Berichte über Men- wohlbegründet sind. schenrechtsverletzungen. Auch der Umgang mit den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kurden verläuft nach wie vor jenseits der gesetzlichen neten der FDP) Regelungen und ist anzuprangern. Wir brauchen außerdem endlich eine gemeinsame Frau Roth kann sich noch so lange darum bemühen, Haltung Europas in diesen Fragen. Die Bundesregierung einen Zusammenhang zwischen einer künftigen EU-Mit- muss mit massiver Unterstützung auf eine Veränderung gliedschaft der Türkei und der Erfüllung der deutschen des europäischen Kodex hinarbeiten. Er muss rechtlich Rüstungsexportrichtlinien zu verneinen: Der zeitliche einen solchen Verbindlichkeitsgrad besitzen, dass es Zusammenhang zwischen der rot-grünen Unterstützung keine nationalen Alleingänge mehr gibt. des EU-Beitritts und der grundsätzlich positiven Grund- haltung gegenüber einem Export ist offensichtlich. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das haben wir vor! Ver- Die Beteuerungen in diesem Bereich, es liege noch bindlichkeit!) kein Antrag vor etc., sind alle ziemlich durchsichtig. Eine abgestimmte europäische Haltung brauchen wir so- Wenn es eine Anfrage geben wird, dann wird der Bun- wohl im Hinblick auf eine Europäische Sicherheits- und dessicherheitsrat abnicken. Diese Entscheidung ist Verteidigungspolitik als auch im Hinblick auf ein ge- längst beschlossen. meinsames Handeln innerhalb des Bündnisses und der Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich sage das Europäischen Union. Die augenblickliche Situation ist eher von Prinzipienlosigkeit und Wankelmut geprägt. (B) deshalb, damit klar wird, wie widersprüchlich Ihre Poli- (D) tik ist. Wir haben schon 2000 gesagt, dass es eigentlich Das ist gefährlich in der Politik. Deshalb bitten wir Sie unerträglich ist, der Türkei auf der einen Seite den Status darum, Ihre Politik zu ändern. eines EU-Beitrittskandidaten zu geben, das vollwertige (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NATO-Mitglied Türkei als wichtige Säule in dieser Or- neten der FDP – Zuruf von der SPD: Thema ganisation zu akzeptieren und sich dennoch so zu verhal- verfehlt!) ten, wie Sie es in der Vergangenheit getan haben. Da korrigieren Sie sich jetzt. Das mag auf Dauer richtig Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sein. Auf jeden Fall handelt es sich um eine vollständige Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich von der Kehrtwendung. SPD-Fraktion. Meine Damen und Herren, die Diskussionen und Ent- scheidungen bezüglich Exporten nach China und Libyen Dr. Rolf Mützenich (SPD): sind ebenfalls beispielhaft für die Unberechenbarkeit Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rot-grüner Rüstungsexportpolitik. Wie da geeiert wird, Rüstungskontrolle findet nicht im luftleeren Raum statt. ist unglaublich. Was da gemacht wird, kann nicht als Sie ist in die internationale Politik eingebunden. Diese verantwortungsvoller Umgang mit Rüstungsgütern be- befindet sich seit dem Fall der Berliner Mauer vor zeichnet werden. Immer mehr wird die Erlaubnis zu 15 Jahren in einer Phase der Neuorganisation. Nicht Waffenexporten als außenpolitisches Instrument einge- mehr der Ost-West-Konflikt prägt das internationale setzt; ich nenne das Beispiel Libyen. Ist die Aufhebung System; es entstehen vielmehr neue Strukturen. Für die des Waffenembargos wirklich die beste Form, um eine internationale Sicherheitspolitik heißt das, verkürzt ge- veränderte libysche Haltung anzuerkennen? Muss man sagt: Die USA bleiben bis auf weiteres die unbestrittene wirklich damit beginnen? Gäbe es nicht viel bessere Weltmacht. Das Land zwischen den Ozeanen kann in der Möglichkeiten, zu zeigen, dass man einen neuen Weg Regel alleine Entscheidungen treffen. Die Folgen aber unterstützt, der ja noch nicht einmal von neuen Personen haben wir alle zu tragen. und politischen Entwicklungen getragen wird? Weiterhin prägt der Zerfall von Staaten das weltweite (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr Konfliktgeschehen; so sind zahlreiche Regionalkon- wahr!) flikte bis heute ungelöst. Oft werden sie von ethnischen oder religiösen Gegensätzen überhöht. Auch die Ausga- Ich glaube, dass Rüstungsexportkontrolle im Augen- ben für Rüstung und Streitkräfte steigen wieder. Eine blick nicht ernst genommen wird. Friedensdividende wurde nie irgendwo eingefahren. Und 12036 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Dr. Rolf Mützenich (A) vor allem: Der internationale Terrorismus bedroht die mitteln würden wir nur als letzte Möglichkeit in Betracht (C) Menschheit. Er bringt grenzenlose Gewalt und begüns- ziehen. Voraussetzung dafür bleibt jedoch ein entspre- tigt Gewaltbereitschaft. chendes Mandat der Vereinten Nationen. In diesem Umfeld bewegen sich Abrüstung und Rüs- Beide, die USA und Europa, können meiner Überzeu- tungskontrolle. Nur selten ist hiervon die Rede. Ja, man gung nach auch über die Rüstungskontrolle wieder zu- kann geradezu sagen, dass sie aus dem Blickfeld der Öf- einander finden. Wir müssen dabei Grundsätze erörtern fentlichkeit verschwunden sind. Deshalb bin ich froh, und in Erwägung ziehen, die die Bezeichnung „robust“ dass wir heute über den Bericht der Bundesregierung verdienen. Denn wir wissen, dass Rüstungsbegrenzung und über den Antrag der Koalitionsfraktionen sprechen ohne Verifikation und strenge Regeln nicht funktionieren können. kann. Die USA hingegen müssen endlich ihre Abnei- gung gegenüber völkerrechtlichen Verpflichtungen und Der Jahresabrüstungsbericht 2003 gibt erneut einen Verträgen aufgeben. Internationale Politik muss wieder guten Überblick über die Herausforderungen und die verlässlich und berechenbar werden. möglichen Handlungsfelder. Lassen Sie mich deshalb an die Adresse der CDU/CSU sagen, dass es hier nicht um (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Rüstungsexportpolitik geht. Sie hätten den Bericht DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald mit Sicherheit besser würdigen können, wenn Sie sich an Leibrecht [FDP]) dieser Stelle an den Bemühungen der Bundesregierung orientiert hätten. Ich empfinde es auch angesichts des Deshalb gehört Rüstungskontrolle – das sage ich an Verhaltens und Handelns in den Jahren, in denen Sie die die Adresse der Bundesregierung – ganz oben auf die Verantwortung trugen, als sehr scheinheilig, wie Vertre- transatlantische Tagesordnung. Die Überprüfungskonfe- ter von CDU/CSU heute über dieses Thema reden. renz zum Atomwaffensperrvertrag in wenigen Mona- ten ist sowohl eine Bewährungsprobe als auch eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Chance für ein gemeinsames Vorgehen. Denn Rüstungs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kontrolle kann nur dann gelingen, wenn Europäer und Unser Antrag konkretisiert und erweitert die Instru- Amerikaner zusammenarbeiten. mente und die Anforderungen an eine umfassende Rüs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des tungskontrolle und Nichtverbreitung. Deshalb be- Abg. Harald Leibrecht [FDP]) grüße ich, dass sich die FDP-Fraktion unserem Antrag angeschlossen hat. Ich danke auch ausdrücklich den Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Herausforde- Kollegen von der CDU/CSU für ihre Bemühungen um rungen, denen sich die Staatenwelt gegenübersieht, sind eine Beteiligung ihrer Fraktion. Leider hatten sie zum offenkundig: Regionalkonflikte bekommen in wachsen- (B) (D) Schluss keine ausreichende Unterstützung in ihren Rei- dem Maße eine nukleare Komponente. Nordkorea zün- hen. Dennoch: Wir hatten gute und intensive Beratungen delt und auch der Iran begibt sich auf einen gefährlichen und darauf lässt sich aufbauen. Weg. Wir müssen beide Länder aufhalten, mit friedli- chen Mitteln und ernst gemeinten Angeboten, notfalls (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des aber auch mit Sanktionen und durch glaubwürdige Ab- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schreckung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl die Rüs- Anfang des Jahres hat Pjöngjang offiziell erklärt, aus tungskontrolle vor allem während des Ost-West-Kon- dem Atomwaffensperrvertrag auszutreten. Mit dem Aus- flikts ihre Wirkung entfalten konnte, bleibt sie auch stieg sieht sich Nordkorea von sämtlichen Verpflichtun- heute und in Zukunft ein geeignetes Mittel, Vertrauen, gen gegenüber der Internationalen Atomenergieagentur Kooperation und Sicherheit zu schaffen. Wir Sozialdemo- befreit. Der totalitäre Staat bekennt sich damit offen zu kraten wollen die rüstungskontrollpolitischen Instrumente seinem Nuklearprogramm und droht sogar mit Krieg. Es stärken und ausbauen. Wir brauchen Rüstungskontrolle, ist gut, dass wegen der Lage auf der koreanischen Halb- um der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu insel sechs Regierungen an einem Tisch sitzen. Dies darf begegnen, um eine überprüfbare Rüstungsbegrenzung nicht beendet werden. Der Druck auf Nordkorea muss zwischen den Atommächten zu erreichen, um neue Rüs- aufrechterhalten werden. Wir begrüßen, dass die Volks- tungsschübe zu verhindern, um technische Fortschritte republik China hierbei eine aktive Rolle übernommen zu kontrollieren und um regionale Konflikte und Bürger- hat. Multilaterales Handeln ist für Asien insgesamt ein kriege zu befrieden. Gewinn. Dass die Volksrepublik China hieran mitwirkt, Dabei wissen wir: Ohne die USA wird es bei der Rüs- ist gut. tungskontrolle keine Fortschritte geben. Leider haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Verantwortlichen in Washington derzeit das Interesse DIE GRÜNEN) an solchen Regelwerken weitgehend verloren. Die Ver- einigten Staaten haben sich aus wichtigen Verträgen zu- Mit Blick auf den Iran tut die Bundesregierung das rückgezogen. Mehr noch: Zwischen Europa und den allein Richtige: Dialog und Kooperation, multilaterales USA gibt es unterschiedliche Abrüstungsstrategien. Die Vorgehen, Auflagen und Angebote bleiben eine ange- USA sind sogar bereit, Abrüstungskriege zu führen. messene Strategie, um Teheran zur Beendigung seines Hierbei wird selbst der Einsatz von Nuklearwaffen nicht Programms zur Urananreicherung zu veranlassen. Wir ausgeschlossen. Europa setzt dagegen in erster Linie auf wissen aber auch: Solange der Iran die Kontrolle seiner Diplomatie und Kooperation. Den Einsatz von Zwangs- Anlagen erlaubt, bewegt sich das Land innerhalb des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12037

Dr. Rolf Mützenich (A) Atomwaffensperrvertrages, der die friedliche Nutzung Wir brauchen abgestimmte und nachvollziehbare Re- (C) der Kernenergie ausdrücklich vorsieht. Aber der Ver- gime, um dem internationalen Terrorismus Rüstungsmit- dacht, dass der Iran angereichertes Uran für den Bau von tel vorzuenthalten. Atombomben nutzen will, besteht weiter. So gibt es im- Vertragliche Rüstungsbegrenzung kann weiterhin ei- mer noch offene Fragen: Warum sind die nuklearen Ak- nen Beitrag zur Friedenskonsolidierung leisten. Im Ab- tivitäten so dimensioniert? Warum hat der Iran einzelne kommen von Dayton oder bei der Entwaffnung der Kon- Entwicklungen verschleiert? Warum braucht der Iran fliktparteien in El Salvador waren Regelungen zur Mittelstreckenraketen? Der Iran muss mit der Interna- Abrüstung ein wichtiger Beitrag zum Spannungsabbau. tionalen Atomenergiebehörde uneingeschränkt koope- Auch für andere Bürgerkriegsgebiete müssen derartige rieren und bis zur nächsten Sitzung des Gouverneursrats Rüstungsbegrenzungen entwickelt und umgesetzt wer- am 25. November alle Unklarheiten beseitigen. den. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Europa ist auf dem Weg zu einer gemeinsamen CDU/CSU und der FDP) Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dies ist ein weite- rer Schritt zur Integration. Was aber bedeutet das für die Zur Vertrauensbildung gehören dann aber auch ein Han- regionale Rüstungskontrolle? Im Entwurf für eine euro- dels- und Kooperationsabkommen sowie ein bedro- päische Verfassung wurden eine Rüstungsagentur und hungsfreies Umfeld. Die Sicherheitsinteressen des Iran eine automatische Überprüfung nationaler Rüstungsan- müssen ernst genommen werden. strengungen verankert. Diese dürfen aber meiner Mei- nung nach nicht zu neuen Rüstungsschüben in Europa Herr Kollege Polenz, ich teile Ihre Analyse. Sie haben führen. Im Gegenteil: Wenn wir den europäischen Weg bei dieser Analyse nur eines vergessen: Der Iran zählt konsequent fortsetzen und multinationale Streitkräfte für die USA zur „Achse des Bösen“. Ich wäre Ihnen wollen, muss im Verlauf auch ein Abrüstungsprozess be- dankbar gewesen, wenn Sie die USA von dieser Stelle ginnen. Nicht alle Staaten brauchen alle Teilstreitkräfte. aus dazu aufgerufen hätten, den Iran von dieser „Achse Weitere Abrüstungen in Europa sind möglich und wün- des Bösen“ zu nehmen. Im Krieg zwischen dem Iran und schenswert. dem Irak sind Massenvernichtungswaffen eingesetzt worden. Der irakische Diktator Saddam Hussein hat Zuvor muss allerdings der angepasste KSE-Vertrag Chemiewaffen eingesetzt. Dagegen gab es keine Proteste endlich in Kraft treten. Herr Leibrecht, Sie hatten darauf vonseiten des Westens. Die westliche Völkergemein- hingewiesen. Russland muss seine Verpflichtungen er- schaft hat es hingenommen, dass andere Staaten im re- füllen. Aber auch die NATO muss eine verbindliche Er- gionalen Umfeld Nuklearmächte geworden sind. Auch klärung zu den Stationierungsabsichten im baltischen (B) dies gehört zu einer vorurteilsfreien Analyse, wenn wir Raum abgeben. Die Bundesregierung sollte sich überle- (D) den Iran bewegen wollen, auf den Atomwaffensperrver- gen, ob trotz dieser Blockierung nicht bereits jetzt eine trag zurückzukommen. Ratifikation des Vertrages im Bundestag als Zeichen an alle Beteiligten, ihre Haltung zu überdenken, möglich (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das hat wäre. Wir brauchen den Vertrag als Garant konventio- Herr Polenz wirklich gemacht!) neller Stabilität und als Eckpfeiler europäischer Sicher- Darüber hinaus braucht die gesamte Region vertrau- heit. ens- und sicherheitsbildende Maßnahmen. Wir brau- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen auch und gerade dort Rüstungsbegrenzungen. Die DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Beteiligung an neuen Aufrüstungen ist deshalb das fal- Leibrecht [FDP]) sche Signal. Abrüstung und Rüstungskontrolle können trotz aller vorhandenen Schwierigkeiten auch im Nahen Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rüstungskontrolle, und Mittleren Osten dazu beitragen, Konflikte zu be- Abrüstung und Nichtverbreitung bleiben notwendig. Ko- grenzen. operative Sicherheitspolitik, Transparenz und Verläss- lichkeit sind heute genauso wichtig wie zu Zeiten des Entgegen der allgemeinen Ansicht kann Rüstungs- Kalten Krieges. Ich danke deshalb der Bundesregierung kontrolle durchaus auch einen Beitrag zur Bekämpfung für ihre Bemühungen auf diesem Weg. Auch in den des internationalen Terrorismus leisten. Terroristen kommenden Monaten werden kluge und entschlossene bemühen sich um Massenvernichtungswaffen. Derartige Schritte hierfür notwendig sein. Wir werden die Bundes- Anstrengungen zu unterbinden ist auch eine Aufgabe der regierung dabei unterstützen und aufmerksam begleiten. Rüstungskontrolle. Zwar binden Verträge nur Staaten, aber sie sorgen doch für die Sicherheit sensibler Materia- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. lien und Technologien. Zusammen mit internationalen Agenturen können staatliche Instanzen den Zugang zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ derartigen Mitteln verhindern oder erschweren. Die der- DIE GRÜNEN) zeit bestehenden Verträge müssen deshalb gestärkt und ergänzt werden und weitere Bemühungen in völkerrecht- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: liche Regeln übertragen werden. Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Hans Raidel von der CDU/CSU-Fraktion (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Wort. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Leibrecht [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU) 12038 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Hans Raidel (CDU/CSU): Heute hat Kollege Nachtwei aus einer anderen Posi- (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und tion heraus formuliert, wir lebten nicht in einer Welt der Herren! Im Unterausschuss Abrüstung sind wir uns über Wünsche, sondern in einer Welt der harten Realitäten. die wesentlichen Ziele eigentlich einig. Kollege Polenz Ziehen wir aus diesen Erfahrungen die richtigen Er- hat darauf hingewiesen, dass wir diese Themen natürlich kenntnisse und machen wir die richtigen Lernprozesse? aus verschiedenen Richtungen betrachten. Aber wir wis- Beachten wir das Prinzip von Ursache und Wirkung ge- sen insgesamt, wie mühsam und schwierig das Abrüs- nügend? Ich glaube, unsere Politik muss auch darauf tungsgeschäft und die Rüstungskontrolle sind. Deswe- ausgerichtet sein, weitere Schrittmacherdienste bei der gen will ich von dieser Stelle aus allen Beteiligten dafür UNO, der NATO, der OSZE, der EU, der G 8 etc. zu danken, dass diese Sisyphusarbeit geleistet wird. leisten. Die USA und Russland müssen besser partner- schaftlich eingebunden werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Denn wie ist denn – auch das wurde bereits genannt – neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE die Situation? Die Kleinen halten die Fahne hoch, soweit GRÜNEN) sie den Abkommen beigetreten sind, und die Großen Wir haben bis jetzt aber immer nur gesagt – so auch – auch das muss man einmal deutlich aussprechen – tun heute –, was andere tun sollen. Die Fragen, die an uns hie und da, was sie wollen. Wenn es ihnen nicht in den gerichtet sind, lauten: Was müssen wir tun, um in diesen Kram passt, wird ein Thema nach hinten geschoben. Dann wird es wieder hervorgezogen, je nachdem, wie einzelnen Regimen weiterzukommen? Tun wir genug? die eigene Sichtweise es erfordert. Multilateralität ist ( [Wiesloch] [SPD]: Hans, häufig ein Fremdwort, Bilateralität steht häufig im Vor- du hast doch eben zugehört!) dergrund. – Eben. Diese Frage richtet sich an uns; denn wir haben Ich meine, wir sollten von unserer Seite aus mehr immer nur über die anderen gesprochen. Druck ausüben. Wir sollten uns überlegen: Wie können wir durch wirtschaftliche, entwicklungspolitische, hu- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE manitäre und soziale Maßnahmen helfen, um Fehlent- GRÜNEN]: Nein!) wicklungen den Nährboden zu entziehen? Ich glaube, dass wir nur mit einem solchen ganzheitlichen Blickfeld Ich meine, dass wir daraus eine Lehre für unsere tatsächlich Abrüstungspolitik betreiben können. künftige Arbeit ziehen müssen. Das bedeutet, dass bei diesem Thema auch bei uns Transparenz und Aufklä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) rung einen wichtigen Stellenwert einnehmen müssen. Wir führen hier eine Insiderdebatte. Wen im Deutschen Wir reden immer über die Folgen, aber zu wenig über (B) (D) Bundestag und in der deutschen Öffentlichkeit interes- die Ursachen. Dabei sollte es natürlich gelingen, dass siert dieses Thema wirklich? Wenn Sie draußen und Europa – Kollege Fritz hat darauf hingewiesen – endlich auch hier fragen: „Was bedeutet Abrüstung und Rüs- mit einer Zunge spricht. Die Exportrichtlinien müssen tungskontrolle?“, werden Sie eher auf ein Achselzucken harmonisiert werden, weil sonst die ESVP – ich be- treffen als eine vernünftige Antwort erhalten. Deswegen haupte das von hier aus – nicht ernst genommen wird meine ich, dass wir durch die Einbeziehung der Medien und auch nicht ernst genommen werden kann. weitere Aufklärung leisten und betreiben müssen. Wir Was wir jetzt brauchen, ist ein strategischer Dialog, haben für diese Fragen ein neues Gefühl zu entwickeln. der dieses wichtige Politikfeld wieder ins Scheinwerfer- Zu diesen Themen, die richtig benannt und beschrie- licht rückt. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es ben worden sind, gehört die Frage: Wie verhalten wir derzeit nur ein „Nebenbeithema“ ist. Es gehört vor allem uns bei der Aufdeckung, Verfolgung und Austrocknung Mut dazu, die Dinge wirklich beim Namen zu nennen, von illegalen Geldströmen? Das ist ein ganz wichtiges die Konsequenzen zu fordern und mit Sanktionen durch- Thema. Ein Land kann noch so arm sein; für Waffen ist zusetzen. Nehmen wir nur einmal das Beispiel Sudan. offensichtlich immer genügend Geld vorhanden. Wenn Sie haben es alle – diplomatisch verklausuliert – in den wir es mit der Bekämpfung des Terrorismus, der organi- Zeitungen gelesen: Die Frage „Ist es ein Völkermord?“ sierten Kriminalität, des Fanatismus, des Fundamentalis- wurde mal mit „Eigentlich nicht“, mal mit Ja, mal mit mus etc. ernst meinen, dann müssen wir auch daran den- Nein beantwortet. Das Gleiche gilt für die Frage „Tun ken: Wo sind die Risiken entstanden? Die liegen nicht wir etwas?“ Vornehm hält man sich, wenn es nicht passt, immer nur in der Waffentechnik; das ist die Folge, die zurück. Wirkung. Wir müssen vielmehr nach den nichtmilitäri- Insgesamt muss das internationale Recht verstärkt schen Sicherheitsrisiken fragen: die demographische werden. Es muss eine Legitimation geschaffen werden. Entwicklung – in den Mittelmeerregionen ist das bei- Die Staatschefs und die Außenminister sind gefordert, spielsweise ein wichtiges Thema –, Armut, Krankheit, dieses Thema beispielsweise wieder verstärkt vor die Drogenkriminalität, Menschenhandel. Es geht auch um UNO zu bringen. Bezüglich der Behandlung dieser Fra- Migration, um Bildung, um Strukturpolitik. Tun wir ge- gen ist die UNO doch fast abgetaucht. Die UNO muss nügend, um die Ursachen negativer Entwicklungen zu wieder als Weltbühne installiert und mit Handlungsvoll- beseitigen? Ich glaube, dass wir darüber verstärkt nach- macht ausgestattet werden, was bisher, wie wir wissen, denken müssen. nicht der Fall ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Meiner Meinung nach brauchen wir insgesamt ein neten der SPD und der FDP) neues Denken in neuen Dimensionen der gesamten Si- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12039

Hans Raidel (A) cherheitspolitik, sozusagen ein sicherheitspolitisches Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (C) Management im 21. Jahrhundert, in dem Friedensent- Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union wicklung, Krisenprävention, Krisenreaktion, auch die Haushaltsausschuss Stellung des Völkerrechts in internationalen Konflikten, vor allem die Rolle der Medien, Rüstungskontrolle, Ab- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rüstung und Nichtverbreitung einen wichtigen Baustein Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich bilden. Deswegen bitte ich unsere Regierung, dass wir höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. uns einmal gemeinsam zusammensetzen und im Unter- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ausschuss neue Linien entwickeln und sagen, wo wir ste- ner dem Kollegen Helge Braun von der CDU/CSU-Frak- hen und wo wir hin wollen. tion das Wort. (Uta Zapf [SPD]: Wir haben (Beifall bei der CDU/CSU) das doch gerade getan!)

Ich komme jetzt zum Schluss. Helge Braun (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herren! Die Sicherung von Wachstum und Wohlstand in Herr Kollege Raidel, Sie sind schon am Schluss. Deutschland und in Europa hängt ganz erheblich von ei- (Heiterkeit des Abg. Winfried Nachtwei nem Faktor ab, nämlich der Frage, ob wir es schaffen, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) die notwendige Innovationskraft zu entwickeln, um uns auch in Zukunft als Hochlohnland und Land, das Spit- zentechnologie produziert, behaupten zu können. Diese Hans Raidel (CDU/CSU): Anstrengungen in Deutschland und in Europa können Letzter Satz, Herr Präsident. – Wir hätten diesem An- wir jetzt intensivieren, wenn wir im Rahmen der Neu- trag gerne zugestimmt. Wir haben auch daran mitgear- ordnung des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms in der beitet. Sie sind jedoch auf wesentliche Gedanken und Fortschreibung des 6. Forschungsrahmenprogramms die Forderungen von uns nicht eingegangen. Deswegen Weichen richtig stellen. müssen wir Sie heute bei diesem Schritt allein lassen. Bei der Ausgestaltung der Veränderungen im Über- (Beifall bei der CDU/CSU) gang vom 6. zum 7. EU-Forschungsrahmenprogramm wird es zunächst einmal darauf ankommen, Kontinuität Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zu wahren. Viele Antragsteller, die bisher am 6. EU-For- Ich schließe die Aussprache. schungsrahmenprogramm teilgenommen haben, muss- (B) (D) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf ten sich erst auf die Möglichkeiten der europäischen For- Drucksache 15/3167 an die in der Tagesordnung aufge- schungsförderung einstellen, mussten Erfahrungen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- sammeln und wichtige Voraussetzungen schaffen. Des- verstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die halb ist es das Ziel unseres Antrages und das Ziel der Überweisung so beschlossen. CDU/CSU-Fraktion, dass wir im 7. Forschungsrahmen- programm aus den Erfahrungen des 6. lernen, aber Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gleichzeitig die Kontinuität wahren, die erforderlich ist, gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD um einen lückenlosen Übergang ohne Brüche vom und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Verhinderung der 6. zum 7. Rahmenprogramm zu ermöglichen. Proliferation von Massenvernichtungswaffen durch Ab- rüstung und kooperative Rüstungskontrolle, Drucksache Es besteht aber auch die Notwendigkeit zu Verände- 15/3967. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf rungen. Eine erste sehr wesentliche Veränderung ist die Drucksache 15/1786 in der Ausschussfassung anzuneh- Vereinfachung des Antragsverfahrens. Ich hatte zu- men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- nächst erwogen, Ihnen heute einen Antrag zum 6. EU- genstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist die Beschluss- Forschungsrahmenprogramm mitzubringen, habe dann empfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen aber überlegt, und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der CDU/ (Jörg Tauss [SPD]: Sie konnten CSU-Fraktion und Enthaltung der Kollegin Pau ange- ihn nicht tragen!) nommen worden. dass es mir doch lieber ist, wenn man mich hinter dem Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Rednerpult noch erkennen kann, und deshalb darauf ver- Beratung des Antrags der Abgeordneten Helge zichtet. Wenn die Antragsteller zum Teil berichten, dass Braun, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weite- sie einen wissenschaftlichen Mitarbeiter über ein halbes rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Jahr freistellen müssen, damit er einen Antrag zum For- schungsrahmenprogramm formuliert, und wenn die An- 7. EU-Forschungsrahmenprogramm wirksam tragsteller deutlich machen, dass selbst ein kleines Un- ausgestalten ternehmen mit einem überschaubaren Antragsvolumen – Drucksache 15/3807 – 80 000 Euro und mehr investieren muss, um überhaupt einen Antrag fertig zu stellen, dann ist klar, dass es we- Überweisungsvorschlag Ausschuss für Bildung, Forschung und der für kleine Betriebe noch für überschaubare For- Technikfolgenabschätzung (f) schungsorganisationen leistbar ist, einen solchen Antrag 12040 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Helge Braun (A) zu stellen und damit am Forschungsrahmenprogramm nicht das entscheidende Kriterium sein. Hier gilt nicht (C) teilzunehmen, und dass es ein erhebliches finanzielles der Wahlspruch: Die Großen fressen die Kleinen. Viel- Risiko für die Unternehmen und die Forschungsorgani- mehr gilt: Die Schnellen fressen die Langsamen. Des- sationen ist, wenn ein Antrag am Ende abgelehnt wird. halb bringen wahrscheinlich gerade kleine Konsortien, Deshalb kommt der Vereinfachung des Antragsverfah- die vernünftige Projekte durchführen und flexibel han- rens im Rahmen des 7. EU-Forschungsrahmenpro- deln können, dem europäischen Forschungsraum und gramms eine erhebliche Bedeutung zu. dem europäischen Wirtschaftsraum mehr als große Kon- sortien mit eher schlechter Handlungsfähigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Die wichtigste Forderung ist aus unserer Sicht, dass Eine wesentliche Maßnahme zur Vereinfachung des sich die Bundesregierung, wenn es um die Festlegung Antragsverfahrens ist aus unserer Sicht die Einführung der thematischen Prioritäten im Forschungsrahmenpro- des zweistufigen Antragsverfahrens bzw. dort, wo die- gramm und die Ausgestaltung der Instrumente geht, ses Verfahren schon angewandt wird, die deutliche Aus- intensiv mit den Forschungsorganisationen in Deutsch- weitung dieses Prinzips. Damit wird das finanzielle Ri- land und den forschenden Unternehmen rückkoppelt. siko gemindert. Ein Antragsteller kann in der ersten Bei der geeigneten Ausgestaltung geht es nicht so sehr Stufe erst einmal herausfinden, wie groß eigentlich die um die Interessen der Politik, was alles untersucht wer- Erfolgsaussichten seines Antrags sind, bevor er dann in den könnte. Gerade bei der anwendungsnahen For- einer zweiten Stufe in dem Umfang, wie ich es eben be- schung geht es nicht um politische Spielfelder, sondern schrieben habe, einen vollwertigen Antrag für das 7. EU- darum, welche Industrien erfolgversprechend sind und Forschungsrahmenprogramm stellt. welche Produkte marktnah möglich werden, damit wir in Deutschland einen möglichst großen Benefit aus dem Des Weiteren müssen exzellenzferne Kriterien im Programm ziehen. Insofern fordere ich Sie auf – auch 7. EU-Forschungsrahmenprogramm deutlich zurückge- das ist in der Vergangenheit mehrfach angemahnt wor- drängt werden. Viele Wissenschaftler haben all die den –, sich intensiv mit den Betroffenen rückzukoppeln, Dinge, die die Politik im Zeitraum vom 1. bis zum bevor Sie als Bundesregierung im November dieses Jah- 6. EU-Forschungsrahmenprogramm aufgenommen hat, res an den Verhandlungen im Ministerrat teilnehmen, da- nicht im Blick, sondern sehen allein die Exzellenz ihrer mit der deutsche Anteil an dem, was hinterher heraus- Programme. Wenn Förderungsvorhaben, die zumindest kommt, möglichst groß wird. immer dem Kriterium der wissenschaftlichen Exzellenz entsprochen hätten, wegen einer großen Zahl exzellenz- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: ferner Kriterien abgelehnt werden, dann haben nicht nur Das war schon immer so, Herr Braun!) (B) die Wissenschaftler wenig Verständnis dafür, sondern (D) dann ist auch die Steuerungswirkung sehr fragwürdig. Neben der anwendungsnahen Forschungsförderung im Forschungsrahmenprogramm setzt sich die CDU/ Daraus ergibt sich direkt die zweite Forderung, die CSU-Fraktion dafür ein, dass ein European Research Coun- aus unserer Sicht wichtig ist. Es ist beabsichtigt und für cil geschaffen wird, der allein die exzellenzorientierte die CDU/CSU-Fraktion eine elementare Notwendigkeit, Grundlagenforschung in Form einer unabhängigen Ein- dass die Mittel im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm richtung fördert. Die Nobelpreisverleihungen der letzten deutlich aufgestockt werden. Über die Hälfte der An- Wochen haben diese Notwendigkeit eindrucksvoll bestä- tragsteller hat während der letzten Dekade des Pro- tigt. In den naturwissenschaftlichen Fächern sind sieben gramms keine Zusage einer Förderung bekommen, ob- Nobelpreise in die USA und zwei nach Israel gegangen, wohl ihnen bescheinigt wurde, dass die Projekte aber nicht ein einziger in den Geltungsbereich der Euro- qualitativ hervorragend und damit förderungswürdig päischen Union. Das zeigt uns, dass die Grundlagenfor- sind. Wenn man aber den Unternehmen und Forschungs- schung als Basis für das, was im Forschungsrahmenpro- organisationen, die einen Antrag stellen, sagt, dass ihre gramm behandelt werden kann, verstärkt werden muss. Programme qualitativ hervorragend und förderungswür- Das Beispiel Israel belegt, dass es nicht so ist, dass wir dig seien, man jedoch kein Geld mehr habe, dann ist im Vergleich mit den USA keine Chance hätten, weil nicht nur das Geld verloren, das sie wegen der hohen Europa zu klein ist. Vielmehr können auch kleine Län- Antragserfordernisse bereits aufbringen mussten, son- der, wenn man es richtig anstellt, hervorragend in der dern dann sind auch die wissenschaftliche Expertise und die Chancen, die mit diesem Projekt verbunden sind, ersten Liga mitspielen. verloren. Deshalb fordern wir eine erhebliche Aufsto- Da das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist – so ckung und insgesamt die Verdopplung der Aufwendun- sprach Aristoteles –, fordern wir die Bundesregierung gen für die Forschungsrahmenprogramme. auf: Wenn Sie in die Verhandlungen zum 7. Forschungs- (Beifall bei der CDU/CSU) rahmenprogramm gehen, berücksichtigen Sie die Inte- ressen der deutschen Forschungswelt, damit Deutsch- Einer der Hauptkritikpunkte, der gerade von kleineren land ein noch größerer Teil des Ganzen werden kann, als Kooperationen immer wieder angesprochen wird, wenn es beim 6. EU-Forschungsrahmenprogramm der Fall es um exzellenzferne Kriterien geht, ist, dass das 6. EU- war. Forschungsrahmenprogramm meistens das Ziel hatte, besonders große Forschungsnetzwerke zu fördern. Die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Größe allein kann aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion aber neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12041

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 21 Prozent liegt. Damit liegt Deutschland auf Platz eins, (C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Andrea Wicklein von noch vor Frankreich und Großbritannien. der SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wäre schlimm, Andrea Wicklein (SPD): wenn das anders wäre!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zeitpunkt unserer heutigen Debatte über Das ist eine sehr positive Bilanz, Herr Kretschmer, das 7. EU-Forschungsrahmenprogramm und die europäi- die zeigt, dass sich unser Engagement in der EU auch sche Forschungspolitik ist genau richtig gewählt; denn national auszahlt. Dennoch: Auch hier können und müs- dieses Programm wird in den kommenden Monaten in sen wir nachlegen, weil unser wissenschaftliches Poten- allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf der zial bei weitem höher liegt. Unser Ziel muss es daher politischen Agenda stehen. Bis Ende dieses Jahres wer- sein, jetzt die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass den wir unsere Vorschläge zu den notwendigen Modali- dieses Potenzial auch genutzt werden kann. Dazu gehört, täten und Förderschwerpunkten bei der Kommission ein- die Mobilität der Wissenschaftler noch intensiver zu zubringen haben. Der Zeitplan steht. Deshalb müssen fördern. Das Marie-Curie-Programm ist ein hervorra- und wollen wir uns jetzt aktiv an diesem Prozess beteili- gendes Instrument; das sollten wir ausbauen. Deshalb ist gen. es paradox, wenn Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Union, in Ihrem Antrag einerseits Braindrain beklagen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ andererseits aber für Mobilität sind. Wer das eine will, DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: muss das andere auch mögen. Dann müssen Sie unserem Antrag zustim- men!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Die Zukunftschancen Europas im globalen Wettbe- Das ist doch kein Widerspruch! Meine Güte! werb stehen und fallen mit der Frage, ob und wie es uns Was ist das denn! – Michael Kretschmer gelingt, die europäische Forschungslandschaft kontinu- [CDU/CSU]: Man muss den Antrag nicht nur ierlich zu stärken und weiter nach vorne zu bringen. Das lesen, man muss ihn auch verstehen!) hat natürlich auch etwas mit der finanziellen Ausstattung des Forschungsrahmenprogramms zu tun. Schließlich Forschung ist grenzenlos. Unsere Forscherinnen und geht es um die Frage: Wie gelingt es uns, das in Lissabon Forscher leben sowohl vom europäischen als auch vom festgelegte Ziel umzusetzen, die europäischen For- internationalen Austausch der Gedanken und Ideen. schungs- und Entwicklungsaufwendungen bis zum Jahre Deshalb müssen wir die Schaffung europäischer und na- türlich auch internationaler Forscherkarrieren im Auge (B) 2010 auf insgesamt 3 Prozent des Bruttoinlandsproduk- (D) tes der EU anzuheben? behalten. Brain-Zirkulation – muss unser Ziel sein, in- nerhalb Europas und darüber hinaus. Die Kommission hat vorgeschlagen, diese Mittel zu verdoppeln. Die finanzielle Ausstattung muss verbes- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sert werden. Das wird im Rahmen der Beschlussfassung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) über den EU-Haushalt für die Jahre 2007 bis 2013 ent- Die Karriereaussichten für die Spitzenkräfte im euro- schieden. Um mehr Geld für Forschung und Entwick- päischen Forschungs- und Entwicklungsbereich sind lung zu mobilisieren, sollte vor allem darauf geachtet ausgezeichnet. Der Bedarf wird von der Kommission auf werden, dass durch die Ausgestaltung des 7. EU-For- 1,2 Millionen zusätzliche Mitarbeiter in der Forschung schungsrahmenprogramms starke Impulse für die Stei- geschätzt. Damit wir in Deutschland daran partizipieren, gerung der Forschungs- und Entwicklungsausgaben der muss es unsere Aufgabe sein, attraktive, leistungs- und Unternehmen gesetzt werden. Auch durch die Kopplung konkurrenzfähige Universitäten und Forschungseinrich- des Ausgabenwachstums an das Wachstum der europäi- tungen zu schaffen. Deutschlands Hochschulen müssen schen Wirtschaft werden neue finanzielle Spielräume sich zu europäischen Magneten entwickeln. Dabei entstehen. Schon das laufende 6. EU-Forschungsrah- kommt der Förderung von Spitzenuniversitäten eine menprogramm mit einem Volumen von 20 Milliarden entscheidende Bedeutung zu. Euro ist das weltweit größte Förderprogramm für For- schungsprojekte und unterstützt konsequent europäische Wir haben die Weichen gestellt für die Europäisie- Forschungskooperationen. rung des deutschen Hochschulwesens. Seit dem Regie- rungsantritt der rot-grünen Koalition 1998 wurden 2 500 Ein paar Zahlen machen den Erfolg deutlich: Jetzt, Bachelor- und Masterstudiengänge in Deutschland ein- zur Halbzeit, verzeichnet die Kommission insgesamt gerichtet. Das hat die Attraktivität unserer Hochschulen 2 280 geförderte Projekte mit 21 207 teilnehmenden In- erhöht. Inzwischen sind die Abschlüsse auch bei den Ar- stitutionen. Deutsche Wissenschaftler sind an 80 Prozent beitgebern akzeptiert, wie die jüngst vorgelegte Studie der ausgewählten Vorhaben beteiligt. des DIW belegt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Ich denke, das ist eine beachtliche Größenordnung. Das Das Gleiche gilt für die internationale Graduiertenaus- entspricht insgesamt einem Anteil an den Fördergeldern bildung, bei der besonders qualifizierte Nachwuchswis- von 22 Prozent, während unser Beitragsanteil bei senschaftler aus dem In- und Ausland dazu motiviert 12042 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Andrea Wicklein (A) werden, bei uns zu promovieren. Wir können aber noch Wissen zu entwickeln. Ich denke, das ist dringend erfor- (C) zulegen. Deshalb sind wir für Graduiertenschulen als derlich. Teil des Exzellenzwettbewerbs. An dieser Stelle, meine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Damen und Herren von der Union, blockieren Sie leider. DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Schon wieder!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema der eu- ropäischen Forschungspolitik ist das europäische Zu- Aus einer aktuellen Studie geht hervor, dass es immer kunftsthema. Wir müssen Forschung als gemeinsame eu- noch viele ungeklärte Fragen und Probleme gibt, die zwar ropäische Aufgabe verstehen und die notwendigen außerhalb des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms lie- Veränderungen mutig angehen. Nationale Forschungs- gen, aber in einem direkten Zusammenhang damit ste- kuschelecken gehören der Vergangenheit an. Das erfor- hen. Das geht von ungeklärten Sozialversicherungsrech- dert in vielen Fragen ein gemeinsames, abgestimmtes ten über Einreise- und Bleibebestimmungen bis hin zu Vorgehen. Ich freue mich auf die Diskussionen in den Rechten im Zusammenhang mit der Mutterschaft wäh- nächsten Wochen. rend des Doktorandenstudiums, um hier nur einige Bei- spiele zu nennen. Diese Fragen müssen auch auf der Vielen Dank. politischen Agenda stehen, um Austausch in einem ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meinsamen europäischen Forschungsraum zu forcieren. DIE GRÜNEN) Die Beteiligung der Wirtschaft, insbesondere die der kleinen und mittelständischen Unternehmen, ist beim Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 6. EU-Forschungsrahmenprogramm unbefriedigend, ja Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Flach von der sogar rückläufig. Die Einzelförderung solcher Unterneh- FDP-Fraktion. men, wie in Ihrem Antrag vorgeschlagen, ist sicherlich kein geeignetes Mittel und sollte der nationalen Förde- Ulrike Flach (FDP): rung vorbehalten bleiben. Vielmehr muss es darum ge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das hen, auch kleinere Zusammenschlüsse und Projekte zu 7. Forschungsrahmenprogramm der EU ist eine große fördern. Die Auswahl der Förderinstrumente sollte dabei Chance für die Forschung. Ich glaube, darin sind wir uns überwiegend durch die Entscheidung der Antragsteller alle völlig einig und da erzählen wir uns gegenseitig erfolgen. nichts Neues. Herr Braun hat gerade schon darüber gesprochen: Es ist klar, dass wir nur dann mit anderen Regionen in Auch die Nutzerfreundlichkeit muss im 7. EU-For- (B) der Welt mithalten können, wenn wir uns gemeinsam (D) schungsrahmenprogramm ganz oben auf der Tagesord- hinter diese Forschungsrahmenprogramme stellen. Die nung stehen. Die Vereinfachung der Regelwerke, die Kosten für große Forschungsprojekte und für die For- Entlastung bei der Antragstellung hin zum zweistufigen schungsinfrastruktur sind national einfach nicht mehr zu Verfahren, die Erleichterung der Abrechnungsmodi, bewerkstelligen. Herr Braun hat das eben schon schön Transparenz bei den Förderzielen und bei den Förderin- vorgetragen: Die Forschung trägt nach unserer Überzeu- strumenten – ich glaube, das sind die entscheidenden gung dazu bei, dass wir langfristig zu einer deutlich hö- Faktoren für die kleinen und mittelständischen Unter- heren wirtschaftlichen Dynamik und zur Schaffung von nehmen; denn oftmals überfordern der hohe Personal- Arbeitsplätzen kommen, und zwar mehr, als wenn wir in aufwand und die hohen finanziellen Aufwendungen po- Subventionen investieren würden, seien es nun Subven- tenzielle Antragsteller. tionen für die Landwirtschaft, für die Agrarwirtschaft oder für die Steinkohle. Neben Verfahrensfragen stehen natürlich auch die the- matischen Prioritäten im Mittelpunkt des 7. EU-For- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg schungsrahmenprogramms, wie zum Beispiel die Schaf- Tauss [SPD]: Eigenheimzulage!) fung von europäischen Technologieplattformen, die Im 6. EU-Forschungsrahmenprogramm gab es einige Europäisierung der Grundlagenforschung, die Verbesse- Schwachpunkte, die wir alle kennen und die ich hier rung und der Ausbau der europäischen Forschungsinfra- nur stichwortartig nennen möchte: zu viele Instrumente, struktur und die Koordination nationalstaatlicher Pro- zu bürokratische Antragsregeln und eine zu geringe Ori- gramme. Sie müssen auch finanziell weiterhin dessen entierung auf KMUs. Diese Schwächen müssen in dem Kernstück bleiben. ab 2007 geltenden Forschungsrahmenprogramm vermie- den werden. Dabei sollten neben den anerkannten Leitlinien die Themen stärker unterstützt werden, die mit dem europäi- Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns in den gro- schen Integrationsprozess, dem gesellschaftlichen und ßen Linien weitgehend einig sind. Deshalb will ich ei- demographischen Wandel und den globalen Herausforde- nige Punkte herausstellen, bei denen wir als FDP anderer rungen im Zusammenhang stehen. Auf nationaler Ebene Auffassung sind. Die Bundesregierung hat in ihren gibt es bereits hervorragende Forschungseinrichtungen, Kernforderungen die thematischen Prioritäten hervorge- die sich mit der demographischen Entwicklung, der Bil- hoben. Dabei kommt zwar die Luftfahrtforschung vor, dungs- und Arbeitsforschung sowie der Nachhaltigkeits- aber nicht die Raumfahrtforschung. Die Grundlagen- forschung befassen. Es gilt, diese Forschungspotenziale forschung in der Raumfahrt gehört aus unserer Sicht zu zu bündeln und daraus ein gemeinsames europäisches den thematischen Prioritäten, während die angewandte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12043

Ulrike Flach (A) Raumfahrt über ESA und nicht zuletzt über private Kon- Staatssekretär Kasparick hat gestern im Ausschuss beim (C) sortien betrieben werden sollte. Stichwort Galileo erklärt, man könne den Unternehmen nicht befehlen, sich an europäischen Ausschreibungen zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beteiligen. Das stimmt. Selbstverständlich sind wir Libe- der CDU/CSU) ralen Ihrer Meinung. Wir sind uns aber auch darin einig, dass der deutsche Anteil an EU-Vergaben proportional Ebenso – das fällt uns Liberalen eigentlich bei jeder zu unseren Ausgaben, zur Wirtschaftskraft und zur Be- neuen Diskussion zu Rahmenprogrammen auf – gehört völkerungszahl Deutschlands eindeutig zu gering ist. für uns Euratom mit in die Planung des 7. EU-For- schungsrahmenprogramms. (Jörg Tauss [SPD]: Die Zahlen haben Sie doch gerade gehört!) (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch zu allem Unglück drin!) Wenn gleichzeitig alle Vertreter der Wirtschaft, vor al- lem der KMU, die enorme Bürokratie und die Fehlkon- – In der Stellungnahme der Regierung, lieber Herr Fell, struktion von Instrumenten für KMUs beklagen, dann kommt Euratom nicht vor. Das ist sicherlich auf Ihre se- muss die Bundesregierung handeln und – da bin ich völ- gensreiche Tätigkeit zurückzuführen. lig auf Ihrer Seite, Herr Braun – endlich etwas gegen die überbordende Bürokratie im europäischen Bereich tun. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Sie haben bereits beim 6. EU-Forschungsrahmenpro- des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNISSES 90/ gramm versucht, Euratom auszublenden. Ich darf des- DIE GRÜNEN]) halb die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 1. Juli zitieren: Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas zum CDU/CSU-Antrag sagen. Lieber Herr Braun, der Antrag Die auf Nutzung der Fusionsenergie ausgerichteten zeichnet sich durch ausgesprochene Detailkenntnis aus, FuE-Arbeiten sind ein sehr wichtiges Element zu- aber er hat ein deutliches Manko. künftiger Energiepolitik und sollten deshalb in (Jörg Tauss [SPD]: Wer hat ihn denn geschrie- den europäischen FuE-Rahmenprogrammen bzw. ben?) Euratom-Forschungs- und -Ausbildungsprogram- men mit Nachdruck gefördert werden. Sie fordern die deutliche Aufstockung des Forschungs- programms, sodass alle Maßnahmen zusammen eine Herr Fell, das sollten Sie sich wirklich einmal zu Herzen Verdoppelung der Mittel ergeben. Aber Sie bleiben die (B) nehmen. Antwort schuldig, ob Sie bereit sind, der EU entspre- (D) chend mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. Das aber er- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten warten wir natürlich von Ihnen. der CDU/CSU – Dr. Martin Mayer [Siegerts- brunn] [CDU/CSU]: Er wird es noch lernen! – Wir können für uns sagen: Wir sind an dieser Stelle nahe Gegenruf des Abg. Hans-Josef Fell [BÜND- zusammen, Frau Bulmahn. Es ist richtig, dass wir den An- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Umgekehrt, Herr teil der Bundesrepublik am EU-Haushalt nicht über Mayer! Sie werden es noch lernen!) 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens ansteigen lassen wollen. So wie wir auf nationaler Ebene eine Umschich- Wir legen Wert darauf, dass die Irritationen über die tung zugunsten von Forschung und Entwicklung wol- Finanzierung der embryonalen Stammzellforschung len, muss es auch auf europäischer Ebene laufen. beseitigt werden. Deutsche Wissenschaftler müssen an europäischen Forschungsvorhaben teilnehmen können. Europa ist bis zum Jahre 2010 der dynamischste wis- Es darf keine Blockadeversuche europäischer Stamm- sensbasierte Wirtschaftsraum; das ist unser gemeinsa- zellforschung durch deutsche Bundesregierungen geben. mes Ziel. Das werden wir nur schaffen, liebe Frau Bulmahn, wenn Sie sich energisch an die Spitze setzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Frau (Jörg Tauss [SPD]: Sie ist an der Spitze!) Böhmer wollen wir jetzt einmal erwähnen!) Ich erkenne das beim 7. Forschungsrahmenprogramm noch nicht. Sollten Sie es aber tun, werden Sie die Libe- – Dabei gucke ich nicht zu Ihnen, lieber Herr Tauss, son- ralen an Ihrer Seite haben. dern zu Herrn Fell. Wenn Frau Böhmer da wäre, hätte ich selbstverständlich auch in ihre Richtung geguckt. (Jörg Tauss [SPD]: Eine Drohung!) Besondere Bedeutung sollte im 7. EU-Forschungs- Ich bin schon auf Ihre folgenden Ausführungen ge- rahmenprogramm die Grundlagenforschung erhalten. spannt. Wir begrüßen deshalb die Einrichtung der europäischen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Agentur für Grundlagenforschung. Bereits in der Som- merpause haben wir einen Antrag für einen europäischen Forschungsrat in den Bundestag eingebracht, damit man Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sich auf Prioritäten und Nachrangigkeiten verständigt, Das Wort hat der Kollege Hans-Josef Fell von Bünd- Doppelförderungen und Lücken vermeidet. nis 90/Die Grünen. 12044 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und und bei der SPD) Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ Das ist eine der größten Absurditäten: Es gibt riesige CSU, Forschungsfelder. Die Energieforschung ist ein Feld da- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Zur Stelle!) von. Ein kleiner Teilbereich der Energieforschung be- trifft die Kernenergie. Die Kernenergie ist aber als einzi- in Ihrem Antrag, den Sie heute eingebracht haben, for- ger Forschungsbereich europaweit durch einen Vertrag dern Sie die Bundesregierung auf, das 7. EU-For- gebunden, der längst nicht mehr zeitgemäß ist. schungsrahmenprogramm wirksam auszugestalten. Bei diesem Ziel gibt es keinen Dissens. (Ulrike Flach [FDP]: Das sehen wir natürlich anders!) (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Dann fan- Damit wird in absurder Weise festgelegt, dass enorme gen Sie doch mal an!) Mittel in eine Technologie investiert werden, die längst Ich muss sagen, dass ich mit vielen Anregungen und versagt hat. Forderungen mit Ihnen übereinstimme. Trotzdem bin ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Ihrem Antrag maßlos enttäuscht. und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Und par- Ich bin enttäuscht, weil Sie in formalen Aspekten ste- lamentsfrei!) cken bleiben. Sie geben überhaupt keine Impulse und sa- Wir brauchen aber auch Investitionen in Forschung, gen nicht, welche Forschungsziele wichtig sind. Wo die den Dienstleistungssektor betrifft. Es gibt europaweit bleiben denn Ihre Ideen, wie ein Europa der Zukunft große Probleme aufgrund der alternden Gesellschaft. Es aussehen soll? Nur mit Formalia und rechtlichen Ände- gibt große Probleme im Gesundheitswesen. Wir können rungen kommen wir nicht weiter. mit neuem unternehmerischen Handeln für diese Berei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN che Großes und Neues bewegen, ohne die Sozialkassen sowie bei Abgeordneten der SPD) belasten zu müssen. Dies ist auch ein Forschungsaspekt, der sich im Europa der Zukunft wiederfinden muss. Herr Braun, in Ihrer Rede gab es kein Wort zu ir- gendeinem Themenschwerpunkt. Frau Wicklein und Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der Union, Frau Flach haben hier große Akzente gesetzt, auch wenn zeigt Ihre grundsätzlich positive Bewertung der europäi- ich mit Frau Flach in Teilbereichen inhaltlich nicht über- schen Forschungsförderung mit den üblichen Kritikpunk- einstimme. Immerhin hat sie sie thematisiert. Aber die ten am 6. Forschungsrahmenprogramm: Das Antragsver- fahren sei zu kompliziert, die kleinen und mittleren (B) Union glaubt, Europas Zukunft stabilisieren zu können, (D) indem man Antragsformulare verbessert und andere Re- Unternehmen seien zu wenig eingebunden, Europa unter- gularien schafft. Ich denke, es ist viel wichtiger, über stütze die Grundlagenforschung zu wenig. Ich bin mit Ih- Themenschwerpunkte, Inhalte und darüber zu reden, wie nen einer Meinung; das stimmt. Dann aber fordern Sie die wir die Zukunft Europas gestalten können. Bundesregierung auf, in Zukunft mehr Geld zur Verfü- gung zu stellen. Diese Forderung an die europäische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ebene ist leicht einzufordern. Aber in Deutschland, auf und bei der SPD) der nationalen Ebene, zeigen Sie sich nicht konstruktiv, wenn es um die Finanzierung neuer Forschung geht. Ich nenne als Beispiel die Biotechnologie. Eine Be- schränkung auf Gentechnik, Frau Flach, hilft uns hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht weiter. Wir brauchen auch Bionik, ökologische und bei der SPD) Züchtungsmethoden für Pflanzen und wir brauchen ohne Ich erinnere an Ihre Blockade bei der beabsichtigten Zweifel die weiße Biotechnologie. Streichung der Eigenheimzulage. Das spricht doch für (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Grüne Gentech- sich selbst. nik, Herr Fell!) (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Fällt Ihnen Wir brauchen endlich eine medizinische Forschung noch etwas Besseres ein, Herr Fell?) über vernachlässigte, häufig auftretende Krankheiten. Wir teilen auch die Kritik am zu komplizierten Antrags- Das ist für die EU-Kommission ein völlig unbeschriebe- verfahren. Das Bemühen darum, Fehler zu vermeiden nes Blatt. Wir brauchen im Bereich der Mobilität endlich und neue Anreize zu setzen, wie etwa möglichst viele eine Flexibilisierung der Treibstofflandschaft, insbeson- Nationalitäten zueinander zu bringen, hat bei all der dere in Anbetracht des Ölproblems, das wir jetzt hautnah Richtigkeit der Zielvorstellungen zu einem hohen büro- spüren. Hier kann die Forschung enorm viel leisten. kratischen Aufwand geführt. Auch die Forderung nach Stärkung der Beteiligung von kleinen und mittleren Un- Im Zusammenhang mit der Materialforschung sollten ternehmen teilen wir. Allerdings kann es nicht sein, dass nachwachsende Rohstoffe endlich in den Forschungska- deren Einzelförderung in das 7. Forschungsrahmenpro- talog aufgenommen werden; denn auch hier wird die gramm aufgenommen wird. Das würde zu noch mehr Biotechnologie eine große Rolle spielen. Ähnliches gilt Bürokratie führen. auch für die Nanotechnologie. Wir müssen in der Ener- gieforschung neue Akzente setzen und dürfen uns nicht Viel zielführender ist der Vorschlag, kleine nationale auf einen einzigen Vertrag – Euratom – beziehen. Konsortien von Forschungseinrichtungen und kleinen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12045

Hans-Josef Fell (A) und mittleren Unternehmen zu bilden, die exzellente Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) Anträge stellen können, damit sie stärker an der Mittel- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Martin Mayer von vergabe beteiligt werden können. Wir haben ein gutes der CDU/CSU-Fraktion. Beispiel mit der Arbeitsgemeinschaft industrieller For- schungseinrichtungen in Deutschland. Dies gilt es, auf (Beifall bei der CDU/CSU) andere Nationen zu übertragen. Es ist eine der Aufgaben der EU-Kommission, dieses zu leisten. Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU): Zum Thema Braindrain: Sie fordern von der Bundes- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich regierung, den Austausch zwischen Wissenschaftlerin- möchte zunächst Frau Kollegin Wicklein dafür danken, nen und Wissenschaftlern aus forschenden Unternehmen dass sie der Union bestätigt hat, ihren Antrag zum richti- und öffentlichen Forschungseinrichtungen weiter zu er- gen Zeitpunkt eingebracht zu haben. höhen. Dies soll durch einen deutlichen finanziellen (Beifall bei der CDU/CSU) Ausbau der Fördermaßnahmen umgesetzt werden. Das reicht aber nicht aus. Auch in diesem Zusammenhang Wir haben es getan, damit wir dieses Thema bis zum stellt sich wieder die Frage, wie Sie das Vorhaben finan- Jahresende diskutieren können. Ich möchte auch feststel- zieren wollen, wenn Sie die Abschaffung der Eigen- len, dass im Grundsatz weitgehend Übereinstimmung in heimzulage blockieren. der Beurteilung des europäischen Forschungsprogramms besteht. (Zuruf von der CDU/CSU: Steinkohle! – Jörg Tauss [SPD]: 2 Milliarden!) Herr Fell, wenn Sie davon reden, dass die Union keine Vorschläge macht, dann muss ich Ihnen entgegen- Insofern müssen vor allem die Bundesländer dazu ange- halten, dass Sie offenbar nichts darüber lesen und auch halten werden, sich im Rahmen der Tarifverhandlungen nicht hören wollen, was der Kollege Braun ausgeführt endlich für einen Wissenschaftstarif einzusetzen. Das hat. würde den Weg zu einem erweiterten Austausch zwi- schen der kommerziellen und der öffentlich finanzierten (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) Forschung öffnen, ohne dass zusätzliche Kosten verur- Was Ihre Bemerkung angeht, dass die Grünen die sacht werden. Pflanzenbiologie zum Schwerpunkt machen möchten, ist (Ulrike Flach [FDP]: Da ist die Bundesregie- festzustellen, dass Sie, die Sie das in Deutschland blo- rung dran, Herr Fell!) ckieren, sich mit solchen Aussagen lächerlich machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (B) Wir freuen uns, dass Sie unsere Auffassung teilen, (D) Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass die Aufstockung der Forschungsmittel im Haushalt NEN]: Sie wissen gar nicht, was das ist! – der Kommission für die Leistungsfähigkeit des For- Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ schungsraumes Europa wichtig ist. Umso weniger ver- DIE GRÜNEN]: Sie machen sich lächerlich!) stehen wir aber, dass Sie sich der Umschichtung der Mit- tel aus der Eigenheimzulage in die Forschungsförderung Wir diskutieren heute über die europäische For- verweigern. Denn auch damit kann Neues angestoßen schungsförderung in Rahmenprogrammen. Das und können alte Zöpfe abgeschnitten werden. 6. Forschungsrahmenprogramm hat ein Volumen von 20 Milliarden Euro über fünf Jahre, wobei das Anfangs- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Legen Sie erst und das Schlussjahr jeweils als halbes Jahr zählen, so- einmal einen eigenen Antrag vor!) dass das Volumen durch vier zu teilen ist. Das entspricht Sie verweigern sich einer grundsätzlichen Diskussion 5 Milliarden Euro pro Jahr für die europäische For- des Themas. Das ist der entscheidende Fehler in Ihrem schung. Antrag. Eine Zukunft für Europa kann ich bei den in Ih- Die Kommission hat in einer Mitteilung vom 16. Juni rem Antrag genannten Zielen nicht erkennen. dieses Jahres angekündigt, dass sie die europäischen (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ Forschungsmittel verstärken will. Sie hat wörtlich ange- CSU]: Weil Sie nicht wollen!) geben: Für alle Maßnahmen zusammengenommen sol- len die Mittel verdoppelt werden. – Das ist ein sehr löbli- Dabei hat das 7. Forschungsrahmenprogramm einen ches Vorhaben, aber nur unter einer Bedingung: Die hohen Stellenwert. Es ist deshalb so wichtig, weil mit Aufstockung der Forschungsmittel der EU darf keines- dem aktuellen 18-Milliarden-Euro-Etat – man muss sich falls zu einer Kürzung der nationalen Forschungsmittel einmal vor Augen führen, um wie viel Geld es dabei führen. geht – entscheidende Weichen gestellt werden. Wir set- (Beifall bei der CDU/CSU) zen uns mit aller Kraft und gemeinsam mit der Ministe- rin Bulmahn auf der nationalen Ebene für die internatio- Mit anderen Worten: Die EU muss die notwendigen Mit- nale Kooperation in Europa ein, sodass wir auch über die tel aus dem eigenen Haushalt – zum Beispiel aus Struk- Forschung die Zukunft Europas gut gestalten können. turmitteln – erbringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Jörg Tauss [SPD]: Aus der Landwirtschaft, und bei der SPD) Herr Mayer!) 12046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (A) Im Übrigen ist zu hoffen, dass es dem Vorsatz der – das möchte ich betonen – nach der wissenschaftlichen (C) EU-Kommission zur Verdoppelung der Mittel für die Qualität, also nach der Exzellenz, erfolgen, so wie das Forschungsförderung nicht ebenso ergeht wie den Wahl- beispielsweise in der Deutschen Forschungsgemein- versprechungen von Rot-Grün, die auch eine Verdoppe- schaft geschieht, und darf nicht nach nationalen Krite- lung vorsahen. Mittlerweile ist man schon froh, wenn die rien oder Schlüsseln vorgenommen werden. Nur dann Ansätze im Forschungshaushalt unverändert bleiben und wird man erfolgreich sein und wird der europäische For- nicht verringert werden müssen. schungsraum dem ehrgeizigen Ziel näher kommen, mit den USA auf gleicher Augenhöhe zu sein. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Da seid ihr die Richtigen! Entschuldigt euch Die europäische Forschungsförderung steht in den mal für Rüttgers! Dann können wir wieder re- nächsten Jahren vor großen Herausforderungen. Die den!) CDU/CSU hat mit ihrem Antrag einen soliden In das 7. Forschungsrahmenprogramm will die Kom- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Einen sehr soli- mission zwei neue Bereiche aufnehmen, und zwar die den! – Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Raumfahrt und die Sicherheit. Das ist vernünftig. Spe- Jörg Tauss [SPD]: Das war Ironie! – Dr. Uwe ziell in der Raumfahrt gibt es viele Projekte und Aufga- Küster [SPD]: Unterlassen Sie Ihre Ironie da ben, die auf nationaler Ebene nicht lösbar sind, sondern drüben!) die europäische bzw. internationale Zusammenarbeit er- fordern. Deshalb gibt es eine europäische Raumfahrt- Leitfaden für die Diskussion über die künftige europäi- agentur, die ESA. Ich meine, dass es nur vernünftig ist, sche Forschungspolitik vorgelegt. Es geht letztlich um wenn sich die EU dieses Themas annimmt. Galileo, ein die Stärkung der europäischen und damit auch der deut- System von Weltraumsatelliten für die Navigation, ist ja schen Forschung. Das ist für uns alle eine wichtige Auf- ein Erfolgsbeispiel bzw. wir hoffen, dass es mithilfe der gabe der Zukunftssicherung. Europäischen Union zu einem solchen wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Verstärkten finanziellen Einsatz verlangt auch ein an- neten der FDP) deres Forschungsgebiet – das hat Frau Flach schon angesprochen –, auf dem wie in der Raumfahrt be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: stimmte Projekte nur auf internationaler Ebene geschul- Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Edelgard tert werden können. Das ist die Forschung an der Kern- Bulmahn. fusion zur Energiegewinnung. Zwar wird man erst in einigen Jahrzehnten mit Strom aus der Kernfusion rech- (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Jetzt (B) nen können. Aber angesichts der Verknappung der Ener- wird es seriös!) (D) gieressourcen, die nicht nur gegenwärtig sehr aktuell ist, sondern sich auch langfristig als dauerhaft abzeichnet, Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung müssen wir alles tun, um diese neue Stromquelle früher und Forschung: als derzeit geplant zu erschließen. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Damen und Herren! Der Europäische Rat hat sich mit NEN]: Wir warten schon über 50 Jahre darauf der Erklärung von Lissabon ein sehr ehrgeiziges Ziel ge- und wir werden noch weiter 50 Jahren war- setzt. Europa soll bis zum Jahre 2010 der „wettbewerbs- ten!) fähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschafts- raum der Welt“ werden. Forschung, Entwicklung und Die EU muss deshalb den Bau von ITER in Frankreich Innovation sind zentrale Bestandteile einer solchen Stra- tatkräftig unterstützen tegie. Sowohl die einzelnen EU-Mitgliedstaaten als auch (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Europäische Kommission müssen ihre Anstrengun- NEN]: Das tut sie doch sowieso!) gen in diesen Bereichen deutlich verstärken, um Europas Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und um vor allen Din- und gleichzeitig die begleitende Forschung in Deutsch- gen den in Europa lebenden Menschen bessere Lebens- land – hier wird ein wesentlicher Beitrag geleistet – zur chancen, also Chancen auf mehr wirtschaftliches Wachs- Beschleunigung dieses Vorhabens in notwendigem Um- tum, mehr Beschäftigung und mehr Lebensqualität, zu fang weiter finanzieren. eröffnen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Aufgrund ihrer geschichtlichen Entwicklung von ei- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ner Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Ge- Darum geht es, wenn wir über das 7. EU-Forschungsrah- meinschaft ist die Förderung der Europäischen Union menprogramm hier im Parlament diskutieren. bisher mehr auf die anwendungsnahe Forschung konzen- triert. Die Entwicklung in den USA zeigt aber, dass eine Ich habe gesagt, dass sowohl die einzelnen EU-Mit- gemeinsame Grundlagenforschung wichtig ist. Des- gliedstaaten als auch die Europäische Kommission ihre halb sind die Überlegungen der Europäischen Union zu Anstrengungen verstärken müssen. Die Bundesregie- begrüßen, einen europäischen Forschungsrat zu errich- rung hat hier schon eine ganze Menge getan. Wir haben ten und ihm die Förderung der Grundlagenforschung zu die richtigen Weichen gestellt und seit 1998 deutlich übertragen. Allerdings muss die Verteilung der Mittel mehr Mittel in Bildung, Wissenschaft und Forschung in- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12047

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) vestiert. Das sind immerhin rund 35 Prozent. Herr unter der alten Kohl-Regierung – bei rund 18 Prozent (C) Mayer, an Ihrer Stelle wäre ich etwas leiser. der Mittel lag, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Jörg Tauss [SPD]: 18!) DIE GRÜNEN) – ohne die Fusionsforschung waren es sogar noch deut- Wenn ich beispielsweise die Ausgaben für die Hoch- lich weniger –, liegen wir aktuell bei der ersten Aus- schulen vergleiche, dann stelle ich fest, dass die Bundes- schreibung bei etwa 22 Prozent. regierung von 1998 bis 2003 diese Ausgaben um (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 23,4 Prozent erhöht hat, während Bayern seine Ausga- DIE GRÜNEN) ben nur um 2,9 Prozent gesteigert hat. Dies ist eine deutliche Verbesserung der deutschen Posi- (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ tion. Durch intensive Beratungen sowie durch ganz klare CSU]: Ist das eine Verdoppelung?) Anforderungen an alle Beteiligten haben wir es endlich Dazu sage ich in aller Deutlichkeit geschafft, den Wert zu erreichen, den wir auf jeden Fall erreichen müssen. Wir finanzieren ungefähr 22 Prozent (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ des europäischen Haushalts; deshalb müssen wir auch CSU]: Sie sollten froh sein, wenn Sie in Nie- eine entsprechende Rückflussquote sicherstellen. dersachsen solche Hochschulen hätten wie wir (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Was haben in Bayern! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie denn für ein Verständnis von Europa?) Kehren Sie vor Ihrer eigenen Tür!) – Eine Steigerung um 4 Prozent hat es in all den Jahren – das richtet sich an Ihre Adresse, lieber Herr Mayer –: davor nicht gegeben. Es ist ein gutes Ergebnis, von Solange man den Balken im eigenen Auge nicht besei- 18 auf 22 Prozent zu kommen, Herr Kretschmer. tigt hat, sollte man nicht über den Splitter im Auge ande- rer reden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Rechnen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie das mal in Prozent aus, Herr Kretschmer!) DIE GRÜNEN) Für genauso wichtig halte ich, dass deutsche Forscher Die Bundesregierung hat hier in den vergangenen und Unternehmen an 80 Prozent der Projekte beteiligt Jahren trotz der schwierigen finanziellen Rahmenbedin- sind, die auf besonders zukunftsorientierte Themenge- gungen, die Sie alle kennen, eine ganze Menge erreicht. biete wie die Lebenswissenschaften oder die Nanotech- Trotz der Aufgaben, denen wir in vielen anderen Berei- nologie ausgerichtet sind. Damit bearbeiten unsere deut- (B) (D) chen nachkommen müssen, haben wir hier eine klare schen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Priorität gesetzt. wichtigsten Forschungsbereiche für die europäische Zu- kunft und können von ihnen auch profitieren. Dies zeigt, Darüber hinaus haben wir mit der Initiative „Partner dass Deutschland über ein exzellentes wissenschaftli- für Innovation“ die richtigen Weichen gestellt, um zu er- ches Know-how verfügt und ein wichtiger Partner in der reichen, dass Ergebnisse aus der Forschung schneller in europäischen Zusammenarbeit ist. Die Erfolge belegen Anwendung kommen, also in Produkte, Verfahren und im Übrigen auch die gute Zusammenarbeit meines Dienstleistungen umgesetzt werden, und um ein innova- Ministeriums mit den Partnern aus Wissenschaft und tionsfreundliches Klima in unserem Land zu schaffen. Wirtschaft sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der (Ulrike Flach [FDP]: Aber das haben wir noch Durchführung des Forschungsrahmenprogramms. nicht!) Auf dieser guten Ausgangsposition wollen wir im Auf der Ebene der EU, meine sehr geehrten Herren 7. Forschungsrahmenprogramm aufbauen. Lassen Sie und Damen, sind die Rahmenprogramme der Gemein- mich an dieser Stelle die zentralen Forderungen und Er- schaft das wichtigste Instrument, mit dem wir unserem wartungen nennen, die ich an das künftige Forschungs- Leitbild eines „Europäischen Forschungs- und Innova- rahmenprogramm richte. Wir müssen den Etat des tionsraums“ näher kommen wollen. Hier stellt sich die 7. Forschungsrahmenprogramms erhöhen. Dieser Zu- Frage, welche der formulierten Ziele wir bereits erreicht wachs kann allerdings nicht durch höhere Beiträge der haben und woran wir noch arbeiten müssen, um diese EU-Mitgliedstaaten entstehen. Ziele erreichen zu können. (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ Das derzeitige 6. Forschungsrahmenprogramm, CSU]: Sehr richtig!) ausgestattet mit einem Budget von rund 20 Milliarden Daher gilt für die EU-Kommission genauso wie für die Euro, ist für die deutschen Teilnehmerinnen und Teilneh- nationalen Haushalte, dass öffentliche Subventionen in mer erfolgreich angelaufen. die Vergangenheit gekürzt und Zukunftsinvestitionen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in Forschung und Entwicklung erhöht werden müssen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Dies ist ein außerordentlich erfreuliches Ergebnis. Wäh- Wir müssen in Europa zum Beispiel von den milliarden- rend der Anteil der deutschen Forschung am Budget des schweren Zuwendungen an die Landwirtschaft wegkom- 5. Forschungsrahmenprogramms – überwiegend noch men. 12048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) (Jörg Tauss [SPD]: Das sollte Stoiber-Edi nem holländischen Kollegen vereinbart, eine solche Sit- (C) hören!) zung stattfinden zu lassen. Wir werden auf dieser Sit- zung die ersten Charakteristika eines europäischen Wir müssen hier umsteuern; nur über eine klare Umsteu- Raumfahrtprogramms diskutieren. erung können wir unser selbst gestecktes Ziel erreichen, 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts in Forschung und Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zu Galileo Entwicklung zu investieren. Daher würde ich mich machen. Wenn es die Kohl-Regierung noch gäbe, hätten freuen, wenn der Deutsche Bundestag in dieser Frage wir wahrscheinlich kein europäisches Programm Galileo, eine einhellige Position verträte. sondern würden uns noch immer an dem amerikanischen Programm beteiligen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: Das ist eine große Verdächtigung!) Das 7. Forschungsrahmenprogramm haben wir im Übrigen – Herr Braun, deshalb habe ich vorhin bei Ihrer Dass wir ein europäisches Programm haben, ist mit dem Rede „Guten Morgen“ gedacht – seit ungefähr einein- engagierten Arbeiten der Bundesregierung zu verdan- halb Jahren in ganz intensiven Arbeitsgesprächen so- ken, die sich sehr stark dafür eingesetzt hat. wohl mit Vertretern der Wissenschaft als auch mit Ver- tretern der Industrie entwickelt. Unsere Positionen sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in einem engen Arbeitsprozess mit den Akteuren ent- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – standen: nicht nur in Gesprächen, sondern auch durch Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ den Austausch ganz konkreter Papiere und durch Abfra- CSU]: So ein Unsinn! – Ulrike Flach [FDP]: gen. Was wir Ihnen vorgelegt haben, entspricht genau Das ist eine Unterstellung!) dem Ergebnis dieser intensiven Zusammenarbeit. Zur Beteiligung der Industrie: Ich teile die Sorge, Die transnationale projektbezogene Zusammenarbeit die hier von einigen geäußert worden ist, nämlich darü- in den für Europa wichtigen Forschungsgebieten muss ber, dass die Beteiligung der Industrie am weiterhin das Kernstück des Forschungsrahmenpro- 6. Forschungsrahmenprogramm deutlich gesunken ist. gramms bleiben – das ist mir schon wichtig – und darf Ich halte das für eine Fehlentwicklung. Ich habe das dem nicht durch andere Aufgaben sozusagen überlagert wer- Ministerrat und auch der Kommission gegenüber sehr den. deutlich gesagt. Diese Fehlentwicklung muss gestoppt werden. Die Entwicklung muss umgekehrt werden. Des- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Martin halb will ich nicht erst auf das In-Kraft-Treten des Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: Schwa- (B) 7. Forschungsrahmenprogramms warten, sondern habe (D) cher Beifall!) bereits auf der letzten Ministerratssitzung beantragt, dass Dabei müssen die Felder Priorität haben, die auch als die Kommission das gesamte Förderverfahren auf den Wachstumstreiber für neue Beschäftigung gelten und Prüfstand stellt und neu entwickelt. deshalb eine ganz wichtige Rolle spielen. Das sind vor Die Kommission hat diesen Vorschlag aufgegriffen. allem die Verkehrstechnik, die Verkehrsforschung, die Er ist im Übrigen von allen wichtigen europäischen For- Informations- und Kommunikationstechnologien und schungsministerkollegen unterstützt worden. Jetzt fin- die Forschung auf diesem Gebiet, die Lebenswissen- det praktisch ein Überprüfungsverfahren statt, das zum schaften, die Biotechnologie, die Nanotechnologie und Ergebnis haben muss – ich sage das ausdrücklich –, dass die Bereiche Energie und Umwelt. das Förderverfahren vereinfacht und verkürzt wird. Die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Entwicklung, die wir auch im Deutschen Bundestag im- DIE GRÜNEN) mer wieder kritisiert haben, darf nicht einfach so weiter- gehen. Ich hoffe, dass die klare Vereinbarung, die wir Darüber gibt es einen breiten Konsens mit allen relevan- jetzt getroffen haben, wirklich ein vereinfachtes Förder- ten Akteuren in der Wissenschaft und in der Industrie. verfahren zum Ergebnis haben wird. Das sind die Bereiche, für die wir uns mit Blick auf das europäische Forschungsrahmenprogramm einsetzen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) werden. Ich will ein weiteres mir wichtiges Anliegen nennen. Auch die Raumfahrt ist Triebfeder vieler wissen- schaftlicher und technologischer Entwicklungen. Ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: setze mich ein – das gilt auch für die gesamte Bundesre- gierung – für ein von der ESA und der EU gemeinsam Frau Ministerin, ich muss Sie unterbrechen. Sie haben getragenes europäisches Raumfahrtprogramm natürlich das Recht, weiterzureden, aber die Zeit ist ab- gelaufen. Wenn Sie weiterreden, hätte eine Fraktion das (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Recht, die Wiedereröffnung der allgemeinen Debatte zu Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE beantragen. GRÜNEN]) mit einer klaren Aufgabenverteilung zwischen ESA und Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung EU. Im November dieses Jahres wird es zum ersten Mal und Forschung: ein European Space Council geben. Ich habe mit mei- Ich möchte kurz noch einen Punkt ansprechen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12049

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Unsere Position ist ganz klar – das können Sie in die- (C) Bitte. sem Antrag nachlesen –: Wir stehen auf dem Stand- punkt, dass es ein eindeutiger Fehler wäre, die For- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung schungsförderung in Gänze zu europäisieren. und Forschung: (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) Es geht um die Einrichtung eines europäischen For- schungsrats. Als Ministerin habe ich die Etablierung ei- Sie ist zuallererst – Herr Fell, Sie haben uns hier eine nes solchen europäischen Forschungsrats seit Jahren ver- Vielzahl von Themen vorgetragen – eine nationale Auf- fochten und mich dafür eingesetzt. Ich bin sehr froh gabe. Die EU-Forschungsförderung kann Versäumnisse in den nationalen Forschungspolitiken nicht ausgleichen. darüber, dass es jetzt den Beschluss gibt, einen europäi- schen Forschungsrat einzurichten, über den wir dann (Beifall bei der CDU/CSU) endlich auch den notwendigen Wettbewerb um Exzel- lenz in der Grundlagenforschung erreichen werden. Ich Das Forschungsrahmenprogramm muss einen europäi- selbst bin zutiefst davon überzeugt, dass dies ein wichti- schen Mehrwert generieren und kann ausschließlich ad- ger Schritt zur Bildung eines europäischen Wissen- ditiv und niemals alternativ zur nationalen Forschungs- schafts- und Forschungsraums und ein wichtiger Schritt förderung verstanden werden. hin zu mehr Exzellenz ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: In Wer kommt denn auf so eine Idee? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Kretschmer kommt nie dem Punkt stimmen wir überein!) ohne Popanz aus!) Deshalb wünsche ich mir viel Unterstützung bei der Um- Aus diesem Grund kritisieren wir auch an dieser setzung dieser Entscheidung. Stelle noch einmal ganz deutlich die Art und Weise, wie Vielen Dank. Sie mit der Projektförderung in Deutschland umgehen. In den letzten drei Jahren gab es in diesem Bereich kon- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tinuierlich eine Kürzung. Das beschädigt uns und unsere DIE GRÜNEN) Akteure in Europa ganz massiv.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie haben das Beispiel Galileo heute häufig verwen- det. Galileo ist das beste Beispiel dafür, wie man es Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat falsch machen kann. der Kollege Michael Kretschmer von der CDU/CSU- Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben kein nationales Forschungsprogramm im Be- reich der Navigation von ernst zu nehmender Größen- Michael Kretschmer (CDU/CSU): ordnung. Auch deswegen sind wir in diesem Bereich, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht was Anträge angeht, unterproportional vertreten. Egal welche Zahlen Sie hier nennen: Das ist ein konkretes um ein gigantisches Projekt, um 40 Milliarden Euro. Wir Beispiel. Wir liegen auf diesem Gebiet eindeutig hinten, hätten hier und heute doch eigentlich erwartet – auch weil Sie es verpasst haben, den deutschen Akteuren, den deswegen haben wir diesen Antrag eingebracht –, dass Unternehmen und den Forschungsorganisationen, etwas wir einmal hören, was die Bundesregierung will. an die Hand zu geben, damit sie Technologieaufbau be- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- treiben und in Europa erfolgreich den Anschluss halten NEN]: Sie haben uns auch nicht gesagt, was können. Sie wollen!) (Jörg Tauss [SPD]: Sie haben nicht zugehört Frau Bulmahn, es ist wirklich enttäuschend, dass Sie und nehmen nichts zur Kenntnis! Das ist Ihr als die Forschungsministerin des größten Mitgliedslan- Problem!) des der Europäischen Union hier zu dem Thema „Wie Europäische Forschungsförderung heißt, dass man geht es mit der Forschung in Europa weiter?“ nichts bei- mit jedem Euro, den man nach Europa gibt, auch ein zutragen haben. Das ist eine traurige Angelegenheit. Stück Kompetenz an Europa abgibt. Deshalb müssen wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) uns sicher sein, dass dieses Geld gut investiert ist und dass sich unsere Kriterien in den Instrumenten wider- Wir können Sie nur auffordern, über den nationalen spiegeln. Tellerrand hinauszuschauen (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ (Jörg Tauss [SPD]: Ausgerechnet Sie und Tel- CSU]: Sehr richtig!) lerrand!) Es geht nämlich nicht darum, Regionalpolitik zu machen und einen substanziellen Beitrag zur Beantwortung der – dafür gibt es den Kohäsionsfonds –; es muss vielmehr Fragen „Wie entwickelt sich Europa im Bereich der For- um Exzellenz gehen. Diese Exzellenz wollen wir bei den schung weiter?“ bzw. „Was brauchen wir, um Europa Kriterien der Begutachtung und der Mittelvergabe wie- wettbewerbsfähig zu machen?“ zu leisten. derfinden. (Beifall der Abg. Vera Dominke [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU) 12050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Michael Kretschmer (A) Frau Ministerin, damit verbunden ist die entschei- Sie können zwar eine ganze Menge auf Europa schieben, (C) dende Frage. Es geht nicht um 21 Prozent oder um aber auch im eigenen Land müssen Sie noch viele Haus- 22 Prozent, sondern es geht darum: Wie effizient ist die aufgaben erledigen. Ich kann Sie nur auffordern, sich im Forschungsförderung, die von Europa betrieben wird? Interesse der deutschen Unternehmen und Wissenschaft- Der Kollege Braun hat hier Zahlen genannt, aus denen ler aktiv einzusetzen und einzubringen. Das wäre in der hervorging, wie viel Geld und wie viele Aktenordner Tat im Interesse Deutschlands. Wir wollen von Ihnen zu man braucht, um in Europa einen Antrag durchzusetzen. dem Thema, was die Bundesregierung im Bereich der Angesichts dessen kann man doch ernsthaft daran zwei- Forschung in Europa will, mehr hören als das, was Sie feln, dass das, was da passiert, effizient und nach unse- heute hier abgeliefert haben. ren Kriterien sinnvoll ist. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deswegen erwarten wir von der Bundesministerin, neten der FDP – Widerspruch bei der SPD) die in Brüssel verhandelt, dass sie sich intensiv dafür einsetzt, dass die Vergabekriterien und die Hebelwirkun- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gen nicht nur in Bezug auf die Unternehmen, sondern vor allen Dingen auch in Bezug auf die Mitgliedstaaten Ich schließe die Aussprache. verbessert werden. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/3807 zur federführenden Beratung an Wir müssen auch darüber nachdenken, was mit den ärmeren Mitgliedstaaten passiert. den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- genabschätzung und zur Mitberatung an den Ausschuss (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt denken Sie mal!) für Wirtschaft und Arbeit, den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- In der Europäischen Union gibt es Länder, deren Anteil schen Union und den Haushaltsausschuss zu überwei- für Forschung und Entwicklung nicht, wie bei uns, bei sen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, sondern bei Fall, da auch der Kollege Tauss auf weiterführende Vor- weit unter 1 Prozent. Wir haben beispielsweise vorge- schläge verzichtet. schlagen, eine Kompatibilität zwischen Forschungsrah- menprogramm und dem Kohäsionsfonds herzustellen. (Jörg Tauss [SPD]: Ja, sogar ich!) Das würde den Ländern ermöglichen, daran intensiver Dann ist die Überweisung so beschlossen. beteiligt zu sein. (B) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: (D) Ein anderer Vorschlag ist, auf dem Programm Euro- pean Research Area-Net aufzubauen. Man sollte ganz Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- deutlich sagen: Ja, wir wollen, dass beispielsweise im regierung eingebrachten Entwurfs eines Ein- Bereich der Chemie nationale Forschungsprojekte nach undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung gemeinsamen Kriterien vergeben, zusammengefasst und des Bundesausbildungsförderungsgesetzes gemeinsam verwaltet werden; wenn das der Fall ist, (21. BAföGÄndG) kann die Europäische Union noch etwas für die For- schung dazugeben. Das macht Sinn und das wäre eine – Drucksache 15/3655 – interessante Hebelwirkung, mit der nicht nur für Unter- (Erste Beratung 126. Sitzung) nehmen, sondern vor allen Dingen für Staaten ein Anreiz geschaffen werden kann, mehr in Forschung und Ent- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- wicklung zu investieren. ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung (17. Ausschuss) (Jörg Tauss [SPD]: Warum haben Sie das nicht in Ihren Antrag reingeschrieben?) – Drucksache 15/3969 – Braindrain ist angesprochen worden. Man kann ei- Berichterstattung: nen Antrag natürlich auch fehlinterpretieren, wenn man Abgeordnete Ute Berg das möchte. Wir haben ganz deutlich gesagt: Wir wollen Ursula Sowa Mobilität in Europa. Aber der Punkt ist doch, dass die Dr. Christoph Bergner Leute in unserem Land bleiben und dass es in Europa vorangeht. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für (Jörg Tauss [SPD]: Juniorprofessur! Dagegen diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – klagen Sie doch!) Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so ver- fahren. Die Bedingungen, die derzeit in Europa, aber vor allen Dingen in Deutschland vorherrschen, sind nicht dazu an- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- getan, Menschen eine Zukunft, insbesondere in dem Be- nächst der Kollegin Ute Berg für die SPD-Fraktion. reich Forschung und Entwicklung, zu eröffnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12051

