WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE AUS DEM TECTUM VERLAG Reihe Kunstgeschichte

WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE AUS DEM TECTUM VERLAG Reihe Kunstgeschichte Band 5

Christiane Starck

Sascha Schneider Ein Künstler des deutschen Symbolismus

Tectum Verlag

Christiane Starck

Sascha Schneider. Ein Künstler des deutschen Symbolismus Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag: Reihe: Kunstgeschichte; Bd. 5  Tectum Verlag Marburg, 2016 Zugl. Diss. Philipps-Universität Marburg 2016 ISBN: 978-3-8288-6531-0 (Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3-8288-3805-5 im Tectum Verlag erschienen.) Umschlagabbildung: Sascha Schneider – Der Triumph der Finsternis, 1896, © Sammlung Röder

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...... 7 1. Einleitung ...... 9 2. Ein Leben an der Nahtstelle des 20. Jahrhunderts ...... 17 2.1. Jugend und Ausbildung: Von St. Petersburg nach (1870-1893) ...... 17 2.2. Etablierung und Erfolg als freischaffender Künstler (1893- 1904) ...... 23 2.3. Professor Schneider in der „gemütlichen Necropolis“ Wei- mar (1904-1908) ...... 28 2.4. Das „italienische Exil“ (1908-1914) ...... 40 2.5. Der Erste Weltkrieg 1914-1918 ...... 47 2.6. Der künstlerische Leiter des Kraft-Kunst-Instituts (1919-1923) 52 2.7. Die letzten Jahre (1923-1927) ...... 56 3. Sascha Schneider als „neuer“ Künstlertypus im Kontext der Jahrhundertwende: Milieu und ideelles Umfeld ...... 71 3.1. Gedankenmaler, Symbolist, Reformkünstler? Abgrenzung und Definition ...... 71 3.2. Das historisch-politische Umfeld ...... 84 3.3. Das philosophisch-reformatorische Umfeld ...... 109 3.4. Religiöses Umfeld und religiöser Umbruch ...... 120 3.5. Soziales Umfeld: Homosexualität und Gesellschaft .....136 3.6. Schneiders Leben als Homosexueller ...... 148 4. Intermedialität, Entgrenzung und Transformation im Werke Schneiders ...... 161 4.1. und Sascha Schneider ...... 161 4.2. Die USTAD-Filmgesellschaft ...... 196 4.3. Wiederholung und Transformation innerhalb des Œuvres: Rezeption eigener Motive ...... 200 5. Körperlichkeit und ihre Bedeutung für das Schaffen Schneiders 227 5.1. Das Kraft-Kunst-Institut und der Weg dorthin ...... 227 5.2. Schneiders theoretische Schriften ...... 248 5.3. Athleten, Knaben, das Androgyne und die Frau im Werk Schneiders ...... 257 5.4. Verlorene Körper: Das Spätwerk ...... 288 6. Sascha Schneiders künstlerisches Umfeld und Nachleben ....297 6.1. Schneider als Teil der reformierenden Kunstbewegung in Sachsen ab 1890 ...... 297 6.2. Kontakte und Freundschaften zu zeitgenössischen Künstlern300 6.3. Rezeption zu Lebzeiten Schneiders in Kunst und Karikatur 316 6.4. Verbrannt, verspottet, vergessen? Die motivisch-thematische Rezeption und das künstlerische Nachleben ...... 321 7. Fazit ...... 333 A. Anhang ...... 341 A.1. Schneiders Schüler ...... 341 A.2. Semesterbeurteilungen und Matrikel ...... 349 A.3. Ausstellungen ...... 372 A.4. Stammbaum Sascha Schneiders ...... 376 A.5. Briefe aus der Hand Sascha Schneiders ...... 377 A.6. Unpublizierte Quellen, Texte und Briefe: ...... 392 A.7. Abbildungen ...... 400 Literatur ...... 429

