INTERNATIONALES BRUCKNERFEST 2017

Harald Krassnitzer „Bruckner elementar“

Festrede zur Eröffnung des Bruckner elementar Internationalen Brucknerfestes Linz 2017 Harald Krassnitzer „Bruckner elementar“

Festrede zur Eröffnung des Internationalen Brucknerfestes Linz 2017 Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinauswirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.

Sehr verehrte Damen und Herren,

mit diesem Zitat aus Also sprach Zarathustra von Friedrich Nietzsche möchte ich meine Fest- rede beginnen und mich sehr herzlich für die Einladung zum Internationalen Brucknerfest 2017 be- danken, das in diesem Jahr unter dem Motto Bruckner elementar die Werke und das Wirken von in den Mittelpunkt stellt.

Es war eigentlich nicht wirklich, im wörtlichen Sinne, ein Sturm, da der Kommandant der Auf- forderung zur Übergabe freiwillig nachkam. Aber der 14. Juli 1789 und der damit verbundene „Sturm auf die Bastille“ und die Losung der Französischen Revolution, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, wurden zum Synonym für die Befreiung der unterdrückten Massen und sollten in ihrer Bedeutung das gesamte 19. Jahrhundert begleiten.

Als Anton Bruckner am 4. September 1824 geboren wurde, waren die Koalitionskriege be- endet, Napoleon war auf St. Helena verstorben und der Wiener Kongress hatte mit der Schlussakte die Legitimität der alten Dynastien und damit die alte Ordnung wiederhergestellt. Es blieb eine Zeit des Umbruchs. Es war das Zeitalter der Revolutionen, des Kapitals, der Imperien. Der politischen, der ge- sellschaftlichen, der industriellen, der kulturellen Erneuerung.

Der Adel weicht dem aufkommenden Bürgertum. Die Religion verliert ihren Status als Welter- klärungsinstanz an die Geistes- und Naturwissenschaften. Bildung und Wissenschaft werden breiteren Schichten zugänglich. „Rationalisierung“, „Demokratisierung“ und „Urbanisierung“ werden die Schlag- worte der neuen Zeit. Und weil das „Hier“ nicht mehr reicht, um den gierigen Geist des entfesselten Prometheus zu befriedigen, wird das „Dort“ neu entdeckt. So führt die Erforschung des „Dunklen