(A) Ute Berg (SPD): liche Zuwächse, allein im letzten Jahr eine Steigerung (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! um immerhin 4,6 Prozent. Eine Investition in Wissen bringt immer noch die besten Von Zeit zu Zeit überprüfen wir nun, ob das Gesetz Zinsen – den Anforderungen der Praxis noch voll entspricht, und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des nehmen da Änderungen vor, wo es erforderlich ist. Dies BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist der Hintergrund der jetzt vorliegenden 21. BAföG- Novelle. Die FDP-Fraktion hat in unserem Ausschuss diese Erkenntnis des amerikanischen Politikers und Wis- nun die Forderung aufgestellt, gleichzeitig die Bedarfs- senschaftlers Benjamin Franklin ist Leitmotiv der Bil- sätze anzuheben. Grundsätzlich halten wir es durchaus dungspolitik der Bundesregierung. für richtig, in regelmäßigen Abständen auch hier Anpas- sungen vorzunehmen. Heute konzentriere ich mich auf einen Teilbereich, auf die Förderpolitik der Regierung, die darauf abzielt, (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aha!) allen jungen Menschen, die die Voraussetzungen erfül- – Ja! len, die Aufnahme eines Studiums zu ermöglichen. Seit 1998 hat Rot-Grün umfangreiche Maßnahmen ergriffen, (Dr. Uwe Küster [SPD], zu Abg. Thomas um dieses Ziel zu erreichen. Dabei war die Ausgangs- Rachel [CDU/CSU] gewandt: Wo ist da das lage denkbar schlecht: Unter der unionsgeführten Bun- Aha-Erlebnis? Das ist doch selbstverständ- desregierung waren die BAföG-Leistungen seit Anfang lich!) der 90er-Jahre kontinuierlich gesunken. Die Ausbil- dungsförderung, die junge Menschen unterstützen soll, Ob jetzt eine weitere Bedarfsanpassung notwendig ist, deren Eltern kein Studium finanzieren können, war na- werden wir prüfen, wenn der nächste BAföG-Bericht hezu zur Bedeutungslosigkeit verkommen. vorliegt. (Zuruf des Abg. Thomas Rachel [CDU/CSU]) ( [Spandau] [SPD]: Hört! Hört!) – Herr Rachel zeichnet sich immer durch Ungeduld aus. In einem ersten Schritt hat die jetzige Bundesregierung Nächstes Jahr wird der nächste BAföG-Bericht vorlie- sofort im Jahr 1998 dafür gesorgt, dass die Geförder- gen. Dann werden wir das prüfen. Auf dieser Grundlage tenquote nicht weiter absank. Die große BAföG-Struk- kann man dann auch fundiert über Anpassungen disku- turreform im Frühjahr 2001 hat dann für eine beeindru- tieren. ckende Trendwende gesorgt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) DIE GRÜNEN) (D) DIE GRÜNEN) Wenn Sie, Herr Rachel, als Mitglied der CDU/CSU- So haben Bund und Länder ihre Leistungen für das Fraktion dazu etwas sagen, kann ich nur laut lachen. Ich BAföG von 1998 bis 2003 fast verdoppelt. Sie sind von habe Ihnen gerade Ihre beschämenden Zahlen vorgelegt. 1,2 auf 2,03 Milliarden Euro gestiegen. Mittlerweile be- kommt fast die Hälfte aller BAföG-Empfänger den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Höchstfördersatz, 1998 war es gerade mal ein Drittel. DIE GRÜNEN – Thomas Rachel [CDU/ CSU]: Gucken Sie sich erst einmal Ihre eige- Die positive Entwicklung des BAföG ist einer der he- nen Leistungen an!) rausragenden Belege für eine erfolgreiche sozialdemo- kratische Bildungspolitik. Viel mehr junge Menschen als – Ich merke, dass Ihnen körperlich unwohl wird, wenn zu Zeiten der Kohl-Regierung nehmen diese wichtige über die Erfolge dieser Regierung gesprochen wird. Studienförderung in Anspruch. Die Erhöhung der Be- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) darfssätze, die Erweiterung des Empfängerkreises und die Begrenzung der Rückzahlung auf maximal Ich kann Ihnen diese Schmerzen nicht ersparen. 10 000 Euro haben einen enormen Run auf die Hoch- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schulen ausgelöst. Besonders wichtig dabei ist: Viel DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: mehr junge Männer und Frauen aus Elternhäusern mit Glauben Sie das wirklich?) geringem Einkommen nehmen seither ein Studium auf und schließen es auch erfolgreich ab. – Das glaube ich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mit der heutigen Gesetzesnovellierung verfolgen wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vor allem drei Ziele: erstens Entbürokratisierung, zwei- tens Rechtsklarheit und Anpassung an das neue Zuwan- Diese Investition in die Köpfe junger Menschen derungsrecht, drittens Verhinderung von Missbrauch. führte dazu, dass wir mehr Studienanfängerinnen und Die Entbürokratisierung der bisherigen BAföG-Rege- -anfänger haben. Die Quote ist von 28 Prozent im Jahr lungen möchte ich an folgendem Beispiel verdeutlichen: 1998 auf 36 Prozent eines Jahrgangs im Jahr 2003 ange- Künftig können BAföG-Empfänger ihr Studienfach in- stiegen. Im selben Zeitraum haben in den Naturwissen- nerhalb der ersten zwei Semester ohne Angabe von schaften 72 Prozent und in den Ingenieurwissenschaften Gründen wechseln. Warum auch sollte beispielsweise 35 Prozent mehr junge Menschen ein Studium aufge- eine Studentin, die ihr Studium im Fach Theaterwissen- nommen. Auch bei den Absolventenzahlen gab es deut- schaften beginnt und nach einem Semester merkt, dass 12052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Ute Berg (A) sie sich stärker für Geschichte interessiert, beim Wechsel (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje (C) formelle Hürden in den Weg gelegt bekommen? Ein sol- Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) cher Studienfachwechsel liegt nämlich durchaus nicht nur im persönlichen Interesse der Studentin, sondern ist Schließlich haben wir bzw. hat der Standort Deutsch- auch gesellschafts- und sogar finanzpolitisch sinnvoll. land natürlich generell ein Interesse an gut ausgebildeten Ein Studium, das den eigenen Neigungen entspricht, Menschen. Integrationspolitik mit dem Rotstift, meine wird in aller Regel, wie Sie wissen, zügiger und erfolg- Damen und Herren von der CDU/CSU, zahlt sich sicher reicher absolviert als eines, das einem nicht auf den Leib nicht aus. geschrieben ist. (Jörg Tauss [SPD]: Die wissen nicht einmal, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie man „Integration“ schreibt!) DIE GRÜNEN – Marion Seib [CDU/CSU]: Ich komme zum dritten und letzten Punkt: Vorbeu- Das habe ich ja bei meiner letzten Rede ge- gung von Missbrauch. Uns alle haben im Oktober ver- sagt!) gangenen Jahres Meldungen aufgeschreckt, die den Nach jetzigem Recht müsste die Studentin dem zu- unrechtmäßigen Bezug von BAföG-Mitteln durch Schü- ständigen Amt für Ausbildungsförderung wichtige lerinnen und Schüler sowie Studierende aufdeckten. In Gründe für den Studienfachwechsel darlegen. Das be- Tausenden Fällen sind Zinseinnahmen aus Vermögen deutete eine zusätzliche Belastung für die junge Frau, verschwiegen worden. Die Überprüfung durch die Bun- aber auch für das Amt für Ausbildungsförderung, das desländer hat ergeben, dass Leistungen in Höhe von diese Gründe dann prüfen müsste. Mit der neuen Rege- 160 Millionen Euro gesetzeswidrig bezogen wurden. lung entfällt dieses umständliche Verfahren. Mittlerweile sind davon 40 Millionen Euro zurückge- flossen. Unter integrationspolitischen Gesichtspunkten be- grüße ich zwei Klarstellungen: Erstens. Künftig zählen Für die Zukunft müssen wir solche Missbrauchsfälle auch ausländische Ehegatten von EU-Bürgern, die in möglichst vermeiden. Wir werden deshalb zwei Maß- Deutschland arbeiten, zum Kreis der Förderungsberech- nahmen beschließen: Den Ämtern für Ausbildungsförde- tigten. Bereits jetzt gehören Kinder von ausländischen rung ist es nun ausdrücklich gestattet, die Angaben der EU-Bürgern und ausländische Ehegatten von Deutschen Auszubildenden beim Bundesamt für Finanzen durch ei- dazu. Die Ausweitung dieses Personenkreises ist unter nen Datenabgleich zu überprüfen. Damit wird verhin- integrations- und europapolitischen Gesichtspunkten dert, dass Kapitalerträge aus Vermögen verschwiegen sinnvoll. werden. Es wird zudem klargestellt, dass das Verschwei- gen von Einkünften aus Kapitalvermögen eine klare Zweitens. Das neue Zuwanderungsgesetz, das wir im (B) Ordnungswidrigkeit ist. (D) Sommer gemeinsam mit der Opposition, also mit Ihnen, verabschiedet haben, erfordert für das BAföG eine Klar- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje stellung. Ausländische BAföG-Empfänger, die durch Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) eine Ehe mit einem oder einer Deutschen oder einem EU-Bürger bezugsberechtigt sind, erhalten nun auch Abschließend möchte ich zusammenfassen. Mit der nach einer dauerhaften Trennung oder einer Scheidung 21. BAföG-Novelle werden gesetzliche Änderungen weiter BAföG. vorgenommen, die der Entbürokratisierung, der Bereini- gung und Klarstellung sowie der Vermeidung von Miss- (Marion Seib [CDU/CSU]: Kostet brauch dienen und die darüber hinaus integrationspoli- 1,5 Millionen Euro!) tisch sinnvoll sind. Mit der BAföG-Strukturreform 2001 Voraussetzung ist natürlich, dass diese Auszubildenden haben wir ein wirksames bildungspolitisches Instrument sich im Einklang mit dem Ausländerrecht in Deutsch- geschaffen, das wir mit der vorliegenden Novelle noch land aufhalten. Bislang ergab sich diese Regelung nur effizienter machen. aus der Gesetzesbegründung. Mit dem jetzt vorliegenden Vielen Dank. eindeutigen Gesetzestext schaffen wir die nötige Rechts- klarheit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Bundesrat und CDU/CSU-Fraktion haben aus finan- ziellen Gründen eine Streichung dieser Regelung gefor- dert. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Christoph (Dr. Uwe Küster [SPD]: Hört! Hört!) Bergner, CDU/CSU-Fraktion. Wir sind für die Beibehaltung, zumal es sich hier ledig- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster lich um eine Ersparnis von 1,5 Millionen Euro handeln [SPD]: Schauen wir mal!) würde. Dieser Betrag ist meiner Ansicht nach zu ver- nachlässigen, wenn man die Konsequenzen betrachtet, die eine Streichung mit sich brächte. Es besteht nämlich Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): die Gefahr, dass die Ausbildung dann nicht beendet wer- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Be- den kann. Damit sinkt die Chance auf eine qualifizierte richterstatter muss ich angesichts des Inhalts dieser Arbeitsstelle, die in unserer Gesellschaft einen Platz und 21. BAföG-Novelle nüchtern feststellen: So gerne ich ein eigenständiges Auskommen sichert. mich mit der Bundesregierung über ihre Bildungspolitik Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12053

Dr. Christoph Bergner (A) streite, so wenig liefert diese Novelle Anlass zu Streit Hinsicht steht er deutlich hinter dem zurück, was man (C) und Kontroversen, Frau Berg. erwarten kann, wenn man Initiativen der Bundesregie- rung zur Internetfähigkeit öffentlicher Dienstleistungen (Beifall der Abg. Vera Dominke [CDU/CSU] betrachtet, sowie bei Abgeordneten der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: BAföG!) Es ist ein Rechtsbereinigungsgesetz. (Jörg Tauss [SPD]: Das stimmt!) wie sie beispielsweise in der Initiative Bund Online 2005 zum Ausdruck kommen. Wohlwollend kann man von einem Verwaltungsverein- fachungsgesetz sprechen. (Jörg Tauss [SPD]: Ist doch gut!) (Jörg Tauss [SPD]: Noch besser!) Herr Tauss, wenn die heute zur Debatte stehenden Rege- lungen nun wirklich in diese E-Government-fähigen Aber all die Aspekte, die Sie zum Anlass für eine Strukturen eingepasst werden sollen, dann springt der gewisse Selbstbeweihräucherung genommen haben, vor Gesetzentwurf allerdings entschieden zu kurz. allen Dingen was die materielle Ausstattung im Stu- dien- und Ausbildungsbereich angeht, sind nicht Gegen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stand dieser Regelung. Wir sollten uns darüber klar Insofern ist auch an dieser Stelle kein Anlass für Selbst- werden, dass uns diese Kontroverse nach Vorlage des lob angebracht, so groß Ihr Bedürfnis nach Selbstlob im 16. Berichtes nach § 35 BaföG noch bevorsteht. Einzelnen sein mag. (Ute Berg [SPD]: Das kommt ja noch!) (Dr. [SPD]: Erläutern Es hat mich schon ein wenig gewundert, mit welcher Sie das doch einmal!) Selbstsicherheit Sie uns schon jetzt das Vorgeplänkel für Wir haben nun, weil bei diesem Gesetzentwurf offen- eine Kontroverse geliefert haben, die wir erst im nächs- kundig besonders eine Verwaltungsexpertise gefragt ten Jahr zu bestreiten haben und die aus meiner Sicht war, ein waches Auge auf das Votum derjenigen gewor- nicht ganz einfach verlaufen wird. Wie wird der Bericht fen, die mit dem Vollzug in besonderer Weise vertraut beispielsweise die Auswirkungen der Gesundheitsre- sind. Das sind die Länder. Wir haben genau aus diesem form und anderer Reformmaßnahmen im sozialen Be- Grunde – und gar nicht so sehr aufgrund einer unmittel- reich auf die Lebenshaltungskosten der Ausbildungssu- baren Detailprüfung in der Fraktion, die wir hätten ma- chenden bewerten? Wie wird sich die finanzielle chen können – gesagt: Wir möchten die drei mehrheits- Situation – beim 15. Bericht war sie so, dass keine An- fähigen Änderungsanträge aus der Stellungnahme des (B) passung vorgenommen wurde – auf die zukünftigen Be- Bundesrates zum Gegenstand von Änderungsanträgen (D) darfssätze und Freibeträge auswirken? Frau Berg, ich machen, und zwar deshalb, weil wir der Meinung sind, vermute, dass die Stunde der Selbstsicherheit und des dass die Länder so nahe an der Problematik sind, dass Selbstbeweihräucherns dann vorbei sein wird, wenn wir man ihren Vorschlägen hinsichtlich der Verwaltungsöko- tatsächlich über die Zahlen sprechen und Sie hier das nomie folgen sollte. Das betrifft erstens den Vorschlag verteidigen müssen, was Sie mit Ihrem Finanzminister einer anderen Vorgehensweise bei der Anrechnung von vereinbart haben. Aufwendungen privat Teilversicherter, als es im Gesetz- (Ute Berg [SPD]: Warten Sie es mal ab!) entwurf vorgesehen ist, zweitens die Berücksichtigung der Kosten, die einige Vorgaben bewirken – insbeson- Ich möchte mich jetzt gern den Punkten zuwenden, dere geht es darum, ob der Anspruch der Förderfähigkeit die Gegenstand des Gesetzes sind. Ich sagte bereits, dass ausländischer Ehepartner scheidungsunabhängig erhal- es sich um ein Gesetz handelt, das sich auf die Verwal- ten bleiben soll –, sowie drittens die Anrechnung lebens- tungsorganisation bezieht. Es ist eine ganze Serie von bedarfssichernder Leistungen von Arbeitslosengeld und Maßnahmen vorgesehen, die nicht nur wir, sondern auch Krankengeld. andere für sinnvoll halten. Ich nenne beispielsweise die Einführung der Regelvermutung für das Vorliegen eines Wie gesagt, diejenigen, die mit dieser Materie viel zu wichtigen Grundes bei einem Fachrichtungswechsel in tun haben – wir sprechen ja zurzeit mit großem Engage- den ersten zwei Semestern, Abschaffung der leider wir- ment über Föderalismusfragen –, haben ihr Votum für kungslosen Förderungsausschüsse bei Hochschulen, das diese Änderungen abgegeben. Wir hätten uns ge- einheitliche Anknüpfen der Wertfeststellung – auch im wünscht, dass sich im Ausschuss eine Mehrheit dafür Falle von Wertpapieren – an das Datum der Antragstel- findet, dieses Votum ernst zu nehmen. Dies ist leider lung und andere Dinge. Auch den Punkt, bei dem es im nicht der Fall gewesen. Dies führt nun bei uns nicht zur vorliegenden Gesetzentwurf um die Klarstellung der da- Ablehnung dieser kleinen Trippelschrittchen, die mit den tenschutzrechtlichen Zulässigkeit automatisierter Ver- übrigen Vorschlägen verbunden sind. Wir werden uns mögensdatenabgleiche mit dem Bundesamt für Finanzen vielmehr der Stimme enthalten. Aber dies sollte für Sie zur Verhinderung von Leistungsmissbräuchen geht, sehe Anlass sein, nun nicht in große Begeisterungsstürme ich mehr als eine Verwaltungsverbesserung an. über das auszubrechen, was Sie hier getan haben. Es ist ein Gesetz der kleinen Schritte. Auch kleine Schritte Dies alles sind Schritte, über die wir hier keine Kon- können begrüßt werden. troverse zu führen brauchen. Sie zeigen aber, dass dieser Gesetzentwurf an dem Maßstab eines Gesetzes zur Ver- ( [Starnberg] [SPD]: Geben Sie waltungsorganisation gemessen werden muss. In dieser sich einen Ruck!) 12054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Dr. Christoph Bergner (A) Wir wünschen uns bloß größere. schiedene Fördergesetze erschwert würde. Meiner Ein- (C) schätzung nach schaffen wir dann, wenn wir den Vorstel- Vielen Dank. lungen der Länder folgen, kein zukunftsfähiges (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Studiensystem. neten der FDP) Dasselbe gilt für den Streit um die Studiengebühren. Ich frage Sie: Wenn Sie sozialverträgliche Studienge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: bühren einführen wollen, indem Sie ein Stipendiensys- Das Wort hat nun die Kollegin Grietje Bettin, Bünd- tem errichten – wozu es, nebenbei gesagt, derzeit noch nis 90/Die Grünen. überhaupt keine Konzepte gibt –, und wenn Sie gleich- zeitig die Studiengebühren voll an die Hochschulen aus- Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zahlen wollen, was ich auch für völlig unrealistisch halte Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- – fragen Sie dazu einmal Ihre Finanzminister –, wie wol- gen! In diesem Jahr werden durch das BAföG len Sie Ihr Stipendiensystem denn dann finanzieren? 777 000 junge Menschen in ihrer Ausbildung gefördert. Etwa von dem Geld, das der Bund bislang für das Das sind 22,5 Prozent mehr als vor der Reform des BAföG ausgibt? BAföG im Jahr 2001. Ich finde, das darf in einer solchen Diskussion positiv erwähnt werden. (Cornelia Pieper [FDP]: Durch Unternehmen zum Beispiel! Kreditanstalt für Wiederauf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bau!) und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Können Sie die Zahlen noch einmal für den Herrn Kol- Sollen die Stipendien also mit den Ausbildungsförder- legen Bergner wiederholen?) geldern bezahlt werden? Man sieht: Hier gibt es bei Ih- nen in der Union mindestens genau so viele Widersprü- Ein ganz besonders schöner Erfolg ist, dass fast die che und Ungereimtheiten wie in der Gesundheits- und Hälfte aller Geförderten den vollen Förderbetrag erhält. Steuerpolitik. 1998, noch unter der Kohl-Regierung und unter Rüttgers Federführung, hat gerade einmal ein Drittel der Geför- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ derten die Förderhöchstsumme erhalten. Auch wenn Sie DIE GRÜNEN und der SPD) es natürlich nicht zugeben können, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Sie hatten das BAföG Die heute zur Debatte stehende 21. Novelle der Aus- nahezu bis zur Unkenntlichkeit gestutzt und gerupft. bildungsförderung sollte eigentlich rein technischer Na- Seitdem Rot-Grün an der Regierung ist, ist auch das tur sein. Wir begrüßen ausdrücklich den Abbau von (B) BAföG wieder das, was es eigentlich sein soll: ein wich- Bürokratie, indem bei einem Fachwechsel in den ersten (D) tiger Beitrag dafür, dass die Leistungsfähigkeit eines Semestern automatisch von dem Vorliegen eines wichti- jungen Menschen darüber entscheidet, ob er studieren gen Grundes ausgegangen wird. Genauso sachgerecht ist kann, und nicht der Geldbeutel der Eltern. die einheitliche Stichtagsregelung für die Erhebung von Vermögen. Schade, aber unausweichlich ist die Abschaf- Die Ausbildungsförderung ist auch Thema in der fung der Förderungsausschüsse. Wir sollten überlegen, Föderalismuskommission. Die Länder möchten diese wie weiterhin die Stimmen der Betroffenen, besonders – wie auch vieles andere – gerne in die eigenen Hände die der Studierenden, bei der Weiterentwicklung des nehmen. BAföG gehört werden können. (Marion Seib [CDU/CSU]: Oh! Oh! Das ist Dringend ist diese Novelle aber, weil einige Bundes- aber eine Fehlinformation!) länder den so genannten Datenabgleich missbrauchen, Selbstverständlich soll der Bund das Geld dafür nach um Studierende zu kriminalisieren. Wer zum Beispiel in wie vor bereitstellen. Die Länder wollen damit dann nur Bayern wissentlich oder unwissentlich falsche Angaben ihre Landeskinder fördern, also diejenigen, die bei ihnen zu seinen Vermögensverhältnissen macht, kommt dort Abitur gemacht haben. gleich vor den Kadi und muss fürchten, wegen solch ei- nes vergleichsweise kleinen Vergehens vorbestraft zu Eines aber ist doch völlig klar: Kleine und struktur- werden. Sorry, aber das grenzt in meinen Augen fast an schwache Länder können keine Ausbildungsförderung Verfolgungswahn. Jetzt sind nicht mehr nur à la auf stabilem Niveau garantieren. Das würde dazu führen, Beckstein alle Migranten und Migrantinnen potenzielle dass das BAföG je nach Kassenlage des jeweiligen Lan- Verbrecher, sondern auch noch die Studierenden. des gemacht würde. Die Abiturientin aus Greifswald hätte dann schlechte Chancen, eine Ausbildungsförde- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung für ein Studium im teuren München zu bekommen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Dabei diskutieren wir auf europäischer Ebene gerade Sein Vermögen geringer anzugeben, um BAföG zu darüber, wie wir die Ausbildungsförderung noch europa- erschleichen, ist unsolidarisch und sollte durchaus tauglicher machen können, wie wir jedem Studierendem schmerzhaft geahndet werden. Mit krimineller Energie ein Auslandsstudium ermöglichen können, egal woher er hat dies aber nicht allzu viel zu tun. Jungen Leuten mit kommt und in welchem Land seine Hochschule liegt. Es einer Vorstrafe die Zukunft zu verbauen ist lächerlich wäre aus unserer Sicht absurd und anachronistisch, wenn und völlig überzogen. In anderen Ländern geht man we- die Mobilität innerhalb Deutschlands jetzt durch 16 ver- sentlich weiser und gelassener damit um. Wer gut mit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12055

Grietje Bettin (A) den Behörden zusammenarbeitet, braucht zum Beispiel (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP]) (C) in Schleswig-Holstein keine Strafe zu fürchten. Ich will die Verwaltungsvereinfachungen jetzt nicht Der vorliegende Gesetzentwurf gebietet künftig den noch einmal im Einzelnen aufzählen, das haben meine bayerischen Auswüchsen Einhalt. Vorredner bereits getan. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es gehört ei- Im Gegensatz zur Union begrüßen wir ausdrücklich gentlich gerügt, hier „bayerische Auswüchse“ die Tatsache, dass ausländische Studierende, die mit ei- zu sagen!) nem oder einer Deutschen verheiratet waren und einen legalen Aufenthaltsanspruch in Deutschland erworben Falsche Angaben werden nun einheitlich mit Bußgeld- haben, weiter BAföG beziehen können. strafen geahndet. Das ist der Sache aus grüner Sicht an- gemessen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Diese Novelle wird nicht die letzte sein, die eine rot- grüne Bundesregierung in Sachen Ausbildungsförderung Wir verstehen den Widerstand der Union in diesem in Angriff nimmt. Wie wäre es, wenn auch gerade die Punkt nicht; denn der infrage kommende Personenkreis CSU – statt ihre reflexartigen Vorbehalte gegen Studie- ist überschaubar, hat einen legalen Aufenthaltstitel und rende auszuleben – ist besonders gut integriert, bildungsfähig und bildungs- willig. (Marion Seib [CDU/CSU]: Darum sind wir das beliebteste Studienland!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) lieber konstruktiv an einer zukunftsfähigen und europa- tauglichen Ausbildungsförderung mitarbeitet! Genau das ist auch das Ziel des Zuwanderungsgesetzes: Wir wollen den Fachkräftemangel, der sich zukünftig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufgrund der demographischen Situation ergeben wird, sowie bei Abgeordneten der SPD) mit integrationsfähigen Ausländerinnen und Ausländern Wir jedenfalls haben unsere Hausaufgaben in diesem bewältigen lernen. Punkt gemacht. Jetzt kommt die schlechte Nachricht für Sie, meine Danke schön. Damen und Herren von der Regierungskoalition: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Jörg Tauss [SPD]: Dann reicht es jetzt! Las- und bei der SPD) sen Sie es mal so stehen!) (B) Auch wenn wir ihm zustimmen, Ihr Gesetzentwurf ist (D) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nicht der große Wurf, er ist kein Meilenstein. Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Pieper, FDP- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Fraktion. der CDU/CSU) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Aber jetzt sachlich Das Studentenwerk stellt zu Recht fest: Von dem ers- bleiben! Mühe geben!) ten Gesetzentwurf einer BAföG-Novelle dieser Legisla- turperiode wäre mehr zu erwarten gewesen. Seit 2001 Cornelia Pieper (FDP): hat sich beim BAföG nichts mehr bewegt. Die Ministe- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die rin und das BMBF bleiben auf ihrer Webseite dennoch Regierungskoalition habe ich eine gute und eine bei dem alten Slogan: „einfach – besser – mehr“. schlechte Nachricht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Neue Umfrageergebnisse?) Zumindest in Bezug auf das „mehr“ ist das eine grobe Ir- Die gute Nachricht für Sie lautet: Die FDP-Fraktion wird reführung der Studierenden in diesem Land. dem 21. BAföG-Änderungsgesetz zustimmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP] sowie bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Laut Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks NEN) sind von 2000 bis 2003 – diese Ergebnisse lassen sich auf den Zeitraum von 2001 bis heute übertragen – die Das Gesetz verfolgt im Wesentlichen nämlich das Ziel, Lebenshaltungskosten der Studierenden deutlich ange- eine kleinere Rechtsbereinigung vorzunehmen, um den stiegen: um mehr als 10 Prozent bei den Mieten und Verwaltungsvollzug zu erleichtern. Dies wird von uns mehr als 20 Prozent bei den Lebensmitteln. Die Euro- als ein Schritt in die richtige Richtung begrüßt. Einer Umstellung hat ihre Auswirkungen. Das BAföG ist seit Verwaltungsvereinfachung können wir uns als FDP, 2001 eingefroren. Tatsächlich haben wir also nicht ein die Bürokratie abbauen will, nicht verschließen. Mehr an BAföG, sondern ein Weniger. Auch im Haus- halt 2005 ist keine Anpassung, sondern ein weiteres Ein- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Sie reden frieren geplant. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit davon, wir machen es!) und angesichts der erfreulicherweise steigenden Studier- Von der Wiege bis zur Bahre: Formulare, Formulare. – willigkeit bezweifle ich, dass die Haushaltsansätze 2005 Das muss endlich ein Ende haben. selbst auf der Basis des eingefrorenen BAföG reichen 12056 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Cornelia Pieper (A) werden, meine Damen und Herren von der Regierungs- (Jörg Tauss [SPD]: Eine Abbruchstelle! – (C) koalition. Renate Blank [CDU/CSU]: Jetzt seid ihr doch schon sechs Jahre dran, oder nicht?) Ihr Hinweis auf den ausstehenden 16. Bericht über die Einkommens- und Preisentwicklung ist aus meiner Sicht Schritt für Schritt haben wir versucht, in einem ganz der Dinge angesichts der derzeitigen Situation eine bloße wichtigen Punkt besser zu werden. Wir sind mit einem Ausrede. Es gibt viele Fakten, die nachweisen, dass wir großen Projekt unterwegs, das die jungen Leute, die uns endlich eine Erhöhung der Bedarfssätze und der Freibe- auch hier zuhören, betrifft. Es geht darum, wie wir ange- träge brauchen. Sie, Herr Staatssekretär, erinnere ich an sichts einer dramatisch alternden Bevölkerung den Le- dieser Stelle an die Worte der Ministerin beim Antritt ih- bensstandard in unserer Gesellschaft sichern können. res Amts in der letzten Legislaturperiode: Frau Ministe- rin Bulmahn hat eine echte BAföG-Reform gefordert – Wir sagen, wir können den Lebensstandard, den wir eine große Reform, einen großen Wurf. Was heißt denn in Deutschland haben, nur halten, wenn wir in Ausbil- das? Für uns heißt das – Sie stimmen dem ja eigentlich dung, Forschung und Weiterbildung investieren. Des- zu, Sie tun aber nichts –: Wir wollen endlich eine eltern- halb haben wir gesagt: Wir müssen eine große nationale unabhängige Förderung und zinsvergünstigte Darle- Kraftanstrengung aufbringen und die Mittel von Subven- hen für Studierende. Für solch ein Reformwerk muss tionen und alten politischen Tatbeständen in Zukunftsin- diese Bundesregierung agieren, nicht für kleine Schritte. vestitionen umschichten. Darauf werden wir jedenfalls in Zukunft setzen. Wir be- reiten einen Gesetzentwurf in der Sache für eine echte (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BAföG-Reform vor. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Deshalb hat es eine BAföG-Novelle gegeben. Denjeni- gen, die, was unsere Politikerfachworte angeht, nicht so Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sollte kundig sind, sage ich: Beim BAföG handelt es sich um ihre Selbstdarstellung den Realitäten anpassen; das die Unterstützung von Studierenden, die wir deutlich er- würde der Politik im Sinne der Glaubwürdigkeit insge- höht haben. samt nutzen. Der BAföG-Slogan sollte schnellstens ge- ändert werden in: „ein bisschen einfacher – sonst wie ge- Was mich besonders freut, ist, dass die Zahl der Stu- habt – nur leider weniger“. Dennoch, als kleinem Schritt denten, die ins Ausland gehen, gestiegen ist. Zurzeit för- in die richtige Richtung stimmen wir dem Gesetzentwurf dern wir in Deutschland etwa 16 000 junge Leute, die zu. bereit sind, während ihres Studiums einmal ins Ausland zu gehen. Das wird in einem stark zusammenwachsen- Danke. (B) den Europa immer wichtiger. Wir unterstützen das sehr (D) (Beifall bei der FDP) gern, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Für die Bundesregierung spricht nun der Parlamenta- rische Staatssekretär Ulrich Kasparick. weil sich Deutschland im europäischen Konzert mit den (Beifall bei der SPD) anderen Staaten gut aufstellen muss. Ich sage Ihnen die entsprechenden Zahlen zur Erinne- Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- rung: Insgesamt haben wir die Ausgaben für diese Stu- desministerin für Bildung und Forschung: dentenunterstützung seit 1998 nahezu verdoppelt. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Bergner hat seine (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) Rede mit dem Satz begonnen, es gibt in der Sache wenig Das ist eine Menge Holz, wie man umgangssprachlich Grund zum Dissens. Das freut uns sehr. Ich wünschte sagt. Was mich sehr freut, ist, dass sich das Klima bei mir, dass er auch den nächsten Schritt geht, sich ein Herz den jungen Leuten dahin gehend verändert hat, dass sie fasst und nicht bei Stimmenthaltung bleibt, sondern zu- wieder Lust haben zu studieren. stimmt. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Trauen Sie sich! Die FDP ist schon an unserer Seite; denn durch das, was wir hier tun, nehmen wir in ein paar Die Zahl der jungen Leute, die ein Studium aufnehmen, wichtigen Punkten eine notwendige Gesetzesbereini- steigt. Das ist eine gute Nachricht; denn in der Industrie- gung vor. gesellschaft, die wir sind, brauchen wir mehr junge Leute, die ein Studium aufnehmen. Bei den Naturwis- Lassen Sie mich nun etwas zum veränderten politi- senschaften brauchen wir deutliche Zuwächse. Deswe- schen Klima im Zusammenhang mit dem Studium in gen freut es uns, dass die Studienanfängerzahlen in den Deutschland sagen. Ich glaube, die eigentlich wichtige Naturwissenschaften seit 1998 um 72 Prozent gestiegen Nachricht, an die man, wenn man zwischendurch Bilanz sind. zieht, erinnern muss, ist folgende: In der Tat haben wir 1998 eine ziemlich große Baustelle vorgefunden. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12057

Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick (A) Das heißt: Wir bringen den Dampfer in Fahrt. Die Unter- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: (C) stützung der Studierenden ist ein ganz wichtiges Instru- Was ist der „kleine Tick“? Tragen Sie es noch ment, um das zu schaffen. einmal vor!) In der Politik gibt es derzeit, verbunden mit dem – Herr Tauss, ganz ruhig! Stichwort „Agenda 2010“, im Grunde zwei große politi- sche Themen: Das erste Thema ist die Sanierung unseres (Beifall bei der CDU/CSU) bestehenden Systems. Thema Nummer zwei sind die In- Denn wir begrüßen Unternehmungen auf allen Gebie- vestitionen in die Zukunft. Dabei geht es um die Studie- ten, die zu Verwaltungsvereinfachung und Entbüro- renden. Meine Kolleginnen und Kollegen hier im Saal kratisierung führen, so selten solche zurzeit leider sind. kennen die Argumente. Diese Politik machen wir für die Sie können mir glauben, mir wäre nichts lieber, als in Studierenden; denn für die Kollegen, die hier sitzen – so dieser Debatte heute auf Friede, Freude, Eierkuchen ma- ist mein Eindruck –, ist es manchmal schon ein wenig chen zu können, aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, spät. wenn wir über BAföG reden, dann dürfen wir nicht nur (Jörg Tauss [SPD]: Nicht manchmal, sondern das Heute im Auge haben, wir müssen auch in die Zu- immer!) kunft schauen. Es geht darum, dass wir ihre Zukunft sichern. (Jörg Tauss [SPD]: Richtig!) Deswegen haben wir besonders große Anstrengungen Die Menschen in unserem Lande wollen wissen, wo- unternommen, um Forschung und Entwicklung zu ver- hin die Reise geht. Das weiß heute kaum jemand. Gerade stärken. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung die jungen Menschen in unserem Land wollen wissen, haben wir seit 1998 um 35 Prozent erhöht. wie sie ihre Zukunft planen können. Es fällt mir wirklich schwer, so zu tun, als sei jetzt mit dem 21. BAföG-Än- (Cornelia Pieper [FDP]: Das ist doch hier derungsgesetz die Studienwelt im Lot. Wir wissen doch keine Karnevalsveranstaltung! – Vera alle, dass in den allernächsten Wochen, wenn das Bun- Dominke [CDU/CSU]: Ich sage nur: Senioren- desverfassungsgericht über das bulmahnsche Verbot studium!) von Studiengebühren entscheidet, ein ganz neues Fass Wir kommen also voran. Auch wenn die Opposition das aufgemacht werden wird. Über diese Zukunft machen nicht gerne hört, es ist so. sich die heute Studierenden, aber auch die künftigen Stu- dierenden, die Studentenwerke und die Hochschulen na- Durch die BAföG-Novelle, um die es heute geht, wird türlich bereits heute intensiv Gedanken. Auch die Politi- die Internationalisierung gestärkt. Wir wollen auslän- kerinnen in Bund und Ländern machen sich darüber (B) dischen Studierenden noch stärker unter die Arme grei- Gedanken. Welche Halbwertszeit wird diese BAföG-No- (D) fen, wenn sie persönlich in schwierige familiäre Situa- velle haben? Werden wir uns schon in vier oder in sechs tionen kommen. Ich glaube, das ist gut, insbesondere für oder in acht Wochen über eine ganz grundlegende Ver- die Frauen. Denn sie sind, wenn sie wirtschaftlich unab- änderung der Förderung von einkommensschwächeren hängig sind, nicht länger erpressbar. Wenn sie studieren, Studierwilligen unterhalten? können sie eine Unterstützung für ihr Haushaltseinkom- men bekommen; das ist wichtig. Ganz gleich, ob wir dieses Thema in zwei Wochen oder allerspätestens in zwei Jahren, wie wir wissen, auf Meine Bitte an die Union lautet: Fassen Sie sich ein der Tagesordnung haben: Wenn Ihre Ministerin in Ihrer Herz: Stimmen Sie nicht mit Enthaltung, sondern stim- Verbohrtheit bei diesem Thema den Hochschulen nicht men Sie zu! gesetzlich verboten hätte, ihre Modernisierung autonom in Angriff zu nehmen, dann wären wir heute schon deut- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich weiter. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Grietje Bettin Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hätten Nächste Rednerin ist die Kollegin Vera Dominke, wir bereits Studiengebühren!) CDU/CSU-Fraktion. – Frau Bettin, es gibt gute Konzepte hierzu. Ich appel- liere an Sie, das Thema Studiengebühren und deren Ver- Vera Dominke (CDU/CSU): knüpfung mit dem finanziell gleichberechtigten Zugang Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir zum Studium, also mit BAföG, frühzeitig offen und debattieren heute – wir haben das jetzt mehrfach gehört – transparent mit allen Beteiligten und Betroffenen ohne über einen Gesetzentwurf, mit dem wir in den wesentli- ideologische Ausblendung und ohne parteipolitisches chen Punkten einverstanden sind. Herr Kasparick, es Haudrauf, Herr Tauss, im Sinne der jungen Menschen in wäre schön gewesen, wenn wir alle heute hätten zustim- unserem Lande anzugehen. men können, hätten Sie sich – Herr Dr. Bergner hat es (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: ausgeführt – im Ausschuss diesen kleinen Tick bewegt. Studiengebühren im Sinne der jungen Men- Das war keine große Sache, aber Sie mussten mit Ihrer schen also!) Mehrheit Ihren Kopf durchsetzen. Dann hätten wir heute, wie schon 2001 bei der letzten BAföG-Reform, dieses Ein weiterer Punkt, der heute schon angesprochen Gesetz gemeinsam verabschieden können. wurde, ist die Forderung nicht nur der FDP, sondern 12058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Vera Dominke (A) auch von Studentenwerk und Studierendenverbänden, Solange eine unbezifferbare Anzahl Gutverdienender (C) die Bedarfssätze und Freibeträge regelmäßig an das über steuerliche Abschreibungen ihr Einkommen so Niveau der Lebenshaltungskosten anzupassen. Frau niedrig rechnen kann, dass der Nachwuchs BAföG-be- Berg, das ist in § 35 BAföG vorgeschrieben, und zwar rechtigt wird, solange ist am System was faul. nicht „irgendwann nächstes Jahr einmal wieder“, son- Nach den fruchtlosen Steuerreformversuchen dieser dern „alle zwei Jahre“; so steht es im Gesetz. Bundesregierung sehe ich hier nur einige einzige Lö- (Abg. Jörg Tauss [SPD] meldet sich zu einer sung: Machen Sie endlich den Weg für eine Regierung Zwischenfrage) frei, die im Steuersystem aufzuräumen versteht! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin Dominke – – Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist Vera Dominke (CDU/CSU): die Kollegin Marion Seib für die CDU/CSU-Fraktion. Nein, ich möchte Herrn Tauss hier nicht Gelegenheit geben, das Wort zu ergreifen – er schreit so genug da- Marion Seib (CDU/CSU): zwischen. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Beifall bei der CDU/CSU) Damen und Herren! Das 21. BAföG-Änderungsgesetz bietet bei allen rechtstechnischen Verbesserungen in der Seit 2001 hat es eine solche Anpassung nicht mehr Tat doch eine Plattform für politische Diskussionen. Es gegeben, obgleich – das hat Frau Pieper ausgeführt – die sind wieder einmal Reparaturmaßnahmen erforderlich. Lebenshaltungskosten seitdem unzweifelhaft gestiegen Richtige und notwendige Reparaturen sind durchaus da- sind. Ich will das an dieser Stelle gar nicht kritisieren. bei. Wir können immerhin feststellen, dass die Reform, die wir, wie gesagt, 2001 mitgetragen haben, deutliche Ver- Der verringerte Verwaltungsaufwand entlastet die besserungen gebracht hat. Das ist unstreitig. Wir wissen BAföG-Ämter, die sich so auf wichtigere Aufgaben kon- aber auch, dass die Kassen von Bund und Ländern mehr zentrieren können. Der vereinfachte Aufwand für einen als leer sind. Es ist deshalb nicht nur für den Bund, son- Fachrichtungswechsel ist sicherlich mit der Hoffnung dern auch für die Länder ein großes Problem, die über- verbunden, dass einem Studienabbruch in einem höheren fällige Anpassung zu finanzieren. Allerdings: Pacta sunt Semester entgegengewirkt werden kann. Frau Kollegin servanda oder die Gesetze sind zu befolgen. Bund und Bettin, an dieser Stelle gibt es keinen Dissens. (B) Länder müssen sich deshalb über das heute debattierte Auch die Abschaffung der Förderausschüsse ist ein (D) Änderungsgesetz hinaus irgendwann einmal dazu einlas- richtiger Schritt, um die Ausbildungsförderung von bü- sen, wie sie den berechtigten Anpassungsanspruch zu er- rokratischen Hemmnissen zu befreien. Bayern und Ba- füllen gedenken. den-Württemberg haben dies schon seit längerem er- Am Schluss noch ganz kurz ein Wort zu dem heiß dis- kannt und diese Ausschüsse an den Universitäten bereits kutierten Thema „Abgleich der Daten mit den Finanzbe- abgeschafft bzw. nicht mehr neu eingerichtet. Ebenso hörden“. „Blauer Brief vom Staatsanwalt“ hat der „Uni- stellt die Einführung des Datenabgleichs zwischen den Spiegel“ dazu vor drei Tagen getitelt. Sie haben schon BAföG-Ämtern und dem Bundesamt für Finanzen eine die Zahl der aufgedeckten Fälle genannt. In den meisten sinnvolle Lösung dar. Fällen kommen die Betroffenen mit Bußgeldern davon. Es gilt aber dennoch, auf einige Punkte in diesem Ent- Ich halte das, auch was in Bayern geschieht, grundsätz- wurf kritisch hinzuweisen. Dies betrifft zum Beispiel die lich für richtig, dass dem geistigen Führungsnachwuchs Ausweitung des zu fördernden Personenkreises auf aus- unseres Landes abverlangt wird, korrekte Angaben bei ländische Ehegatten im Falle deren Scheidung oder der Beantragung staatlicher Unterstützungsleistungen zu Trennung. 1,5 Millionen Euro sind auch bei einem Ge- machen. samtbetrag von 455 Millionen Euro kein Pappenstiel. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das sollte in ei- Außerdem wäre eine bessere Verzahnung der BAföG- nem Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit Leistungen mit anderen aus öffentlichen Mitteln finan- sein!) zierten Leistungen wie der Arbeitslosenunterstützung sinnvoll gewesen. Ein weiterer Beitrag zur Kostenredu- Wir erwarten das auch von jedem Sozialhilfeempfänger zierung hätte auch durch eine weiter gehende Pauscha- und jedem Arbeitslosen. lierung bei der Abrechnung von privaten Krankenversi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) cherungen erreicht werden können. Alle unsere Anträge, die in die richtige Richtung gegangen sind, haben Sie im Ich sehe, meine Redezeit läuft ab. – Ein letzter Ge- Ausschuss abgelehnt. danke. Seien wir doch einmal ehrlich: Die große Dun- kelziffer bei in der Sache – nicht de jure – zu Unrecht be- Die Studienfinanzierung und damit das BAföG gehö- zogenem BAföG beruht doch auf unserem unendlich ren zu den Schlüsselthemen im Bereich der Bildung. verschachtelten Steuersystem. Hier müssen in den nächsten Jahren wichtige Weichen- stellungen getroffen werden. Deshalb verwundert es (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Sie verhin- mich sehr, wie unkoordiniert die Bundesregierung mit dern doch Änderungen!) diesem schwierigen Thema auch in der Föderalismus- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12059

Marion Seib (A) kommission umgeht. Einerseits will die SPD alle Leis- Die junge Generation erwartet auch von Ihnen über- (C) tungen bei Bedürftigkeit in der Bundeszuständigkeit zeugende Lösungen, um die steigenden Anforderungen halten, andererseits will Frau Zypries die BAföG-Leis- in Studium und Ausbildung optimal bewältigen und fi- tungen auf die Länder abdrücken. Frau Bulmahn will die nanzieren zu können. Das 21. BAföG-Änderungsgesetz Beibehaltung der Bundeszuständigkeit. Es ist keine Li- kann hier wirklich nur ein erster Schritt sein. Aber we- nie zu erkennen. Sie wissen offensichtlich nicht, was Sie gen der aufgezeigten Schwächen werden wir uns bei der wollen. Abstimmung zu diesem Gesetzentwurf enthalten. Ein anderes wichtiges Thema ist die Einschätzung der (Beifall bei der CDU/CSU) derzeitigen Situation. Die BAföG-Novellierungen in den vergangenen Jahren haben zweifellos zu einem Anstieg Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: der Zahl der BAföG-Empfänger geführt. Dabei muss Ich schließe die Aussprache. allerdings die Frage erlaubt sein, ob der bloße Anstieg an Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Zahlungsempfängern an sich schon einen Erfolg dar- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- stellt. Die rapide wirtschaftliche Talfahrt der letzten rung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf der Jahre hat dazu beigetragen, dass viele Kinder aus viel zu Drucksache 15/3655. Der Ausschuss für Bildung, For- vielen sozial schwächeren Haushalten mehr denn je auf schung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in sei- BAföG-Zahlungen angewiesen sind. ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3969, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Darüber hinaus können wir in der Mittelschicht eine Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser gefährliche Entwicklung beobachten. Laut der 17. Sozial- Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer erhebung des Studentenwerkes sank der Anteil der Stu- stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Bei dierenden aus den so genannten mittleren Herkunfts- Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion ist der Gesetzent- gruppen gegenüber 1996 von 49 Prozent auf 29 Prozent. wurf damit in zweiter Beratung angenommen. (Jörg Tauss [SPD]: Die wollen Sie mit Studien- Wir kommen zur gebühren belasten!) dritten Beratung Dieses Absacken der Mitte betrifft Familien, die nicht und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem mehr BAföG-berechtigt, aber finanziell auch nicht auf Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen Rosen gebettet sind. zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Dann ist wiederum bei Enthaltung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – CDU/CSU-Fraktion der Gesetzentwurf angenommen. (B) Jörg Tauss [SPD]: Genau die wollt ihr belas- (D) ten!) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: – Ganz bestimmt nicht, Herr Kollege. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eduard Vor diesem Hintergrund erscheinen die euphorischen Oswald, Dirk Fischer (Hamburg), Georg Erfolgsmeldungen über den Anstieg der Zahl der Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Frak- BAföG-Empfänger in einem anderen Licht. Leider ist tion der CDU/CSU der Haushaltsansatz 2005 für das Studierenden-BAföG Europäische Eisenbahnmagistrale Paris–Bu- mit 455 Millionen Euro viel zu niedrig angesetzt, um dapest im deutschen Abschnitt voranbringen den steigenden Studierendenzahlen und damit dem An- stieg an BAföG-Empfängern gerecht zu werden. Hier – Drucksache 15/3715 – liegt nun die Vermutung nahe, dass mit einer Erhöhung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) der Freibeträge und Bedarfssätze im nächsten Jahr nicht Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit mehr zu rechnen ist. Dies wäre dann im Jahre 2005 ein Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union fatales Zeichen im Zusammenhang mit der Bologna- Haushaltsausschuss Nachfolgekonferenz in Norwegen; denn zu den Haupt- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zielen des Bologna-Prozesses zählt insbesondere die richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Förderung der Mobilität der Studierenden in einem ge- Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag meinsamen Europa. Hier dürfen wir die finanzschwa- der Abgeordneten Renate Blank, Volkmar Uwe chen Studenten und Studentinnen nicht entmutigen, den Vogel, Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Abge- Schritt ins Ausland zu wagen. ordneter und der Fraktion der CDU/CSU Es bleibt zu hoffen, dass sich Frau Bulmahn nicht Planungs- und Finanzierungssicherheit für die wieder in ihrem ideologischen Schützengraben ver- ICE-Strecken ABS/NBS Nürnberg–Erfurt steckt, wenn es heißt, kreative Ideen für das BAföG und (Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 8.1) die Studienfinanzierung an sich zu entwickeln. Ich for- und Erfurt–Leipzig/Halle (Verkehrsprojekt dere Sie auf: Arbeiten Sie mit den Ländern zusammen! Deutsche Einheit Nr. 8.2) schaffen Nehmen Sie deren Anregungen auf und lehnen Sie diese – Drucksachen 15/2653, 15/3580 – nicht gleich in Bausch und Bogen ab! Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU) Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich 12060 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Auch hier ist nach einer interfraktionellen Vereinba- Stellenwert im europäischen Verkehrsnetz anerkannt und (C) rung eine Debattenzeit von 45 Minuten vorgesehen. – Nie- bestärkt. Bei einer gemeinsamen Kabinettssitzung der mand bietet mehr. Dann ist das so vereinbart. Landesregierungen von Bayern und Baden-Württemberg wurde über die Notwendigkeit der Anbindung beraten Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem und diese noch einmal hervorgehoben. Kollegen Eduard Oswald für die CDU/CSU-Fraktion, Dass die aktuelle Mittelfristplanung der Bahn bis (Beifall bei der CDU/CSU) 2008 keinen umfassenden Ausbau der Strecken Stutt- dem sicher bewusst ist, dass diese 45 Minuten nicht al- gart–Ulm–München–Freilassing für den Hochgeschwin- lein für ihn vorgesehen sind. digkeitsverkehr vorsieht, ist – das wissen wir alle – ein deutlicher Rückschritt und ein Rückschlag für die Stär- Eduard Oswald (CDU/CSU): kung des Schienenverkehrs. Ich halte es für unverzicht- bar, gemeinsam alles zu unternehmen, damit die Strecke, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die anerkanntermaßen zu den wichtigsten in Europa Dieser Tagesordnungspunkt umfasst zwei wichtige The- zählt, so rasch wie möglich lückenlos ausgebaut werden men. Wir alle wissen, dass die Leistungsfähigkeit unse- kann. Ausgerechnet im Herzen Europas, im wichtigen rer Schieneninfrastruktur über die Zukunftsfähigkeit der Mittelstück durch unser Land, kommt der Ausbau nicht Bahn insgesamt entscheidet. Über diesen Satz sind wir voran. uns einig. Die Beratungen im Ausschuss haben dies ge- zeigt. Wir sind mit unserem Antrag ganz bewusst nicht über die mit der „Augsburger Erklärung“ erhobene Forderung In meinem heutigen Beitrag will ich mich ganz auf hinausgegangen. Diese Forderung wurde von allen poli- die Linie Paris–Budapest konzentrieren. tischen Seiten, von allen politischen Lagern einmütig er- (Jörg Tauss [SPD]: Gute Linie!) hoben. Wir wollen den Schulterschluss mit Ihnen und mit den Oberbürgermeistern der beteiligten Großstädte. Die Magistrale für Europa, um die es hier geht, Herr Wir sollten gemeinsam in unserem Ausschuss um die Zwischenrufer, ist der 1 500 Kilometer lange Schienen- bestmögliche Lösung ringen. weg zwischen Paris, Straßburg, Stuttgart, Augsburg, München und Budapest. Sie verbindet Städte und Regio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen mit insgesamt 34 Millionen Bewohnern und Ich werbe dafür, auch im Namen meiner Fraktion. 16 Millionen Beschäftigten in vier Staaten. Diese Magis- Wir sollten die Chancen zu einer gemeinsamen politi- trale bildet als zentrale West-Ost-Achse ein Rückgrat des schen Initiative nutzen. Die Bürgerinnen und Bürger aus gesamteuropäischen Schienennetzes. (B) den betroffenen Regionen werden es uns danken. Wir (D) Im Juli dieses Jahres gab es eine Konferenz in Augs- müssen auch vor Ort – das ist ein wichtiger Punkt – burg, auf der die obersten Repräsentanten der großen Klarheit und Planungssicherheit schaffen und ein klares Städte von Straßburg bis Salzburg die gemeinsame Bekenntnis zu dieser Magistrale ablegen. Ich hoffe auf „Augsburger Erklärung“ unterzeichnet haben. Die Bun- die Unterstützung aller politischen Kräfte dieses Hauses desregierung war dabei ebenfalls vertreten. Diese Erklä- und ich hoffe, dass die Debatte in die richtige Richtung rung, die sich an die Bundesregierung und die Deutsche geht. Bahn AG richtet, hat folgende Kernaussage – ich zitiere daraus wörtlich –: Vielen Dank. Um die Wirtschaftskraft der Städte und Regionen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Süden Deutschlands zu erhalten und zu stärken sowie den Verkehr möglichst umweltfreundlich zu Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gestalten, ist es nach fester Überzeugung der unter- Für die Bundesregierung spricht nun die Parlamenta- zeichnenden Städte absolut unumgänglich, die rische Staatssekretärin Iris Gleicke. „Magistrale für Europa“ in den nächsten Jahren zü- gig zu einer Hochleistungsstrecke auszubauen! Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt nister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Richtig! Guter Satz!) Herr Kollege Oswald, ich bedanke mich für die kon- struktiven Töne, mit denen diese Debatte begonnen hat. Den Worten „absolut unumgänglich“ und „zügig auszu- bauen“ bitte ich besondere Bedeutung beizumessen. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ihm auch sehr schwer Wenn wir mit diesem Antrag die Initiative hier parla- gefallen! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sie mentarisch aufgreifen, so werben wir um die Unterstüt- brauchen nur zu sagen, dass der Ausschussvor- zung des ganzen Hauses. Wie Sie wissen, haben das Eu- sitzende Recht hat!) ropäische Parlament und der Rat mit der Entscheidung über den Aufbau eines Transeuropäischen Netzes diese Wir freuen uns natürlich, wenn wir alle gemeinsam da- Strecke – mit der Verlängerung nach Athen – in die Liste ran mitwirken, die wichtigen und vordringlichen Aufga- der vorrangigen Verkehrsprojekte von europäischem In- ben, die wir im Bundesverkehrswegeplan definiert ha- teresse aufgenommen und damit den herausragenden ben, zu forcieren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12061

Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke (A) Wegen der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Die Bundesregierung wird das Vorhaben konsequent (C) Redezeit werde ich mich auf den zweiten Antrag der fortführen. Sie ist entschlossen, mögliche sich eröff- CDU/CSU-Fraktion beschränken. Darin wird die Bun- nende zusätzliche Finanzierungsspielräume für eine wei- desregierung aufgefordert, verbindliche Aussagen zur tere Verstärkung des Vorhabens zu nutzen. Übrigens hat Realisierung der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ das Eisenbahn-Bundesamt Ende September 2004 die Nr. 8.1 und Nr. 8.2 – Nürnberg–Erfurt und Erfurt–Leip- Mittel für den 8,3 Kilometer langen Blessbergtunnel zig/Halle – zu machen. freigegeben. Nun kann der Bau des für die Querung des Thüringer Waldes bedeutenden Tunnels ausgeschrieben Dazu ist Folgendes anzumerken: Die Verkehrspro- werden. Die Ausschreibung wird in zwei Maßnahmepa- jekte „Deutsche Einheit“ Nr. 8.1 und Nr. 8.2 – Nürn- keten vorgenommen. berg–Erfurt und Erfurt–Leipzig/Halle – sind Bestandteil der gemeinsamen Leitlinien für den Aufbau des Trans- Die geschlossenen Finanzierungsvereinbarungen europäischen Netzes. Es geht dabei bekanntlich um die zu den beiden Neubauten enthalten zwar jeweils einen wichtigen TEN-Projekte. Sie gehören zu den 14 spezifi- Zeitplan für die Bewilligung der Mittel, ausschlagge- schen Vorhaben, denen der Europäische Rat am 9. und bend ist aber der in den jeweiligen Jahren verfügbare Fi- 10. Dezember 1994 in Essen besondere Bedeutung bei- nanzrahmen. gemessen hat und die in Anhang III der TEN-Leitlinien Nun werden Sie mich wie immer fragen, wann das genannt sind. Sie wurden auch bei der Änderung der Gesamtprojekt fertig gestellt sein wird. Dieser Frage Leitlinien vom 20. April dieses Jahres berücksichtigt. komme ich auch gerne zuvor. Im neuen Bundesverkehrswegeplan 2003 und im ge- Angesichts der derzeitigen mittelfristigen Finanzpla- änderten Bedarfsplan Schiene sind die Verkehrsprojekte nung des Bundes und der möglichen Änderungen in den „Deutsche Einheit“ Nr. 8.1 und Nr. 8.2 jeweils der Kate- nächsten Jahren sind derzeit keine belastbaren Aussagen gorie „Vordringlicher Bedarf“ zugeordnet, und zwar als zum Realisierungszeitraum der VDE Nr. 8.1 und Nr. 8.2 laufende und fest disponierte Maßnahme. und anderer prioritärer Maßnahmen des „Vordringlichen Bedarfs“ möglich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Fest steht jedoch eines: Wir werden dieses Vorhaben Im Jahr 1996 wurde in den jeweiligen Bündelungsab- konsequent fortführen. Daran gibt es nichts zu rütteln. schnitten mit dem Aus- und Neubau von Bundesauto- Deshalb empfehle ich seitens der Bundesregierung die bahnen, nämlich der A 14 und der A 71, mit dem Bau Ablehnung Ihres diesbezüglichen Antrags. der beiden Neubaustrecken begonnen. Infolge der Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1999 wurde zu- (Beifall bei der SPD) (B) nächst der Weiterbau auf die bereits begonnenen Ab- (D) schnitte mit der Maßgabe begrenzt, das bestehende Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Baurecht für die Gesamtmaßnahme beizubehalten. Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Joachim Günther. Im März 2002 hat die Bundesregierung entschieden, dass die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ Nr. 8.1 und Nr. 8.2 fortzuführen sind. Darauf erfolgte die Joachim Günther (Plauen) (FDP): schrittweise Aufnahme von Bauarbeiten in einzelnen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abschnitten der Neubaustrecke. So befindet sich unter Mein Kollege Eduard Oswald hat den Vorrang der EU- anderem der Bündelungsabschnitt mit der Bundesauto- Verkehrsnetze dargelegt. Ich bin sicher, dass auch Augs- bahn A 73 – dabei handelt es sich ebenfalls um ein Ver- burg einen Haltepunkt bekommen wird, wenn er so wei- kehrsprojekt „Deutsche Einheit“ – im Raum Coburg mit terkämpft. der Itztalbrücke im Bau sowie der Abschnitt Saale–Els- Ich möchte mich mit den Nord-Süd-Verbindungen be- ter-Querung im Zuge des Neubauabschnitts Erfurt–Grö- schäftigen, die die Staatssekretärin eben angesprochen hat. bers, der dem Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ In dem Antrag der CDU/CSU – Drucksache 15/2653 – Nr. 8.2 entspricht. steht: Der Neubauabschnitt Gröbers–Leipzig mit dem Flug- Das Projekt Nürnberg–Berlin hat zudem als ein hafenbahnhof Leipzig–Halle wurde im Monat Juni des Verkehrsprojekt Deutsche Einheit … höchste Prio- vergangenen Jahres in Betrieb genommen. Aufgrund der rität. neuen Haushaltslinie – Sie alle wissen, was ich meine; wir haben sie am 19. Dezember vergangenen Jahres ge- Abgesehen von Ihrer Bemerkung, es sei in der Fort- meinsam beschlossen – und der damit verbundenen schreibung und im vordringlichen Bedarf, hat man da- Mittelfristplanung ist eine strenge Priorisierung der In- von nichts gemerkt, meine Damen und Herren von der vestitionen in die Schienenwege des Bundes erforder- Regierungskoalition. Das Einzige, was an diesem Pro- lich. Die hierzu durchzuführenden Abstimmungen mit jekt wohl funktioniert, sind ab und zu Nachfragen von der Deutschen Bahn AG wurden im Sommer abge- der Opposition. Aber das, was einmal beschlossen wor- schlossen. Der Weiterbau der Verkehrsprojekte „Deut- den ist – das gilt auch für den Verkehrswegeplan „Deut- sche Einheit“ Nr. 8.1 und Nr. 8.2 konnte gesichert wer- sche Einheit“ –, ist nach wie vor nicht in der Umsetzung. den. Wenn man heute erfahren wollte, wann es konkret wei- tergeht, wann der Abschluss erfolgt, dann wurde auf die (Beifall bei der SPD) Streckung des Projekts hingewiesen. 12062 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Joachim Günther (Plauen) (A) Ich möchte noch einmal auf den Bundestagswahl- dieser Strecke weitergehen wird und vor allem welche (C) kampf 2002 zurückblicken. Der Bundeskanzler hat da- konkreten Schritte unternommen werden. Wir erwarten mals in Thüringen eindeutig erklärt – daran können sich von der Bundesregierung eine Zielsetzung und von der vor allem die Thüringer sehr gut erinnern –, die Strecke Deutschen Bahn AG ein verlässliches Ergebnis. Manch- Nürnberg–Erfurt werde weitergebaut und damit würden mal habe ich den Eindruck – dafür gibt es Beispiele –, in der Region Arbeitsplätze und Infrastruktur geschaf- dass sich die Deutsche Bahn AG an das, was die Bun- fen. Was ist daraus geworden? Seit zwei Jahren wartet desregierung vorgibt, nicht mehr hält. die ganze Region auf die versprochenen Arbeitsplätze. Meines Erachtens ist auch bei der Infrastruktur nicht viel Wir sind mitten in der Legislaturperiode. Bald ist wie- geschehen. Außer ein paar Tunnels – es gibt schon das der Bundestagswahlkampf. Es wäre doch nicht schön, Gerücht, dass einige darin Champignons züchten möch- wenn der Bundeskanzler seinen Sprechzettel von 2002 ten – ist bauseitig nichts geschehen. Eine Hochge- überhaupt nicht verändern müsste. schwindigkeitsverbindung Berlin–München – man kann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch sagen: Nord-Süd – steht nach wie vor in weiter Ferne. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wenn ich dieses Vorgehen betrachte, dann möchte ich Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt, – das müssen Sie mir als Sachsen zugestehen – einen Bündnis 90/Die Grünen. kurzen Blick auf die Sachsenmagistrale werfen. Hier wurden zwar zweifellos Millionen Steuergelder einge- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- setzt und es wurde auch einiges vorangebracht. Aber aus NEN): technischen Gründen hat es die Deutsche Bahn AG in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der letzter Zeit geschafft, einen Sprung in die – das sage ich sehr hoch gegriffene Ausdruck „Magistrale für Europa“ bewusst – eisenbahnpolitische Steinzeit zu machen. ist für die Strecke, von der wir heute reden, angebracht; (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten denn es geht um die zentrale Achse von Westen nach Os- der CDU/CSU) ten, mitten durch Europa: von Paris über Straßburg, Karlsruhe, Stuttgart, Ulm, Augsburg, München, Salz- Seit dem Winterfahrplan fahren die Züge lediglich im burg und Wien bis nach Budapest. Das eigentliche Vierstundentakt und mit einer Fahrzeit von rund fünf Drama dabei ist, dass wir im Vergleich zum Autobahn- Stunden auf der Strecke Nürnberg–Dresden. Man muss netz mit der Planung und Realisierung dieser Strecke sich einmal vorstellen, dass die Dampfrösser zwischen schon zehn Jahre zu spät dran sind. dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg auf dieser Stre- (B) cke schneller waren als die Hightechbahn von Herrn (Zustimmung bei der CDU/CSU) (D) Mehdorn. Wenn dies ein Anreiz für Kunden sein soll, dann frage ich mich, wie es weitergehen soll. Daher haben wir alle miteinander keinen Grund, uns ge- genseitig vorzuhalten – das ist genau der Punkt, Kollege (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Scheffler –, welche Verzögerungen es gegeben hat oder der CDU/CSU) noch geben wird. Wer diese Entwicklung kennt – deshalb stelle ich diesen (Beifall des Abg. Siegfried Scheffler [SPD]) Zusammenhang her –, der kann sich ausmalen, wann einmal ein ICE von Berlin nach München mit vollem Vielmehr müssen wir alle daran arbeiten, dass es zu ei- Tempo fahren wird. ner Beschleunigung kommt. Aus diesem Grund muss man die Bundesregierung Auch die französische Seite hat – übrigens entgegen der konkret fragen: Sie haben zwar gesagt, Sie könnten Behauptung im vorliegenden CDU/CSU-Antrag – keines- keine Zeit nennen. Aber was ist denn ein „überschauba- wegs ein hohes Tempo vorgelegt, auch wenn es schön rer Zeitraum“? Wann geht es weiter? ist, dass es nach jahrelangen Verzögerungen jetzt los- geht. Erst gestern wurde mit dem Bau zwischen Paris (Siegfried Scheffler [SPD]: Was ist schon und Straßburg begonnen. Zeit?) Es ist zu begrüßen, dass durch den Antrag von der – „Was ist schon Zeit?“ Das ist eine tolle Frage. – Oder rechten Seite des Hauses ein wichtiges Thema in das gibt es in der Zwischenzeit vielleicht andere Überlegun- Zentrum der Bemühungen auf der parlamentarischen gen? Das sollte man ja nicht einfach negieren. Es ist ja Ebene gerückt wird. Dieser Antrag ist in weiten Teilen theoretisch möglich, dass man aufgrund der Entwick- schon deshalb vernünftig, weil bei genauem Hinsehen lung – vielleicht im Geheimen – zu neuen Erkenntnissen vier SPD-Oberbürgermeister als Verfasser dahinter ste- gekommen ist, zum Beispiel zu der Erkenntnis, dass es hen, eine kostengünstigere, eine bessere Variante gibt. Ich denke dabei an die alten Strecken Nürnberg–Marktred- (Zuruf von der CDU/CSU: Da gibt es auch witz sowie Plauen–Leipzig. Vielleicht könnte man Teile Gescheite!) davon für die Sachsenmagistrale verwenden. nämlich die Oberbürgermeister von Karlsruhe und Ulm, Zwölf Jahre nach Erstellung des Bundesverkehrswe- der geschätzte Dr. Wengert aus Augsburg sowie geplanes und der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ Christian Ude aus München. Was im Antrag steht, ist haben alle ein Recht, zu wissen, wann und wie es auf von der am 25. Juli dieses Jahres verfassten Resolution Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12063

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) der Oberbürgermeister entlang der Strecke wortgleich Augsburg mit 200 Stundenkilometern gefahren werden (C) abgeschrieben. könnte. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Bestätige ich Der nächste Abschnitt reicht von Augsburg bis Mün- ausdrücklich!) chen. Ich bin froh, dass das Kasperltheater um einen Baustopp zu Ende ist und weitergebaut wird. Wir brau- Insoweit sollten wir hieraus keine parteipolitische, ritua- chen bei diesem Nadelöhr der Nation, bei dem sich lisierte Diskussion machen, sondern gemeinsam feststel- Nord-Süd-, West-Ost-, Güter- und schnelle Personenver- len, dass es in der Tat höchste Eisenbahn ist, hier Schritt kehre sowie Nahverkehre treffen, längst das dritte und für Schritt voranzukommen. vierte Gleis, und zwar wirklich durchgehend. Ich bin Allerdings plädiere ich für Realismus. So sehr wir froh darüber, dass an dieser Stelle jetzt weitergebaut hier die Initiativen und die Finanzmittel verstärken müs- wird und die Finanzierung wenigstens für die nächsten fünf Jahre gesichert ist. sen – dies gilt für Schieneninvestitionen generell, hier aber im Besonderen –, so sehr müssen wir danach trach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten, dass wir dieses Projekt nicht mit unnützen Baustei- sowie bei Abgeordneten der SPD) nen überfrachten, die die Angelegenheit eher behindern. Wie ein Felsbrocken liegt hier das Projekt Stuttgart 21 Die Strecke München–Mühldorf–Freilassing ist die auf dem Weg. Dieses Projekt sollten wir aus Gründen Verlängerung des Astes nach Osten, also Richtung Salz- der Realpolitik nicht zur Bedingung machen. Ich spreche burg. Übrigens gehört der Abzweig ins Chemiedreieck dies ganz offen an; denn ich bin für Ehrlichkeit in der nach Burghausen unbedingt dazu. Das sollte man nicht Politik, ob es gefällt oder nicht. Ich sage das, was ich vergessen. Das ist für den Gütertransport ganz wichtig. schon seit Jahren sage; was ich in Stuttgart und in Bonn Ich bin froh darüber, dass es uns gelungen ist, das in den Bundesverkehrswegeplan und die internationalen Pro- gesagt habe, sage ich auch hier in Berlin. jekte zu schieben. Aber die Finanzierungsausstattung – Die Kostensteigerungen sind absehbar und in diesen das muss man ehrlich sagen – reicht im Moment vorn Tagen in der Presse nachlesbar. Sie wurden in gewisser und hinten nicht. Wir müssen uns gemeinsam bemühen, Weise auch vom Bundesverkehrsministerium dokumen- in den nächsten Jahren mehr Geld zur Verfügung zu stel- tiert. Stuttgart 21 ist kein Bestandteil des Bundesver- len; denn nach dem, was jetzt in der so genannten 66er- kehrswegeplanes, sondern wie alle Bahnhofsumbauten Liste verabredet ist, gibt es für das Projekt Mün- ein eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen chen–Mühldorf gar nichts. Das ist auf Platz 67 gelandet. Bahn AG. Schon 2002, als ich noch Mitglied im Auf- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Diese sichtsrat der DB AG war, haben wir beschlossen, dass Frage klärt die Union nachher beim Nach- (B) erst nach Fertigstellung der Planfeststellungsbeschlüsse tragshaushalt!) (D) auf Basis der dann ermittelten realen Kosten entschieden werden kann, ob aus der Sicht des Unternehmens Deut- Lassen Sie uns auch da nach Lösungen suchen! Wir wer- sche Bahn AG sowie dessen Vorstands und Aufsichtsrats den uns darum bemühen; das verspreche ich Ihnen. das Projekt verwirklicht werden kann oder nicht. Meine Ich will wenigstens noch einen Satz zu einem zweiten Prognose kennen Sie: Es wird so teuer werden, dass es Projekt sagen, das Gegenstand der Debatte ist, nämlich die von einem „Unternehmen der Zukunft“ nicht angefasst Strecke Nürnberg–Erfurt. Ich rate auch hierbei zu Realis- werden wird. Aber ich warte dies in aller Ruhe und Ge- mus. Ihre Frage lautet im Grunde: Wann soll diese Strecke lassenheit ab. fertig werden? Wenn Sie in die 66er-Liste schauen, dann Dieses Projekt ist keine Voraussetzung für die Magis- stellen Sie fest, dass für das Projekt Nürnberg–Erfurt im trale, von der wir reden. Der Abschnitt Stuttgart–Wend- Fünfjahreszeitraum 2004 bis 2008 exakt 175 Millionen lingen–Ulm der Neubaustrecke ist trotzdem notwendig Euro vorgesehen sind. Wenn Sie das für die noch ausste- und die Einbindung in den Knoten Stuttgart ist Bestand- hende Finanzierungslast von 4,5 Milliarden Euro nur für teil des Projekts. Der Bund steht zu der Zusage von den Abschnitt Nürnberg–Erfurt hochrechnen, dann kom- 450 Millionen Euro für die Einbindungskosten, ob nun men Sie zu dem Ergebnis, dass das 130 Jahre dauert. mit oder ohne Stuttgart 21. Liebe Leute, da muss man doch irgendwann einmal Rea- lismus walten lassen! Es hat doch keinen Sinn, diese Le- Lassen Sie mich noch etwas zu dem nächsten Ab- benslüge bis zum Ende aller Zeiten weiterzuspinnen. schnitt zwischen Ulm und Augsburg sagen. Auch hier (Joachim Günther [Plauen] [FDP]: Dann sagen rate ich dazu, das Ganze nicht überzustrapazieren, son- Sie das doch!) dern Realismus walten zu lassen. Es muss nicht mit 230 Stundenkilometern gefahren werden; das sage ich Da ist die erste Schwelle schon verrostet, bevor die letzte genauso ehrlich auch in Augsburg. Schwelle gelegt sein wird. (Siegfried Scheffler [SPD]: Dann fahren alle mit dem Auto!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Schmidt, beim Stichwort „Ende aller Es muss nicht die letzte Minute für teuerstes Geld he- Zeiten“ muss ich Sie an das Ende Ihrer Redezeit erin- rausgefuchst werden. Wir wären schon viel weiter, wenn nern. es zwischen Neu-Ulm und Neuoffingen das dritte Gleis gäbe – die Strecke muss nicht bis Augsburg durchge- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ hend dreigleisig ausgebaut sein – und von Neu-Ulm bis DIE GRÜNEN und bei der SPD) 12064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) NEN): neten der FDP) Ich weiß, dass meine Redezeit zu Ende ist, Herr Präsi- Vorgestern wurde in Reims vom französischen Ver- dent. kehrsminister der erste Spatenstich gemacht. Im Ich will nur noch eines sagen: Das Alternativgutach- Jahr 2007 wird von Paris aus bis fast nach Straßburg mit ten, das im Auftrag von IHK Südthüringen, Transnet und fast 320 Stundenkilometern gefahren. Im Jahr 2010 wird Bürgerinitiative „Besseres Bahnkonzept“ erstellt wurde, die Reisezeit von Paris nach Straßburg statt jetzt vierein- zeigt, wie man billiger und unter Nutzung vorhandener halb Stunden nur noch zwei Stunden und 20 Minuten be- Bauwerke schneller zum Zug kommen kann, auch auf tragen. Unsere Sorge ist nun – darum der Antrag –, dass der Schnellverbindung von Nürnberg nach Erfurt, die der TGV irgendwann am Rhein steht und wir auf unserer wir ja wollen, aber eben nicht mit dem Kopf durch die Seite nichts haben. Die Realisierung der Rheinbrücke Wand – sprich: mit dem Tunnel durchs Mittelgebirge –, ist jetzt wieder verschoben worden. Niemand weiß, sondern nebenan durch die Tür, nämlich auf vorhande- wann sie gebaut wird. Das sind Sorgen, finde ich, die wir nen Strecken. alle haben müssen. Wir können die Planung und die Baumaßnahmen nicht über Freilassing hinaus weiterfüh- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ren, wenn wir noch nicht einmal den Beginn auf deut- scher Seite, nämlich über den Rhein nach Baden- Verehrter Herr Kollege – – Württemberg, organisieren können.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Kollege Schmidt, ich komme auf Stuttgart 21 NEN): zu sprechen. Das ist das Thema, das wir in den nächsten Jahren be- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: arbeiten sollten. Wir sollten nicht ewig einer Schimäre Welcher?) hinterherjagen, die nie Realität werden wird. – Herr Schmidt, ich meine den Kollegen von den Grü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen. Die Grünen haben in diesem Punkt eine andere sowie bei Abgeordneten der SPD) Auffassung als die SPD. – Ich bitte die Regierung, mehr mit offenen Karten zu spielen. Sie haben den Kollegen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Schmidt von den Grünen und Ihre Oberbürgermeister- Ich habe in dieser Debatte die Einsicht gewonnen, kandidatin in Stuttgart informiert, es komme zu dramati- dass es bei großzügigen Präsidenten auch nach dem schen Kostensteigerungen. (B) Ende aller Zeiten noch mindestens 45 Sekunden gibt. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (D) Nun hat der Kollege Georg Brunnhuber für die CDU/ DIE GRÜNEN]: 1,2 Milliarden!) CSU-Fraktion das Wort. Die Landesregierung und das Landesverkehrsministe- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt rium in Baden-Württemberg haben noch überhaupt [Salzgitter] [SPD]: Der sollte erst mal die ba- keine Informationen. Die Bahn – sie ist mit Bauherr bei den-württembergischen Probleme anderer Art Stuttgart 21 – erklärt: Wir sind noch dabei, die Kosten zu lösen!) ermitteln. Wie können Sie angesichts dessen dieses Pro- jekt schon jetzt so negativ darstellen? Ich bitte insbeson- dere die SPD: Wenn wir dieses Projekt gemeinsam un- Georg Brunnhuber (CDU/CSU): terstützen, dann sollten wir durch solche Spekulationen Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- nicht schon wieder Sand ins Getriebe streuen; zumal die gen! Ich finde es sehr wohltuend, dass wir uns in diesem SPD in Stuttgart mit der CDU und der FDP hinter die- Plenarsaal über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion ins- sem Projekt steht. gesamt einigen können; zumindest entnehme ich das den bisherigen Wortbeiträgen. (Jörg Tauss [SPD]: Die CDU nicht mehr! Der Herr Schuster hat sich mit Palmer geeinigt!) Bevor ich etwas zur Sache sage, insbesondere was Baden-Württemberg betrifft, möchte ich etwas tun, was – In diesem Raum hat schon einmal jemand gesagt: Es in diesem Hause sicherlich selten ist, was mir aber ganz gibt immer einen, der der Dümmste im Saal ist. Aber wichtig ist. Diese europäische Magistrale wird seit Jah- freiwillig sollten Sie sich nicht jedes Mal melden, Herr ren in allen Varianten gefordert. Mit viel Engagement Tauss. wird den Menschen immer wieder klar gemacht, wie wichtig sie ist. Es gibt einen Kollegen unter uns, der dies (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – seit seiner Zeit im Bayerischen Landtag mit Vehemenz Jörg Tauss [SPD]: Ganz vorsichtig, mein Lie- betreibt. Es ist ein Abgeordneter aus Augsburg. Es ist ber!) unser Ausschussvorsitzender Eduard Oswald. Es gibt noch einen Problembereich: Stuttgart–Ulm. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch da sind wir relativ weit in der Planung, aber völlig unsicher in der Realisierung. Schon Stuttgart 21 betrach- Was er auch jetzt wieder mit dem Treffen der Oberbür- ten wir kritisch. Bevor das große Stück des Albaufstiegs germeister mit organisiert hat, ist einfach ganz toll. Da nicht gebaut ist, kann mit noch nicht einmal 120 Stun- muss ich sagen: Herzlichen Dank. Ich finde das prima! denkilometern gefahren werden. Man kann bergauf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12065