Werkkatalog der künstlerischen Arbeiten Sascha Schneiders Vorwort

Die vorliegende Monographie ist die überarbeitete und leicht gekürz- te Fassung meiner Doktorarbeit, die im Mai 2015 vom Dekanat des Fachbereichs Germanistik und Kunstwissenschaften (09) der Philipps- Universität in Marburg als Dissertation angenommen wurde. Besonderer Dank gilt meinem Betreuer und Erstgutachter Herrn Prof. Dr. Hubert Locher, der sich mit großem Interesse für mein Thema be- geisterte und mir mit Anregungen, Rat und Tat zur Seite stand. Ebenso dankbar bin ich meiner aufmerksamen und geduldigen Zweitgutachterin Frau Prof. Dr. Sigrid Hofer. Ein Projekt dieser Größenordnung ist ohne vielfältige Unterstützung nicht denkbar. Das Zusammentragen der grundlegenden Informationen über Sascha Schneider und sein Werk führte mich in unterschiedliche Forschungseinrichtungen, aber auch in Privathäuser. Der Einlass in das Zuhause eines Menschen ist ein besonderer Beweis des Vertrauens und ich danke denen, die mir ihre Tür geöffnet und ihren oftmals sehr per- sönlichen Zugang zu Schneider mit mir geteilt haben. Aus dem Kreise der Privatbesitzer, Sammler, Interessierten und Privatarchivare danke ich für die großzügige Unterstützung und das Interesse an meiner Arbeit Frau Heidi Schürmann und Barbara Wilson, Düsseldorf, Herrn Christoph Münch, Frau Maria Lindenmeier und Charlotte Howaldt, Schönkirchen, Frau Ursula Engel, Wiesbaden, Gernot von Arend und Jürgen Richter, Berlin, Gebhard Graf von Hardenberg, Nörten-Hardenberg, Prof. Dr. Rainer-Maria Weiss, Hamburg, Prof. Dr. Erik Jayme, Heidelberg, Dr. Alexander Geckler, Frankfurt am Main, Erwin Höfler, Pommelsbrunn, Professor Reiner Güntzer († 2015), Berlin, Dr. Andreas Sternweiler, Berlin, Herrn Wolfgang Theis, Berlin, Heinrich Graf von Spreti, Herrn Werner Lieberknecht, Dresden, Herrn Wolfgang Schumacher, Lüdenscheid, Dr. Michael Fürst, Berlin, dem Künstler Hermann Naumann sowie seiner Frau Helga Luzens, Dittersbach und dem Regisseur Dr. Hans-Jürgen Syberberg in Nossendorf. In Museen, Archiven und im Kunsthandel traf ich auf Menschen, die stets und mit großem Engagement Fragen beantworteten und bei Proble- men berieten. Ich danke Frau Dr. Gerda Wendermann, Weimar, Herrn Rolf Günther, Freital, Dr. Andreas Dehmer, Dresden, Kristin Gäbler und Dr. Caroline Quermann, Dresden, Andreas Pischel, Dresden, Dr. Ruth Baljöhr, Berlin, Florian Illies, Berlin, Dr. Karin Kanter, Magdeburg, Dr. Jutta Hülsewig-Johnen und Henrike Mund, Bielefeld, Professor Alexan- der Heising, Freiburg i. Br. und Herrn Frank Kempe, München. Dem Karl-May-Verlag, besonders Bernhard Schmid und dem unvergessenen Lothar Schmid († 2013) sowie Herrn Roderich Haug gebührt besonderer Dank. Aus dem Dunstkreis Karl Mays sei noch Prof. Dr. Hartmut Voll- mer, Hans-Dieter Steinmetz, Dr. Johannes Zeilinger, Reinhard F. Gusky, René Wagner, Hans Grunert und dem zu früh verstorbenen Heinz Mees († 2011) gedankt. Für Unterstützung in allen technischen Fragen, Zer- streuung der Bedenken und Beruhigung der Nerven danke ich Dr. Uwe Ziegenhagen, Köln und Axel von Platen, Wolfratshausen. Ich danke aus tiefster Seele Frau Dr. Silke Opitz, Weimar und Professor Jonathan Katz, PhD, Buffalo und Philadelphia für große Chancen und ebenso große An- regungen. Ebenso wichtig war mir die Unterstützung und Freundschaft von Charles W. Leslie, New York. Er war und ist eine wahre Quelle der In- spiration. Dank gilt auch Frau Cilia Ebert-Libeskind für praktische Hilfe und Beratung bei Übersetzungen ins Englische und Französische sowie ihre liebevolle Gastfreundschaft, Dr. Johannes Groß-Hardt für Diskussi- onsbereitschaft und Begleitung, Birgit Schmickler für ein offenes Ohr und den richtigen Ausgleich und Ursula Koch († 2012), die ich sehr vermisse. Meinen Marburger Kommilitoninnen und Kommilitonen des Doktoran- denkolloquiums Melanie Sachs, Franziska Scheuer, Alexandra Vinzenz, Jenny Lehrl, Dennis Janzen, Florian Henrich und Sylvia Brodersen danke ich für Hilfe, Freundschaft und Trost. Ich danke von Herzen meinem Mann und meiner Familie für ihre vielge- staltige Unterstützung und ihr tiefes Verständnis. Diese Arbeit ist meinem Vater gewidmet. 1. Einleitung

