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SPORT

Radrennen Buchhalter im Sattel Tony Rominger gilt als einziger Mann, der dem schier übermächtigen Miguel Indura´in den fünften Tour-de-France- Sieg in Folge streitig machen kann. Der Schweizer hat sich akribisch vorbereitet, kennt alle medizinisch relevanten Parameter seines Körpers. Doch er fürchtet auch, als ewiger Herausforderer in die Annalen einzugehen.

m liebsten fährt Tony schnur- endlich mit dem Toursieg zu vollenden Meist hat er sich unter Kontrolle, par- stracks durch. Vor allem dann, – aber nichts tut er lieber, als den My- liert fünfsprachig und manchmal auch Awenn er wie in diesen ersten Tagen thos der „Grande Boucle“ kleinzure- sogar mit hintergründigem Humor ge- der immer ein bißchen den. gen sein Image an. Doch jetzt, als ihm später dran ist als geplant. Hergekommen ist er, endlich eine je- beim Mannschaftszeitfahren seine Kon- Hinterm Zielstrich bremst er nur ganz ner Legenden des Radsports zu werden, kurrenten Ewigkeiten von Sekunden ab- kurz, steuert direkt auf das erste TV- von denen sie in den Bars entlang der genommen haben, mag er nicht mehr. Team zu, das mit einem Sprung Kamera Strecke schwärmen – und dann behaup- Kaum fällt der Name Indura´in, versteht und Mikrofongalgen rettet und dem tet er, es gehe ihm nur darum, so viel zu ein erkennbar verängstigter Rominger Champ damit im Dominoeffekt eine verdienen, daß er „nie mehr acht Stun- „nur noch Deutsch“. Gasse durch die Meute der Helfer und den täglich im Büro sitzen muß“. So wird niemand zu einem „Kanniba- Edelfans öffnet. Im letzten Moment Hergekommen ist er auch, weil ihm len“, wie die Experten von L’Equipe die reißt am Ende der Absperrung ein Poli- sein Triumph beim Giro d’Italia gezeigt ganz Großen der Tour nennen, weil die zist ein schmales Tür- „jeden Gegner fres- chen auf – und der sen“. Mann mit der Start- etwa, der 1961 vom er- nummer 41 tritt zum sten bis zum letzten Tag letzten Spurt an. im Gelben Trikot fuhr; Nach 100 Metern , der mit stellt Tony Rominger, acht Etappensiegen bei 34, sein Velo am blauen einer Tour den Rekord Luxusbus seines - hält; , Teams ab, immer gleich der seine fünfte Tour rechts neben der hinte- trotz eines doppelten ren Tür, immer korrekt Nasenbeinbruchs ge- wie im Fahrradkeller ei- wann, oder eben Mi- nes Mehrfamilienhau- guel Indura´in aus dem ses. Blitzschnell sucht Banesto-Team, der in der kleine Radler, der diesem Jahr zum fünf- beim Gehen stets das tenmal hintereinander Becken vorschiebt wie siegen will. ein Cowboy nach tage- Dabei kann auch Ro- langem Viehtrieb, Zu- minger beißen. Beim flucht im Wageninnern. Giro herrschte er den Eine Doppelreihe mit ständig attackierenden Tisch gehört dort Ro- Berzin an, erst wenn er minger allein, die übri- selbst eine halbe Stunde gen Profis drängen sich Vorsprung habe, „lasse vorn. Und während sein ich dich mal wegfah- persönlicher Betreuer, ren“. Berzin respektier- Marcelino Torrenguito, te daraufhin brav die