Georg Brunnhuber (A) keine Schnellverbindung schaffen, ohne entsprechende Die rechtlichen Grundlagen für den Ausbau dieser Ab- (C) neue Trassen gebaut zu haben. schnitte sind also vorhanden. Verbunden mit dem Ausdruck unserer Sorge richte Es gibt eine so genannte 66er-Liste, in der die Bun- ich auch hier unsere Bitte an die Regierung, dazu beizu- desregierung gemeinsam mit der DB AG Projekte fest- tragen, dass wir zumindest in den nächsten Monaten ein- geschrieben hat, die im Zuge der mittelfristigen Finanz- mal verbindlich klären, wo auf der langen Strecke, die planung bis 2008 auf den Weg gebracht werden sollen. auf der Rheinbrücke beginnt und bis nach Österreich Zugrunde liegen dieser Liste folgende Kriterien: ausrei- führt, auf deutschem Gebiet mit welchen Mitteln was ge- chende Mittel für den Netzerhalt bereitzustellen, begon- plant und am Schluss auch gebaut wird. Wir verunsi- nene Vorhaben weiterzuführen und internationale Ver- chern mittlerweile Ortschaft für Ortschaft, Landkreis für pflichtungen zu erfüllen. Landkreis und die Landesregierungen; denn niemand ist Nachdem Sie, Kollege Brunnhuber, verständlicher- mehr sicher, dass das, was im Bundesverkehrsministe- weise Projekte, die Baden-Württemberg betreffen, auf rium besprochen wird, am Schluss trägt und dass das, die Tagesordnung gesetzt haben, möchte auch ich auf was mit der Bahn AG vereinbart worden ist, tatsächlich diese eingehen. In der Finanzplanung bis 2008 sind zu- umgesetzt wird. nächst einmal Finanzmittel für den Ausbau Appen- Unsere größte Chance bei diesem Projekt sollte auch weier–Kehl vorgesehen. Hierbei geht es unter anderem von der Regierung wahrgenommen werden. Zum ersten darum, die Verabredung einzuhalten, die deutschen Mal sind zwei Länder, Bayern und Baden-Württemberg, Hochgeschwindigkeitsnetze mit denen Frankreichs bis bereit, dieses Projekt mit enormem Engagement vorzufi- 2010 zu verknüpfen. Bis zu diesem Zeitpunkt muss die nanzieren, und zwar zu 100 Prozent. Wir müssten doch Rheinbrücke entsprechend befahrbar sein; das wird auch gemeinsam ein Interesse daran haben, dass auch die Re- so sein. Sie haben von der Erwartung gesprochen, dass gierung sagt: Angesichts eines solchen Engagements die Strecke bis Straßburg schon bis 2007 durch entspre- und der mit Frankreich im September letzten Jahres ge- chende Hochgeschwindigkeitszüge befahrbar sein wird. troffenen Vereinbarung sollten wir gemeinsam zu dem Der Anschluss an das Hochgeschwindigkeitsnetz ist auf Vorhaben stehen. jeden Fall bis zum Jahr 2010 gesichert. Auch Finanzmit- tel für einen weiteren Ausbau der Abschnitte Karls- ruhe–Basel und Rastatt–Offenburg sind vorgesehen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ebenso soll der Umbau des Knotens Neu-Ulm in diesem Herr Kollege Brunnhuber. Zeitraum in Angriff genommen werden. Der Bund nimmt dabei gerne das Angebot Bayerns an, dieses Pro- jekt vorzufinanzieren. Schließlich wird auch der vier- (B) Georg Brunnhuber (CDU/CSU): (D) Wenn wir diesen Antrag im Ausschuss weiter beraten, gleisige Ausbau des Abschnitts Augsburg–Olching fort- dann werden wir für die deutsche Infrastrukturpolitik, gesetzt. All dies ist in diesem Zeitraum finanziell was die Schiene anbelangt, wirklich Wegweisendes „auf machbar. die Bahn bringen“. Bezüglich des Projektes Stuttgart 21 gilt, dass der Herzlichen Dank. Bund seine Zusagen einhalten wird. Selbstverständlich muss der Bund die Wirtschaftlichkeit der Gesamtstrecke (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- im Auge haben; so stehen für ihn Investitionen in die neten der FDP) Strecke im Vordergrund. Diese wirtschaftliche Bewer- tung wird in die Planung einfließen. Aber die bisher mit Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dem Land Baden-Württemberg getroffenen Verabredun- gen wird der Bund einhalten. Das Wort hat nun die Kollegin Karin Rehbock- Zureich, SPD-Fraktion. Ich komme ja ebenfalls aus Baden-Württemberg und unterstütze die Resolution, die Oberbürgermeister aus Karin Rehbock-Zureich (SPD): Bayern und Baden-Württemberg verschiedenster partei- politischer Couleur gemeinsam beschlossen haben. Ich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! bin mir auch ganz sicher, dass es sich bei den darin ent- „Magistrale für Europa“ ist wahrhaftig ein europäisches haltenen Vorstellungen um einen klugen Ansatzpunkt Projekt. Die Schienenverbindung führt über – es wurde handelt, denn die Zukunft des Schienenverkehrs liegt im mehrfach gesagt – Paris, Straßburg, Stuttgart, Augsburg, grenzüberschreitenden Verkehr. Grenzüberschreitender München, Wien und Budapest. Der Stellenwert dieses Verkehr findet einerseits in Ost-West-Richtung auf eben Projekts im europäischen Raum ist auch im Bundesver- jener Magistrale statt, zu der die bisher genannten Pro- kehrswegeplan ersichtlich. Das Bundesschienenwe- jekte gehören, andererseits aber auch in Nord-Süd-Rich- geausbaugesetz, das wir und der Bundesrat beschlossen tung. Auch hier besteht hoher Finanzbedarf. So erfordert haben, hat alle Teilstücke dieser Magistrale in Deutsch- der Ausbau der Zulaufstrecken zu den alpenquerenden land berücksichtigt. Die Teilstrecken Kehl–Appenweier, Verbindungen ein Finanzvolumen von rund 3 Milliar- Appenweier–Rastatt, Rastatt–Stuttgart–Augsburg und den. München–Mühldorf–Freilassing sind alle im vordringli- chen Bedarf. Die Koalition hat dabei die Teilstrecke Der Finanzbedarf sowohl für den Ost-West-Verkehr München–Mühldorf–Freilassing als internationales Pro- als auch für den Nord-Süd-Verkehr muss erst einmal ge- jekt hier im Parlament in diese Kategorie hochgestuft. deckt werden. In der Vergangenheit haben wir dank der 12066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Karin Rehbock-Zureich (A) UMTS-Erlöse die Investitionen in die Schienenwege Frau Staatssekretärin, Papier ist ja nun wirklich ge- (C) von 2,7 Milliarden im Jahre 1998 auf 4,5 Milliarden im duldig. Im Bundesverkehrswegeplan von 1992/93 und Jahr 2003 gesteigert. Mit 3,7 Milliarden in diesem Jahr auch jetzt wieder sowie im Schienenwegeausbaugesetz liegen die Investitionen immer noch höher als im Jahre steht die Strecke Nürnberg–Erfurt. Sie haben aber fast 1998. Das möchte ich hier noch einmal ganz deutlich sa- nur von dem Verkehrsprojekt Nr. 8.2 und nicht von 8.1, gen. nämlich Nürnberg–Erfurt, gesprochen. Sie haben nicht von der Neubaustrecke Nürnberg–Ebensfeld gespro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen, sondern nur von den anderen Bereichen. DIE GRÜNEN – Zurufe von der FDP) Kollege Schmidt, Sie sollten einmal zugeben, dass die Von unseren Zahlen konnten die derzeitigen Opposi- Grünen die Trasse Nürnberg–Erfurt absolut nicht wol- tionspolitiker, als ihre Parteien noch an der Regierung len. waren, nur träumen. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Ich bin mir sicher, dass wir bezüglich der Verlagerung DIE GRÜNEN]: Ich habe nur eine Rechnung von Verkehr auf die Schiene die gleichen Interessen ver- aufgemacht! Die können Sie nicht widerle- folgen. In Zukunft wird es darauf ankommen, zu verhin- gen!) dern, dass Einsparungen allein zulasten des Verkehrsträ- gers Schiene gehen, wie es ja Koch und Steinbrück in – Ich möchte die ICE-Trasse eigentlich noch erleben, das ihrem Konzept vorgesehen hatten. Wenn es nach Ihnen heißt, sie soll nicht erst in 120 Jahren fertig sein. gegangen wäre, wäre die von Koch/Steinbrück gefor- derte Einsparung ausschließlich über die Schiene gelau- Tatsache ist, dass die Grünen die Strecke aus politi- fen. schen Gründen nie wollten. Auch die bayerische SPD wollte sie nicht. Die Nürnberger SPD – ich nehme sie (Zuruf von der CDU/CSU: Das wäre auch ausdrücklich in Schutz – wollte diese Trasse. richtig gewesen! Dann wären mehr Straßen ge- baut worden!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Bahn will sie auch Lassen Sie uns in dem Bewusstsein, dass wir alle die nicht!) Schiene voranbringen wollen, gemeinsam für die Zu- kunft zusätzliche Mittel in die Schiene investieren. Sie Im Wahlkampf 2002 hat der Bundeskanzler gesagt, wir haben uns auf Ihrer Seite. Wenn wir das, was in dem An- brauchten diese Trasse. Seitdem ist auch die bayerische trag gefordert wird, wirklich in einem angemessenen SPD umgeschwenkt. Somit steht jetzt auf dem Papier, Zeitraum auf den Weg bringen wollen, dann benötigen dass die Trasse gebaut wird. (B) (D) wir zusätzliche Finanzmittel. Eine Chance auf zusätzli- che Finanzmittel besteht, wenn Sie in der Diskussion Für uns ist das ein unsägliches Gezerre um den Wei- über den Abbau der Subventionen mutigere Schritte ge- terbau. Allerdings ist dies ein Spiegelbild der rot-grünen hen als in der Vergangenheit. So könnte der nötige Politik, Schienenausbau verbessert werden. Wenn wir die großen (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist doch Quatsch! Projekte in dem Zeitraum, den Sie und die Oberbürger- Wissmann hat das doch angefangen!) meister vorschlagen, verwirklichen wollen, benötigen wir diese Finanzmittel. die von Wankelmut, Unzuverlässigkeit und mangelndem Durchsetzungsvermögen geprägt ist. Ich freue mich schon auf die Diskussion im Aus- schuss, die hoffentlich dazu führt, dass wir vernünftige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – und solide finanzierte Projekte gemeinsam auf den Weg Siegfried Scheffler [SPD]: Gucken Sie doch bringen können. mal in die Protokolle, was der Wissmann ge- sagt hat!) Vielen Dank. – Warum regen Sie sich denn so auf? Hören Sie mir doch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu! DIE GRÜNEN) Diese rot-grüne Planungs- und Konzeptionslosigkeit Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hat sich Bahnchef Mehdorn zunutze gemacht, nach dem Motto: Wenn die Mittel für den Schienenausbau gekürzt Das Wort hat nun die Kollegin Renate Blank, CDU/ werden, dann werden auch die Arbeiten zwischen Nürn- CSU-Fraktion. berg und Erfurt nicht weitergeführt. Damit spricht er na- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. türlich den Grünen aus dem Herzen. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]) Frau Staatssekretärin, in der Mittelfristplanung bis 2008 sind für die Strecke Nürnberg–Ebensfeld nur Renate Blank (CDU/CSU): 10 Millionen Euro enthalten. Außerdem ist für diese ge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt zu- ringe Summe der Abschluss der Finanzierungsvereinba- rück zur ICE-Trasse Nürnberg–Erfurt, der unendlichen rung von der DB AG noch nicht beantragt. Bahnchef Geschichte, die langsam zu einem Trauerspiel und vor Mehdorn hat im Frühjahr gesagt, beim Abschnitt Nürn- allen Dingen zu einem Verwirrspiel wird. berg–Ebensfeld sei ihm die Tinte eingetrocknet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12067

Renate Blank (A) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Rainer Fornahl (SPD): (C) DIE GRÜNEN]: Weil er rechnen kann!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Blank, angesichts Ihrer Ausführungen Das hat sich die Bundesregierung dann natürlich zu Ei- muss man befürchten, dass es in Zukunft an neu gebau- gen gemacht. ten ICE-Strecken keine Lärmschutzwände, sondern nur Mit dem Betrag von 10 Millionen Euro ist der not- noch Klagemauern gibt. wendige viergleisige Ausbau zwischen Nürnberg und (Zuruf von der SPD: Ja, genau!) Fürth, der etwa 120 Millionen Euro kostet, erst einmal vom Tisch, Das wollen wir nicht. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ihr baut ja DIE GRÜNEN]: Nein! Der ist unstrittig!) keine! Sie erzählen hier Märchen!) – Herr Grund, Sie müssten eigentlich Abgrund heißen. weshalb es auf unabsehbare Zeit keine Verbesserun- Halten Sie den Schnabel! gen im Schienennahverkehr der Region geben wird. Der S-Bahn-Bau ist damit ausgebremst und Sie sind (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) schuld! Die beiden heute anstehenden Projekte sind wichtige (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Abschnitte der Transeuropäischen Netze. Sie sind aber DIE GRÜNEN]: Unsinn! Das ist blankscher auch Bestandteile der Netzkonzeption 21 der Deutschen Unsinn, was Sie da reden!) Bahn AG und sind insgesamt ein wichtiger Teil der Ent- wicklung einer vernünftigen Verkehrsinfrastruktur. – Nein, Kollege Schmidt, Sie haben zu verantworten, dass der Bau der S-Bahn Nürnberg–Fürth–Erlangen schon seit Im Bundesverkehrswegeplan 2003–2015 sind diese über einem Jahr gestoppt ist, weil diese S-Bahn-Strecke Trassen in der Kategorie „laufende und fest disponierte unabweislich mit der ICE-Trasse Nürnberg–Erfurt ge- Vorhaben“ bzw. „vordringlicher Bedarf“ eingeordnet. koppelt ist. Sie standen auch schon im Bundesverkehrswegeplan 1992 bis 2012 unter der Kategorie höchste Priorität, was Sie müssen sich vorhalten lassen, dass Sie für den immer man darunter verstehen konnte. Nach wie vor Schienenpersonennahverkehr – genauer: für den Bau ei- sind diese Projekte für die Stärkung des Schienenperso- ner S-Bahn – kein Geld zur Verfügung stellen. nenverkehrs und auch – ich betone das – des Schienen- güterverkehrs über Deutschland hinaus besonders wich- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ tig. (B) DIE GRÜNEN]: Unsinn!) (D) Schauen wir noch einmal auf die sehr wichtigen Ver- Die genannten 10 Millionen Euro dienen lediglich der kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ Nr. 8.1 und Nr. 8.2. Erhaltung der Leistungsfähigkeit bzw. der Aufrecht- Diese Projekte sind aufgrund ihres Umfangs und der erhaltung der Maßnahme nach dem Baurecht, damit Kosten besonders exemplarisch. Der Bau der Trasse ist keine Gelder an Europa zurückgezahlt werden müssen, erst seit 1997 möglich gewesen. Wir sollten uns darauf die bisher für die Projekte im Rahmen der Transeuropäi- verständigen, dies als Tatsache anzusehen. Denn erst zu schen Netze geflossen sind. diesem Zeitpunkt waren die Klagen abgewiesen, die es Vielleicht sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen im Zusammenhang mit der Planfeststellung und dem von Rot-Grün, einmal darüber nachdenken, dass die EU Einsetzen des Baurechts gab. Die Bahnchefs Dürr und diese Trasse mit 20 Prozent bezuschusst. Das Geld liegt Ludewig hatten für das gesamte Projekt relativ wenig in Brüssel; es muss nur abgerufen werden. Sympathie. Deshalb wurden bis 1999 nur Mittel in Höhe von 350 Millionen Euro verwendet. Von 2000 bis 2004 (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ wurden immerhin 750 Millionen Euro – das ist die aktu- DIE GRÜNEN]: Ich habe von dem Geld noch elle Zahl von der DB Projektbau – verbaut. nichts gesehen!) Trotz der erkennbaren Skepsis meines Kollegen Sie müssen dieses Geld abrufen und müssen mehr Mittel Schmidt hinsichtlich dieses Projekts – er hält damit nicht für Investitionen zur Verfügung stellen. Es hätte schon hinter dem Berg – kann ich sagen: Wir haben in den letz- längst mit dem Bau der Trasse Nürnberg–Erfurt begon- ten vier Jahren ein ganz beachtliches Investitionsvolu- nen werden können, wenn die Deutsche Bahn AG bis men angeschoben. Aktuell ist dazu noch zu vermelden, zum Jahre 2002 6 Milliarden Euro, die sie nicht ver- dass es eine Baufreigabe für die Südanbindung Halle, für bauen konnte, nicht hätte zurückgeben müssen. Damit die Elsterauequerung und – das ist ein Hinweis an die hätte man die Strecke Nürnberg–Erfurt – sie kostet Kollegin Blank – für den Blessbergtunnel gibt. Das ist 4 Milliarden Euro – leicht planen und bauen können. die Strecke Nürnberg–Ebensfeld. Frau Gleicke hat diese Punkte richtigerweise erwähnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich darf noch darauf hinweisen, dass uns die Blo- ckade durch den Freistaat Sachsen zwei Jahre Zeit bei Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: der Realisierung dieses Projektes gekostet hat. Der da- Das Wort hat nun der Kollege Rainer Fornahl, SPD- malige Ministerpräsident Biedenkopf und sein bahnpoli- Fraktion. tischer Büchsenspanner, der ehemalige Staatsminister 12068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Rainer Fornahl (A) für Wirtschaft und Arbeit Kajo Schommer, haben im ist zumindest mit mir nicht zu machen. Ich stehe für eine (C) Jahr 2000 eine Diskussion über eine neue Trassenfüh- solche Variante nicht zur Verfügung. rung über Hof, Leipzig, Berlin angezettelt, obwohl es (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wen eine durchgeplante, voll mit Baurecht versehene und interessiert das?) auch schon im Bau befindliche Trasse gab. Das hat zwar für einen Leipziger durchaus Charme; das will ich gerne Wir können aber auch ein Viertes tun: Wir kommen zugeben. Aber es war leider ein gefährlicher Irrweg. Bis mit dem Reformpaket zur Agenda 2010 voran. Sie ma- sich Sachsen wieder gefangen hatte und auf den Pfad der chen dabei mit. Dann gibt es im Bundeshaushalt mehr Tugend zurückkam, konnte zwei Jahre nichts gebaut Spielraum für Verkehrsinfrastrukturinvestitionen. werden. Zum Abschluss will ich sagen, meine Damen und (Joachim Günther [Plauen] [FDP]: Eine an- Herren von der Opposition: Im Sinne von Hartz IV sollte dere Strecke ist sinnvoller! – Siegfried man nicht nur fordern, sondern auch fördern. So kom- Scheffler [SPD]: Jetzt haben sie einen vernünf- men wir voran und auch schneller zu Ergebnissen bei tigen Koalitionspartner!) wichtigen Verkehrsinfrastrukturprojekten, auf die wir alle so dringlich warten. Das hat uns insgesamt viel Zeit und damit auch viele Kilometer Schiene, die hätten gebaut werden können, Vielen Dank. gekostet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nun kann man ein Zahlenspiel betreiben: Die bis 2008 festgelegten Mittel sind natürlich nicht dazu ange- tan, in den nächsten zehn Jahren mit der Fertigstellung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: des Projektes insgesamt rechnen zu können. Aber man Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der kann natürlich nach Möglichkeiten suchen, diese Zeit- Kollege für die CDU/CSU-Fraktion, spanne insgesamt zu verkürzen; ich will drei nennen. (Beifall bei der CDU/CSU) Erstens. Man kann beispielsweise bei der DB AG der bei strenger Beachtung der Debattenzeit eigentlich ganz konsequent auf die Kostenbremse treten. Beispiel: gar keine Redezeit mehr hat. Aber da das Präsidium bei Seit 2000 ist die DB AG mit Nachforderungen von ins- der Bewirtschaftung der Redezeiten großzügiger ist als gesamt 4 Milliarden Euro konfrontiert, die auch geneh- die Fraktionen, darf er noch sprechen. Bitte schön. migt worden sind. Das bedeutet eine Kostensteigerung von mehr als 20 Prozent im Vergleich zum Plan. Beispiel Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): (B) Neubaustrecke Köln–Frankfurt: Hier haben sich die (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Wenn ich keine Rede- Kosten von 4,6 Milliarden auf 6 Milliarden Euro erhöht. zeit mehr habe, dann habe ich jetzt auch alle Freiheiten. Ich könnte weitere Beispiele nennen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Manfred Grund Wenn man diese Szenerie weiterverfolgt, muss man [CDU/CSU]: Du kannst auch singen!) feststellen: Je mehr Geld für einzelne Projekte über den Plan hinaus ausgegeben wird, desto weniger kann man insgesamt mit dem zur Verfügung stehenden Geld, das in Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: den Haushalt eingestellt ist, bauen. Damit muss Schluss Darauf würde ich es besser nicht ankommen lassen. sein! Ich fordere also von der Deutschen Bahn AG ein konsequentes, hartes projektbegleitendes Controlling. Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Dann kann man wesentlich enger am geplanten Kosten- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Eisen- rahmen bleiben. bahnmagistralen Paris–Budapest und, lieber Kollege Schmidt, auch Stockholm–Verona sind wichtige europäi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sche Magistralen in Ost-West- und natürlich auch in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nord-Süd-Richtung. Zweitens. Wir können aber auch – darüber sollte man (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ sich in der Diskussion über den Antrag zur Europama- DIE GRÜNEN]: Aber realistisch müssen sie gistrale verständigen – Prioritäten setzen. Beispiele wä- sein!) ren die VDE-Fertigstellung und Ost-West-Projekte im Sinne der Transeuropäischen Netze. Wenn man sich da- Sie vernetzen europäische Metropolen; sie sind europäi- rauf konzentriert, dann muss man natürlich auf anderes sche Lebensadern. Sie entlasten nicht nur den Luft- und verzichten. Aber dann kann man die Zeiträume zur Rea- Straßenverkehr, sondern sind auch eine umweltscho- lisierung solcher wichtigen Trassen insgesamt verkür- nende Alternative zum Individualverkehr. zen. Die seit Jahren diskutierte ICE-Strecke Nürn- berg–Erfurt–Halle–Leipzig nimmt dabei eine ganz be- Drittens. Wir können aber auch, wie hier schon ange- sondere Stellung ein. Denn diese ICE-Trasse ist ein deutet wurde und wie das unser Kollege Schmidt anhand Symbol für die Vollendung der deutschen Einheit eines Vorschlages aus Thüringen erläutert hat, alles ganz anders machen: Wir legen alles auf Eis und machen alles (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neu. Dann kommen wir überhaupt nicht zu Stuhle. Das neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12069

Volkmar Uwe Vogel (A) und natürlich ein unverzichtbarer Bestandteil des EU- Nach der Liste des Ministeriums vom 15. Juli sind für (C) Programms „Transeuropäische Netze“. Dies wurde im beide Abschnitte, also 8.1 und 8.2, lediglich 341 Millio- Bundesverkehrswegeplan 1992, dem Bundesverkehrs- nen Euro vorgesehen. Das sind im Durchschnitt jährlich wegeplan der deutschen Einheit, zum Gesetz. Die Trasse 68 Millionen Euro. Es ist fraglich, ob mit diesen Berlin–München genoss damals allerhöchste Priorität. 68 Millionen Euro jährlich das Baurecht überhaupt zu si- chern ist. Ich bin nicht dieser Meinung. 2005 wird das Trotzdem hat Verkehrsminister Müntefering, SPD, Baurecht in wichtigen Teilabschnitten verfallen. den planmäßigen Weiterbau 1999 gestoppt, obwohl er wusste: Für die neuen Bundesländer und auch für meine Um wirkliche Baufortschritte durch den Thüringer Heimat Thüringen ist diese Hochgeschwindigkeitsstre- Wald machen zu können, wären pro Jahr circa cke ein Standortfaktor von europäischer Dimension. 150 Millionen Euro notwendig. Dann wären wir in circa acht Jahren mit der Strecke durch den Thüringer Wald (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt durch. Dieses Ziel müssen wir uns setzen. Alles andere [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ist aus meiner Sicht Augenwischerei und die berühmte Das sieht die IHK aber inzwischen realisti- Beerdigung dritter Klasse. Es ist die Frage, ob hier scher!) Bahnchef Mehdorn die Kerze trägt. Aus welchen Gründen auch immer – das sei dahinge- (Beifall bei der CDU/CSU) stellt – hat Bundeskanzler Schröder auf dem SPD-Partei- tag am 10. März 2002 Münteferings Baustopp für die Neben dem Weiterbau der Hochgeschwindigkeitsstre- ICE-Strecke aufgehoben und damit Hoffnungen auf eine cke durch den Thüringer Wald darf natürlich auch die baldige Fertigstellung dieser Strecke in Thüringen und in Anbindung an die ICE-Strecke nicht zu kurz kommen. den neuen Bundesländern geweckt. Doch im Deshalb ist es zum Beispiel unerlässlich, die Mitte- Herbst 2004 sieht die Wirklichkeit ganz anders aus – Deutschland-Schienenverbindung so auszubauen, dass eine Wirklichkeit des Kanzlers, übrigens nicht nur beim höhere Fahrgeschwindigkeiten möglich sind und der Lü- ICE. Verwaiste Baustellen sprechen für sich und für die ckenschluss zwischen Weimar und Glauchau erfolgt. Die verfehlte Verkehrspolitik der Bundesregierung. Aufnahme dieses Vorhabens in den weiteren Bedarf des Bundesverkehrswegeplans ist ein erster Erfolg. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zeit der Ideenkonferenzen und der Neuererbewegung ist vorbei. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme Diskussionen um Alternativen verschleppen dieses Pro- zum Ende; denn ich werde vom Präsidenten ermahnt. jekt nur weiter. Wer die Lebensverhältnisse in den alten Ich kann nur an die Bundesregierung und an die Regie- und den neuen Bundesländern aneinander angleichen rungskoalition appellieren, die ICE-Strecke Nürn- (B) will, darf nicht nur reden, sondern muss tatsächlich han- berg–Erfurt–Leipzig zügig weiterzubauen. (D) deln. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dann (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. müssen Sie noch ein paar Finanzierungsvor- Joachim Günther [Plauen] [FDP]) schläge machen!) Wenn wir jetzt nicht handeln, verfällt das Baurecht, und Frau Staatssekretärin Gleicke, die Aussage, die Stre- weit über 700 Millionen Euro Steuergelder, die bereits cke werde fertig gestellt, reicht nicht. Gleichzeitig sagt verbaut sind, werden buchstäblich in den Sand gesetzt. Kollege Schmidt, die Strecke werde in 125 Jahren fertig Wenn es dazu käme, interessierte mich die Antwort auf gestellt. eine Frage natürlich ganz besonders: Was wird uns der (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ SPD-Kanzlerkandidat im Wahlkampf 2006 erklären, DIE GRÜNEN]: 130!) (Dr. [SPD]: Der Kandidat ist Wir brauchen hier ganz konkrete Informationen zu Fer- Kanzler und bleibt Kanzler!) tigstellungsterminen auch für Teilabschnitte. wenn sich auf diesem Symbol der deutschen Einheit Es kommt darauf an, dass Thüringen und der gesamte Fuchs und Hase gute Nacht sagen? mitteldeutsche Wirtschaftsraum zügig in die gesamteu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ropäischen Hochgeschwindigkeitsnetze eingebunden neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] werden. Für die Neubaustrecke liegen alle Planfeststel- [SPD]: Das hätten Sie uns alles ersparen kön- lungsbeschlüsse vor. Im Gegensatz dazu ist bei den dis- nen!) kutierten Alternativen noch kein Planungsvorlauf vor- handen. Sie würden zu weiteren Verzögerungen führen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Für das Projekt 8.1 werden im Zeitraum 2004 bis Ich schließe die Aussprache. 2015 im Bundesverkehrswegeplan circa 3 Milliarden Euro angesetzt, für das Projekt8.2 rund 1,8Milliarden Zum Tagesordnungspunkt 7 a wird interfraktionell Euro. Um diese Investitionskosten zu finanzieren, sind die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3715 weit höhere Jahresbeträge notwendig, als in der Mittel- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse fristplanung des Ministeriums ausgewiesen sind. vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so be- (Beifall bei der CDU/CSU) schlossen. 12070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Tagesordnungspunkt 7 b: Beschlussempfehlung des Wir haben übrigens auch in Scheveningen einstimmig (C) Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf – obwohl ich gesagt habe, ich sehe keine Notwendigkeit Drucksache 15/3580 zu dem Antrag der Fraktion der dazu – auf Vorschlag unseres Vorsitzenden, des nieder- CDU/CSU mit dem Titel „Planungs- und Finanzierungs- ländischen Kollegen Gerrit Zalm, beschlossen, dass sicherheit für die ICE-Strecken Nürnberg–Erfurt und Er- höchstens minimale Änderungen am sekundären Ver- furt–Leipzig/Halle schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt, tragstext stattfinden sollen; am Text des primären Ver- den Antrag auf Drucksache 15/2653 abzulehnen. Wer tragswerks will sowieso niemand etwas ändern. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Be- Sie haben heute Morgen gesagt, ich hätte zwar bei schlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Griechenland für die Aufklärung plädiert, aber nicht da- für, dass Eurostat mehr Rechte bekommen soll. Das ist Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: falsch. Ich habe mich nur nachdrücklich dagegen ge- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- wandt, dass hier zwei Dinge, die nicht zusammengehö- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die ren, miteinander vermengt werden und dass die lücken- Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaus- lose Aufklärung dessen, was im Fall Griechenland haltsplan für das Haushaltsjahr 2004 (Nach- passiert ist, möglicherweise zugedeckt wird unter einer tragshaushaltsgesetz 2004) allgemeinen Debatte über statistische Fragen. – Drucksache 15/4020 – Das eine ist: Es muss lückenlos geklärt werden, was in Griechenland war; denn wenn die Erklärung des grie- Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss chischen Notenbankgouverneurs Lucas Papademos, des jetzigen Vizepräsidenten der EZB, stimmt, dass in den Auch zu diesem Tagesordnungspunkt haben sich die Berichten der griechischen Zentralbank die richtigen Fraktionen auf eine Debattenzeit von 45 Minuten ver- Zahlen gestanden haben, so muss man doch die Frage ständigt. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist stellen: Was hat die griechische Zentralbank mit diesen das so beschlossen. Zahlen gemacht, was hat die Europäische Zentralbank Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem mit diesen Zahlen gemacht, was hat Eurostat mit diesen Bundesminister der Finanzen Hans Eichel. Zahlen gemacht und was hat die Europäische Kommis- sion mit diesen Zahlen gemacht? ( [CDU/CSU]: Schulden- minister!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das Pro- blem ist, wie die Zahlen aussehen, nicht, was sie damit gemacht haben!) (B) Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: (D) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Dabei geht es nicht um eine statistische Frage, sondern Herren! Lassen Sie mich zunächst mein Bedauern aus- es geht um eine politische Frage. drücken, dass ich an der Debatte über den Stabilitäts- und Wachstumspakt hier nicht teilnehmen konnte. Das Das zweite ist: Für eine gute haushalts- und wirt- Interesse der Opposition daran, dass der Bundesfinanz- schaftspolitische Koordinierung brauchen wir verlässli- minister anwesend ist, war offenkundig nicht sehr ausge- che und rechtzeitig vorgelegte Daten. Da hat Deutsch- prägt. land eine hervorragende Position, übrigens auch was die fachliche Unabhängigkeit des Statistischen Bundesamtes (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Richtig!) betrifft; daran können sich alle anderen ein Beispiel neh- Wir haben Ihnen mitgeteilt, dass ich heute Morgen an men. der Ecofin-Sitzung in Luxemburg teilnehmen musste. Völlig klar ist aber – das gilt auch für uns –: Wenn ir- Ich denke, es wäre ohne Schwierigkeiten möglich gewe- gendwann von irgendwem Zweifel an der Korrektheit sen, die Debatte über den Stabilitäts- und Wachstums- von Daten geäußert werden, dann muss Eurostat die pakt jetzt im Zusammenhang mit der Debatte über den Möglichkeit haben, in die nationalen Statistikämter hi- Nachtragshaushalt zu führen. neinzugehen und das aufzuklären. Ich will Ihnen aber die neueste Nachricht vom Tage nicht vorenthalten: Der luxemburgische Ministerpräsi- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie dent und Finanzministerkollege Jean-Claude Juncker, doch mal was zum Nachtragshaushalt!) der ja einer der Väter des Maastricht-Vertrages und des Das ist meine Position, damit da keinen Augenblick ein Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist, hat sich heute, Zweifel besteht. auch öffentlich, für eine vorsichtige Änderung des Pak- tes ausgesprochen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Da- durch wird es nicht besser!) Das eine ist: Auf europäischer Ebene muss Ordnung geschaffen werden. Das zweite ist: Die notwendigen Zu- Damit müssen Sie, meine Damen und Herren von der ständigkeitsverlagerungen müssen ganz selbstverständ- Union, zurechtkommen. lich stattfinden. Nur, das eine hat mit dem anderen nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unmittelbar etwas zu tun und das eine darf das andere DIE GRÜNEN) nicht ersetzen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12071

Bundesminister Hans Eichel (A) Nun zum Nachtragshaushalt. Nach der Steuerschät- lionen Euro gestiegen und haben ein Volumen von (C) zung im Mai habe ich erklärt: Erstens. Im Herbst werden 27 Milliarden Euro. Das entspricht einer Steigerung um wir einen Nachtragshaushalt vorlegen. Zweitens. Ich ta- 1,5 Prozent, während die verschiedenen Tarifsteigerun- xiere das Haushaltsrisiko auf 10 bis 11 Milliarden Euro gen in diesem Zeitraum insgesamt rund 15 Prozent aus- zusätzlich. Das war im Mai. machten. In diesem Herbst lege ich Ihnen nun diesen Nach- Warum ist uns das gelungen? Das ist uns gelungen, tragshaushalt vor. Anders als im vorigen Jahr lege ich weil wir systematisch Jahr für Jahr 1,5 Prozent der Stel- ihn Ihnen nicht erst in Kenntnis der Steuerschätzung len eingespart haben und weil wir insbesondere mit die- vom November vor, obwohl auch dafür eine Menge sem Haushalt – durch Kürzungen beim Weihnachtsgeld spräche. Aber da der Bundesrat mein Vorgehen im ver- und durch die Abschaffung des Urlaubsgeldes – in die gangenen Jahr benutzt hat, um die gesamte Beratung bis Bezüge eingegriffen haben. Die Konsolidierung, die wir ins neue Jahr zu ziehen, lege ich Ihnen den Nachtrags- 1999 unmittelbar eingeleitet haben, war erfolgreich. haushalt schon jetzt vor. Das hat allerdings zur Konse- Ohne die Konsolidierungspolitik hätte der Bund jetzt je- quenz, dass wir die titelscharfe Ausbringung der Min- des Jahr Mehrausgaben in Höhe von gut 20 Milliarden dereinnahmen bei den Steuern erst nach der Euro. Steuerschätzung im November vornehmen können. Folgendes ist aber passiert: Erstens stehen wir vor der (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Dann soll- Situation, dass die Steuereinnahmen nach dreijähriger ten Sie das im Januar machen! Machen Sie ei- Stagnation bei weitem nicht den Umfang hatten wie da- nen Nachtragshaushalt im Januar!) mals, als von allen Seiten ein höheres Wachstum zu- Das heißt, dass wir die unmittelbare Anpassung nach der grunde gelegt wurde, unterstellt worden war. Zweitens Steuerschätzung im November durchführen müssen. haben sich die Ausgaben für den Arbeitsmarkt gegen- über dem Jahr 2000 verdoppelt. Das sind die beiden Ent- Diesen Termin habe ich, wie im vorigen Jahr, aus- wicklungen, mit denen wir es zu tun haben. drücklich gewählt, weil ich, wenn ich hätte eingreifen wollen, nur bei Investitionen, Programmplanungen und Wenn man übrigens aus Luxemburg bzw. vom Ecofin Beschaffungen der Bundeswehr hätte eingreifen können. zurückkommt, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Deutschland zu der kleinen Gruppe der Länder gehört, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Quatsch!) die die geringeren Abweichungen aufweisen von der Das wollte ich allerdings nicht. Alles andere hätte zu besten Situation war im Jahr 2000. Damals – auch unter keinerlei Einsparungen geführt. meiner Verantwortung – betrug das Defizit 1,2 Prozent. In diesem Jahr ist es auf 3,8 Prozent gestiegen. Das ent- (B) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: So ein spricht einer Abweichung von 2,6 Prozentpunkten. Im (D) Quatsch!) Vergleich dazu weisen die meisten Länder der Europäi- Denn jeder, der redlich über dieses Thema diskutiert schen Union und vor allem der Eurozone viel höhere – das ist nicht bei allen der Fall –, Abweichungen auf. Die Startposition, das Defizit von 1,2 Prozent, war das Problem. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Einer da- von steht am Pult!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Diller hat die gleiche Rede wie Sie schon heute Mor- muss zugeben, dass im fünften Jahr eines Konsolidie- gen gehalten! – Weiterer Zuruf des Abg. rungshaushaltes an diesem Knochen in Wirklichkeit kein Dietrich Austermann [CDU/CSU]) Fleisch mehr ist. – Auf Sie, Herr Austermann, komme ich noch zu spre- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir haben da- chen. Denn es gehört schon eine gewaltige Chuzpe dazu, mals die deutsche Einheit finanziert, Herr Mi- wenn ausgerechnet Sie sich über die Schulden, die auch nisterpräsident von Hessen!) mir zu hoch sind, beklagen. Dazu gehört eine unglaubli- Das will ich mit ganz wenigen Zahlen belegen. che Chuzpe! (Zuruf des Abg. Dr. Andreas Pinkwart [FDP]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie werden immer das eine oder andere finden, Herr DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/ Pinkwart. Damit leisten Sie aber auch nicht annähernd CSU]: Wer soll das denn sonst beklagen?) einen Beitrag zu einer wirklichen Problemlösung. Des- – Am besten diejenigen, die am meisten davon verste- wegen sind Ihre Haushaltsanträge ja auch so, wie sie hen. Da haben Sie vollkommen Recht. Denn wer soll das sind. sonst beklagen? Meine Damen und Herren, ich will zunächst einmal (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir haben mit klar machen: Auf der Ausgabenseite ist der Umfang des den Schulden damals die deutsche Einheit fi- Haushalts von 1998 bis jetzt von 12,1 auf 11,5 Prozent nanziert, Herr Ministerpräsident von Hessen!) des Bruttoinlandsprodukts gesunken. Das ist die erste Feststellung. Die zweite Feststellung – jetzt nenne ich In diesem Haushalt beträgt die Neuverschuldung ein Beispiel – ist Folgende: Die Personalausgaben be- 43,7 Milliarden Euro. Das ist gegenüber dem Haushalt, wegen sich auch im nächsten Jahr fast genau auf dersel- den ich eingebracht hat, eine Verschlechterung um ben Höhe wie 1998. Sie sind gerade einmal um 400 Mil- 14,4 Milliarden Euro. 12072 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Bundesminister Hans Eichel (A) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Da nicht ausgehen. Wir haben 1,5 bis 2 Prozent Wachstum (C) sieht man es doch: Sie haben nichts dazuge- veranschlagt und gesagt: eher am unteren Rand. Nun lernt! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: werden es deutlich mehr als die 1,5 Prozent sein. Wir Und was ist mit der Eigenheimzulage?) werden nach drei Jahren – ich freue mich darüber – das erste Mal wieder die Situation haben – laut vieler Pro- Diese Größenordnung entspricht im Übrigen ziemlich gnosen –, dass wir im Laufe des Jahres nicht weiter nach exakt dem Nachtragshaushalt des vergangenen Jahres. unten korrigieren müssen, sondern dass wir, jedenfalls Die Verschlechterungen ergeben sich fast ausschließ- was die Wachstumsprognose für dieses Jahr angeht, nach lich aus den geringeren Steuereinnahmen; darüber hi- oben korrigieren können! Das wollen wir einmal festhal- naus gibt es, wie Sie wissen, ein paar andere Dinge, ten. darunter auch den Bundesbankgewinn. Worauf es in die- sem Zusammenhang ankommt: Im Haushalt ist ein nied- (Beifall bei der SPD – Dietrich Austermann rigeres Ausgabenvolumen vorgesehen, das dadurch ent- [CDU/CSU]: Deswegen ist das gesamtwirt- steht, dass wir Hartz IV eben nicht zum 1. Juli dieses schaftliche Gleichgewicht gestört?) Jahres umsetzen, sondern ab 1. Januar nächsten Jahres. – Ich finde es besonders lustig, Dass Sie ankündigen, Sie Damit ergibt sich eine Nettokreditaufnahme von wollten wegen dieses Haushaltes nach Karlsruhe ge- 43,7 Milliarden Euro, insbesondere, wie gesagt, wegen hen. gegenüber der Mai-Schätzung geringeren Steuereinnah- men bei der Mineralölsteuer und bei der Tabaksteuer. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nein, nicht wegen des Nachtragshaushalts! Wegen Wir haben im vergangenen Jahr einen Dreiklang von des Originalhaushalts! Wegen der falschen Strukturreformen, Haushaltskonsolidierung und Wachs- Zahlen!) tumsimpulsen eingeleitet. – Das ist ja noch schöner! Wann wachen Sie eigentlich (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Tata, tata, auf, Herr Austermann? Wir haben bereits bei der Ein- tata! Der Karneval ist da!) bringung des Haushaltes im Zusammenhang mit dem – Wissen Sie was? Nach der Landtagswahl in Schles- Vorziehen der Steuerreform gesagt: Dies setzen wir ein, wig-Holstein haben Sie hier kaum noch einen Auftritt, um die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge- Herr Austermann, wichts abzuwenden, um aus der Stagnation herauszu- kommen und ins Wachstum hineinzukommen. Seitdem (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sehr rich- entspricht der Haushalt Art. 115 Grundgesetz! Bis zu Ih- tig! – Beifall bei der CDU/CSU sowie bei rer Kritik haben Sie also viele Monate gebraucht. Abg. der FDP) (B) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nein, das (D) und auch sonst nimmt dann keiner mehr von Ihnen haben wir schon im Februar gesagt!) Kenntnis. Wenn Sie in Karlsruhe sind, verehrter Herr (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Austermann, dann klagen Sie wahrscheinlich auch sofort Sie haben nicht zugehört. Ich habe gesagt: Sie haben hier gegen Niedersachsen und gegen Hessen, weil die Regie- kaum noch einen Auftritt, weil Sie dann als haushaltspo- rungen dort für nächstes Jahr Haushalte einbringen, bei litischer Sprecher Ihrer Fraktion keine Rolle mehr spie- denen die Neuverschuldung len werden! Das wird so auch richtig sein. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das ist Wir haben zu diesem Dreiklang in der klaren Er- ja wohl ungeheuerlich!) kenntnis gegriffen, dass wir aus der Stagnation heraus müssen, dass das die entscheidende Voraussetzung ist, höher ist als die Investitionen, weil wir nur in der Kombination von Wachstum und rigi- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ist beim der Haushaltskonsolidierung, rigider Ausgabenbegren- Bund die Regel!) zung vorankommen. Wir haben das Ziel ja auch erreicht. die also in schöner Isolierung, abseits des Bundes, die (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was? Bitte? Erklärung abgeben, es gebe eine Störung des gesamt- Wo leben Sie denn!) wirtschaftlichen Gleichgewichts, die es abzuwenden – Das frage ich Sie auch. gelte. Deutschland Unsere Politik des Dreiklangs hat gewirkt. Ich will das am Beispiel der Gesundheitsreform deutlich ma- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ist pleite!) chen. Im ersten Halbjahr dieses Jahres haben wir zum verzeichnet wieder ein Wachstum. ersten Mal seit zehn Jahren einen Überschuss, von 2,5 Milliarden Euro. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich dachte, wir hätten eine Störung des gesamtwirtschaft- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: We- lichen Gleichgewichts?) gen der Praxisgebühr, die wir Ihnen aufge- zwungen haben und die Sie gar nicht wollten!) Ich erinnere mich übrigens lebhaft, dass Herr Austermann vor einem Jahr im Haushaltsausschuss er- Im ersten Halbjahr 2003 hatten wir noch ein Defizit von klärt hat, von mehr als 1 Prozent Wachstum dürfe man 2 Milliarden Euro. Damit haben wir einen positiven Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12073

Bundesminister Hans Eichel (A) Saldo von 4,5 Milliarden Euro, hochgerechnet auf das chenden Lage, sich hier als Ankläger darüber aufzuspie- (C) ganze Jahr wahrscheinlich etwa 9 Milliarden Euro. len, dass wir in sechs Jahren 120 Milliarden Euro Schul- den gemacht haben. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Tabak- steuer!) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Hier zeigt sich, dass die Reformen wirken. Die nächste – Hartz IV – tritt ja zum 1. Januar nächsten Jahres in In der Tat: Die Nettokreditaufnahme könnte niedriger Kraft. sein, wenn Sie im Bundesrat nicht jedes Mal aus rein Mit anderen Worten – das kann man der ganzen Ent- parteitaktischen Gründen den Abbau der Steuersubven- wicklung in Deutschland auch ansehen –: Das Problem tionen so blockiert hätten, wie Sie das getan haben. ist nicht, dass wir kein wettbewerbsfähiges Land wären (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Jetzt – wir sind äußerst wettbewerbsfähig –, das Problem ist, kommt wieder die alte Leier!) dass die Binnennachfrage noch nicht richtig angesprun- gen ist. Das weiß jeder im Lande. Das liegt in Ihrer Verantwor- tung. Deswegen sind Ihre Reden in diesem Zusammen- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Warum hang Heuchelei. wohl? – Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Jedes Jahr ein halbes Prozent!) Ich bitte um die Zustimmung zum Nachtragshaus- halt 2004. Genau das zeigt sich ja auch wieder an den Steuerein- nahmen. Wir sind ein äußerst wettbewerbsfähiges Land (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und es ist völlig daneben, wenn Sie ausgerechnet solche DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ fundamentalen Managementfehler, wie sie zum Beispiel CSU]: Mit Sicherheit nicht! – Jochen-Konrad bei Opel gemacht worden sind, als Argument gegen den Fromme [CDU/CSU]: Immer waren es die an- Standort Deutschland verwenden. deren!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Wort hat der Kollege Steffen Kampeter für die So reden Sie dieses Land schlecht. Wenn Sie einmal bei CDU/CSU-Fraktion. Ernst & Young nachschauen, was internationale Mana- ger antworten, wenn sie befragt werden, wo sie am liebs- (Beifall bei der CDU/CSU) ten investieren, werden Sie feststellen: Der erste Stand- (B) ort heißt China, der zweite die USA, der dritte Standort Steffen Kampeter (CDU/CSU): (D) heißt Deutschland. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass der Bundesfinanz- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bertelsmann- minister bei der Einbringung seines Nachtragshaushalts Stiftung: Platz 21 von 21!) vergessen hat, eine Zahl hier vorzutragen. Es geht um Das ist die Wirklichkeit. 43,7 Milliarden Euro Schulden, die wir in diesem Jahr aufnehmen. Das ist entlarvend. Dass Sie sich nicht schä- Mit anderen Worten: Deutschland ist äußerst wettbe- men, der Schuldenkönig von Deutschland zu sein! Es ist werbsfähig, aber wir brauchen mehr Binnenmarktnach- ein schwarzer Tag für die deutsche Finanzpolitik und vor frage. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. allen Dingen für die Bürgerinnen und Bürger, die als Steuerzahler diesen Betrag später wieder aufbringen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: müssen. Herr Minister, ich darf Sie nur daran erinnern, dass die Überschreitung der für Sie angemeldeten Redezeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auf Ihre Fraktionskollegen angerechnet wird. Hans Eichel ist der Schuldenkönig von Deutschland. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Seine Sie tragen eine blamable Krone. Lieber Herr Eichel, die Zeit ist eh abgelaufen!) Steuerzahler und -zahlerinnen wissen: Die Schulden von heute – Sie muten uns eine erneute Steigerung der Netto- kreditaufnahme zu – sind die Steuererhöhungen von Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: morgen. Ich bedanke mich und komme sofort zum Schluss. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Ich weise darauf hin, dass der Dreiklang aus Struk- turreformen, Haushaltskonsolidierung und Wachs- Eine so fundamentale Ankündigung zukünftiger Steuer- tumsimpulsen auch für nächstes Jahr gilt. erhöhungen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch nicht gegeben. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Missklang!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mir ist die NKA, die Nettokreditaufnahme, die wir die- Sie haben vorhin davon gesprochen, Sie würden sich ses Jahr vornehmen müssen, zu hoch. Das können Sie für das wirtschaftliche Wachstum einsetzen. Dieser Tag aber nicht beklagen: Wer in 16 Jahren 580 Milliarden ist aufgrund des Nachtragshaushalts ein schwarzer Tag Euro Schulden gemacht hat, der ist nicht in der entspre- für das wirtschaftliche Wachstum; denn Sie als 12074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Steffen Kampeter (A) Finanzminister glauben offenbar, dass man mit Schulden weltwirtschaftliches Umfeld hingewiesen. Nicht die (C) Wachstum kaufen kann. Diese Einschätzung ist falsch. Weltwirtschaft ist das Problem in Deutschland. Nein, sie Für diese fatale Fehleinschätzung müssen die Bürgerin- wächst dreimal so schnell wie die Wirtschaft der Bun- nen und Bürger mit einer hohen Arbeitslosigkeit bezah- desrepublik Deutschland. Die Weltwirtschaft wächst so len. stark wie seit 25 Jahren nicht mehr. Diese Wachstumsra- ten hätten wir in der Bundesrepublik Deutschland gerne. Ein Blick auf die Zahlen hilft uns, aufzuklären. Im Jahre 2000 hatten wir ein starkes wirtschaftliches (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wachstum, nämlich mehr als 3 Prozent, Unsere Probleme sind hausgemacht. Sie sind von dieser (Joachim Poß [SPD]: Nein, 2,9 Prozent!) Regierung hervorgerufen. und einen Überschuss im staatlichen Gesamthaushalt. (Beifall bei der CDU/CSU) Im letzten Jahr waren eine wirtschaftliche Schrumpfung – unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist funda- Wer keine ehrliche Ursachenanalyse betreibt, der kann mental gesunken – und ein hohes Defizit zu verzeichnen. auch nicht zu den richtigen Rezepten kommen. Dies zeigt: Konsolidierung und Überschüsse in den Wir brauchen zweierlei in Deutschland: Erstens: Wir Haushalten fördern das wirtschaftliche Wachstum und brauchen eine Politik, die das Wachstumspotenzial die- die Beschäftigung. Schulden fördern den wirtschaftli- ser Volkswirtschaft endlich wieder nach oben bringt. Die chen Abstieg. Das ist die wirtschaftspolitische Wahrheit, Wachstumspotenzialraten kriechen zum gegenwärtigen die heute ausgesprochen werden muss. Zeitpunkt bei 1 bis 1,5 Prozent herum. Wir brauchen ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mehr an wachstumsinduzierten Steuereinnahmen. Steu- ereinnahmen müssen durch Wachstum zunehmen, nicht Als Christdemokraten haben wir im Übrigen gute Er- dadurch, dass Sie bei den Steuerzahlerinnen und Steuer- fahrungen mit der Konsolidierung gemacht. zahlern abkassieren, indem Sie ständig die Steuern erhö- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Im hen. Schuldenmachen haben Sie gute Erfahrun- (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP]) gen!) Das ist ein wesentlicher Unterschied in der Finanzpolitik Als wir die Bundesregierung Anfang der 80er-Jahre zwischen Regierung und Opposition. übernommen haben, haben wir durch Konsolidierung wirtschaftliches Wachstum hervorgerufen. Sie sollten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Abschied von den nachfrageorientierten Theorien des neten der FDP) (B) letzten Jahrhunderts nehmen. Die Bundesregierung ist Zweitens: Wir brauchen einen Ausgabenrückgang, (D) nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Wer Schulden macht, insbesondere beim staatlichen Konsum. Herr Eichel, Sie der muss die Steuern erhöhen und der behindert wirt- haben hier gerade den Eindruck erweckt, als würden Sie schaftliches Wachstum. Schulden sind die Ursache für weniger ausgeben. Tatsache ist: In diesem Jahr werden die derzeitige Situation und nicht die Lösung, um zum 25 Milliarden Euro mehr ausgegeben als zum Regie- gegenwärtigen Zeitpunkt aus der wirtschaftlichen Krise rungswechsel 1998. Und dieser Mann spricht von Kon- zu kommen. solidierung! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Bundesfinanzminister, ich finde es einigermaßen Sie leben fernab der fiskalpolitischen Wirklichkeit. Das verwunderlich, dass Sie hier im Deutschen Bundestag ist ein Schaden für Deutschland. sagen, Deutschland befinde sich im Wachstum. Gleich- zeitig legen Sie nämlich einen Nachtragshaushalt vor, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bei dem Sie von der Grundannahme der Störung des ge- neten der FDP) samtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausgehen. Sie Zum Schaden für die Menschen in diesem Land ist müssen sich schon für irgendetwas entscheiden. Entwe- Ihnen auf dem Weg zu mehr Wachstum ein Faktor verlo- der erklären Sie den Deutschen, es gehe mit dem wirt- ren gegangen, nämlich der Wachstumsfaktor Vertrauen. schaftlichen Wachstum aufwärts, oder Sie sagen den Dass Sie den Deutschen Bundestag vorsätzlich falsch Deutschen, es gehe uns so schlecht, dass wir mehr über die tatsächliche finanzielle Lage informieren, ist Schulden machen dürfen, als es gemäß der Verfassung schlimm, aber nicht der fatalste Vertrauensverlust. Damit zulässig ist. Beides zusammen geht nicht. Sie sind bei rechnen wir bei Ihnen. Ihren finanzpolitischen Aussagen völlig orientierungs- los. Schwerer wiegt das ständige Hin und Her in der Finanzpolitik, das keinen klaren Kurs erkennen lässt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ihre andauernd wechselnden finanzpolitischen Daten, neten der FDP) die Diskussion über Mindestlöhne, Ihre Hauruckprivati- Herr Bundesfinanzminister, diese Orientierungslosig- sierungen und vieles andere mehr haben bei den Men- keit in Ihrer Finanzpolitik zeigt auch, dass Sie diesem schen dazu geführt, dass Vertrauen und Zuversicht völlig Nachtragshaushalt eine völlig falsche Ursachenanalyse verschwunden sind. Stattdessen sind private Konsumen- zugrunde legen. Lieber Schuldenkönig, in der Begrün- ten und Investoren stark verunsichert. Wer aber nicht dung für die Schuldenexplosion wird auf ein schwieriges weiß, wie es weitergeht, wie hoch seine steuerliche Be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12075

Steffen Kampeter (A) lastung im nächsten Jahr sein wird oder ob die Bundesre- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) gierung wieder irgendeinen Irrsinn verzapft, der konsu- Sie haben jetzt nicht mehr die Zeit, dies noch auszu- miert und investiert nicht. Er kauft im Übrigen auch führen. nicht mehr bei Opel und bei Karstadt, weil er Angst um seine Zukunft hat. Die Quelle dieser Angst ist die Wir müssen diesen Nachtragshaushalt nüchtern und Finanzpolitik dieser Bundesregierung. realistisch analysieren. (Joachim Poß [SPD]: Das können Sie ja (Beifall bei der CDU/CSU) nicht!) Wie fernab Sie jedweder Seriosität argumentieren, Er belegt schwarz auf weiß das Scheitern der rot-grünen zeigt sich daran, dass Sie gebetsmühlenhaft behaupten, Finanzpolitik. Er vertagt die notwendigen Entscheidun- die Opposition hindere Sie über den Bundesrat an der gen in unserem Land und belastet die zukünftigen Gene- Konsolidierung des Bundeshaushalts. Vor mir liegt das rationen. Dieser Tag ist ein schlechter Tag für Deutsch- Finanztableau des Vermittlungsausschusses. Darin land. steht, dass die Bundesregierung über den gesamten Finanzplanungszeitraum Steuermehreinnahmen in Höhe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – von 24,542 Milliarden Euro vorgeschlagen hat. Durch Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ziemlich die Veränderung der Kräfte im Bundesrat sind von die- aufgeblasen!) sen 24,542 Milliarden Euro beim Bund Mindereinnah- men von 388 Millionen Euro ausgewiesen. Sie haben bei Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: einer Neuverschuldung von mehr als 43 Milliarden Euro Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Franziska allein in diesem Jahr die Behauptung aufgestellt, wir hät- Eichstädt-Bohlig. ten die Konsolidierung verhindert, während Ihre eigenen Zahlen belegen, dass Sie lediglich Mindereinnahmen Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE von 388 Millionen Euro haben. Ein Finanzminister, der GRÜNEN): die Öffentlichkeit so schäbig täuscht oder unfähig ist, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! diese Zahlen richtig zu interpretieren, der darf dieses Kollege Kampeter, das war eben ein ochsenfroschmäßi- Land nicht führen oder er führt es in den Ruin. ger Schaufensterbeitrag, (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie sind ein zahnloser Tiger, eine tragische Figur der (B) Finanzpolitik in der Bundesrepublik. Sie haben im Kabi- der nichts anderes als dümmliche Schuldzuweisungen (D) nett ja überhaupt keine Durchschlagskraft mehr. Ein Fi- enthielt, nanzminister in der Krise muss vor allen Dingen eines (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das war sein: ein Wachstumsminister. Er muss an der Spitze der eine ausgezeichnete Rede!) Reformbewegung stehen. Aber Sie, Herr Minister Eichel, lieber Schuldenkönig, Sie sind lediglich der statt ernsthaft darzustellen, Buchhalter. Wie ein Notar – dafür werden Sie gut be- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Die zahlt – stellen Sie fest: Auf die Krise gibt es nur eine Wahrheit tut weh!) Antwort: Schulden, Schulden, Schulden! wie das Problem entstanden ist. Da gehört die Mitverant- Stattdessen müssten Sie an der Spitze der Arbeits- wortung des Bundesrats und der CDU/CSU und der FDP marktreformen stehen. Sie müssten an der Spitze der genauso auf den Tisch wie die Verantwortung der Koali- Entbürokratisierung stehen. Sie müssten an der Spitze tion. Die Bevölkerung will Lösungen sehen und nicht der Bewegung für die Sozialreformen stehen. Sie müss- solche dümmlichen Sprüche hören. ten mit den Kollegen in den Ressorts endlich einmal kämpfen, damit diese weniger ausgeben. Wir in der (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Er hat Union wissen, wie schwierig es ist, in der Sozialpolitik doch etwas dazu gesagt!) gemeinsame Positionen zu finden. Sie können sich gerne Glauben Sie denn, dass sich irgendjemand von Ihren bei uns darüber informieren, wie man solche Diskussio- Sprüchen auch nur die geringste Lösung verspricht? Das nen organisiert. Aber Sie sind lediglich der Zuschauer darf doch nicht wahr sein. des Abstiegs dieses Landes. Die Bertelsmann Stiftung hat gerade festgestellt: Bei einem internationalen Stand- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ort-Ranking von 21 Industrienationen nimmt die Bun- und bei der SPD) desrepublik Deutschland den letzten Platz ein. Das ist Dass wir, die Koalition, diesen Nachtragshaushalt eine Katastrophe. nicht gerne vorlegen, ist völlig klar. Niemand legt gerne Wir wollen mehr aus Deutschland machen. Das ist die einen Nachtragshaushalt mit einer Nettokreditaufnahme Aufgabe für unser Land. in Höhe von über 14 Milliarden Euro vor. Das ist völlig klar. Da reden wir uns nicht heraus. Sie müssen aber die (Beifall bei der CDU/CSU) Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Solange Sie das nicht tun, verschärfen Sie die Probleme unseres Landes. Sie Wir wollen es nicht schlechtreden. führen unser Land in eine riesige Haushaltsnot, 12076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) Finanzminister war sehr kraftvoll! – Dietrich Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Austermann [CDU/CSU]: Wer regiert denn ei- Austermann? gentlich?) weil Sie im Vermittlungsverfahren das Steuervergünsti- Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE gungsabbaugesetz abgelehnt haben, obwohl Sie ganz GRÜNEN): genau wissen, dass das allein im Entstehungsjahr ein Vo- Ja, ich gestatte sie. lumen von 17 Milliarden Euro hatte. Sie haben nur einer Summe von 2,4 Milliarden Euro zugestimmt, sodass wir Dietrich Austermann (CDU/CSU): im Entstehungsjahr auf einem Defizit von 14,5 Milliar- Frau Kollegin, ich habe mich bloß gemeldet, damit den Euro sitzen geblieben sind. Sie Gelegenheit bekommen, Luft zu holen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im letzten Jahr haben Sie beim Vermittlungsverfahren Das ist ja wunderbar. Ich trinke Wasser. Prost! zum Haushalt unserem Haushaltsbegleitgesetz nicht Ihre Zustimmung gegeben. Sie schreien noch heute, wenn Sie das Wort Eigenheimzulage hören und machen sich regel- Dietrich Austermann (CDU/CSU): recht nass, weil Sie nicht in der Lage sind, eine solche Meinetwegen können Sie auch etwas trinken, damit Subvention in Höhe von heute 11 Milliarden Euro abzu- Sie sich nass machen können, wie Sie eben gesagt ha- bauen. Stattdessen stellen Sie im Haushaltsausschuss ben. Anträge, 50 000 Euro bei Dienstreisen, Sachverständi- gen und Konferenzen einzusparen, und meinen, das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: würde zur Haushaltskonsolidierung beitragen. Ich Jetzt reicht es aber, Herr Austermann. glaube, Sie haben die Dimension des Problems und die Dimension der Steuersubventionen völlig aus dem Blick verloren. Die Steuersubventionen müssen abgebaut wer- Dietrich Austermann (CDU/CSU): den, damit wir unseren Haushalt konsolidieren können. Sie haben darauf hingewiesen, dass wir uns im Ver- mittlungsausschuss verweigert hätten. Sind Sie erstens (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Steuer- bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Bundesfinanz- (B) subventionen haben zugenommen!) minister in dem Finanztableau, das Herr Kollege (D) Kampeter vorhin erwähnt hat, Vorschläge für die Kür- Ich erwarte auch diesmal wieder ein absolut peinli- zung von Subventionen in der Größenordnung von ches Vermittlungsverfahren. Jetzt gerieren Sie sich im 24,5 Milliarden Euro im gesamten Jahresverlauf ge- Haushaltsausschuss als kleine Könige, die hier und da macht hat und wir der Kürzung um 22,7 Milliarden Euro das Hemd um zehn Zentimeter kürzen, aber im Vermitt- zugestimmt haben? lungsausschuss behaupten Sie wieder, dass Sie die Strei- chung der Eigenheimzulage niemandem zumuten könn- ten. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben die Nein! Zahlen überhaupt nicht im Griff!) – Doch, ich habe die Zahlen sehr wohl im Blick. Das ist Dietrich Austermann (CDU/CSU): das Problem. Sie wollen bei kleinen Summen sparen und Doch. Die Differenz beträgt genau 1,834 Milliarden beispielsweise die finanzielle Ausstattung der Öffent- Euro. lichkeitsarbeit der Regierung beschneiden, weil Sie mei- Sind Sie zweitens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, nen, damit könnten Sie Probleme in einer Größen- dass die Behauptung, wie hätten uns grundsätzlich ordnung von Milliarden Euro lösen. Wenn aber Ihre verweigert, falsch ist und dass im Rahmen der von uns Verantwortung gefragt ist, nämlich im Vermittlungsver- gemeinsam beschlossenen Kürzungsvorschläge eine fahren, dann kneifen Sie und sagen, dass Sie der Bevöl- 30-prozentige Kürzung der Eigenheimzulage vorgese- kerung beispielsweise die Streichung der Eigenheimzu- hen war? Sind Sie bereit, das zuzugeben? lage nicht zumuten können. Im vorigen Jahr haben Sie genauso bei der Entfernungspauschale gekniffen. Sie ha- ben bei dem mutigen Einschnitt, von dem wir sehr wohl Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE wissen, dass er der Bevölkerung und insbesondere den GRÜNEN): Arbeitnehmern viel zumutet, gekniffen. Daher weiß ich Ich bin erstens insofern nicht bereit, das zuzugeben, überhaupt nicht, warum Sie sich hier ständig aufblasen. als Sie sich auf das erste Jahr beziehen. Man muss sich Das ist schon fast peinlich. aber auf das Entstehungsjahr beziehen, weil wir den Haushalt langfristig konsolidieren müssen und nicht ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fach nur eine kleine Ad-hoc-Kalkulation machen kön- und bei der SPD) nen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12077

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist uns aufeinander zubewegen, wenn wir in der Sache et- (C) falsch! Das ist der gesamte Finanzplanungs- was bewirken wollen. Das heißt – ich wiederhole mei- zeitraum!) nen Vorschlag –: Wir brauchen einen langfristigen Kon- solidierungspakt, der mit dem klaren und eindeutigen Das Problem besteht nämlich darin, dass Sie das nicht Abbau der Steuersubventionen beginnt. Das betrifft an mittragen. erster Stelle die Eigenheimzulage, bei der Ihre Bereit- Des Weiteren ist es, wie Sie alle wissen, notwendig schaft zur Zusammenarbeit einem ersten Test unterzogen – weil der Aufwuchs der Steuereinnahmen trotz des zur- wird. Dabei geht es aber auch um die Entfernungspau- zeit zu verzeichnenden Wachstums nicht so hoch ist, wie schale, die Mehrwertsteuer auf Flugbenzin und andere wir alle dies erhofft haben –, sowohl die im vorigen Jahr Subventionen bis hin zur Wohnungsbauprämie und dem gemeinsam beschlossenen als auch weiter gehende Kür- Dienstwagenprivileg. Es gibt eine Reihe von Maßnah- zungen vorzunehmen. Darüber diskutieren wir heute. men, die auch uns keinen großen Spaß machen, die aber dringend notwendig sind, wenn wir vorankommen wol- Es nützt nichts, immer wieder zu fragen, wer welchen len. Anteil an den vorhandenen Schulden hat. Heute müssen wir vielmehr diskutieren, was jetzt getan werden muss, Erst wenn wir gemeinsam bereit sind, einen solchen um die Probleme zu lösen. Insofern kommen Sie nicht Konsolidierungspakt zu beschließen und klare Verabre- darum herum, sich zur Eigenheimzulage und zu weiteren dungen zwischen Bund und Ländern zu treffen, werden Paketen zum Subventionsabbau zu verhalten und Ihrer- wir aus der Misere herauskommen. Das einfache Hoffen seits dazu Vorschläge zu machen. und Warten auf Wachstum hilft nicht, weil wir lernen müssen, dass die Steuereinnahmen nicht proportional Womit wir auf keinen Fall klarkommen, ist die Art zum Wachstum steigen. Das gilt besonders für den und Weise, in der Sie derzeit in den Haushaltsberatungen Bund, aber auch für die Länder und Kommunen. verfahren. Das gilt auch für die FDP, die in etwas rigide- rer und teilweise völlig absurder Form die Meinung ver- Insofern fordere ich Sie auf, endlich konstruktiv an ei- tritt, wir könnten an den Zuschüssen und Beiträgen, die ner Lösung der Probleme mitzuarbeiten, statt weiter mit wir für die internationalen Organisationen zahlen müs- uns zu streiten, während die Probleme immer schlimmer sen – dazu sind wir verpflichtet –, wild herumstreichen. werden. (Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt doch gar Danke schön. nicht! Es geht um zusätzliche freiwillige Bei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN träge!) und bei der SPD) Das nennen Sie Haushaltskonsolidierung, obwohl man (B) (D) genau weiß, dass die auf diese Weise eingesparten Mittel Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nach einem halben Jahr wieder als überplanmäßige Aus- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Koppelin. gabe anfallen. Dabei handelt es sich nicht um eine reale Einsparung; es sieht nur auf dem Papier schön aus. Jürgen Koppelin (FDP): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und bei der SPD) Kollegin Eichstädt-Bohlig, ich finde es etwas unfair, sich hier als solide Haushaltspolitikerin zu präsentieren, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: aber dann, wenn es im Haushaltsausschuss, der in den Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des letzten Tagen über den Haushaltsplan 2005 beraten hat, Kollegen Kampeter? an das Eingemachte geht, sämtliche Einsparanträge ab- zulehnen. Wir befinden uns mitten in den Beratungen und Sie haben alle Kürzungsvorschläge beispielsweise Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE der FDP abgelehnt. Bei den Grünen ist nichts mit solider GRÜNEN): Haushaltspolitik. Nein, ich habe keine Lust, diesen Streit fortzusetzen. (Zuruf der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie kneift! [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie hat ja auch keine Ahnung!) – Da Sie dazwischenrufen, möchte ich Ihnen sagen, dass Wir können ihn sachlich im Haushaltsausschuss weiter- mich die Haushaltspolitik der Grünen an Schnittlauch er- führen, wo wir das Thema weiter beraten werden. Wir innert: außen grün, innen hohl, nichts anderes. sind sehr gespannt auf Ihren Beitrag dazu. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Ich möchte noch eines feststellen, weil ich glaube, Abgeordneten der CDU/CSU) dass das, was wir heute diskutieren, bei der Lösung der bestehenden Probleme nicht weiterhilft: Wir wissen Herr Eichel, bereits in den Haushaltsberatungen ha- – ich habe das in der ersten Beratung des Haushaltsge- ben wir von der FDP-Fraktion darauf hingewiesen, dass setzes schon ausgeführt –, dass die Koalition und die Ihr Haushaltsplan unrealistisch ist. Auf der Einnahmes- Opposition aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Bun- eite hatten Sie geschönte Zahlen und auf der Ausgaben- desrat aufeinander angewiesen sind. Von daher kommen seite war zum Beispiel die Arbeitslosigkeit unterfinan- wir mit einem Pingpongspiel, wie es eben dargestellt ziert. Das konnte einfach nicht gut gehen. Wenn Sie wurde, nicht weiter. Notwendig ist vielmehr, dass wir heute behaupten, eigentlich hätten Sie schon im Mai 12078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Jürgen Koppelin (A) gewusst, dass Sie einen Nachtragshaushalt vorlegen len Schulden ist unsolide und eine Belastung der zukünf- (C) müssen, dann frage ich Sie, warum Sie keine Haushalts- tigen Generationen, die für die Folgen der Politik von sperre verhängt und kein Haushaltssicherungsgesetz Rot-Grün zahlen müssen. Das ist ein einziger Skandal. verabschiedet haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall des Abg. Norbert Königshofen [CDU/ der CDU/CSU) CSU]) Wenn man die Begründung Ihres Gesetzentwurfs Alle Möglichkeiten, die Sie als Bundesfinanzminister liest, dann stellt man fest, dass alles an den Haaren her- haben, haben Sie nicht genutzt. Sie haben gar nichts ge- beigezogen ist. Sie räumen zwar ein – das können wir macht. nur bestätigen –, es gebe eine Störung des gesamtwirt- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schaftlichen Gleichgewichts. Aber dann behaupten Sie – das ist wirklich eine abenteuerliche Begründung der Der Nachtragshaushalt für das Haushaltsjahr 2004 ist Bundesregierung für den Nachtragshaushalt –, Deutsch- das Dokument eines haushaltspolitischen Scherbenhau- land sei von der weltwirtschaftlichen Abkühlung betrof- fens, den Sie uns seit Jahren präsentieren und der noch fen und diese werde durch die Terroranschläge sowie die immer wächst. Herr Minister Eichel, Sie sind zum Spannungen und die Kriegsereignisse im Mittleren Os- Schuldenminister geworden. Darauf hat der Kollege ten verstärkt. Das habe die Konsumenten verunsichert. Kampeter schon hingewiesen. Ich finde es traurig und Gleichzeitig behauptet die Bundesregierung, die leichte tragisch – das gilt genauso für Ihre heutige Rede –, dass Konjunkturerholung lasse sich auf die dynamische Aus- die Koalition die Aufnahme von so vielen Schulden auch landsnachfrage zurückführen. Ich habe den Eindruck, noch beklatscht. Herr Minister Eichel, inzwischen habe dass das außer Deutschland kein anderes Land betrifft. ich den Eindruck, dass die Koalition auch dann klat- Wenn Sie sich die Zahlen der anderen Länder anschauen, schen würde, wenn Sie das Telefonbuch von Kassel vor- dann werden Sie feststellen, dass diese gar nicht so lesen und als Erfolg Ihrer Haushaltspolitik verkaufen schlecht dastehen. Herr Kampeter hat bereits darauf hin- würden. gewiesen, dass wir froh wären, wenn wir solche Zahlen vorweisen könnten. Sie ziehen alles an den Haaren (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der herbei. Schuld haben immer die anderen: das Ausland, CDU/CSU) insbesondere die USA, oder – wenn es gar nicht mehr Die FDP hat Sie rechtzeitig darauf hingewiesen, dass anders geht – die Opposition. Nur der Bundesfinanzmi- Sie einen unrealistischen Haushaltsplan für 2004 vorle- nister hat keine Schuld. gen und dass Sie gezwungen sein werden, einen Nach- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tragshaushalt vorzulegen. Sie haben das abgestritten. (B) der CDU/CSU) (D) Das hat Ihr Staatssekretär im Haushaltsausschuss eben- falls getan und behauptet, es gebe 2004 keinen Nach- Ich komme zum Schluss. Die Bürger haben Ihre Poli- tragshaushalt. Aber jetzt müssen Sie einen präsentieren. tik längst durchschaut. Gestern wurde eine Umfrage Ich füge noch hinzu: Das wird nicht der letzte Nach- veröffentlicht, wonach 83 Prozent der Deutschen der tragshaushalt in diesem Jahr sein. Sie sind so pleite und Auffassung sind, dass die Bundesregierung bei der Ein- haben dieses Land so heruntergewirtschaftet, dass Sie in dämmung der Staatsverschuldung keine gute Arbeit leis- diesem Jahr noch einen Nachtragshaushalt vorlegen tet. 83 Prozent der Bürger! Mit dem Nachtragshaushalt müssen. Das hat Ihre Rede bestätigt. Kommen Sie außer- 2004 hat Bundesminister Eichel seinen haushaltspoliti- dem nicht immer mit neuesten Nachrichten. Auch ich schen Bankrott erklärt. Ihnen bleibt eigentlich nur noch habe eine neueste Nachricht. Heute melden die Nach- der Rücktritt; er würde in Deutschland mit Erleichterung richtenagenturen – das wird von Ihrem Haus bestätigt –, zur Kenntnis genommen. Herr Minister, Sie sollten dass die Einnahmen und Ausgaben so weit auseinander wirklich zurücktreten. Dies würde in Deutschland für ein klaffen, dass Sie bereits bei 53,7 Milliarden Euro Miesen Anspringen der Konjunktur sorgen. sind. Ihr Nachtragshaushalt reicht also überhaupt nicht. Vielen Dank für Ihre Geduld. Herr Bundesfinanzminister Eichel, Sie verlangen heute, dass der Deutsche Bundestag mit der Verabschie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – dung des Nachtragshaushalts auch Ihre Verfehlungen in Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kein ein- der Etatplanung, die Verletzung von Vorschriften, deren ziges Sachargument! Alles Polemik!) Einhaltung zu einer soliden Haushaltspolitik gehört, Ver- stöße gegen das Grundgesetz und eine gigantische Net- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: toneuverschuldung absegnet. Das können Sie mit uns Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Schöler. nicht machen und das können Sie von uns auch nicht er- warten. Walter Schöler (SPD): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sonst hat immer der Kollege Austermann den Rücktritt des Fi- Statt 29,3 Milliarden Euro sollen nun 43,7 Milliarden nanzministers gefordert. Heute gibt es offenbar eine Ar- Euro neue Schulden aufgenommen werden. Damit Sie beitsteilung. wissen, wie das optisch aussieht, halte ich einmal ein Schild hoch, auf dem Ihre Schuldenzahl geschrieben (Manfred Grund [CDU/CSU]: Heute machen steht. Frau Eichstädt-Bohlig, die Aufnahme von so vie- Sie es, oder was?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12079

Walter Schöler (A) Diese Aufgabe hat Kollege Koppelin übernommen. Man Euro. Die Zahlen, die Sie, Kollege Koppelin, gerade in (C) müsste einmal in den Protokollen nachsehen, wie oft Sie die Welt gesetzt haben – ihn gefordert haben. Jede Rücktrittsforderung ist eine (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie hoch Niederlage für Sie, die Sie wahrscheinlich noch sehr ist die Zahl?) häufig erleben werden. – 14,4 Milliarden Euro, lieber Kollege Austermann. (Beifall bei der SPD) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist ja Fordern Sie den Rücktritt ruhig weiter. Wir gestalten un- doppelt so viel wie die Eigenheimzulage!) seren Haushalt und unsere Reformpolitik, während Sie Beiträge schuldig bleiben. Ich habe einmal nachgerechnet und bin zu dem Ergebnis gekommen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das habe Meine Damen und Herren, es ist sicherlich nicht an- ich im Februar schon gesagt!) genehm, einen Nachtrag zu präsentieren, obwohl er we- dass es im Hinblick auf Ihre Prognosen zu den letzten der einen Mangel noch eine Sünde darstellt. Nachträge fünf Haushalten 4 : 1 gegen Sie steht. dienen einer Korrektur aufgrund neuer Entwicklungen. Insbesondere dann, wenn ein Haushalt auf der Basis von Die Wirtschaft wächst zwar – dies wissen auch Sie –, Schätzungen nach bestem Wissen und Gewissen aufge- aber das macht sich bei den Steuereinnahmen noch nicht stellt worden ist, ist ein Nachtrag überhaupt nichts Fal- bemerkbar, weil sich die Binnennachfrage nicht so stabi- sches. Die Entwicklungen, die zu diesem Nachtrags- lisiert hat, wie wir es wahrscheinlich alle erhoffen. haushalt geführt haben, wollen wir uns jetzt einmal Das Gesamtdefizit mit nun 43,7 Milliarden Euro ist ansehen. auch uns viel zu hoch; dies räume ich durchaus ein. Aber Zunächst geht es um Prognosen. Wer hat diese Pro- schauen wir uns einmal die Ursachen an: Den größten gnosen erstellt? Anteil an der Deckungslücke hat nicht die Ausgaben- seite, wie Sie immer behaupten. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die ande- ren sind schuld!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Es ist das Wetter! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unabhängige Institute und Einrichtungen. Was ist aus 25 Milliarden Euro mehr seit Regierungs- den Prognosen der letzten Jahre geworden? Wir alle wis- wechsel!) sen es und können es an den Statistiken nachvollziehen: Wären bei den Ausgaben umfangreiche Einsparungen (B) Leider sind die Prognosen nicht eingetreten; die Realität (D) ist auch in diesem Jahr eine andere gewesen. Deshalb möglich gewesen, hätten Sie bei der Beratung des Haus- müssen wir die Planung mittels eines Nachtragshaus- halts 2004 nicht 326 leere Änderungsanträge abgeliefert, halts dieser Realität anpassen. ohne einen einzigen Änderungsvorschlag zu machen. Sie haben ja selbst keine Möglichkeiten zur Einsparung Eine solche Anpassung macht allerdings nur dann gesehen. Sinn, wenn man nicht wie Sie mit der Stange im Nebel (Beifall bei der SPD – Dietrich Austermann herumstochert, [CDU/CSU]: Weil wir gesagt haben, der Haus- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wer im halt ist nicht brauchbar! Er war so schlecht, Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen wer- den konnte man nicht verbessern!) fen!) Sie haben Ihre Arbeit zumindest nicht erledigt. sondern klare Zahlen auf den Tisch legt. Deshalb haben Richtig ist, dass wir über die ganzen Jahre Konsoli- wir darauf gewartet, dass die September-Zahlen vorlie- dierungspolitik betrieben und die Ausgaben eng be- gen. grenzt haben. Sie können uns auch deshalb nicht den Vorwurf ma- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: 25 Milliarden chen, der Nachtrag sei verspätet vorgelegt worden, weil Euro mehr und Sie reden von Begrenzung, Sie ganz genau wissen, dass bereits nach der Steuer- Herr Schöler?) schätzung im Mai erklärt wurde, es gebe eine Deckungs- lücke von 10 bis 11 Milliarden Euro. Über diese Planab- Wir haben das Konzept von Koch und Steinbrück nach weichung sind Sie im Haushaltsausschuss sehr detailliert den Festlegungen im Vermittlungsausschuss umgesetzt informiert worden. Angesichts der diesjährigen Achter- und globale Einsparungen in Höhe von weiteren bahnfahrt bei den Steuereinnahmen musste man mit der 2 Milliarden Euro im Haushalt verankert. Vorlage exakter Daten unbedingt bis jetzt warten. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Werfen Sie Unmittelbar nach Vorliegen der neuen Zahlen hat der doch hier keine Nebelkerzen!) Finanzminister den Nachtragshaushalt vorgelegt. Diese sparsame Ausgabenlinie wird auch im Haushalt Wir alle wissen, dass es bedauerlicherweise seit Mai 2005 verfolgt werden. Dies werden Sie in den weiteren eine weitere Verschlechterung der Steuerbasis gegeben Haushaltsberatungen noch feststellen können. Die hat. Deshalb beraten wir jetzt über einen Nachtrag mit zweite Stufe des Koch/Steinbrück-Konzepts wird umge- einer zusätzlichen Deckungslücke von 14,4 Milliarden setzt werden. Die globalen Einsparungen von 12080 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Walter Schöler (A) 2 Milliarden Euro aus 2004 werden auf 2005 überwälzt; Sie haben bis 1998 riesige Schuldenberge angehäuft, (C) zusätzlich wird noch 1 Milliarde Euro eingespart wer- in Zeiten, in denen die konjunkturelle Lage wesentlich den. besser war als heute. Das war Ihr Fehler. Vergleichen wir 2005 mit 1998, Ihrem letzten Regie- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Franziska rungsjahr, so sind über diesen langen Zeitraum die Aus- Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gaben preisbereinigt um 1,6 Milliarden Euro oder NEN]) 0,7 Prozent gesunken. Wir haben also gewaltig konsoli- diert. Das war oft sehr schmerzhaft; das wissen wir. Sie In den Zeiten, in denen man es sich erlauben konnte zu haben das nie zustande gebracht. sparen – ich nehme die Zeit der Herstellung der deut- schen Einheit ausdrücklich aus –, haben Sie Schulden- Ihre Behauptung, Herr Austermann, die Sie immer berge angehäuft, die uns heute belasten. Wir können uns wiederholen, wir würden nicht sparen, sondern kräftig darüber streiten, wer Schuldenweltmeister ist oder mehr ausgeben, bleibt. Es bleibt so lange , wie seine Schul- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja, volle denaufnahme gemessen am Bruttoinlandsprodukt höher Pulle! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: ist als die des Finanzministers Eichel. 25 Milliarden mehr!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jochen- ist einfach gelogen. Die Ausgaben haben wir im Griff, Konrad Fromme [CDU/CSU]: Da hat er lange aber die dreijährige Stagnation hat die Einnahmeseite gesucht, bis er die Zahl gefunden hat!) verhagelt. Ich will Ihnen nur noch sagen: Wir halten uns an (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Weltwirt- Art. 115 Grundgesetz. Wir wollen die Störung des ge- schaft wächst um 4,5 Prozent und Sie reden samtwirtschaftlichen Gleichgewichts überwinden. An- von Stagnation! Wo leben Sie?) gesichts der viel zu hohen Arbeitslosigkeit kann es doch gar keinen Zweifel daran geben, dass das gesamtwirt- 13 Milliarden Euro weniger an Steuereinnahmen müssen schaftliche Gleichgewicht nach wie vor gestört ist. wir verzeichnen. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das müs- Sie können hier Statistiken vortragen, so viel Sie wol- sen Sie mal Herrn Clement erklären!) len. Wir haben natürlich unsere Es kann nicht ernsthaft die Alternative sein, jetzt eine (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die sind im – falsche – Sparpolitik zu betreiben, insbesondere durch Zweifel gefälscht!) Kürzungen und Abbruch von Investitionsprojekten. Ge- (B) und das sind offensichtlich die richtigen, die offiziellen. nau das würde die Stabilisierung der Binnennachfrage (D) Sie tragen eine wesentliche Verantwortung für die aufs Höchste gefährden. Deshalb sind diese Vorschläge Einnahmeausfälle; denn Sie haben im Vermittlungsver- überhaupt nicht handelbar. Deshalb würde deren Umset- fahren unsere Vorschläge zum Steuervergünstigungsab- zung uns nur schaden. baugesetz und zum Haushaltsbegleitgesetz nicht mitge- Im Übrigen: Es geht hier nicht um Peanuts. Wir reden tragen. Schreiben Sie sich die Zahlen noch einmal genau über rund 15 Milliarden Euro. Das sind 0,7 vom Hundert auf! des Bruttoinlandsprodukts. Das ist ein Volumen im Um- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Papier vom fang der zweigeteilten letzten Stufe der Steuerreform. Finanzministerium!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Da haben Sie haben mit Ihrer Blockade Einnahmeverbesserun- Sie sich verschätzt!) gen in Höhe von 25 Milliarden Euro für die Jahre 2004 Die nächste Stufe – das will ich noch einmal sagen – bis 2006 verhindert. kommt zum 1. Januar 2005. Die Bürgerinnen und Bür- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ger können darauf vertrauen: Diese rund 7 Milliarden DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ Euro werden ihnen ab 1. Januar 2005 gegeben. CSU]: Falsch! – Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Sie können nicht rechnen!) Ein zusätzliches Sparprogramm wäre konjunktur- schädlich. Deshalb blicken wir der angekündigten Ver- Sie haben unserem Land damit nachhaltig geschadet. fassungsklage der FDP auch sehr gelassen entgegen. Ich wiederhole: Der Nachtrag ist verfassungsfest, weil auf- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auch grund der hohen Arbeitslosenzahl das gesamtwirtschaft- falsch! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: liche Gleichgewicht gestört ist und drastische Ein- Stimmt nicht!) schnitte verantwortungslos wären. Sie von der CDU/ Über diesen Zeitraum von drei Jahren stünde der Bund CSU haben uns in den letzten Wochen gezeigt, dass Sie um 10,6 Milliarden Euro besser da, die Länder – sie ha- nicht einmal Opposition machen können. Wieso, frage ben auch riesige Haushaltsprobleme – um 9,9 Milliarden ich mich, wollen Sie da eigentlich regieren? Euro und die Gemeinden um 4,4 Milliarden Euro. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten alles geht auf Ihre Kappe. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir glauben Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Was Sie Ihren gefälschten Statistiken nicht!) machen, können wir allemal!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12081