Auch bei dieser Arbeit markierte die Frage nach Gründen für eine wei- terführende Untersuchung den Anfang. Zwar wurde Leben und Werk des Künstlers Sascha Schneider in der Forschung bereits behandelt, je- doch setzten sich die dabei gestellten Fragen und gegebenen Antworten nur fragmentarisch mit der Biographie und der Gesamtheit des Wer- kes auseinander. Obwohl beide Hauptaspekte reizvolle Themengebiete während der politisch, sozial, philosophisch und kulturell aufreibenden vorletzten Jahrhundertwende und weit darüber hinaus darstellen, gibt es nur wenig Literatur zu Sascha Schneider. Als die Recherchen zu die- ser Arbeit und die Aufnahme des Projekts im Herbst 2010 begannen, konnte weder in der Forschung noch in den Museen ein großes Interesse an Sascha Schneider oder seiner Kunst festgestellt werden. Zwar hatte sich der exzentrische Künstler mit den Jahren seinen festen Platz in Aus- stellungen erobert, die das ausgehende 19. Jahrhundert in Europa und symbolistische Visualisierungen des Fin des Siècle thematisierten, doch die allein auf den Künstler gerichtete Aufmerksamkeit war seit der letz- ten Einzelausstellung im Nassauischen Kunstverein e. V. in Wiesbaden 1991 ausgeblieben.1 Der Titel dieser Ausstellung zeigt deutlich die Per- spektive, welche bisher die Sicht auf Sascha Schneider bestimmte: Sascha Schneider und Karl May. Eine Künstlerfreundschaft. Schneiders Arbeiten für Karl May und die damit einhergehende Freundschaft war über Jahrzehn- te der einzige Ansatzpunkt für die Beschäftigung mit Schneider. Erst 22 Jahre später wurde Sascha Schneider als Künstler wiederentdeckt, was mit der Entstehung dieser Forschungsarbeit zusammenfiel. Während des Henry van de Velde-Jahres wurde Sascha Schneider vom Stadtmuseum Weimar in der Kunsthalle Harry Graf Kessler präsentiert und das erste Mal seit 1928 ohne Karl May als Vehikel wahrgenommen. Die Ausstel- lung wurde bereits in Kooperation mit dem Leslie+Lohman Museum of Gay and Lesbian Art in New York City organisiert, welches die Ausstel- lung in veränderter Form übernahm und unter der kuratorischen Leitung von Dr. Jonathan Katz unter dem Titel Nude in Public. Sascha Schneider. Homoeroticism and the male form ca. 1900 realisierte. Diesem Umstand ver-