dem Chef die Handtü- SPORTIMAGE Hierarchie des Feldes. cher für die Dusche Tour-Rivalen Rominger, Indura´in: „Derzeit bester Rennfahrer der Welt“ Doch gleich nach dem richtet und diverse Ge- Giro-Sieg war auch Ro- tränke – von gelbgrün bis dunkelbraun – hat, wie schön es ist, von den Massen minger zufrieden: „Eine große Rund- reicht, starrt Tony ins Leere. geliebt zu werden – und jetzt muß der fahrt im Jahr zu gewinnen, ist genug.“ Auch die getönten Scheiben verdek- ehemalige Buchhalter feststellen, daß In solchen Sätzen kommt immer wie- ken nicht, daß Rominger, von dem der die Gefühle anderen, seinen ärgsten der der Buchhalter in ihm zum Vor- Kollege Udo Bölts behauptet, er kom- Konkurrenten, Miguel Indura´in, Jewge- schein, der den Stand von Körper und me „aus einer anderen Welt“, an sich nij Berzin oder Alex Zülle, gehören. Konto bis auf die letzte Dezimalstelle und seiner Umgebung leidet. Für den „derzeit besten Rennfahrer der herzusagen weiß. Hergekommen ist er, um nach zwei Welt“ (Kollege ) bleibt Wenn Tony Rominger über sich er- vergeblichen Versuchen seine Karriere nur der Respekt vor der Leistung. zählt, dann hört es sich an, als verlese er

134 DER SPIEGEL 28/1995 Mapei- und Banesto-Radprofis bei der Tour de France: „Wer einmal das Gelbe Trikot getragen hat, der ist zum Mann geworden“ AFP / DPA

den TÜV-Report eines hochtourigen Monte Carlo, nähergekommen sind – zu die Einfahrrollen, in die die Rennräder Sportwagens. Gut geht es ihm, wenn es einer Zweckfreundschaft eben. Schuma- gespannt werden. Als Rominger, der beim Höhentraining gelingt, die Zahl cher mußte seiner Rückenprobleme we- mit seinem Koffer in der Hand eher wie der roten Blutkörperchen von 4,7 auf gen vom Joggen auf Radfahren umstei- ein Handlungsreisender für Toilettenar- 5,1 Millionen pro Kubikmillimeter zu gen. So starten die beiden mitunter zu tikel wirkt, ins Zelt kommt, hat der ele- steigern, oder wenn er seinen Testberg Trainingstrips; noch kurz vor der Tour gante Zülle erst die Hälfte seiner Vorbe- in der Nähe seines Wohnortes Monte absolvierten sie 40 Kilometer gemein- reitung absolviert. Während Rominger Carlo mit 30 statt 23 Stundenkilometern sam. Bei der Arbeit will Rominger fest- Rennschuhe und eine 1,5-Liter-Wasser- erklettert. Malad fühlt er sich, wenn Ru- gestellt haben, daß der penible, ja pe- flasche – die mit einer rötlichen Flüssig- he- und Maximalpuls nicht exakt 38 und dantische Deutsche „ein ganz lustiger keit gefüllt ist, als gelte es, noch ein paar 186 Schläge betragen und er wie 1994 Kerl ist“. Blutkörperchen nachzutanken – aus aus der Tour aussteigen muß, weil sein Womöglich hätte sich der Weltrangli- dem Koffer kramt, richtet sich Zülle zu Motor „nicht über 