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Joachim Poß [SPD]: Davon verstehen Sie ja (C) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernhard Kaster. etwas!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Dramatik der Staatsfinanzen reduziert sich nicht nur auf den heute vorliegenden Nachtragshaushalt. Die Bernhard Kaster (CDU/CSU): Dramatik liegt im immer schnelleren Wachstum der Schulden in nur wenigen Jahren. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Die heutige Debatte hätten wir uns sparen können. (Joachim Poß [SPD]: Die Dramatik liegt bei Wir haben auf jedes einzelne der jetzt entstandenen Mil- Merkel, Merz, Seehofer!) liardenlöcher schon vor einem Jahr hingewiesen. Die Herbeiführung dieses Nachtragshaushaltes ist keine (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja! – Einzeltat. Dieser Nachtragshaushalt von Finanzminister [SPD]: Aber keinen Vor- Eichel ist inzwischen das Werk eines Wiederholungstä- schlag gemacht!) ters. Hätten Sie uns damals zugehört, dann hätten wir uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht nur die heutige Debatte sparen können, sondern vor allem unserem Land 44 Milliarden Euro neuer Seit drei Jahren legen Sie dem Bundestag Jahr für Jahr Schulden. einen Nachtragshaushalt mit neuen Milliardenschulden vor. So haben Sie in nur drei Jahren 114,2 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Euro neue Schulden angehäuft. Im dritten Jahr in Folge neten der FDP) begehen Sie als Folge eines Verstoßes gegen Art. 115 Wie haben Sie uns verhöhnt, als wir den manipulier- Grundgesetz Verfassungsbruch, denn die Neuverschul- ten und geschönten Haushalt 2004 als nicht beratungsfä- dung liegt weit über den Investitionen. Im dritten Jahr in hig abgelehnt haben! Folge begehen Sie als Folge eines Verstoßes gegen Art. 110 Grundgesetz Verfassungsbruch. Das heißt, Sie (Beifall bei der CDU/CSU) legen einen manipulierten Haushalt mit zu hoch ge- schätzten Einnahmen und mit zu niedrig geschätzten Sie haben einfach weggehört, als wir Ihnen vorgerechnet Ausgaben vor. haben, dass sowohl der Bundesbankgewinn als auch die geplanten Steuereinnahmen fern jeglicher Realität ver- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wo ist ei- anschlagt seien. Sie haben gegen alle fachlichen Rat- gentlich der Unterschied zu den Griechen?) schläge eine Erhöhung der Tabaksteuer durchgesetzt, (B) von der nicht der Haushalt, sondern nur die organisierte Im dritten Jahr in Folge lassen Sie das Haushaltsrecht (D) Kriminalität profitiert. des Parlamentes zur Farce verkommen, indem Sie per Nachtragshaushalt zum Jahresende – dann gibt es keine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gestaltungsmöglichkeiten mehr – Ihren manipulierten neten der FDP) Haushalt mit neuen Schulden ausgleichen. Schon ein paar Wochen nach In-Kraft-Treten des Diese Vorgehensweise ist längst zur Regel geworden. Haushaltes 2004 offenbarte die im Mai veröffentlichte Dabei handeln Sie, Herr Minister, nicht etwa fahrlässig Steuerschätzung das katastrophale Ausmaß Ihrer Fehl- oder grob fahrlässig. Nein, es ist viel schlimmer: Herr planung. Es geht uns hier nicht um Rechthaberei. Diese Finanzminister, Sie handeln mit Vorsatz, Sie handeln mit Zahlen müssen aber auch Sie, die Abgeordneten der Ko- Absicht, im Bewusstsein dessen, was man damit anrich- alition, regelrecht erschrecken: 43,7 Milliarden Euro tet. neue Schulden nur in diesem Jahr; jedes Jahr rund 40 Milliarden Euro Zinsleistungen und das bei niedri- (Walter Schöler [SPD]: Der Haushalt ist vom gem Zinsniveau; über 114 Milliarden Euro neue Schul- Parlament verabschiedet worden!) den in nur drei Jahren! Die Opfer Ihrer Taten, nämlich unsere Kinder, können (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! sich leider noch nicht wehren. Hören Sie endlich auf mit Hört!) einer Politik, die vor allem einen Verlierer kennt: die jungen Menschen in unserem Land. Diese Bundesregierung und dieser Finanzminister rui- nieren die Zukunft unserer Kinder. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Sanierung des Haushaltes ist nur durch Wirt- neten der FDP) schaftswachstum als Folge einer neuen Steuerpolitik, einer neuen Arbeitsmarktpolitik und eines grundlegen- Mit Tricksen, Tarnen und Täuschen verschleiern Sie den Umbaus unserer Sozialsysteme möglich. Durch gegenüber den Bürgern das wahre Ausmaß Ihrer giganti- sinnvolles Sparen müssen zugleich wieder Handlungs- schen Schuldenpolitik. Sie vertrauen auf die Unwissen- spielräume geschaffen werden. heit der Bürger. Sie vertrauen auf die Unüberschaubar- keit des gigantischen Schuldenberges. Sie vertrauen (Joachim Poß [SPD]: Hohle Sprüche! – Walter natürlich auch auf die blinde Loyalität und Parteiräson Schöler [SPD]: Dann machen Sie mal Vor- hier in der Koalition. schläge!) 12082 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Bernhard Kaster (A) In Zeiten, in denen Millionen Menschen um ihre nackte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Existenz fürchten, ist es ein Skandal, dass Sie – dies ist neten der FDP – Steffen Kampeter [CDU/ nur ein einziges Beispiel – eine Viertelmilliarde nur für CSU]: Sehr wahr!) Öffentlichkeitsarbeit und Werbung ausgeben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bezeichnend, dass wir die erste Lesung zum Nachtrags- der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: haushaltsgesetz heute in den Stunden der Abenddämme- Wohl wahr! Eine riesige Geldverschwen- rung in einer Kurzdebatte vornehmen. dung!) (Joachim Poß [SPD]: Sag doch einmal etwas Mit Sparen allein ist es jedoch nicht getan. Wir brau- zu Koch! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] chen einen Abbau von Bürokratie, weniger Staat, ein [SPD]: Das regeln Sie einmal mit Ihren Ge- neues betriebswirtschaftlich ausgerichtetes Haushalts- schäftsführern! Herr Kalb, das war einver- recht und wirksame Bremsen zum Stoppen dieser unver- nehmlich beschlossen!) antwortlichen Schuldenpolitik. Wir brauchen eine bes- sere Handhabe, um die Bürger vor einer solchen Es scheint Ihnen peinlich zu sein, überhaupt darüber re- Bundesregierung und einem solchen Bundesfinanzmi- den zu müssen, nister zu schützen. (Beifall des Abg. Jochen-Konrad Fromme (Beifall bei der CDU/CSU) [CDU/CSU]) Diese Legislaturperiode hat es ans Licht gebracht: dass Sie sich mit diesem Nachtragshaushalt die höchste Finanzminister Eichel ist ein Wiederholungstäter. Neuverschuldung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland genehmigen lassen wollen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat- ten wir doch schon mal!) (Beifall bei der CDU/CSU) Für Wiederholungstäter gibt es keine Bewährung! Sie wissen selbst, dass dieser Nachtragshaushalt ein Dokument des Scheiterns Ihrer Haushalts- und Finanz- Vielen Dank. politik ist. Sie wissen auch, dass Sie damit selber bestäti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen, dass Ihre Politik Lichtjahre von einer soliden Haus- neten der FDP) halts- und Finanzpolitik entfernt ist. Er ist auch der Beweis dafür, dass die uns in den zurückliegenden Jah- ren vorgelegten Stammhaushalte nichts, aber auch gar Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nichts mit Haushaltswahrheit und -klarheit zu tun hatten. (B) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat (D) jetzt der Abgeordnete Bartholomäus Kalb das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Kollege Kaster hat vorhin auf die Abweichungen zwischen Haushaltsplan und Abschluss hingewiesen: 2002 gab es eine Abweichung um 51,9 Prozent, 2003 Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): eine um 104,2 Prozent und 2004 jetzt eine um 49,1 Pro- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und zent. Da sagen Sie, das habe etwas mit Seriosität zu tun. Herren! Ich habe gestern in meinem Büro zufällig eine Wenn ein Finanzvorstand eines Unternehmens solche Anzeige der Bundesregierung aus dem Jahre 2000 ge- großen Abweichungen wie Sie konstatieren müsste, funden. dann würde er sich nicht einmal mehr aus dem Hinter- (Walter Schöler [SPD]: Welch ein Zufall!) ausgang des Unternehmens heraustrauen, ganz zu schweigen vom Haupteingang. In der oberen Hälfte sieht man den Bundesfinanzminis- ter, unten steht: „Nur wer eisern spart, kann sich auch et- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- was leisten.“ neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Wen meinen Sie? Kirch, die Bayerische Landes- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bank oder wen?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- chen bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Das größte Problem ist, dass Sie stets falsche Annah- ten der FDP) men zugrunde legen, und zwar auch in offiziellen Doku- menten und nicht nur in Wahlkampfanzeigen. In der Ka- Jeder, dem ich diese Anzeige gezeigt habe, brach in binettsvorlage zur Haushaltsaufstellung vom 14. Juni schallendes Gelächter aus. 2002 schreiben Sie: (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Zeig mir Auf der Basis der vereinbarten Eckwerte ist es mal das Bild!) möglich, ab 2004 einen nahezu ausgeglichenen Herr Minister, das führt doch dazu, dass Sie und die ge- Staatshaushalt zu erreichen. samte Politik nicht mehr ernst genommen werden und Was Sie erreicht haben, sehen wir ja jetzt an dem Nach- nicht mehr ernst genommen werden können. Sie geben tragshaushalt – nahezu ausgeglichen! sich mit Ihren eigenen Worten und Taten der Lächerlich- keit preis. Das ist noch schlimmer, als wenn man sich (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! nur der Kritik stellen muss. Hört!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12083

Bartholomäus Kalb (A) In dem gleichen Papier beschreiben Sie auch die Situa- Er war Verhandlungsführer beim föderalen Konsolidie- (C) tion in den Jahren 2005 und 2006: rungsprogramm usw. Sie haben die Steuerreform blo- ckiert und andere Reformen sofort zurückgenommen. Der Staatshaushalt in der auf europäischer Ebene Und da wundern Sie sich, dass die Dinge alle schief ge- maßgeblichen Abgrenzung ist dann ausgeglichen, gangen sind und das Land an der Binnennachfrage- weil dem Restdefizit des öffentlichen Gesamthaus- schwäche leidet! Sie können nicht immer auf andere haltes unter anderem ein Überschuss der Sozialver- weisen; alles hat einen Namen. sicherung gegenüber steht. Wenn ich die Dinge recht in Erinnerung habe, haben Sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wenige Monate darauf die Umsetzung der nächsten Herr Kollege – – Stufe der Steuerreform verschoben und gleichzeitig hö- here Sozialversicherungsbeiträge verlangen müssen, weil ansonsten alles aus den Fugen geraten wäre. Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Das ist Ihre Verweigerungspolitik, das sind Ihre fal- Natürlich hat Herr Peffekoven Recht, wenn er schen Ansätze, Ihre Irritationen. Schauen Sie sich doch schreibt: Ihre eigenen Gesetze an, zum Beispiel die Gesetze zur Steuerreform, zu den Sozialreformen oder zur Renten- Bei permanent großen Spannen zwischen „Soll“ reform. und „Ist“ kann angenommen werden, dass bewusst unrichtige Veranschlagungen vorgenommen wer- den. Das führt zu Scheinbudgets. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, denken Sie bitte an das Ende der Rede- Man kann hinzufügen: Solche Scheinbudgets sind zeit. eine Täuschung der Bürger und des Parlaments. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass Herr Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Peffekoven Recht hat. Ich komme sofort zum Schluss. – Sie mussten zum Teil schon nachbessern, ehe die Gesetze überhaupt im (Zuruf von der SPD: Wir schweigen darüber!) Gesetzblatt standen, und erst recht, ehe sie in Kraft ge- Herr Finanzminister, Sie suchen die Schuld immer bei treten waren. den anderen. Sie sind sich nicht einmal zu schade, so et- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schlampige was in den Vorspann zum Finanzplan hineinzuschrei- Arbeit war das!) (B) ben. Dort steht wörtlich: (D) Mit 90 steuerändernden Gesetzen – Die letzten drei Jahre wirtschaftlicher Stagnation wie auch die Blockadepolitik der Oppositions- parteien im Vermittlungsverfahren... Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, bitte! Sie geben also uns die Schuld. Der Kollege Kampeter hat gerade die Marginalität der Auswirkungen unseres Einschreitens dargestellt. Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): – haben Sie die Wirtschaft in unserem Lande in einem (Walter Schöler [SPD]: Aber falsch!) Maße verunsichert, wie es bei einem seriösen Kaufmann eigentlich unvorstellbar wäre. Ihre eigenen Leute sind es, auch Mitglieder der Bundes- regierung, insbesondere Damen und Herren Staatssekre- Ich danke Ihnen. täre, die landauf, landab beklagen, dass die böse Koch/ Steinbrück-Liste, die im Vermittlungsausschuss eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mehrheit gefunden hat, schuld daran sei, dass jetzt an Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gute der einen oder anderen Stelle gespart wird. Wenn Sie Rede!) nicht sparen wollen, dann sagen Sie es. Dann müssten Sie aber auch aufhören, anderen die Schuld für die der- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zeitige Lage zu geben. Sie suchen immer bei den ande- Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache. ren die Schuld, dabei gab es zu keiner Zeit seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland eine Opposition, die so Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- konstruktiv mitarbeitet wie wir. wurfs auf Drucksache 15/4020 an den Haushaltsaus- schuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE weisung so beschlossen. GRÜNEN) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatz- – Natürlich! Herr Finanzminister Eichel war doch sei- punkt 6 auf: nerzeit Verhandlungsführer des Bundesrates, als es um die Privatisierung der Bahn ging. Er hat den Bund mit 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer den Regionalisierungsmitteln bis zum Plafond erpresst. Funke, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Daniel 12084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der des Patentrechts ist. Im Gegensatz zu dem Entwurf des (C) Fraktion der FDP Europäischen Parlaments erlaubt der Kompromissvor- schlag der Präsidentschaft im Ministerrat eine unbe- Richtlinie des Europäischen Parlaments und grenzte Patentierbarkeit und Patentdurchsetzbarkeit so des Rates über die Patentierbarkeit computer- genannter Softwarepatente. Der Entwurf des Rates fällt implementierter Erfindungen damit weit hinter den vom Parlament gebilligten Kom- – Drucksache 15/3240 – promiss zurück und wird deshalb den Anforderungen, Überweisungsvorschlag: die aus wettbewerbs- und industriepolitischen Gründen Rechtsausschuss (f) an den Regelungsgehalt der Richtlinie zu stellen sind, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit nicht gerecht. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Entgegen ihren ursprünglichen Ankündigungen hat Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sich die Bundesregierung in der Debatte über die Richtli- Ausschuss für Kultur und Medien nie im Mai überraschend gegen den vom Europaparla- ZP 6Beratung des Antrags der Abgeordneten ment gebilligten Richtlinienentwurf ausgesprochen. Die- Dr. Günter Krings, Wolfgang Bosbach, ser plötzliche Meinungswandel der Bundesregierung hat Dr. Norbert Röttgen, weiterer Abgeordneter und maßgeblich dazu beigetragen, dass der dem Willen des der Fraktion der CDU/CSU Europäischen Parlaments zuwiderlaufende Vorschlag der Ratpräsidentschaft im Ministerrat beschlossen Patentierbarkeit von Software begrenzen wurde. Das Votum der Bundesregierung erstaunt auch – Drucksache 15/3941 – insofern, als es im Widerspruch zu der von den Koali- Überweisungsvorschlag: tionsfraktionen mehrheitlich vertretenen Auffassung Rechtsausschuss (f) steht. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und Der Antrag der FDP ist deshalb aus zweierlei Grün- Technikfolgenabschätzung den motiviert. Zum einen soll eine fatale wirtschafts- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und ordnungspolitische Fehlentscheidung der Bundesre- Ausschuss für Kultur und Medien gierung korrigiert werden. Zum anderen müssen die Ko- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die alitionsfraktionen endlich einmal Farbe bekennen, wie Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider- sie es mit der Politik der Bundesregierung in Sachen spruch höre ich keinen. Dann ist auch so beschlossen. Softwarepatente halten. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) (D) der Abgeordnete Rainer Funke. Die Grünen haben auf ihrem Bundesparteitag vor kur- zem einen Beschluss gefasst, der im Ergebnis der Posi- Rainer Funke (FDP): tion der FDP entspricht. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf europäischer Ebene wird um die Schaffung einer Richt- (Otto Fricke [FDP]: Abschreiber! – Gegenruf linie über die Patentierbarkeit computerimplementierter des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE Erfindungen gerungen. Dieses Vorhaben ist von enormer GRÜNEN]: Ihre Position entspricht unserer wirtschaftspolitischer Bedeutung. Neben den ordnungs- Beschlusslage!) politischen Grundsatzfragen geht es im Kern vor allem um die Frage nach der künftigen Wettbewerbsfähigkeit Herr Tauss, auch in der SPD gibt es eine ernst zu neh- kleiner und mittlerer Softwareentwickler. Es ist des- mende Unterstützung für den Richtlinienentwurf in der halb kein Zufall, dass die Debatte um diese Richtlinie vom Europäischen Parlament gebilligten Fassung. Das äußerst kontrovers geführt wird. Bundesjustizministerium ist demgegenüber erkennbar bemüht, jede kritische Debatte über das Thema zu ver- Die notwendige und sinnvolle Vereinheitlichung der meiden. europäischen Patenterteilungspraxis in Sachen Software darf nicht zu einer materiellen Ausweitung des Patent- Unser Antrag ist für Sie, verehrte Kollegen aus den schutzes für Software führen. Koalitionsfraktionen, deshalb Chance und Herausforde- rung zugleich: Chance, weil Sie mit Ihrer Unterstützung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten unseres Antrags Ihrer eigenen Politik in Sachen Soft- der CDU/CSU) warepatente – das gilt auch für Sie, Herr Tauss – die Die einer Software zugrunde liegende Idee muss auch in Glaubwürdigkeit zurückgeben können; Herausforde- Zukunft prinzipiell gemeinfrei bleiben. rung, weil Sie durch die Unterstützung unseres Antrags das Votum der Bundesregierung im Ministerrat als das Das Europäische Parlament hat nach intensiven und bezeichnen, was es ist: ein Fehler. kontroversen Beratungen im September 2003 einen Richtlinienentwurf in erster Lesung gebilligt. Dieser Verehrte Kollegen, machen Sie sich in der Debatte um Entwurf stellt einen sachgerechten Kompromiss dar. Ins- die Richtlinie über die Patentierbarkeit computerimple- besondere enthält die vom Europäischen Parlament an- mentierter Erfindungen nicht zum unkritischen Erfül- genommene Fassung die notwendige Klarstellung, dass lungsgehilfen der Bundesregierung, sondern treffen Sie die Datenverarbeitung kein Gebiet der Technik im Sinne eine wirtschafts- und ordnungspolitisch verantwortungs- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12085

Rainer Funke (A) volle Entscheidung. Unterstützen Sie deswegen den An- Patentämter, insbesondere des Europäischen Patentam- (C) trag der FDP-Fraktion! tes, sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Soweit dies FDP und CDU/CSU genauso sehen, kön- nen wir ihren Anträgen folgen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP]) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gleichwohl haben wir, Herr Kollege Funke, hinsichtlich Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski. des FDP-Antrages einige Bedenken, die ich kurz anspre- chen möchte, die aber nicht gravierend sind. Bei der Frage der Patentierbarkeit computerimplementierter Er- Dirk Manzewski (SPD): findungen handelt es sich um einen sehr komplizierten Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ini- Sachverhalt. Die Pauschalität, mit der Sie an diese The- tiative der EU, auf die sich die uns vorliegenden Anträge matik herangehen, wird dem Thema aus meiner Sicht beziehen, zielt darauf ab, die Patentierungspraxis im Be- nicht gerecht und ist ihm nicht angemessen. reich der computerimplementierten Erfindungen zu ver- einheitlichen. Dies wird von uns grundsätzlich begrüßt. Weder kann den Ausführungen des Europäischen Par- laments vollinhaltlich gefolgt werden – Kollege Tauss (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!) hat diesen Einwurf schon gemacht – noch sind die des Die Möglichkeit zur Patentierung leistet in vielen Be- Rates in jeder Hinsicht abzulehnen. Um konkret zu wer- reichen einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Er- den: Es trifft eben nicht zu, dass es nach dem Vorschlag halt und zur Entwicklung der kreativen und wirtschaftli- des Rates zu einer unbegrenzten Patentierbarkeit und Pa- chen Potenziale. Patente – darüber sind wir uns einig – tentdurchsetzbarkeit in Bezug auf Software kommen sichern ihrem Urheber die Vorteile aus ihrer Nutzung würde. und führen zur Wertschöpfung. Patente sind nicht nur (Otto Fricke [FDP]: Aber kommen kann!) deshalb ein wichtiger Innovationsmotor. Das ist so nicht richtig. Ebenso wenig ist es jedoch ange- Dem Schutz des Patentrechts müssen dabei techni- bracht, die Ausführungen des Europäischen Parlaments sche Erfindungen auch dann zugänglich sein, Herr Kol- für die einzig richtige Lösung zu halten. Sicherlich ist lege Funke, wenn sie Softwarekomponenten enthalten. die Zielsetzung richtig; da sind wir alle offensichtlich Es ist allerdings richtig – in diesem Punkt sind wir gar einer Auffassung. Die Ausführungen sind aber auch nicht weit auseinander –, darauf hinzuweisen, dass sich dazu geeignet, Missverständnisse hervorzurufen, wie gerade hier ein zu leichtfertiger Umgang mit der Paten- zum Beispiel durch den Ausschluss der Datenverarbei- (B) (D) tierbarkeit auch ins Gegenteil verkehren und damit zu ei- tung als Gebiet der Technik oder durch den direkten An- nem Innovationshemmnis werden kann. schluss an eine Definition des Technikbegriffs unter Zu- hilfenahme des Naturkräftebegriffs, der in der neuen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Rechtsprechung zumindest so nicht mehr verwendet Genau aufgrund dieser Problematik bin ich der Auf- wird. Darüber müssen wir also reden. fassung, dass der gegenwärtige Diskussionsstand auf Ich finde, dass Sie in Ihrem Antrag auf wesentliche EU-Ebene auf für uns zentrale Fragen bislang keine hin- Punkte nicht eingehen; diese wurden heute zum ersten reichenden Lösungen aufweist. Für mich als Jurist wird Mal angesprochen. Sie thematisieren die Situation der eine Richtlinie nur dann die von uns gewünschten Ef- mittelständisch geprägten europäischen und insbeson- fekte mit sich bringen, wenn sie zu mehr Rechtssicher- dere deutschen Softwarebranche nicht hinreichend. Da heit führt. Dies wird jedoch nur dann der Fall sein, wenn müsste man noch ein bisschen nachlegen. Auch die Pro- eindeutige Voraussetzungen für die Patentierbarkeit von blematik der Open-Source-Konzepte findet sich in Ih- Computerprogrammen im Zusammenhang mit techni- rem Antrag nicht wieder. Man kann zudem das BMJ zu- schen Erfindungen vorliegen. Die jüngere Patentierungs- mindest teilweise loben; denn das BMJ hat mit praxis – Sie wissen das, Herr Kollege Funke –, unter an- Sicherheit Bemühungen unternommen, um zu Verbesse- derem des Europäischen Patentamtes, hat in letzter Zeit rungen zu kommen. Auch das sollte man erwähnen. insoweit leider eher zu Verunsicherungen geführt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) DIE GRÜNEN) Ziel muss es insbesondere sein, so genannte Trivial- Den CDU/CSU-Antrag, Herr Kollege Krings, halte patente zu verhindern und der Patentierbarkeit von Ge- ich für etwas durchdachter. Ich könnte mir durchaus vor- schäftsmethoden sowie reinen Algorithmen eine deutli- stellen – ich komme gleich zum Schluss –, dass er eine che Absage zu erteilen. Grundlage für einen späteren gemeinsamen Antrag sein (Beifall bei der SPD) könnte. Denn ich hätte mir gewünscht – das möchte ich an Sie herantragen –, dass wir als Mitglieder des Bun- Ein Ansatz hierfür kann sicherlich ein tragfähigerer destages, wie wir es allgemein im Urheberrecht bzw. im Technikbegriff sein. Die Definition hierzu ist auf EU- Bereich des geistigen Eigentums machen, einen Konsens Ebene nicht einheitlich und sollte meiner Auffassung erzielen. Ich meine, dass ein Antrag, der die Bundesre- nach genauer gefasst sein. Hilfreich könnte zudem eine gierung begleiten soll, viel mehr Gewicht hätte, wenn er unabhängige Evaluierung der Entscheidungspraxis der nicht nur von einzelnen Fraktionen, sondern von allen 12086 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Dirk Manzewski (A) Fraktionen des Bundestages gemeinsam stammen Der Unterscheid zwischen Patenrecht und Urheber- (C) würde. Ich hoffe, dass wir dazu im Laufe der Debatte zu recht besteht darin, dass ein Patent nicht die konkrete den vorliegenden Anträgen kommen werden. Ausformulierung einer Idee schützt, sondern die Idee als solche. Dieser Unterschied könnte gravierender kaum Ich danke Ihnen. sein. Wenn beispielsweise Alfred Hitchcock in einem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ seiner Filme einen Mord unter einer Dusche zeigt, dann DIE GRÜNEN) verhindert das Urheberrecht, dass dieser Film ohne Er- laubnis gezeigt oder kopiert wird. Kämen wir auf die Idee, den Film unter Patentschutz zu stellen, so hätte sich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Erfinder – hier Hitchcock – lange Jahre freuen kön- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Krings. nen: Ab sofort hätte er an jedem Film mit einer Mord- szene unter einer Dusche mitverdient. Dr. Günter Krings (CDU/CSU): (Jörg Tauss [SPD]: Ein nachvollziehbares Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Beispiel aus dem Leben!) Herren! Das geistige Eigentum ist ein hohes Gut in einer modernen Wissensgesellschaft. Die sich in unserem Was wir im Film- und Buchbereich zu Recht als ab- Lande in den letzten Wochen leider immer schneller surd zurückweisen, erleben wir indes schon heute bei wiederholenden Hiobsbotschaften aus Industrie und Software aufgrund einer fast uferlosen Zulassung von Handel beweisen sehr eindrücklich, dass die Grundlage Patenten durch das Europäische Patentamt; die Vorred- unseres Wohlstandes in Zukunft immer mehr die kreati- ner haben das bestätigt. Sollten beispielsweise Sie, Herr ven und geistigen Leistungen unserer Menschen in Kollege Hartenbach, im Internet einen Geschenkartikel- Deutschland sein werden. Aber nur wenn wir diesem laden aufmachen – das wäre einmal eine Alternative – geistigen Eigentum – das gilt für alle Bereiche des geis- tigen Eigentumsrechts – auch den gebührenden Schutz (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Das zukommen lassen, werden wir alle gemeinsam von unse- werde ich nicht machen, Herr Krings!) rem Wissen und Denken im 21. Jahrhundert leben kön- nen. Urheberschutz wie Patentschutz sind daher keine und dem Käufer dabei einen Direktversand der Artikel lästigen Formalismen unserer Rechtsordnung, sondern anbieten wollen, so hätten Sie ein großes Problem: Wenn garantieren, dass aus guten Ideen auch Arbeitsplätze ent- der Direktversand per Mausklick passieren soll, müssen stehen können. So weit sind wir uns hoffentlich in die- Sie eine Lizenzgebühr an einen amerikanischen Internet- sem Hause einig. buchhändler zahlen, um von ihm das Recht zur Aus- übung des Patents zu erwerben, und zwar egal auf wel- (B) Zu einem leistungsfähigen und fairen Schutz geisti- che Weise Sie das Ganze programmieren. Ich denke, das (D) gen Eigentums gehört auch die systematisch saubere Zu- ist ein gutes Beispiel dafür, warum dieser Weg nicht ordnung von Leistungen zum Urheberrecht einerseits gangbar ist. und zum Patentrecht andererseits. Das Patentrecht schützt technische Erfindungen; das Urheberrecht Diese bedenkliche Patentierung von bloßen Konzep- schützt geistige Schöpfungen in ihrer konkreten Aus- ten steht heute noch auf schwankendem Rechtsgrund. drucksform. Gesetzgeber und Rechtsprechung haben Die Bundesregierung tut aber derzeit leider alles dafür, sich daher aus guten Gründen entschlossen, Computer- dass solche trivialen Patente auf Programmierideen zur programme, also Software, dem Urheberrecht zuzuord- Regel werden können. Die von der EU-Kommission nen. Aber genau dieser Konsens droht nun über die vorgeschlagene und von einem Ausschuss des Minister- Europäische Union aufgekündigt zu werden. Unter der rats bereits beschlossene Richtlinie über die Patentier- nun recht unscheinbaren Überschrift „computerimple- barkeit computerimplementierter Erfindungen öffnet der mentierte Erfindungen“ droht Software immer stärker Patentierung von Computerprogrammen Tür und patentierbar gemacht zu werden. Diese leider von der Tor. Gerade kleine und mittelgroße Softwarehäuser, die deutschen Justizministerin mitgetragene Politik keine großen Patentabteilungen aufbauen können, wür- den bei ihrer Arbeit massiv behindert und ständig mit (Otto Fricke [FDP]: Bisher!) dem Risiko teurer Patentklagen leben müssen. Diese er- neute Form einer Antimittelstandspolitik werden wir würde im Ergebnis kein Mehr an Schutz für die geistigen nicht mittragen. Leistungen von Softwareentwicklern bedeuten, sondern würde im Gegenteil Programmentwicklungen verhin- (Beifall bei der CDU/CSU) dern. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung: Die Justiz- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ministerin erklärte vor einigen Monaten in einer Fach- neten der FDP) zeitschrift, die Patentierungen bedeuteten kein großes Ihr politischer Ansatz – damit meine ich den der Regie- Risiko für die Unternehmen; wer sich schützen wolle, rungsbank; Herr Hartenbach, Sie müssen das heute aus- könne schließlich eine Rechtsschutzversicherung ab- baden –, den Sie jedenfalls bislang in Brüssel vertreten schließen. Diese freundliche Aufforderung hat einen haben, erstickt Kreativität. Wir wollen dagegen geistiges Pferdefuß: Es gibt weltweit praktisch keine Versicherung Eigentum schützen, um Kreativität möglich zu machen. gegen Patentklagen, weil die Kosten unkalkulierbar sind. Die Bemerkung von Frau Zypries fand ich schon etwas (Beifall bei der CDU/CSU) zynisch. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12087

Dr. Günter Krings (A) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie steckt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C) tief in der Materie drin!) Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wo Herr Tauss Recht hat, hat er Recht!) Meine Damen und Herren, das Recht des geistigen Eigentums ist keine einfache Rechtsmaterie. Das Justiz- Schöner, Herr Kollege Tauss, hätte ich das nicht formu- ministerium hat versucht, diese Komplexität auszunut- lieren können. Das schlechte Gewissen der Bundesregie- zen und uns etwas vorzumachen, was die Haltung des rung zeigt sich vielleicht schon daran, dass kein Vertreter Ministeriums anbelangte. Zuerst hat man so getan, als der Bundesregierung heute das Wort ergreift. Man kann wäre alles gar kein Problem, es gehe nur um computer- hier wirklich feststellen: Die Justizministerin scheint in implementierte Erfindungen. Allein das ist schon eine dieser Frage alleine zu Haus zu sein. Mogelpackung; denn wenn es wirklich nur darum ginge, Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen einen die Erfindungen zu schützen, die eine Wirkung in der vernünftigen Patentschutz, der sich auf computerimple- Außenwelt – außerhalb des Computers – haben, wären mentierte, technische Erfindungen beschränkt. Kurz und wir gerne dabei. Aber hier geht es um etwas anderes. Die knapp gesagt: Wenn der Schutz des Patentrechts greifen EU-Kommission und die Ministerin wollen offenbar soll, dann muss schon etwas Handfestes passieren, und auch solche Ideen schützen, die den Computerbild- zwar außerhalb des Computergehäuses und außerhalb schirm nicht verlassen. Ein Beispiel ist der berühmte des Computerbildschirms. Mit einem klaren und engen Fortschrittsbalken bei der Installation eines Program- Technikbegriff wäre der Schutz von Erfindungen wie mes. etwa dem Antiblockiersystem gesichert, zugleich würde Gerade weil das Ministerium erkannt hat, das hier aber der Schutz des Fortschrittsbalkens auf dem Compu- Probleme bestehen, gab es noch Mitte Mai die Ankündi- terbildschirm außen vor bleiben. Wir haben hierzu einen gung eines ministeriellen Vertreters, man wolle sich bei ganz konkreten Vorschlag in unserem Antrag formuliert. der Abstimmung in Brüssel enthalten, jedenfalls nicht Nur zwei Bestimmungen des Richtlinienentwurfs müss- zustimmen. Eine Woche später war davon nicht mehr die ten geändert werden und Tausende von Softwarefirmen Rede. Mit der deutschen Stimme wurde dieser Vorschlag in Deutschland könnten aufatmen. der Kommission im Ministerratsausschuss angenom- Da ich eben den Kollegen Tauss zitiert habe, will ich men. Herr Hartenbach, Ihre Devise lautet an dieser ganz zum Schluss, wenn ich darf, noch eine kurze Be- Stelle: Rechts blinken, links abbiegen. Bei einer solchen merkung an die Kollegen von der Fraktion der Grünen Schaukel- und Verschaukelungspolitik wundert es uns richten. Auch Sie haben sich offenbar von der Patentpo- im Rechtsausschuss nicht mehr, dass wir als Deutsche litik der Ministerin zu Recht abgewandt. In einem Be- bei der Mitgestaltung europäischer Rechtspolitik zurzeit schluss des Parteitags vor wenigen Wochen wenden Sie (B) allenfalls noch einen Beifahrersitz einnehmen. sich eindeutig gegen Softwarepatente. In der Begrün- (D) Der Kollege Tauss, forschungspolitischer Sprecher dung dieses Beschlusses heißt es wörtlich: der SPD-Fraktion, mit dem ich zugegebenermaßen beim Software ist über das Urheberrecht bereits ausrei- Schutz des geistigen Eigentums nicht in allen Punkten chend geschützt. übereinstimme, hat einen sehr interessanten Brief an die Justizministerin geschrieben. Ich fasse das als ein Bekenntnis für einen effektiven Ur- heberrechtsschutz auf. Ich freue mich schon darauf, Sie (Jörg Tauss [SPD]: Woher haben daran zu erinnern, wenn es um den „Korb zwei“ der Ur- Sie denn den?) heberrechtsnovelle geht. – Den habe ich aus einer öffentlichen Quelle. Offenbar Ich jedenfalls habe in dieser Debatte bislang – auch haben Sie ihn veröffentlicht. nach den Äußerungen des Kollegen Manzewski – die Hoffnung, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundesta- (Jörg Tauss [SPD]: Nicht doch!) ges gemeinsam die Bundesregierung bei der Frage des – Jedenfalls war er offen zugänglich. Auch bei der Urhe- Patentrechts auf den Pfad der Tugend zurückführen kön- berrechtsdebatte kommen wir wieder auf das Thema In- nen. formationsfreiheit. Vielen Dank. (Rainer Funke [FDP]: Sie sind (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- doch sonst so diskret!) neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wir sind doch alle auf dem Pfad der Tugend!) Daraus darf ich – mit Ihrer freundlichen Genehmi- gung – zwei kurze Sätze zitieren. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Jörg Tauss [SPD]: Urheberrecht!) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin. Sie schrieben an die Ministerin: Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): … insbesondere der SPD wird eine inkonsistente Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und wechselhafte Haltung unterstellt. Es ist bedau- Wir reden hier heute über ein Thema, das den meisten erlich, dass in dieser innovationspolitisch so wichti- erst einmal recht wenig sagt, in Fachkreisen aber schon gen Frage die SPD-geführte Bundesregierung eine seit einiger Zeit sehr heftig diskutiert wird: die Frage der derart desolate Figur abgibt … Patentierbarkeit von Software. Bisher war – das haben 12088 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Grietje Bettin (A) alle meine Kollegen schon angesprochen – Software bei die Patentierbarkeit von Software bereits in den letzten (C) uns primär urheberrechtlich geschützt. Das ist auch rich- Jahren durch die Praxis der Patentämter und die Recht- tig so. Eine Patenterteilung für Software halten dagegen sprechung immer weiter ausgedehnt worden ist. Deshalb auch wir Grüne für hochproblematisch. Dafür gibt es brauchen wir eine Änderung und Klarstellung der der- mehrere gute Gründe. Ich will versuchen, dies anhand zeitigen Rechtslage mit dem Ziel, die schleichende Aus- einiger praktischer Beispiele deutlich zu machen. weitung der Patentierbarkeit von Software zu verhin- dern. Wenn Software zukünftig patentierfähig wird, führt dies dazu, dass – im übertragenen Sinn – nicht mehr eine Auch wenn ich hier keinen Hehl daraus machen bestimmte Mausefalle, sondern pauschal Mittel zum möchte – das habe ich auch in der Vergangenheit nicht Fangen von Nagetieren patentiert werden könnten. Ein getan –, dass ich mit dem Vorgehen des BMJ bei den anderes Beispiel: Musiknoten lassen sich mit Software- Richtlinienverhandlungen in Brüssel nicht zufrieden codes vergleichen. Hätte der Komponist Bach ein Patent war, müssen wir feststellen, dass sich das Ministerium in auf eine Symphonie dadurch gekennzeichnet, dass Brüssel leider vergeblich für eine eindeutigere Defini- Klang erzeugt wird, dann hätte dies möglicherweise tion des Technikbegriffs sowie für klare Anforderungen nicht nur Mozart in erhebliche Schwierigkeiten ge- an die Interoperabilität stark gemacht hat. bracht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liebe Kolleginnen und Kollegen, bislang gilt: Der und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Jawohl, konkrete Programmiercode ist durch das Urheberrecht das haben wir gemacht!) geschützt, nicht aber – und das ist wichtig – die Idee – Genau. oder das Verfahren an sich. Es ist also möglich, dieselbe Idee auf eine andere Weise umzusetzen, ohne gegen das Wir werden die Bundesregierung ausdrücklich auffor- Urheberrecht zu verstoßen oder Lizenzgebühren zahlen dern, die Beschlüsse des Europäischen Parlaments vom zu müssen. Dies würde sich bei einer generellen Zuläs- 24. September 2003 bei der weiteren Kompromisssuche sigkeit von Softwarepatenten grundlegend ändern; denn als Grundlage zu betrachten. Insbesondere die grüne Frak- die mit den Patenten verbundenen Schutzrechte würden tion im Europäischen Parlament hat sich für den klugen auf Dauer die Entwicklung vielfältiger Alternativpro- Beschluss des EU-Parlaments stark gemacht und ihn aktiv dukte verhindern. Die Weiterentwicklung des Wissens mitgestaltet. Wir müssen erreichen, dass es zu einer ein- würde gerade in der Informationstechnologie massiv deutigen und praktikablen Begrenzung patentierfähiger eingeschränkt. computerimplementierter Erfindungen kommt und dass Trivialpatente generell ausgeschlossen werden. Wir sind fest davon überzeugt, dass Softwarepatente (B) vor allem im Interesse der Großunternehmen liegen – der Wir werden uns ebenfalls dafür einsetzen, dass der (D) Kollege Krings hat das angesprochen – und den vielen Umfang patentrechtlicher Ansprüche auf Erzeugnisse kleinen und mittleren Softwareentwicklern massiv scha- und Verfahren begrenzt wird und dass keine reinen Pro- den würden; denn nur größere Firmen verfügen über ei- grammansprüche möglich sein werden. Die Patentier- gene Patent- und Rechtsabteilungen, die entsprechende barkeit von Algorithmen und Geschäftsmethoden muss Recherchen und Anmeldevorgänge effizient abwickeln ebenfalls ausgeschlossen sein. können. Wir alle müssten als Verbraucherinnen und Ver- Bündnis 90/Die Grünen wird sich auch weiterhin ent- braucher ebenfalls Nachteile erleiden, weil Software wo- schieden dafür einsetzen, dass alternative Entwicklungs- möglich teurer und in ihrer Vielfalt eingeschränkt sein konzepte wie Open-Source-Projekte nicht beeinträchtigt würde. werden. Abschließend sei noch einmal gesagt: Patente Außerdem – dieser Punkt ist mir persönlich besonders auf Software schaden dem Wissensstandort Deutsch- wichtig – befürchten wir negative Auswirkungen auf die land. Sie schaden den kleinen und mittelständischen Un- Open-Source-Entwicklung und die freie Software. Hier ternehmen. Diese Erkenntnis gilt es nun auch politisch sind unsere Bedenken grundsätzlicher Natur. Das Patent- umzusetzen. Ich hoffe, dass wir durch unsere gemein- recht verlangt Geheimhaltung bis zur Patentanmeldung. same Kraftanstrengung bei diesem Thema doch noch zu Ein offener Entwicklungsprozess wie bei Open Source einem interfraktionellen Antrag kommen, um als Deut- kann unter solchen Umständen wohl kaum durchgeführt scher Bundestag auch gegenüber dem Europaparlament werden. mit einer Stimme zu sprechen. Danke schön. Für uns als rot-grüne Koalition ist der Einsatz für freie Software und Open Source ein wichtiges politi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sches Anliegen: sei es bei der Migration des Servers des und bei der SPD) Deutschen Bundestages von einer Windows- auf eine Li- nuxlösung oder auch bei entsprechenden Pilotprojekten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: in den Ministerien. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Vera Dominke. Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Fraktionen eint anscheinend die Überzeugung, dass Computerpro- Vera Dominke (CDU/CSU): gramme als solche keine patentierbaren Erfindungen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! darstellen. Gleichwohl wollen wir alle für diesen Be- Im Grunde genommen könnte ich sagen, dass ich mich reich mehr Rechtssicherheit schaffen. Tatsache ist, dass allen Vorrednerinnen und Vorrednern anschließen kann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12089

Vera Dominke (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Die Bundesregierung hat dieses Jahr zum Jahr der (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Innovationen ausgerufen. Nach dieser Debatte habe ich das Gefühl, dass es uns gemeinsam gelingen kann, zu Lassen Sie mich dennoch mein geistiges Werk unter die helfen, dass in unserem Lande und in Europa ein innova- Leute bringen, damit es auch im Protokoll erscheint. tionsfreundliches Klima bestehen bleibt. Ich bitte Sie deshalb: Lassen Sie uns in den Beratungen, so wie sich Patente auf computerimplementierte Erfindungen – das das hier angedeutet hat, zu einer Übereinkunft kommen! klingt nach trockener, schwer verständlicher Materie, Lassen Sie uns gemeinsam die Bundesregierung noch dazu, wenn sie an den Erlass einer EU-Richtlinie gekoppelt ist. Wenn man sich aber – das haben wir heute (Jörg Tauss [SPD]: Die EU!) schon hinreichend gehört – näher damit beschäftigt, auf den richtigen Pfad führen, den Pfad der Tugend, und droht das Ganze insbesondere für kleine, junge und in- das gute Klima für unsere jungen Unternehmen erhalten. novative Unternehmen zur bitteren Realität zu werden. Vielen Dank. Von der Ratio her wissen wir alle – auch die, die heute nicht hier sitzen –, wie sehr EU-Regelungen auf die Poli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tik und die Lebensverhältnisse in unserem Lande durch- neten der SPD und der FDP) schlagen. Tatsächlich passiert es aber immer noch häu- fig, dass die Rechtsetzung der EU bei uns durchläuft. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Lassen Sie deswegen auch mich noch einmal deutlich Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Küster. machen, worum es uns in unserem Antrag geht und wa- (Beifall bei der SPD) rum die anstehende EU-Richtlinie zur Patentierbarkeit von computerimplementierten Erfindungen in ihrer jetzi- Dr. Uwe Küster (SPD): gen Fassung eine Katastrophe wäre sowohl für unsere Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen kleinen und mittelständischen Unternehmen als auch für und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist ja schon unseren akademischen Nachwuchs, der sich in diesem fast alles gesagt. Bereich selbstständig zu machen gedenkt. Die Software- industrie ist eines der wenigen Tummelfelder für die (Rainer Funke [FDP]: Aber nicht von allen!) Gründung junger, innovativer Firmen und Start- – Nicht von allen; deswegen ergreife ich das Wort, Herr Ups. Hier haben neben den großen, weltweit agierenden Funke, sehr richtig. Multis gerade kleine und mittelständische Unternehmen die Chance, sich zu etablieren, hoch komplexe Produkte Ich will versuchen, die wirtschaftlichen Aspekte noch (B) zu entwickeln und gewinnbringend zu vermarkten. einmal deutlich herauszustellen, damit klar ist, dass wir (D) Wenn diese jetzt alle ihre Ideen, Konzepte und Verfahren hier nicht über eine Sache reden, die nur die Rechtspoli- auf die mögliche Verletzung anderer Softwarepatente tiker angeht überprüfen müssten, dann wäre das schlichtweg perso- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Was heißt nell und finanziell nicht machbar; auch darauf haben hier „nur“?) Frau Bettin und Herr Krings schon hingewiesen. Nur große Unternehmen mit entsprechend großen Patent- die nur für sie interessant wäre. und Rechtsabteilungen können eine solche Aufgabe be- (Rainer Funke [FDP]: Sie scheinen Juristen zu wältigen. verachten!) Durch die Veröffentlichungsfristen für Patente, die – Ich will sie nicht klein reden, keineswegs. sich gerade in der schnelllebigen Softwarebranche auf Es geht um einen ganz wichtigen Aspekt unserer zwei bis drei Produktzyklen erstrecken können, ist es Wirtschaft; das müssen wir beachten. ohne weiteres vorstellbar – und das passiert auch in der Praxis –, dass mehr als ein Jahr nach dem Erscheinen ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nes Produktes auf dem Markt plötzlich Patente veröf- Wir wissen, dass Software, die Computer steuert, heut- fentlicht werden, die durch das Produkt verletzt werden, zutage überall im Alltag zu finden ist: von der Waschma- die vorher aber nicht bekannt waren. So genannte schine bis zur Funkuhr. Ein Handy ist heute mit mehr Trivialpatente etwa sind so allgemein und zahlreich, Computertechnologie ausgestattet als eine Saturn-V-Ra- dass fast jedes Softwareprodukt gegen mehrere versto- kete. All das sollte man wissen. Dann sieht man relativ ßen würde. Beispiele hierfür sind Patente auf einfachste zügig, wie bedeutungsvoll dieses technische Thema für Elemente, die Sie alle hier kennen: den Mauszeiger, den unser Leben ist. Ladebalken oder Links in HTML-Dateien. Jedes Soft- wareunternehmen müsste danach früher oder später Wir sollten uns an dieser Stelle ganz stark auf unsere wegen Patentverletzung vor Gericht ziehen. Damit wird eigenen Interessen konzentrieren: In Deutschland sind es vor allem die Existenz kleinerer und mittelständischer im Wesentlichen kleine und mittelständische Unter- Betriebe bedroht, die sich das einfach nicht leisten kön- nehmen in der Softwareindustrie, die sich mit Produk- nen. ten auseinander setzen, die besonders anwenderorientiert sind. Also nicht die großen, weltweit eingesetzten Pro- (Jörg Tauss [SPD]: Noch schlimmer: vor Ge- gramme sind die Hauptschwerpunkte der deutschen Soft- richt gezogen!) wareindustrie, sondern eher die anwenderorientierten 12090 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Dr. Uwe Küster (A) und – darin ist Deutschland europaweit besonders sen Entwicklungsprozess können und wollen wir im In- (C) stark – die Open-Source-Software. Das ist unsere Stärke; teresse unserer Unternehmen nicht behindern. davon wollen wir nichts abgeben, sondern sie weiterent- wickeln. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Auf der anderen Seite dürfen wir Erfindungen nicht (Beifall bei der SPD) alleine deswegen von der Patentierbarkeit ausschließen, In einem aktuellen vor zwei Tagen erschienen Be- weil sie irgendwo in ihrem System Software enthalten. richt, von Deutsche Bank Research werden drei Infor- Das Standardbeispiel ist das ABS-System. Klassischer- mations- und Kommunikationsthemen identifiziert, bei weise wurde das Problem mit reiner Mechanik gelöst. denen überdurchschnittliche Wachstumsraten erwar- Die Lösung stammte aus dem letzten Jahrhundert und tet werden. Das sind die Biometrie, die Open-Source- war patentfähig. Kommen nun aber Software und ein Software – sie wird schon an zweiter Stelle genannt – Computer hinzu, die die Bremsen an einem Auto steuern und das Funketikett. Das Funketikett wird von einigen – dies macht dann das ABS-System aus –, dann ist das Sachkundigen so interpretiert, als sei es die Ablösung möglicherweise nicht mehr patentfähig. Das ist der Wi- des alten Strichcodes auf Waren. Dieses Funketikett derspruch, vor dem wir stehen. Diesen haben wir zu lö- sen. kann aber noch viel mehr. Es kann den Lebenszyklus eines Produktes beschreiben und wirklich umfangreiche Ich will damit klar machen, dass wir auf diese Frage Informationen enthalten. Insofern reden wir über Dinge, keine triviale Antwort geben können. Es ist eine schwie- die uns in den nächsten Jahren begleiten werden. Deswe- rige Gratwanderung zwischen Trivialpatenten, die ge- gen ist hier die Sicherheit ganz wichtig. Wir müssen nannt worden sind, und solchen Dingen, bei denen es ei- diese positiven Entwicklungen fördern; das sollte unsere nen technischen Fortschritt gibt, der mithilfe von Aufgabe sein. Software und Computern erreicht worden ist und der uns weiterhilft. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich will noch auf einen Punkt besonders eingehen, der uns sehr wichtig ist. Es geht darum, welche Forderungen Sichere Rahmenbedingungen sind das A und O für wir durchsetzen müssen. Der Ausschluss von Trivial- diese Unternehmungen. Wir haben die Aufgabe, eine ex- patenten ist genannt worden. Diesbezüglich rennen Sie akte Antwort auf die ganz einfache Frage zu geben, wel- bei der SPD-Fraktion offene Türen ein. Es wird keine chen Schutz Software genießen soll. Die Patentfähigkeit Patentierbarkeit von Algorithmen und Geschäftsmetho- von Erfindungen ist in Art. 52 des Europäischen Pa- den geben. Das ist absolut nicht zulässig. tentübereinkommens geregelt. Danach ist Software als (B) solche nicht patentfähig. Sie wissen aber natürlich, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) die Menschen in der Umgehung von Regeln sehr erfin- Alternative Entwicklungskonzepte, insbesondere derisch sind. Mittlerweile ist eine große Zahl von euro- Open-Source-Projekte, dürfen nicht beeinträchtigt wer- päischen Patenten auf Dinge erteilt worden – wir nennen den. Ein wichtiger Punkt ist die Interoperabilität zwi- sie computerimplementierte Erfindungen –, die uns im schen unterschiedlichen Softwareprodukten. Es darf täglichen Leben begegnen. Sie alle sind schon genannt nicht dazu kommen, dass bestimmte Schnittstellen pa- worden. Ich nenne nur den Mauszeiger und den One- tentiert werden, wodurch andere von der Bedienung und Click-Shop. Diese Patente sind im täglichen Leben im Nutzung dieser Schnittstellen ausgeschlossen würden, Web zu finden. weil sie auf das Patent zurückgreifen müssten. Wir wol- len, dass auch dort Standards geschaffen werden, die Wenn Sie heutzutage einen Web-Shop aufmachen, nicht patentiert werden dürfen. Damit wollen wir den dann verletzen Sie, wenn Sie es ungünstig angehen, bis Wettbewerb ankurbeln und Innovationen auf den Markt zu 20 europäische Patente. Das zeigt die Problematik, bekommen. vor der wir stehen: Anstatt die Lösung dieses Problems innovativ anzugehen, also die Handelstechniken über Insgesamt möchte ich feststellen, dass wir die formale das Internet stärker in das tägliche Leben zu integrieren, Kritik an der Bundesjustizministerin, die Herr Funke als werden dort eher Entwicklungshemmnisse aufgebaut, Mitglied der Opposition natürlich pflichtgemäß geäußert sodass wir nicht positiv innovativ damit umgehen kön- hat, so nicht stehen lassen können. Die Ministerin hat ihr nen. Bestes gegeben. Sie hat versucht, im Kreis der 15 und jetzt im Kreis der 25 Mitgliedstaaten die Position (Beifall bei der SPD) Deutschlands durchzusetzen. Wir haben so einige Klar- heiten erreicht. Wir müssen uns klar machen, dass die Erstellung von Software etwas ganz anderes ist als die Herstellung Wir sind ein Part von 25 Mitgliedern. Von daher ist es einer Maschine oder die Entwicklung eines Medika- sehr schwierig, beispielsweise gegen die Südschiene in ments. Das heißt, wir müssen auch mit anderen Überle- Europa zu operieren. Sie kennen auch Großbritanniens gungen und Regeln an diese Sache herangehen. Wir wis- Rolle. Ebenso ist Ihnen die Haltung der Niederlande be- sen, dass neue Software häufig dadurch entsteht, dass kannt. Es ist nicht einfach, sich in diesem Konzert, in vorhandene Teile neu kombiniert werden, dass Schnitt- dem jeder Mitgliedstaat eine starke Position hat, durch- stellen eingefügt werden und dass gegebenenfalls neue zusetzen. Die Justizministerin hat einiges erreicht. Wir Programmteile dazwischengeschaltet werden, wodurch wollen versuchen, eine gemeinsame Linie zu finden. Ich ein neues Programm mit neuen Qualitäten entsteht. Die- meine, der Antrag der Union und auch Ihr Antrag, Herr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12091

Dr. Uwe Küster (A) Funke sind dafür eine Grundlage. Unser Antrag ist un- Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- (C) terwegs; das wissen Sie. sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Herr Kollege Küster, bitte kommen Sie zum Schluss. der Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow.

Dr. Uwe Küster (SPD): Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Er wird Gegenstand einer gemeinsamen Stellung- minister der Verteidigung: nahme des Deutschen Bundestages sein. Dazu lade ich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie herzlich ein. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf setzt die Bundes- Danke schön. regierung eine einstimmige Entschließung des Deut- schen Bundestages um, der sich bei der abschließenden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beratung des Bundesgleichstellungsgesetzes im Oktober DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Günter 2001 dafür ausgesprochen hat, einen Gesetzentwurf zur Krings [CDU/CSU]) Durchsetzung der Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten zu erarbeiten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe die Aussprache. Der vorliegende Gesetzentwurf schafft die rechtlichen Grundlagen für die Durchsetzung der Gleichstellung von Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Soldatinnen und Soldaten und bezieht zugleich Maßnah- den Drucksachen 15/3240 und 15/3941 an die in der Ta- men zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Dienst in den Streitkräften ein. Der Gesetzentwurf ent- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann hält eine Fülle von Maßnahmen, die Gleichstellung im sind die Überweisungen so beschlossen. weitestmöglichen Maße zu garantieren. Hierzu zählen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 c auf: die Wahl von Gleichstellungsbeauftragten, die Zielvor- gabe für die Beseitigung der Unterrepräsentanz von a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Soldatinnen, die Benachteiligungs- und Diskriminie- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- rungsverbote für Soldatinnen und die Einführung von setzung der Gleichstellung von Soldatinnen Gleichstellungsplänen. Zur Verbesserung der Vereinbar- und Soldaten der Bundeswehr (Soldatinnen- keit von Familie und Dienst in den Streitkräften sollen und Soldatengleichstellungsdurchsetzungsge- familiengerechte Arbeitszeiten angeboten, die Einfüh- (B) setz – SDGleiG) rung von Teilzeitbeschäftigungen ermöglicht sowie Be- (D) – Drucksache 15/3918 – nachteiligungsverbote bei Teilzeitbeschäftigung und fa- milienbedingter Beurlaubung vorgesehen werden. Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Wir schaffen mit einer Änderung im Soldatengesetz Innenausschuss Rechtsausschuss schließlich die rechtlichen Voraussetzungen für die Ein- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führung von Teilzeitbeschäftigung. Die Bundesregie- rung erwartet, dass die Vereinbarkeit von Familie und b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula militärischem Dienst für die Soldatinnen und Soldaten Lietz, Christian Schmidt (Fürth), Annette erheblich erleichtert und die Attraktivität der Streitkräfte Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und der gesteigert wird. Die konkrete Ausgestaltung der Teilzeit- Fraktion der CDU/CSU beschäftigung bleibt einer Rechtsverordnung vorbehal- Soldatinnen- und Soldatengleichstellungs- ten, die dann im Hinblick auf die Einsatzerfordernisse durchsetzungsgesetz zügig umsetzen einzelne Verwendungen oder Truppenteile festlegen muss, für die Teilzeitbeschäftigung nicht infrage kommt, – Drucksache 15/3717 – auch wenn die Möglichkeit von flexiblen Arbeitszeitmo- Überweisungsvorschlag: dellen, etwa eine Blockzeitbildung, geprüft und in die Verteidigungsausschuss (f) Verordnung auf jeden Fall einbezogen wird. Innenausschuss Rechtsausschuss Zum weiteren Vorgehen der Bundesregierung kann Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ich gerade vor dem Hintergrund der vorliegenden An- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina träge der Opposition auf folgende fünf Punkte hinwei- Lenke, Klaus Haupt, Helga Daub, weiterer Abge- sen. ordneter und der Fraktion der FDP Erstens. Wir werden den Gesetzentwurf zügig umset- Bundeswehr stärken – Beschäftigungsbedin- zen. Nach Abschluss der parlamentarischen Beratungen gungen für Soldatinnen und Soldaten verbes- erwarten wir ein In-Kraft-Treten zum 1. Januar 2005. sern Die erforderlichen Rechtsverordnungen und Durchfüh- rungsbestimmungen werden in unserem Ministerium be- – Drucksache 15/3960 – reits erarbeitet. Überweisungsvorschlag Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Zweitens. Wir wahren mit dem Gleichstellungsdurch- Verteidigungsausschuss setzungsgesetz den verfassungsrechtlichen Grundsatz, 12092 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Parl. Staatssekretär Walter Kolbow (A) Leistungsstärkere vor Leistungsschwächeren zu för- richtet, ob die für die soldatischen Laufbahnen außerhalb (C) dern. Das Soldatinnen- und Soldatengleichstellungs- des Sanitätsdienstes vorgesehene Zielvorgabe von durchsetzungsgesetz sieht wie das Bundesgleichstel- 15 Prozent der Förderung der Gleichstellung hinrei- lungsgesetz auch keine starre Quotierung des Anteils der chend Rechnung trägt oder ob eine Anhebung der Quote Soldatinnen vor. Eine Quote von 50 Prozent für den Sa- notwendig erscheint. nitätsdienst und 15 Prozent für alle anderen Laufbahnen bedeutet keinesfalls, dass jeder zweite Sanitäter eine Ich denke, wir tragen mit diesem Gesetz dem gesell- Frau sein wird und im Übrigen 15 Prozent der Stellen für schaftlichen Wandel Rechnung und übertragen diesen Frauen reserviert werden müssen. Wer Gleichstellung so anwendbar und umsetzbar in die Streitkräfte. Wir unter- versteht, der hat Gleichstellung missverstanden. streichen, dass auch in dieser wichtigen Frage die Streit- kräfte Teil der Gesellschaft sind, ohne dass dabei die für (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk die Bundeswehr wichtigen Aspekte wie etwa die Ein- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) satzfähigkeit in den Hintergrund treten. Dies ist eine gute Grundlage, Gleichstellung auch in den Streitkräften Die gemessen an dem verfassungsrechtlichen Auftrag zu betreiben. Da ich der einzige Mann auf der Redner- nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes abgesenkte liste bin, Zielvorgabe für die meisten soldatischen Laufbahnen auf 15 Prozent war deshalb notwendig, weil diese Laufbah- (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Männerquote, Herr nen für Frauen, wie wir wissen, erst seit dem Jahr 2001 Staatssekretär!) geöffnet sind und der Frauenanteil aus diesem Grund hoffe ich, dass ich den Ansprüchen der Kolleginnen eini- noch gering ist. germaßen gerecht geworden bin. Drittens. Zu der in dem Antrag von der CDU/CSU er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wähnten Forderung nach Kinderbetreuung kann ich DIE GRÜNEN – Irmingard Schewe-Gerigk feststellen: Um die Kinderbetreuung sicherzustellen, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt nutzen wir die bereits heute zahlreich vorhandenen schlechtere Redner! – Silke Stokar von – 31 an der Zahl – Familienbetreuungszentren, durch die Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für Soldatinnen und Soldaten bei der Betreuung von Kin- einen Mann war das akzeptabel!) dern unterstützt und beraten werden können. Dies gilt besonders für diejenigen, die durch einen Auslandsein- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: satz für eine gewisse Zeit von der Familie getrennt sind. Gerade die mit dem Gesetzentwurf möglich werdende Das wollen wir einmal sehen. (B) Teilzeitbeschäftigung könnte bei Auslandseinsätzen, vor Das Wort hat die Abgeordnete Ursula Lietz. (D) allem soweit reine Soldatenehen betroffen sind, für die betroffenen Eltern wirksame Hilfe schaffen. Ursula Lietz (CDU/CSU): Viertens. Wir behalten die für die Einsätze der Bun- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- deswehr nun einmal notwendige Flexibilität. Die Ent- ginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und scheidung, ob und im welchem Umfang das Soldatin- Herren! Gestatten Sie mir eine Bemerkung vorweg: Hier nen- und Soldatengleichstellungsdurchsetzungsgesetz ist gerade von einer Männerquote gesprochen worden. im Auslandseinsatz zur Anwendung kommt, wird vom Wenn es eine solche Quote gäbe, dann müssten wir sie Bundesministerium der Verteidigung für jedes Einsatz- auch heute Abend erfüllen. Das dürfte uns nicht gelin- kontingent genau geprüft werden. Es wird hier keine gen. Routine geben. Aber es muss natürlich der Grundsatz durchgehalten werden, dass die Funktionsfähigkeit der Seit fast 30 Jahren leisten Frauen ihren Dienst bei der Streitkräfte durch die Anwendung des Gesetzes nicht Bundeswehr. Es wird immer wieder übersehen, dass beeinträchtigt wird. schon seit 30 Jahren Frauen Dienst im Sanitätswesen der Bundeswehr leisten können. Seit 2001 haben Frauen Zu- Fünftens. Wir bauen in den Gesetzentwurf eine allge- gang zu allen Verwendungen und Truppengattungen. Für meine Erfolgskontrolle ein. Das Soldatinnen- und den Einsatz in diesen Bereichen sind die persönliche Soldatengleichstellungsdurchsetzungsgesetz sieht des- Eignung und Befähigung des Einzelnen ohne Ansehen halb zwei wesentliche Berichtspflichten vor. Zum einen des Geschlechts ausschlaggebend, wie es das Grundge- ist ein alle vier Jahre an den Deutschen Bundestag zu er- setz in Art. 3 Abs. 2 vorschreibt. Ich zitiere: stattender Bericht der Bundesregierung vorgesehen. Mit Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat ihm soll über die Situation der Soldatinnen im Vergleich fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichbe- zu der Situation der Soldaten und über die Anwendung rechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf des Gesetzes nach Auswertung statistischer Angaben un- die Beseitigung bestehender Nachteile hin. terrichtet werden. So soll zum Beispiel belegt werden, ob das Angebot zur Teilzeitbeschäftigung angenommen Ich erinnere an Debatten, die wir im Bundestag ge- wird und wie sich die Arbeit der Gleichstellungsbeauf- führt haben und in denen wir durchaus nicht alle von tragten praktisch auf die Durchsetzung der Gleichstel- vornherein der Meinung waren, dass Frauen in allen lung auswirkt. Zum anderen legt der Gesetzentwurf fest, Streitkräften und Bereichen der Bundeswehr eingesetzt dass das Bundesministerium der Verteidigung spätestens werden sollten. Die damals vorhandenen Bedenken ha- nach fünf Jahren dem Deutschen Bundestag darüber be- ben sich Gott sei Dank nicht bewahrheitet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12093

Ursula Lietz (A) Mittlerweile sind 10 235 Frauen – das ist der Stand den wir feststellen, dass es in einigen Bereichen der (C) vom Mai dieses Jahres – Soldatinnen in der Bundeswehr. Bundeswehr möglicherweise schwieriger ist, die ge- Ungefähr 2 700 von ihnen waren bereits im Einsatz. Da- wünschte Quote zu erreichen. Das wird je nach Einsatz für, dass erst seit drei Jahren Frauen der kämpfenden und Anforderungen sehr unterschiedlich sein. Truppe und den Einsatztruppen angehören, ist das eine beachtliche Zahl. Wichtig muss uns allen aber sein, dass das Gesetz von allen akzeptiert wird, statt von einigen nur zähneknir- Ich möchte an dieser Stelle – ich hoffe, die Herren schend zur Kenntnis genommen zu werden. Daher ist es nehmen mir das nicht übel – gerne speziell den Soldatin- das Ziel, eine stärkere Leistungsdifferenzierung einzu- nen danken, die ihren Dienst generell und gut in der führen, derzufolge Beförderungen nach Eignung, Leis- Truppe ausüben tung und Befähigung und weniger nach einer Quotierung erfolgen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – natürlich mit der Hilfe ihrer männlichen Kameraden. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der Sie verrichten ihren Dienst, wie es ihre Kameradinnen mir besonders wichtig erscheint, weil er auch etwas mit im Sanitätsdienst schon seit 30 Jahren tun. der Förderung von Frauen in der Bundeswehr zu tun hat. Dabei handelt es sich um den gesamten Komplex der Trotzdem waren wir alle gemeinsam der Meinung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf. dass es einer gesetzlichen Grundlage bedarf, den Erfor- dernissen der Integration von Frauen in die Truppe Der Soldatenberuf ist kein Beruf wie jeder andere. gerecht zu werden, und zwar in Form eines Gleichstel- Frauen und Männer gehen in Einsätze und sie müssen lungsgesetzes, wie es bereits für alle Bereiche des öf- für ihre kleinen Kinder zu Hause manchmal sehr kurz- fentlichen Dienstes existiert. Ein solches Gesetz wollen fristig eine Betreuung finden. Ich denke, wir sollten ver- wir auch für die Bundeswehr einführen. Dieses Gesetz suchen, dafür zu sorgen, dass Eltern von kleinen Kindern hätte möglicherweise zeitgleich mit der Einrichtung von nicht gleichzeitig in einen Einsatz geschickt werden. Sie Stellen für Frauen in allen Bereichen der Bundeswehr haben möglicherweise Schwierigkeiten, ihre Kinder un- oder zumindest in größerer zeitlicher Nähe zu dem terzubringen. Jahr 2001 in Kraft treten können, wie wir es damals ge- fordert haben. (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das (B) DIE GRÜNEN]: Gut Ding braucht Zeit!) ist auch Teil der Fürsorgepflicht!) (D) Wir freuen uns aber, dass der Gesetzentwurf jetzt vor- Ich empfehle in diesem Zusammenhang die Lektüre ei- liegt, sodass wir ihn gemeinsam beraten können. Denn nes sehr schönen Artikels eines siebenjährigen Jungen, wir treten jetzt in eine Phase ein, in der immer mehr den das Forum für Soldatenfamilien veröffentlicht hat. Frauen befördert werden. Die Beförderungen bringen es mit sich, dass danach gefragt wird, warum eine Kame- Lieber Herr Staatssekretär, ob die FBZs und die Fami- radin befördert wird und jemand anders nicht. Ich denke, lienbetreuungsstellen die richtigen Möglichkeiten für darauf müssen wir eine vernünftige Antwort geben. Wir eine Kinderbetreuung bieten, wage ich zu bezweifeln; wissen, dass diese Fragestellung nicht nur in der Bun- denn ich glaube, dass das nicht ausreichend sein wird. deswehr gelegentlich zu Konflikten führt. Die Soldaten Hier müssen wir andere Möglichkeiten finden, bis hin müssen und sollen erkennen, dass ihre Kameradinnen zum Sicheinkaufen in bereits bestehende Kindergärten. befördert werden, weil sie von ihrer Leistung her dazu In anderen Ländern macht man uns das vor. Wir müssen befähigt sind. Die Bundesregierung hat einen Gesetzent- das Rad also nicht neu erfinden. In Schweden, aber auch wurf vorgelegt, der diesem wichtigen Anliegen meiner in Großbritannien ist das Berufsbild des Soldaten durch- Meinung nach unzureichend gerecht wird. Es kann der aus im Einklang mit alltäglichen Belangen. Ich würde es Eindruck entstehen, dass Frauen an den Männern vorbei gerne sehen, wenn wir nicht nur alle vier Jahre, sondern befördert werden sollen. Das ist aber nicht der Fall. Viel- etwas öfter einen Bericht bekämen, in dem über den Er- mehr steht die Leistung im Vordergrund. folg bzw. den Nichterfolg der Gleichstellung informiert wird. Herr Staatssekretär, Sie haben eben ausgeführt, dass die Leistungsstarken vor den Leistungsschwachen geför- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. dert würden. Ich nehme an, Sie meinten „befördern“; Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE denn fördern sollten wir die einen wie die anderen. Ich GRÜNEN]) denke, das ist auch der Fall. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir müssen Eine starre Quotierung des Frauenanteils ist nicht uns immer wieder vor Augen halten, dass Menschen, die wünschenswert. Das werden wir sicherlich noch in den bereit sind, unser Land, unser Leben und unseren Frie- weiteren Beratungen diskutieren. Wir empfehlen, bis den, aber auch den Frieden anderer Nationen zu beschüt- zum Erreichen der Quote die Unterrepräsentanz des An- zen und dafür notfalls ihr Leben zu riskieren – die Solda- teils der Soldatinnen an den Geburtsjahrgängen des je- tinnen und Soldaten wissen, dass sie das tun –, eine weiligen Bereiches deutlicher zu definieren. Dann wer- besondere Fürsorgepflicht des Dienstherren und auch 12094 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Ursula Lietz (A) des Parlaments erwarten können. Vor diesem Hinter- Der Vorschlag der CDU/CSU, die „starre Quotie- (C) grund bitte ich Sie alle, uns bei den Beratungen zu unter- rung“ aufzugeben und stattdessen bis zum Erreichen der stützen. Quote die Unterrepräsentanz des Anteils der Soldatinnen an den Geburtsjahrgängen zu definieren, ist aber nicht Vielen Dank. zielführend. Frau Lietz, Sie schreiben damit den Anteil (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Soldatinnen fest und unternehmen so keine Anstren- neten der FDP) gungen, ihn zu erhöhen. Auch der Vorschlag der FDP, den Frauenanteil durch nachprüfbare Zielgrößen zu er- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: höhen, die aber keineswegs Quoten sein dürfen, scheint Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard mir mehr der Angst der FDP vor der Quote geschuldet Schewe-Gerigk. zu sein, als zur Erhöhung des Frauenanteils beizutragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ina Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Lenke [FDP]: Ich sage dazu gleich etwas!) GRÜNEN): – Das ist in Ordnung. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Es war eine Frau, die das Innenleben der Bundes- Der vorliegende Gesetzentwurf macht deutlich: Sind wehr stärker verändert hat als manche Reform zuvor. Als Frauen und Männer gleich gut, werden nun Frauen ein- Tanja Kreil im Jahre 2000 vor dem Europäischen Ge- gestellt oder befördert. Wir werden die weitere Entwick- richtshof den Zugang für Frauen auch zum Dienst an der lung genau beobachten, und zwar auch daraufhin, ob es Waffe erstritt, war klar: Das ist eine enorme Herausfor- ausreicht, die Gleichstellungsbeauftragten erst ab der Di- derung für die Bundeswehr. Das Ende einer der letzten visionsebene zu wählen. Frau Lietz, aus diesem Grunde Männerbünde wurde eingeläutet; denn die Bundeswehr erscheinen mir die Fristen für die Überprüfung des Ge- war – mit Ausnahme des Sanitäts- und des Musikdiens- setzes zu lang: fünf Jahre für die Überprüfung der Quo- tes – ganz offensichtlich einer. Militär und Mann im tenregelung und vier Jahre bis zum ersten Bericht. Das Gleichklang! ist zwar an das Gleichstellungsgesetz für den öffentli- chen Dienst angelehnt. Aber die Bundeswehr ist wegen Nun wissen wir, dass sich Männerbünde nicht freiwil- ihrer Geschichte und Struktur ein anderer Arbeitgeber. lig und auch nicht gerne für Frauen öffnen. Hier macht die Bundeswehr trotz guten Willens und offizieller Lip- Darum hat das Parlament die Pflicht, die Entwicklung penbekenntnisse zur problemlosen Integration von genau zu prüfen. Eine Verkürzung beider Berichtsfristen Frauen keine Ausnahme. Daher war klar: Wir wollen und auf zwei Jahre wäre meines Erachtens angemessen. Ein (B) müssen diesen Transformationsprozess – man kann die- jährlicher Bericht, wie Sie von der CDU/CSU es fordern, (D) sen Begriff durchaus verwenden – mit gesetzlichen Rah- scheint mir ein wenig über das Ziel hinaus zu schießen; menbedingungen unterstützen. Wir haben die Bundes- schließlich brauchen neue Bestimmungen auch Zeit, um wehr aus guten Gründen nicht in den Geltungsbereich zu greifen. des Gleichstellungsgesetzes für den öffentlichen Dienst aufgenommen. Die besonderen Bedingungen der Streit- (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Darauf können wir kräfte werden nun in dem vorliegenden Regierungsent- uns einigen!) wurf berücksichtigt. Ich bin froh über diesen Entwurf; Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begrüßt sowohl denn er bietet den Soldatinnen und Soldaten – also auch die Gleichstellungspläne als auch die Wahl der Gleich- den Männern – viele Verbesserungen. Wir wollen eine stellungsbeauftragten. Damit gibt es gewählte Ansprech- gezielte Ansprache und Förderung von Frauen und wol- stellen für die Fälle von sexueller Belästigung oder Mob- len die Vereinbarkeit von Familie und Dienst verbessern. bing, die sich im Bericht des Wehrbeauftragten Der Entwurf sieht eine Quote von 15 Prozent bei der traurigerweise immer wieder finden. Truppe und eine Quote von 50 Prozent beim Sanitäts- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE dienst vor. Meine Damen und Herren von der Opposition GRÜNEN]: Das ist ganz wichtig!) – ich spreche insbesondere Sie an, Frau Lietz –, gerade hat der Herr Staatssekretär versucht, Ihnen die Quoten- – Genau, das ist ganz wichtig! regelung zu erklären. Sie gilt erst bei gleicher Eignung, Die Änderung des Soldatengesetzes ermöglicht auch Befähigung und Leistung. Die Sorge, dass schlechter die Einführung von Teilzeit und familienbedingter Beur- qualifizierte Frauen besseren Männern vorgezogen wür- laubung. Damit machen wir einen großen Schritt zur den, ist wirklich unbegründet. Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Dies gilt übri- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gens auch für die Soldaten, meine sehr geehrten Damen sowie bei Abgeordneten der SPD) und Herren; dies ist mir ebenfalls sehr wichtig. Normalerweise gilt das so lange, bis der Anteil eines Ge- Ein Punkt, bei dem ich die Kritik der CDU/CSU teile, schlechts nicht mehr unterrepräsentiert ist, also bis ist die generelle Nichtgeltung bei Auslandseinsätzen. Es 50 Prozent und nicht bis 15 Prozent, wie es der Gesetz- mag durchaus Situationen geben, in denen das Gleich- entwurf vorsieht. Meine Gespräche mit Soldatinnen ha- stellungsgesetz zurückstehen muss. Aber ich sehe es ben jedoch gezeigt, dass sie diese – in ihren Augen – nicht als angemessen an, daraus eine Generalklausel zu Sonderbehandlung fürchten. Es ist eben noch ein sehr machen. Hier erwarte ich im Einzelfall eine Begründung weiter Weg zur wirklichen Gleichberechtigung. des Ministers. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12095

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Die Bundeswehr wird in Zukunft aber auf Soldatin- (C) Kollegen, ich freue mich, dass wir der rechtlichen nen und Soldaten mit hoher fachlicher Kompetenz ange- Gleichstellung der Soldatinnen und Soldaten in großen wiesen sein. Sie wird mehr denn je auf dem Arbeits- Schritten näher kommen. Lassen Sie uns auch die fakti- markt mit der privaten Wirtschaft und dem öffentlichen sche Gleichstellung beobachten und aktiv unterstützen. Dienst um die besten Fachkräfte konkurrieren müssen. Vielleicht können wir in den Ausschüssen einmal darü- Diesen Wettbewerb wird sie nur bestehen können, wenn ber sprechen, ob wir einen gemeinsamen Antrag zu stel- sie auch für junge ausbildungs- und arbeitssuchende len in der Lage sind. Frauen attraktiv wird. Eine allerletzte Anregung: Die Frau Präsidentin hatte (Beifall bei der FDP) vorhin den Titel dieses Gesetzes genannt. Möglicher- Dazu muss die Bundeswehr auf die persönlichen Be- weise sollten wir eine Kommission gründen, die etwas dürfnisse der Soldatinnen und Soldaten Rücksicht neh- anwendungsfreundlichere Titel von Gesetzen findet. men. Drei Jahre nach der Parlamentsentscheidung, Vielen Dank. grundsätzlich Frauen in die Bundeswehr aufzunehmen, liegen nun ausreichende Erfahrungen und Erkenntnisse (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor, sodass wir Korrekturen und Ergänzungen bei der so- und bei der SPD) zialen, rechtlichen und organisatorischen Integration von Frauen in die Bundeswehr vornehmen können. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die FDP hat in einem Antrag Forderungen aufge- Seien Sie froh, dass wir so lange Wörter noch lesen stellt. Einige dieser Forderungen trage ich Ihnen im Fol- können. genden vor: (Heiterkeit) Erstens. Wir wollen, dass der Anteil von Soldatinnen im Truppen- wie im Sanitätsdienst in allen Laufbahnen Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke. und Besoldungsgruppen erhöht wird. Dazu sind kurz-, mittel- und langfristige Zielgrößen festzulegen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Zweitens fordern wir, dass bei allen immer Eignung, Befähigung und Leistung die zentralen Entscheidungs- Ina Lenke (FDP): kriterien sind, damit Frauen genauso wie Männer bis in Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe die Spitzendienstgrade befördert werden; denn sie sind Kolleginnen und Kollegen! Soldatinnen leisten in allen gut und sie sind manches Mal auch Spitze. (B) Teilstreitkräften erfolgreich Dienst und übernehmen Ver- (D) antwortung. Sie stellen täglich ihre Leistungsfähigkeit Drittens. Wir wollen, dass der Einsatz von Soldatin- unter Beweis. nen als Jugendoffiziere schneller realisiert wird. Wir wollen, dass geeignete Soldatinnen an der Seite von Ju- Den Kolleginnen und Kollegen der SPD zur Erinne- gendoffizieren arbeiten. Herr Kolbow, vielleicht gibt es rung: Sie haben sich bis zum Schluss gegen Frauen in so Ansprechpartner für junge Frauen. Das sollten Sie der Truppe gesperrt. Erst ein Urteil des EuGH musste einmal in Ihre Überlegungen einbeziehen. Sie überzeugen. Sie haben unsere Anträge, Frauen in die Viertens geht es darum, gezielt auch die Möglichkeit Bundeswehr zu bringen, hier im Parlament immer abge- des Seiteneinstiegs für qualifizierte Frauen bei der Bun- lehnt. Von daher sollten Sie sehr kleine Brötchen backen. deswehr zu schaffen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Fünftens soll die Zahl der Ansprechstellen für spezifi- Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine sche Probleme weiblicher Soldaten erhöht werden. Anfrage „Soldatinnen in der Bundeswehr“ zeigt, dass in Sechstens – ich komme damit schon fast zum Schluss – einigen Bereichen Soldatinnen im Vergleich zu ihrer fordern wir, für alle nicht im Auslandseinsatz befindli- Gesamtzahl in der Bundeswehr stark unterrepräsentiert chen Soldatinnen und Soldaten Teilzeitmöglichkeiten sind und manchmal sogar völlig fehlen. Dies gilt beson- wie im öffentlichen Dienst zu schaffen. ders für den Bereich der Nachwuchsgewinnung. Die Antworten der Bundesregierung belegen ferner, dass Als frauenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion Soldatinnen später und in geringerer Zahl als ihre männ- sage ich sehr deutlich: Die Bundeswehr hat sich – mit lichen Kollegen Führungspositionen in der Bundeswehr Ausnahme von Auslandseinsätzen – auf die Belange von erreichen. Müttern und Vätern in besonderer Weise einzustellen. Wir alle wollen doch nicht, dass die Bundeswehrangehö- Gemindert wird die Attraktivität der Bundeswehr für rigen auf Kinder verzichten, weil das Umfeld nicht viele Frauen und familienorientierte Männer durch die stimmt. stark eingeschränkte Vereinbarkeit von Familie und Sol- Den Gesetzentwurf der Bundesregierung mit der datenberuf, vor allem durch häufige Versetzungen – diese Quotenregelung hat die FDP intensiv beraten. Wir von stören auch mich sehr; hier ist eine Änderung dringend der FDP werden das auch in den Ausschüssen weiter erforderlich –, fehlende Dienstzeitregelungen und immer tun. Aber wir wissen von den Soldatinnen selbst, dass häufigere Auslandseinsätze. Dies zeigen auch der Be- sie keine Quotenfrauen werden wollen. richt des Wehrbeauftragten und Untersuchungen des So- zialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr. (Beifall bei der FDP) 12096 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: als Soldatinnen bei der Bundeswehr tätig sein werden. (C) Das Wort hat die Abgeordnete Ursula Mogg. Aber wir können sagen, dass es ein staatliches Ziel ist, sie entsprechend ihrem jeweils feststellbaren Anteil zu Ursula Mogg (SPD): fördern. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Es sollte selbstverständlich sein, dass die Förderung Kollegen! Ich freue mich sehr darüber, dass wir heute ei- die gleichen Qualifikationen zwingend voraussetzt. Ich nen Gesetzentwurf beraten, über den es im Hause im betone dies hier dennoch, weil es ein nicht totzukriegen- Großen und Ganzen nur wenige Differenzen gibt. Abge- des Argument gegen Förderquoten ist, das in der Diskus- sehen von der Bedeutung des Gesetzes für die Bundes- sion immer wieder auftaucht. Sie dürfen sicher sein: Die wehr zeigt das, dass die Gleichstellung der Geschlechter Gleichstellung von Frauen ist mir seit Anbeginn meines inzwischen ein Anliegen ist, über das zumindest in der politischen Engagements ein Anliegen. Ich war aber Programmatik, wenn auch nicht immer in der Praxis ein auch immer der Auffassung, dass dieses Anliegen nicht gewisses Einvernehmen besteht. durch eine Militanz, durch die jedes anderweitige Inte- resse ignoriert wird, diskreditiert werden darf. Damit werden wir vor allem den berechtigten Anlie- gen der Soldatinnen und Soldaten gerecht. Die Bundes- Ein Arbeitsplatz bei der Bundeswehr ist nicht wie je- wehr ergreift die Chance auf einen Image- und Attrakti- der andere. Wer seinen Beruf beim Militär sucht, der vitätsgewinn als Arbeitgeber. Das Parlament wird damit muss wissen, dass diese Aufgabe einen besonderen Ein- seinem eigenen Anspruch gerecht, den es fast auf den satz fordern kann, besonders bei einer Armee in interna- Tag genau vor drei Jahren formuliert hat. tionaler Verantwortung. Eine Armee im Einsatz kann keine Teilzeitarbeit garantieren – nach dem möglicher- Das vorliegende Gesetz ist eng an das für die Be- weise etwas absurden Motto: Stellen Sie bitte das Feuer schäftigten der Bundesbehörden und Bundesgerichte ein, ich habe Feierabend! Natürlich sollte die Politik geltende Recht – unter Berücksichtigung der besonderen aber ein Auge darauf haben, dass Teilzeit dort, wo sie Erfordernisse der Streitkräfte – angelehnt. Es geht um wünschenswert und vertretbar ist, selbstverständlich Regelungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird, insbesondere vor dem Hintergrund der insgesamt oder die Möglichkeit der Teilzeitbeschäftigung. notwendigen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Mit einem gewissen Amüsement mag man zur Kennt- Dieses Thema steht auf der großen Agenda. Das be- nis nehmen, dass sich selbst die Union im Bundesrat be- deutet für die Bundeswehr neben den bereits erwähnten müht, die Koalition in dem einen oder anderen Detail so- Themen: familienfreundliche Einsatzplanung und Ver- zusagen links zu überholen, in Bezug auf die Frage der setzung, familienfreundliche Steuerung des Stellenmark- (B) Teilzeitregelung im Auslandseinsatz zum Beispiel. Ob- tes, familienfreundliche Personalführung und weitere (D) wohl wir hierbei, wie Sie wissen, anderer Meinung sind, Verbesserung der Familienbetreuung. neige ich dazu, Ihnen Mut zu machen, den selbst ge- wählten Ansatz weiter zu verfolgen. (Ina Lenke [FDP]: Da bin ich aber gespannt!) Das vorliegende Gesetz unterlag besonderen Anfor- – Da brauchen Sie nicht gespannt zu sein. Das alles wird derungen. Es gibt inzwischen viele Soldatinnen in der Realität. Bundeswehr, aber eine Geschlechterparität in der Grund- (Ina Lenke [FDP]: Ich bin gespannt auf die gesamtheit besteht bekanntlich nicht. Wie ist in diesem Umsetzung in der Praxis!) Bereich Geschlechtergerechtigkeit zu gewährleisten? Auslandseinsätze sind in der Regel so geartet, dass die Wir stehen ohne Wenn und Aber zur Verantwortung Bundeswehr besonderen Anforderungen unterliegt. Wie für unsere Soldatinnen und Soldaten. In diesem Sinne ist kann man bei einem Job, der Engagement und Aufmerk- es auch konsequent, dass bei der Bundeswehr Ehen ohne samkeit rund um die Uhr erfordert, Teilzeitangebote auf- Trauschein – zumal solche, aus denen Kinder hervorge- rechterhalten? – Ich denke, dass das zur Debatte ste- hen – einen ähnlichen Respekt und dieselbe Förderung hende Gesetz solchen Problemen, in denen es sich von erfahren wie die mit Trauschein. einem – in Anführungszeichen – normalen Gleichstel- (Ina Lenke [FDP]: Das ist doch nichts Beson- lungsgesetz unterscheidet, besonders gut gerecht wird. deres!) Ein Gesetz, das den Anspruch hat, Gerechtigkeit her- Ich beziehe dies insbesondere auf die beschwerliche zustellen, muss logischerweise den Eindruck vermeiden, Pflicht der Soldatinnen und Soldaten, alle zwei bis drei Bevorzugung Vorschub zu leisten. Das Letzte, was wir Jahre den Standort zu wechseln, und auf die damit ver- in der Bundeswehr brauchen, ist miese Stimmung – bundenen familiären Belastungen. Ich habe manchmal nicht bei den Männern und auch nicht bei den dort täti- den Eindruck, dass das Regierungshandeln an dieser gen Frauen. Stelle gelegentlich etwas zu verzagt ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Lebensrealität fordert realistische Entscheidungen, Aus diesem Grunde ist die regelmäßige Überprüfung keine antiquierten Gesellschaftsbilder. der angestrebten Standards und deren Anpassung an die jeweilige Situation ein sinnvolles Unterfangen. Wir kön- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des nen heute nicht sagen, wie viele Frauen in fünf Jahren BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12097