1 Ehrhardt und Reynolds 2000; Buchholz u. a. 2001a. 10 dankte das Projekt auch die Publikation eines zweisprachigen Kataloges, der 2013 in Weimar erschien.2 Diese Ausstellung wurde im Folgenden nach Berlin gebracht, um dort vom 27.03. bis 30.06.2014 im Schwulen Museum* in Berlin präsentiert zu werden. Dieser Zugewinn an Interesse dokumentierte einerseits die Loslösung von Karl May und der damit verbundenen symbolistischen Periode Schneiders und andererseits die Sensibilisierung des Publikums für die sexuelle Ausrichtung des Künstlers, die aufgrund von sozialen Umwäl- zungen und politischen Debatten an Gewicht gewann. Diese neue Ent- wicklung stellt eine Verbindung zur Gegenwart her, welche durch die fast ausschließliche Verknüpfung mit Karl Mays Romanen verloren gegangen war. Davon abgesehen hielt die Forschung allerdings mit der rasanten Entwicklung nicht Schritt. Es existieren keine modernen, publizierten Mo- nografien, welche sich ausschließlich mit Schneider beschäftigen und die das gesamte Werk in die Betrachtung mit einbeziehen. 3 Neben der aus- führlichen und durch Zeitzeugengespräche authentischen Darstellung Hansotto Hatzigs von 1967, die nicht nur Auszüge des heute verscholle- nen Briefwechsels mit Kuno Graf v. Hardenberg, sondern auch ein Werk- verzeichnis enthält, wurde noch zu Zeiten der DDR durch Rolf Günther eine Ausstellung im Haus der Heimat in Freital organisiert und durch eine Publikation begleitet.4 Die Kunsthistorikerin Donatella Cingottini in- teressierte sich 1998 für Spuren, die der Künstler in Florenz hinterlassen hatte.5 Des Weiteren beschäftigte sich eine kunsthistorische Magister- arbeit (1990, Philipps-Universität in Marburg) mit der Darstellung des männlichen Körpers im Werk des Malers und zog dafür ausgewählte Aktdarstellungen zu Rate.6 Eine weitere Examensarbeit im Fach Kunst- geschichte (2000, Justus-Liebig-Universität in Giessen) untersuchte das Werk Schneiders in Hinblick auf die Monumentalmalerei, die einen Teil des Werkes einnimmt und wählte dafür repräsentative Beispiele aus der frühen Schaffensphase des Künstlers.7 Mit der Beziehung zu und den Einflüssen von Max Klinger und Karl May beschäftigte sich bereits 1999 Annelotte Range im Rahmen ihres Dissertationsprojektes. Sie zog Einzel- werke heran, mit denen sie sich in Bezug auf Einflüsse und Vorbilder im

2 Opitz 2013b. 3 Die einzige zu Schneiders Lebzeiten entstandene Monografie ist eine journalistische Arbeit, die das Spätwerk ausklammert. Die Liste der angegebenen Werke ist leider weder zuverlässig noch vollständig. Felix Zimmermann 1923a. 4 Günther und K. Hoffmann 1989. 5 Cingottini 1998, S. 124–142. 6 Feldmann 1990. 7 Lenz 2000. 11

Rahmen einer biografischen Einbettung auseinander setzte.8 Die Werke, welche in Bezug und im Auftrag Karl Mays entstanden, sind dabei vor allem aus Sicht der Karl May Forschung betrachtet worden.9 Zusätzlich publizierte die Autorin im Anhang ausgewählte Briefe, der auch den ge- samten Briefwechsel mit dem Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald enthielt. Alle genannten Schriften beschäftigten sich mit einzelnen Werken Schnei- ders, konnten aber keinen Überblick über das Schaffen bieten. Der Haupt- grund dafür ist das Fehlen eines kompletten Werkverzeichnisses be- ziehungsweise eines Werkkataloges, welcher die Basis für jede weitere Forschung darstellt. Die bisherigen Versuche der Einordnung und grund- legenden Analyse scheiterten meist schon an der Tatsache, dass nur Fa- cetten des Oeuvres als Referenz herangezogen wurden. Sascha Schneider gehört zu den Kunstschaffenden, die ein vielgestaltiges Werk hinterlas- sen haben. Dies ist zwar typisches Merkmal der Jahrhundertwendekunst, erschwert aber gleichzeitig die Einordnung, da die Spanne der Gattun- gen von Zeichnungen und Druckgrafik über Gemälde, Fresken, bis zu Mosaiken, Skulpturen und Bronzeplastiken reicht. In der bisherigen Forschung finden sich Aussagen, welche die Frage nach der kunsthistorischen Bedeutung des Künstlers berührt. So schrieb An- nelotte Range in der oben erwähnten und bislang ausführlichsten Schrift über Schneider kommentierend über einen Text Erich Haenels: „Ob wohl die Kunstgeschichte einer späteren Generation die Bühne schafft, auf der dieser Figur eine Heldenrolle beschieden ist?, so fragte sich Erich Haenel [...] 1928. Auch knapp sieben Jahrzehnte später wird Sascha Schneider keine ‚Heldenrolle‘ zugestanden werden können. Er hat den Gang der Entwicklung der Malerei nicht beeinflusst. Der Tradition verhaftet, in der er groß geworden, hat er sich der Moderne verweigert. Keiner der Stilrichtungen angehörend, die seine Zeit prägten – auch hierin Max Klinger vergleichbar -, war er ein Einzelgänger, aber eben kein Solitär; [...].“10 Range schloss sich dadurch mit nur geringfügiger Modifizierung der Beurteilung Erich Haenels an, der die Visualisierungen Schneiders als fehlgeleitete Projektionen von gleichförmig-idealisierten Jünglingen, puppenhaften Frauen und „Athleten von parfümierter Gespreiztheit“ betrachtete.11 Ähnliche Worte fanden auch Richard Hamann und Jost Hermann in der vielfach rezipierten Publikation Stilkunst um 1900 aus dem Jahr 1967. Dort werden die Aktdarstellungen Schneiders als „klotzig-