3 Kontinents“ zur Hochphase des Kolonialismus und somit zur Grundsteinlegung der ökonomischen und elementar. Dort ringt er um jeden Ton. Wie klingt die Fremdheit in einer Welt, in der sich der Mensch politischen Imperien, die am Ende des Jahrhunderts die Bühne der Geschichte betreten werden. Der behaupten muss? Wie klingt der Tod? Wie klingt die Libido? Wie klingt die Unermesslichkeit? An diesem Strukturwandel in der Industrie und in den Städten ist ein Symbol für den rasenden Transformationspro- Ort begegnen wir Bruckner in seinem reinsten Humanismus, ohne Prägung, ohne Dogma, und genau zess. Das eigentliche Zentrum des Umbruchs bleibt über das gesamte Jahrhundert hinweg der politische das ist es, was uns bis heute tief berührt. Bruckner hat mit seinen Symphonien einen „tanzenden Kampf, den theoretischen Grundlagen der Aufklärung und den Errungenschaften der Französischen Re- Stern“ geboren und öffnet damit die Tür in die Moderne. Dort treffen wir ihn wieder in seinem Schüler volution Geltung zu verschaffen. Und dieser Kampf ist blutig. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese Gustav Mahler und später in Arnold Schönberg. Und während Anton Bruckner noch an seiner 9. Sym- einfache, schlichte Formel ist der Schlüssel zum neuen Ich-Verständnis, zur Ich-Befreiung. Und dieses phonie arbeitet, verabschiedet sich die Epoche, die so hoffnungsvoll aufgebrochen ist, um ein neues Motiv findet sich entlang der Bruchlinie der sozialen Verwerfungen, es findet sich in der Philosophie, der Menschenbild zu erschaffen, in tiefer Bitternis, und diese spiegelt sich wider in einer Frage, die T. S. Literatur, der Malerei und der Musik. So wird der Mensch zum neuen Sinnzentrum, aus dem sich die Eliot wenige Jahre später formuliert: „Scherte sich unsere Gesellschaft, die ihrer eigenen Überlegenheit großen Theorien und Entwürfe für ein besseres gesellschaftliches Leben entwickeln, aus dem sich ein und Gerechtigkeit jederzeit so sicher gewesen und so überzeugt von ihren noch ungeprüften Prämis- völlig neuer Bezug zu den Dingen der Welt ergibt, aus dem ein neues Klangbild entsteht. sen, um irgendetwas Bleibenderes als um einen Haufen von Banken, Versicherungsgesellschaften und Industrien und besaß sie irgendeinen wesentlicheren Glauben als bloß den Glauben an Zinseszins und Anton Bruckner, meine Damen und Herren, war, um es vorsichtig auszudrücken, ein eigenwil- Aufrechterhaltung von Dividenden?“ liger Charakter, er wurde von den Rezensenten oft missverstanden. Ob seiner Erscheinung und seines schlichten Auftretens oft beschmunzelt, manchmal verspottet. Von seinen Schülern geschätzt. Doch Zermürbt und ermüdet taumelte man vorbei an den neuen Symbolen der Macht, die ent- außerhalb des Unterrichts war er gefangen in seinen Ängsten, seiner Einsamkeit und seiner Verschro- lang der Wiener Ringstraße entstanden waren. Erbaut von den „Ziegelböhmen“ die in den Vorstädten benheit. Und die Erschütterungen, die weltverändernden Ereignisse seiner Zeit und die öffentliche Dis- dahinvegetierten. So schwankte die Zeit zwischen Zukunftseuphorie, diffuser Zukunftsangst, Endzeit- kussion darüber, scheinen spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Hören wir aber seine Musik, eröffnet stimmung, Resignation, Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz ihrem Ende entgegen. Und in den Hin- sich ein Kosmos, der weit über seine Zeit hinausreicht – sowohl im Klangbild als auch in der Technik. terzimmern und Salons der unbeugsam rückwärtsgewandten politischen und gesellschaftlichen Eliten „Bruckner singt seinen eigenen Gesang, er hat der Welt etwas mitzuteilen, was sein eigenstes Eigentum braute sich aus den Formeln des Sozialdarwinismus und der nicht verstandenen Philosophie Nietzsches bleibt“, so schreibt der Kritiker Eduard Kremser anlässlich der Uraufführung der 4. Symphonie von ein Gift zusammen, das binnen kürzester Zeit zur allgemeinen Weltanschauung, zur Ideologie erhoben Bruckner im Februar 1881 in Wien. wurde. Und so wurde der 28. Juli 1914 freudestrahlend und hysterisch als der Tag gefeiert, an dem das langersehnte Stahlgewitter begann. Und es würde nicht das einzige bleiben, das dieses junge 20. Aber woher kommen dieser Gesang und diese bis ins Mark erschütternde Kraft und Würde? Jahrhundert in die dunkelste Zeit der Menschheit stürzen sollte. Vielleicht erlauben wir uns noch einmal einen Blick auf die Biografie von Anton Bruckner. Wir finden in ihr einen Bezugspunkt, der sich als einzige Konstante durch das Leben von Anton Bruckner zieht. Seine 31 Jahre muss Europa warten bevor sich elf Männer treffen, ausgestattet mit dem, was Kant tiefe Gläubigkeit. Sie ist seine Sicherheitszone, sein Rückzugsgebiet. Aus ihr schöpft er seine Kraft. die höchste aller Tugenden nannte: dem guten Willen. Und dieser lässt sie über sich hinauswachsen, Und er selbst benennt sie, verortet sie gewissermaßen, in einer seiner Motetten: . Dieser Ort sie schließen inmitten der klaffenden Wunde „Europa“ einen neuen Bund der Menschlichkeit, und be- ist von Gott geschaffen, ein unschätzbares Geheimnis, er ist ohne Fehl. An diesem Ort findet Bruckner siegeln ihn mit einfachen Worten: „Nie wieder Krieg!“. Man spricht von Heilung, von Aussöhnung. Trifft sein Ich-Verständnis, seine Ich-Befreiung. Dort setzt er sich in Bezug zu den Dingen. Dort wird Bruckner auf Vertrauen, das man nicht erwarten durfte. Aus Hass wird Solidarität und aus Solidarität Zusammen-