Ursula Mogg (A) Der vorliegende Gesetzentwurf wird den Besonder- weit selbst verschuldet –, zugegen war. Bei dieser Befra- (C) heiten und der Herausforderung, Gleichberechtigung in gung haben wir Abgeordnete der CDU/CSU ja nach- einem Bereich anzustreben, in dem auch das Unerwar- drücklich auf die Schwachstellen Ihres Gesetzentwurfs tete zur alltäglichen Arbeit gehört, insgesamt gerecht. hingewiesen und Sie gefragt, ob nicht auch Sie die Fall- stricke der von Ihnen vorgeschlagenen Quotenregelung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ erkennen. Wir wollten von Ihnen unter anderem wissen, DIE GRÜNEN) ob die Situation von Soldatinnen und Soldaten in Aus- landseinsätzen wirklich so wenig beachtenswert ist, dass Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sie keine Erwähnung in diesem Gesetz finden soll. Wir Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Annette haben auch auf die nicht ausreichenden Qualifikations- Widmann-Mauz. maßstäbe verwiesen, auf denen Ihre Quoten ja aufbauen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und auf die Tatsache, dass Alleinerziehende mit kleinen Frau Kollegin Mogg, zunächst einmal herzlichen Glück- Kindern der Willkür des Ministeriums ausgesetzt sind, wunsch zu Ihrem heutigen Namenstag! dem es überlassen bleibt, ob sie zu einem Auslandsein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) satz herangezogen werden oder nicht. Was vor nicht allzu vielen Jahren noch heiß und (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne grundsätzlich debattiert wurde, ist heute zur begrüßens- Kastner) werten Realität geworden: Frauen leisten Dienst in allen Lassen Sie mich in dem Zusammenhang auf das Verwendungen der Bundeswehr; Frauen sind in der Bun- Thema Quotenregelung im Detail eingehen. Nach Ih- deswehr angekommen. Der Qualifikationsgrad der Sol- rem Gesetzentwurf soll künftig festgeschrieben werden, datinnen ist sehr hoch. Sie zeichnen sich durch hohe Mo- dass eine Unterrepräsentanz von Frauen in der Bundes- tivation, großes Engagement und Leistungsbereitschaft wehr dann vorliegt, wenn ihr Anteil in den einzelnen aus. Frauen, die sich für eine Laufbahn in der Bundes- Streitkräften unter 15 und im Sanitätsdienst unter wehr entscheiden, wollen nicht in Watte gepackt werden, 50 Prozent liegt. Praktisch bedeutet das, dass nach In- aber sie wollen gute Rahmenbedingungen und Chancen- Kraft-Treten Ihres Gesetzes 18 Monate lang im Bereich gleichheit. Sie haben Respekt verdient, nicht zuletzt von des Sanitätsdienstes nur noch Frauen zu Unteroffizieren ihren männlichen Kameraden. befördert werden dürfen. Welche Auswirkungen das in (Beifall bei der CDU/CSU) der Realität hat, müsste Ihnen eigentlich bewusst sein. (B) Oder glauben Sie ernsthaft, dass dieses das Verhältnis (D) Es ist wichtig, die Chancengleichheit für Soldatinnen von Frauen und Männern in der Truppe nicht beeinträch- in der Bundeswehr mit angemessenen Maßnahmen in tigen wird? der Praxis weiter zu verbessern und damit die Akzeptanz von Frauen in der Bundeswehr weiter zu erhöhen. Wir Sie verweisen dann – das ist selbstverständlich und von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützen des- auch richtig – sofort auf das Qualifikationsprinzip bei halb nachdrücklich das Anliegen, die Gleichstellung von der Anwendung Ihrer Quotenregelung. Aber genau da Soldatinnen und Soldaten in einem Gesetz festzuschrei- liegt ja der Hase im Pfeffer. Was unter gleicher Qualifi- ben. Dies haben wir unter anderem in unseren beiden kation zu verstehen ist, wird in Ihrem Gesetz nämlich Anträgen deutlich gemacht. nicht definiert. Das ist Sache des Erlassgebers und der Rechtsprechung. Das Beurteilungssystem von Soldatin- Gute Rahmenbedingungen sind die Grundlage für er- nen und Soldaten kennt keine ausreichend differenzierte folgreiche Laufbahnen. Diese Rahmenbedingungen Leistungsunterscheidung. Die Beurteilungen der Solda- müssen für Soldatinnen durchgesetzt werden. Wir wol- tinnen und Soldaten kennen auch kein Gesamturteil. Es len die Durchsetzung der Ermöglichung von Teilzeitar- gibt nur verschiedene Wertungsabschnitte mit gleichran- beit und Maßnahmen für eine Verbesserung der Verein- gig nebeneinander stehenden Aussagen. Keine Spur also barkeit von Dienst und Familie. Wir fordern von Ihnen von geeigneter Leistungsdifferenzierung! Die Recht- ein schlüssiges Kinderbetreuungskonzept, das den spezi- sprechung aus dem Beamtenrecht kann also nicht direkt fischen Lebenssituationen von Soldatinnen und Soldaten auf die Streitkräfte übertragen werden. gerecht wird. Wir setzen uns dafür ein, dass die Anwen- dung der geforderten Maßnahmen auch im Auslandsein- Auch der Notendurchschnitt aus der gebundenen Be- satz sichergestellt wird. Frau Kollegin, ich sehe da schreibung passt nicht, da er nur eine von vier Wertun- eigentlich überhaupt keinen Anlass, in rechts oder links gen bzw. Aussagen darstellt. Im Übrigen hat dieser einzuteilen, denn diese Maßnahmen bieten sich für eine Schnitt so gut wie keinen Aussagewert, wenn zum Bei- solche Kategorisierung nicht an. spiel bei den Hauptfeldwebeln mehrere tausend Solda- tinnen und Soldaten die Wertung 5 – diese bedeutet: (Beifall bei der CDU/CSU) Leistungen übertreffen erheblich die Anforderungen – In diesem Zusammenhang erinnere ich mich noch haben. Die Konsequenz hieraus lautet wiederum: Sind allzu gut an die Regierungsbefragung zu diesem Gesetz- zum Beispiel zehn Stellen zu besetzen und gibt es unter entwurf am 30. Juni, in der Ihr Kollege, Herr Staatsse- 1 000 gleich qualifizierten Anwärtern zehn Frauen, wer- kretär, nicht die frühere Kollegin – den Frauenmangel in den nur sie befördert. Ist dies in unserem Sinne? Glau- diesem Bereich hat die Bundesregierung ja ein Stück ben Sie ernsthaft, so für Frauen in der Truppe etwas zu 12098 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Annette Widmann-Mauz (A) erreichen? Ihr Quotenvorschlag geht völlig an der Le- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (C) benswirklichkeit von Soldatinnen und Soldaten vorbei. gin Marlies Volkmer, SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Dr. Marlies Volkmer (SPD): Wir in der CDU/CSU schlagen deshalb vor, von der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! von Ihnen vorgeschlagenen starren Quotierung abzuse- Mitte der 90er-Jahre ging es um alternative Berufsfelder hen und stattdessen einen so genannten jahrgangsbezo- für Ärzte. Ärzte trugen immer wieder die Forderung vor, genen Quotenzusatz einzuführen. Wir wollen, dass bis die Zulassungsbeschränkungen für das Medizinstudium zu einer Quote gefördert wird, die dem tatsächlichen An- strenger zu regulieren, und zwar vor dem Hintergrund, teil weiblicher Soldaten in den jeweiligen Jahrgängen dass sie eine Ärzteschwemme befürchteten. Das war entspricht. Dieser Vorschlag wird ja auch vom Deut- eine Fehleinschätzung seitens der Ärzteschaft. Heute be- schen Bundeswehr-Verband nachdrücklich unterstützt. schäftigen wir uns mit dem Gegenteil, nämlich mit ei- nem drohenden Ärztemangel, speziell im hausärztlichen (Beifall bei der CDU/CSU) Bereich. Zugleich schlagen wir vor, das Beurteilungssystem mit Dabei ist die durchschnittliche Ärztedichte in dem Ziel einer stärkeren Leistungsdifferenzierung zu re- Deutschland noch immer relativ hoch. Aus ländlichen formieren. Damit wäre für die Soldatinnen eine Menge und strukturschwachen Regionen berichten Patienten gewonnen, ohne die männlichen Kameraden unange- aber zunehmend davon, dass sie weitere Wege zum messen zu benachteiligen. Ich frage mich, warum Sie Hausarzt und längere Wartezeiten in Kauf nehmen müs- nicht auf diese Forderungen der Soldatinnenvertretung sen. Manche finden überhaupt keinen Hausarzt. eingehen. Probleme entstehen vor allem dann, wenn Ärzte in Meine Damen, meine Herren, in der Gleichstellungs- den Ruhestand gehen, jedoch keinen Nachfolger für ihre politik ist Fingerspitzengefühl gefragt. Mit einer unrea- Praxis finden. In den nächsten Jahren werden viele Ärzte listischen Quotierungsregelung tut man den Soldatinnen in den Ruhestand gehen, gerade in den neuen Bundes- keinen Gefallen. ländern; denn der Anteil älterer Ärzte ist dort durch- Herzlichen Dank. schnittlich größer als in den alten Bundesländern. Rund 45 Prozent der Hausärzte werden in den nächsten zehn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jahren ihre Praxis aufgeben.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es ist auch kein Geheimnis, dass es für junge Allge- (B) meinärzte nach wie vor attraktiver ist, sich in den alten (D) Ich schließe die Aussprache. Bundesländern niederzulassen. Grund hierfür ist unter Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf anderem ein deutlich niedrigeres Einkommen bei höhe- den Drucksachen 15/3918 und 15/3717 an die in der Ta- rer Arbeitsbelastung im Osten, da dort mehr alte und gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. kranke Menschen leben und die Arztdichte geringer ist. Die Vorlage auf Drucksache 15/3960, also Tagesord- Generell haben jedoch alle strukturschwachen und länd- nungspunkt 10 c, soll federführend an den Ausschuss für lichen Gebiete in ganz Deutschland ähnliche Probleme: Familie, Senioren, Frauen und Jugend und zur Mitbera- Je weiter ein Praxisstandort von der nächsten größeren tung an den Verteidigungsausschuss überwiesen werden. Stadt entfernt ist, je schlechter die überregionale Ver- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann kehrsanbindung und das kulturelle und gesellschaftliche sind die Überweisungen so beschlossen. Ambiente sind, desto geringer ist die Bereitschaft von Ärztinnen und Ärzten, sich dort niederzulassen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Was ist zu tun, um den drohenden Ärztemangel zu Beratung des Antrags der Abgeordneten verhindern? Ein Großteil der lokalen Versorgungspro- Dr. Marlies Volkmer, Gudrun Schaich-Walch, bleme muss durch die zuständigen Stellen vor Ort gelöst Erika Lotz, weiterer Abgeordneter und der Frak- werden. In erster Linie sind die Kassenärztlichen Ver- tion der SPD sowie der Abgeordneten Birgitt einigungen gefordert; denn ihre gesetzliche Aufgabe ist Bender, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, wei- die Sicherstellung der ambulanten Versorgung. Sie müs- terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- sen durch geeignete Maßnahmen Anreize für die Nieder- NISSES 90/DIE GRÜNEN lassung in schlecht versorgten Regionen schaffen. Der Die flächendeckende ambulante hausärztliche Gesetzgeber muss für den notwendigen gesetzlichen Versorgung sichern Rahmen sorgen. Dieser Rahmen ist durch die letzte Ge- sundheitsreform wesentlich erweitert worden. Zum Bei- – Drucksache 15/3581 – spiel wurde den Kassenärztlichen Vereinigungen ermög- Überweisungsvorschlag: licht, in den Regionen, in denen Unterversorgung droht, Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Ärzten Zuschläge zum Honorar zu zahlen, um die Ver- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sorgung sicherstellen zu können. Die Kassenärztlichen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Vereinigungen sind gefordert, dieses Instrument auch Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre anzuwenden. Zudem wurde in den neuen Bundesländern keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. die Gesamtvergütung für die Ärzte erhöht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12099

Dr. Marlies Volkmer (A) Auch die Einführung Medizinischer Versorgungs- meister und Landräte, gefordert, gemeinsam diesen Rah- (C) zentren wird die Versorgungssituation verbessern. Diese men auszufüllen und Maßnahmen gegen den Ärzteman- Zentren haben die ostdeutschen Polikliniken zum Vor- gel durchzusetzen. bild. Für die Patienten ist es attraktiv, unter einem Dach unterschiedliche medizinische Leistungen in Anspruch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nehmen zu können. Für die Ärzte, vor allem für junge DIE GRÜNEN) Ärztinnen und Ärzte, ist es interessant, als Angestellte eines Versorgungszentrums an der vertragsärztlichen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Versorgung teilnehmen zu können. Es ist dann beispiels- Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk, CDU/ weise in einer ländlichen Region möglich, für einige Zeit CSU-Fraktion. ambulant tätig zu sein, ohne sich mit einer Praxis finan- ziell verschulden zu müssen. Maria Michalk (CDU/CSU): Es hat sich aber gezeigt, dass der Gesetzgeber weitere Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Maßnahmen ergreifen muss. Wichtigste Aufgabe ist es, Herren! Es liegt wohl in der menschlichen Natur, ver- die Voraussetzungen für die Anstellung von Ärzten in nünftig zu denken und unlogisch zu handeln. Unsere Arztpraxen zu vereinfachen. So wären zum Beispiel Welt ist voller Beispiele dafür. Deshalb muss es im Par- Ärzte, die bereits im Ruhestand sind, durchaus bereit, für lament unsere Aufgabe sein, ständig Logik in unser Han- einige Jahre als Angestellte in einer Arztpraxis zu arbei- deln zu bringen. ten. Ich nenne ein Beispiel für nicht logisches Handeln. In (Detlef Parr [FDP]: Dann müssen Sie aber die der letzten Sitzungswoche ist die von uns allen gemein- 68er-Regelung zu Fall bringen und unserem sam beschlossene Zahnersatzregelung von der Koalition Antrag zustimmen!) zurückgenommen worden. Das scheitert jedoch daran, dass die Beschäftigung von Ein weiteres Beispiel ist heute dieser Antrag. Warum? angestellten Praxisärzten eine Leistungsausweitung der Nach der gemeinsamen Verabschiedung des Gesund- Praxis nur um maximal 3 Prozent zur Folge haben darf. heitssystemmodernisierungsgesetzes, in dem nach zä- Daher muss gesetzlich festgeschrieben werden, dass ein hem Ringen zum Beispiel eine Verbesserung der Hono- Arzt in einer Vertragsarztpraxis ohne Leistungsbegren- rarsituation der Ärzte in den neuen Bundesländern zung angestellt werden kann, wenn es sich um eine Re- erreicht wurde, waren wir uns einig, eine gemeinsame gion handelt, in der Zulassungen prinzipiell möglich Arbeitsgruppe, in der auch die Länder mitarbeiten, ein- sind, also wenn es sich nicht um eine gesperrte Region zusetzen. Sie sollte sich mit erkannten Problemen befas- (B) handelt. sen und Grundlagen für unser weiteres Vorgehen erar- (D) beiten. Wenn wirklich alle Möglichkeiten genutzt werden sollen, um Versorgungslücken zu schließen, müssen Das ist geschehen. Die Bund-Länder-Arbeits- auch Denkblockaden überwunden und neue Wege ge- gruppe hat ihre Arbeit aufgenommen. Sie befasst sich gangen werden. mit der Überprüfung des Risikostrukturausgleichs, mit Fragen zum Organisationsrecht der Krankenkassen so- (Detlef Parr [FDP]: Das ist gut!) wie mit der Versorgungssituation im ambulanten und im Ich weiß um die Ängste der Ärzteschaft vor Einzelver- stationären Bereich. Das heutige Thema ist also Be- trägen mit den Krankenkassen. Im Interesse der Patien- standteil der Aufgabe der Arbeitsgruppe. Verabredet tinnen und Patienten – denn um deren Versorgung geht war, dass erst dann, wenn die Ergebnisse der Arbeits- es – muss es jedoch möglich sein, dass in unterversorg- gruppe vorliegen, parlamentarische Initiativen ergriffen ten Gebieten Ärzte und Krankenkassen Verträge aushan- werden sollen. Nun ist es aber anders gekommen. Wo deln können. Hier bestehen für Ärzte gute Möglich- bleibt da die Logik des Handelns? keiten, sich zu etablieren. Wenn die KVen ihren (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Wir sind das Par- Sicherstellungsauftrag erfüllen, gibt es überhaupt keine lament, Frau Michalk!) Notwendigkeit für Einzelverträge. Nun könnten wir eigentlich aufatmen, weil endlich Wie bereits erwähnt, gibt es in Deutschland Regio- auch die Regierungskoalition erkannt hat, dass vor allem nen, wo überdurchschnittlich viele alte und kranke Men- in den strukturschwachen Regionen der neuen Bundes- schen leben. Die bisherigen Instrumente der Bedarfs- länder bestimmte Bereiche hinsichtlich der ambulanten planung für Praxissitze stellen jedoch nur auf die ärztlichen Versorgung dringenden Handlungsbedarf ha- Einwohnerzahl ab. So kann es vorkommen, dass Ärzte ben. für die gleiche Zahl an Patienten überdurchschnittlich viel Arbeit aufbringen müssen. Deswegen ist es notwen- (Beifall bei der CDU/CSU) dig, bei der Bedarfsplanung auch den Morbiditätsgrad in der Bevölkerung zu berücksichtigen. Noch vor einem Jahr hat das die Regierung negiert. Deshalb freue ich mich, Frau Volkmer, dass Sie die Ini- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzgeber tiative ergriffen haben, leider an der Absprache der legt den gesetzlichen Rahmen fest. Wir wollen diesen Arbeitsgruppe vorbei. Ich kann es Ihnen aber nicht er- Rahmen mit unserem Antrag verbessern. Letztlich sind sparen, im Folgenden Ihre heutigen Vorschläge dem ge- alle Akteure im Gesundheitswesen, aber auch Bürger- genüberzustellen, was die Bundesregierung zu genau 12100 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Maria Michalk (A) diesem Thema in ihrer Antwort auf unsere Kleine An- Heute klingt das Gott sei Dank anders: Die Bereit- (C) frage ausgeführt hat. schaft zur Niederlassung in den neuen Ländern – so steht es sinngemäß im Antrag – ist gering, da Vergütung und (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Wir sind das Lebensbedingungen in den alten Ländern besser sind Parlament!) und in den neuen Ländern eine höhere Morbidität be- Dass Handlungsbedarf besteht, darin sind wir uns einig; steht, sodass pro Arzt 8 Prozent mehr Versicherte zu be- das habe ich bereits gesagt. Insbesondere die Hausärzte handeln sind. in den neuen Ländern haben das permanent thematisiert. Dazu kann ich nur sagen: Endlich eine reale Wahr- Es haben unzählige Gespräche stattgefunden. Insofern nehmung! Das ist sogar ein Lob. sind wir schon einen Schritt weiter. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Ursula Lietz Ich empfehle also allen Interessierten, die Druck- [CDU/CSU]: Besser spät als nie!) sache 15/1440 – das ist die Antwort der Bundesregie- rung auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU zur Situation Drittens, zur Morbidität. Wir hatten in unserer Klei- der ambulanten Versorgung in den neuen Bundesländern nen Anfrage die Frage gestellt, wie denn die Versor- vom 18. Juli 2003 – und die Drucksache 15/3581, die gungssituation im Hinblick auf die Morbidität und die heute zur Debatte steht, zu vergleichen. Drei Beispiele Altersstruktur der Bevölkerung in den neuen Ländern will ich aufgreifen, weil sie den Sinneswandel der Re- aussieht und welche Krankheiten einen Schwerpunkt bil- gierung – ich sage noch einmal: Gott sei Dank – verdeut- den. lichen: Antwort der Bundesregierung: Erstens. Auf unsere Frage 11, wie die Bundesregie- rung die Schätzungen der Kassenärztlichen Bundesver- Der Bundesregierung liegen keine aktuellen, detail- einigung bewertet, wonach in den neuen Ländern bis lierten Daten über die Versorgungssituation im Hin- zum Jahre 2008 ein Ersatzbedarf an 1 944 Hausärzten blick auf die Morbidität der Bevölkerung in den besteht, wird geantwortet – jetzt zitiere ich –: neuen Ländern vor. Einen Ersatzbedarf in der genannten Größenord- So einfach wurden wir als Opposition abgespeist. nung sieht die Bundesregierung nicht. (Zuruf von der CDU/CSU: Wie wahr!) Heute steht im Antrag der Koalition zu diesem Heute heißt es im vorliegenden Antrag: Thema, dass jenseits der Bedarfsplanung problematische Versorgungssituationen bestehen, wenn frei werdende Da aufgrund der relativ geringen Anzahl für Haus- (B) Arztsitze nicht wieder besetzt werden. Jetzt zitiere ich: ärzte gesperrter Planungsbereiche auch in den alten (D) Bundesländern weitgehende Niederlassungsfrei- Bei einer Nichtnachbesetzung der frei werdenden heit herrscht, ziehen es viele Hausärzte vor, sich in Arztstellen besteht die Gefahr, dass Planungsberei- den alten Bundesländern niederzulassen. Gründe che unter die … Unterversorgungsgrenze von hierfür sind die höhere Morbidität in den neuen 75 Prozent fallen. Bundesländern und die damit verbundene höhere In dem heute vorliegenden Antrag wird weiter festge- Arbeitsbelastung der Allgemeinmediziner … sowie stellt, dass die Zahl der Hausarztstellen in den neuen die schlechteren Lebensbedingungen in struktur- Bundesländern entgegen dem Gesamttrend von 2001 bis schwachen Regionen mit anhaltend hoher Arbeits- 2002 um 1,82 Prozent zurückgegangen ist. Dazu merke losigkeit ... ich an: Unsere Anfrage war von 2003; da lagen die Zah- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will es len von 2002 bereits vor. bei diesen drei Fakten belassen. Man könnte es noch Zweitens. Auf unsere Frage 28 zur Niederlassungs- fortführen. Fakt ist, dass wir die Bewertung von Versor- bereitschaft in den neuen Ländern antwortet die Bun- gungsregionen neu aufrollen müssen – da sind wir uns desregierung, dass es trotz des Rückgangs der Studien- einig –, dass wir mehr Anreize für Niederlassungen in zahlen wegen der Reduzierung der Studienplätze strukturschwachen Regionen schaffen müssen und dass ausreichenden ärztlichen Nachwuchs gibt. Auf eine spä- wir den Arzt im öffentlichen Bewusstsein nicht zum tere Frage heißt es – jetzt zitiere ich –: Großverdiener und Abzocker degradieren dürfen, Es wird immer wieder Versorgungsregionen geben, (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist die von jungen Medizinern als weniger attraktiv an- es!) gesehen werden … Solange es ungesperrte Versor- sondern als den Diener unserer Gesellschaft anerkennen gungsbereiche in Deutschland gibt, ist es der Ent- müssen. scheidung des Einzelnen überlassen, den aus seiner Sicht attraktivsten Arztsitz zu wählen. Salbungsvolle Worte werden aber wenig Einfluss auf Außerdem sei eine Erhöhung des Vergütungsniveaus in die Entscheidungen junger Mediziner haben. Die Schaf- den neuen Ländern schrittweise durchgesetzt worden. fung handfester Voraussetzungen, Anreize und Aus- gleichsmaßnahmen für unterschiedliche Situationen in Mit anderen Worten – ich fasse zusammen –: Die unseren Bundesländern sind notwendig. Hier sehen wir Bundesregierung sieht sich also nicht veranlasst, die Un- uns einig mit den Forderungen des Ärztetages hinsicht- terversorgungsregionen zu thematisieren. lich der Arztbindung und berufsübergreifender Koopera- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12101

Maria Michalk (A) tionen. Gewinnmaximierung für Ärzte ist nicht unsere also 20 Prozent mehr als zu Zeiten der befürchteten Ärz- (C) Triebkraft. Gleichwohl muss sich der Einsatz lohnen. teschwemme. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir legen großen Wert darauf, die Ergebnisse der ein- gesetzten Arbeitsgruppe abzuwarten, um sie dann ge- Ich glaube deshalb, dass wir in Deutschland von einem meinsam mit Leben zu erfüllen. Dass wir nicht ganz da- Versorgungsnotstand insgesamt weit entfernt sind. neben liegen und die Arbeitsgruppe in die gleiche Richtung denkt, bestätigen Aussagen von Mitgliedern Solche Globaldaten reichen selbstverständlich für die dieser Arbeitsgruppe, die auch Ihren Antrag gelesen ha- Beurteilung arztgruppenbezogener oder regionaler Ver- ben. Im Protokoll und jetzt in Ihrem Antrag sind sehr sorgungssituationen nicht aus. Tatsache ist, dass die ähnliche, wenn nicht sogar wortgleiche Passagen. fachärztliche Versorgung in Ost- und Westdeutschland gesichert ist. Vor allem in den neuen Bundesländern ist (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Das ist doch die Zahl der Fachärzte in den vergangenen Jahren noch schön!) einmal kräftig angestiegen, nämlich von 1993 bis 2002 – Dann halten Sie sich bitte an die Absprachen! Wir hal- um 20 Prozent. Tatsache ist aber auch, dass die Sicher- ten uns daran. stellung der hausärztlichen Versorgung in den neuen Bundesländern in einigen Regionen kurz- und mittelfris- (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Ich habe keine tig gefährdet ist. Die hohe Zahl älterer Ärztinnen und Absprachen getroffen!) Ärzte, der rapide demographische Wandel in vielen Ge- genden und die schlechte Verkehrssituation in manchen Die Menschen erwarten von uns zu Recht vernünftige Landstrichen drohen zu Versorgungslücken zu führen. Rahmenbedingungen, damit Probleme gelöst werden können. Die Erfüllung des Versorgungsauftrages auch Die Ursachen für diese Entwicklung sind verschieden in der Fläche gehört dazu. und werden sich nicht alle durch Politik beheben lassen. Dass sich junge Ärztinnen und Ärzte lieber in West- Ich will ein Fazit ziehen. Nur wer die Wirklichkeit deutschland niederlassen, weil dort das Leben vielfach wahrnimmt, kann sie auch gestalten. Die Wahrnehmung einfacher ist als in Ostdeutschland, Frau Michalk, unter- der Sorgen in Bezug auf die hausärztliche Versorgung scheidet sie überhaupt nicht von anderen Berufsgruppen. vor allem in den neuen Bundesländern hat sich auf der Dies werden wir auch per politisches Dekret nicht än- Regierungsseite verbessert. Ich sage noch einmal: Nun dern können. Dies gilt auch für den höheren Anteil luk- sollten wir uns aber an die Absprachen halten und die rativer Privatversicherter in den alten Bundesländern. Sache neu auf die Tagesordnung setzen, wenn die Ergeb- (B) (D) nisse der Arbeitsgruppe vorliegen. Denn Aktionismus Für die Verbesserung der Verdienstmöglichkeiten in – egal von welcher Seite – hilft weder den Leistungser- den neuen Bundesländern haben wir bereits mit der Ge- bringern noch den Patienten oder den Menschen, für die sundheitsreform viel getan. Die aus der gesetzlichen wir da sind. Krankenversicherung bezogenen Ärztehonorare wer- den in West und Ost angeglichen. Angesichts der erheb- In diesem Sinne hoffe ich, dass uns das eine Lehre lichen und noch auf Jahre hinaus bestehenden Verdienst- war und dass wir uns an die Absprachen halten. unterschiede zwischen den alten und den neuen Vielen Dank. Bundesländern ist das ein bemerkenswerter Schritt. Weitere Anreize entstehen dadurch, dass die Kassenärzt- (Beifall bei der CDU/CSU) lichen Vereinigungen und die Krankenkassen die Mög- lichkeit haben, in unterversorgten Regionen Sicherstel- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lungszuschläge zu zahlen. Das Wort hat die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die Grünen. Wichtiger als all diese materiellen Anreize muss es aber sein, den Hausarztberuf in seinem gesellschaftli- chen Ansehen und in seiner Stellung im Versorgungssys- Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tem wieder aufzuwerten. Zu lange konnte der Eindruck Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und entstehen, dass Hausärzte doch nur Ärzte zweiter Klasse Herren! Auch für das Gesundheitswesen gilt offensicht- seien. Da war es nicht weiter verwunderlich, dass die lich der Grundsatz: Alles ist relativ. Allgemeinmedizin unter den Studierenden nur noch we- Zu Beginn der 90er-Jahre war häufig von einer Ärzte- nig Interesse gefunden hat. Auch hier hat die rot-grüne schwemme die Rede. Damals gab es bundesweit Bundesregierung eine deutliche Kurskorrektur vorge- 300 Ärztinnen und Ärzte pro 100 000 Einwohner. In den nommen. Bereits mit der Gesundheitsreform 2000 letzten Jahren wird dagegen viel von Ärztemangel ge- wurde ein eigener Anteil der Hausärzte an der Gesamt- sprochen: Dem deutschen Gesundheitswesen gingen die vergütung der Ärzte und wurde ihre eigenständige Be- Ärzte aus; mittelfristig sei die medizinische Versorgung rücksichtigung in der Bedarfsplanung eingeführt. Die der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet. Tatsächlich flächendeckende Ausweitung des Hausarztmodells in- haben wir aber heute 360 Ärztinnen und Ärzte pro folge der jüngsten Gesundheitsreform ist ein weiterer 100 000 Einwohner, Schritt auf diesem Reformpfad. Ich denke, da haben wir alle – zusammen mit der Unionsfraktion – einen guten (Peter Dreßen [SPD]: Hört! Hört!) Kompromiss gefunden. 12102 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Petra Selg (A) Wie schon einmal gesagt, die hausärztliche Versor- zahlung erwarten können. Sie brauchen eine langfristige (C) gung wird zukünftig noch wichtiger werden. Durch die Perspektive und Planungssicherheit. zunehmende Zahl chronisch kranker und multimorbider Patientinnen und Patienten, die mit ihren Krankheiten le- Das Wissen um freie Kapazitäten in ländlichen Ge- ben müssen, wird der Stellenwert von Ärztinnen und bieten, um gedeckelte Budgets und härtere Arbeitsbedin- Ärzten wachsen, die ihre Patientinnen und Patienten gungen wird junge Ärzte – weder angestellt noch als auch in ihrem Lebensumfeld wahrnehmen und beson- Freiberufler – sicherlich nicht in unterversorgte Gebiete dere Beratungskompetenzen aufweisen. locken. Stärkere Anreize müssen gesetzt werden. Mög- lich wären Einkommensgarantien, finanzielle Anreize Ich möchte eines zum Schluss trotzdem noch sagen, oder die Aussicht auf einen Wechsel in ein beliebtes Ge- Frau Michalk. Wir haben die Unterversorgungsregionen biet nach einigen Jahren, wie wir es beispielsweise bei sehr wohl im Blick. Wir nehmen die Wirklichkeit wahr. Notaren kennen. Auf jeden Fall müssen die Budgets ei- Politik ist hier aber nicht zuerst gefragt; vielmehr ist der ner leistungsgerechten Vergütung mit festen Preisen wei- Sicherstellungsauftrag in der ärztlichen Versorgung in chen. Auch wenn ich es wichtig finde, dass man Ärzten erster Linie Sache der Kassenärztlichen Vereinigungen. die Möglichkeit gibt, angestellt tätig zu sein, führt an ei- Die, so denke ich, sollten erst einmal ihre Hausaufgaben ner Stärkung der Freiberuflichkeit kein Weg vorbei. machen; wir werden die Rahmenbedingungen dafür mit Sicherheit setzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Danke. Der Arztberuf in Deutschland ist eng verknüpft mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Freiberuflichkeit und der Perspektive auf eine eigene und bei der SPD) erfolgreiche Praxis, die ein kleines Unternehmen ist und in der unter den Bedingungen der Therapiefreiheit gute Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Medizin in einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr, FDP- Arzt und Patient betrieben werden kann. Fraktion. Wer wirklich etwas bewegen will, der muss zudem dafür sorgen, dass die Ärzte nicht mehr dafür miss- Detlef Parr (FDP): braucht werden, die Rationierung vorzunehmen, um die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sich die Politik drückt. Die Behauptung, alles medizi- werden ja sehen, was uns noch alles vonseiten der Koali- nisch Notwendige lasse sich aus dem zur Verfügung ge- tion erwartet. Es ist allerdings wenig attraktiv, sich mit stellten Topf finanzieren, ist und bleibt eine gesundheits- einem gut dreiseitigen Antrag von Rot-Grün zu identifi- politische Lüge. (B) zieren, bei dem eine Viertelseite aus Forderungen an die (Beifall bei der FDP) (D) Bundesregierung in drei nichts sagenden Spiegelstrichen besteht. Genauso wichtig ist es, die Ärzte in die Lage zu ver- setzen, ihre eigentliche Arbeit zu tun, nämlich Zeit für (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ihre Patienten aufzuwenden, statt mit einem Übermaß an Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Purer Aktionis- Bürokratie traktiert zu werden. Bescheinigungen, Be- mus! – Erika Lotz [SPD]: Das war unfein!) gründungen und Kontrollen haben überhand genommen. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie erken- Das aktuellste Beispiel dafür sind die DMPs, die Chroni- nen „Anzeichen eines beginnenden Ärztemangels“ in kerprogramme. Schaffen Sie endlich den Unsinn ab, Deutschland – welch eine Verharmlosung angesichts der dass alle Maßnahmen bis ins Kleinste belegt, dokumen- Tatsache, dass ein hoher, zunehmender Prozentsatz der tiert und begründet werden müssen, und hören Sie auf, Absolventen eines medizinischen Studiums erst gar Ärzte als unqualifiziert und latent korrupt anzusehen! nicht in den Arztberuf geht. Frau Selg, die Zahlen, die (Erika Lotz [SPD]: Was hat das denn mit den Sie genannt haben, mögen statistisch stimmen, die Reali- Hausärzten zu tun?) tät sieht aber völlig anders aus und wird völlig anders empfunden. Dann werden Sie sehen, dass junge Menschen wieder Spaß daran gewinnen, als Ärzte zu arbeiten und zu hel- Ein Schuldiger ist natürlich auch schnell gefunden: die fen. Kassenärztlichen Vereinigungen. Diese hätten gefälligst durch geeignete Maßnahmen Anreize für die Niederlas- Wir sind gespannt, wie sich die Beratungen im Aus- sung zu schaffen – basta! –, und das bei dem gesetzlichen schuss entwickeln werden. Ihr Antrag braucht noch Fut- Rahmen, mit dem Rot-Grün seit Jahren den niedergelas- ter. Da muss noch Fleisch dran. senen Ärztinnen und Ärzten und deren Personal das Le- (Erika Lotz [SPD]: Stimmen Sie denn dann zu?) ben schwerer und schwerer macht. Ein bisschen Selbst- kritik hätte dem Antrag an dieser Stelle gut getan. Frau Spielmann, wir werden sehen, ob wir gemeinsam eine Lösung erarbeiten können, durch die wir den Ärzten (Beifall bei der FDP) wirklich helfen und ihnen bessere Arbeitsbedingungen Was ist jetzt wirklich zu tun? Es müssen grundsätzlich schaffen, als sie sie heute vorfinden. neue Bedingungen geschaffen werden, unter denen die Danke. Ärzte eben nicht ins Ausland flüchten oder sogar ganz aus der kurativen Medizin getrieben werden. Sie müssen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten faire Arbeitsbedingungen und eine leistungsgerechte Be- der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12103

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: heben – mit einer neuen Situation zu tun: Gerade in den (C) Letzte Rednerin ist die Kollegin Margrit Spielmann, neuen Ländern, in denen wir mit Hausarzt- bzw. Allge- SPD-Fraktion. meinarztpraxen übersät waren, gehen immer mehr Ärzte altersbedingt in den Ruhestand. Damit ist eine neue Ver- (Beifall bei der SPD) sorgungssituation eingetreten. Deshalb brauchen wir neue Lösungen, gerade in Bezug auf die neuen Länder. Dr. Margrit Spielmann (SPD): Deshalb brauchen wir einen Antrag und ich hoffe sehr, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dass wir uns im Ausschuss über diesen Antrag unterhal- ten, auch wenn er, wie Herr Parr sagt, nur zweieinhalb (Detlef Parr [FDP]: Ist Ihnen jetzt die Spucke Seiten stark ist. weggeblieben, oder was?) Liebe Kolleginnen und Kollegen, erste wichtige – Nein. – Ich sollte etwas sehr Persönliches sagen, Herr Schritte, bei denen wir die gesamte medizinische Versor- Parr: Ich bin gerade Oma geworden. gung im Blick hatten, sind wir gegangen. Ich sage als (Beifall) Stichworte nur: Modelle der integrierten Versorgung, Einrichtung von Versorgungszentren, die wieder vorhan- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zentrale Anlie- dene Möglichkeit der Einrichtung von Polikliniken. Wir gen dieses Antrages ist es, mit aller Deutlichkeit auf den haben aber auch die Abschaffung des AiP vorangetrie- sich abzeichnenden Hausärztemangel hinzuweisen und ben, Herr Parr, weil wir der Meinung waren, dass wir da- einen klaren Appell an die Verantwortlichen zu richten, mit den Arztberuf wieder attraktiver machen. diese Situation zu ändern. Frau Michalk und Herr Parr, dieser Appell richtet sich an uns alle: an die Politik, an (Beifall bei der SPD – Detlef Parr [FDP]: Ein die KVen, an die Ärzte selbst und an die Krankenkassen. wichtiger Schritt!) (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das hätten wir Durch die Approbationsordnung haben wir neuen in- schon vor mehr als einem Jahr haben können! haltlichen Schwung in die Arztausbildung gebracht. Da haben Sie das noch nicht so gesehen!) Aber wir brauchen für die Niederlassung gerade junger Ärzte neue und praktikable Lösungen und Konzepte so- – Lieber jetzt als gar nicht. wohl auf der strukturellen als auch auf der fiskalischen (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist richtig!) Seite. Frau Michalk, ich habe ein Beispiel mitgebracht: Meine KV in Brandenburg ermöglicht unter bestimmten Eines sollte ich an dieser Stelle herausstellen: Wir alle Voraussetzungen Umsatzgarantien für dringlich zu be- waren uns darüber einig, dass die hausärztliche Versor- setzende Vertragsarztplätze. (B) gung ein ganz wesentlicher Bestandteil unseres Ge- (D) sundheitswesens ist. Die Hausarztversorgung wurde als (Maria Michalk [CDU/CSU]: Die Ärzte kom- zentrales Element beschrieben. Ihre Bedeutung ist nicht men nur nicht!) hoch genug einzuschätzen. Ich möchte nicht die Rolle – Doch, dann gehen Ärzte auch in diese Regionen. anderer Leistungserbringer in diesem Bereich schmä- lern, aber ich denke, dass zu einem gut funktionierenden Die KV in Brandenburg beschäftigt zum Beispiel be- Gesundheitswesen ein Hausarztsystem gehört. fristet Sicherstellungsassistenten. Außerdem wurde in der KV Brandenburg ein Sicherstellungsfonds gebildet; Deshalb haben wir die Hausärzte als Lotsen im GKV- ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Modernisierungsgesetz gestärkt. Darüber hinaus haben wir die Krankenkassen mit der Möglichkeit ausgestattet, (Maria Michalk [CDU/CSU]: Und wie viele mit besonders qualifizierten Hausärzten Verträge abzu- sind gekommen?) schließen. Die hausärztliche Versorgung – auch das ist Wir müssen natürlich auch die Hausärzte auf ein siche- wichtig – ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der de- res finanzielles Fundament stellen. Wir müssen – das ist mographischen Entwicklung in unserem Lande von zen- unser aller Ziel – die Angleichung von Ost und West er- traler gesellschaftlicher Bedeutung. Sie ist für eine sinn- reichen; das ist unser allerwichtigstes Anliegen. voll gesteuerte medizinische Versorgung unersetzlich. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Und die Fallzah- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Lücken in len werden berücksichtigt!) der hausärztlichen Versorgung können wir uns in keiner Region unseres Landes leisten. Da fühlen wir uns alle verpflichtet. Die Vergütung der Ärzte in den neuen Ländern muss möglichst schnell (Maria Michalk [CDU/CSU]: Sie sind aber auf Westniveau angeglichen werden. schon Fakt!) Die Präsidentin mahnt zum letzten Satz. – Wir alle Fehlende Steuerung in unserem Gesundheitssystem kos- sind gefordert – ich schließe die Bürgermeister, Land- tet nun einmal viel Geld. Eine exakte Berechnung, wie räte, alle mit ein –, uns an einen Tisch zu setzen, um sich die hausärztliche Versorgung in einigen Bereichen möglichst viele Ärzte in die unterbesetzten Regionen zu in den nächsten Jahren entwickeln wird, kann es zurzeit holen. nicht geben, aber die Zahlen sind alarmierend und veran- Vielen Dank. lassen uns, jetzt zu handeln. Es wäre zu leichtfertig, denke ich, einfach nur abzuwarten, wie sich die Zahlen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ entwickeln. Wir haben es – das möchte ich klar hervor- DIE GRÜNEN) 12104 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: man sich die Situation heute anschaut, dann erkennt (C) Ich schließe die Aussprache. man, dass es im Irak mehr als 60 verschiedene nicht- staatliche militärische Sicherheitsunternehmen gibt. Ei- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf nige von ihnen sind im Zusammenhang mit den Gefan- Drucksache 15/3581 an die in der Tagesordnung aufge- genenmisshandlungen in dem Gefängnis Abu Ghureib in führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- die Schlagzeilen geraten. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Auch in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo sind Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: von den USA schon solche Unternehmen eingesetzt worden. Das Verhältnis von Soldaten zu Mitarbeitern Beratung des Antrags der Abgeordneten nichtstaatlicher militärischer Sicherheitsunternehmen Ruprecht Polenz, Dr. Friedbert Pflüger, betrug dort zehn zu eins. Ähnlich ist das Verhältnis heute Dr. Wolfgang Bötsch, weiterer Abgeordneter und auch im Irak. Schwarzafrika ist ein weiteres Einsatzfeld. der Fraktion der CDU/CSU Die Aufgaben dieser Unternehmen sind breit gefä- Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunter- chert. Sie reichen von der Risikoanalyse und nachrich- nehmen kontrollieren tendienstlicher Tätigkeit, also einer Beratungstätigkeit, – Drucksache 15/3808 – über das Training – beispielsweise werden auch die neue irakische Armee und die irakische Polizei von solchen Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Unternehmen trainiert – bis hin zur logistischen Unter- Innenausschuss stützung, zum Personenschutz, zur Minenräumung und Rechtsausschuss auch zu Kampfeinsätzen. Wichtig für die Einschätzung Verteidigungsausschuss ist auch, zu wissen, dass die Bezahlung der Mitarbeiter Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und dieser Unternehmen etwa zwei- bis dreimal so hoch ist Entwicklung wie die eines Soldaten, der vergleichbare Aufgaben zu Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union erfüllen hat. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Damit komme ich zu den Problemen: Die Übergänge Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre zwischen den militärischen und den zivilen Aufgaben keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. dieser Unternehmen sind fließend. Daraus resultiert das Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Problem, das im Grunde genommen Ursache für unseren Ruprecht Polenz, CDU/CSU-Fraktion. Antrag ist. Man kann die nichtstaatlichen militärischen (B) Sicherheitsunternehmen auch unter die Überschrift „Pri- (D) vatisierung militärischer Funktionen von oben“ stellen. Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Dies ist ein Unterschied zur Privatisierung militärischer Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- Kriege von unten, den so genannten neuen Kriegen. Das gen! Die nichtstaatlichen militärischen Sicherheitsunter- kann zu einem fundamentalen Wandel des Verhältnisses nehmen haben Konjunktur. Mit dem vorgelegten Antrag des Militärs zum Nationalstaat führen und das staatliche möchte die Unionsfraktion einen Beitrag dazu leisten, Gewaltmonopol infrage stellen. dass bessere Kontrollen dieser nichtstaatlichen militäri- schen Sicherheitsunternehmen implementiert werden. Das führt zu der Frage: Dürfen nichtstaatliche militä- rische Sicherheitsunternehmen im Staatsauftrag etwas Die Gründe für den Aufschwung dieser Unternehmen tun, was das Militär nicht dürfte? Kann sich der Staat da- seit 1990 liegen auf der einen Seite in der Reduzierung des Umfangs der Streitkräfte, im Outsourcing bestimm- durch also bestimmten Bindungen entziehen? Um den ter Funktionen, die früher das Militär wahrgenommen Problemkreis abzurunden, muss erwähnt werden, dass es hat, aber auch in einem gestiegenen Sicherheitsbedürf- auch einen möglichen Interessenkonflikt für diese Unter- nis von Behörden, internationalen Organisationen oder nehmen gibt. Einerseits werden sie für ihren Erfolg be- auch privaten Unternehmen, auf der anderen Seite natür- zahlt, andererseits ist der Konflikt ihr Arbeitsgebiet. lich auch in den gestiegenen Unsicherheiten und Risi- Deshalb kann durchaus ein Interesse an einer Verlänge- ken, denen sich diese Unternehmen und Organisationen rung dieses Konflikts und damit an der Sicherung ihrer ausgesetzt sehen. Arbeitsplätze bestehen. Es gibt also sowohl staatliche als auch private Auf- (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig! – traggeber. Es sind auch keineswegs nur die USA, die Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Guter sich dieser Unternehmen bedienen; ich komme noch da- Punkt!) rauf zurück. Auch Großbritannien, Australien, die Ver- einten Nationen und die Bundesrepublik Deutschland Aus diesen Problemstellungen resultiert zunächst ein- tun dies. mal eine ganze Reihe rechtlicher Fragen. Das Völker- recht unterscheidet zunächst nur zwischen Zivilisten Grundsätzlich kann man in der Literatur auch das Ar- und Kombattanten. Die Angehörigen von nichtstaatli- gument finden, dass der Bedrohungswandel in den Zei- chen militärischen Sicherheitsunternehmen sind auf der ten der Globalisierung Leistungen erfordere, die die na- einen Seite keine Kombattanten im völkerrechtlichen tionalen Armeen kaum noch erfüllen können. Diesem Sinne und auf der anderen Seite oft aber auch keine Zivi- Argument wird man genauer nachgehen müssen. Wenn listen. Es gibt bis heute kein eindeutiges und klares völ- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12105

Ruprecht Polenz (A) kerrechtliches Regime für diese Unternehmen und es lehne im Übrigen das Söldnerwesen ab. Wir werden in (C) gibt auch nur wenige nationalstaatliche Regeln. den Ausschüssen noch zu diskutieren haben, ob diese Antwort der Bundesregierung überzeugend ist oder ob Das führt nun zu erheblichen Unsicherheiten. Zum ei- wir als Bundesrepublik Deutschland nicht doch einen nen gilt das für die betroffenen Angehörigen dieser Un- Beitrag dazu leisten sollten, dass die Söldnerkonvention ternehmen selbst, etwa für den Fall, dass sie in Gefan- der Vereinten Nationen auch bei uns ratifiziert wird und genschaft geraten. Sind sie dann als Kriegsgefangene zu damit in Kraft gesetzt werden kann. behandeln oder wie ist ihr Status? Zum anderen herrscht auch hinsichtlich der Verantwortung Unsicherheit. Wer Wir sollten international die Vereinten Nationen eben- haftet für Rechtsverstöße? Mein Fazit aus der Rechts- falls dabei unterstützen, dass eine internationale Regis- lage: Nach meinem Eindruck operieren diese Unterneh- trierung dieser Unternehmen erfolgt, dass sie besser men weitgehend im rechtsfreien Raum. kontrolliert werden und dass Sanktionsmöglichkeiten so- wohl gegenüber den Sicherheitsunternehmen als auch Was muss also geschehen? Ein Verbot dieser Organi- gegenüber ihren Auftraggebern eingeführt werden. sationen ist illusorisch und wäre auch nicht sinnvoll. Was man aber erreichen sollte, sind mehr Transparenz Schließlich ist die Bundesregierung aufgefordert, an und klare rechtliche Vorgaben für die nicht staatlichen der Weiterentwicklung des Völkerrechts mitzuwirken; militärischen Sicherheitsunternehmen, sowohl auf der denn letztlich wird es darum gehen, durch eine Legali- nationalen wie auf der internationalen Ebene. sierung des Geschäftsbereichs einerseits und der Tätig- (Beifall bei der FDP) keit andererseits klare Grenzen zu setzen und Regeln zu implementieren, die eben dem vorbeugen, was sonst als Darauf zielt unser Antrag ab. Problem auf uns zukommen könnte, nämlich eine Aus- höhlung des staatlichen Gewaltmonopols und eine Ver- Wir wollen, dass diese Unternehmen und ihre staatli- änderung im Verhältnis zwischen Staat und Militär, die chen Auftraggeber für rechtswidriges Tun haften. Wir wir nicht wollen. wollen, dass sie in ihrer Tätigkeit auf die Menschen- rechte verpflichtet sind. Wir wollen auch, dass es trans- Dieser Antrag soll für unsere Beratungen ein Impuls parente Rekrutierungs- und Auswahlverfahren für das sein. Ich hoffe, dass er vom Grundsatz her nicht auf Personal, das dort beschäftigt wird, gibt. Wenn man an große Kontroversen stößt, dass wir gemeinsam daran ar- nationale Regelungen denkt, dann sollte man zunächst beiten, die Punkte, die vielleicht noch offen sind und die anstreben, dass die in Deutschland oder von Deutschland man noch ergänzen könnte, in die Ausschussberatungen aus operierenden Unternehmen einen eigenen Verhal- einzubeziehen, und dann dazu kommen, die Bundesre- tenskodex im Wege der Selbstregulierung vereinbaren. gierung gemeinsam zu einer Aktivität aufzufordern, die (B) (D) Das sollte man anregen. Meine Kontakte haben ergeben, eben angesprochenen Probleme in den Griff zu bekom- dass bei den seriösen Unternehmen die Bereitschaft dazu men. durchaus besteht. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass diese Unter- nehmen einer Registrierungspflicht unterliegen und dass (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ sie verpflichtet werden, ihre Vertragsabschlüsse mitzu- DIE GRÜNEN und der FDP) teilen. Daraus kann sich dann ein Lizenzierungssystem für diese militärischen Dienstleistungen ergeben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Noch ein anderer Punkt ist wichtig. Es kann sein, dass Das Wort hat der Kollege Volker Neumann, SPD- auch die Bundesrepublik Deutschland solche Unterneh- Fraktion. men als militärische Sicherheitsunternehmen im Aus- land einsetzt, also im Staatsauftrag. Dann muss natürlich Volker Neumann (Bramsche) (SPD): derselbe Parlamentsvorbehalt gelten, wie er für den Einsatz der Bundeswehr gilt. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion spricht zu Recht die (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: wachsende Zahl der privaten militärischen Unternehmen Allerdings!) an, zu deren Aufgabenfeld nicht nur die Beratung, son- Wenn es sich um polizeiliche Aufgaben handelt, gelten dern auch Training, logistische Unterstützung, Minen- die gleichen Grundsätze, die dem Auslandseinsatz deut- räumung und sogar Kampfeinsätze gehören. Die Zahl scher Polizei zugrunde liegen. Natürlich brauchen wir solcher Firmen hat ständig zugenommen. In den USA auch im nationalstaatlichen Rahmen klare Haftungsrege- sollen nach dem, was wir wissen, 30 Firmen mit zum lungen. Teil über 1 000 Mitarbeitern, deren Zahl auf Abruf jeder- zeit erhöht werden kann, registriert sein. Wir wissen, International sollte die Bundesregierung endlich das dass in Afrika 90 bis 100 solcher Firmen tätig sind. Die Ratifizierungsverfahren für die UN-Söldnerkonvention Privaten mischen überall mit, auch im Irak. Die „FAZ“ von 1989 einleiten. Ich habe auf meine entsprechende hat geschrieben, dass die Zahl der Mitarbeiter solcher Anfrage von der Bundesregierung die Antwort bekom- Firmen, die im Irak tätig sind, inzwischen 15 000 bis men, dass man sich wegen einiger rechtlicher Fragen 20 000 beträgt. Das ist ein gutes Geschäft. Der Markt dieser Konvention nicht anschließen wolle. Man ver- wurde bereits im Jahr 2002 auf etwa 100 Milliarden bis traue mehr auf den Internationalen Strafgerichtshof und 200 Milliarden US-Dollar geschätzt, Tendenz steigend. 12106 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Volker Neumann (Bramsche) (A) Private militärische Sicherheitsunternehmen sind halten sind dehnbare Begriffe – in dem Bereich, in dem (C) auch zum Schutz des afghanischen Präsidenten Karzai diese Unternehmen tätig sind, ohnehin. tätig, fahnden offensichtlich mit US-Kommandoeinheiten Der Chef des britischen Sicherheitsunternehmens und CIA-Agenten nach Bin Laden, sie trainieren saudi-ara- Henderson Risk hat gesagt: „Zur Zeit ist der Irak so et- bische Sicherheitskräfte, kämpfen auf den Philippinen ge- was wie eine Goldmine.“ Gemeint hat er: Menschen- gen islamische Guerillas und gegen kolumbianische Dro- rechte, moralische Selbstverpflichtung oder nationaler genbarone. Die Privatisierung militärischer, aber auch Auftrag dürfen getrost als zweitrangig betrachtet wer- polizeilicher Aufgaben stellt das Gewaltmonopol des den. Staates zunehmend infrage – Herr Polenz hat darauf hingewiesen – und folgt damit auf fatale Weise den Ei- Ich kann auch nicht erkennen, welche Folgerungen genarten der asymmetrischen Kriege. sich aus der so genannten Mitteilungspflicht über Ver- tragsabschlüsse ergeben soll. Das geht aus Ihrem Antrag Es ist richtig, dass es in diesem Bereich Grauzonen nicht hervor. gibt, die nicht durch das bestehende Kriegsvölkerrecht oder das humanitäre Völkerrecht abgedeckt sind. Grau- Sie fordern ferner eine Bekräftigung der Bundesregie- zonen aber gibt es im Recht immer. Nicht jeder Lebens- rung, dass bei Auslandseinsätzen privater militärischer sachverhalt kann geregelt werden. Ich füge hinzu: Nicht Sicherheitsunternehmen im Auftrag der Bundesrepublik jeder Lebenssachverhalt muss geregelt werden. Grund- genau wie bei Einsätzen der Bundeswehr ein Parla- sätzlich dürften aber das humanitäre Völkerrecht, das mentsvorbehalt bestehen muss. Zunächst möchte ich Kriegsvölkerrecht und das Völkerstrafrecht ausreichen, voranstellen, dass nach meiner Kenntnis weder von der um der Problematik Herr zu werden. Die im Antrag an- Bundeswehr bei Auslandseinsätzen noch durch den Bun- gebotenen Lösungen zur Beseitigung der Grauzone bei desgrenzschutz im Rahmen der Beteiligung an polizeili- der Privatisierung militärischer Aufgaben stoßen hin- chen Auslandsmissionen deutsche oder ausländische sichtlich der Durchsetzbarkeit im internationalen Be- Wach- oder Sicherheitsfirmen eingesetzt wurden. reich auf Bedenken. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das hat Zunächst einmal die völkerrechtliche Seite des Pro- Herr Polenz auch nicht behauptet!) blems: Während einer militärischen Besatzung, einer – Nein, das hat er nicht behauptet. Nachkriegsordnung oder gar bei einem bewaffneten Ein- satz ist der rechtliche Status der privaten militärischen Der Parlamentsvorbehalt gemäß Art. 24 Abs. 2 des Sicherheitsunternehmen weder nach Bestimmungen des Grundgesetzes – wir haben lange darüber diskutiert – humanitären Völkerrechts noch jenen des Kriegsvölker- dient dem Deutschen Bundestag als Kontrollinstrument des außenpolitischen Handelns der Bundesregierung und (B) rechts eindeutig geregelt. Die privaten militärischen Si- (D) cherheitsunternehmen bewegen sich im Einsatzgebiet zur verfahrensrechtlichen Absicherung des Grundsat- – auch darauf hat Herr Polenz hingewiesen – entweder zes, dass die Streitkräfte außer zur Verteidigung oder im in dem Status der Zivilperson oder dem des Kriegsteil- Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicher- nehmers, also als Angehörige der regulären Streitkräfte, heit nur dann eingesetzt werden dürfen, soweit das als Kombattanten. Sowohl als Zivilpersonen, die nicht Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Dieser Regelungs- an militärischen Auseinandersetzungen beteiligt sind, als vorbehalt lässt sich nicht auf private Sicherheitsunter- auch als Militärpersonen unterliegen sie dem Schutz des nehmen übertragen. humanitären Völkerrechts oder des Kriegsvölkerrechts. Hinsichtlich der Forderung im Antrag der CDU/CSU- Private militärische Sicherheitsunternehmen – darauf Fraktion nach klaren Haftungsbedingungen ist zunächst muss hingewiesen werden – begeben sich freiwillig in festzustellen, dass diese im nationalen Recht bereits einen Zwischenbereich. vorhanden sind. Das wird von Ihnen sicherlich nicht be- Lassen Sie mich auf die einzelnen Vorschläge einge- stritten. Im Übrigen gelten die Rechtsbedingungen im hen, die Sie genannt haben. Eingangs ist hier die Forde- jeweiligen Einsatzgebiet. Soweit der Staat, also die Bun- rung nach Registrierung privater Sicherheitsunternehmen, desrepublik Deutschland, haftet, erscheint mir Mitteilung über die Vertragsabschlüsse, Einführung eines § 839 BGB ausreichend. Lizenzierungssystems und ein freiwilliger Verhaltensko- Sie haben die Strafverfolgung von Mitgliedern pri- dex zu nennen. Es ist zunächst festzustellen, dass in vater Sicherheitsdienste angesprochen. Auch hierzu Deutschland private Sicherheitsunternehmen nach der weist das deutsche Strafrecht ausreichende Regelungen Gewerbeordnung einer Zuverlässigkeitsprüfung unter- auf. Im Übrigen wird auch das Völkerstrafrecht anwend- liegen. Sie bedürfen gemäß § 34 a Gewerbeordnung in bar sein. Somit liegt auch für diesen Bereich kein Rege- Verbindung mit § 9 Bewacherverordnung einer Lizenz. lungsbedarf vor. Bei der Beteiligung an völkerrechtswidrigen Handlun- gen, insbesondere an Verbrechen, fehlt diese Zuverläs- Schwierig wird es im Hinblick auf internationale Maß- sigkeit. Eine Genehmigung wird versagt. Somit ist die nahmen. Sie empfehlen in Ihrem Antrag, ähnliche eigen- Einführung eines Registrierungs- und Lizenzierungssys- ständige internationale Regelungen für die militärischen tems gar nicht erforderlich. Das gibt es bereits. Sicherheitsunternehmen wie bei den Regeln für das Söld- nerwesen zu schaffen. In diesem Zusammenhang ist da- Die Durchsetzung von Mitteilungspflichten über Ver- rauf hinzuweisen, dass sich die Bundesregierung schon tragsabschlüsse sowie ein freiwilliger Verhaltenskodex immer gegen das Söldnerunwesen gewehrt und dagegen erscheinen gelinde gesagt unrealistisch. Moral und Ver- ausgesprochen hat. Allerdings ist die im Jahr 1990 von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12107

Volker Neumann (Bramsche) (A) der Bundesregierung gezeichnete Söldnerkonvention Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) bisher weder ratifiziert noch in nationales Recht umge- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Stinner, setzt worden. Das ist in acht Jahren Ihrer Regierungszeit FDP-Fraktion. und in sechs Jahren unserer Regierungszeit nicht gesche- hen. Überlegenswert wäre in diesem Zusammenhang, ob Dr. Rainer Stinner (FDP): wir einen Schritt weitergehen und zumindest im Straf- recht die Umsetzung vornehmen sollten. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tatsache, dass wir heute über dieses wichtige Thema Der Einsatz von Söldnern ist so alt wie die Kriegsfüh- sprechen, verdanken wir Ihrer Initiative, Herr Polenz. rung selber. Wie Sie wissen, ergeben sich die Kriterien, Wir bedanken uns herzlich dafür. Ich glaube, es ist wich- die einen Söldner kennzeichnen, nämlich die Anwer- tig, dass wir uns im Bundestag mit den nicht staatlichen bung durch eine Konfliktpartei aus Gewinnstreben, die militärischen Organisationen beschäftigen und über un- Teilnahme an einem bewaffneten Konflikt, ohne Staats- seren Umgang mit diesem Phänomen nachdenken. Herz- angehöriger zu sein und ohne direkt in die Konfliktpar- lichen Dank für Ihren Anstoß! teien eingegliedert zu sein, aus dem Ersten Zusatzproto- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) koll der Genfer Konvention von 1977. Nach der Söldnerkonvention ist die Anwerbung von Söldnern ver- Je mehr wir uns aber mit diesem Thema beschäftigen, boten. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, die Anwer- desto stärker merken wir, dass mehr Fragen aufgeworfen bung unter Strafe zu stellen. als Antworten gegeben werden. Wir befinden uns heute also erst am Beginn eines Prozesses, den wir begleiten Unter den Begriff des Söldners fallen die privaten mi- werden. Das ist ein Anfangspunkt, aber sicherlich kein litärischen Sicherheitsunternehmen aber in aller Regel Endpunkt. nicht, weil sie nicht unmittelbar an einem bewaffneten Konflikt beteiligt sind, sondern Aufgaben des Personen- Die zunehmende Beauftragung von privaten Firmen schutzes oder der Bewachung ziviler Objekte wahrneh- mit sicherheits- und militärpolitischen Aufgaben berührt men. Deshalb wäre eine internationale Konvention im nach meinem Verständnis eine Grundposition, die uns Hinblick auf die privaten militärischen Sicherheitsunter- alle eint, nämlich das Gewaltmonopol des Staates. Es nehmen wünschenswert – darin gebe ich Ihnen Recht, ist ganz wichtig, dass wir uns im Deutschen Bundestag Herr Polenz –, aber angesichts der Tatsache, dass die darüber ausführlich austauschen. Ich glaube und hoffe, Söldnerkonvention von 1989, die 1990 von der Bundes- dass wir uns alle einig sind – das ist der erste Punkt –, regierung gezeichnet wurde, bis heute erst von 25 Staa- dass wir, der Deutsche Bundestag, uneingeschränkt am ten gezeichnet und von uns noch nicht einmal ratifiziert Gewaltmonopol des Staates festhalten. Das ist ein hohes (B) worden ist, bin ich skeptisch. Gut und das müssen wir politisch umsetzen. Wenn wir (D) dieser Meinung sind, hat das für unser Handeln Konse- Auf Probleme stößt auch die weitere im Antrag ent- quenzen, auch in haushälterischer Hinsicht. Das bedeutet haltene Forderung nach Einrichtung einer Kontrolle zum Beispiel, dass die Bundesrepublik Deutschland durch den UN-Sonderberichterstatter über das Söldner- keine militärischen Aufgaben im engeren Sinne privati- wesen. Kaum jemandem ist bekannt, dass es diesen sieren darf. Sonderberichterstatter bereits gibt. Ihm sind durch (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der fehlende finanzielle Ressourcen und ein eng umrissenes CDU/CSU) Mandat Grenzen gesetzt. Bei dem Mandat handelt es sich auch nicht um eine permanente Einrichtung; es Ich sage bewusst als Mitglied der FDP-Fraktion: muss alle drei Jahre durch die Menschenrechtskommis- Outsourcing hat Grenzen. sion verlängert werden. Im Übrigen hat die Einrichtung (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des des Amtes eines Sonderberichterstatters über das Söld- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der nerwesen noch nicht einmal innerhalb der EU-Mitglied- CDU/CSU) staaten eine Mehrheit gefunden. Wir reden schon über einen weiteren Schritt, obwohl wir den ersten Schritt Die Grenze ist jedenfalls dort erreicht, wo militärisches noch nicht vollzogen haben. Handeln des Staates privatisiert werden soll. Wir sind strikt dagegen. Ich glaube, das kann ich für alle festhal- Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Proble- ten. Ich rede jetzt nicht über Küchen- oder Fuhrparkma- matik nicht staatlicher militärischer Sicherheitsunterneh- nagement, sondern über militärische Aufgaben im enge- men durchaus besteht – ihre Brisanz nimmt zu –, dass ren Sinne, die meines Erachtens nicht privatisierbar sind. sich die Probleme aber für die überwiegende Zahl der Sicherheitsunternehmen im Zusammenspiel zwischen Zweitens. Wenn das unser Grundsatz ist, dann sollten nationaler und internationaler Ebene lösen lassen. Ob wir darüber nachdenken, ob wir nicht auch internatio- andere Vorschläge zur Lösung der Problematik realisti- nale Organisationen durch unser Engagement in die sche Ansätze sind, werden die Ausschussberatungen er- Lage versetzen, ähnlich zu handeln. Die Vereinten Na- geben. Wir werden jedenfalls mit Ihnen ganz offen über tionen zum Beispiel sollten nicht aus angeblich finan- diese Problematik reden. ziellen Gründen darauf angewiesen sein, sich privater Dienstleister zu bedienen. Wenn wir das wollen, müssen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir – eventuell – einen entsprechenden finanziellen Bei- DIE GRÜNEN) trag leisten. 12108 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Dr. Rainer Stinner (A) Drittens. Das hätte zur Konsequenz, dass wir anderen mit. Neben dem unsäglichen Söldnertum gibt es noch (C) Staaten dabei behilflich sind, die hier angesprochenen eine Reihe privater Militärfirmen, privater Sicherheits- Aufgaben auf staatlicher Ebene wahrzunehmen. Afgha- firmen und sonstiger Auftragnehmer. Die verschiedenen nistan ist schon angesprochen worden. Warum sollen wir Unternehmen präsentieren einen umfangreichen Leis- eigentlich die afghanische Regierung nicht in die Lage tungskatalog, in dem für jede Konfliktlage etwas dabei versetzen, mithilfe unserer Unterstützung afghanische ist: Sie bieten Personal, das gegen Geld zur Waffe greift, Sicherheitskräfte auszubilden, die dann anstelle einer und mischen auf allen Ebenen im Kriegsgeschehen amerikanischen Privatarmee Herrn Karzai beschützen? fremder Länder mit. Sie lassen sich von schwachen oder Ich weiß zwar, dass es hier bestimmte Sicherheitsbedürf- zerfallenden Staaten anwerben, um deren Macht abzusi- nisse gibt; das alles ist bekannt. Aber ich glaube, dieser chern. Sie trainieren Militär- und Polizeikräfte anderer Aufgabe müssen wir uns stellen. – So weit die staatliche Länder oder stellen private Bodyguards und Personal für Ebene, die wir, der Deutsche Bundestag, heute unmittel- Wartungsaufgaben, Logistik, Transport und Infrastruktur bar beeinflussen können. im Sicherheitssektor. Nicht zuletzt ist ihr Personal auch in hoch sensiblen Bereichen tätig. Sie bewachen und Herr Polenz, Sie haben bereits weiter gehende Fragen verhören Gefangene, wie im Zuge der Foltervorwürfe gestellt und einige Vorschläge gemacht. Das sind erste um das irakische Abu Ghureib ans Licht gekommen ist. Ansätze. Wir müssen aber darüber diskutieren, inwie- So etwas darf nicht sein. weit sie umsetzbar sind. Das vermag ich heute – auch in juristischer Hinsicht – überhaupt nicht zu beurteilen. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sollten wir uns in Ruhe anschauen. und bei der SPD) Unbestritten ist aber, dass bei NGOs, Firmen und pri- Man munkelt auch, dass die Ausbildung der kroati- vaten Organisationen ein Sicherheitsbedarf besteht. Die- schen Streitkräfte 1995 heimlich durch ein privates Un- ses Sicherheitsbedürfnis wird sicherlich zunehmend ternehmen erfolgt ist und kriegsentscheidend war. Weiter auch durch private Anbieter zu decken sein. Diesem heißt es, dass die privaten Militärfirmen in Ruanda sei- Phänomen können wir uns nicht verschließen. Wir müs- nerzeit Hunderttausenden das Leben hätten retten kön- sen damit politisch umgehen. Herr Polenz, Sie haben nen, da sie mit ihrem Know-how und mit flexiblerer Ein- Recht: Hier ist in der Tat Regulierungsbedarf vorhanden. satzbereitschaft schneller als staatliche oder international Ich glaube aber, dass ein Selbstregulierungsmechanis- organisierte Eingreiftruppen vor Ort hätten sein können. mus in dieser Branche nur schwer durchsetzbar sein wird. Ich bin diesbezüglich sehr skeptisch und meine, Private Firmen kämpfen, töten und verkaufen Waffen, dass der Staat den Regulierungsbedarf decken sollte. sie retten und beschützen Leben – Hauptsache, die Kasse stimmt. Viele dieser Unternehmen mischen sich gegen (B) Geld in kriegerische Auseinandersetzungen ein. Kon- (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: flikte werden länger und grausamer geführt, das Leid der Herr Kollege, Ihre Redezeit! Schauen Sie bitte einmal Zivilbevölkerung wird verstärkt. Die Jahresumsätze ad- auf die Uhr. dieren sich auf mehrere hundert Milliarden Dollar welt- weit, der private Kriegsmarkt boomt. Dr. Rainer Stinner (FDP): Vielen Dank, Frau Präsidentin. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Etwas komplizierter ist es schon!) Wir stehen also erst am Beginn der Diskussion. Wir, die Liberalen, halten das Thema für wichtig und werden Diese zum Teil fragwürdigen Unternehmen können uns deshalb an den künftigen Debatten sehr aktiv beteili- existieren, weil Armeen bestimmte Teilbereiche ausla- gen. gern. Ferner lässt sich durch die Entsendung privater Mi- litärfirmen manch unbequeme politische Entscheidung Vielen Dank. umgehen. Es muss auch nicht unseriös sein, die Dienst- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten leistungen derartiger Unternehmen in Anspruch zu neh- der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- men. Neben verschiedenen Botschaften wird auch der NEN und der CDU/CSU) afghanische Präsident Karzai durch private Unterneh- men geschützt. Der Kosovo-Präsident Rugova hat seine Leute bei einer deutschen Akademie ausbilden lassen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: NGOs lassen sich bei ihren Hilfseinsätzen zum Teil von Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin den Privaten schützen, um weiterhin als neutral gelten zu Marianne Tritz, Bündnis 90/Die Grünen. können. All diese Einsätze sind nachvollziehbar, lassen aber Grauzonen entstehen, wo Politik handeln muss. Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Grauzonen gibt es zum Beispiel da, wo sich Unter- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nehmen zum Selbstschutz bewaffnen. Grauzonen entste- Ich bin den Kollegen von der CDU/CSU sehr dankbar, hen auch, wenn deutsche Firmen Sicherheitspersonal für dass sie dieses Thema in den Bundestag eingebracht ha- den Irak ausbilden und vermitteln, wie es im Falle eines ben. Viele von uns betrachten die Privatisierung von Lübecker Unternehmens geschehen ist. Es war übrigens Kriegen mit großer Sorge. dasselbe Unternehmen, das auch Rugovas Leute ausge- Überall in der Welt mischen private Anbieter von Si- bildet hat. Ist dies nun ein Fall, in dem das strikte Nein cherheitsdienstleistungen in bewaffneten Konflikten Deutschlands zu jeder Kriegsbeteiligung im Irak durch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12109

Marianne Tritz (A) private Unternehmen aufgeweicht wird, oder hat man es Überweisungsvorschlag: (C) mit Vorzeigeunternehmen zu tun, die durch eine ver- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f) nünftige Ausbildung – zum Teil von der Bundesanstalt Innenausschuss für Arbeit finanziert – wenigstens eine gewisse Quali- Rechtsausschuss tätskontrolle ermöglichen? Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Fraktion, in Ihrem Antrag steht viel Richtiges, das ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. unterschreiben kann. So bin auch ich dafür, dass Deutschland die Söldnerkonvention ratifiziert. Auch Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege ich richte die Frage an das Justizministerium, warum Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion. dies nach 14 Jahren noch nicht geschehen ist. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr gut!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Die Einschätzung des BMJ, dass es der Konvention ins- Kolleginnen und Kollegen! Wir reden jetzt über etwas, gesamt an der erforderlichen Bestimmtheit mangele, die was uns als Abgeordnete betrifft. Da macht es vielleicht eine Umsetzung in nationales Recht erst ermöglicht, nicht so viel aus, dass wir hier nicht mehr sehr viele sind. kann ich nicht nachvollziehen. Ich erwarte, dass eine un- Wir wollen mit dieser Debatte bewusst klar machen, terzeichnete Konvention selbstverständlich auch ratifi- dass wir uns den Herausforderungen in der gesellschafts- ziert wird. Mit anderen Worten: Ich bin dafür, dass Söld- politischen Auseinandersetzung nicht nur stellen, son- nertum unter Strafe gestellt wird. dern uns da auch einbinden. Wir nehmen eine Mitverant- wortung wahr, die wir in dieser Zeit insgesamt für richtig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halten. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Ruprecht Polenz [CDU/CSU]) Es geht heute um die Abgeordnetenversorgung. Es gibt kaum ein Gebiet, das – das Gefühl habe ich immer – Es gibt Einigkeit in der Darstellung des Problems, mehr zu Diskriminierung, zu Blüten, zu Fantasien und nicht aber in allen sich daraus ergebenden Folgerungen. zu Übertreibungen anregt als dieses. Da wird von Raff- So erscheint es mir fraglich, ob man im Rahmen der Ver- kes, von Luxusversorgung und Ähnlichem gesprochen. einten Nationen zu weiteren völkerrechtlichen Regelun- Ich erkläre hier für uns alle, denke ich, die wir hier im gen kommen wird. Die Forderung, die Auslandseinsätze Hause tätig sind, für alle 601 Abgeordneten, dass das privater Firmen unter den Parlamentsvorbehalt zu stel- nicht der Fall ist, dass wir uns in den vergangenen len, halte ich für nicht umsetzbar. Ich biete Ihnen jedoch 50 Jahren, seitdem es dieses System gibt, zwar mit einer (B) (D) an, dass wir dieses Thema im Ausschuss gemeinsam recht guten Versorgung, aber beileibe nicht mit einer Lu- konstruktiv bearbeiten. xusversorgung ausgestattet haben. Die Intention ist klar: Es gibt Bereiche, in denen die Im Rahmen der Reformen, die in das Land gebracht Hoheitsgewalt des Staates erhalten bleiben muss. Bei al- worden sind, und zwar nicht nur von einer Seite des lem Outsourcing müssen wir sicherstellen, dass an sen- Hauses, sondern indirekt eigentlich immer in Form einer siblen Stellen wie beim Militär das staatliche Gewaltmo- großen Koalition – wegen der Machtverhältnisse findet nopol gewahrt bleibt. man spätestens in der Nacht im Vermittlungsausschuss zu einer Einigung zusammen –, haben wir uns darauf Danke. verständigt, dass die Abgeordneten bei den Veränderun- (Beifall im ganzen Hause) gen und den Kürzungen natürlich nicht an der Seite ste- hen dürfen. Von daher findet das Ganze statt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir werden bei der Abgeordnetenversorgung etwas Ich schließe die Aussprache. tun, das schon der zweite Schritt ist; das muss man in al- ler Deutlichkeit sagen. Wir haben nämlich bereits 1995 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gegen uns, wenn man so will, gegen unsere Interessen, Drucksache 15/3808 an die in der Tagesordnung aufge- einen ersten Einschnitt beschlossen, indem wir einer führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Höchstversorgung Geltungskraft verschafft haben, die verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sich auf 69 Prozent beläuft, also weit unter der Höchst- so beschlossen. versorgung, die zu der Zeit für die Beamten gegolten hat. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Wir haben schon mit dem Versorgungsrecht von 1995 die Öffentlichkeit zu erreichen versucht, um nicht darü- Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD ber hinaus ein Übermaß an Kürzungen für die Abgeord- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- neten ins Gespräch und zur Geltung bringen zu müssen. brachten Entwurfs eines Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetenge- Es geht um die Maßstäbe, die hier gelten müssen, da- setzes und eines Einundzwanzigsten Gesetzes mit wir nicht eine Gruppe in dieser Gesellschaft in einem zur Änderung des Europaabgeordnetengeset- Maße fordern, das eigentlich nicht nur ungerecht ist, zes sondern auch nicht in die Landschaft passt. Wer versteht sich eigentlich dazu, auch anderen Leistungseliten in – Drucksache 15/3942 – diesem Land – wir zählen uns mit Selbstbewusstsein 12110 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (A) dazu – das zuzumuten, was den Abgeordneten in diesem Was machen wir? Dieses Gesetz ist das 25. Gesetz (C) Land in der öffentlichen Debatte und Auseinanderset- dieser Art. Viele dieser Gesetze wurden nicht zum Ziele zung oftmals zugemutet wird? Da bin ich für die Frak- der Erhöhung gemacht. In 25 Jahren haben wir auf- tionen des Hauses, aber natürlich vor allem für die SPD- grund des Drucks der äußeren Verhältnisse zwölfmal auf Fraktion, für die ich hier spreche, in besonderer Weise eine Erhöhung unserer Diäten verzichtet. Viele dieser aktiv und stelle mich schützend vor uns, die wir hier im Gesetze waren also nicht für Anhebungen oder Ähnli- Bundestag oder aber auch in den Landtagen für die Bür- ches gedacht, sondern zum Zwecke von Einschränkun- gerinnen und Bürger arbeiten. gen, wie zum Beispiel das Gesetz aus dem Jahre 1995. Wenn Sie vor Ort mit dieser Arbeit nicht zufrieden Ich sage uns und der Öffentlichkeit: Wir sind gut be- sind, dann gibt es eine ganz normale demokratische Re- raten, wenn wir die Versorgungs- und Renteneinschrän- aktion: Sie wählen den Abgeordneten vor Ort nicht kungen, die wir den Rentnerinnen und Rentnern sowie mehr, der Ihres Erachtens die falsche Politik macht oder den Beamten in diesem Lande zugemutet haben, struktu- nicht fleißig genug ist, oder Sie üben Druck auf ihn aus, rell auch uns zumuten. um etwas zu verändern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Die Abgeordneten haben, wenn sie es nicht ertragen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) können, bei den Kürzungen, die jetzt vorgesehen sind, dabei zu sein, das Recht, bei der nächsten Wahl nicht In diesem Zusammenhang wird etwas verwechselt, mehr anzutreten. Da gibt es also Möglichkeiten für beide wenn es heißt: Wenn unsere Versorgungsbezüge nicht Seiten; das sage ich in aller Offenheit und mit aller Deut- das Niveau eines Durchschnittsrentners haben, sind wir lichkeit. immer noch zu gut mit Versorgungsbezügen ausgestat- tet. Darum sage ich ausdrücklich: Das darf und soll nicht Nachdem wir, jedenfalls nach dem Willen der Koali- der Maßstab sein. Die Abgeordneten in ihrer Versorgung tion, auch für dieses und für das nächste Jahr, also noch aber strukturell einzuschränken und ihnen einen entspre- einmal für zwei weitere Jahre, auf eine Diätenerhö- chenden Beitrag zuzumuten, das ist völlig richtig. Darin hung, also auf die Erhöhung unserer aktuellen Bezüge sind wir uns einig. – die Aufwandsentschädigung ausgenommen –, verzich- tet haben, wird es natürlich ein bisschen schwierig – das Wir werden die Versorgungsbezüge der Neuversor- will ich deutlich sagen –, für uns die Vergleichbarkeit ger – so sagen wir im Jargon –, also derer, deren Höchst- mit anderen Berufsgruppen in der Gesellschaft herzu- versorgung bei 69 Prozent liegt, in vier Schritten mal stellen. 0,5 Prozent, also um insgesamt 2 Prozent, im Laufe der kommenden Jahre abschmelzen. Das Gleiche werden (B) Vor neun Jahren haben wir ins Gesetz geschrieben, wir bei den Versorgungsbezügen der Mindestversorger (D) dass wir uns hinsichtlich Einstufung und Bezahlung mit machen. Die Formel lautet: acht Jahre mal 3 Prozent. den Richtern an den obersten Bundesgerichten sowie Die Mindestversorgung beträgt 24 Prozent nach acht den leitenden Beamten der Bundesverwaltung und ande- Jahren. Diese Mindestversorgung werden wir pauschal, rer Verwaltungen – im technischen Sinne: B 6, R 6 – ebenfalls in vier Schritten mal 0,5 Prozent, auf vergleichbar fühlen. Ich kann Ihnen sagen, dass unsere 22 Prozent senken. Bezüge um weit mehr als 1 000 Euro im Monat unter den Bezügen dieser Vergleichsgruppe liegen. Wir klagen Bei den Versorgungsbezügen der so genannten Alt- nicht darüber; man muss es ab und zu aber wenigstens versorger, deren Höchstversorgung bei 75 Prozent liegt, erwähnen. gehen wir drastischer vor. Ich sage deutlich: Das muss auch so sein. Die Versorgungsbezüge dieser Gruppe wer- Ich will gar nicht hinzufügen, wie viele Hunderte, so- den sich in etwa auf dem Niveau der Beamtenversor- gar Tausende so eingestufter Mitarbeiterinnen und Mit- gung einpendeln. Die Höchstversorgung der Beamten arbeiter es in der Bundesverwaltung, den Länderverwal- wird – das ist im Beamtenrecht vorgesehen – auf tungen und an anderer Stelle gibt. Ich weiß nur eines: In 71,25 Prozent heruntergefahren. Unsere Höchstversor- meinem Wahlkreis gibt es eine ganze Reihe von Großbe- trieben. Ein Großbetrieb, der für uns in besonderer gung wird in acht Schritten mal 0,5 Prozent auf Weise wichtig ist und den ich sehr schätze, hat 71 Prozent heruntergefahren. Der Prozess bei den Abge- 2 700 leitende Angestellte. Von denen würde kein Einzi- ordneten verläuft übrigens schneller als der bei den Be- ger mit uns tauschen, und zwar wegen der Bezahlung, amten. Das sage ich zum Thema Maßstab. Das gilt auch der Arbeitszeit und der Tatsache, wie die Menschen mit für die Mindestversorgung, die bei den Altversorgern ihm umgehen würden. Das muss zwar jeder mit sich derzeit bei 35 Prozent liegt. Sie wird in acht Schritten selbst abmachen; das ist keine Klage. Ich finde es aber mal 0,5 Prozent auf 31 Prozent heruntergefahren. Das durchaus richtig, dass in diesem Lande sehr viele Men- sind die Maßstäbe in diesem Zusammenhang. schen, über die man nicht spricht, in einen Vergleich mit Wir werden auch den Hinterbliebenen unserer Ver- uns einbezogen werden sollten. sorgungsempfänger – Stichwort Witwenversorgung – (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Kürzungen zumuten. Auch sie werden nicht mehr, wie GRÜNEN und der CDU/CSU) das früher der Fall war, 60 Prozent erhalten. Wir haben den Hinterbliebenen der Beamten eine Kürzung auf Wir gönnen das allen; ab und zu muss der Maßstab aber 55 Prozent zugemutet. Diese Kürzung findet auch bei zurechtgerückt werden. uns statt. Wir werden darüber hinaus Versorgungsemp- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12111