138 geht“. stenerste, der erst mit 25 Jahren Profi voller Größe auf, trocknet bedächtig Nicht einmal bei Überanstrengung wurde und inzwischen mit jährlich zwei- den Schweiß von der Stirn und sucht den muß der Supermann kotzen, der in der einhalb Millionen Franken der bestbe- Blickkontakt. Stunde problemlos 1750 Höhenmeter zahlte Athlet seines Landes ist, auch in Doch Rominger weicht aus, steigt auf überwindet und neben den Rennen den beiden letzten Jahren seiner Karrie- sein Rad und beginnt mit einem Tempo noch 34 000 Kilometer pro Jahr trai- re mit dem Status quo eines in der zu treten, als könne er so dem „perfek- niert, was, wie er genau ausgerechnet Basler Zeitung chauvinistisch gefeierten ten Werbeträger und idealen Botschaf- hat, „nur 93 Kilometer pro Tag“ sind. Helden abfinden können – wäre ihm ter für (angebliche) Schweizer Tugen- Tony weiß von sich, daß er die anaerobe nicht in Alex Zülle, 27, Konkurrenz im den“ (Sport) entkommen. Seit Jahren Schwelle – von hier an sind die Muskeln eigenen Land erwachsen. zählt Rominger schon jede verzehrte mit Sauerstoff unterversorgt – locker um Nach seinem zweiten Platz bei der Tafel Schokolade auf, aber aller Mühe eine Stunde überschreiten kann. – anderthalb Wochen vor zum Trotz fand sich kein Schweizer Fa- „Wer einmal das Gelbe Trikot getra- dem Tourstart – erscheint Zülle dem brikant, der mit ihm werben will – die li- gen hat, der ist zum Mann geworden“, Zürcher Fachblatt Sport als „strahlen- la Kuh schmust lieber mit dem deut- glaubt der italienische Profi Claudio der, leidender, kämpfender, nie aufge- schen Glamourgirl Franziska van Alm- Chiappucci. Rominger könnte es im- bender und auch in der Niederlage Grö- sick. Und jetzt auch noch Zülle, der merhin helfen, wegzukommen aus jener ße zeigender Musterprofi“. Das Lob für Profi mit dem Brilli im Ohr und einer Reihe exzellenter Sportler, die ein Zülle muß auf Rominger wirken wie die Offenheit im Gesicht, die einen ver- Übermaß an Talent sehr wohl in Siege, eigene Mängelliste. Und dann treibt ein zückten Beobachter der Szene schwär- nicht aber in Aura umsetzen können: Gewitterregen die beiden schon am er- men läßt: „Wie eine Rose.“ Den Tennisprofis Michael Stich und sten Tourtag zu einer Schweizer Begeg- Schon wird Zülle als möglicher „Chef Pete Sampras geht es so, dem Formel-1- nung der dritten Art. einer Schweizer Renngruppe“ ins Ge- Piloten Michael Schumacher auch. Vor dem Prolog drängen sich die Pro- spräch gebracht, den Konzernen des Da liegt es nahe, daß sich Schumacher fis in einem kleinen weißen Zelt. Dort Landes die PR-Aktie des Aufsteigers als und Rominger, sozusagen Nachbarn in stehen, aufgereiht wie im Kälberstall, „gut angelegtes Geld“ empfohlen. Wie