4 5 arbeit. Und aus den Ruinen erwächst eine sich auf die Werte des Humanismus berufende, wohlhabende, Anton Bruckner hatte sein „Locus iste“. In dieser Schutzzone konnte er seine Wunden heilen gebildete, prosperierende Gesellschaft. In jeder Epoche gibt es ein Zeitfenster, in dem sich das Aufein- und sie in Musik transformieren. Hören wir sie, hören wir nicht das Klangbild einer gequälten Selbstim- andertreffen von Herausforderungen der Zukunft und meist erschütternden Ereignissen der Gegenwart manenz, sondern das Echo eines nach Befreiung ringenden Jahrhunderts. Heute sind die Konsequen- verdichtet. Hier werden die Verwerfungen oder – wie Marx gesagt hätte – die herrschenden Verhältnisse zen unseres Handelns so dramatisch, dass man uns, anders als die Menschen des 19. Jahrhunderts, sichtbar, und das die Epoche bestimmende Narrativ verblasst und entlarvt sich zunehmend als dysfunk- an unseren globalen Wirkungen erkennen wird. Wir brauchen unser „Locus iste“, wir müssen unseren tionales System. So finden wir uns wieder im Interregnum, jenem Übergang, wo das Alte noch stirbt und Widersprüchlichkeiten auf elementarster Ebene begegnen. Wir müssen unsere Wunden einer gründli- das Neue noch nicht geboren werden kann. chen Anamnese unterziehen. Der Wunde „Afrika“. Der Wunde „Islam“. Der Wunde „Klimawandel“. Der Wunde „zunehmendere Ressourcenknappheit“. Der Wunde „digitaler Selbstentfremdung“. Erst wenn „Überall gibt es das Warten auf Propheten, die Luft ist voll von kleinen und großen Pro- wir dazu bereit sind, finden wir wieder Anschluss an eine unserer ältesten Fähigkeiten: die Fähigkeit, pheten ...; für jeden von uns ist das sein Schicksal, dass wir den Dingen mehr Liebe und haupt- der Menschheit zu einer besseren Existenzform zu verhelfen. sächlich mehr Sehnsucht entgegengebracht haben, als die heutige Welt erfüllen könnte. Wir sind zu etwas reif geworden und niemand ist da, die Früchte einzubringen.“ (Karl Mannheim, 1922) Mahatma Gandhi hat die sieben Todsünden der modernen Gesellschaften formuliert: Politik ohne Prinzipien, Reichtum ohne Arbeit, Genuss ohne Gewissen, Wissen ohne Charakter, Geschäft ohne Ich habe mir erlaubt, Sie skizzenhaft durch den Zeithorizont von Anton Bruckner zu führen, Moral, Religion ohne Opfer, Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Der Zeitjournalist und Autor Bernd weil ich der tiefen Überzeugung bin, dass das was wir Geschichte nennen, sich nicht, aus in sich Ulrich hat das Diktum „Politik ohne Prinzipien“ abgewandelt: Todsünde sei eine Politik, die auf prinzi- abgekapselten Einzelereignissen verstehen lässt, sondern sich ihre Bedeutung für unsere Gegenwart, pielle Herausforderungen nicht auch prinzipiell reagiere. nur aus den Prozessen erschließt, oder wie William Faulkner sagt: „Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ Alle Herausforderungen und Ereignisse unserer Gegenwart finden sich in ihrer Meine Damen und Herren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen viele ele- Ursächlichkeit im „Langen 19. Jahrhundert“. Wir können sie benennen entscheidend aber wird sein, mentare Erfahrungen auf dem Internationalen Brucknerfest 2017. Das Echo des 19. und 20. Jahrhun- welche Schlüsse wir daraus ziehen. derts hat uns noch viel zu erzählen und ich bin überzeugt, dass wir noch genügend Chaos in uns tragen, den Pfeil unserer Sehnsucht über den Menschen hinauszuwerfen. Und einen „tanzenden Stern“ zu Meine Damen und Herren, wir sind Zeitzeugen eines großen Umbruchs: Große Systeme lösen gebären. sich auf oder stagnieren in Ratlosigkeit und wir erkennen eine zunehmende Radikalisierung. Die Welt baut sich um. Ich halte es für ein gewagtes Unterfangen, sich diesem Vorgang zu entziehen, indem wir in alte Muster von Überlegenheitsphantasien oder des wieder erstarkenden Nationalismus zurückfallen. Wir brauchen einen New Deal! Wir brauchen eine neue Politik! Diese wird uns aber erst gelingen, wenn wir endlich bereit sind uns einzugestehen, dass der hemmungslose freie Markt es nicht mehr richtet.