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (A) fänger nach dem Abgeordnetengesetz den vollen Pflege- planen, haben wir auf den Tisch gelegt. Ich hoffe, das (C) versicherungsbeitrag entrichten lassen. Auch in diesem stößt auf Zustimmung bei allen Seiten des Hauses. Punkt sorgen wir damit für Gleichbehandlung. Vielen Dank. Der vierte Punkt ist, dass wir denjenigen Versor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gungsempfängern, die vor dem 65. Lebensjahr noch DIE GRÜNEN) Einkünfte aus privaten Tätigkeiten, zum Beispiel für eine Firma, für eine Rechtsanwaltskanzlei, einen land- wirtschaftlichen Betrieb oder Ähnliches, haben, zumuten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werden, diese bis zur Hälfte der Höhe ihrer Versorgungs- Das Wort hat der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/ bezüge wie auch bei Beamten und Rentnern anrechnen CSU-Fraktion. zu lassen. Das stößt übrigens hier im Hause auf einige Kritik; das gebe ich durchaus zu. Jedoch gibt es in dieser Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Frage eine Art Schonfrist: Bis zum Ende dieser Wahlpe- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- riode bleibt alles so, wie es jetzt ist. Ab der nächsten gen! Unsere Fraktion stimmt dem Antrag der Koalitions- Wahlperiode gilt das aber für alle, nicht nur für die, die fraktionen im Prinzip zu. Es wäre unbillig, die Kürzun- dann neu in den Deutschen Bundestag eintreten, sondern gen, die die Koalition Arbeitnehmern, Rentnern, auch für diejenigen, um das deutlich zu sagen, die dann Beamten und Pensionären zumutet, nicht auch auf die schon Versorgungsempfänger sind; dabei ist es egal, wie Abgeordneten zu übertragen. lange. Ich glaube, auch das ist sehr angemessen, wenn- Bisher ist es üblich gewesen, dass solche Verände- gleich es manchem wehtun wird. Das will ich gerne zu- rungen des Abgeordnetenrechts von den Fraktionen gestehen. Aber draußen im Lande tun ähnliche Regelun- des Bundestages gemeinsam vorbereitet und dann auch gen den Empfängern von Beamtenversorgung und den in einem gemeinsamen Gesetzentwurf eingebracht wer- Rentnerinnen und Rentnern, die noch keine 65 Jahre alt den. Das war mit den Koalitionsfraktionen auch in die- sind und sich noch etwas dazuverdienen, auch weh. Von sem Fall so vereinbart. An diese Vereinbarung haben daher ist unser Vorgehen in diesem Punkt nur klar und sich die Koalitionsfraktionen bedauerlicherweise nicht konsequent. gehalten. Deswegen bringt unsere Fraktion diesen An- Ich will in diesem Zusammenhang auch darauf hin- trag nicht mit ein. Ich habe aber gesagt, dass wir ihm weisen, dass die Bundesregierung, deren Regelungen zur vom Prinzip her zustimmen. Auf unserer Seite gibt es al- Altersversorgung manchmal in diese Diskussion einbe- lerdings eine Reihe von Bedenken. So werden wir das zogen und mit dieser Frage vermengt werden, einen ähn- Gesetz im Gesetzgebungsverfahren auf entsprechende Mängel überprüfen. (B) lichen Gesetzentwurf zur Versorgung von Ministern, (D) Staatssekretären und anderen in einem Kabinettsbe- Gleichzeitig möchte ich zum Ausdruck bringen, dass schluss von Ende September auf den Weg gebracht hat. unsere grundsätzliche Zustimmung zu dem Vorhaben, Auch hier werden die Regelungen dem Beamtenrecht Regelungen, die für die meisten anderen Bürger gelten, nachempfunden und sind damit angemessen. auf die Abgeordneten zu übertragen, nicht bedeutet, dass Von daher sollten wir, meine Damen und Herren, die wir den zahlreichen Mängeln, die die Maßnahmen der Kirche im Dorf lassen. Wir übertragen das, was draußen Koalitionsfraktionen im Rentenrecht und im Beamten- im Lande gilt, auf uns. Wir werden dabei auch darauf zu recht verursacht haben, auf diese Weise im Nachhinein achten haben, was wir in Zukunft noch tun wollen. Ich unseren Segen geben werden. sichere zu, dass wir sehr sorgfältig darüber nachdenken, Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ob weitere grundsätzliche Veränderungen nötig sind. Ich denke dabei zum Beispiel an die private Vorsorge von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abgeordneten und an die Frage, ob wir die Abgeordne- ten in irgendeine Form einer Bürgerversicherung ein- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beziehen, die der Altersvorsorge dient. Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/ Die Grünen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur mit Kopfpauschale!) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich sichere von dieser Stelle aus zu, dass wir das ernst- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha- haft prüfen werden. An dieser Stelle werden wir aber ben Ihnen von der Opposition immer angeboten, die An- keine Sonderregelungen für oder gegen Abgeordnete träge mit zu unterzeichnen. einführen. Das will ich ausdrücklich hinzufügen, weil (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ja, mit un- das, wie ich finde, unangemessen wäre. terzeichnen haben Sie angeboten!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie haben jetzt einen ein bisschen anderen Eindruck er- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – weckt. Die Möglichkeit bestand und es war auch Zeit ge- Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Am besten, nug. Auch wenn Sie eine Woche länger gebraucht hät- wir lassen die ganze Bürgerversicherung!) ten, hätten wir Ihnen die Zeit gerne gegeben. In diesem Sinne können wir jetzt mit den Beratungen Wir haben uns damals mit der Agenda 2010 dazu ver- in den Ausschüssen anfangen. Das, was wir als Koalition pflichtet, bei der Abgeordnetenversorgung strukturell 12112 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Volker Beck (Köln) (A) denselben Mechanismus wirken zu lassen wie bei der tus des Abgeordneten sehen, nämlich beim Bundesrich- (C) Hinterbliebenenversorgung in der Rentenversicherung ter. Wir haben für die aktiven Versorgungsbezüge ein und wie wir ihn, trotz der Verschiedenheit der Systeme, Provisorium ins Gesetz geschrieben, indem wir festge- wirkungsgleich auf die Beamtenversorgung übertragen legt haben, was eigentlich gelten soll, nämlich die Rich- haben. Ich glaube, das war richtig. Wir haben das ver- tergehälter, aber danach geregelt haben, dass wir vorü- sprochen und wir lösen dieses Versprechen heute ein. bergehend bestimmte Zahlbeträge bekommen. Seitdem das im Gesetz steht, hat sich der Abstand zu den Richter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehältern zuungunsten der Abgeordneten ständig vergrö- und bei der SPD) ßert, und er vergrößert sich auch in diesem Jahr weiter, Wir wollen damit deutlich machen, dass für die Abge- ohne dass einmal jemand fragt, ob die Bezüge im oberen ordneten in dieser schwierigen Zeit keine Extrawürste Beamtenbereich vielleicht unberechtigt sind. Bei uns gebraten werden. Abgeordnete bekommen eine andere wird das ständig gefragt. Entschädigung als andere Bürger, mehr als die einen, Ich glaube, wir alle müssen uns ermannen, für das aber auch weniger als viele andere. Das muss man dazu- Ansehen des Parlamentes, für die Demokratie und auch sagen. dafür zu werben, dass zu einer funktionierenden Demo- Wir folgen sozusagen der allgemeinen Entwicklung, kratie auch Abgeordnete gehören, die nicht danach aber nur – auch das muss man heute ehrlich sagen – bei schielen müssen sollten, was sie nach ihrem Mandat ma- der Kürzung der Bezüge in der Altersversorgung. Der chen, die sich nicht schon nach Perspektiven umsehen allgemeinen Einkommensentwicklung bei den aktiven müssen sollten, was unter Umständen dazu führen Bezügen folgen wir nicht. Wir haben im letzten und auch könnte, dass sie ihre Politik danach ausrichten, was ih- in diesem Jahr ausdrücklich keine Erhöhung der Diäten rem künftigen Arbeitgeber möglicherweise gefällt oder vorgesehen, das heißt, wir nehmen nicht an der allgemei- gefällig ist. Das wäre eine schlechte Politik zulasten der nen Tarifentwicklung teil, wie es die Beamten und viele Bürgerinnen und Bürger und zulasten unseres Landes. andere Beschäftigte tun. Auch darauf muss man auf- Eine solche Politik wollen wir nicht. Der Sinn einer Ab- merksam machen; denn das hat bei unserem System geordnetenversorgung und einer Abgeordnetenentschä- auch Rückwirkungen auf die Altersversorgung. Da- digung besteht darin, die Unabhängigkeit jedes einzel- durch, dass sich die Diäten nicht erhöhen, erhöhen sich nen Bundestagsabgeordneten zu garantieren und ihn vor auch die Altersversorgungsbezüge nicht. Deshalb kürzen dem Druck seiner Partei und vor falschen Lobbyeinflüs- wir eigentlich doppelt: Wir kürzen mit diesem Mecha- sen zu schützen. nismus, zusätzlich analog zum System der Beamten. Wenn es künftig zu Erhöhungen kommt, kürzen wir die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) Erhöhung der Versorgung viermal bei den Neuversor- und bei der SPD) (D) gern und achtmal bei den Altversorgern. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich möchte an uns alle appellieren, dass wir uns als Parlamentarier angewöhnen, gegenüber der Presse, Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, FDP-Frak- wenn jemand beim Abgeordnetengesetz irgendeine Wei- tion. che anders stellen will – im Sinne von „Da könnte man noch etwas kürzen“ –, nicht entsprechende Aussagen zu Jörg van Essen (FDP): treffen. Auch wenn niemand verstanden hat, worum es Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! geht, könnte es nach Meinung mancher immer noch ein Für die FDP-Bundestagsfraktion ist es ganz selbstver- bisschen weniger sein. ständlich, dass wir die Einschnitte, die wir bei den Bür- Ich bin nicht mehr bereit, diese Diskussion zu führen, gern vornehmen, auch auf die Abgeordnetenversorgung ohne das Panorama zu betrachten, wie es der Kollege übertragen. Wilhelm Schmidt mit Blick auf die 2 000 leitenden An- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE gestellten bei VW in Wolfsburg gemacht hat. Auch in- GRÜNEN]: Sehr gut!) nerhalb der Bundesregierung – ich habe die Bundesre- gierung extra hierzu befragt – und des Bundes gibt es Trotzdem werden Sie jetzt nicht von mir erwarten, dass eine erhebliche Zahl von Beamten, die mehr als Abge- ich ein Jubellied auf das singe, was heute hier vorge- ordnete bekommen; es sind fast 1 200 Personen, deren schlagen wird. Bezüge höher liegen und die nach dem Mechanismus des Beamtenrechts, das im Ergebnis für die Altersver- Es war schon interessant, zu hören, wie oft in dieser sorgung weiterhin günstiger bleibt, auch höhere Alters- Debatte der Vergleich zwischen der Versorgung der Ab- versorgungsbezüge bekommen, trotz hundertprozenti- geordneten und derjenigen der Beamten angestellt ger Arbeitsplatzsicherheit der Beamten, die die wurde. Beispielsweise war es das Ziel der beiden großen Abgeordneten – zu Recht – nicht haben, denn jede Wahl Fraktionen, die Diäten der Abgeordneten mit der Besol- heißt: neues Spiel, neues Glück. Auch das muss man in dung der Beamten gleichzustellen. Für uns Liberale ist den Blick nehmen. es aber ganz selbstverständlich, dass Abgeordnete mit Beamten nicht zu vergleichen sind. Wir haben – der Kollege Schmidt hat es erwähnt – vor neun Jahren in das Abgeordnetengesetz hineingeschrie- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE ben, wo wir die objektive Vergleichsgröße für den Sta- GRÜNEN]: Das ist richtig!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12113

Jörg van Essen (A) Beamte haben Vorgesetzte und eine festgelegte Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Dienstzeit. Es ergeben sich noch viele andere Unter- Ich schließe die Aussprache. schiede. Typisch für die Tätigkeit des Abgeordneten hin- gegen ist, dass er unabhängig ist, dass er keinen Chef hat Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- und dass er nur seinem Gewissen verpflichtet ist. Damit wurfs auf Drucksache 15/3942 an die in der Tagesord- ist er den Angehörigen der freien Berufe wie Journalis- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die ten, Ärzten und Rechtsanwälten gleichgestellt. Vorlage jedoch nicht an den Finanzausschuss überwie- sen werden soll. Gibt es dazu anderweitige Vorschlä- Bei den gerade von mir genannten Berufsgruppen ge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so gibt es eben keine beamtenähnliche Versorgung. Es ist beschlossen. ganz selbstverständlich, dass die Angehörigen dieser Be- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: rufsgruppen für ihr Alter selbst Vorsorge treffen müssen. Unser Vorschlag ist – ich wiederhole ihn an dieser Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Stelle –, von der bisherigen Form der Altersversorgung richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu abzugehen und nicht an dieser oder jener Stelle ein we- dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang nig zu ändern – Sie haben die 25. Änderung schon ange- Bosbach, Hartmut Koschyk, Erwin Marschewski sprochen –, sondern zu einer wirklichen Neuregelung zu (Recklinghausen), weiterer Abgeordneter und der kommen. Fraktion der CDU/CSU (Beifall bei der FDP) Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter Dass wir mit unseren Überlegungen offensichtlich – Drucksachen 15/924, 15/3907 – nicht ganz falsch liegen, konnte ich in dieser Woche in Berichterstattung: einer Zeitung nachlesen. Da hat nämlich ein Kollege Ih- Abgeordnete rer Fraktion genau die Vorschläge wiederholt, die die Erwin Marschewski (Recklinghausen) FDP-Bundestagsfraktion seit vielen Jahren macht, Silke Stokar von Neuforn (Otto Fricke [FDP]: Abschreiben!) Dr. Max Stadler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die nämlich von der bisherigen Versorgung wegzukommen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre und diese selbst zu regeln. keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Eines ist vollkommen klar: Die Bürger schauen uns Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- sehr kritisch auf die Finger. Sie haben einfach das Ge- gin Marga Elser, SPD-Fraktion. (B) fühl: Wenn man selbst etwas regeln kann, dann macht (D) man es nicht zu seinem Nachteil. Das ist zwar ein unbe- rechtigter Vorwurf, wie Ihr Beitrag gezeigt hat. Aber die- Marga Elser (SPD): ses Gefühl gibt es bei den Bürgern. Deshalb ist unser Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorschlag, dass wir in einer verfassungsrechtlich saube- Ich denke, wir alle sind uns darüber einig, dass die ren Weise unsere Kompetenz in dieser Angelegenheit an Schicksale von Zwangsarbeitern wirklich schrecklich eine Kommission abgeben, die vom Bundespräsidenten sind. Über Jahrzehnte haben wir uns alle bemüht, das einberufen wird. Thema der deutschen Kriegsschuld sachlich aufzuarbei- ten. Es gilt: Das Leid, das Deutschland über andere ge- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wis- bracht hat, ist schlimm. Das Leid, das deutsche Bürger sen doch, was in Nordrhein-Westfalen dabei als Folge dessen erlitten haben, ist ebenfalls schlimm. herausgekommen ist!) Aber für beides gilt auch: All dieses Leid hatte seine Wurzeln im Unrecht der NS-Zeit und damit in Deutsch- Die Mitglieder dieser Kommission haben keine eigenen land. finanziellen Interessen. In ihr sind auch diejenigen ver- treten – zum Beispiel der Bund der Steuerzahler –, die Genau dieser Punkt darf nicht vergessen werden. Die immer wieder Kritik an Diätenerhöhungen üben, die es Schicksale deutscher Zwangsarbeiter sind eine Folge der alle Jahre wieder einmal gibt. deutschen Schreckensherrschaft. Bereits in den 50er- Jahren bestand Einigkeit darüber, dass die Heranziehung (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist der Deutschen zur Arbeitsleistung in der Folge des ziemlich weltfremd!) Zweiten Weltkriegs als allgemeines Kriegsfolgen- schicksal zu bewerten ist. Eine sachliche Begründung, – Es ist nicht weltfremd. Es gibt schon Umsetzungen in weshalb diese Nachkriegsbewertung, die bisher von al- der Praxis, die zeigen, dass so etwas möglich ist. len Bundesregierungen mitgetragen wurde, nun plötzlich Unser Vorschlag ist, keine Flickschusterei zu machen, aufgegeben werden soll, geht aus dem Antrag der CDU/ sondern zu einem wirklichen Neuanfang zu kommen. CSU-Fraktion nicht hervor. Wir haben die entsprechenden Anträge in den Bundestag Es war bisher auch ganz eindeutiger Konsens, dass eingebracht. Stimmen Sie ihnen zu! das allgemeine Kriegsfolgenschicksal deutscher Vielen Dank. Zwangsarbeiter nicht als Anknüpfungspunkt für inner- staatliche Ausgleichsleistungen herangezogen werden (Beifall bei der FDP) soll. Ich kann nicht erkennen, sehr geehrter Herr 12114 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Marga Elser (A) Marschewski, warum die Bundesregierung ausgerechnet vor fast 40 Jahren, am 13. Dezember 1966, forderte der (C) jetzt von dieser einheitlichen Linie abweichen soll. Hier damalige Bundeskanzler Kiesinger in einer Regierungs- stellt sich auch die Frage, warum Ihre Fraktion während erklärung: 16 Jahren Regierungstätigkeit nicht selbst eine Entschä- digung deutscher Zwangsarbeiter durchgesetzt hat. Die Gesetzgebung über die Abwicklung von Kriegs- und Nachkriegsfolgen sollte abgeschlossen (Rita Streb-Hesse [SPD]: Die Frage ist gut!) werden. Die Finanzlage des Bundes beweist, dass wichtige Aufgaben der Zukunftsvorsorge sträflich Sie nehmen in Ihrem Antrag zur Entschädigung deut- vernachlässigt werden würden, wenn die kommen- scher Zwangsarbeiter auf das Gesetz zur Errichtung ei- den Jahre durch neue Zahlungen für die Vergangen- ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ heit belastet würden. Bezug. Sie erklären in Ihrem Antrag, dass der Deutsche Bundestag mit diesem Gesetz seiner Verantwortung Damals hatte also ein Bundeskanzler aus Ihren Rei- nachgekommen sei, eines der furchtbarsten Kapitel un- hen die Opportunitätskosten und die Notwendigkeit ei- serer jüngsten Vergangenheit aufzuarbeiten. Im gleichen nes ausgeglichenen Haushalts im Blick. Auch Sie wis- Atemzug leiten Sie aus diesem Gesetz nun ab, dass eine sen, dass es uns die Haushaltslage nicht erlaubt, in die Entschädigung als Geste für die Würdigung des schwe- Vergangenheit zu investieren. Denn dies würde notwen- ren Schicksals der deutschen Zwangsarbeiter geleistet dig bedeuten, dass wichtige Vorhaben für die Zukunft werden muss, und zwar unabhängig von der Frage der Deutschlands nicht wahrgenommen werden könnten. Kriegsschuld. Ich bin mir sicher, dass wir die Diskussion hier nicht Ich frage Sie wieder, Herr Marschewski: Wieso hat führen würden, wenn die Mehrheitsverhältnisse anders Ihre Fraktion 16 Jahre lang eine Entschädigung als nicht wären. Ich bin mir ebenfalls sicher, dass auch Sie als An- notwendig erachtet? Wieso beantragen nun auch die tragsteller im Grunde wissen, dass NS-Zwangsarbeiter Mitglieder Ihrer Fraktion, die bei der Abstimmung über und deutsche Zwangsarbeiter nicht gleichgesetzt werden den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung können. Eine Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mit Nein ge- kann damit auch nicht aus dem Gesetz zur Errichtung ei- stimmt haben, eine Entschädigung deutscher Zwangsar- ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ beiter in Anlehnung an ebendieses Gesetz? Ich weiß ja, abgeleitet werden. dass sich einige von Ihnen enthalten haben, beispiels- weise der Herr Büttner. Aber es gibt in Ihren Reihen Im Übrigen wundert mich doch sehr, dass Sie mit Ih- auch einige wenige, die damals dagegen gestimmt ha- rem Antrag ein Ziel verfolgen, das bereits im Jahre 2001 ben. Vielleicht geschah dies unter dem Aspekt, dass Sie von der Fraktion der DVU im Landtag von Brandenburg (B) schon damals die Gleichmachung der Opfer gefordert verfolgt wurde. (D) haben. Denn der Tenor Ihres jetzigen Antrags ist eine (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Gleichsetzung der Opfer des Nationalsozialismus mit GRÜNEN]: Hört! Hört!) den Opfern der Kriegsfolgen. Ich gehe aber davon aus, dass Sie sich ganz sicher nicht Ich weise nochmals darauf hin: Die deutsche Nach- mit der DVU auf eine Ebene stellen werden. kriegsgesetzgebung hat die Heranziehung von Deut- schen oder deutschen Volkszugehörigen durch dritte Vielen Dank. Länder zur Zwangsarbeit ganz klar als allgemeines Kriegsfolgenschicksal bewertet. Eine Entschädigung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sollte hieran nicht anknüpfen. DIE GRÜNEN)

Es ist in jedem Fall zu beachten, dass diese Opfer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht ganz von den Nachkriegsregelungen ausgenom- Das Wort hat der Kollege Erwin Marschewski, CDU/ men waren. Zum Ausgleich besonderer Härten deutscher CSU-Fraktion. Kriegsopfer wurden nach dem Bundesversorgungsgesetz und seinen zahlreichen Nebengesetzen bisher rund (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian 400 Milliarden DM aufgewendet. Das hat übrigens das Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ma- Bundesfinanzministerium ermittelt. Es ist also keines- chen Sie Recklinghausen jetzt mal ein biss- falls so, dass das Schicksal deutscher Kriegsopfer in der chen Ehre! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Vergangenheit vollkommen ignoriert worden wäre. Im [SPD]: Recklinghausen hat jetzt einen tollen Rahmen der politischen und rechtlichen Möglichkeiten Landrat!) wurden sehr wohl Härtefälle entschädigt. In sozialen Härtefällen kann auch jetzt noch über die Stiftung für Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): ehemalige politische Häftlinge eine materielle Leistung gewährt werden. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Robert Jungk, Publizist und Zukunftsforscher, Ihrem Antrag muss jedoch nicht nur das politische schrieb im November 1945 in der Zürcher „Weltwoche“ Argument entgegengesetzt werden. Auch der finanzielle unter dem Titel „Aus einem Totenland“ einen Artikel Aspekt muss ganz deutlich hervorgehoben werden. In über Vertreibungsverbrechen an Deutschen, der weltwei- diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf eine Ein- tes Aufsehen erregte. Darin benannte er die Zustände in schätzung aus Ihren eigenen Reihen hinweisen. Bereits Schlesien nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12115

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) Dieser Bericht ist eine Dokumentation von Elend und Ute Frevert: Solche Erinnerungen politisch stillstellen (C) Gewalt. Ich möchte es allen ersparen, hier auf das Ver- oder unterdrücken zu wollen wäre nicht nur sinnlos, son- werflichste, Brutalste einzugehen. Nur zwei kurze Erleb- dern auch kontraproduktiv. nisse Robert Jungks: Meine Position im Innenausschuss habe ich klar ge- Hinter ihm liegen leer geplünderte Städte, Pestdör- macht: Es kann nicht darum gehen, Leid mit Leid, fer, Konzentrationslager, öde, unbestellte Felder, Schuld mit Schuld zu verrechnen. Diese Aufrechnung ist leichenbesäte Straßen, an denen Wegelagerer … – wie beim Historikerstreit Mitte der 80er-Jahre – eine Flüchtigen die letzte Habe rauben. schlimme Tradition, und zwar in allen politischen La- gern. Daher noch einmal diese Feststellung: Die Nazi- Und über Zwangsarbeit: verbrechen, insbesondere der Völkermord an den Juden Es ist wahr, dass in den so genannten Arbeitslagern und die Vernichtung ganzer Völker aus so genannten ras- S. und C. Insassen nächtelang bis zum Hals im eis- sischen Gründen, sind mit nichts vergleichbar. Dies kalten Wasser stehen müssen und dass man sie bis brauchte eigentlich jemand, der die braune Pest ein Le- zur Bewusstlosigkeit schlägt. ben lang bekämpft hat, nicht erneut zu bestätigen. Der Bericht von Robert Jungk sollte zugleich Mah- Aber auch ein Weiteres sollte selbstverständlich sein: nung an die Alliierten sein, diesem Treiben nicht tatenlos den verzweifelten Wunsch der deutschen Zwangsarbei- zuzusehen. Die Staatengemeinschaft hat aber auch hier ter zu erfüllen, endlich mit ihrem Schicksal wahrgenom- nicht eingegriffen. Die Menschen mussten dieses men zu werden. Wie es Helga Hirsch sagt: Schicksal erdulden. Heute, fast sechs Jahrzehnte später, ist es Zeit, den von diesem Schicksal in den Zwangsar- Ihren Leidensweg in die deutsche Nachkriegsge- beiterlagern Betroffenen moralische Anerkennung zu- schichte zu integrieren. Und ihnen zuzugestehen, zugestehen. Dies wäre eine Geste des Mitgefühls und dass sie im Verhältnis zum Durchschnitt der Bevöl- der Aufarbeitung auch dieses Kapitels der Geschichte. kerung einen besonders hohen Preis für die Verbre- Diese Aufarbeitung ist dringend notwendig. Wir sind chen des NS-Regimes gezahlt haben. dies den Opfern und uns selbst schuldig. Deswegen unser Antrag, meine Damen und Herren von (Beifall bei der CDU/CSU) SPD und Grünen. Wir wollen eine Anerkennung auch dieses Leidens. Bis heute ist nicht exakt ermittelbar, wie viele Deut- sche zu Zwangsarbeit gezwungen wurden. Es ist auch (Beifall bei der CDU/CSU) nicht ermittelbar, wie viele über Jahre hinweg in Lagern Wir meinen, dass auch deutsche Opfer von Zwangsarbeit verschwanden. Man bemisst die Zahl auf rund 2 Millio- (B) einen Anspruch auf moralische Anerkennung haben. (D) nen, insbesondere Frauen, Jugendliche und auch Kinder, Das wollen wir, damit auch ihnen eine Entschädigung in verschleppt nach Sibirien, in den Ural oder sonst wohin. Form einer humanitären Geste zuteil wird. Denn es ist Für sie bedeutete Zwangsarbeit mehr als zehn Stunden doch eigentlich unbestritten, dass dies kein allgemeines tägliche Arbeit unter härtesten Bedingungen, in unter Kriegsfolgenschicksal ist. Meine Damen und Herren, es Wasser gesetzten Zechen im Ural. Immer wieder gab es ist mehr. Übergriffe, oftmals Massenvergewaltigungen. Viele kehrten nicht zurück. Wer das Leiden überlebte, war für Nun zu Ihnen von der SPD. Sie haben uns die Hoff- immer geschädigt. nung gemacht, dass Sie uns entgegenkommen. Im Ge- gensatz zum Bundeskanzler, der die Betroffenen vor ge- Es sind Schicksale wie das von Heinz Skaletz aus raumer Zeit schroff abgewiesen hat, haben Sie immerhin meiner Heimatstadt Recklinghausen. Als Kind von ge- mit uns geredet. Aber auch nach fast 18-monatigen Ver- rade einmal 13 bis 14 Jahren verschleppt, zur Zwangs- handlungen sind Sie nicht weiter als zu einem Nein gekom- arbeit im Bergbau gezwungen, musste er in einem von men, obwohl wir Ihre Begründungen widerlegt haben: die Deutschen in Oberschlesien zerstörten Bergwerk unter Begründung vom allgemeinen Kriegsfolgenschicksal oder schwersten Bedingungen zwölf bis 14 Stunden täglich die Behauptung – Frau Kollegin Elser, hier haben Sie arbeiten. Oder das Schicksal von Margarete E. aus Unrecht –, die Zwangsarbeiter seien bereits entschädigt Pforzheim: Im Februar 1945 als 20-Jährige aus Ostpreu- worden. Das ist falsch. Denn weder das Kriesgefange- ßen in ein Lager im Ural verschleppt, in dem Unter- nenentschädigungsgesetz noch das Heimkehrerstiftungs- ernährung und hygienische Mängel zu Typhus und Ruhr gesetz noch das Häftlingshilfegesetz findet Anwendung. führten, prägten körperliche Repressalien und schwerste Arbeiten in Steinbrüchen, in der Kolchose und bei der Auch Ihre Behauptung, dieses Thema sei im Kriegs- Waldarbeit ihr Leben. In ihrem Bericht schreibt sie: folgenbereinigungsgesetz des Jahres 1992 abschließend geregelt worden, ist falsch. Ich selbst habe 1992 die Auf- Die Unterkunft im Wald war ein Erdbunker ohne fassung der Union im Deutschen Bundestag so darge- Licht und Wasser. Fünf Jahre hat die Zwangsarbeit legt: Zu ist der Vorhang nicht – deswegen nur Bereini- gedauert. Geblieben sind ein Herzfehler, Rheuma gung. Uns war damals klar, dass der Versuch, Leid zu und traumatische Erinnerungen. mildern, keineswegs einen gesetzgeberischen Abschluss Meine Damen und Herren, es ist legitim und wichtig, bedeutete. Frau Kollegin, es geht nur um Heilung und auch an das Leid zu erinnern, das der von den Nazis be- Versöhnung bei damals bekanntem Unrecht. Die Vertrei- gonnene Krieg und seine Folgen über die deutsche Be- bungsgeschichte und die damit verbundenen Ereignisse völkerung gebracht haben. Da bin ich einer Meinung mit haben sich lange im Schatten der Geschichte abgespielt 12116 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) und es verbot sich, im Land der Täter an eigene Opfer zu Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Des- (C) erinnern. halb schließe ich die Aussprache. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat das so be- Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des In- schrieben: nenausschusses auf Drucksache 15/3907 zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Entschädigung Jahrzehntelang lief die Mehrheitsmeinung darauf deutscher Zwangsarbeiter“. Der Ausschuss empfiehlt, hinaus, den Vertriebenen die Privatisierung ihres den Antrag auf Drucksache 15/924 abzulehnen. Wer Leids zuzumuten. … Erst in den letzten Jahren ist stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenpro- Bewegung be! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von – so Wehler weiter – CDU/CSU und FDP angenommen.

in diese Problematik geraten. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:

Dabei handelt es sich um eine Bewegung, meine Da- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- men und Herren von SPD und Grünen, die ich bei Ihnen nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE bedauerlicherweise vermisse. Warum verschließen Sie GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches sich eigentlich dem, was Helga Hirsch, die Ihnen ja ei- Sozialgesetzbuch gentlich nahe steht, in ihrem Aufsatz „Keine Entschädi- gung für Zwangsarbeiter – eine Gerechtigkeitslücke?“ so – Drucksache 15/3443 – formuliert hat: (Erste Beratung 118. Sitzung) Denn auch das gehört zur Erkenntnis über die Nazi- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- zeit: dass die Deutschen … selbst Opfer des natio- ses für Gesundheit und Soziale Sicherung nalsozialistischen Terrors geworden sind – die Op- (13. Ausschuss) fer der Rache jener Völker, die zuvor von den – Drucksache 15/3973 – Deutschen unterdrückt, verfolgt, ermordet wurden. Berichterstattung: So weit Helga Hirsch. Abgeordnete Birgitt Bender Warum, meine Damen und Herren von SPD und Grü- Die Abgeordneten Erika Lotz, SPD-Fraktion, (B) nen, verweigern Sie sich kategorisch, die Opfer, deutsche Hildegard Müller, CDU/CSU-Fraktion, Birgitt Bender, (D) Zwangsarbeiter, mit ihrem Schicksal und den entspre- Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Heinrich Kolb, FDP- chenden Folgen wahrzunehmen? Nein, das ist – diesen Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Satz habe ich mir sehr genau überlegt – kein humanes Handeln. Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- (Beifall bei der CDU/CSU) nen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 15/3443. Nicht zu vergessen ist die politisch mögliche, fatale Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Auswirkung. Niemals, so schreibt Günter Grass in der empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Novelle „Im Krebsgang“, hätte man über so viel Leid che 15/3973, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- schweigen dürfen, nur weil die eigene Schuld und die er- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- kennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um sei. So Günter Grass. das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Meine Damen und Herren auf der linken Seite, sollen mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. wir dieses Thema wirklich ausschließlich den Radikalen Dritte Beratung überlassen? Was mir bleibt, ist, mit Grass zu schließen: „Dieses Versäumnis wäre bodenlos.“ und Schlussabstimmung. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen GRÜNEN]: Das ist für Grass ja eine Beleidi- wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- gung!) tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich bedanke mich. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: (Beifall bei der CDU/CSU) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Rzepka, Roland Gewalt, Verena Butalikakis, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/ 1) Anlage 2 Die Grünen, und der Kollege Dr. Max Stadler, FDP- 2) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12117

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Siegfried Helias, Günter Nooke und weiterer Ab- fens BBI in Schönefeld geschlossen. Der Planfeststel- (C) geordneter lungsbeschluss für den BBI ist am 13. August 2004 er- lassen worden. Die Bestandskraft dieses Beschlusses ist Flugverkehrskonzept für den Großraum Ber- noch nicht abzusehen, da zahlreiche Klageverfahren an- lin überprüfen – Flughafen Berlin-Tempelhof hängig sind. offen halten Die Flughafengesellschaft hat den Antrag auf Schlie- – Drucksache 15/3727 – ßung von Tempelhof mit Bestandskraft des Planfeststel- Überweisungsvorschlag: lungsbeschlusses BBI gestellt. Außerdem hat die Flugha- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) fengesellschaft zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Verteidigungsausschuss Situation wegen der seit Jahren steigenden Defizite aus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die dem Betrieb und der Unterhaltung von Tempelhof den Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Antrag auf Befreiung von der Betriebspflicht für Tem- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. pelhof gestellt. Die zuständige Luftfahrtbehörde in Ber- lin hat diesen Anträgen stattgegeben. Sie hat die Berliner Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla- Flughafengesellschaft mit Wirkung ab dem 31. Oktober mentarische Staatssekretärin Iris Gleicke. 2004 von der Betriebspflicht des Flughafens Tempelhof befreit. Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- nister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Befreiung von der Betriebspflicht wurde mit der Gestatten Sie mir zunächst einige allgemeine Bemerkun- sofortigen Vollziehbarkeit versehen. Die Anordnung der gen. Ich darf darauf hinweisen, dass alle Genehmigungs- sofortigen Vollziehung ist mittlerweile durch einen Ge- fragen nach § 31 Abs. 2 Luftverkehrsgesetz im Rahmen richtsbeschluss aufgehoben worden. Die anhängigen der Auftragsverwaltung beim Land Berlin liegen. Ledig- Gerichtsverfahren entfalten damit aufschiebende Wir- lich dann, wenn Bundesinteressen berührt sind, kann der kung. Bund tätig werden. Durch die Schließung bzw. teilweise oder völlige Offenhaltung des Flughafens Tempelhof Die Auswirkungen und Folgen dieses Gerichtsbe- sind öffentliche Interessen des Bundes aber nicht be- schlusses werden unterschiedlich interpretiert. Die Ge- rührt: Selbst wenn Berlin als Luftverkehrsstandort für schäftsführung ist der Auffassung, die Betriebspflicht den Bund von herausragender Bedeutung ist, trifft dies gelte nur gegenüber den Luftverkehrsunternehmen, die auf den Flughafen Tempelhof alleine nicht zu. geklagt haben. Die Unternehmen und die Berliner Wirt- schaft sind der Meinung, die Entscheidung des OVG (B) (D) Durch den Ausbau des Standorts Schönefeld zu einem gelte für alle, die von Tempelhof aus fliegen möchten. leistungsfähigen internationalen Verkehrsflughafen er- Die Berliner Luftfahrtbehörde prüft derzeit gemeinsam fährt der Luftverkehrsstandort Berlin eine erhebliche mit der Geschäftsführung das weitere Vorgehen insbe- Stärkung. sondere im Hinblick auf die verkehrspolitischen Auswir- kungen auf den Luftverkehrsstandort Berlin. Unabhängig (Peter Rzepka [CDU/CSU]: Wann? Was vom Ausgang dieser Prüfung wird dem Konsensbe- erzählen Sie da?) schluss insoweit entsprochen, als der im Bescheid ent- Ob ein Verzicht auf den Flughafen Tempelhof schon zum haltene Widerruf der Betriebsgenehmigung, also die jetzigen Zeitpunkt möglich ist, muss von den Verantwort- endgültige Stilllegung Tempelhofs, erst zu dem Zeit- lichen insbesondere im Hinblick auf die für den Sommer- punkt wirksam wird, zu dem ein Planfeststellungsbe- flugplan 2005 angemeldeten Flüge geprüft werden. Zur- schluss für die Süderweiterung des Flughafens Berlin- zeit stellt sich die Situation so dar: Bis auf eine Ausnahme Schönefeld bestandkräftig ist. haben sich die Luftverkehrsunternehmen, die bisher ex Die Vorschläge, den Flughafen Tempelhof von Flug- Tempelhof im Linienverkehr operiert haben – das waren gesellschaften in Eigenregie betreiben zu lassen oder als insgesamt sieben –, mit einer Verlagerung ihrer Verkehre Check-in-Terminal für BBI zu nutzen, sind von der Ber- nach Tegel einverstanden erklärt, nachdem ihnen ent- liner Luftfahrtbehörde gemeinsam mit der Geschäftsfüh- sprechende Slots und Umzugshilfen zur Verfügung ge- rung zu prüfen. Nach unserem Kenntnisstand bestehen stellt wurden. hier sowohl erhebliche rechtliche als auch konzeptio- Mit den nächsten Bemerkungen beantworte ich nelle Bedenken. gleichzeitig die ersten drei Punkte des vorliegenden An- Nun zum Punkt 4 des Antrags. Vonseiten des Bundes trags. Die drei Gesellschafter der Berliner Flughäfen ist die Prüfung veranlasst, ob und inwieweit die Immobi- – Berlin, Brandenburg und der Bund – haben sich mit lie Flughafen Tempelhof insbesondere auch im Hinblick dem so genannten Konsensbeschluss vom Mai 1996 da- auf die Herrichtungskosten als Behördenzentrum genutzt rauf verständigt, den Luftverkehr der Hauptstadtregion werden kann. Das Ergebnis liegt uns noch nicht vor. auf einen Flughafen, und zwar in Schönefeld, zu konzen- trieren. Es wurde ferner vereinbart, Tempelhof bei Be- Zum Punkt 5. Die Verlegung der gesamten Flug- standskraft des für den Ausbau Schönefelds zum bereitschaft des BMVg nach Berlin-Tempelhof ist we- Flughafen „Berlin-Brandenburg International“, kurz gen der zwingend notwendigen und aufwendigen Infra- BBI, erforderlichen Planfeststellungsbeschlusses zu strukturmaßnahmen und aufgrund nicht hinnehmbarer schließen. Tegel wird bei Inbetriebnahme des Flugha- operationeller Einschränkungen nicht möglich. Für den 12118 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke (A) Bereich der Mittel- und Langstrecke ist der Standort und soll, welche Aufgaben die alte und neue Hauptstadt (C) Köln-Wahn mit seiner entsprechend bedarfsgerechten für unser Land wahrnehmen kann und welche Unterstüt- Infrastruktur unverzichtbar. zung sie dafür benötigt. (Markus Löning [FDP]: Was kostet das denn?) Das Luftverkehrskonzept für die Hauptstadt und den Großraum Berlin ist nicht nur ein Thema für die Nach heutigem Planungsstand verbleiben die Luft- Länder Berlin und Brandenburg, sondern auch für den transportmittel im Mittel- und Langstreckenbereich mit Bund und die anderen Bundesländer. Über Ausnahme der beiden zur Durchführung des politisch- 100 Abgeordnete aus allen Fraktionen haben den von parlamentarischen Flugbetriebs von Berlin-Tegel aus der Landesgruppe der CDU-Abgeordneten initiierten eingesetzten CL-601 am Standort Köln-Wahn. Zur Gruppenantrag, den wir heute beraten, unterzeichnet. Durchführung des politisch-parlamentarischen Flugbe- Den Kolleginnen und Kollegen möchte ich an dieser triebs im Kurzstreckenbereich ist eine Staffel auf dem Stelle für ihre Unterstützung sehr herzlich danken. Verkehrsflughafen Berlin-Tegel mit dem Hubschrauber Cougar AS-532 stationiert. Der Berliner Senat und die Berliner Flughafengesell- schaft haben mit ihrer Flughafenpolitik eine schwere Mit der Inbetriebnahme von Berlin-Schönefeld und Niederlage erlitten. Das Oberverwaltungsgericht Berlin der Schließung von Berlin-Tegel ist vorgesehen, die vor- hat die zum 31. Oktober 2004 geplante Stilllegung des handenen Ressourcen zur Durchführung des Regie- Flughafens Tempelhof für offensichtlich rechtswidrig er- rungsflugbetriebs nach Schönefeld zu verlagern. klärt. Die „Mutter aller modernen Flughäfen“, wie Lord Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Norman Foster den Flughafen Tempelhof nennt, hat da- mit mindestens bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Planfeststellungsbeschlusses für den Großflughafen in DIE GRÜNEN – Albrecht Feibel [CDU/ Schönefeld eine neue Chance erhalten. CSU]: Was will denn der Bund? Der Bund hat überhaupt keine Meinung! Was ist denn das Die mit dieser Rechtsprechung übereinstimmende für ein Verein?) Forderung unseres Antrags zum Offenhalten des Flugha- fens Tempelhof entspricht auch dem Konsensbeschluss Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: von 1996, den die Staatssekretärin hier schon erwähnt Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Rzepka. hat, in dem sich der Bund und die Länder Berlin und Brandenburg darauf verständigt hatten, den Flughafen Tempelhof frühestens zu schließen, wenn ein rechtskräf- Peter Rzepka (CDU/CSU): tiges Planfeststellungsverfahren für das Bauvorhaben in (B) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Schönefeld vorliegt. (D) Herren! Ich glaube, der heutige Beitrag der Staatssekre- tärin beweist einmal mehr, wie notwendig unser Grup- Die zur Begründung der vorzeitigen Stilllegung des penantrag hier in diesem Hause ist; denn sie hat hier we- Flughafens Tempelhof geltend gemachten Verluste in der zur Zukunft des sich in der Planung befindlichen Höhe von 16 Millionen Euro im Jahr sind nie belegt Flughafens Schönefeld klare Worte sagen und zeitliche worden. Bis heute werden die Zahlen unter Verschluss Perspektiven nennen können noch scheint sie aktuell gehalten. Nach meinen Recherchen resultieren die Ver- über die Situation in Tempelhof informiert zu sein. luste nicht aus dem Flugbetrieb, sondern vor allem aus dem Gebäudeleerstand. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) GRÜNEN]: Sie aber auch nicht!) Es gibt einen weiteren entscheidenden Aspekt, den Der Flugverkehr ist auch dort in den letzten Monaten die Schließungsbefürworter nicht zutreffend bewerten. gewachsen. Eine Reihe von Fluggesellschaften nutzt Würde der Flughafen Tempelhof geschlossen werden, nach der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts fielen zwei Start- und Landebahnen weg. Fachleute ge- Berlin die Möglichkeit, wieder nach Tempelhof zurück- hen davon aus, dass schon 2008 weitere Engpässe im zukehren oder dort zu bleiben. Heute hat wieder eine Berliner Flugverkehr drohen. Die fehlenden Möglich- Fluggesellschaft bekannt gegeben, dass sie von den Um- keiten zur Ausschöpfung der Wachstumsmöglichkeiten zugsplänen nach Tegel Abstand nimmt und dass sie den im Berliner Luftverkehr würden letztlich auch den wirt- Flughafen Tempelhof auch aufgrund der Äußerungen ih- schaftlichen Erfolg von BBI gefährden, der zum rer Passagiere und des Drucks, der von dort gekommen Winterflugplan 2010/2011 – jedenfalls nach jetziger Pla- ist, selbst in der Konkurrenz zu Tegel für viel interessan- nung – eröffnet werden soll. ter hält. (Markus Löning [FDP]: Das werden wir noch (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sehen!) GRÜNEN]: Haben Sie die Anwohner mal ge- fragt, was sie davon halten? – Eckart von Schließlich ist die 1996 vorgesehene Privatisierung Klaeden [CDU/CSU]: Die Anwohner haben gescheitert. Der Planfeststellungsbeschluss liegt zwar doch gewusst, dass da ein Flughafen ist!) vor, über 3 700 Flughafengegner klagen jedoch derzeit gegen die Pläne. Der Ausgang des Verfahrens vor dem Ich bin deshalb der Auffassung, dass der Deutsche Bundesverwaltungsgericht ist ungewiss. Eine Entschei- Bundestag Forum für die Diskussion darüber sein muss dung wird frühestens in zwei Jahren erwartet. Auch die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12119

Peter Rzepka (A) Finanzierung des Großflughafens in Schönefeld ist der- bindungen und Teile der Flugbereitschaft des Bundes (C) zeit noch ungeklärt. Dies gilt insbesondere für die An- eine sinnvolle Ergänzung zu BBI darstellen könnte teile, die die Berliner Flughafengesellschaft sowie die Gesellschafter Bund, Berlin und Brandenburg an dem (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nach jetzigen Schätzungen 2,5 Milliarden Euro teuren GRÜNEN]: Warum denn eigentlich?) Projekt zuzüglich der etwa 500 Millionen Euro für die und die größtenteils leer stehenden Gebäude für die kon- Schienenanbindung des BBI übernehmen müssen. zentrierte Unterbringung von Bundesbehörden genutzt werden könnten. Vor diesem Hintergrund ist die Schließung des Flug- hafens Tempelhof vor rechtskräftiger Planfeststellung Der Flughafen Tempelhof ist Symbol für die deut- und gesicherter Finanzierung für den Großflughafen in sche Luftfahrtgeschichte, für die Überwindung der Schönefeld sowie ohne Nachnutzungskonzept „betriebs- Blockade Berlins und für die Entwicklung der Freund- wirtschaftlich kurzsichtig, verkehrspolitisch unverant- schaft zu den westlichen Alliierten. Er ist mit seiner wortlich und rechtlich nicht begründet“, so der Kollege weltweit einzigartigen planerischen und architektoni- Reinhard Schultz von der SPD-Fraktion. Insoweit schen Einbindung in die Berliner Stadtlandschaft zu- stimme ich mit ihm völlig überein. gleich eine wesentliche Grundlage für die wirtschaftli- che, politische und kulturelle Zukunft der Hauptstadt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich zum Abschluss meines Beitrags Die Kollegin Selg von den Grünen wird in der heutigen Lord Norman Foster, den Architekten bahnbrechender Ausgabe der „taz“ mit den Worten zitiert: Flughäfen in London, Hongkong und Peking nach der „Süddeutschen Zeitung“ vom heutigen Tage zitieren: Tempelhof soll ruhig schließen – aber erst, wenn si- cher ist, dass Schönefeld in Betrieb geht. Tempelhof ist eines der wenigen Beispiele inner- städtischer Flughäfen, die es heute noch gibt und Frau Staatssekretärin, diese Sicherheit haben Sie uns die in die städtische Maserung eingewoben sind. So heute Abend nicht geben können. etwas darf man nicht einfach preisgeben. Das wäre Der Befund ist danach eindeutig: Der Berliner Senat ein Verlust nicht nur für Berlin und Deutschland, und die Berliner Flughafengesellschaft sind unfähig, ein sondern auch weit darüber hinaus. rechtlich und finanziell tragfähiges Flugverkehrskonzept (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für den Großraum Berlin zu entwickeln und umzusetzen. Der Konsensbeschluss von 1996 muss deshalb unter Be- rücksichtigung der zwischenzeitlichen Entwicklungen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) überdacht werden. Der Bund ist als Gesellschafter der Die Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig und (D) Flughafengesellschaft, als wesentlicher Miteigentümer Siegfried Scheffler haben gebeten, ihre Reden zu Pro- 1) der Immobilie Flughafen Tempelhof und in seiner Ver- tokoll geben zu dürfen. – Dann verfahren wir so. antwortung für eine Neukonzeption der Flugbereitschaft Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Hellmut des Bundes in einer besonderen Verpflichtung. Königshaus. In die von uns geforderte Prüfung sollte auch einbe- zogen werden, ob im Rahmen einer möglichen Neukon- Hellmut Königshaus (FDP): zeption einer zukünftig privatisierten Flugbereitschaft Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, des Bundes Teile davon zum regierungsnahen Standort was wir eben von der Staatssekretärin gehört haben, hat Tempelhof verlagert werden können. gezeigt, wie notwendig es in der Tat ist, dass wir uns mit diesem Thema befassen. Sie hat den Eindruck zu erwe- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE cken versucht, als gehe das uns, die Bundesebene, über- GRÜNEN]: Auch das noch!) haupt nichts an. Dabei ist der Bund Gesellschafter der Darüber hinaus wollen wir, dass die Angebote von Flug- Flughafengesellschaft. Es geht um unser Geld. gesellschaften, den Flughafen in Eigenregie zu betrei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ben, ebenso gründlich geprüft werden wie das Angebot und das Konzept, Tempelhof als Check-in-Terminal für Es scheint heutzutage keine Rolle mehr zu spielen, wenn BBI und als innerstädtischen Flughafen für kleine Ver- Geld verschleudert wird. Das ist genau unser Thema. kehrsmaschinen zu nutzen. Wenn Sie heute Geld verschleudern und etwas machen wollen, was gegen die Interessen der Bürger ist, dann Es ist dringend notwendig, die gegenwärtige Lage brauchen sie in der Regel einige nützliche Idioten. Die neu zu bewerten, mögliche Fehlentwicklungen abzu- finden sich immer. Sie brauchen vor allem einen Dum- wenden und neue Chancen zu nutzen. Auf der Grund- men, der sich auch hier wieder gefunden hat. Wie immer, lage der Ergebnisse unserer Prüfaufträge könnten tragfä- wenn es um Großprojekte geht, an denen Herr Wowereit hige Entscheidungen vorbereitet werden. Dazu möchten und Herr Stolpe beteiligt sind, ist der Dumme der Steuer- wir mit unserem Gruppenantrag einen Beitrag leisten. zahler. So ist es auch hier. Ich bitte Sie deshalb um Unterstützung. Ich bin der fes- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten Überzeugung, dass die Prüfungen zu dem Ergebnis führen werden, dass der innerstädtische Flughafen Tem- pelhof als Standort für Geschäftsreisende, Regionalver- 1) Anlage 4 12120 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Hellmut Königshaus (A) Hier werden bestehende Kapazitäten, die sich be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) währt haben und die wir noch brauchen – Herr Rzepka Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Abge- hat das gesagt; ich will das nicht wiederholen, weil ich ordnete Edeltraut Töpfer das Wort. nicht so viel Zeit habe –, zerschlagen. Es sind Kapazitä- ten, deren Aufbau teuer war und deren Unterhalt auch in (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Zukunft teuer ist. Das haben wir vorhin schon angespro- [Salzgitter] [SPD]: Das macht die Sache auch chen. Die Anlagen in Tempelhof stehen unter Denkmal- nicht besser! Bei aller Wertschätzung für Sie, schutz. Wir müssen auch den Weiterbetrieb in Schöne- Frau Kollegin, macht das die Sache nicht bes- feld betrachten. Dort haben wir die Situation, dass wir ser!) im Rahmen der Bauarbeiten eine Start- und Landebahn verlieren werden. Alles dies zusammen ergibt ein totales Edeltraut Töpfer (CDU/CSU): Chaos und eine Konfusion. Nichts, Frau Staatssekretä- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ab- rin, hat die Bundesregierung bisher in Angriff genom- lauf der Planung des Großflughafens Berlin-Schönefeld men. Sie tut so, als gehe sie das alles gar nichts an. und damit einhergehend die Schließung der Flughäfen Tempelhof und Tegel ist wahrlich kein Ruhmesblatt Wir haben hier unglaubliche Chancen, die andere ver- in der Unternehmensgeschichte der Flughafengesell- gleichbare Städte nicht haben. Wir haben einen inner- schaft Berlin-Brandenburg. städtischen Flughafen, der in anderen Städten erst noch geschaffen werden muss. Wir kennen die Situation in (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) London City. Dort können nur drei oder vier Flugzeuge gleichzeitig abgestellt und abgefertigt werden. Der Flug- Bereits zwei Untersuchungsausschüsse des Berliner hafen Tempelhof als innerstädtischer Flughafen ist in der Abgeordnetenhauses mussten sich seit 1995 mit skanda- lösen Fehlentwicklungen beschäftigen, die von der Flug- Lage, bis zu 80 Prozent der gesamten Abstellkapazitäten hafengesellschaft zu verantworten waren. im Berliner und brandenburgischen Raum zur Verfügung zu stellen. Das ist ein ungeheures Pfund, mit dem man (Werner Lensing [CDU/CSU]: Unglaublich!) wuchern könnte. Sie aber wollen es, wie wir eben gehört haben, einer völlig ungeklärten Nutzungsprüfung zu- Dabei handelt es sich um ein Unternehmen, an dem der gunsten eines Behördenzentrums, das dann ähnlich wie Bund mit immerhin 26 Prozent beteiligt ist. In letzter die Beamtenstadt Wünsdorf leer stehen würde, überant- Zeit hat man allerdings den Eindruck, dass die Politik worten. der Flughafengesellschaft insbesondere in Bezug auf die geplante Schließung des Flughafens Tempelhof aus- Was wir hier erleben, ist Chaos. Wir brauchen ein ver- schließlich vom Gesellschafter Land Berlin bestimmt (B) (D) nünftiges Konzept, wie es die FDP übrigens schon 1996, wird. Es ist höchste Zeit, dass auch die Bundesregierung als der unselige Konsensbeschluss gefasst wurde, an im Aufsichtsrat stärker als bisher ihr Kontroll- und Len- dem wir bekanntlich nicht beteiligt waren, vorgelegt hat. kungsrecht ausübt. Darin haben wir eine Verbindung zwischen dem sich neu (Beifall bei der CDU/CSU – Albrecht Feibel entwickelnden Flughafen in Schönefeld und dem Flug- [CDU/CSU]: Dazu muss sie wissen, was sie hafen Tempelhof mit einer Zugverbindung und einer will!) Check-in-Funktion Tempelhofs für Schönefeld vorge- schlagen. All das entspricht dem, was uns heute mit dem Nachdem die Flughafengesellschaft Anfang der 90er- Brunnert-Entwurf als neu vorgestellt wurde; gleich- Jahre mit dem Kauf von nicht benötigten Grundstücken wohl sind die Vorschläge völlig richtig. Ich habe heute am Flughafen Schönefeld rund 250 Millionen Euro im lange mit Herrn Brunnert gesprochen. Sein Konzept wahrsten Sinne des Wortes in den märkischen Sand ge- passt haargenau zu den Notwendigkeiten der aktuellen setzt hat, droht nun dieser Gesellschaft bei der von ihr Flugbetriebsituation in Berlin. forcierten Schließung von Tempelhof erneut ein skandal- trächtiges Desaster. (Peter Rzepka [CDU/CSU]: Dann lassen Sie es uns doch prüfen!) Obwohl das Oberverwaltungsgericht Berlin die Schließung des Flughafens Tempelhof als offensichtlich Wenn Sie dieser Stadt etwas Gutes tun und es ermög- rechtswidrig eingestuft hat, versucht die Geschäftsfüh- lichen wollen, dass sich auch dieser Flughafen wie die in rung nun mit windigen Tricks, den Gerichtsbeschluss München, Frankfurt und anderswo als Jobmaschine ent- zu umgehen, indem sie die Fluggesellschaften und Pas- wickelt, dann haben Sie bitte den Mut und zeigen Sie die sagiere mit schikanösen Maßnahmen traktiert. Eine Bereitschaft, über Ihren Schatten zu springen. Nehmen Schließung der Haupthalle des Flughafens kann man nur Sie die Konzepte an! Wenn es Ihnen nicht gefällt, sie als Schildbürgerstreich bezeichnen. „FDP-Vorschläge“ zu nennen, dann nennen Sie sie eben „Brunnert-Konzept“. Aber kommen Sie endlich in Auch der Versuch, mit Dumpingangeboten Flugge- Fahrt! Stimmen Sie den Vorschlägen zu und helfen Sie, sellschaften nach Tegel zu locken, ist nicht gerade von endlich ein vernünftiges Konzept zu verwirklichen! Seriosität gekennzeichnet. Die Geheimniskrämerei der Flughafengesellschaft um die entsprechenden Verträge Ich danke Ihnen. bestärkt den Verdacht, dass hier Fluggesellschaften von Gebühren befreit werden bzw. nur reduzierte Gebühren (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bezahlen müssen, was eindeutig rechtswidrig wäre. Das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12121

Edeltraut Töpfer (A) ist eine Wettbewerbsverzerrung, die nicht hinnehmbar verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (C) ist. so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU) Obwohl es so spät ist und obwohl es sich um ein Ber- liner Thema handelt, soll ich auf Wunsch eines besonde- Besonders ein Unternehmen, das ausschließlich von ren Abgeordneten die auf der Tribüne versammelten der öffentlichen Hand getragen wird, darf sich nicht in Landräte Niederbayerns begrüßen. dieser Weise verhalten. Es ist die Pflicht des Aufsichtsra- tes – das gilt auch für die Vertreter der Bundesregie- (Beifall) rung –, dem schnell und effektiv Einhalt zu gebieten. Viel Spaß und Vergnügen in Berlin. Die Nacht ist ja Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wo- noch nicht zu Ende. wereit, und die SPD in Berlin verweisen gern auf den Ich rufe die Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf: 1996 einvernehmlich zwischen dem Bund, dem Land Brandenburg und dem Land Berlin – damals noch unter a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Führung des Regierenden Bürgermeisters Eberhard gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Diepgen – vereinbarten Konsensbeschluss. Dieser Be- zur Verlängerung der Geltungsdauer der schluss sieht vor, die Aufteilung des Flugverkehrs in §§ 100 g, 100 h StPO Berlin auf drei Flughäfen zu beenden und stattdessen auf dem BBI in Schönefeld zu konzentrieren, sobald für – Drucksache 15/3349 – Schönefeld ein bestandskräftiger Planfeststellungsbe- (Erste Beratung 118. Sitzung) schluss vorliegt. Zur damaligen Übereinkunft setzt sich aber der derzeit amtierende Berliner Senat mit seiner Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Entscheidung, den Flughafen Tempelhof vorzeitig zu schusses (6. Ausschuss) schließen, eindeutig in Widerspruch. Damals war man – Drucksache 15/3971 – übereingekommen, die Bestandskraft des Planfeststel- lungsbeschlusses abzuwarten und nicht bereits vorher al- Berichterstattung: les daran zu setzen, Tempelhof früher zu schließen. Abgeordnete Joachim Stünker Hans-Christian Ströbele Gestatten Sie mir, kurz Ihr Augenmerk gezielt auf die Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) Bedeutung des Flughafens Tempelhof für den Flugver- Jörg van Essen kehr, der von Geschäftsleuten aus ganz Deutschland ge- nutzt wird, sowie auf den Messe- und Kongresstouris- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu (B) mus, der viele Geschäftsreisende aus dem Ausland in die (D) Bundeshauptstadt bringt, zu lenken. Eine derart inner- dem Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, städtische Fluganbindung ist für die in Berlin zahlreich Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer Abge- stattfindenden wirtschaftlichen, politischen und sportli- ordneter und der Fraktion der FDP chen Großereignisse von besonderer Bedeutung. Rechtsstaatlichkeit der Telefonüberwachung (Beifall bei der CDU/CSU) sichern – Drucksachen 15/1583, 15/3971 – Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Berichterstattung: Frau Kollegin, versuchen Sie, zum Schluss zu kom- Abgeordnete Joachim Stünker men. Sie schaffen es bestimmt nicht mehr, Ihre gesamte Hans-Christian Ströbele vorbereitete Rede zu halten. Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) Jörg van Essen Edeltraut Töpfer (CDU/CSU): Der Flughafen Tempelhof muss deshalb für den Flug- Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein betrieb mindestens bis zum Vorliegen eines bestands- Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch kräftigen Planfeststellungsbeschlusses für den Großflug- und Petra Pau vor. hafen erhalten bleiben. Noch sinnvoller wäre es, den Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Flughafen Tempelhof bis zur Inbetriebnahme von Berlin Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Brandenburg International offen zu halten. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wort der Parlamentarische Staatssekretär Alfred neten der FDP) Hartenbach.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Ich schließe damit die Aussprache. Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Drucksache 15/3727 an die in der Tagesordnung aufge- Bundesregierung wird die Geltungsdauer der § § 100 g führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- und 100 h der Strafprozessordnung um drei Jahre, bis 12122 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Ende 2007, verlängert. Die Notwendigkeit dieses Ermitt- fen der §§ 100 g und 100 h StPO zum Ende des Jahres (C) lungsinstruments liegt auf der Hand und wird auch von bedingte knappe Zeitrahmen reichte dafür nicht aus. Es keiner Seite in Zweifel gezogen. Im Bereich der organi- ist daher sachgerecht und notwendig, mit einer Verlänge- sierten Kriminalität dient es unter anderem dazu, Verbin- rung der Geltungsdauer der §§ 100 g und 100 h StPO zu- dungen und Strukturen von Bandenmitgliedern aufzude- nächst sicherzustellen, dass dieses wichtige Ermittlungs- cken. Bei Straftaten, die mittels Telekommunikation, instrument unabhängig von der mit Stringenz von der etwa im Internet oder per Telefon, begangen werden, ist Bundesregierung weiterverfolgten gesamten Novellie- es zumeist die einzige Möglichkeit, den Täter zu identi- rung der §§ 100 a ff. StPO den Strafverfolgungsbehör- fizieren. Der Aufenthalt eines flüchtigen mehrfachen den auch über den 31. Dezember 2004 hinaus zur Verfü- Mörders konnte bereits mittels dieser Maßnahme, die gung steht. auch Auskunft über Standortdaten eines Handys erlaubt, ermittelt werden. Da mir noch ein bisschen Redezeit bleibt, erlaube ich mir ein letztes Wort zum Änderungsantrag der Abgeord- Rechtsstaatliche Bedenken sind im Grundsatz weder neten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau. Hätten Sie, ver- gegen das Ob noch gegen die derzeitige Ausgestaltung ehrte Frau Kollegin Pau, gestern auf meine mündliche der Regelungen begründet. Auch das Bundesverfas- Antwort zum selben Thema Wert gelegt, dann hätten Sie sungsgericht hat in seinem Urteil vom 12. März 2003 in- erfahren, dass die Bundesländer keine eigene Statistik soweit keine Bedenken erhoben. über die Maßnahmen zu §§ 100 g und 100 h StPO füh- Allerdings stehen diese Bestimmungen in engem Zu- ren und die Bundesregierung daher auch nicht in der sammenhang mit den Regelungen zur inhaltlichen Tele- Lage ist, Auskunft zu erteilen. Wenn Sie einen Antrag fonüberwachung nach den §§ 100 a und 100 b StPO, stellen, mit dem Sie die Bundesregierung verpflichten ohne mit diesen jedoch in allen Punkten – wie etwa bei wollen, hätten Sie ihn sinnvollerweise um das Verlangen der Berücksichtigung von Zeugnisverweigerungsrech- ergänzen müssen, die Länder zu verpflichten, der Bun- ten – zu harmonieren. desregierung entsprechende Daten zur Verfügung zu stellen, wie es in anderen Gesetzen etwa zur Telefon- Mit der jetzigen Verlängerung der Geltungsdauer der überwachung und der Wohnraumüberwachung der Fall §§ 100 g und § 100 h StPO bekräftigt die Bundesregie- ist. Ihr Antrag ist also nichts anderes als billige Makula- rung daher ihre bereits bei der Einführung der Vorschrif- tur. ten Ende 2001 geäußerte Ansicht, dass eine dauerhafte Regelung dieser Materie nur im Rahmen eines harmoni- Ich bedanke mich sehr herzlich. schen Gesamtsystems dieser heimlichen Ermittlungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ maßnahmen erfolgen kann. Dazu hat die Bundesregie- DIE GRÜNEN) (B) rung die erforderlichen Schritte eingeleitet: (D) Um eine tragfähige rechtstatsächliche Basis für eine Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gesamtnovellierung zu legen, hat das Bundesministe- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Kauder. rium der Justiz beim Max-Planck-Institut Freiburg ein Gutachten zu „Rechtswirklichkeit und Effizienz der (Beifall bei der CDU/CSU) Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100 a, 100 b StPO und anderer verdeckter Ermitt- Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): lungsmaßnahmen“ in Auftrag gegeben. Der erste Teil Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! des Gutachtens betrifft die inhaltliche Telekommunika- Es muss schon einen Grund gehabt haben, dass man die tionsüberwachung nach den §§ 100 a und 100 b StPO §§ 100 g und 100 h StPO in einem Zeitgesetz verab- und liegt seit Mai 2003 vor. Der zweite Teil des Gutach- schiedet hat. Dies kann nur bedeuten, dass es bei Verab- tens betrifft die akustische Wohnraumüberwachung und schiedung dieses Gesetzes gewisse Vorbehalte gegeben wird in Kürze vorliegen. hat, die man innerhalb des Zeitraums bis zum 1. Januar Geprüft wird derzeit, auf welche Weise dem Ent- 2005 bereinigt wissen wollte. schließungsantrag der Koalition Rechnung getragen Meine Damen und Herren, diese Bedenken gibt es in werden kann, demzufolge auch Erkenntnisse über die der Tat. Worüber reden wir denn? – Wir reden über rechtstatsächliche Umsetzung der §§ 100 g und heimliche, verdeckte Ermittlungsmaßnahmen. Daraus 100 h StPO in der Praxis bei der beabsichtigten Gesamt- ergeben sich verfassungsrechtliche und rechtstechnische novellierung Berücksichtigung finden sollen. Konsequenzen. Um den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Am 18. Oktober 2004 hat Professor Philipp aus dem Urteil zur akustischen Wohnraumüberwachung Reemtsma anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Rechnung zu tragen, hat das Kabinett zudem im vergan- Weißen Rings in Hamburg einen bemerkenswerten Vor- genen Monat einen entsprechenden Regierungsentwurf trag gehalten. Professor Reemtsma kann aus eigener Er- beschlossen, sodass die vom Bundesverfassungsgericht fahrung als Opfer berichten. Er hat die leidvolle Erfah- gesetzte Frist zum 30. Juni 2005 eingehalten werden rung eines Menschen machen müssen, an dem ein kann. gravierendes Verbrechen begangen worden ist. Trotzdem In einem weiteren Schritt werden diese heimlichen berichtete er ohne Emotionen, sehr differenziert und Ermittlungsmaßnahmen in ein harmonisches Gesamt- ohne Hass über ein Thema, das zu dem Thema, das wir konzept zusammenzuführen sein. Der durch das Auslau- heute zu besprechen haben, sehr gut passt. Er hat sich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12123

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) nämlich sehr differenziert mit Verletztenrechten und mit geführten Straftaten abgefragt werden. Geht es um Tele- (C) Beschuldigtenrechten auseinander gesetzt. kommunikationsverbindungsdaten, ist das Feld weiter geöffnet. Da gelten nicht nur enumerativ aufgeführte Quintessenz seines Vortrags war die Feststellung: Straftaten als Voraussetzung, sondern es darf auch kon- Einen hundertprozentigen Schutz vor Straftaten hat es trolliert werden, wenn besonders schwerwiegende Straf- nie gegeben, gibt es nicht, wird es nie geben und – das taten anstehen. war das Wichtige – darf es auch nicht geben; denn der Schutz der Menschen vor Straftaten korrespondiert nicht Diese Differenzierung ist unter dem Gesichtspunkt mit Freiheits- und Abwehrrechten, die im Grundgesetz der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung im 100. Band, niedergelegt sind, sondern sie stehen einander diametral Seite 313 höchst fraglich; gegenüber. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Das Bundesverfassungsgericht hat am 3. März 2004 GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn!) eine Entscheidung zum großen Lauschangriff gefällt, die man immer dann im Hinterkopf haben muss, wenn denn dort ist festgelegt, dass diese Rechte gleichrangig Grundrechtseingriffe anstehen. Jetzt darf man aber nicht nebeneinander stehen. den Fehler begehen und sagen: Was das Bundesverfas- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sungsgericht zum Lauschangriff entschieden hat, lässt GRÜNEN]: Es geht um das Recht auf infor- sich problemlos auf die Telekommunikationsüberwa- mationelle Selbstbestimmung!) chung übertragen. Daraus ergeben sich Probleme, die wir unter verfas- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sungsrechtlichen Gesichtspunkten durchleuchten müss- GRÜNEN]: Problemlos nicht, aber es ist zu- ten. mindest zu berücksichtigen!) Ein Gesichtspunkt der Entscheidung des Bundesver- Das wäre ein Trugschluss, Herr Kollege Ströbele; Sie fassungsgerichts zum Lauschangriff ist durchaus auf die wissen das, weil auch Sie Jurist sind. Telekommunikationsüberwachung übertragbar: der Der Schutzbereich beim Lauschangriff ergibt sich Richtervorbehalt. Bei dem großen Lauschangriff kann aus Art. 13 Grundgesetz – Schutz der Wohnung –; nur ein Gremium aus drei Richtern darüber befinden, ob ein solcher Lauschangriff angeordnet wird. Bei der (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Überwachung von Telekommunikationsdaten genügt ein GRÜNEN]: Und Art. 1!) Richter, nämlich der Ermittlungsrichter oder der feder- führende Richter der Hauptverhandlung. Ist diese Diffe- bei der Telekommunikationsüberwachung ergibt er sich (B) renzierung nach modernem Verfassungsrecht noch ge- (D) aus Art. 10 Grundgesetz. Beide Vorschriften haben ver- rechtfertigt? Auch dieser Frage werden wir uns stellen schiedene Voraussetzungen. Art. 13 des Grundgesetzes müssen. hat einen so genannten qualifizierten Gesetzesvorbehalt, während Art. 10 des Grundgesetzes nur einen einfachen Die gleiche Frage ergibt sich aus der bundesverfas- Gesetzesvorbehalt hat. Deswegen ist die Eingriffs- sungsgerichtlichen Rechtsprechung zu dem Thema „Für schwelle bei dem Lauschangriff höher anzusetzen als die welchen Zeitraum kann eine Überwachungsmaßnahme Eingriffsschwelle bei der Telekommunikationsüberwa- angeordnet werden?“ Zu Recht, weil es sich aus Art. 13 chung. des Grundgesetzes ergibt, darf der Lauschangriff nur für die Dauer eines Monats angeordnet werden. Er darf um (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE jeweils einen Monat bis zu insgesamt sechs Monaten GRÜNEN]: Art. 1, Herr Kollege! Den haben verlängert werden. Ab dem sechsten Monat hat das Sie vergessen!) Oberlandesgericht zu entscheiden, ob der Lauschangriff Man muss aber auch die Entscheidung des Bundes- fortgesetzt werden darf. verfassungsgerichts im 100. Band, Seite 313 gelesen ha- Ganz anders sieht es bei der Überwachung von Tele- ben. Dort ist festgehalten, dass in Art. 10 des Grundge- kommunikationseinrichtungen aus. Der Überwachungs- setzes nicht zwischen der Überwachung des Inhalts zeitraum, für den die Anordnung erfolgt, beträgt hier eines Telefongesprächs und der Überwachung der drei Monate. Er darf ständig verlängert werden, ohne Daten über ein Telefongespräch unterschieden wird. dass das Oberlandesgericht irgendwann aufgerufen Im Gesetz sind aber beide Bereiche unterschiedlich gere- wäre, darüber zu befinden. gelt. Die Überwachung des Inhalts eines Telefonge- sprächs ist in § 100 a Strafprozessordnung geregelt. Die Das sind Fragen, denen man sich wird stellen müssen. Überwachung der Telekommunikationsdaten ist in Wir dürfen es nicht dabei bewenden lassen, der Bundes- §§ 100 g und 100 h der Strafprozessordnung geregelt. regierung zu sagen: Wir treffen uns im Jahre 2007 hier Der Gesetzgeber hat also beide Bereiche unterschiedlich wieder, um das Gutachten des Max-Planck-Instituts geregelt. zu evaluieren. Als Gesetzgeber sind wir aufgerufen, je- den Tag, immer dann, wenn es um Eingriffe in die Vergleicht man einmal die Voraussetzungen für die Grundrechte geht, zu überprüfen, ob die moderne Auf- Überwachung des Inhalts eines Telefongesprächs mit fassung des Grundgesetzes zum Tragen kommt oder ob denen für die Überwachung der Telekommunikationsda- es Lücken gibt, die zu schließen sind. ten, so stellt man fest: Der Inhalt eines Telefongesprächs darf nur bei einer der enumerativ in einem Katalog auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 12124 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Die Befristung wurde – das darf man durchaus Petra Pau (fraktionslos): (C) sagen – ins Gesetz aufgenommen, damit man sich Ge- Herr Staatssekretär, Sie unterstellten eben, dass ich danken darüber macht, inwieweit Aussageverweige- gestern keinen Wert auf Ihre mündliche Antwort auf rungsrechte bei Überwachungsmaßnahmen berücksich- meine mündliche Frage gelegt hätte. Ich habe sehr gro- tigt werden müssen. ßen Wert auf diese Antwort gelegt und hätte auch sehr (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE großen Wert auf mein Nachfragerecht gelegt. GRÜNEN]: Ja!) Nach unserer Geschäftsordnung, Anlage 4, Ziffer 2, Herr Staatssekretär Hartenbach, in diesem Zusammen- werden aber Fragen, die sich auf einen Gegenstand be- hang kommt es nicht auf das Gutachten des Max-Planck- ziehen, der in der Sitzungswoche behandelt wird, nicht Instituts an. Wenn Sie sich die Bundestagsdrucksache mündlich beantwortet, sondern schriftlich. Ich konnte zum Erlass des Gesetzes zu den §§ 100 g und dagegen nicht einmal Widerspruch erheben. Insofern 100 h StPO anschauen, werden Sie feststellen, dass die habe ich mich darauf vorbereitet, heute die Antragsteller Bundesregierung selbst gesagt hat, dass sie bis zum der Koalition nach der Sinnhaftigkeit ihrer Beschluss- Ablauf des Gesetzes eine Vereinheitlichung der Aussa- empfehlung zu fragen. Sie haben Recht: Über Dinge, die geverweigerungsrechte in allen Bereichen – Telekom- nicht vorhanden sind, können Sie nicht berichten. munikationsdatenüberwachung, Inhalt des Telefonge- sprächs und Lauschangriff – herbeigeführt haben wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Herr Staatsse- Es kommt also nicht auf den zweiten, noch ausstehenden kretär hat mir gestern mitgeteilt, dass Anlass, Ergebnis Teil des Gutachtens des Max-Planck-Instituts an. und Anzahl der bisherigen Maßnahmen nach diesem Ge- setz nicht zu ermitteln sind, weil diese Daten nicht erho- Warum sage ich das? Nicht aus Häme. Ich bitte viel- ben werden. Damit geht dann aber auch Ihr Entschlie- mehr dringend darum, schon jetzt an die Arbeit zu gehen, ßungsantrag vollständig ins Leere, weil Sie einen sich Gedanken darüber zu machen, wie die uneinheitli- Bericht über den Zeitraum zwischen dem Beginn der che Aufsplitterung der Aussageverweigerungsrechte in Wirksamkeit dieses Gesetzes bis hin zum Jahre 2007 be- den unterschiedlichen Vorschriften aufgelöst und eine gehren, und zwar zu Anlass, Ergebnis und Anzahl der Vereinheitlichung herbeigeführt werden könnte. bisherigen Maßnahmen. Insofern wäre es sinnvoll, heute zwar eine solche Berichtspflicht, zunächst aber die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Pflicht zur Erhebung dieser Daten zu beschließen. Es GRÜNEN]: Was meinen Sie, was wir die wäre sinnvoll, einen kürzeren Zeitraum bis zur Vorlage ganze Zeit machen? – Gegenruf des Abg. Jörg des ersten Berichts festzuhalten. (B) van Essen [FDP]: Das hören wir jetzt seit Jah- (D) ren!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Hierzu sind alle aufgerufen. Zur Antwort hat Staatssekretär Hartenbach das Wort.