8 Range 1999. 9 Hatzig 1967. 10 Range 1999, S. 148; E. Haenel 1928, S. 166. 11 ebda. 12 massive(n) Symbolathleten [...] (in) outrierten Atelierposen“ beschrie- ben.12 Bei der ersten Ausstellung in der damaligen DDR, in der Schneider als Teil des Künstlertrios um Oskar Zwintscher und in der Galerie Neue Meister des Dresdner Albertinums 1982 mitbetrachtet wur- de, fand der damalige Museumsdirektor Joachim Uhlitzsch (1919-1989) ebenfalls keine Gründe dafür, das Urteil Haenels zu revidieren.13 In seiner Einführung hieß es:„Dieser fraglos begabte Zeichner und Wandgestalter hatte sich ein philosophisches Geschmuse zusammengelesen, in dessen mulmiger Ekstase Ideen von Friedrich Nietzsche, Stefan George, Hans Blüher und Karl May verrührt sind.“14 Die aus seiner Sicht fragwürdi- ge Motivation zur Schöpfung seiner Kunstwerke bekam bei Uhlitzsch allerdings noch eine völlig andere Wendung, als er auf die „unverhüllte Hervorkehrung der Homosexualität des Künstlers“ als entscheidendes, die bereits zitierte „Heldenrolle“ verhinderndes Defizit hinwies. Diese Haltung wurde bereits im Jahr der Ausstellung von Erhard Frommhold kritisiert, der Schneider und sein Werk mehr als ungelöstes kunsthisto- risches Problem sah, dem eine sorgfältige Behandlung auch wegen der bekannten Homosexualität des Künstlers vorenthalten wurde.15 Die Zusammenfassung des Forschungsstandes zeigt, dass Schneider zwar in der Kunstgeschichte wahrgenommen worden ist, jedoch bisher nicht umfassend behandelt wurde. Es existieren nur Einzelstudien, die weder das Gesamtwerk noch die übrigen zeitgenössischen Quellen wie Briefe oder Texte mit einbeziehen und so den Künstler und sein Werk losgelöst von seinem Umfeld betrachten.

Untersuchungsansatz und Methode

Als umfassende Monographie, die Schneiders Leben und Werk betrachtet, stand zu Beginn die Erstellung einer quellengestützten bzw. auch quellen- kritischen Biographie an. Diese Biographie wurde durch die Sammlung von Spuren aller kreativen Arbeiten, die Sascha Schneider hinterlassen hat, ergänzt. Diese beiden Grundsteine stellten durch ihre Verflechtung bereits die Aspekte heraus, die dann im Textteil intensiver beleuchtet wurden. Bei der Recherche tauchten mit der Zeit immer mehr handschrift-