DER SPIEGEL 28/1995 135 soll da Rominger mithalten, der sich erst einer unter 73 000 Schweizer Millionä- vor wenigen Stunden bei den Radsport- ren, werde womöglich deshalb aus der journalisten entschuldigt hat, damit die Spanienrundfahrt aussteigen. ihren Boykott beenden und fortan wie- Ins Trainingslager werden auf eigene der den Namen seines Sponsors Mapei Kosten auch Masseur und Mechaniker nennen, eines italienischen Chemie- mitgenommen, beim Weltrekordver- werks. such in Bordeaux war die Großfamilie Nach seinem Stundenweltrekord im gar auf 30 Köpfe angewachsen. Bei der letzten Herbst in Bordeaux hatte er dar- Tour verlangt der Chef dann auch einen auf beharrt, die hingehaltene National- derart umfangreichen Rundumservice, flagge nur deshalb mit auf die Ehrenrun- daß die Ängste des Perfektionisten Ro- de genommen zu haben, weil er ja „im minger nicht länger zu übersehen sind: Innersten Schweizer geblieben“ sei. Die vielen Leute sollen viel helfen. Tony Rominger, so sieht es aus, ist Vor dem Tour-Prolog tragen sie ihm das Opfer der eigenen, ungewöhnlichen das Rad bis vor die Bustür; Mechaniker Karriere geworden. Schon im zweiten und Masseur laufen in den letzten Minu- Profijahr geriet er an den italienischen ten vor dem Start neben ihm her, um Medicus , der Leistungs- noch einmal Material und Mensch zu sport ausschließlich als eine Angelegen- überprüfen. Auf die Rampe begleiten heit der Sportmedizin begreift. In seinen ihn gleich vier Mapei-Angestellte, als Computern rast der wahre Rominger könne man sich partout nicht von ihm spurtreu auf dem Daten-Highway. trennen. Gleich danach springt der Stimmen die Zahlen nicht, steigt der glatzköpfige Marco Pantani allein aufs Radfahrer wie bei der Tour de Suisse Podium, ohne Helm, das Rad einfach quasi über Nacht aus; stimmen sie mit geschultert, setzt sich drauf, fährt los – den Ergebnissen überein, die der Dotto- re einst beim italienischen Radweltmei- ster ermittelte, riskiert Sein Gesicht verrät Rominger auch den Angriff auf den wieder einmal, Stundenweltrekord, obgleich er so gut wie nie auf der Bahn gefahren ist. wie sehr er leidet Weil Ferraris Daten den Weg nach oben wiesen, mag er nun nur noch den und befördert ungewollt die Mapei-Für- Zahlen glauben, nicht einmal mehr dem sorge zur komischen Nummer. eigenen Körper. Als der Profi im letzten Rominger aber genießt die Hege und Jahr bei der Tour aufgab, war erst die Pflege, sie hebt ihn nach außen deutlich Rede von einer Magenverstimmung, vom Fußvolk ab. Als die Fahrer am Tag dann von einem Virus. Daß die Blut- vor der Tour im Hafen von Saint-Brie´uc tests keinen genauen Befund zuließen, den Fans vorgestellt werden, verschwin- treibt ihn noch heute um. det der Schweizer fast in der Masse. Freunde, die ihn „Jammer-Tony“ Nur an seinen Beinen ist zu erkennen, nennen, fürchten, er denke zu viel, sei daß da ein Großer des Radsports steht: für einen Sportler womöglich gar zu in- Über dem Knie türmen sich musculus telligent. Doch der Datengläubige ent- vastus medialis und musculus vastus la- wickelt aus seiner Manie nur eine logi- teralis, jene Muskeln des Quadrizeps, sche Furcht vor den Unwägbarkeiten die in die Patellarsehne übergehen, zu des Jobs. Bergen wie in den Alpen. Als könne er sich damit schützen, Doch wer schaut schon einem Star schart Rominger immer mehr Helfer auf die Knie? Schon bald suchen die um sich. Ferrari, dessen Honorar von Fahrer den Schatten eines Zeltdachs 30 000 Mark pro Jahr der Profi aus eige- und das Mapei-Team setzt sich ge- ner Tasche zahlt, ist der wichtigste. Daß schlossen an eine lange Tafel. Tony Ro- der Doktor schon mal den Gebrauch der minger aber findet sich einsam an einem Todesdroge Epo verniedlicht, stört den großen runden Tisch wieder; etwas steif Klienten nicht. Muß es wohl auch nicht im Rücken sitzt der kleine Mann ganz in einer Branche, in der schon 1932 die vorn auf der Stuhlkante, und sein Ge- belgischen Profis die Bars an der Strek- sicht verrät wieder einmal, wie sehr er ke stürmten und sich aus Bier und Zuk- leidet. ker ein machtvolles Aufputschmittel zu- So ein Bild ist Symbol der Niederla- sammenrührten. ge, seitdem der deutsche Fußball-Bun- Und wenn es nicht mehr reicht, daß destrainer Berti Vogts nach dem 1:2 im Ehefrau Brigitte den Angetrauten des WM-Viertelfinale gegen Bulgarien ähn- Abends am Telefon „Los, pack die lich isoliert beim Abendessen saß. Chance“ anfeuert, dann wird auch sie Tony Rominger, von dem es heißt, eingeflogen. Die ehemalige Radrenn- seine Blutwerte seien nicht so, wie sie fahrerin weiß, daß für den Erfolg Ge- sein müßten, hatte da noch keinen jener fühle schädlich sind. Als das zweite rund eine Million Pedaltritte getan, die Kind nach der Geburt für Tage auf die ihn jeweils bis zu 8,20 Meter vorwärts Intensivstation mußte, verschwieg sie bringen sollen – auf dem Weg, eine Le- das ihrem Mann – aus Angst, ihr Gatte, gende zu werden. Y

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