Es wird darüber zu sprechen sein, ob nicht eine Berichtspflicht eingeführt werden sollte. In diesem Zu- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- sammenhang bin ich der Bundesregierung durchaus desministerin der Justiz: dankbar. Beim großen Lauschangriff ergibt sich die Be- Ich gebe zu, dass Sie mich mit Ihrem Hinweis auf die richtspflicht aus Art. 13 des Grundgesetzes direkt. Bei Geschäftsordnung voll erwischt haben. Aber da Sie den §§ 100 a, 100 g und 100 h StPO ergibt sich diese Be- meine schriftliche Antwort gestern schon hatten, ver- richtspflicht nicht aus Art. 10 des Grundgesetzes; man ehrte Frau Kollegin, halte ich meine Kritik nach wie vor könnte sie aber durchaus durch ein einfaches Gesetz – es aufrecht. Aus dieser schriftlichen Antwort hätten Sie gibt dort keinen qualifizierten Gesetzesvorbehalt – ein- nämlich ersehen können, dass Ihr heutiger Antrag un- führen. An diesem Aspekt sollte man arbeiten. vollständig ist. Genau in diesem Punkt habe ich Ihren Antrag kritisiert. Sie sehen also: Wir haben eine umfassende Baustelle vor uns, die es zu beackern gilt. Wir werden dem Gesetz- Zur Erstellung des Berichtes, den die Koalitionsfrak- entwurf und dem Antrag der Regierungskoalition zwar, tionen erbeten haben, gibt es neben statistischen Erhe- mit Bauchschmerzen und Bedenken, zustimmen, verbin- bungen eine Fülle anderer Möglichkeiten; zum Beispiel den damit aber die dringende Bitte, sich jetzt schon Ge- könnte ein auf Aktenauswertungen beruhendes wissen- danken zu machen, damit wir nicht in vier Jahren wieder schaftliches Gutachten erstellt werden oder es könnten hier stehen und wieder keine Lösung haben. Befragungen, Interviews und Ähnliches durchgeführt werden. Die Bundesregierung wird sich da ebenso etwas Vielen Dank. einfallen lassen, wie sie sich in der letzten Legislaturpe- riode auch etwas zur Erfüllung des Auftrages des Parla- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ments im Zusammenhang mit der Rechtmäßigkeit der Telefonüberwachung hat einfallen lassen. Das kann ich Ihnen versichern. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzintervention erhält die Abgeordnete (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- Petra Pau das Wort. loch] [SPD]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12125

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tionsverbindungen gegeben werden dürfen. Wir haben (C) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian aber zugleich die Geltungsdauer dieser Vorschriften be- Ströbele. fristet, weil wir eine Angleichung an die Regelungen des § 100 a StPO vorhatten, in dem es um die inhaltliche Te- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE lefonüberwachung geht, aber noch nicht wussten, wie GRÜNEN): die konkreten Regelungen aussehen sollten. Damit woll- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- ten wir den Gesetzgeber, also uns alle, zwingen, recht- gen! Es sind jetzt viele neue Fragen aufgetaucht. Des- zeitig wieder tätig zu werden und den im Augenblick halb ist es gut, dass wir jetzt darüber debattieren und herrschenden Zustand zu beenden, dass zwar die äuße- nicht, wie ursprünglich geplant, die Reden zu Protokoll ren Kommunikationsdaten von einigen der Berufsge- gegeben haben. heimnisträger geschützt sind – also wer mit wem wie lange telefoniert hat –, aber nicht die Inhalte. In dem Be- Herr Kollege Kauder, ich kann Sie versichern reich, in dem es um die Inhalte geht, um den Eingriff in (Otto Fricke [FDP]: Ihnen!) das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger, haben wir keinen solchen – nee, Sie versichern –, dass wir uns schon hingesetzt Schutz. Das ist ein Ungleichgewicht, das beseitigt wer- haben, allerdings nicht auf die bequemen Bänke der Op- den muss und das im Rahmen der Novellierung auch be- position, sondern auf die harten Bänke der Regierung, seitigt werden wird. Da können Sie ganz sicher sein; da- ran arbeiten wir. Das ist der Grund für die Befristung. (Jörg van Essen [FDP]: Das ist doch arrogant wie nur etwas!) Da wir aber bis zum Ende des Jahres mit der Gesamt- und seit längerer Zeit dabei sind, die Novellierung der regelung nicht zurande kommen, müssen wir nun eine §§ 100 a ff. und damit auch der hier infrage stehenden Verlängerung der Befristung herbeiführen. Ich mache Paragraphen vorzunehmen. Das ist schwierige hand- überhaupt kein Hehl daraus, dass mir eine kürzere Frist werkliche Arbeit, weil das Bundesverfassungsgericht, lieber gewesen wäre, dass ich eine Frist von einem oder wie Sie wissen, nicht nur in seiner Entscheidung über höchstens zwei Jahren für angemessen gehalten hätte. den großen Lauschangriff, sondern auch in anderen Ent- Aber ich habe mich damit nicht durchgesetzt; das nehme scheidungen immer wieder neue Kriterien zu bedenken ich zur Kenntnis. gegeben hat. Ich hoffe, wir können dieses Vorhaben bald Es gibt aber Gründe, die Auseinandersetzung über die abschließen und Ihnen das Ergebnis vorlegen. Regelung dieser Materie nicht in Wahlkampfzeiten hi- In der Tat ist es so, dass wir die §§ 100 h und 100 g neinzutragen. im Jahre 2001 novelliert haben, aber zugleich haben wir (B) (Jörg van Essen [FDP]: Wir haben doch immer (D) die Geltungsdauer der Novelle befristet, weil wir eine Wahlkampf, Herr Kollege!) Novellierung des gesamten Komplexes planten. Da- mals mussten wir ja auch deswegen etwas tun, weil eine Denn Wahlkampfzeiten sind erfahrungsgemäß keine be- Frist ablief. Deshalb haben wir das getan, was wir bis zu sonders guten Zeiten, um mehr Bürgerrechte ins Gesetz diesem Zeitpunkt einigermaßen schnell hinbekommen aufzunehmen. Wahlkampfzeiten sind leider – das be- konnten. Sie haben übrigens vergessen, zu erwähnen, daure ich selber außerordentlich – Zeiten, in denen sehr dass Sie über zehn Jahre lang mit der Anwendung des viel mit Polemik gearbeitet wird. § 12 FAG eine Vorschrift angewendet haben, die, um das einmal ganz milde zu formulieren, viele datenschutz- (Otto Fricke [FDP]: Was Sie ja nie tun! – und verfassungsrechtliche Bedenken aufgewiesen hat. Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Dieses Thema wird die Wahl sicher (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ nicht entscheiden!) CSU]: 1992! – Zurufe von der FDP) Deshalb ist die Befristung jetzt so geregelt worden, dass Wir haben im Jahre 2001 dafür gesorgt, dass in die Straf- bis zum Ende des Jahres 2007 erstens nachgedacht wer- prozessordnung eine Vorschrift aufgenommen wurde den kann und zweitens Daten erhoben werden können. – dort gehört dieser Komplex ja auch hin –, die einiger- Die Daten sollen bis Mitte des Jahres 2007 vorliegen. maßen verfassungs- und datenschutzrechtlichen Erfor- dernissen entsprach. Um zu dem Petitum der Abgeordneten der PDS zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – kommen: Das ist ja von der Humanistischen Union über- Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ nommen worden. Es ist eine gute Idee, zu sagen, wir CSU]: 1992!) verpflichten die Länder, endlich die Daten zu liefern, um eine vernünftige Datenbasis zu erhalten. Nur, Frau Kol- Schon damals wollten wir die Rechte von Berufsge- legin Pau, wenn wir das ins Gesetz schreiben, dann wird heimnisträgern – Rechtsanwälte, Geistliche, Abgeord- dieses Gesetz zustimmungspflichtig, und so, wie die nete, aber auch Journalisten – respektieren und ihr Länder im Augenblick gestrickt sind und die Mehrheiten Vertrauensverhältnis zu ihren Klienten unter einen be- im Bundesrat aussehen, wird das Gesetz dann im Bun- sonderen Schutz stellen. So haben wir in einer Art Zwi- desrat sicher angehalten werden, sodass es nicht zur schenlösung einige dieser Berufsgeheimnisträger, auf Sammlung der Daten kommt. Deshalb haben wir den die wir uns einigen konnten, im Gesetz in der Form ge- richtigeren Weg gewählt – denn unser Weg ist realisier- schützt, dass keine Auskünfte über ihre Telekommunika- bar –, indem heute wir einen Entschließungsantrag mit 12126 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Hans-Christian Ströbele (A) verabschieden, bei dem die Bundesregierung aufgefor- unser Antrag zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit der (C) dert – nicht gebeten, sondern aufgefordert – wird, die Telefonüberwachung heute abgelehnt wird. Denn die Daten für die Novellierung rechtzeitig vorzulegen. Die Forderungen, die wir dort stellen, sind alle berechtigt. Bundesregierung wird diesem Auftrag nachkommen Erstens fordern wir nämlich den jährlichen Bericht, müssen, vor allem wenn alle Fraktionen des Deutschen den ich gerade angesprochen habe. Zweitens fordern wir Bundestages hinter diesem Auftrag stehen. So sieht es ja die Bundesregierung auf – Herr Kollege Kauder hat die im Augenblick aus. Deshalb bin ich guten Mutes, dass entsprechende Fragestellung deutlich herausgearbeitet –, wir am Ende eine verlässliche Datengrundlage haben die richterliche Überwachung zu verbessern. Das ist werden. dringend erforderlich. Beispielsweise hat die Untersu- chung durch die Universität Bielefeld deutlich gemacht, Ich versichere allen, dass wir im Rahmen der gesam- dass etwa ein Viertel der richterlichen Anordnungen zu ten Novellierung auch diese Paragraphen novellieren beanstanden ist. und noch weiter an verfassungsrechtliche und daten- schutzrechtliche Erfordernisse angleichen werden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir dran, Herr Kollege!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die richterliche Überwachung zu verbessern ist eine Forderung, die wir an die Bundesregierung stellen. Wa- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rum sie diese ablehnt, verstehe ich nicht. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen. Ich denke, dass das Prozedere insgesamt bei der Tele- fonüberwachung verbessert werden muss. Jörg van Essen (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wir werden als FDP-Bundestagsfraktion der Verlänge- GRÜNEN]: Wir machen das! Wir sind der Ge- rung zustimmen. Wir werden auch die Aufforderung mit setzgeber!) unterstützen, dass Daten gesammelt werden, denn auch Ich selbst komme aus der Justiz. Ich weiß, dass wir als wir halten das für notwendig. Oberstaatsanwälte und Staatsanwälte diese Anträge im- Ich hätte mir allerdings, Herr Kollege Ströbele, ge- mer vorformuliert haben, sodass der Richter nur unter- wünscht, dass das als gesetzliche Pflicht festgeschrieben schreiben musste. Wenn er ablehnte, musste er die ent- wird. Denn ich erlebe in einem anderen Bereich immer, sprechende Begründung selbst formulieren. Dadurch in dem ich persönlich sehr aktiv bin, nämlich im Bereich wurde es den Richtern leicht gemacht. (B) der Telefonüberwachung nach § 100 a der Strafprozess- Weil es sich um einen wesentlichen und tiefen Ein- (D) ordnung, dass wir nur aufgrund meiner jährlichen Nach- griff in die Intimsphäre und Persönlichkeitssphäre han- frage über die notwendigen Daten verfügen können. delt – das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Abhören in Wohnungen zeigt unsere Verpflichtung –, GRÜNEN]: Wieso sind Sie da so aktiv?) müssen wir in diesem Bereich die richterliche Kontrolle verbessern. – Das kann ich gerne schnell aufklären: Seitdem ich im Deutschen Bundestag bin, frage ich genau diese Daten All diese Forderungen der FDP werden von der nach. Es gibt Gott sei Dank eine Rechtsstaatspartei in Koalition abgelehnt. Mich ärgert das. Ich fordere Sie diesem Land, die sich für diese Frage interessiert. noch einmal auf, unserem Antrag zuzustimmen. Es dient uns allen und der Rechtsstaatlichkeit in unserem Land. (Beifall bei der FDP) Vielen Dank. Ihre Fraktion hat das nie getan, Frau Kollegin. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist jetzt (Beifall bei der FDP) aber ziemlich arrogant, Herr Kollege!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Deswegen freue ich mich sehr, dass wir jedes Jahr die Entwicklung beobachten können. Zum Beispiel bereitet Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker. es mir große Sorge, wenn ich sehe, dass bei den Telefon- überwachungen in Berlin, das hier an der Spitze liegt Joachim Stünker (SPD): – vielleicht auch wegen seiner Kriminalitätsentwick- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lung –, jetzt wieder eine Steigerung um 70 Prozent zu Wir werden gleich die Geltungsdauer von zwei Vor- verzeichnen ist. Ich habe deshalb die FDP-Kollegen im schriften der Strafprozessordnung, die wir im Jahre 2001 Berliner Abgeordnetenhaus gebeten, dem Thema nach- nach den Terroranschlägen in New York einstimmig in zugehen und nach Erklärungen dafür zu suchen. die Strafprozessordnung hingeschrieben haben, verlän- gern. Damals hatten wir den problematischen § 12 FAG Mich ärgert ganz außerordentlich, dass – da zeigt sich abgelöst. Diese Vorschriften benötigen die Ermittlungs- wieder, wer eine Rechtsstaatspartei ist und wer nicht – behörden, um insbesondere im Bereich der organisierten (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nun Kriminalität ihre Arbeit zu machen. Es ist daher gut, wird es lächerlich! Das ist nicht einmal mehr dass wir die Verlängerung ihrer Geltungsdauer einver- arrogant!) nehmlich beschließen werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12127

Joachim Stünker (A) (Jörg van Essen [FDP]: Wie lange mussten wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) Sie dazu drängen!) Ich schließe damit die Aussprache. Herr Kollege van Essen, Sie haben von der Rechts- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- staatspartei FDP gesprochen. Wir werden im Zusam- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verlänge- menhang mit der Novellierung der § § 100 a ff. der rung der Geltungsdauer der § § 100 g und 100 h der Strafprozessordnung, an der wir sehr intensiv arbeiten, Strafprozessordnung. Der Rechtsausschuss empfiehlt diese Diskussion gemeinsam in diesem Hohen Haus zu unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache führen haben. Ich bin gespannt, ob das, was hier akade- 15/3971, den Gesetzentwurf anzunehmen. misch vom Katheder dazu gesagt wurde, auch politisch von Ihnen gehalten werden kann. Auf die Diskussion bin Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten ich wirklich gespannt. Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor, über den wir zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ erst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag DIE GRÜNEN) auf Drucksache 15/3989? – Wer stimmt dagegen? – Ent- haltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen Wir wollten heute Abend die Reden zu diesem Punkt des ganzen Hauses gegen die Stimme der Abgeordneten eigentlich zu Protokoll geben, weil es schon spät gewor- Pau abgelehnt worden. den ist und weil wir alle im Augenblick kein Problem in der Verlängerung sehen. Aber Herr Kollege Kauder Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- wollte gerne reden. Darum sind wir jetzt noch hier. stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Es hat sich Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimme der Ab- gelohnt! – Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] geordneten Pau in zweiter Beratung angenommen. [CDU/CSU]: Reden Sie ungern?) Dritte Beratung – Ich muss nicht immer reden, Herr Kauder. Das muss wirklich nicht sein. und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich jetzt erheben, Interessanterweise werden die Reden zum Tagesord- wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer nungspunkt 17 zu Protokoll gegeben, in dem es um die stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf erste Lesung eines Regierungsentwurfes eines Gesetzes ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die zur Neuregelung der präventiven Telekommunikations- Stimme der Abgeordneten Pau angenommen worden. und Postüberwachung durch das Zollkriminalamt geht. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, Druck- Darüber werden wir noch in diesem Jahr die Entschei- (B) sache 15/3971, empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie- (D) dung zu treffen haben. Ich bin auf die Diskussion mit Ih- ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- nen gespannt und darauf, ob Sie auch in diesem Punkt, fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- in dem es um Vorfeldermittlungen in einem hoch sensib- schlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen len Bereich geht, genauso rechtsstaatlich argumentieren Hauses angenommen worden. werden wie heute Abend. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, Druck- DIE GRÜNEN) sache 15/3971, zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Rechtsstaatlichkeit der Telefonüberwachung Noch in diesem Jahr werden Sie den Beweis erbringen sichern“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Be- können, schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/1583 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung (Jörg van Essen [FDP]: Wir werden Sie nicht des Ausschusses? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – enttäuschen!) Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD ob Sie, Herr van Essen, in der Lage sind, das, was Sie und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen heute Abend akademisch in Ihrer Rede ausgeführt ha- der FDP und der Abgeordneten Pau bei Enthaltung der ben, politisch zu halten. Sie werden uns dabei an Ihrer CDU/CSU angenommen. Seite haben. Ich rufe die Zusatzpunkte 8 a und 8 b auf: Wir haben nur eine kurze Frist. Herr Kollege Ströbele, wir beide haben schon darüber gesprochen. a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Wir haben dafür gesorgt, dass der Rechtsausschuss fe- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN derführend ist. Die federführende Beratung sollte eigent- lich im Finanzausschuss stattfinden. Ich freue mich auf Die Ukraine nach der EU-Osterweiterung und die Diskussion in den nächsten Wochen und bedanke vor den Präsidentschaftswahlen am 31. Okto- mich, dass wir heute Abend das Gesetz einstimmig ver- ber 2004 abschieden werden. – Drucksache 15/3958 – Schönen Dank. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgit- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia ter] [SPD]: Sehr gut!) Nolte, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang 12128 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Bötsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Interesse an einer gut funktionierenden Nachbarschaft (C) der CDU/CSU haben: Für eine demokratische und freie Präsidenten- (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das ist wohl wahl 2004 in der Ukraine wahr!) – Drucksachen 15/3799, 15/3968 – Erstens sollten wir uns überlegen, was unsere Nach- Berichterstattung: barn in den letzten Jahrzehnten durchgemacht haben. Im Abgeordnete Jelena Hoffmann (Chemnitz) Fall der Ukraine ist dazu festzuhalten, dass sie sich erst Marianne Tritz im 13. Jahr ihrer Unabhängigkeit befindet. Sie ist ein Dr. Friedbert Pflüger Land, das von der Kiewer Rus bis zur Sowjetunion über Harald Leibrecht Jahrhunderte nur diktatorische Herrschaften erfahren hat und sich erst in den letzen 13 Jahren unabhängig und Die Abgeordneten Nolte, Steenblock, Leibrecht und demokratisch entwickeln konnte. Grund haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstanden? – Dann verfah- Zweitens. Auch wenn in der letzten Zeit mehr von der ren wir so. positiven ökonomischen Entwicklung in der Ukraine die Rede ist und im politischen Bereich eher eine Stagnation Dann spricht jetzt zu diesem Punkt ausschließlich die festzustellen ist, müssen wir doch gewisse Fortschritte Abgeordnete Jelena Hoffmann. Ich eröffne für sie die auf dem Wege der Demokratisierung des Landes er- Aussprache. kennen und auch anerkennen. Drittens sollten wir bei aller Kritik, die wir an den ge- Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): genwärtigen politischen Verhältnissen in der Ukraine Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und üben und üben müssen, grundsätzlich klar machen, dass Kollegen! Als ich gehört habe, dass alle Kolleginnen wir Beratung und Hilfestellung anbieten, um die Ver- und Kollegen ihre Rede zu Protokoll gegeben haben, hältnisse zu verbessern. habe natürlich auch ich mir überlegt, ob ich meine Rede zu Protokoll gebe. Alle – ich unterstreiche: alle – Bundesregierungen der letzten zehn Jahre haben diese Linie von kritischer und (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ konstruktiver Begleitung der Entwicklung der Ukraine DIE GRÜNEN) konsequent verfolgt. Ich finde es jedenfalls der Größe Sie sehen: Ich habe es nicht gemacht. und der Bedeutung der Ukraine angemessen, dass wir (B) mit den deutsch-ukrainischen Regierungskonsultationen (D) (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wir hören das höchste Niveau zwischenstaatlicher Zusammenar- es vor allem!) beit pflegen. Wir reden nun nicht jeden Tag über das landschaftlich Über zehn Jahre haben wir in der Ukraine im Rahmen wunderschöne Land Ukraine. Deshalb erlaube ich mir, des Transform-Programms ganz konkrete Hilfen in den zehn bis zwölf Minuten Ihrer geschätzten Zeit in An- verschiedensten Bereichen geleistet. Ich bin sehr froh zu spruch zu nehmen. hören, dass die bilaterale Projektzusammenarbeit mit der (Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgit- Ukraine auch nach der Beendigung des Transform-Pro- ter] [SPD] – Claudia Nolte [CDU/CSU]: In der gramms in diesem Jahr nicht beendet wird. Vielmehr letzten Sitzungswoche haben wir auch über werden Anfang November in Kiew Regierungsgesprä- dieses Thema gesprochen!) che über die Ausgestaltung der künftigen bilateralen Zu- sammenarbeit geführt. Ebenso bin ich froh darüber, dass Denn ich denke, dass das diesem Land gerecht wird und die Europäische Kommission und die ukrainische Regie- wir dadurch unsere Verbundenheit zeigen. Ich bedanke rung in diesem Jahr einen Aktionsplan der EU für die mich natürlich dafür, dass Sie alle um diese Zeit noch Ukraine ausgehandelt haben. Übrigens bin ich über- hier sind. zeugt, dass wir als größter Mitgliedstaat der EU hier eine (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aus- besondere Verpflichtung haben. schließlich wegen der Ukraine!) Mit der jahrelangen Kooperation hat die Bundesregie- Die Ukraine liegt geographisch mitten in Europa und rung aber noch viel mehr erreichen können. Sie hat mit ist mit 48 Millionen Menschen einer der größten unserer diesen konkreten, praktischen Hilfestellungen eine Ver- neuen europäischen Nachbarstaaten. Wir sollten – darin trauensbasis zum neuen Nachbarn Ukraine aufgebaut. sind wir uns einig – die Entwicklung in den postkom- Auf dieser Vertrauensbasis wird es uns Parlamentariern munistischen Staaten mit einem kritischen Auge beo- überhaupt erst möglich, glaubwürdig Kritik an demokra- bachten. Allerdings bin ich der Überzeugung, dass wir tischen Defiziten zu üben. Das muss uns allen klar sein. drei Dinge beachten sollten, wenn wir unseren neuen Damit komme ich zu den vorliegenden Anträgen. Nachbarn klar machen wollen, dass uns nicht nur an blo- Beide Anträge sollen – neben einem kritischen Blick auf ßer Kritik gelegen ist, sondern dass wir ein wirkliches die demokratische Entwicklung im Lande – der ukraini- schen Regierung und dem Parlament signalisieren, wie 1) Anlage 5 wichtig freie und faire Wahlen am 31. Oktober für das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12129

Jelena Hoffmann (Chemnitz) (A) Land selbst sowie für die zukünftigen Beziehungen mit Eine besondere Bedeutung hat für jeden demokrati- (C) Deutschland sind. schen Staat die Entwicklung einer offenen Bürgerge- sellschaft. Dank vieler Projekte und Kooperationen mit Wenn ich allerdings den Antrag der Union zur Präsi- deutschen Parteien und politischen Stiftungen, mit dentschaftswahl in der Ukraine lese, dann frage ich mich NGOs und Kirchen ist in der Ukraine in den vergange- doch, was damit erreicht werden soll. Einige Formulie- nen 13 Jahren vieles erreicht worden. Das verdient hohe rungen des Antrages der Union scheinen mir unklar, ja Anerkennung. Doch Anerkennung alleine reicht nicht sogar falsch und missverständlich. aus. Für eine wirklich nachhaltige Kooperation der Zi- Sie reden in Ihrem Antrag von einer Vorlage für eine vilgesellschaften unserer Länder muss eine weitere För- Reform des Wahlgesetzes, die bewirken soll, dass die derung und Vertiefung des Dialogs stattfinden. Meine Opposition bei den Stimmauszählungen dabei sein kann. persönliche Auffassung geht darüber hinaus: Ich würde Davon ist bisher nichts bekannt. Könnte es sein, dass Sie mir sogar einen Dialog der Zivilgesellschaften wün- vielleicht nicht die Opposition, sondern NGOs meinen? schen, der im institutionellen Rahmen organisiert ist. Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, Vor ungefähr einem Monat hat die Deutsch-Ukraini- kann und muss man sich dafür einsetzen, dass die NGOs sche Parlamentariergruppe unter meiner Leitung eine zur Wahlbeobachtung zugelassen werden, aber nicht Reise in die Ukraine unternommen. Wir haben in Kiew, so, wie Sie es in Ihrem Antrag getan haben. Wir können Odessa, Dnepropetrovsk und Lviv Gespräche mit Politi- das auf parlamentarischer Ebene tun. Ich habe an viele kern, Unternehmern, Kirchen und NGOs geführt. Wir Kolleginnen und Kollegen in der Verkhovna Rada einen haben auch die neue europäische Grenze besucht. Bei al- Brief geschrieben und sie gebeten, sich mit diesem Pro- len Gesprächen und Veranstaltungen haben wir, sechs blem noch einmal auseinander zu setzen. Die parteipoli- Politikerinnen und Politiker des Bundestages, über alle tische Opposition kann ohnehin die Wahlen beobachten. Fraktionen hinweg immer wieder unseren Wunsch, ja Das Parlament hat dazu eine eigene Kommission einge- sogar die Forderung nach freien und fairen Wahlen deut- richtet. In dieser Kommission sind alle Parteien vertre- lich gemacht. Beide Worte, frei und fair, stehen als ten. Synonym für die Demokratie. Diese Botschaft möchte Ich will nicht falsch verstanden werden. Ich sage ich mit unserer heutigen Debatte an die Kolleginnen und nicht, dass bei Wahlen in der Ukraine alles in Ordnung Kollegen der Werchowna Rada und an das ukrainische war. Auch wir machen uns berechtigte Sorgen über den Vo lk s e nd e n. Ablauf der Wahl am 31. Oktober. Doch wie ich schon Ich bedanke mich noch einmal für Ihre Geduld und vor drei Wochen sagte, ist der Antrag der Union mit hei- Aufmerksamkeit. ßer Nadel gestrickt worden. Man sollte sich überlegen, (B) ob diese Art von Außenpolitik dem Land und unseren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) Beziehungen zur Ukraine gerecht wird. Deshalb haben DIE GRÜNEN) wir gestern im Auswärtigen Ausschuss den Antrag abge- lehnt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Auch wir fordern in unserem Antrag, dass die Präsi- Ich schließe die Aussprache. dentschaftswahl entsprechend den Standards und Krite- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der rien der OSZE und des Europarates abgehalten werden. Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Das ist ein Punkt, in dem wir uns mit der Union einig Drucksache 15/3958 mit dem Titel „Die Ukraine nach sind: Freie, gleiche und geheime Wahlen sind für unser der EU-Osterweiterung und vor den Präsidentschafts- Demokratieverständnis die Basis unserer nachbarschaft- wahlen am 31. Oktober 2004“. Wer stimmt für diesen lichen Beziehungen. Dasselbe gilt, so denke ich, auch Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der An- für die Forderungen nach Pressefreiheit und freier trag ist angenommen mit den Stimmen der SPD, des Wahlberichterstattung sowie die Absage an Wahlemp- Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stim- fehlungen durch Vertreter staatlicher Institutionen. Auch men der CDU/CSU. wir müssen uns mit Empfehlungen zurückhalten. Ich habe bei diesen Wahlen natürlich einen Lieblingskandi- Zusatzpunkt 8 b: Beschlussempfehlung des Auswärti- daten, aber den Namen verrate ich hier heute nicht. gen Ausschusses auf Drucksache 15/3968 zu dem An- trag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für eine (Jörg van Essen [FDP]: Ach, wie schade!) demokratische und freie Präsidentenwahl 2004 in der Ukraine“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzu- – Ich habe gewusst, dass Sie das sagen. lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das ukrainische Volk soll aber die Möglichkeit haben, Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- frei zu wählen; darum geht es uns in erster Linie. Gerade fehlung ist angenommen mit den Stimmen der SPD und darauf achten viele Wahlbeobachter. Einige davon sind des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der schon seit längerer Zeit im Lande, noch mehr werden zu CDU/CSU und der FDP. den Wahlen anreisen. Ich selbst und, wie ich erfahren Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: habe, auch einige Kollegen aus unserem Parlament wer- den nächste Woche in die Ukraine – nach Kiew und auch Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- in andere Regionen – reisen und ganz konkret beobach- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- ten, wie die Wahlen stattfinden. gelung der präventiven Telekommunikations- 12130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) und Postüberwachung durch das Zollkrimi- Nr. 3820/85 und (EWG) Nr. 3821/85 des Rates (C) nalamt (NTPG) über Sozialvorschriften für Tätigkeiten im Kraftverkehr – Drucksache 15/3931 – Überweisungsvorschlag: KOM (2003) 628 endg.; Ratsdok. 15688/03 Rechtsausschuss (f) Innenausschuss – Drucksachen 15/2373 Nr. 2.47, 15/3578 – Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Beckmeyer Die Abgeordneten Stünker, Müller (Erlangen), Ströbele und Funke sowie die Parlamentarische Staatsse- Hier haben die Abgeordneten Beckmeyer, Sebastian, kretärin Hendricks haben gebeten, ihre Reden zu Proto- Hofbauer, Hettlich und Friedrich (Bayreuth) sowie die koll geben zu dürfen.1) Parlamentarische Staatssekretärin Mertens gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.2) – Offensichtlich Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. sind Sie damit einverstanden. Dann verfahren wir so. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- fes an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf vorgeschlagen, wobei die Federführung, abweichend Drucksache 15/3637 an die in der Tagesordnung aufge- von der Tagesordnung, beim Rechtsausschuss liegen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan- soll. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf: Tagesordnungspunkt 18 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- der Unterrichtung durch die Bundesregierung über einen regierung Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parla- Bericht der Bundesregierung zur Situation des ments und des Rates über Mindestbedingungen für die deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes im Durchführung der Richtlinie sowie der Verordnung des europäischen Wettbewerb Rates über Sozialvorschriften für Tätigkeiten im Kraft- verkehr. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der – Drucksache 15/3637 – Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Ent- Überweisungsvorschlag: schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) schlussempfehlung? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthal- (B) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. (D) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und ordnung. Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu der Unter- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- richtung durch die Bundesregierung destages ein auf morgen, Freitag, den 22. Oktober 2004, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen 9Uhr. Parlaments und des Rates über Mindestbedin- Die Sitzung ist geschlossen. gungen für die Durchführung der Richtlinie 2002/15/EG sowie der Verordnung (EWG) (Schluss: 22.11 Uhr)

1) Anlage 6 2) Anlage 7 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12131

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten ist unstrittig, dass die Nazizeit auch zu Opfern in der deutschen Zivilbevölkerung geführt hat. Es muss aber immer wieder deutlich gemacht werden: Auch die deut- entschuldigt bis schen Opfer sind Opfer des verbrecherischen Nazire- Abgeordnete(r) einschließlich gimes; ohne den deutschen Faschismus hätte es diese Opfer nicht gegeben. Carstens (Emstek), CDU/CSU 21.10.2004 Wenn wir beispielsweise das Schicksal der Zivilde- Manfred portierten betrachten, so wissen wir, was diese Men- schen durchgemacht haben. Die Union muss sich aller- Heynemann, Bernd CDU/CSU 21.10.2004 dings fragen lassen, warum sie gerade für diese Ibrügger, Lothar SPD 21.10.2004 Betroffenen in ihrer Regierungszeit nichts getan hat. Als sie Verantwortung trug, hat sie das Schicksal der Zivil- Kumpf, Ute SPD 21.10.2004 deportierten ignoriert und diese Menschen geradezu schäbig behandelt. Erst Rot-Grün hat die Mittel der Stif- Lamp, Helmut CDU/CSU 21.10.2004 tung für ehemalige politische Häftlinge aufgestockt und den Zugang zu Leistungen auch für Zivildeportierte ge- Letzgus, Peter CDU/CSU 21.10.2004* öffnet. Wir haben es daher gar nicht nötig, uns hier Untä- tigkeit vorwerfen zu lassen. * Dr. Lucyga, Christine SPD 21.10.2004 Durch den Antrag der Union wird deutlich: Es geht der Union nicht um die Menschen, sondern um Ideolo- Merkel, Petra-Evelyne SPD 21.10.2004 gie. Sie will historisch aufrechnen. Der Antrag vermischt in unzulässiger Weise die Arbeit der Stiftung „Erinne- Neumann (Bremen), CDU/CSU 21.10.2004 rung, Verantwortung und Zukunft“ mit dem Schicksal Bernd von Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit danach. Der Kollege Stadler hat in seiner Rede Rauber, Helmut CDU/CSU 21.10.2004 anlässlich der Einbringung des Antrags zu Recht heraus- gearbeitet, dass die CDU/CSU-Fraktion selbst in der Be- Reichard (Dresden), CDU/CSU 21.10.2004 gründung ihres Antrages nicht davon ausgeht, dass es Christa (B) opportun sei, an andere Staaten wegen derartiger Ent- (D) Ronsöhr, Heinrich- CDU/CSU 21.10.2004 schädigungsleistungen heranzutreten. In der Tat läuft der Antrag der Union darauf hinaus, dass es Sache der Bun- Wilhelm desrepublik Deutschland selbst wäre, eine finanzielle Scharping, Rudolf SPD 21.10.2004 Leistung als Geste für den betroffenen Personenkreis zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet aber zweierlei: Zum Schauerte, Hartmut CDU/CSU 21.10.2004 einen legen wir ein neues Leistungsgesetz mit einer Prä- judizwirkung auch für andere Opfergruppen auf. Zum Schönfeld, Karsten SPD 21.10.2004 anderen belasten wir die internationalen Beziehungen unseres Landes vor allem mit unseren osteuropäischen Schwanitz, Rolf SPD 21.10.2004 Nachbar erheblich. Das passt genau in die Reparations- schiene der Vertriebenenverbände mit der in Polen mehr Stübgen, Michael CDU/CSU 21.10.2004 als berüchtigten Kollegin Steinbach als Frontfrau. Mit dieser Politik eines Teils der Vertriebenenverbände, von Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 21.10.2004 denen sich die Union nur halbherzig abgrenzt, belastet sie in unerträglicher Weise die deutsch-polnischen Be- ziehungen und nimmt dies auch billigend in Kauf. * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Aus welcher geistigen Ecke das Ansinnen kommt, macht ein Blick auf den früheren Unionsabgeordneten Anlage 2 Hohmann deutlich: Er war noch als Mitglied seiner alten Fraktion einer der Betreiber des Gedankens, dass deut- Zu Protokoll gegebene Reden sches Geld erst einmal deutschen Opfern zugute kom- men soll. In populistischer Manier setzt die Union zur Beratung der Beschlussempfehlung und des klammheimlich alle Opfer von Unrecht gleich und rela- Berichts: Entschädigung deutscher Zwangs- tiviert so historische deutsche Verantwortung. Die ge- arbeiter (Tagesordnungspunkt 14) meinsame Presseerklärung von Hohmann und Marschewski vom 8. Mai 2003 ist weiterhin im Internet Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE abrufbar. GRÜNEN): Die Union verlangt eine Entschädigung für Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Zwangs- Kollege Marschewski sollte sich bewusst sein, welche arbeit für ausländische Staaten gezwungen wurden. Es Emotionen er hier bedient. Er sollte sich an dem 12132 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Lernprozess seiner Partei- und Fraktionsvorsitzenden Änderung des Sechsten Sozialgesetzbuchs“ wollen wir, (C) beteiligen, die nach der Ankündigung ihrer Anti-Türkei- was die Rentenversicherungspflicht von selbstständigen Abstimmung gemerkt hat, wohin solche rechtspopulisti- Handwerkern angeht, den Stand der Dinge, wie sie bis schen Aktionen führen. Mit solchen Anträgen verhilft er Ende 2003 galten, wieder herstellen. der NPD zu weiteren Wahlerfolgen. Den Antrag der Mit der Novelle haben wir das sogenannte Inhaber- Union lehnen wir ab. prinzip aufgegeben. Bis dahin mussten die Inhaber von Handwerksbetrieben Meister sein und waren rentenver- Max Stadler (FDP): Die FDP unterstützt das Anlie- sicherungspflichtig. In Personengesellschaften musste gen, für Deutsche, die aufgrund der verbrecherischen ein Gesellschafter Meister sein und war rentenversiche- Politik des NS-Regimes Zwangsarbeit leisten mussten, rungspflichtig. eine symbolische finanzielle Entschädigung herbeizu- führen. Von dieser Rentenversicherungspflicht konnten sie sich – und können sie sich auch jetzt wieder – nur be- Der Deutsche Bundestag hat im Jahre 2000 – viel zu freien lassen, wenn sie 18 Jahre Pflichtbeiträge in die ge- spät, aber immerhin – endlich das Stiftungsgesetz zur setzliche Rentenversicherung eingezahlt haben. Entschädigung der ausländischen NS-Zwangsarbeiter verabschiedet. Von einer echten Entschädigung kann da- Hintergrund dieser Regelung, die Ende der 50er-Jahre bei nicht gesprochen werden. Die finanziellen Leistun- getroffen wurde, war es, Menschen abzusichern, die gen wurden aber von den Opfern als Anerkennung des auch mit selbstständiger Arbeit nur durchschnittliche erlittenen schweren Unrechts empfunden. Einkommen erwirtschaften. Für die FDP war seinerzeit klar, dass die damalige, in Diese Politik haben wir auch in den vergangenen Jah- schwierigen internationalen Verhandlungen erzielte Lö- ren weiter fortgesetzt. Ich möchte da an die Einbezie- sung nicht mit der Frage einer Entschädigung deutscher hung arbeitnehmerähnlicher Selbstständiger in die ge- Zwangsarbeiter befrachtet werden durfte. Dies wäre aus setzliche Rentenversicherung erinnern, die Rot-Grün vielerlei Gründen nicht angemessen gewesen und hätte schon kurz nach dem Regierungswechsel 1998 beschlos- zu einer schiefen Optik geführt. Dennoch ist es verständ- sen hat. lich, dass die damalige Diskussion zu neuen Fragen Diesen Stand – dass nur derjenige rentenversiche- geführt hat, denn alle Fraktionen haben bei Erlass des rungspflichtig ist, der auch die entsprechenden Qualifi- Stiftungsgesetzes die Auffassung vertreten, dass kationsanforderungen mitbringt – stellen wir mit dem Zwangsarbeit ein besonderes Unrecht darstellt, das über „Fünften Gesetz zur Änderung des Sechsten Sozialge- ein allgemeines Kriegsfolgenschicksal hinausgeht. setzbuchs“ wieder her. (B) (D) Wenn dem so ist, trifft aber die frühere Meinung, Damit schließen wir bewusst die reinen Kapitalgeber Zwangsarbeit sei durch die bis dahin ergangenen Kriegs- aus. Daneben gilt: Wer bis zum 31. Dezember 2003 ren- folgengesetze abgegolten, auch für deutsche Zwangsar- tenversicherungspflichtig war, bleibt es auch weiterhin. beiter nicht mehr zu. Daher ist dies ein ungelöstes Thema. Es ist auch keine unzulässige Vermischung von Eine Änderung im Sechsten Sozialgesetzbuch müssen Täter- und Opferrolle, wenn man feststellt, dass aus wir heute vornehmen, weil mit der Handwerksordnungs- menschenrechtlicher Sicht Zwangsarbeit für jeden ein- novelle auch Inhaber ohne die nötigen Qualifikationsan- zelnen Betroffenen ein Sonderopfer darstellt. forderungen versicherungspflichtig geworden wären. Dieses Unrecht hat das Dritte Reich verursacht. Mit Damit wäre auch ein Ungleichgewicht zu den Selbst- ihrer verbrecherischen Kriegspolitik tragen die Nazis die ständigen in handwerksähnlichen Gewerben entstanden. Schuld am Zweiten Weltkrieg und damit an der Zwangs- Diese sind nicht rentenversicherungspflichtig und waren arbeit von Deutschen. Die Bundesrepublik Deutschland es auch nie. Gegen dieses Ungleichgewicht gäbe es im ist Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs. Es steht Übrigen auch verfassungsrechtliche Bedenken. ihr daher gut an, auch diese Hypothek abzutragen. Das Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Opposi- Naziregime hat den Zwangsarbeitern Lebenszeit genom- tion, dass das Handwerksrecht novelliert werden musste, men und individuelle Lebenschancen zerstört. Dies an- war uns allen schon seit einigen Jahren bewusst. Es war zuerkennen ist Ziel des CDU/CSU-Antrags, dem die trotzdem nicht einfach, eine gemeinsame Lösung zu fin- FDP zustimmt. den. Wir haben uns schließlich im Vermittlungsaus- schuss geeinigt. Anlage 3 Dass die Handwerksordnungsnovelle, die am 1. Ja- nuar dieses Jahres in Kraft getreten ist, richtig war, zeigt Zu Protokoll gegebene Reden sich inzwischen. Bei den Branchen, die wir aus der An- zur Beratung des Entwurfs eines Fünften Geset- lage A der Handwerksordnung herausgenommen haben zes zur Änderung des Sechsten Buches Sozial- – das sind die Handwerke, die nicht gefahrgeneigt sind gesetzbuch (Tagesordnungspunkt 15) und für die deshalb heute kein Meisterbrief mehr für Be- triebsgründung benötigt wird –, gab es schon im ersten Halbjahr 17 Prozent mehr Selbstständige. Erika Lotz (SPD): Heute Abend bringen wir eine Re- gelung auf den Weg, die zu unserer großen Handwerks- Auch von den Neugründungen der Betriebe nach der ordnungsnovelle gehört. Mit dem „Fünften Gesetz zur Anlage A sind zwei Drittel nach der neu eingeführten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12133

(A) Altgesellenregel vorgenommen worden. Darüber hinaus oder weniger unbewusst – die Rentenversicherungs- (C) hat sich die Handwerksordnungsnovelle auch positiv auf pflicht der selbstständigen Handwerker ausgeweitet. Der die Ausbildungsbereitschaft ausgewirkt. aktuelle Gesetzentwurf korrigiert die maßgebliche Norm nun. Er stellt damit rückwirkend die alte Regelung wie- Sie sehen also, dass wir mit dieser Novelle wirklich der her. Damals wurde unter anderem der § 2 Satz l Nr. 8 das geschaffen haben, was wir damit beabsichtigt haben: des SGB VI geändert, und zwar mit der folgenden Be- mehr Chancen für das Handwerk. gründung: Wir wollten und wollen den großen Befähigungs- „Die Änderung stellt eine Folgeänderung zur Ände- nachweis zukunftssicher und europafest machen, die rung der Handwerksordnung dar. Mit ihr wird der wirtschaftliche Entwicklung des Handwerks stärken, ‚Status quo‘ der derzeitigen Rentenversicherungs- Existenzgründungen erleichtern, Arbeitsplätze sichern pflicht selbstständiger Handwerker aufrechterhal- und Impulse für neue Arbeitsplätze und Ausbildungs- ten. Aufgrund der Neustrukturierung der Anlagen plätze geben. A und B zur Handwerksordnung werden zahlreiche Zu dieser Novelle gehört auch die Regelung, die wir Handwerke zulassungsfrei. Um den Kreis der versi- heute verabschieden werden. Wir werden – und das be- cherungspflichtigen Handwerker unverändert zu tone ich besonders gern – auch diese Regelung gemein- lassen, muss daher die entsprechende, bisher nur sam mit der Opposition beschließen. Es gibt also auch auf die in der Handwerksrolle eingetragenen Hand- Gesetze, die ganz ohne strittige Diskussionen einver- werker Bezug nehmende Vorschrift im Sechsten nehmlich von allen getragen werden. Buch Sozialgesetzbuch um die Handwerker, die künftig ein zulassungsfreies Handwerksgewerbe Hildegard Müller (CDU/CSU): Leider muss ich es ausüben, erweitert werden.“ bereits zu Beginn erwähnen: Rot-Grün hätte uns die heu- Nach der Kritik in der bereits erwähnten Anhörung tige Debatte wirklich ersparen können, wenn die Bun- hat wenig später auch der Zentralverband des Deutschen desregierung im vergangenen Jahr bei der Novellierung Handwerks darauf hingewiesen, dass mit der neuen For- der Handwerksordnung sauber und ordentlich gearbeitet mulierung eine Ausweitung der Versicherungspflicht- hätte. Rot-Grün hätte vor allem vielen Handwerkern Tatbestände in der Rentenversicherung eingetreten ist. Chaos und Durcheinander ersparen können, wenn – ganz Diese kann ein vernünftiger Mensch nicht wirklich ge- im Arbeitsethos der Betroffenen – handwerklich gut ge- wollt haben. Auf jeden Fall wurde auf diesem Weg für arbeitet worden wäre. Dies ist leider nicht der Fall gewe- erhebliche Irritationen im Handwerk gesorgt. Zu Recht sen. Folglich müssen wir heute für die damaligen rot- hat der ZDH deshalb die Bundesregierung aufgefordert, grünen Fehler nachsitzen. Rot-Grün hat damals auf die- die neue Regelung rückwirkend wieder aufzuheben. (B) sem Feld unsaubere Arbeit abgeliefert. (D) Ich möchte nochmals ganz deutlich machen, worum Böse Absicht will ich gar nicht unterstellen. Bundes- es hierbei genau geht. Nur so wird der Widersinn und regierung und Koalition können hier aber heute nicht be- das eigentliche rot-grüne Versagen an dieser Stelle deut- haupten, dass sie nicht gewarnt worden wären. So wurde lich. Im Wesentlichen geht es um zwei Änderungen: in der damaligen Anhörung im Wirtschaftsausschuss zur Novelle der Handwerksordnung auf das heute zu debat- Zum einen ist für die Führung von 53 Handwerksge- tierende Problem hingewiesen. Wer möchte, mag sich werben, beispielsweise für Uhrmacher, Schneider oder die damaligen Ausschussdrucksachen getrost nochmal Raumausstatter, die Erfordernis des Nachweises der anschauen. Damals hat der „Interessenverband freier Meisterprüfung aufgegeben worden. Inhaber solcher Be- und unabhängiger Handwerkerinnen und Handwerker“ triebe sind demzufolge nicht mehr in die Handwerksrolle vor dem heute beklagten Missstand gewarnt. eingetragen, sondern in das neue Verzeichnis der zulas- sungsfreien Handwerksgewerbe. Daneben bestehen wei- Dass diese Mahnung ungehört verhallt ist, überrascht terhin die handwerksähnlichen Gewerbe. mich aber eigentlich nicht: Was Rot-Grün von Experten- meinungen in Anhörungen hält, haben wir in den ver- Zum anderen wurde mit der großen Handwerksno- gangenen Wochen und Monaten mitbekommen. Mir fal- velle das bisher gültige Inhaberprinzip aufgegeben, wo- len im Bereich der Sozialpolitik noch eine Menge von nach der Inhaber eines Handwerksbetriebes auch die Gesetzesvorhaben ein, bei denen dies leider genauso war erforderlichen handwerksrechtlichen Qualifikationen er- oder so sein wird. Man darf zum Beispiel gespannt sein, füllen musste. Nunmehr kann ein zulassungspflichtiges ob Rot-Grün bei den Änderungen in der Pflegeversiche- Handwerksgewerbe auch dann geführt werden, wenn rung wenigstens auf den Rat der Rentenversicherer hört. zwar nicht der Inhaber, aber ein im Betrieb beschäftigter Die warnen aktuell vor Rentenbescheiden, die erst aus- Leiter die erforderliche Qualifikation besitzt. gestellt und anschließend widerrufen werden müssen – mit erheblichem organisatorischem Aufwand und hoher Welche Konsequenzen ergaben sich daraus für die Verunsicherungsgefahr. Mit etwas Ähnlichem haben wir Rentenversicherung? In den zulassungspflichtigen uns heute in unserer rot-grünen Nachhilfestunde auch zu Handwerken unterliegen die Gewerbetreibenden der beschäftigen. Rentenversicherungspflicht. Dies gilt nun unabhängig davon, ob sie selbst die Voraussetzungen erfüllen oder Ich möchte noch einmal ganz deutlich machen, um einen Meister eingestellt haben. Handelt es sich um Per- was es hier geht: Zu Beginn diesen Jahres trat die große sonengesellschaften, besteht wie bisher die Rentenversi- Handwerksnovelle in Kraft. Mit ihr wurde – eben mehr cherungspflicht nur für diejenigen Gesellschafter, die 12134 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) über die handwerksrechtliche Qualifikation verfügen. Dies wird uns aber nur gelingen, wenn wir Mittelständ- (C) Auch bei den zulassungsfreien Handwerksgewerben un- ler mit solchem Murks, den es heute zu reparieren galt, terliegt seither der Inhaber der Rentenversicherungs- künftig verschonen. pflicht. Jedoch ist anders als bei den Zulassungspflichti- gen Handwerken bei Personengesellschaften jeder Ich hoffe, Rot-Grün wird aus dem heutigen Schaden Gesellschafter – unabhängig von seiner Qualifikation – klug. Allzu oft sollte sich die Politik ein Nachsitzen rentenversicherungspflichtig. nicht leisten müssen.

Dadurch besteht auch für Personen, die einen zulas- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am sungspflichtigen oder freien Betrieb nur vorübergehend 1. Januar 2004 ist die große Handwerksnovelle in Kraft weiterführen, zum Beispiel für Witwen, Witwer, Erben getreten. Im Zuge dessen war die Rentenversicherungs- oder Nachlassverwalter, eine Rentenversicherungs- pflicht selbstständiger Handwerker neu zu regeln. Zwei pflicht. Außerdem ist die Ungleichbehandlung von Gründe waren dafür ausschlaggebend: Selbstständigen, die ein zulassungsfreies Handwerksge- werbe ausüben und von Selbstständigen, die ein hand- Erstens. In einer Reihe von Gewerken ist die Meister- werksähnliches Gewerbe betreiben, als problematisch zu prüfung keine Voraussetzung zur Führung eines Betriebes betrachten. Zudem fehlte im alten Gesetz auch noch jede mehr. Die neuen zulassungsfreien Handwerksgewerbe Übergangsregelung. Personen, die bereits privat fürs Al- sind rechtlich im Ergebnis den handwerksähnlichen Ge- ter vorgesorgt hatten, wurden so weitere Ausgaben auf- werben gleichgestellt worden. Dort bestand noch nie erlegt. Versicherungspflicht. Es stellt sich auch die Frage, ob es aufgrund der No- Zweitens. Das so genannte Inhaberprinzip wurde auf- vellierung der Handwerksordnung überhaupt noch eine gegeben. Inhaber eines Betriebes müssen nicht mehr in Legitimation für die Versicherungspflicht für Handwer- eigener Person die handwerksrechtlichen Qualifikatio- ker gibt. nen erfüllen. Es reicht, wenn etwa ein Betriebsleiter die erforderlichen Qualifikationen besitzt. Die seinerzeit ge- Es ist gut, dass der ganze Unsinn jetzt wieder korri- troffenen Regelungen haben zu einer Ausweitung der giert wird. Vielleicht gelingt es uns so auch, reichlich Versicherungsspflicht geführt. Das war nicht beabsich- zerbrochenes Porzellan wieder zu kitten. tigt. Mit dem nun vorliegenden Gesetz wird erreicht, Ich möchte zum Abschluss noch auf etwas hinweisen: dass auch in Zukunft nur jene Handwerker in die Ren- Im Vergleich zu den großen „Reform-Baustellen“ in un- tenversicherung einbezogen werden, die auch vor der serem Sozialversicherungswesen mag die heutige Kor- Handwerksnovelle in die Versicherungspflicht einbezo- (B) rektur als kleiner Fisch erscheinen. Es ist aber dennoch gen waren. (D) wichtig, dass wir Signale für ein mittelstandsfreundli- Versicherungspflicht wird für jene Handwerker beste- ches Klima geben. Mit dem handwerklichen Schlendrian hen, die Inhaber von zulassungspflichtigen Handwerks- hat Rot-Grün dies nicht getan. Vielmehr hat Rot-Grün betrieben sind und selbst die erforderlichen Qualifikatio- nur deutlich gemacht, dass Warnungen – selbst wenn sie nen erfüllen. Selbstständige, die ein zulassungsfreies in Anhörungen vorgetragen wurden – nicht wirklich Gewerbe betreiben, werden nun genauso behandelt wie ernst genommen werden. Wenn die Politik so verantwor- Handwerker, die ein handwerksähnliches Gewerbe be- tungslos handelt, darf sie sich nicht wundern, wenn Ver- treiben. Die Regelung wird rückwirkend zum 1. Januar trauen verloren geht. Es geht um das Vertrauen, das Mit- 2004 in Kraft gesetzt. Handwerker, die am 31. Dezember telständler – dazu zähle ich auch das Handwerk – 2003 in die Versicherungspflicht einbezogen waren, brauchen, um zu investieren und damit dringend benö- bleiben weiterhin versicherungspflichtig. tigte Arbeitsplätze zu schaffen. Die Diskussion um die Reform der Handwerksno- Es kann in diesem Haus nicht oft genug gesagt wer- velle und im Nachgang um die Versicherungspflicht von den: Die Lage des Mittelstandes war noch nie so kata- selbstständigen Handwerkern hat wieder einmal deutlich strophal wie zurzeit. Allein in den vergangenen zwei gezeigt, dass die Regeln zur Versicherungspflicht über- Jahren gab es rund 80 000 Insolvenzen. Jeden Tag kom- holt sind: Die Abgrenzungen sind nicht über jeden Zwei- men weitere 100 hinzu. Das sind dreimal so viele Kon- fel erhaben. kurse wie vor zehn Jahren und fünfmal so viele wie vor 25 Jahren. In diesem Bereich gibt es Kämpfe um Ar- Der vorliegende Entwurf fügt sich in die bestehende beitsplätze, die nicht in der „Tagesschau“ gezeigt wer- Tradition zur Versicherung von Handwerkern. Das ist den. Deshalb ist es das Wichtigste, dass wir den Mittel- angemessen. Wenn die Regeln zur Versicherungspflicht stand wieder stärken. Dies ist das A und O. Durch die verändert werden, dann sollte dies auf Grundlage einer Stärkung des Mittelstandes werden Wachstum und Be- öffentlichen und offenen Debatte erfolgen. Damit ist die schäftigung gefördert. Dafür müssen jedoch vorab ver- Debatte zur Versicherungspflicht in den Sozialversiche- nünftige Rahmenbedingungen geschaffen werden. rungen nicht vom Tisch. Wir brauchen mehr Freiraum für Selbstständigkeit. Meine Fraktion hat wiederholt vorgeschlagen, die So- Der Selbstständigenanteil liegt bei uns in Deutschland zialversicherungen zu Bürgerversicherungen weiterzu- leider nur noch bei etwa 10 Prozent. In der EU sind es entwickeln. Alle Bürgerinnen und Bürger sollten nach noch immerhin 16 Prozent. Dieser Trend zu einem im- unserer Auffassung die gleichen Rechte und die gleichen mer geringeren Anteil muss endlich umgekehrt werden. Pflichten haben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12135

(A) Für den sozialen Schutz der Bevölkerung und die Unzweifelhaft sind über die heutige Korrektur hinaus (C) Mitgliedschaft in den Sozialversicherungen sollte es in weitere Schritte nötig. Es ist historisch bedingt und aus Zukunft nicht mehr wichtig sein, ob jemand abhängig heutiger Sicht nicht mehr zwingend, sondern eher gro- beschäftigt oder selbstständig ist. Es darf auch keine tesk, dass selbszständige Handwerker im SGB VI neben Rolle mehr spielen, ob jemand ledig, geschieden oder Küstenfischern, Seelotsen und Entbindungspflegern als verheiratet ist. Wer eine verpflichtende Anzahl von Jah- versicherungspflichtig eingestuft werden. Ziel sollte es ren in die Versicherung eingezahlt hat, sollte ein eigen- sein, die Rentenversicherungspflicht für Handwerker ständiges Recht auf sozialen Schutz vor Armut im Alter komplett abzuschaffen, denn sie ist für viele Handwerks- erhalten, unabhängig vom Familienstand, von der Stel- unternehmer schlichtweg ein Ärgernis. Handwerker soll- lung im Erwerbsleben und vom Verdienst. Jeder sollte ten – wie andere Selbstständige auch – ihre Altervor- die Pflicht haben, solche Bürgerversicherung entspre- sorge frei gestalten und zwischen freiwilliger chend seiner Leistungsfähigkeit zu finanzieren. Versicherung in der GKV und privater Vorsorge wählen können. Es ist jedenfalls nicht länger hinzunehmen, dass Allerdings kann eine Bürgerversicherung nicht von Handwerker eine GmbH gründen müssen, um sich der heute auf morgen umgesetzt werden. Es bedarf einer lan- Versicherungspflicht zu entledigen. Hier treibt der So- gen und gut durchdachten Vorbereitung, um die damit zialstaat seltsame Blüten. Die FDP wird in Kürze ent- im Zusammenhang stehenden verfassungsrechtlichen sprechende Anträge in den Deutschen Bundestag ein- und fiskalischen Probleme zu lösen. En passant lassen bringen. Wir sind uns dabei der Unterstützung durch die sich all diese Fragen nicht klären. Handwerksverbände sicher. Wir würden uns freuen, wenn diese Anträge dann mit einer ähnlich breiten Mehrheit im Deutschen Bundestag beschlossen würden, Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Der heute zur Beratung wie es heute geschieht. stehende Gesetzentwurf zielt darauf ab, die bis 2003 be- stehende Rechtslage hinsichtlich der Versicherungs- pflicht von selbstständigen Handwerkern wieder herzu- Anlage 4 stellen. Diese Rechtslage war von der rot-grünen Regierung mit ihrer Handwerksnovelle hinsichtlich der Zu Protokoll gegebene Reden Versicherungspflichttatbestände auch auf Personen aus- zur Beratung des Antrags: Flugverkehrskon- geweitet worden, die überhaupt nicht die Voraussetzun- zept für den Großraum Berlin überprüfen – gen hinsichtlich der Definition eines selbstständigen Flughafen Berlin-Tempelhof offen halten (Ta- Handwerkers erfüllen. So war zum Beispiel ein Kom- gesordnungspunkt 16) manditist in einer Raumausstatter-KG seit Anfang 2004 (B) rentenversicherungspflichtig. Dies ist eine unverständli- (D) che und nicht nachvollziehbare Ausweitung der ohnehin Siegfried Scheffler (SPD): Ich hätte nicht gedacht, auf dem Prüfstand stehenden Pflichtversicherung von dass ich noch einmal die Möglichkeit bekomme, mich Handwerkern. vor diesem Hohen Haus zum Betrieb des Flughafens Tempelhof zu äußern. Schließlich wurde bereits 1996 Die FDP begrüßt daher die Einsicht der Koalition. Es mit dem so genannten Konsensbeschluss zwischen dem gilt das alte Sprichwort: „Besser spät als nie.“ Sie haben Bund und den Ländern Berlin und Brandenburg verein- zum Glück ihren Fehler eingesehen und sind bereit, ihn bart, den Flughafen Tempelhof zu schließen, sobald der mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf zu korrigie- Planfeststellungsbeschluss für den Flughafen Schönefeld ren. Dadurch werden Handwerker in zulassungsfreien bestandskräftig wird. Dieser Beschluss wurde im Übri- Gewerken und alle Personengesellschafter, die selbst gen auch nach dem Wechsel der Regierungen auf nicht Handwerker sind, wieder von der Versicherungs- Bundes- und Landesebene zu keinem Zeitpunkt infrage pflicht befreit. Für den betroffenen Personenkreis be- gestellt. Am 13. August dieses Jahres ist nun der Plan- wirkt das Einsparungen von bis zu 395 Euro in den feststellungsbeschluss erlassen worden; Ende 2005/An- neuen Ländern und bis zu 470 Euro in den alten Bundes- fang 2006 wird er voraussichtlich Rechtskraft erlangen. ländern, und zwar pro Monat! Wer die Lage im Hand- Ich habe zunächst einmal keinen Anlass – trotz der ein- werk kennt, weiß, was das bedeutet. Wir unterstützen gereichten Klagen –, an diesem Datum zu zweifeln. In den Gesetzentwurf auch deshalb, weil er mehr Men- meinen Augen gibt es daher auch keinen Anlass, den er- schen in die Lage versetzt, eine private kapitalgedeckte reichten Konsens infrage zu stellen oder aufzuweichen. Altersvorsorge aufzubauen. Die FDP hat die Notwendig- Dies gilt meines Erachtens übrigens für alle Beteiligten. keit einer Ausweitung der privaten Altersvorsorge mit Fest steht: Der Flughafen Tempelhof ist unökono- mehreren Anträgen im Deutschen Bundestag seit langem misch und produziert Jahr für Jahr steigende Verluste, eingefordert. die das Land Berlin tragen muss. Ich denke, ich muss Sie nicht daran erinnern, dass sich Berlin in einer desolaten Es ist zu begrüßen, dass eine einvernehmliche Lösung Finanzsituation befindet und derzeit gegen die Bundes- in Zusammenarbeit mit dem Zentralverband des Deut- republik Deutschland wegen seiner Haushaltsnotlage schen Handwerks gefunden wurde. Das ist bei der rot- klagt. Wie verhält sich der Beklagte? Er verabschiedet grünen Bundesregierung durchaus keine gängige Praxis: einen Antrag, der das – dank der Bemühungen der SPD- Sie hat bei der zugrunde liegenden Handwerksnovelle geführten Landesregierung – ganz langsam auf die Beine dies nicht getan, sondern sie hat in Konfrontation mit kommende Berlin veranlassen soll, gegen jede wirt- den Betroffenen gehandelt. schaftliche Vernunft ein als Verlustbringer erkanntes 12136 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Objekt weiter zu betreiben? Ich denke nicht, dass der Um die Stadt von dem Geldvernichter Tempelhof zu (C) Deutsche Bundestag solche Zeichen setzen sollte. Berlin befreien und um die anderen mit dem Weiterbetrieb von darf und muss vielmehr im Rahmen der geschlossenen Tempelhof verbundenen Probleme einer Lösung zuzu- Verträge und Vereinbarungen alle Maßnahmen ergreifen, führen, hatte die Berliner Flughafengesellschaft in Ab- um seine desolate Finanzsituation zu entschärfen. § 31 stimmung mit den drei Gesellschaftern einen Antrag zur Abs. 2 LuftVG besagt ausdrücklich, dass die Länder in Schließung des Flughafens Tempelhof gestellt. Das eigener Verantwortung über Bau, Ausbau und auch Oberverwaltungsgericht hat diesen Antrag nach der Schließung von Flughafenstandorten entscheiden. Vor Klage einiger weniger Airlines mangels rechtlicher diesem Hintergrund möchte ich Sie daher bitten, den Grundlage jedoch abgewiesen. Dieser Enscheidung vorliegenden Antrag abzulehnen. Die von den Antrag- muss sich der Berliner Senat fügen, auch wenn es nach- stellern dargestellten Gründe, die für einen Weiterbetrieb vollziehbare Begehrlichkeiten gibt, den Flughafenbe- von Tempelhof sprechen sollen, Angebote privater Be- trieb möglichst bald zu beenden. Ein Weiterbetrieb von treiber, Tempelhof in Eigenregie weiterzuführen, und Tempelhof würde mittel- und langfristig zu einer unkal- das kürzlich vorgestellte Konzept, Tempelhof als City- kulierbaren Schuldenlast führen und den Weg zu einer terminal mit eigener Trassenanbindung für BBI auszu- sauberen und soliden Finanzierung des Single Airports bauen, sind entweder nicht seriös, da die Privaten zum Schönefeld permanent blockieren. Dies hat sich bei Ge- Beispiel nicht die Gebäude, die die hauptsächlichen sprächen der Flughafengesellschaft mit möglichen Kre- Kosten verursachen, übernehmen wollen, bzw. kommen ditgebern als wichtiger Punkt herausgestellt. schlichtweg zu spät, da ein Cityterminal am Standort Die Verlagerung des Flugverkehrs von den beiden in- Tempelhof erhebliche Verzögerungen für den Ausbau nerstädtischen Flughäfen Tegel und Tempelhof nach von Schönefeld nach sich ziehen würde. Dies ist weder Schönefeld bietet große wirtschaftliche Chancen für im Interesse des Bundes noch im Interesse Berlins. Berlin und Brandenburg. Der wichtigste Grund für eine möglichst zügige Schließung des Flughafens sind jedoch Keine Frage: Tempelhof ist ein Stück Berlin, Tempel- die Menschen in Tempelhof und Neukölln; diese leiden hof ist ein Stück der Geschichte auch meiner Stadt und unter dem Fluglärm genauso, wie die Menschen in Rei- es ist schwer, sich davon zu verabschieden. Viele Berli- nickendorf, Tegel und Spandau unter dem Betrieb des nerinnen und Berliner verbinden mit diesem Flughafen Flughafens Tegel leiden. Sie müssen mit einem Unfall- viele sehr persönliche Erinnerungen, zum Beispiel an die risiko leben, das mit der Verlagerung des Flugverkehrs Luftbrücke, die ihnen das Überleben während der Blo- nach Schönefeld erheblich verringert werden wird. In ckade sicherte. Sie denken an Freunde, die sie in Tem- einer dicht besiedelten Region wie dem Ballungsraum pelhof begrüßen konnten oder von denen sie in Mauer- Berlin wird man das Risiko nicht auf Null verringern zeiten Abschied nehmen mussten, und sie erinnern sich können und ich weiß aus eigener Betroffenheit, da mein (B) an viele eigene Flüge. Aber die Zeiten haben sich geän- Wahlkreis im Einzugsgebiet des neuen Großflughafens (D) dert. Westberlin ist nicht mehr eingemauert und das ver- in Schönefeld liegt, dass die Verlagerung auch wieder einigte Berlin muss in der gegenwärtigen schwierigen neue Belastungen für Bevölkerungsgruppen bringen wirtschaftlichen Lage besonders genau rechnen. Tempel- wird, die bisher weniger betroffen waren. Dennoch hof ist schon lange ein Verlustbringer. Das kann sich die denke ich, dass wir, egal wie man zur Standortentschei- Stadt auf Dauer nicht mehr leisten. dung für Schönefeld steht, im Interesse der Stadt den Ausbau Schönefelds zügig voranbringen müssen. Von 1991 bis 2003 haben sich Verluste in Höhe von 139 Millionen Euro angesammelt. Die jährlichen Ver- Die Schließung von Tempelhof erschließt riesige Flä- luste lagen zwischen 7 Millionen und 17 Millionen Euro. chenpotenziale für eine neue Nutzung. Die Aufgabe des Allein im vergangenen Jahr waren es laut Jahresab- Betriebes in Tempelhof bedeutet, dass Berlin ein riesiges schluss 2003 der FBS, der vom Wirtschaftsprüfer testiert Flächenpotenzial von 357 Hektar in Innenstadtlage für ist, 15,3 Millionen Euro. Für 2004 wird von der FBS ein neue Nutzungen gewinnt. Dafür gibt es viele denkbare Verlust von 15,2 Millionen Euro erwartet. Und wenn der Varianten. Nutzungsüberlegungen anzustellen ist jetzt Flugbetrieb aufrechterhalten würde, kämen nach Be- schon gut und sinnvoll. Zu einer tatsächlichen Umset- rechnungen der FBS von 2005 bis 2010 noch einmal zung solcher Überlegungen kann und wird es aber erst 120 Millionen Euro dazu. kommen, wenn der Flughafen entwidmet ist. Bis dahin werden noch viele Überlegungen angestellt werden. Auch die Entwicklung des Verkehrsaufkommens Wichtig ist jedenfalls, dass ein großer Teil des Tem- spricht eine klare Sprache: Im Jahre 1993 hatte der Flug- pelhofer Feldes als „Grüne Lunge“, als Naherholungsge- hafen Tempelhof seinen Höhepunkt mit rund 68 000 biet für die Berlinerinnen und Berliner, erhalten bleibt. Flugbewegungen und 1,1 Millionen Passagieren. Seit- In dem Konzept „Park der Luftbrücke“, das vor einigen dem geht die Entwicklung kontinuierlich bis auf eine Jahren erstellt wurde, sind daher allein 210 Hektar als „kleine Erholung“ in den Jahren 1997 und 1998 nach un- Grünfläche eingeplant. ten. 2003 gab es noch rund 37 000 Flugbewegungen und rund 450 000 Fluggäste. Ich halte es für absolut falsch, Für die Stadtentwicklung ist entscheidend: Ein so rie- für eine kleine Klientel von Geschäftsleuten und Bun- siges Areal wie der Flughafen Tempelhof eröffnet die destagsabgeordneten, die einen möglichst kurzen Weg Chance, die Inanspruchnahme von Flächen außerhalb zur Arbeit und zu Terminen haben wollen, ein so über- des Siedlungskörpers zu reduzieren. Das bedeutet nicht flüssiges, teures und die Menschen belastendes Fossil nur ein Stück mehr nachhaltige Entwicklung und weni- wie den Flughafen Tempelhof weiter zu betreiben. ger Zersiedlung. Es bedeutet auch, dass mittelfristig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12137

(A) weniger Folgekosten für die infrastrukturelle Erschlie- Verkehrsanbindung, um am Ende einer Sitzungswoche (C) ßung entstehen. Die Flächenpotenziale des Flughafens in ihre Wahlkreise zurückkehren zu können. Dadurch Tempelhof sind ein Riesenpfund der Stadt. In anderen wird der Bund aber nicht zur zuständigen Genehmi- Ballungsräumen wie in Stuttgart oder München gibt es gungsbehörde in dieser Frage. eine erhebliche Knappheit an verfügbaren Flächen. Ber- Der Flughafenbetrieb liegt in Deutschland überwie- lin verfügt dagegen mit den vorhandenen und zukünfti- gend in regionaler Verantwortung. Die Länder sind als gen Potenzialen über einen ganz harten Standortvorteil. Genehmigungsbehörde für die Flughafenentwicklung Das dämpft die Boden- bzw. Mietpreise und ermöglicht zuständig, der Bund koordiniert die Planung aus über- eine flexible und nachfrageorientierte Entwicklung von regionaler Sicht und sorgt für die erforderlichen Fernver- Standorten für Wohnen und Wirtschaft. kehrsanbindungen. Der Appell an den Bund, sich für die Das Tempelhofer Feld zu gestalten ist eine riesige Offenhaltung von Tempelhof stark zu machen, kann sich städtebauliche Herausforderung. Es besteht jedoch kein also nur an den Bund in seiner Eigenschaft als Gesell- Anlass, sofort mit der Umgestaltung zu beginnen. In ei- schafter der FBS, der Flughafen Berlin Schönefeld ner Zeit, in der noch sehr viele Flächen auch in anderen GmbH, richten. Der Bund hält 26 Prozent dieser Gesell- Innenstadtlagen frei sind, ist viel Platz für Phantasie. schaft. Vorstellbar ist zum Beispiel, das heutige Flugfeld als Objektiv betrachtet kann aber sowohl aus ökonomi- einen neu gewonnenen Freiraum zu entwickeln, der für schen als auch aus ökologischen Gründen niemand die Erholung, Sport, Kultur, Naturerlebnis und viele andere Weiterführung des Flugbetriebs in Tempelhof ernsthaft Aktivitäten genutzt werden kann. befürworten. Der Bund und die Länder Brandenburg und Dieselbe Offenheit besteht auch im Hinblick auf die Berlin haben sich 1996 gegen die unwirtschaftliche Auf- künftige Nutzung des Flughafengebäudes. Auch das bie- teilung des Flugverkehrs in Berlin auf drei Flughäfen tet ein einzigartiges Flächenpotenzial mitten in Berlin. ausgesprochen. Der Konsensbeschluss, der von der da- Das Land Berlin, zu 17 Prozent Eigentümer der Immo- maligen Bundesregierung aus CDU und FDP ebenso wie bilie, und der Bund, der zu 83 Prozent Eigentümer ist, von der CDU-geführten Berliner Landesregierung ge- beraten gemeinsam über denkbare Optionen für die fasst wurde, sieht die Errichtung des Flughafens Berlin- künftige Nutzung des Gebäudes. Die Frage ist zum Bei- Brandenburg-International, BBI, in Schönefeld als spiel, ob und gegebenenfalls welche Bundeseinrichtun- Single-Airport für die Region vor. gen eine Unterbringung im Flughafengebäude infrage Grundlage für die damalige Entscheidung war vor al- kommt. lem der defizitäre Flugbetrieb in Berlin, Daran hat sich Berlin braucht nicht drei Flughäfen und auch nicht bis heute nichts geändert. In 2003 betrug das Defizit des (B) zwei Flughäfen, sondern muss die ganze Kraft darauf Flughafens Tempelhof über 15 Millionen Euro. Je länger (D) konzentrieren, Schönefeld als den einen Flughafen der dieser Flughafen geöffnet bleibt, umso schlechter wird Region Berlin-Brandenburg zu entwickeln. Es geht eben die Ertragssituation der Flughafengesellschaft und umso nicht um einen einzelnen Flughafen, sondern um das höher werden die notwendigen Mittel sein, die der Bund große Infrastrukturprojekt, mit dem wir der Region und die Länder Brandenburg und Berlin aufbringen müs- einen Schub geben können. Jeder zusätzliche Flughafen sen. Vor dem Hintergrund der angespannten Haushalts- im Einzugsbereich von BBI schwächt die Position von lage von Bund und Ländern ist das Bemühen der Ber- BBI, ob das Neuhardenberg ist, Stendal oder Tempelhof. liner Landesregierung, den Flughafen Tempelhof so Es wäre doch absurd, wenn wir vor dem Start von BBI schnell als möglich zu schließen, zu begrüßen, auch weil auch noch für Konkurrenz im eigenen Umfeld sorgen die planungsrechtliche Begründung im Wesentlichen auf würden, indem wir – auch einer privat organisierten – die Konzentration des Flugverkehrs in Schönefeld ab- Weiterführung von Tempelhof zustimmen würden. BBI zielt. wird nur dann zu einem Erfolg, wenn er wirklich ein Auch für die Anwohnerinnen und Anwohner ist die Single Airport in der Region ist. Schließung des Flugbetriebs in Tempelhof ein Schritt in die richtige Richtung. Sie sind nicht länger einem Ich bin sicher, dass all die Verbände und Unterneh- Sicherheitsrisiko mit unzumutbarer hoher Lärmbelästi- men, die jetzt noch an Tempelhof festhalten, sehr bald gung und Gesundheitsgefährung ausgesetzt. In den Jahr- die Vorteile von BBI in Schönefeld erkennen und die zehnten der Teilung der Stadt mussten diese Risiken ge- Chancen für sich nutzen werden. tragen werden, die heute nicht mehr zu verantworten Ich denke, dass es gerade in der jetzigen Phase darauf sind. Ein Flughafen mitten in einem Wohngebiet ist ankommt, keine falschen Signale auszusenden. Die un- nicht länger tragbar. Deshalb muss gehandelt werden, nötige und hauptsächlich Partikularinteressen dienende bevor ein Unglück geschieht. Dies gilt auch für den Beibehaltung des Flughafenstandorts Tempelhof wäre zweiten innerstädtischen Flughafen in Berlin-Tegel, der ein solches falsches Signal. mit der Inbetriebnahme des neuen Flughafens in Schöne- feld hoffentlich in 2010 geschlossen wird. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Die Aufregung, Schönefeld läge zu weit außerhalb GRÜNEN): Es mag vielleicht subjektiv nachvollziehbar von Berlin, ist nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil ist sein, dass sich einige Bundestagsabgeordnete für diesen der Standort in Schönefeld stadtnah. Die Flughäfen zum Gruppenantrag ausgesprochen haben. Manche nutzen Beispiel in London, Frankfurt, München und Stuttgart den Flughafen im Zentrum von Berlin auch als schnelle liegen zum Teil weiter vom Stadtzentrum entfernt. 12138 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Dazu gehört auch eine gute Infrastruktur, vor allem Russlands, die Ukraine befindet sich in großer wirt- (C) eine schnelle Schienenanbindung. Hier ist der Bund zu- schaftlicher und politischer Abhängigkeit von Russland. ständig und hier sollten wir schnell gemeinsam handeln. Die Ukraine ist ein europäisches Land und seit der Grün- dung der Ukraine 1991 hat sie vorsichtig an die Tür der Wie sehen die nächsten Schritte aus? Bund und Län- Europäischen Union geklopft. Die offizielle ukrainische der müssen jetzt ihre Hausaufgaben machen: Nachdem Außenpolitik war und ist in Bezug auf die EU und die Errichtung des Flughafens Schönefeld im Privatisie- Europa nicht konsistent, sondern wankelhaft. Doch die rungsverfahren gescheitert ist, muss die öffentliche Hand ukrainische Gesellschaft, große Teile der ukrainischen den Single-Airport jetzt selbst errichten. Für den Ausbau Industrie und auch Polen als europäischer Nachbar ha- zum Flughafen Berlin-Brandenburg-International, BBI, ben Erwartungen in Richtung einer Integration der muss jetzt schnell ein stringenter Finanzierungs- und Ukraine in die EU. Zeitplan vorgelegt werden. Für die Liegenschaft in Tem- pelhof muss ein Nutzungskonzept erarbeitet werden, da- Nun mag die EU gute Gründe haben, darauf zu ver- mit zukünftig nicht weiter Steuermittel in Millionenhöhe weisen, dass die Ukraine die für einen Beitritt notwen- für die Unterhaltung des Gebäudekomplexes anfallen. dige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reife nicht vorweisen kann. Und in der Tat gibt es er- hebliche Defizite: Defizite bei der Entwicklung von De- Anlage 5 mokratie und Rechtsstaatlichkeit, Defizite bei der Ent- wicklung einer Bürgergesellschaft und Defizite, die Zu Protokoll gegebene Reden Pressefreiheit betreffend. Doch die Ukraine ist eine zur Beratung: junge Demokratie und neben den Demokratiedefiziten muss auch auf die positiven Unterschiede zur Entwick- – Antrag: Die Ukraine nach der EU-Osterwei- lung in Belarus oder auch Russland verwiesen werden. terung und vor den Präsidentschaftswahlen am 31. Oktober 2004 Wir sollten die Ukraine, da wo es notwendig ist, kon- struktiv kritisieren, aber auch ermutigen. Denn ich bin – Beschlussempfehlung: Für eine demokrati- überzeugt, eine fortschreitende Integration der Ukraine sche und freien Präsidentenwahl 2004 in der in europäische Strukturen wäre ein beiderseitiger Ge- Ukraine winn und insbesondere im deutschen Interesse. (Zusatztagesordnungspunkt 8 a und b) Wir haben ein – nach meiner Meinung zu wenig defi- niertes – nationales Interesse, aus der wachsenden und Manfred Grund (CDU/CSU): Es dürfte nahezu ein- erdrückenden Abhängigkeit von russischen Energieliefe- (B) malig in der deutschen Parlamentsgeschichte sein, dass rungen herauszukommen. Dazu bräuchte es zum Bei- (D) der Deutsche Bundestag in zwei aufeinander folgenden spiel die Möglichkeit, via Odessa Öl und Gas aus den Sitzungswochen zum gleichen außenpolitischen Thema, Fördergebieten am Kaspischen Meer, also aus Kasach- nämlich der Entwicklung der Ukraine, debattiert. Ich be- stan, nach Europa zu verladen. Stattdessen wird wohl grüße es ausdrücklich, dass die Ukraine so viel parla- russisches Öl aus Sibirien nach Odessa gepumpt. mentarische Aufmerksamkeit und Wertschätzung er- Ich befürchte, die Abhängigkeit Deutschlands von fährt, und werbe dafür, dass auch die deutsche Energielieferungen aus Russland verstellt der deutschen Öffentlichkeit die Ukraine und ihre Entwicklung besser Außenpolitik in Bezug auf die Menschenrechtssituation wahrnimmt. Denn es gibt die Ukraine betreffend durch- und den Staatsdirigismus einen freien Blick auf Russ- aus ein Wahrnehmungsproblem. land. Wenn wir nach Osten schauen, sehen wir Polen und So ist es eben nicht nur die Ukraine, die, wie oben un- das große Russland. Das mag vielerlei Ursachen haben: ter drittens angeführt, sich in Abhängigkeit zu Russland geschichtliche Ursachen, wirtschaftliche Gründe und befindet, eine Abhängigkeit, die durch fortschreitende auch energiepolitische Gründe. Dass aber zwischen die- Integration der Ukraine in einen einheitlichen Wirt- sen beiden Ländern die Ukraine liegt, einer der flächen- schaftsraum mit Belarus, Kasachstan und Russland noch mäßig größten Staaten Europas mit 48 Millionen Ein- zunehmen wird. wohnern und mit einer bemerkenswerten Geschichte, ist hierzulande weithin unbekannt. Abschließend die Frage: Was können wir tun, die Ukraine zu ermutigen und unsere Wahrnehmung zu ver- Das Magdeburger Stadtrecht war im Mittelalter in den bessern? ukrainischen Städten die Kommunalverfassung. Das ukrainische Herrscherhaus war mit fast allen europäi- Die Ukraine hat so bedeutendes wirtschaftliches und schen Herrscherfamilien verbunden und verheiratet. technologisches Potenzial, um mit einer hochrangigen Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken Delegation aus Regierung und Wirtschaft – ähnlich den 1453 war der Schwerpunkt der christlichen Orthodoxie Chinareisen des Bundeskanzlers – offensiv wirtschaftli- die Ukraine. che Kontakte voranzubringen. Dies geht natürlich nur, wenn der zukünftige Präsident aus freien, demokrati- Mit drei Sätzen ist die politische Verfasstheit der heu- schen und fairen Wahlen hervorgeht. tigen Ukraine umschrieben: Erstens. Die Ukraine ist ein europäisches Land. Zweitens. Die Ukraine ist eine junge Ein so gewählter Präsident und Gesprächspartner Demokratie. Drittens. Die Ukraine ist nicht nur Nachbar braucht jede wissenschaftlich fundierte Hilfe zum Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12139