6 7 Harald Krassnitzer (Schauspieler)

Harald Krassnitzer wurde am 10. September 1960 in Salzburg (Österreich) geboren. Nach der Schule begann er eine Ausbildung zum Schauspieler an der Elisabethbühne in Salzburg und spielte dort vier Jahre lang. Anschließend war er in Wien am Volkstheater, am Grazer Schauspielhaus und am Saarländischen Staatstheater engagiert. Der Großteil des Publikums kennt ihn aus Erfolgsserien wie „Der Bergdoktor“ (1997/36 Folgen), „Der Winzerkönig“ (2005–2009/39 Folgen) und „Paul Kemp – Alles kein Problem“ (2013), vor allem aber aus der TV-Reihe „Tatort“ als Kommissar Moritz Eisner (seit 1999). Außerdem war er in TV-Movies in über 50 Hauptrollen im In- und Ausland zu sehen. Harald Krassnitzer ist Preisträger des Grimme-Preises (2014 Kategorie, „Fiction“: „Tatort“) und wurde zudem zweifach mit der „Romy“ für den beliebtesten Serienstar ausgezeichnet. Die politische Haltung des bekennenden Humanisten und Sozialdemokraten wird in seinem unermüdlichen tatkräftigen Einsatz für unterschiedlichste Hilfsorganisationen wie AMREF, Hilfswerk , Rotes Kreuz, SOS Mitmensch und viele weitere sichtbar. Seit 2009 ist er mit der Schauspielerin Ann-Kathrin Kramer FESTREDNER/-INNEN BEIM BRUCKNERFEST LINZ 1977 BIS 2016 verheiratet und lebt mit ihr in Wuppertal. 1977 Friedrich Heer 1991 Axel Corti 2005 Anton Zeilinger 1978 Gerhard Klingenberg 1992 Franz Welser-Möst 2006 Ari Rath 1979 Werner Hofmann 1993 Eduard Goldstücker 2007 Konrad Paul Liessmann 1980 Ernst Krenek 1994 Peter Turrini 2008 Renan Demirkan 1981 Anton Neumayr 1995 Erika Weinzierl 2009 Robert Menasse 1982 Rolf Liebermann 1996 Klaus Maria Brandauer 2010 Elfriede Hammerl 1983 Fritz Hochwälder 1997 Hildegard Hamm-Brücher 2011 Ludwig Adamovich 1984 Erwin Ringel 1998 Horst-Eberhard Richter 2012 Armin Thurnher 1985 Werner Schneyder 1999 Erika Pluhar 2013 Ruth Wodak 1986 Hilmar Hoffmann 2000 Karlheinz Böhm 2014 Paul Lendvai 1987 Erich Fried 2001 Theo Sommer 2015 Iris Berben 1988 Milo Dor 2002 SAID 2016 Senta Berger 1989 Eric J. Hobsbawm 2003 Peter Huemer 1990 Franz König 2004 Anna Mitgutsch 8 13 Foto: Harald Krassnitzer © T. Ramstorfer

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