(A) Umbau der ukrainischen Ökonomie, Verwaltung und des schlüsse und die damit verbundenen Zahlen zeigen: Un- (C) Finanzsektors. Ich bedauere in diesem Zusammenhang, sere Kritik ist selbst nach ukrainischem Recht gerecht- dass das Transform-Programm bis auf wenige Reste zum fertigt. Jahresende ausläuft und die Tätigkeit der deutschen Be- ratergruppe Wirtschaft bei der ukrainischen Regierung Die Unabhängigkeit der Medien muss stark in Zwei- zum Jahresende eingestellt wird. fel gezogen werden: Die Aktionen von „Nascha Ukra- ina“ und politische Erklärungen der oppositionellen Dies ist deshalb schade, weil für den neuen Präsiden- Politiker finden in den durch den Staat oder durch Oli- ten und die kommende Regierung unabhängige und garchen kontrollierten Medien, die nahezu geschlossen kompetente Beratung von großem Nutzen wäre. Premierminister Janukowitsch unterstützen, einfach nicht statt. Wenn überhaupt, dann sieht man im Fernse- Ich bedaure, dass die Regierungskoalition in den Aus- hen nur kritische oder sogar stark manipulierte Beiträge schussberatungen den Ukraine-Antrag von der CDU/ über Juschtschenko und seine Anhänger, die ihn in ei- CSU abgelehnt hat. Ich bedaure, dass der Antrag der Re- nem negativen Licht erscheinen lassen. Die großforma- gierungskoalition über Allgemeinplätze und wohlfeile tige Berichterstattung über Janukowitsch wird dagegen Appelle nicht hinauskommt. immer in positiven Tönen gehalten und mit seinen Leis- Ich bedaure, dass wir den in uns gesetzten Hoffnun- tungen im Amt des Ministerpräsidenten in Verbindung gen kaum gerecht werden, insbesondere den Hoffnungen gebracht. der sich herausbildenden Zivilgesellschaft. Auch bei der Anbringung der Wahlplakate kann von Ich bedaure, dass wir zu keinem konkreten Handeln einer Chancengleichheit der Kandidaten keine Rede und Helfen finden, dass wir aus den erschreckenden Er- sein. In seinem letzten Bericht stellt das Wählerkomitee eignissen in Belarus keine Konsequenzen ziehen. einen massiven Einsatz der staatlichen Stellen bei der Werbung für den amtierenden Ministerpräsidenten fest. Mehr wäre möglich, mehr wäre notwendig, auch in Insbesondere die staatlichen Eisenbahnen und der Ren- einem wohlverstandenen nationalen Interesse Deutsch- tenfonds würden offen für Janukowitsch Wahlwerbung lands. betreiben. Vor diesem Hintergrund möchten wir – ich denke, da spreche ich nicht nur für meine Fraktion – Claudia Nolte (CDU/CSU): Über alle Fraktionsgren- dringend die Verantwortlichen in der Ukraine aufrufen, zen hinweg besteht Einigkeit darüber, dass wir den Prä- alles zu tun, um solche Vorfälle auszuräumen, den Kan- sidentschaftswahlen am 31. Oktober dieses Jahres in der didaten gleiche Chancen einzuräumen und vor allem al- Ukraine eine große Bedeutung beimessen. Vor allem les dafür zu tun, dass die Wahlen selbst frei von jeglicher (B) glauben wir alle, dass demokratische, faire und freie Manipulation sind. Das heißt, es muss sichergestellt wer- (D) Wahlen für dieses europäische Land von grundlegender den, dass die Wahlkommissionen demokratisch und un- Bedeutung für seine Entwicklung sind. Ich füge hinzu: abhängig zusammengesetzt sind und dass die Stimmen- Dies ist nicht nur für die Ukraine, sondern für die ge- auszählung genau kontrolliert werden kann. Da wohl samte Region und auch für die EU wichtig. Ein starkes davon ausgegangen werden kann, dass Stichwahlen demokratisches Land hat nämlich auch Ausstrahlung auf stattfinden werden, besteht auch jetzt noch für die die Nachbarstaaten, gerade ein Land wie die Ukraine mit Ukraine die Chance zu beweisen, dass sie es ernst meint seiner Größe und seinen Potenzialen. Ein schwaches und mit dem Bekenntnis zu einem freiheitlichen und demo- undemokratisches Land hat entsprechend ebenfalls einen kratischen Staat. Einfluss auf die Umgebung. Der Antrag meiner Fraktion konzentriert sich absicht- Da die Ukraine ein direkter Nachbar der EU ist, haben lich auf die Präsidentschaftswahlen. Diese Wahlen stel- wir Europäer selbstverständlich ein großes Interesse an len die Weichen für den Weg, den die Ukraine in den einer demokratischen Entwicklung in diesem Land. Das nächsten Jahren gehen wird. Das bedeutet, diese Wahlen ist nicht nur um unser selbst Willen so, sondern natürlich werden in gewisser Weise auch darüber entscheiden, wie auch wegen der Menschen dort, die es verdient haben, sich die Beziehungen zwischen unseren Ländern, aber dass sie in einem freien Land an einer guten Entwick- auch zwischen der Ukraine und der EU gestalten wer- lung mitwirken können. den. Vor diesem Hintergrund schien es uns angemessen, für weiter gehende Überlegungen und Maßnahmen den Wenn nun zwei Anträge eingebracht wurden, die sich Ablauf und Ausgang der Wahlen abzuwarten. Vielleicht mit den bevorstehenden Wahlen in der Ukraine ausei- müssen wir viel grundlegender über unsere Beziehungen nandersetzen, dann ist das nicht ohne Grund geschehen. und über weitere Schritte nachdenken. Diese Schritte Was sich dort in den letzten Wochen ereignet, macht uns sind sowohl in die eine als auch in die andere Richtung sehr besorgt. Zu viel deutet darauf hin, dass von admi- denkbar. nistrativer Seite Einfluss auf die Wahlen genommen wird, dass man nicht von Fairness sprechen kann. Nach Der Koalitionsantrag ist aus unserer Sicht recht un- Aussage von Mykola Kateryntschuk, Abgeordneter der präzise und lässt wesentliche Aspekte außen vor. Der Fraktion „Nascha Ukraina“ und Leiter des juristischen erste und wichtigste Punkt ist doch die Frage: Wie halten Dienstes des Wahlstabs von Viktor Juschtschenko, sind wir es mit der Annäherung der Ukraine an die EU und ihm bereits mehr als 2000 Verstöße gegen das Wahlge- mit der Perspektive einer EU-Mitgliedschaft der setz gemeldet worden. In mehr als 150 Fällen urteilten Ukraine? In der letzten Debatte zu diesem Thema am die Gerichte bereits zugunsten der Kläger. Diese Be- 30. September dieses Jahres hatte ich diesen Punkt 12140 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) ausdrücklich angesprochen, weil ich es falsch finde, dass den. Auslöser seiner Gesundheitsprobleme ist angeblich (C) wir uns um dieses Thema herummogeln. Wenn wir im- und möglicherweise ein Vergiftungsversuch. Die Ärzte mer wieder sagen, erstmal müsse sich die Ukraine erklä- in Wien konnten den Vorwurf einer Vergiftung weder be- ren und ihren Willen zeigen, dass sie überhaupt diese stätigen noch ausschließen. Nach seiner Entlassung aus Annäherung wolle, dann hat das oft den Unterton: „Bitte dem Krankenhaus sah Juschtschenko laut Associated erklärt dies nicht zu schnell und nicht zu deutlich!“ Press „um Jahre gealtert aus. Er war abgemagert und teilweise gelähmt, das Gesicht war rot und geschwol- Auch im Nachbarschaftskonzept der EU ist impli- len.“ ziert, dass wir gegenüber den Nachbarstaaten einen Sta- tus errichten, der eine entsprechende Distanz sicherstellt. Juschtschenkos Kontrahent, der amtierende Premier- Es wird nicht unterschieden, ob es sich um Länder han- minister Wiktor Janukowitsch ist am 24. September delt, für die eine Mitgliedschaft in der EU von vornhe- – angeblich von einem politischen Gegner – durch ein rein nicht in Frage kommt, oder ob es sich um Länder Wurfgeschoss verletzt worden. handelt, bei denen dies prinzipiell denkbar ist. Ich Am 17. Oktober hatte die Polizei an den Straßen, die glaube, allen ist dabei klar, dass das keine Frage für ins Zentrum der Hauptstadt Kiew führen, Sperren und heute oder morgen ist. Die Frage ist nur, ob es richtig ist, Kontrollpunkte errichtet, um die Teilnahme von Studen- generell zu signalisieren: „Für euch gibt es diese Per- ten an einer Wahlkampfveranstaltung für Juschtschenko spektive nicht!“ zu behindern. Einige Studenten sagten laut Associated Der Koalitionsantrag macht es sich dementsprechend Press, sie seien von Polizisten geschlagen worden, an- einfach, indem er gar nichts zu diesem Thema sagt. Aber dere berichteten von massivem Druck seitens der Uni- nichts sagen sagt auch etwas! Der Antrag ist auch hinrei- versitätsverwaltungen, nicht an der Demonstration teil- chend unscharf bei der Nennung konkreter Maßnahmen. zunehmen. Ein Student sagte, er sei wegen seiner Es ist unseres Erachtens zu früh, um sich zu diesem Zeit- politischen Überzeugung von der Universität verwiesen punkt auf bestimmte Einzelheiten festzulegen. Aber worden. wenn schon Dinge wie das Transformprogramm ange- Am 19. Oktober, also vorgestern, kam es zu einem sprochen werden, dann sollte man schon konkreter wer- Sprengstoffanschlag auf ein Büro einer Wiktor den, in welcher Weise man sich den Anschluss vorstellt, Juschtschenko nahe stehenden Organisation in Lwiw. wenn das Programm 2005 ausläuft. All diese Einzelereignisse zusammengenommen zeu- Nach meiner Einschätzung war das Programm erfolg- gen von einer äußerst angespannten Situation in der reich. Deshalb macht es Sinn, sich darum zu bemühen, Ukraine, Mit zusätzlicher Sorge erfüllt uns die einseitige dass eine Fortführung, gegebenenfalls mit Anpassungen, Berichterstattung in den elektronischen Medien, die ein- (B) sichergestellt wird. In diesem Punkt sollten Sie meines deutig für den amtierenden Premierminister Einfluss auf (D) Erachtens fordernder sein. Ob der Aktionsplan oder das die Wahlen nehmen. Wir rufen daher alle am ukraini- Kooperationsabkommen der richtige Ort ist oder nicht schen Präsidentschaftswahlkampf beteiligten Seiten doch besser ein eigenes Programm angemessener wäre, dringend auf, ihre Wahlkampagnen im Interesse des finde ich diskussionswürdig. eigenen Landes demokratisch, fair und gewaltlos zu füh- ren. Für einen guten Ansatz hielte ich es, wenn wir ge- meinsam mit unseren polnischen Nachbarn überlegen, Die Erfahrungen der vergangenen ukrainischen Präsi- wie sich das Verhältnis zur Ukraine entwickeln soll. Die dentschafts- und Parlamentswahlen lassen erhebliche Bundesregierung ist diesbezüglich mit der polnischen Wahlfälschungen befürchten. Wir rufen die ukrainische Regierung im Gespräch. Ich frage mich allerdings, wa- Regierung und staatliche Strukturen auf, auf Wahlemp- rum dies nicht auch Erwähnung im Antrag der Koalition fehlungen zu verzichten und appellieren an die staatliche findet. Wahlkommission sowie internationale Beobachter, alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um Wahlen nach In meiner Rede zur Einbringung unseres Antrages demokratischen Standards zu ermöglichen. hatte ich angeregt, dass wir einen gemeinsamen Antrag verabschieden sollten. Die Reaktion auf der Seite der Es muss allen für die Wahl Verantwortlichen klar Koalition war so, dass ich recht optimistisch war, das sein, dass nicht nur das Wahlergebnis, sondern auch die hinzubekommen, gerade wegen der Bedeutung und we- Art und Weise, wie es zustande kommt, für das Image gen unserer Einigkeit in der Sache. Von daher finde ich der Ukraine in Europa, für das Vertrauen zur Ukraine es schade, dass keiner von der Koalition auf uns zuge- und für die Enge zukünftiger Beziehungen zur Ukraine kommen ist. Deswegen werden wir selbstverständlich von entscheidender Bedeutung ist. unserem Antrag zustimmen und den Koalitionsantrag In diesen Tagen ist die erschreckende Entwicklung im aus den genannten Gründen ablehnen. ukrainischen Nachbarstaat Belarus aufgrund der repres- siven Maßnahmen des autoritären Lukaschenko-Re- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gimes gegenüber oppositionellen Demonstranten erneut Wir sehen den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Das Bei- in der Ukraine am 31. Oktober bzw. 21. November mit spiel Belarus zeigt, wozu das Ignorieren demokratischer großer Sorge entgegen. Präsidentschaftskandidat Wiktor Standards im Extremfall führen kann: zu einem Regime, Juschtschenko musste seinen Wahlkampf aufgrund einer das Freiheit und Menschenrechte mit Füßen tritt, und das rätselhaften Erkrankung vom 10. September bis zum ein Land in die komplette außen- und handelspolitische 10. Oktober unterbrechen, um in Wien behandelt zu wer- Isolation führt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12141

(A) Darüber hinaus liegt es auch in unserem und im ge- haften Kooperation mit der Europäischen Union interes- (C) samteuropäischen Interesse, eine demokratische, poli- siert ist. tisch eigenständige und wirtschaftlich starke Ukraine als engen Partner und guten Nachbarn an unserer östlichen EU-Grenze zu haben. Das ermöglicht mehr Zusammen- Anlage 6 arbeit und eine weitere Intensivierung der staatlichen und der zivilgesellschaftlichen Beziehungen. Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Harald Leibrecht (FDP): Vergangenes Wochenende Neuregelung der präventiven Telekommunika- konnten wir im Nachbarstaat der Ukraine, in Weißruss- tions- und Postüberwachung durch das Zollkri- minalamt (NTPG) (Tagesordnungspunkt 17) land, eine absolute Wahlfarce erleben: Wahlbeobachter wurden von der örtlichen Polizei aus den Wahllokalen geworfen. Wahlzettel wurden Presseberichten zufolge Joachim Stünker (SPD): Der vorliegende Entwurf schon im Vorfeld mit Ja ausgefüllt. Wählerregistrierun- ist bereits das zweite Vorhaben am heutigen Tage, das gen sind in den Lokalen nicht erfolgt, sodass leicht zu- sich mit der Telekommunikationsüberwachung beschäf- sätzliche Stimmzettel hinzugefügt werden konnten. Aus tigt. Im vorliegenden Fall hat uns das Bundesverfas- Sicht russischer Wahlbeobachter wurde jedoch nichts sungsgericht aufgegeben, einige Vorschriften im Undemokratisches entdeckt. Diese Einschätzung zeigt, Außenwirtschaftsgesetz wegen verfassungsrechtlicher dass Russland im Gegensatz zu uns andere Maßstäbe an Probleme neu zu fassen. Wie ich schon in meiner Rede ein demokratisches Verfahren setzt. Solche Maßstäbe zur Verlängerung der §§ 100 g und 100 h der Strafpro- dürfen nicht auf die Ukraine übertragen werden. Die zessordnung erwähnte, planen wir seit einiger Zeit eine Bundesregierung muss in den verbleibenden Tagen bis Gesamtreform der Vorschriften über die Telefonüberwa- zur Präsidentschaftswahl in der Ukraine all ihren Ein- chung. Im letzten Jahr wurde dazu ein Gutachten des fluss geltend machen, dass die Wahlen in der Ukraine Max-Planck-lnstituts vorgelegt. Das Gutachten enthält fair und frei ablaufen. Ukraine darf nicht zu einem zwei- eine rechtstatsächliche Untersuchung über die Anwen- ten Weißrussland werden. dung der entsprechenden Vorschriften der StPO. Nach- dem das Gutachten nun ausgewertet werden konnte, Dies beziehe ich nicht nur auf die bevorstehende kommen wir einer umfassenden Reform näher, da wir Wahl, sondern auch auf das allgemeine politische und detailliertere Maßgaben haben, wo in der Praxis Pro- gesellschaftliche Klima in der Ukraine. Von meiner letz- bleme liegen bzw. was verbessert werden kann und soll. ten Reise in die Ukraine vor wenigen Wochen konnte ich Die Vorschriften der §§ 100 ff. sind in sich nicht stim- (B) als Ergebnis mitnehmen, dass die Ukraine trotz Schwä- mig. Aus diesem Grund ist es notwendig, das Gesamt- (D) chen, zum Beispiel was die Medienfreiheit, den Umgang system der Telefonüberwachung wie aber auch der mit der Opposition und die Bekämpfung der Korruption Wohnraumüberwachung zu überdenken und einander anbetrifft, auf dem richtigen Wege ist. Um von diesem anzupassen. Die Gesamtreform wird also in naher Zu- Weg nicht abzukommen, ist es wichtig, dass die Ukraine kunft anstehen. stärker an die Europäische Union gebunden wird. Der Wichtig für die anstehende Reform sind auch ver- EU-Aktionsplan mit der Ukraine kann ein erster Meilen- schiedene Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die stein in diese Richtung werden. Dadurch könnte die uns ebenfalls wichtige Hinweise für die Ausgestaltung Ukraine zu einem verlässlichen Partner für Europa wer- einzelner Vorschriften liefern. Im vorliegenden Fall hat den. das Bundesverfassungsgericht die Geltungsdauer der Vorschriften im Außenwirtschaftsgesetz bis zum 31. De- Die FDP-Fraktion bedauert, dass es vom Deutschen zember dieses Jahres als hinnehmbar bezeichnet. Diese Bundestag kein eindeutiges und vor allem geschlossenes Frist hat der Gesetzgeber selbst vorgegeben. Wir sind Signal an die Ukraine zur Wahl geben wird. Ähnlich wie jetzt dazu angehalten, bis zum Ende des Jahres verfas- vor den Parlamentswahlen in Weißrussland konnten sich sungskonforme Vorschriften vorzulegen und in Kraft zu die Regierungskoalition und die Union nicht auf einen setzen, damit uns dieses Ermittlungsinstrumentarium gemeinsamen Antrag einigen. Aus unserer Sicht wäre auch weiterhin zur Verfügung steht. Wir können also ein interfraktioneller Antrag gut gewesen, weil ein sol- – wie auch bei den Vorschriften der §§ 100 g und 100 h cher der Ukraine gezeigt hätte, wie wir zu diesem Land StPO – nicht auf die Reform des Gesamtsystems warten. stehen. In den beiden genannten Einzelfällen ist nunmehr ra- Die FDP stimmt mit der Zielrichtung des vorliegen- sches Handeln angesagt. den Antrages von SPD und den Grünen überein. Jedoch Die bemängelten Vorschriften des Außenwirtschafts- ist es bis zur Präsidentschaftswahl in einer Woche ziem- gesetzes betreffen die Telefonüberwachung durch das lich knapp, die Forderungen umzusetzen. Ich denke hier Zollkriminalamt. Dieses soll die Möglichkeit haben, zur weniger an die Bundesregierung, sondern mehr an die Verhütung von Straftaten nach dem Außenwirtschaftsge- Ukrainer. Aus diesem Grund verstehen wir den Antrag setz und dem Kriegswaffenkontrollgesetz den Postver- von Rot-Grün als Signal nach dem Motto: Nach der kehr und die Telekommunikation zu überwachen. Die Wahl ist vor der Wahl. Die dann neu gewählte Führung Straftaten befinden sich also in diesen Fällen noch in der sollte das Signal des Westens verstehen und vertrauens- Planung, es geht um Vorbereitungshandlungen der Ver- bildende Maßnahmen schaffen, wenn sie an einer ernst- dächtigen. Das Problem liegt insbesondere darin, dass 12142 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) das Abhören der Telekommunikation an ein Verhalten Neuregelung der präventiven Telekommunikations- und (C) anknüpfen könnte, das sich im Nachhinein als nicht Postüberwachung aus dem AWG herauslösen und statt- strafbar herausstellt. Es sind also – wie bei der Strafver- dessen in einem gesonderten Abschnitt des Zollfahn- folgung – auch bei der Straftatenverhütung die gleichen dungsdienstgesetzes als die dortigen §§ 23 a bis 23 f ver- rechtsstaatlichen Erfordernisse an eine Eingriffsnorm zu ankern will. stellen. Es ist jedoch sehr wichtig, auch im Vorfeld von Straftaten eine solche Ermittlungsmöglichkeit zu haben. In der Telekommunikations-Überwachungsverord- Das Bundesverfassungsgericht widerspricht dieser An- nung sollen dementsprechend die Verweise auf das nahme nicht. Es ist der Entscheidung zu entnehmen, dass AWG durch Verweise auf das ZFdG ersetzt werden. Ma- das Gericht eine solche präventive Überwachungsmög- teriell-rechtlich soll insbesondere der Begriff der Pla- lichkeit als grundsätzlich zulässig erachtet. nung einer Straftat durch den gebräuchlicheren Begriff der Vorbereitungshandlung ersetzt werden. Außerdem Mit dem vorliegenden Entwurf wird den Einwendun- sollen die Überwachungsbefugnisse nicht mehr an den gen des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen. unbestimmten Rechtsbegriff der „Straftaten von erhebli- Die bemängelten, teilweise unverständlichen Verweisun- cher Bedeutung“ anknüpfen; stattdessen ist eine enume- gen der geltenden Vorschriften werden zukünftig ver- rative Aufzählung der relevanten Straftatbestände vorge- mieden. Die Vorschriften werden eindeutiger und umfas- sehen. sender geregelt. Die Vorschriften umschreiben nun auch – wie gefordert und bisher nicht eindeutig geregelt – die Des Weiteren werden die Vorgaben, die das Zollkri- möglichen konkreten Hinweise auf die Vorbereitung von minalamt bei der Übermittlung personenbezogener Da- Straftaten. Erwähnt sei hier einmal exemplarisch das ten, die durch die Überwachungsmaßnahmen erlangt Führen von Verhandlungen über die Lieferung von Gü- wurden, an andere öffentliche Stellen beachten muss, tern oder das Anwerben von Tatteilnehmern. Vor allem konkretisiert, wobei namentlich eine Kennzeichnungs- auch die durch das Gericht bemängelten Maßgaben zur pflicht vorgesehen wurde, um auch bei der späteren Ver- Übermittlung der erhaltenen Daten werden nach den arbeitung die Einhaltung des besonderen Schutzniveaus Vorgaben konkretisiert. Es wird auch eine Protokollie- des Fernmeldegeheimnisses zu ermöglichen. rungspflicht für die Übermittlungen geben. Die Ermäch- Zugleich soll durch das NTPG für die präventive tigungsgrundlage selbst wird außerdem direkt in das Überwachung durch den Zoll, aber auch für die repres- Zollfahndungsdienstgesetz eingefügt. Dieses Gesetz ist sive Telekommunikationsüberwachung nach den §§ 100 a, erst 2002 in Kraft getreten und erlaubt nunmehr eine 100 b der Strafprozessordnung (Art. 4 NTPG) normiert Standortänderung. werden, dass in einer Überwachungsanordnung statt der Rufnummer oder einer anderen Kennung des Telekom- (B) Wir schaffen mit diesem Entwurf neue, verfassungs- (D) konforme Vorschriften und kommen so den Vorgaben munikationsanschlusses auch die Kennung des Endgerä- des Bundesverfassungsgerichtes nach. Ich möchte je- tes angegeben werden kann – gemeint ist damit in erster doch noch einmal ausdrücklich betonen, für wie wichtig Linie die elektronische Gerätekennung von Mobiltelefo- ich es erachte, dass wir uns mit dem gesamten System nen. der Telefonüberwachung wie auch der Wohnraumüber- Hier befindet sich auch die erste Schwachstelle des wachung in allen Bereichen dezidiert auseinandersetzen. Gesetzes. Aus technischer Sicht sind die Gerätekennun- gen der Mobilfunkendgeräte nicht für Überwachungs- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Die Anfor- maßnahmen geeignet. Für eine solche Maßnahme ist derungen an eine wirksame und nachhaltige Kriminali- eine eindeutige Kennung, zum Beispiel eine Rufnum- tätsbekämpfung durch den Zollfahndungsdienst haben mer, erforderlich. Da zwei Anschlüsse nicht mit dersel- sich aufgrund der Verwirklichung des Binnenmarktes ben Rufnummer belegt werden können, lässt sich an- und der immer häufiger anzutreffenden Erscheinungs- hand einer Rufnummer die Kommunikation nur eines formen der organisierten Kriminalität grundlegend geän- genau definierten Telefonanschlusses überwachen. dert. Diesen neuen Herausforderungen muss Rechnung getragen werden. In der Praxis ist die Identifizierung von IMEI-Num- mern, also von elektronischen Gerätekennungen der Mo- Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zur Neure- bilfunkgeräte, nicht zielführend, da dieselbe IMEI viel- gelung der präventiven Telekommunikations- und Post- fach vorkommen und vom Nutzer verändert werden überwachung durch das Zollkriminalamt werden die kann. Das liegt zum einen daran, dass schon die Geräte- Konsequenzen aus der Entscheidung des Bundesverfas- hersteller dieselbe Nummer mehreren Geräten zuweisen. sungsgerichts vom 3. März 2004 gezogen, in der das Ge- Zum anderen ist eine IMEI elektronisch veränderbar und richt die §§ 39 und 41 des Außenwirtschaftsgesetzes nicht physisch fest mit dem Gerät verbunden. Mittels im (AWG) wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Nor- Internet frei verfügbarer Programme ist es sogar dem menbestimmtheit und -klarheit für unvereinbar mit dem Laien ohne weiteres möglich, die IMEI des Gerätes grundrechtlichen Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 GG nachträglich zu verändern. erklärt hatte. Darüber hinaus ist es bei Mobiltelefonen auch mög- Die Bundesregierung wurde darin aufgefordert, bis lich, die Endgeräte ohne SIM-Karte, also unter Wechsel zum 31. Dezember 2004 die Vorschriften durch verfas- der Rufnummer, privat zu veräußern, wobei die IMEI- sungskonforme Bestimmungen zu ersetzen. Mit dem Kennung grundsätzlich nach wie vor unverändert beste- NTPG ist nun ein Artikelgesetz vorgesehen, das die hen bleiben kann. Würde nun eine Überwachung auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12143

(A) Basis der IMEI erfolgen, so könnte im Falle eines Eigen- wachung als nicht ausreichend anerkannt worden. Das (C) tümerwechsels ein unbescholtener Bürger grundlos und neue Telekommunikationsgesetz (TKG) bestimmt daher damit rechtswidrig überwacht werden. in § 110 Abs. 9, dass generell eine angemessene Ent- schädigung der verpflichteten Unternehmen in einer ge- Aber selbst wenn man die Überwachung an der Ruf- sonderten Verordnung geregelt werden müsse. Dieser nummer ausrichtet, dann können im Mobilfunkbereich Widerspruch muss beseitigt werden. Wir können es uns dennoch Probleme auftreten. Zwar ist bei Kartenverträ- nicht – auch nicht im Namen der Sicherheit – leisten, die gen eine Rufnummer eindeutig einer bestimmten Person Kosten der Aufgaben, für die die öffentliche Hand origi- zugeordnet, doch was ist mit so genannten Prepaid-Kar- när zuständig ist, auf die Privatwirtschaft abzuwälzen. tenhandys? Hier kann theoretisch ohne Probleme eine Rufnummer mit dem Mobiltelefon mitverkauft werden. Ich glaube, dass alle Telekommunikationsunterneh- In diesem Fall wäre also sogar bei einer Anknüpfung der men willens sind, an der Umsetzung des Urteils mitzu- Überwachung an die Rufnummer Eindeutigkeit nicht wirken und alles Erforderliche und in ihrer Macht ste- mehr gegeben. hende zu unternehmen, um die Arbeit des Solange also keine eindeutige Identifizierung möglich Zollkriminalamtes zu unterstützen. Diese Bereitschaft ist, würden bei einer darauf bezogenen Überwachung sollten wir nutzen, um gemeinsam den effizientesten entsprechend viele Nutzer ohne Rechtsgrund abgehört. Weg bei der Erfüllung dieser Aufgabe zu gehen. Dies widerspricht in eklatanter Weise unserem Rechts- verständnis und wäre mit dem Urteil des Bundesverfas- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sungsgerichts nicht vereinbar. Der Gesetzentwurf NEN): Kaum einer weiß es: Nicht nur die Polizei und die schlägt also eine unpraktikable und sinnlose Maßnahme deutschen Geheimdienste sondern auch der Zoll – ge- vor. Dabei kann es beim besten Willen nicht bleiben. nauer: das Zollkriminalamt – dürfen in Deutschland Te- lefone der Bürgerinnen und Bürger abhören und die Ge- Deshalb ist es unumgänglich, die entsprechenden spräche aufzeichnen sowie die Post öffnen und Vorschriften, mit denen eine Überwachung anhand einer kontrollieren. Gerätenummer eingeführt werden soll, zu streichen. Das betrifft in Art. 2 des Entwurfes den § 23 b Abs. 4 Satz 2 Allerdings muss ich betonen, entgegen landläufiger Zollfahndungsdienstgesetz und in Art. 4 den § 100 b Auffassung sind es keineswegs die Geheimdienste und StPO. Soll dennoch eine Post- und Kommunikations- ist es schon gar nicht das Zollkriminalamt, die diese überwachung zur Kriminalitätsprävention unter Beach- Möglichkeit ausufernd nutzen, sondern die Strafermitt- tung der Grundrechte der Betroffenen erfolgen, so muss lungsbehörden. Hier steigen die Zahlen immer höher. hier eine andere, verfassungskonforme Überwachungs- Zweistellige Zuwachsraten jährlich sind zu verzeichnen. (B) methode herangezogen werden. Das Zollkriminalamt macht nur in sehr bescheidenem (D) Verbesserungsbedürftig ist auch die Entschädigungs- Maße von seinen Befugnissen Gebrauch. In dem Jahr- regelung in Art. 2 des Gesetzentwurfes, der eine mini- zehnt von 1992 bis heute waren es nur 41 Maßnahmen. male Entschädigung nach dem Justizvergütungs- und Heute geht es um diese Befugnisse des Zollkriminal- Entschädigungsgesetz vorsieht, die die hohen Kosten, amtes zur Überwachung des Post- und Fernmeldever- die den Telekommunikationsunternehmen durch dieses kehrs. Das Amt durfte und darf abhören, um Verstöße Gesetz zusätzlich hoheitlich aufgebürdet werden, bei gegen das Außenwirtschaftsgesetz aufzuklären. Es geht weitem nicht ausgleicht. Anstatt die Wirtschaft mit wei- um illegale Ausfuhr von Kriegswaffen, um Güter unter teren Zusatzkosten zu belasten, die die internationale anderem zur Herstellung von chemischen, biologischen Konkurrenzfähigkeit deutscher Telekommunikationsun- oder Atomwaffen und um so genannte Dual-Use-Güter, ternehmen massiv negativ beeinträchtigen, sollten wir das heißt um solche, die verschiedenen Zwecken dienen die heimische Wirtschaft durch Entlastungen fördern. Zu können, aber auch im Zusammenhang mit solchen Waf- beachten ist bei der Entschädigungsregelung daher die fen Verwendung finden. bereits bei den Verhandlungen zum Telekommunika- tionsüberwachungsgesetz getroffene Vereinbarung, die Bisher war die Überwachung der Post und des Tele- Telekommunikationsunternehmen angemessen zu ent- fons von juristischen und natürlichen Personen in solchen schädigen. Wir sollten uns hier nicht in Widerspruch zu Fällen auf die §§ 39 ff. des Außenwirtschaftsgesetzes ge- den bereits erfolgten Einigungen setzen und uns am stützt. Das Bundesverfassungsgericht hatte wesentliche Telekommunikationsüberwachungsgesetz orientieren. Teile dieser Vorschriften aber im März diesen Jahres für Zusätzliche übermäßige Kosten müssen entschieden ver- verfassungswidrig erklärt. Ab Ende des Jahres darf sie mieden werden. nicht mehr angewandt werden. Deshalb sollen die neuen gesetzlichen Vorschriften rasch verabschiedet werden. Die vorgeschlagene Entschädigungsregel stellt also zu- Sie stehen jetzt in einem anderen Gesetz: als §§ 23 a bis treffend fest, dass geschäftsmäßige Anbieter von Post- 23 f im Zollfahndungsdienstgesetz. und Telekommunikationsdiensten für ihre Mitwirkung an der Überwachung zu entschädigen sind. Mit marginalen Der Gesetzentwurf versucht, den Vorgaben des Ver- Veränderungen schreibt das JVEG die Entschädigungs- fassungsgerichts Rechnung zu tragen. Dieses hatte unter sätze des Zeugen- und Sachverständigenentschädigungs- anderem gefordert: Hinreichender Rechtsschutz für gesetzes fort. Die darin festgehaltenen Entschädigungs- sämtliche Betroffenen ist sicherzustellen. Anlass, Zweck bestimmungen sind jedoch bereits bei der Novellierung und Grenzen des Eingriffs müssen in der Ermächtigung des TKG für den Bereich der Telekommunikationsüber- bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt 12144 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) werden. Die Ermächtigung muss erkennen lassen, bei denen Zollfahnder zur Verhütung von Straftaten umfas- (C) welchen Anlässen und unter welchen Voraussetzungen send die Telekommunikation überwachen und Post öff- ein Verhalten zu einer Überwachung führen kann. Die nen dürfen. Regelung darf anders als bisher nicht unbestimmt und unklar werden, durch ein Zusammenwirken verschiede- Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ver- ner Tatbestandsmerkmale sowie einer große Zahl von sucht die Bundesregierung, die Maßgaben des Bundes- Verweisungen auf andere Normen. Diesen Anforderun- verfassungsgerichts aus dem Urteil zum Abhören von gen wird der Regierungsentwurf weitgehend gerecht. Telefonen durch das Zollkriminalamt umzusetzen. Bei der akustischen Wohnraumüberwachung ist der Bundes- Aber im Gesetzgebungsverfahren sollten noch einige regierung bereits ein erster Versuch zur Umsetzung des Ergänzungen zugefügt werden, denn auch andere Ent- Urteils schwer missglückt. Erst im zweiten Anlauf ist es scheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Über- gelungen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Vor- wachen von Telefonen und Wohnungen aus der letzten gaben aus Karlsruhe tatsächlich berücksichtigt. Der Zeit, wie etwa die zum Großen Lauschangriff, und Be- heute vorliegende Gesetzentwurf scheint ein ähnliches denken des Datenschutzbeauftragten sind noch zu be- Schicksal zu nehmen. rücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil So müssten Äußerungen aus dem Bereich der ganz ausgeführt, dass die angegriffenen Ermächtigungsgrund- privaten Lebensgestaltung von der Aufzeichnung und lagen gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßen. Auf- Nutzung ausgenommen werden. grund der Intensität des Grundrechtseingriffs müsse ein zugrunde liegendes Gesetz präzise und verständliche Auch muss der Schutz der so genannten Berufsge- Grenzen ziehen, so das Gericht in seinem Urteil. Wenn heimnisträger gewahrt werden. Das Vertrauensverhältnis ich mir nun den vorliegenden Gesetzentwurf anschaue, von Ärzten, Verteidigern, Geistlichen und Journalisten, habe ich Bedenken, ob die Regelungen, die die Bundes- also der Personen die nach § 53 StPO ein Zeugnisver- regierung vorsieht, den Anforderungen an die Normen- weigerungsrecht haben, muss geschützt bleiben, wenn bestimmtheit und Normenklarheit tatsächlich gerecht sie nicht selbst zu den Tatverdächtigen gehören. Auch ist werden. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur die nicht einzusehen, warum zwar die Post von Abgeordne- Vorschrift des § 23 a des Gesetzentwurfs, der auf eine ten nicht geöffnet, aber ihr Telefon abgehört und die Ge- Vielzahl von Vorschriften verweist, die jederzeit geän- spräche mitgeschnitten werden dürfen. dert werden können. Darüber hinaus bestehen aus Sicht Auch ist sicherzustellen, dass Erkenntnisse aus der der FDP Bedenken gegen die Einführung einer IMEI- Überwachung an andere Stellen nur weitergegeben wer- Überwachung. Der Entwurf übernimmt die IMEI-Gerä- (B) den dürfen, wenn sichergestellt ist, dass diese nicht x-be- tekennung eines Mobilfunktelefons bedenkenlos auch (D) liebig genutzt werden, sondern nur für Zwecke, für die für die Überwachung eines mobilen Telefons. Dabei sie auch vom Zollkriminalamt erhoben werden durften. wird verkannt, dass nicht ausgeschlossen werden kann, Gerade bei ausländischen Empfängern solcher Erkennt- dass eine IMEI mehrfach vergeben wird mit der Folge, nisse ist Vorsicht geboten und sind Sicherungen einzu- dass keine eindeutige Kennung erfolgen kann und somit bauen. zahlreiche unverdächtige Nutzer ohne Rechtsgrund ab- gehört werden. Problematisch ist auch die Entschädi- Auch ist abzugleichen, dass andere Normen zur Tele- gungsregelung für die Anbieter von Post- und Telekom- fonüberwachung, also die, die für die Polizei und die Ge- munikationsdiensten. Die FDP-Bundestagsfraktion war heimdienste gelten und die derzeit beraten werden oder immer der Auffassung, dass der Staat private Unterneh- zur Beratung anstehen, zu den Befugnisnormen für das mer angemessen zu entschädigen hat und die Kosten Zollkriminalamt passen und nicht im Widerspruch dazu vollständig zu tragen hat, wenn er von diesen die Über- stehen. Darüber wird in den Beratungen noch zu reden nahme staatlicher Aufgaben übernimmt. Dieses ist im sein. Nur weil wenig Zeit bleibt bis zum Jahresende, vorliegenden Gesetzentwurf nur unzureichend geregelt. wenn die bisherigen Vorschriften des AWG nicht mehr angewandt werden dürfen, konnte der Gesetzentwurf Im Ergebnis stelle ich fest, dass der Gesetzentwurf die schon jetzt ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht in ange- werden. Es bleibt also noch einiges zu tun. messener Weise umsetzt. Die Bundesregierung wird da- her nicht umhinkommen, die Schwachstellen des Ent- wurfs zügig auszubessern. Rainer Funke (FDP): Zu Beginn dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgericht in seiner aufsehen- erregenden Entscheidung zur akustischen Wohnraum- Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatsekretärin beim überwachung die Anordnungsvoraussetzungen in der Bundesminister der Finanzen: In der aktiven Umsetzung Strafprozeßordnung weit gehend für verfassungswidrig der auch von Deutschland eingegangenen internationa- erklärt, weil sie in unzulässiger weise in den Kernbe- len Verpflichtungen zur Nichtverbreitung insbesondere reich der Menschenwürde eingreifen. Wenig später von Massenvernichtungswaffen ist eine Ergänzung der folgte ein weiteres Urteil, das sich mit dem Abhören von repressiven Strafverfolgungsinstrumente durch Präven- Telefonaten durch das Zollkriminalamt beschäftigte. Mit tivmaßnahmen unverzichtbar. Nur durch die Nutzung Bezug auf das vorangegangene Urteil hat das Bundes- entsprechender Instrumente im Präventivbereich ist es verfassungsgericht auch hier die Regelungen des Außen- möglich, die unzulässige Ausfuhr sensibler Waren tat- wirtschaftsgesetzes für verfassungswidrig erklärt, nach sächlich zu verhindern. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12145

(A) Mit den heute geltenden Regelungen zur präventiven schungspflichten und fünftens Regelung einer Benach- (C) Telekommunikations- und Postüberwachung durch das richtigungspflicht aller von der Maßnahme Betroffenen. Zollkriminalamt in den §§ 39 ff. des Außenwirtschafts- gesetzes sind derartige Möglichkeiten geschaffen wor- Durch diese Regelungen wird den Geboten der Nor- den. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht mit sei- menbestimmtheit und Normenklarheit, wie vom Bun- nem Beschluss vom 3. März 2004 Teile dieser 1992 desverfassungsgericht gefordert, vor allem auch durch eingeführten Regelungen für verfassungswidrig erklärt. die Reduzierung von Verweisungsketten auf das unver- Die Fortführung der aktiven Verhinderung solcher Aus- meidbare Maß, Rechnung getragen. Gleichzeitig wird fuhren auch nach dem Beschluss des Bundesverfas- der Standort der Regelungen vom Außenwirtschaftsge- sungsgerichts muss jedoch weiterhin gewährleistet sein. setz in das Zollfahndungsdienstgesetz verlagert, da die Daher brauchen wir das vorliegende Gesetz. Befugnis zur präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung auch künftig nur dem Zollkriminalamt Ausgelöst durch die damaligen Zulieferungen deut- zustehen soll. Dessen Aufgaben und sonstigen Befug- scher Firmen zur libyschen Giftgasanlage in Rabta nisse sind detailliert in dem erst 2002 in Kraft getretenen wurde erkannt, dass es nicht ausreicht, die Täter nur Zollfahndungsdienstgesetz geregelt. nach erfolgter illegaler Ausfuhr zu bestrafen, also erst dann zu reagieren, wenn das Kind bereits in den Brun- Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nen gefallen ist. Denn dann ist der außenpolitische Scha- sind bei der gesetzlichen Neuregelung auch die Grund- den für die Bundesrepublik bereits irreparabel eingetre- sätze aus seinen Urteilen zum G-10-Gesetz sowie zur ten. Vielmehr ist es erforderlich, bereits die Lieferungen akustischen Wohnraumüberwachung zu berücksichtigen. solch hochsensibler Waren zu verhindern. Vor diesem Zur akustischen Wohnraumüberwachung erarbeitet die Hintergrund hat der Gesetzgeber die Möglichkeit einer Bundesregierung momentan ebenfalls einen Gesetzent- präventiven Telekommunikations- und Postüberwa- wurf. Wegen der besonderen Eilbedürftigkeit des vorlie- chung in diesem Bereich eröffnet. Diese Befugnis wurde genden Gesetzentwurfs – das Bundesverfassungsgericht allein dem Zollkriminalamt übertragen. sieht die derzeitige Regelung nur noch bis Ende dieses Jahres als hinnehmbar an – wurden bestimmte Grund- Bereits 1992, unmittelbar nach In-Kraft-Treten der sätze – bezogen auf den Eingriff in das jeweilige Grund- Regelungen, hatte sich das Land Rheinland-Pfalz mit ei- recht –, die für beide Gesetze Gültigkeit erhalten sollen, nem Normenkontrollantrag gegen die Regelungen aus- jedoch zunächst zurückgestellt. gesprochen. Mit seinem Beschluss vom 3. März 2004 hat das Bundesverfassungsgericht dem Antrag teilweise stattgegeben. Es beanstandet insbesondere die man- Anlage 7 gelnde Normenklarheit und Normenbestimmtheit der be- (B) troffenen Regelungen. Die Ermächtigung müsse erken- Zu Protokoll gegebene Reden (D) nen lassen, bei welchen Anlässen und unter welchen Voraussetzungen es zu Überwachungsmaßnahmen füh- zur Beratung: ren könne. Ferner wird eine Verletzung des Bestimmt- – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- heitsgebotes gerügt; es fehle an einer ausdrücklichen rung zur Situation des deutschen Güter- bzw. hinreichend sicheren Kennzeichnung der Emp- kraftverkehrsgewerbes im europäischen fangsbehörden und der Konzentrierung auf die jeweili- Wettbewerb gen Aufgabenbereiche. Das Instrumentarium der prä- ventiven Überwachungsmaßnahmen selbst wird jedoch – Beschlussempfehlung: Vorschlag für eine nicht infrage gestellt. Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestbedingungen für die Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass die Durchführung der Richtlinie 2002/15/EG so- Gründe, die 1992 zur Einführung der Befugnisregelun- wie der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 und gen geführt haben, heute mehr denn je gelten. Deshalb (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über Sozial- ist die Beibehaltung der präventiven Überwachungsmaß- vorschriften für Tätigkeiten im Kraftver- nahmen zur Verhinderung illegaler Ausfuhren hochsen- sibler Waren unverzichtbar. Der vorliegende Gesetzent- kehr wurf dient ausschließlich der Umsetzung der Vorgaben (Tagesordnungspunkte 18 a und b) des Bundesverfassungsgerichts. Die Kernpunkte der Neuregelungen sind: erstens Ein- Uwe Beckmeyer (SPD): Europa bricht auf. In den schränkung des Anwendungsbereichs auf wenige enu- 1960er-Jahren galten die USA als die neue Welt. Heute merativ aufgeführte Straftatbestände – diese Straftatbe- schauen Deutsche und Franzosen, Niederländer und stände betreffen insbesondere die Herstellung und Spanier nach Osteuropa. Zum 1. Mai ist die EU um zehn Entwicklung von Massenvernichtungswaffen sowie die Staaten gewachsen – eine größere Erweiterung hat die ungenehmigte Lieferung von Gütern zur Entwicklung Gemeinschaft nie gewagt. und Herstellung von Lang- und Mittelstreckenraketen –, zweitens Ersetzen des Begriffs „Planung“ durch den in Aufgrund seiner Lage im Zentrum Europas ist der Rechtssprache gebräuchlichen Begriff „Vorberei- Deutschland in besonderem Maße vom wachsenden tungshandlung“, drittens normenklare Festlegung der grenzüberschreitenden und vom Transitverkehr berührt. Eingriffsvoraussetzungen, viertens Konkretisierung der Für die Transport- und Logistikbranche in Deutschland Übermittlungsregelungen einschließlich der Vorgabe ist der Beitritt der zehn neuen Staaten ein zweischneidi- von Protokollierungs-, Kennzeichnungs- und Lö- ges Schwert: 12146 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Europa bietet Chancen. Insbesondere für Deutschland vignette entrichteten. Mit der Einführung der strecken- (C) wird ein kräftiges Wachstum des Straßengüterverkehrs bezogenen Maut für LKW ab 12 Tonnen zulässigem prognostiziert. Mit der Erweiterung der EU erschließt Gesamtgewicht werden sie nun zu einem gerechteren sich dem deutschen Transportgewerbe daher ein vergrö- Wegekostenbeitrag herangezogen. ßerter Markt. Und der Transportbedarf nimmt zu, weil die osteuropäischen Länder sich entwickeln. Schon die Damit verbunden ist – nach einer positiven Prüfung Deregulierung der nationalen und europäischen Märkte durch die EU-Kommission – die gesetzliche Zusage ei- hat in den vergangenen fünf Jahren zu einem umfassen- nes Harmonisierungsbeitrages in Höhe von 600 Millio- den Anpassungsprozess des Güterverkehrsgewerbes ge- nen Euro. führt, zu einem verbesserten Angebot, mehr Qualität, Nicht zu vergessen: die Entlastung des Mittelstandes mehr Produktivität und sinkenden Transportkosten. durch die Steuerreform der Bundesregierung. Die Europa bietet Risiken. Durch die Öffnung der euro- Steuer- und Abgabenbelastung der deutschen Transport- päischen Märkte sind die deutschen Transportbetriebe unternehmen wird durch diese von der rot-grünen Koali- mit steigendem Wettbewerbs- und Preisdruck durch tion eingeleiteten Maßnahmen spürbar sinken. Konkurrenten aus Mittel- und Osteuropa konfrontiert, Beim größten Kostenblock für deutsche Unterneh- die im Straßentransport ohnehin schon beträchtliche men, den Personalkosten, wird der Wettbewerbsvorteil Marktanteile gewonnen haben. Die Fahrer, die vor allem der osteuropäischen Anbieter auch in den kommenden aus Osteuropa stammen, erhalten Billiglöhne ohne jede Jahren bestehen bleiben, wenngleich sich die Löhne soziale Sicherung. So sparen die Betriebe erheblich an schrittweise dem Westniveau annähern dürften. Denn die Personalkosten und können den Verladern Dumping-An- niedrigere Produktivität in den osteuropäischen Staaten gebote vorlegen. Unternehmen in Deutschland sind von drückt sich eben auch in niedrigeren Löhnen für die Fah- diesem Lohnkostengefälle am stärksten betroffen. rer aus. Doch viele Probleme, vor denen das deutsche Trans- portgewerbe heute steht, sind hausgemacht: In den spä- Um gegen schwarze Schafe der Branche vorzugehen, ten 1980er- und 1990er-Jahren hat es die damalige die ihre Fahrer aus Wettbewerbsgründen unter schlech- Regierung verschlafen, ausreichende Maßnahmen zur ten Arbeitsbedingungen einsetzen, hat die Bundesregie- Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen im Ver- rung 2001 das Gesetz zur Verhinderung illegaler Be- kehrsbereich zu ergreifen. Das Transportgewerbe wurde schäftigung von Fahrern auf den Weg gebracht. Jedes ins kalte Wasser geworfen. Unternehmen mit Sitz in einem EU-Staat darf nur Fahrer einsetzen, die im Staat des Firmensitzes eine Arbeitsge- Heute, da die Öffnung der Verkehrsmärkte vollzogen nehmigung besitzen. Und auch die von der Europäischen (B) ist, sind die Harmonisierungsmaßnahmen auf europäi- Kommission vorgeschlagene Richtlinie des Rates über (D) scher Ebene sehr viel schwerer durchsetzbar als noch vor Sozialvorschriften für Tätigkeiten im Kraftverkehr setzt der Liberalisierung. Nationale Bemühungen sind hier hier an. Denn bei Straßenkontrollen fallen immer wieder häufig durch EG-Recht untersagt und Harmonisierungs- die gleichen Verstöße gegen die Fahrpersonalvorschrif- fortschritte auf dem Gebiet der Steuern wegen der wei- ten auf: Überschreitung der Lenkzeiten und Nichtein- terhin erforderlichen Einstimmigkeit innerhalb der EU haltung der Ruhezeiten. Die Kommission plant, die schwierig. Kontrollintensität europaweit von derzeit mindestens 1 Prozent der Fahrtage auf 3 Prozent in allen Mitglied- Trotzdem kann die Bundesregierung beachtliche Er- staaten zu erhöhen; mindestens 30 Prozent aller Kontrol- folge vorweisen: im fiskalischen Bereich und bei der len sollen auf der Straße sowie mindestens 50 Prozent Durchsetzung der Sozialvorschriften. der Kontrollen in den Betrieben durchgeführt werden. Mit der Energiesteuer-Richtlinie, die zum 1. Januar Zudem werden den Mitgliedstaaten koordinierende Kon- 2004 in Kraft getreten ist, wurde erstmals seit mehr als trollorgane vorgeschlagen. Wir begrüßen diese Initiative zehn Jahren europaweit eine Erhöhung der Mindest- der Kommission zur Durchsetzung der Sozialvorschrif- steuersätze auf Kraftstoffe durchgesetzt. Das ist ein ten ausdrücklich. umso größerer Fortschritt, als auch die Neumitglieder diese erhöhten Mindeststeuersätze übernehmen müssen. Europa – was bringst du uns? Mit der EU-Osterweite- rung wachsen sehr heterogene Verkehrsmärkte zusam- Für Frankreich und Italien, die bisher mit einer Rück- men. Daher bedarf es eines effektiven ordnungspoliti- erstattung der Mineralölsteuer die Bemühungen zur Har- schen Rahmens. Wir verfolgen eine Politik, die auf hohe monisierung der Wettbewerbsbedingungen untergraben Sicherheitsstandards und gleiche Wettbewerbsbedingun- haben, läuft die Frist zum Jahresende ab. In diesem Zeit- gen setzt. Denn nur wenn die Angleichung der Verkehrs- raum müssen beide Länder zudem den Umfang ihrer Er- märkte in West und Ost einheitlich und fair gestaltet stattungen um nahezu die Hälfte reduzieren. wird, kann das deutsche Transportgewerbe von der Er- Mit der LKW-Maut sorgt die rot-grüne Koalition da- weiterung der EU profitieren. für, dass die Wettbewerbsverzerrungen zulasten deut- scher Betriebe ausgeglichen werden. Bisher mussten Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Der Transport von deutsche Transporteure zum Teil erhebliche Gebühren Gütern mit dem LKW ist ein wesentlicher Bestandteil für die Benutzung ausländischer Straßen zahlen, wäh- des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Der Umsatz im rend ausländische Unternehmen in Deutschland nur eine gewerblichen Güterkraftverkehr beträgt pro Jahr circa vergleichsweise geringe Gebühr in Form einer Euro- 24 Milliarden Euro. Die Bedeutung des Straßengüterver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12147

(A) kehrs wird noch deutlicher, wenn man die Zahlen der be- Rot-Grün sieht auch in anderen Bereichen an den (C) förderten Tonnage mit denen bei der Bahn vergleicht. wirklichen Problemen vorbei. Liest man das Kapitel zur Von 3,5 Milliarden Tonnen Gesamttransport in ganz EU-Osterweiterung im vorliegenden Bericht, dann fin- Deutschland, befördern die Unternehmen des Güter- det man dort nur den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur kraftverkehrs 72 Prozent. Die Bahn liegt lediglich bei in den Beitrittsländern. Vom Ausbau der grenznahen und 16 Prozent. Die Bedeutung dieser Wirtschaftsleistung grenzüberschreitenden Straßen in den deutschen Grenz- für den Arbeitsmarkt ist erheblich. Im vergangenen Jahr regionen steht dort kein Wort. Unsere grenznahe Ver- beschäftigten über 42 600 Unternehmen des gewerbli- kehrsinfrastruktur ist auf die überproportionale Steige- chen Güterkraftverkehres mehr als 400 000 Arbeitneh- rung des Güterverkehrs nicht vorbereitet. Die Projekte merinnen und Arbeitnehmer. „EU-Osterweiterung“ im Bundesverkehrswegeplan ha- ben bis heute keine besondere Priorität. Rot-Grün hat es Die Zahlen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäu- verpasst, den deutschen Grenzraum umfassend auf die schen, in welch kritischer Lage sich das deutsche Trans- EU-Osterweiterung vorzubereiten. portgewerbe befindet. Viele Unternehmen leben schon seit Jahren mit ernsthaften Existenzängsten. Die Insol- Vor besonderen Herausforderungen steht daher das venzzahlen bei den Spediteuren haben sich seit 1999 fast Transportgewerbe in den Grenzregionen. Viele Unter- verdoppelt. Auf einen 40-Tonnen-LKW der Schadstoff- nehmen werden nur überleben können, wenn sie mit klasse 2 entfallen in Deutschland über 23 000 Euro Ab- kostengünstigeren Tochterfirmen oder Kooperations- gaben im Jahr. Das ist Spitzenklasse in Europa. Das partnern in den Beitrittsländern kalkulieren oder selbst deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe wird durch die fal- Standorte in den Beitrittsländern gründen. Die Bundes- schen nationalen Entscheidungen der rot-grünen Bun- regierung muss daher gerade in den Grenzregionen die desregierung im europäischen Wettbewerb benachteiligt. Übergangsfristen bei der Dienstleistungsfreiheit und bei Für die schwierige Lage dieser Branche trägt diese Bun- Kabotage wirksam kontrollieren und sanktionieren, um desregierung daher erhebliche Mitverantwortung. die dortigen Unternehmen zu unterstützen. Nicht zuletzt möchte ich die Bundesregierung hier Insbesondere für die kleinen und mittelständischen auch an ihre Versprechungen hinsichtlich umfangreicher Unternehmen ist die EU-Osterweiterung die zentrale He- Ausgleichsleistungen für das deutsche Transportge- rausforderung. Zu Recht betont die Bundesregierung in werbe aufgrund der Mauteinführung erinnern. Davon ist ihrem Bericht, dass die EU-Osterweiterung dem Güter- bis heute noch nichts realisiert. 600 Millionen Euro kraftverkehrsgewerbe neue Chancen eröffnet und einen Steuerrückvergütung wurden der Branche zugesagt. Die größeren Markt erschließt. Jedoch können die Unterneh- Bundesregierung muss auf EU-Ebene endlich mit Nach- men diese Chancen nur nutzen, wenn sie faire Wettbe- (B) druck handeln, um die dort bestehenden Probleme aus (D) werbsbedingungen vorfinden. Und genau daran mangelt dem Weg zu räumen. es. Die Öffnung der osteuropäischen Märkte hat den Wettbewerbsdruck auf die deutschen Speditionen deut- Die Bundesregierung steht gegenüber den Unterneh- lich erhöht. Das ist Tatsache. men des deutschen Güterkraftverkehrs in der Pflicht, auf eine wirkliche Harmonisierung der Wettbewerbsbedin- Nach Zahlen der Bundesregierung wird der grenz- gungen hinzuwirken. Dazu gehört die Dieselsteuer, die überschreitende Güterverkehr mit den mittel- und ost- Unterstützung der grenzüberschreitenden Zusammen- europäischen Ländern bis 2015 um 190 Prozent zuneh- arbeit und nicht zuletzt die wirksame Kontrolle und men. Leider wird dieses Transportwachstum fast ohne Sanktion der Übergangsregelungen bei Kabotage und deutsche Beteiligung stattfinden. Der Marktanteil deut- Dienstleistungsfreiheit. Vor allem aber muss die Bundes- scher Speditionen ist in den letzten Jahren bereits unter regierung ihre Versprechungen von Ausgleichsleistun- 10 Prozent gefallen. Maßgeblich dafür sind die beste- gen für das Transportgewerbe im Zuge der Mauteinfüh- henden Wettbewerbsverzerrungen und Wettbewerbsdif- rung endlich umsetzen. ferenzen zwischen Deutschland und den Beitrittslän- dern. Ich möchte hier nur die Unterschiede bei der Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): Im Jahre Dieselsteuer sowie bei den Lohn- und Sozialkosten nen- 2001 haben wir, der Deutsche Bundestag, die Bundesre- nen. Leider hat die Bundesregierung bisher kein schlüs- gierung aufgefordert, einen Bericht vorzulegen, aus dem siges Konzept vorgelegt, wie sie das deutsche Güter- erstens die Wettbewerbsverzerrungen im europäischen kraftverkehrsgewerbe in diesem Prozess unterstützen Güterkraftverkehrsgewerbe bei Steuer- sowie bei Sozial- will. und Umweltstandards hervorgehen, zweitens hervor- geht, welche Schritte die Bundesregierung in den letzten Entscheidender Wettbewerbsnachteil ist die hohe Die- zwei Jahren bereits unternommen hat, um die Harmoni- selsteuer in Deutschland. Die Bundesrepublik hat nach sierungsdefizite zu verringern, und in dem drittens da- Großbritannien die zweithöchste Dieselsteuer in ganz rüber informiert wird, wo die Widerstände gegen eine Europa. Ein Ergebnis davon ist der Tanktourismus, Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen in erster durch den im Jahr circa 2 Milliarden Euro Steuerausfälle Linie zu suchen sind. verursacht werden. Die Bundesregierung scheint diesen Missstand tatenlos hinnehmen zu wollen. Im vorliegen- Es liegt uns nun der Bericht vor und es wird sehr um- den Bericht findet man außer einer schwachen Absichts- fangreich die Situation des Güterkraftverkehrsgewerbes erklärung zur Harmonisierung der Mineralölsteuer nicht beschrieben. Es wird, was uns aber aus vielen Gesprä- einen einzigen Lösungsansatz für dieses Problem. chen und Diskussion nicht unbekannt ist, dargelegt, dass 12148 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) die Situation des Gewerbes von vielen Unsicherheiten Transportgewerbe bevorteilt wird. So hat das Transport- (C) geprägt ist und in vielen Bereichen erhebliche Nachteile ministerium in Rom, per Dekret, Kabotagefahrten auf für unsere deutschen Betriebe bestehen. Der Bericht sagt fünf aufeinander folgende Tage bzw. höchstens 15 Tage sehr deutlich, dass die Rahmenbedingungen in einem im Monat eingeschränkt. Die davon betroffenen auslän- größer gewordenen Europa nicht einfacher, sondern sehr dischen Transportunternehmen müssen außerdem ein viel schwieriger geworden sind. Fahrtenbuch führen, in das sie Angaben über den Auf- traggeber, die Art der Ladung und die Beförderungsstre- Der Einsicht darin konnte sich auch diese Bundesre- cke einzutragen haben. Dieses Fahrtenbuch ist beim gierung nach langen Jahren des Zögerns nicht verschlie- Transportministerium in Rom zu beantragen. ßen. Nicht zuletzt beim Mautkompromiss war es ja ein wichtiger, von der Union durchgesetzter Bestandteil, für Ein unrühmliches „Aushängeschild“ für Verkehrsbe- das deutsche Gewerbe eine Harmonisierungsentlastung hinderungen und Diskriminierung des internationalen von 600 Millionen Euro zu erreichen. Verkehrs bietet vor allem die Republik Österreich. Ein Allein die Wege, die die Bundesregierung in Brüssel gefundener Kompromiss über eine Ökopunktenachfol- einschlagen will, um dieses Volumen zu erreichen, zei- geregelung im Transitverkehr wurde nicht umgesetzt, gen, wo der Schuh besonders drückt: Die deutsche Mi- stattdessen streiten die EU-Kommission und Österreich neralölsteuerbelastung ist die zweithöchste in der EU; vor dem Europäischen Gerichtshof. die deutsche Kfz-Steuer für LKW liegt weit über der von Die im Alpentransit tätigen Transportunternehmen se- der EU festgestellten Mindestgrenze. hen sich zudem durch die Taktik unangemessener Nadel- Die Gesamtbelastung aus Mineralöl- und Kfz- stiche einer Situation ohne Rechtsschutz ausgesetzt. Steuer für einen durchschnittlichen deutschen 40-Ton- Dabei geht es einzig um die Verringerung des Verkehrs- ner lag in Deutschland im Jahr 2004 bei jährlich aufkommens, aber nicht um Problemlösungen. Beson- 23 112 Euro, in Ländern wie Italien, Frankreich und den ders während der Hauptreisezeit sowie vor und nach Fei- Niederlanden bewegte sich dies zwischen 17 000 und ertagen rufen die Schweizer Verkehrsbehörden, zum 18 000 Euro, in den drei baltischen Staaten liegt das Beispiel auf der Autobahn A 2, Basel–Chiasso, die Niveau am unteren Ende bei 11 000 bis 12 000 Euro. Die „Phase rot“ aus und zwingen Fahrer im Straßengüterver- Schere hat sich damit in den letzten Jahren leider nicht kehr, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu tage- geschlossen und der Blick auf die Schuldigen für diese langen Zwangspausen auf Parkflächen entlang dieser Misere kann nicht immer direkt ins Ausland gerichtet Route. werden. Einschränkungen muss der Straßengüterverkehr auch (B) So kann beim besten Willen die Schuld für die deut- bei Benutzung der Verkehrsinfrastruktur insbesondere in (D) sche Ökosteuer nicht nach Brüssel oder andere europäi- den neuen EU-Beitrittsländern hinnehmen. sche Staaten geschoben werden. Diese rot-grüne Lieb- lingssteuer ist es ja maßgeblich, die den Unterschied Kollegen aus den EU-Mitgliedstaaten verzeichnen macht. weiterhin erhebliche Probleme im Verkehr mit Drittstaa- ten. So bereitet ihnen die Russische Föderation zum Bei- Die Prüfung durch die EU-Kommission zum Harmo- spiel durch ständige Änderungen der Zollvorschriften nisierungsvolumen im Zusammenhang mit der Einfüh- großes Kopfzerbrechen. Die Pflicht, eine Kfz-Haft- rung der Maut wird zeigen, welche Maßnahmen pflichtversicherung an der russischen Staatsgrenze abzu- Deutschland ergreifen darf, um die Harmonisierung zu schließen, stößt auf Unverständnis der davon betroffenen erreichen. Am Ende muss jedenfalls eine deutliche Ent- Transportunternehmer. Die international geltende grüne lastung der deutschen Spediteure stehen, um in Europa Versicherungskarte wird von der Russischen Förderation weiter bestehen zu können. nach wie vor nicht anerkannt. Trotz gemeinsamem Binnenmarkt sind auch zuneh- In jüngster Zeit sind Fahrten durch Weißrussland zu mend nationale Alleingänge der EU-Mitgliedstaaten im einem „Vabanquespiel“ für ausländische Transportunter- Bereich des Güterkraftverkehrs zu beobachten, die im- nehmen geworden, da die Zollbehörden dieses Landes in mer groteskere Formen annehmen und die Synergieef- bestimmten Fällen LKW und Ladung, wegen angebli- fekte des gerade erst erweiterten Binnenmarktes infrage cher Verletzung der Vorschriften, willkürlich beschlag- stellen. nahmen. Die Ukraine hat ihrerseits Sonderregelungen So ist der Verkehr mit Großbritannien ein risikobehaf- bei der Durchführung internationaler Transporte unter tetes Geschäft geworden. Die britischen Einwanderungs- Zollverschluss, Carnet TIR, durchgesetzt, die es den behörden erheben zum Beispiel noch immer hohe Landesbehörden erlauben, TIR-Transporte mit einem Bußgelder von ausländischen Fahrern und Transportun- Abgabenwert von mehr als 50 000 US-Dollar unter kos- ternehmen bei Verstößen gegen die Einwanderungsge- tenaufwendiger Zolleskorte zu stellen. setze, wenn sich Asylanten aus aller Welt unbemerkt Zu- gang zu den Ladeflächen der einreisenden LKW Die EU-Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien verschaffen. zeichneten sich in den vergangenen Jahren durch überra- schende Aktionen wie zum Beispiel Änderungen der In Italien wird der Binnenverkehr ausländischer Kon- höchstzulässigen LKW-Maße und -Gewichte, Achslas- kurrenten – Kabotage – immer mehr durch zeitliche und tenverwiegungen auf den Haupttransitstrecken oder un- bürokratische Vorgaben eingeengt, dass das heimische gerechtfertigte Gebühren aus. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12149

(A) Diese Beispiele zeigen, wie weitreichend die Unter- in Milliarden Tonnenkilometern auf einem kontinuier- (C) schiede in den Rahmenbedingungen in Europa noch sind lich hohen Niveau bewegen. Für dieses Jahr prognosti- und wie wichtig es ist, dass die Bundesregierung auf al- ziert der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und len diesen Handlungsfeldern Entschlossenheit zeigt. Entsorgung (BGL) sogar ein Wachstum von 2,5 Prozent. Auch wenn deutsche Unternehmen nur mit 1,6 Prozent Die Umsetzung der neuen EU-Kontrollrichtlinie zur davon profitieren, kann man damit leben. Einhaltung der Sozialvorschriften ist ein weiterer wichti- ger Schritt hin zur Anpassung der Wettbewerbsbedin- Die Wachstumspotenziale der Branche sind nach wie gungen. Hierbei sollen künftig mindestens 3 Prozent vor gut. Der vergrößerte EU-Markt eröffnet gerade den statt bisher l Prozent aller geleisteten Fahrtage kontrol- deutschen Spediteuren neue Märkte und Entwicklungs- liert werden. Während Deutschland schon heute eine möglichkeiten. Da die Entwicklung der Güterarten wei- Kontrollquote von 3,45 Prozent aufweist, liegen alle an- ter in Richtung kleinerer, hochwertigerer Sendungsgrö- deren EU-Staaten heute noch weit zurück. ßen geht, die ein hochqualifiziertes Management und gut aufgestellte Firmenstrukturen erfordern, kommen diese Es muss darauf hingewirkt werden, dass die übrigen hohen Qualitätsanforderungen dem deutschen Güter- europäischen Länder ihrer verstärkten Kontrollpflicht kraftverkehrsgewerbe besonders entgegen. Bei diesem nachkommen. Es kann nicht sein, dass die deutschen Punkt wird natürlich sofort eingewendet, dass gebiets- Brummis einer hohen Kontrollquote unterliegen und die fremde Transporteure ihren Anteil in diesem Jahr auf europäischen Nachbarn durch unzureichende Kontrollen 31 Prozent erhöhen werden. Dazu kann ich aber nur fest- dem Missbrauch Tür und Tor öffnen. Illegale Beschäfti- stellen: Wir können nicht das eine – nämlich einen grö- gung, die Überschreitung von Lenkzeiten sowie die ßeren Markt – wollen und das andere – nämlich die Kon- Nichteinhaltung von Ruhezeiten sind Phänomene, die es kurrenz – außen vor lassen. Ich bin der Meinung, dass auf europäischer Ebene zu bekämpfen gilt. die deutsche Branche durch den langjährigen Wettbe- Abschließend muss an dieser Stelle festgestellt wer- werbsdruck gut aufgestellt und wettbewerbsfähig ist. den, dass es auch heute noch gravierende Wettbewerbs- Durch die Einführung der LKW-Maut werden gerade nachteile für das deutsche Güterkraftgewerbe in Europa für deutsche Speditionsunternehmen die Wettbewerbs- gibt, die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung bedingungen gegenüber gebietsfremden Transporteuren zur Angleichung der Wettbewerbsbedingungen offenbar verbessert. Ich kann nur mit dem Kopf schütteln, wenn nur unzureichenden Erfolg hatten, der vorgelegte Bericht ich die Klagen der Branche höre, die erneut vor einem noch zu wenige konkrete Ansätze bietet, um in Zukunft Start der LKW-Maut zum 1. Januar 2005 warnt und eine dabei erfolgreicher zu sein, und wir als CDU/CSU im längere Probephase fordert. Das ist doch geradezu schi- Deutschen Bundestag erwarten, dass seitens der Bundes- zophren, denn solange wir die LKW-Maut nicht erheben, (B) (D) regierung bei der EU und bei den europäischen Partnern fahren doch gerade die gebietsfremden Unternehmen energischer Partei für das deutsche Güterkraftgewerbe weiterhin kostenlos auf unseren Autobahnen. Wenn das ergriffen wird! System funktioniert – davon können wir derzeit wohl ru- higen Gewissens ausgehen –, wird sich im nächsten Jahr Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ganz schnell und ganz deutlich herausstellen, dass sich Bündnis 90/Die Grünen standen schon immer dem Wett- die Einführung der LKW-Maut gerade für die hiesigen bewerbsgedanken offen gegenüber. Daher begrüßen wir Unternehmen als eine deutliche Verbesserung im inter- auch ausdrücklich die Vorlage des Berichts der Bundes- nationalen Wettbewerb herausstellen wird. regierung zur Situation des deutschen Güterkraftver- Ich möchte also an dieser Stelle nochmals die Bran- kehrsgewerbes im europäischen Wettbewerb. Ich möchte chenvertreter aufrufen: Sorgen Sie dafür, dass möglichst mich beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und viele On-Board-Units bis zum 1. Januar 2005 eingebaut Wohnungswesen für die gute Arbeit bedanken. Es hat sind, ansonsten werden Sie im Januar 2005 mit langen die Situation umfassend beschrieben und akribisch und Wartezeiten bestrafft. dennoch übersichtlich viele Fakten zum Thema Güter- kraftverkehr zusammengestellt. Ein spannendes – weil kontroverses – Thema sind im- mer wieder die Debatten um Wettbewerbsverzerrungen, Trotz aller hier geäußerten Unkenrufe und trotz vorei- die sich aus den unterschiedlichen Mineralölpreisen er- ligen Beileidsbekundungen an die Adresse des Güter- geben. Der Bericht der Bundesregierung gibt hier einen kraftverkehrsgewerbes kann ich das oft beschriebene sehr guten und objektiven Überblick über die Situation Untergangsszenario für diese Branche weit und breit wieder. Die nationale Steuerhoheit muss schließlich ge- nicht erkennen. Wir können nämlich feststellen: Die Si- wahrt bleiben. Da die Staaten mit ihren unterschiedli- tuation ist besser als die Stimmung. Das kommt den Kol- chen Steuersystemen auch den unterschiedlichen Le- leginnen und Kollegen von der Opposition zwar nicht bensgewohnheiten und Traditionen ihrer Bürgerinnen entgegen, denn bei Ihnen ist die Lust am Leiden und und Bürger Rechnung tragen, macht es keinen Sinn, hier Jammern noch stark ausgeprägt. Aber es dürfte wohl immerfort Vergleiche anzustellen. Ja wir haben eine auch nicht anders sein, schließlich ist Rot-Grün an der hohe Mineralölsteuer! In Großbritannien und in der Regierung und da gehört das zum guten Ton der Opposi- Schweiz liegt sie aber noch höher und dennoch geht tion. auch dort die Welt nicht unter. Nehme ich das Kompendium „Verkehr in Zahlen“ zur Haben Sie sich übrigens einmal überlegt, was der An- Hand, so stelle ich fest, dass sich die Verkehrsleistungen stieg des Dieselpreises von umgerechnet 60 auf 75 Cent 12150 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) pro Liter binnen drei Monaten für einen estnischen Spe- werbe leidet. Leider ist im April die Ökosteuerklage des (C) diteur bedeutet, von den Privatleuten ganz zu schwei- BGL vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen wor- gen? Bei der derzeitigen Kaufkraft in diesem Land ent- den. Eine formalistische Betrachtungsweise hat dazu ge- spricht dieser Preis einem Literpreis von 2 bis 2,50 Euro führt, dass die existenzbedrohende Belastungswirkung pro Liter in Deutschland. der Ökosteuer für die deutschen Transportunternehmen verfassungsrechtlich nicht berücksichtigt wurde. Eines aber sollten und dürfen wir alle erfreut zur Kenntnis nehmen: Die Bemühungen der Bundesregie- Das Gericht hat aber klargestellt, dass die Wettbe- rung, den Subventionsverlauf und die wettbewerbsver- werbsbelastung für das deutsche Transportgewerbe of- zerrenden Mineralölsteuererstattungen zugunsten des fenkundig ist. Es ist Sache der Bundesregierung und des Güterkraftverkehrsgewerbes in Frankreich und in Italien Gesetzgebers, an der Beseitigung dieser Wettbewerbs- zu beenden, werden – aufgrund der deutschen Zustim- nachteile zu arbeiten. Leider sind nach wie vor keine mungspflichtigkeit – mit dem Auslaufen der jetzigen Re- ernsthaften Bemühungen der Bundesregierung in diese gelung am Ende dieses Jahres mit Erfolg gekrönt wer- Richtungen zu erkennen. Tatsache ist, dass die Bundes- den. regierung in wenigen Monaten, sofern die LKW-Maut zu Jahresbeginn startet, ihr altes Versprechen brechen Eine weiter gehende Harmonisierung bei den Steuer- wird, zeitgleich mit der Mauteinführung einen bedeuten- sätzen wird auch mittelfristig nur schwer zu erreichen den Harmonisierungsschritt zu realisieren. Das vom sein, aber Geduld ist eine Tugend. Die Beharrlichkeit der BGL vorgeschlagene Mineralölsteueranrechnungsver- rot-grünen Bundesregierung wird auch hier ihre Erfolge fahren in Brüssel wurde vom juristischen Dienst der EU- zeigen. Kommission abgeschmettert. Ein endgültiger Beschluss steht zum Glück noch aus. Dies ist nicht zuletzt darauf Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Die Bundes- zurückzuführen, dass die Bundesregierung nicht mit regierung hat für den vorliegenden Bericht über die Situ- dem erforderlichen Nachdruck dieses Thema verfolgt ation des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes im eu- hat. Wie dringlich Harmonisierungsschritte sind, zeigt ropäischen Wettbewerb dreieinhalb Jahre gebraucht. die hohe Zahl der Insolvenzen im Transportgewerbe, die Allerdings widersprechen die Angaben der Realität und sich leider in diesem Jahr auf Rekordniveau stabilisiert es steht auch nichts Neues darin. Eigentlich hätten Sie haben. sich einen solchen Bericht sparen können. Daher werde ich auch nicht müde, Sie auf die vorherrschenden Tat- In dem vorliegenden Bericht von 15 Seiten, für den sachen im Güterkraftverkehrsgewerbe hinzuweisen. die Bundesregierung sich fast vier Jahre Zeit genommen Falls Sie Zahlen oder Details wünschen, brauchen Sie hat, ist anscheinend von einem anderen Land die Rede. (B) bloß in unseren Antrag von vor einem Jahr zu schauen, Die Situation wird mit einer teilweise angespannten (D) in dem wir einen fairen Wettbewerb für das deutsche Marktsituation im Güterkraftverkehrsgewerbe beschrie- Güterkraftverkehrsgewerbe in Europa fordern. ben. Es lägen auch keine Daten darüber vor, wie hoch die Zahl der ins Ausland verlagerten Arbeitsplätze sei. Das Dauerthema Maut ist noch lange nicht „abge- Die vorliegenden Daten würden auch nicht aussagen, hakt“, sondern nur etwas in den Hintergrund gerückt. dass „eine krisenhafte Marktstörung vorliege“, sie deute- Nach meinen in der letzten Woche gemachten Erfahrun- ten lediglich auf „wirtschaftliche Schwierigkeiten in Tei- gen in einer Spedition, bei denen ganz klar wurde, dass len des Straßengüterverkehrsgewerbes hin“. Nationale die alten Probleme mit der Software wieder auftreten, Steuerhoheit geht laut dem Bericht vor Steuerharmoni- würde ich nicht auf einen Erfolg Anfang 2005 wetten. sierung, die Ausrichtung auf Infrastrukturfinanzierung Wahrscheinlich würde dies keiner hier. erfordere „weiteres Umdenken“. Neben den technischen Pannen gab und gibt es einen Mit einer derartigen Haltung stoppen Sie weder den weiteren Skandal um die LKW-Maut, der schon fast traurigen Insolvenzrekord in der Transportbranche noch wieder in Vergessenheit geraten ist. Die rot-grüne helfen Sie den Unternehmen, ihre Mitarbeiter zu halten. Bundesregierung hat die geplanten Mauteinnahmen Wenn Sie es schon in Deutschland nicht schaffen, den nicht zu dringend notwendigen Aufstockungen der bis- Unternehmern im Güterkraftverkehrsgewerbe eindeutig herigen Investitionsansätze verwendet. Sie hat vielmehr, zur Seite zu stehen, wie wollen Sie das in Brüssel schaf- wie die im Sommer vorgelegte mittelfristige Finanzpla- fen? nung zeigt, im gleichen bzw. in noch größerem Umfang die bisherigen steuerfinanzierten Investitionsansätze für Ähnlich phlegmatisch verhält sich die Bundesregie- den Straßenbau gesenkt. Das ist ein klarer Verstoß gegen rung bezüglich der Sozialvorschriften für Tätigkeiten im den „Mautkompromiss“, der im Frühjahr 2003 mit dem Kraftverkehr. Der vorliegenden Beschlussempfehlung Bundesrat ausgehandelt wurde. Ich darf daran erinnern, des Ausschusses bezüglich des Vorschlags des Europäi- dass damals einzig und allein die FDP-Bundestagsfrak- schen Parlaments hat die FDP-Bundestagsfraktion zwar tion dem „Mautkompromiss“ nicht zugestimmt hat mit zugestimmt. Aber wir haben die Bundesregierung auch der Begründung, die Bundesregierung werde sich er- darauf hingewiesen, dass es sinnvoller ist, unsere euro- kennbar an ihre Versprechungen nicht halten. päischen Nachbarn von einer höheren Kontrollquote zur Durchsetzung der Sozialvorschriften zu überzeugen, die Die Kürzung der Investitionsmittel steht in krassem in Deutschland schon längst erreicht wurde. Stattdessen Gegensatz zur gestiegenen Steuerbelastung für den Stra- wird tatsächlich über die Einführung neuer Behörden ßenverkehr, unter dem ganz besonders das Transportge- nachgedacht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004 12151

(A) Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Zweitens: Harmonisierung der Mineralöl- und Kraft- (C) desminister für Verkehr-, Bau und Wohnungswesen: Die fahrzeugsteuer. Angesichts bestehender Kostennachteile Bundesregierung kommt hiermit einer Aufforderung des deutscher Fuhrunternehmen im europäischen Straßen- Deutschen Bundestagses nach, einen Bericht über die Si- verkehr wird insbesondere vom Straßengüterverkehrsge- tuation des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes vor- werbe eine verstärkte Harmonisierung im Bereich der zulegen. Ich will Ihnen heute nur die bedeutsamsten In- Mineralöl- und Kraftfahrzeugsteuer gefordert. Wir – die halte mitteilen. Bundesregierung – stimmen diesem Ansatz grundsätz- lich zu. Wir müssen jedoch darauf hinweisen, dass der Das Transportgewerbe befindet sich aufgrund der Wunsch nach Steuerharmonisierung mit dem Bestreben Liberalisierung des europäischen Verkehrsmarktes seit kollidiert, die nationale Steuerhoheit zu wahren. Außer- Anfang der 90er-Jahre vor großen Herausforderungen. dem zeigt die Erfahrung, dass die Staaten mit ihren Es muss sich wie weite Teile des produzierenden Gewer- Steuersystemen auch unterschiedlichen Lebensgewohn- bes veränderten Rahmenbedingungen anpassen. Dabei heiten und Mentalitäten ihrer Einwohner Rechnung tra- muss man wissen, dass die Liberalisierung seinerzeit gen. Auch bei uns wird zum Beispiel die Neuausrichtung ohne ausreichende Harmonisierung wesentlicher Wett- der Infrastrukturfinanzierung noch weiteres Umdenken bewerbsparameter vollzogen wurde, die heute in einer erfordern. erweiterten EU immer schwieriger nachzuholen ist. Außerdem hat die Öffnung der osteuropäischen Märkte Um diesen Problemen zu begegnen, ergreift die Bun- zu einem stetig wachsenden Wettbewerbs- und Preis- desregierung folgende Maßnahmen: druck geführt. Mit der EU-Erweiterung am l. Mai 2004 sind neue, größere und damit attraktivere Märkte ent- Erstens: Subventionswettläufe beenden. Ziel der Bun- standen, die nicht nur, aber insbesondere für unser desregierung ist es zunächst, den Subventionswettlauf zu Transportgewerbe Chancen und Risiken beinhalten. beenden, das heißt, die wettbewerbsverzerrenden Mine- ralölsteuererstattungen zugunsten des Güterkraftver- Das Verkehrswachstum findet nach wie vor zum kehrsgewerbes in Frankreich und Italien spätestens zum größten Teil auf der Straße statt. Gründe dafür sind ein Ende dieses Jahres endgültig auslaufen zu lassen. Ohne rückläufiges Aufkommen von Massengütern und die Zu- unsere Zustimmung ist eine weitere Verlängerung nicht nahme des Transportes von höherwertigen Gütern. Diese möglich. Solange aber auf dem Gebiet der Steuern für Entwicklung eröffnet aber dem Gewerbe auch neue Beschlüsse des Rates nach wie vor Einstimmigkeit not- Chancen: Der Transport kleinerer Sendungsgrößen wird wendig ist, dürften aufgrund der divergierenden Haltung ebenso zunehmen wie die zeitgerechtere und kurzfristi- der Mitgliedstaaten der EU Fortschritte bei einer Harmo- gere Anlieferung von Gütern, also die Just-in-time-Ab- nisierung auf höherem Niveau – das darf nicht vergessen (B) wicklung. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung so- werden – auch mittelfristig nur schwer zu erreichen sein. (D) wie durch den Wettbewerbs- und Preisdruck ist eine Zweitens: Einführung der LKW-Maut. Mit der LKW- Situation entstanden, in der die Unternehmen des Ge- Maut erwarten wir für unsere Transportunternehmen werbes unter anderem die Auslastungsgrade ihrer Fahr- eine Verringerung bestehender Nachteile, da in Zukunft zeugflotten verbessert und den Ablauf und die Zusam- auch ausländische Nutzer bzw. Billiganbieter auf deut- menstellung von Touren optimiert haben. Auch erfolgen schen Autobahnen zu einem verursachergerechteren We- Spezialisierungen für wachsende Marktsegmente mit der gekostenbeitrag herangezogen werden. Wir gehen mit Folge, kostengünstiger anbieten zu können. Nicht zu der LKW-Maut auch einen weiteren Schritt in Richtung vergessen ist: Die verladende Wirtschaft profitiert von Chancengleichheit zwischen den verschiedenen Ver- dieser Kostenentlastung. kehrsträgern. Nun komme ich zum Kernpunkt, zu den Problemen. Schließlich bedeutet die Maut auch den Einstieg in Erstens: Personalkosten. Hinsichtlich des für deutsche einen Systemwechsel von der Haushaltsfinanzierung zur Unternehmen größten Kostenblocks der Personalkosten ergänzenden Nutzerfinanzierung. – er macht rund 30 Prozent der Gesamtkosten aus – ist Insbesondere verfolgen wir entsprechend den Be- im Zusammenhang mit der Konkurrenz aus den MOE- schlüssen des Deutschen Bundestages und Bundesrates Staaten festzustellen, dass die niedrigere Produktivität in im Hinblick auf die Wettbewerbsbedingungen im euro- diesen Staaten ihren Ausdruck auch in niedrigeren Löh- päischen Güterkraftverkehr Harmonisierungsmaß- nen für die Fahrer findet und somit zu niedrigeren Trans- nahmen in Höhe von jährlich 600 Millionen Euro zu portkosten führt. Dadurch wandern lohnintensive gewähren. Vorrangige Harmonisierungsmaßnahme ist Dienstleistungen geringer Qualifikation nach den Geset- das Mautermäßigungsverfahren, das heißt, die teilweise zen der Wirtschaft in weniger entwickelte Länder ab. indirekte Anrechnung von in Deutschland gezahlter Das betrifft auch den grenzüberschreitenden Straßen- Mineralölsteuer in Form von Mautgutschriften. Wir ha- gütertransport. Es ist somit durchaus nachvollziehbar, ben das Vorhaben gegenüber der EU-Kommission notifi- dass das nationale Verkehrsgewerbe erneut und aufgrund ziert. Die Kommission hat hierzu ein beihilferechtliches der niedrigen Lohnkosten in den neuen Mitgliedstaaten Hauptprüfungsverfahren eröffnet. verstärkt fürchtet, dass es einem harten Wettbewerb aus- gesetzt wird. Deswegen hat sich die Bundesregierung in Die Bundesregierung hat das Konzept intensiv mit den Beitrittsverhandlungen – was Kabotage anbelangt – den deutschen Verbänden abgestimmt und in zahlreichen erfolgreich für einen sozialverträglichen Übergang ein- Gesprächen auf allen Ebenen gegenüber der Kom- gesetzt. mission vertreten. Sollte die Kommission in diesem 12152 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Oktober 2004

(A) Prüfverfahren zu dem Ergebnis kommen, dass mit dem Schließlich ist nicht zu vergessen: Im nichtfiskali- (C) Mautermäßigungsverfahren das Harmonisierungsvolu- schen Bereich sind vor allem Anstrengungen gegen ille- men von 600 Millionen Euro nicht bzw. nicht in vollem gale und graue Kabotage zu unternehmen. Damit ver- Umfang umgesetzt werden darf, werden wir uns für die bunden ist die gezielte Kontrolle der Einhaltung der beihilferechtliche Genehmigung anderer Harmonisie- einschlägigen Vorschriften einschließlich der wirksamen rungsmaßnahmen einsetzen. Hierzu gehört insbeson- Sanktionierung von Regelverstößen. Die Bundesregie- dere die Absenkung der Kraftfahrzeugsteuer für schwere rung hat gerade im nichtfiskalischen Bereich mit dem Nutzfahrzeuge oder die Gewährung einer Investitionszu- von ihr initiierten und inzwischen in Kraft getretenen lage für die vorzeitige Anschaffung von besonders emis- Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im sionsarmen LKW durch ein Innovationsprogramm für gewerblichen Güterkraftverkehr eine wichtige Harmoni- das Transportgewerbe. sierungsmaßnahme realisiert.

(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980