12 Hamann und Hermand 1967, S. 425. 13 Uhlitzsch war zwischen 1963 und 1984 Direktor der Galerie Neue Meister der Staatlichen Kunst- sammlungen Dresden. 14 Uhlitzsch 1982, S. 9. 15 Weder Stefan George noch Hans Blüher können als Vorbilder Schneiders in Betracht gezogen werden, da George eher zu den von Schneider verhassten elitären Weimarer Kreisen zählte und Blüher (1888-1955) zu jung war, um Einfluss zu nehmen. Frommhold 1982, S. 443. 13 liche Dokumente Schneiders auf, die bisher noch nicht berücksichtigt worden waren. Diese Schriften lieferten neue Erkenntnisse, beantwor- teten einige Fragen und stellten auch einige neue. Darunter fallen vor allem die Briefe an Kuno Graf von Hardenberg16, die Korrespondenz mit Professor Heinrich Gerland und dem Ehepaar Lieberknecht.17 Besonders aus diesen Briefen wurden reiche Schätze an Zitaten entnommen, da sie bisher nicht in Gänze publiziert und sich in dem Privatarchiv der Familie von Hardenberg bzw. in Privatbesitz befinden und nicht ohne weiteres zugänglich sind. Gleichzeitig ist der Briefwechsel mit Karl May 2009 veröffentlicht worden, was das Bild der Künstlerfreundschaft und der Persönlichkeit Schneiders weiter komplettierte.18 Die Recherche für ein nach allen Möglichkeiten komplettes Werkverzeich- nis berücksichtigte neben dem Zusammenstellen der bereits an verschie- denen Orten publizierten Werke auch solche, welche sich in musealen Depots, Privatsammlungen und Archiven befinden. Die im Kunsthandel verkauften oder in Zukunft zu verkaufenden Werke wurden ebenfalls dem gesammelten Oeuvre hinzugefügt, wobei dort auch in der Zukunft hoffentlich Originale Schneiders auftauchen werden.19 Für verlorene, verschollene oder auch im Krieg zerstörte Kunstwerke musste nach den bestmöglichen Abbildungen recherchiert werden.20 Dabei kam es auch zu Schwierigkeiten, wenn beispielsweise durch briefliche Hinweise oder im einzigen zeitgenössischen Verzeichnis der Titel eines Werkes überlie- fert wurde, aber ohne Abbildung.21 Der Zugang zu privaten Haushalten, in denen sich Werke Schneiders befinden, war nicht immer leicht. Durch den Kontakt zu Institutionen wie dem Karl-May-Verlag und auch hilfs- bereiten Privatsammlern konnte mit der Zeit ein Netzwerk entstehen, welches Stück für Stück dazu beitrug, das Werkverzeichnis zu ergänzen. Die bis heute noch vorhandenen Leerstellen können hoffentlich in den kommenden Jahren durch weitere Forschung geschlossen werden.

16 Ein Teil der Briefe ist auszugsweise publiziert bei Hatzig 1967. Die abfotografierten und eingescann- ten Briefe, welche im Hardenberg-Archiv zerstört wurden, hatten sich im Besitz Hans Wollschlägers erhalten. Die Witwe Monika Wollschläger stellte diese Kopien Professor Hartmut Vollmer zur Verfügung, der sie mir dankenswerter Weise zuschickte. Leider war es mir nicht möglich, einen Kontakt zu Monika Wollschläger herzustellen. 17 Beide Briefwechsel befinden sich im Original in Privatbesitz. 18 Vollmer und Steinmetz 2009. 19 So beispielsweise Schamane (1901) am 16.04.2008 im Wiener Auktionshaus Dorotheum. 20 Als Beispiel seien die Wandgemälde im Foyer der Oper Köln zu nennen, deren Existenz in Annelotte Ranges Publikation (1999) noch unbekannt waren. 21 z. B. Felix Zimmermann 1928. Nicht in allen Fällen war es möglich, den Rechteinhaber der Abbil- dungen ausfindig zu machen. Bei berechtigten Ansprüchen wird um Meldung beim Verlag gebeten, diese werden nach den üblichen Vereinbarungen abgegolten. 14

Die Biographie und das Werk lieferten in ihrer Gesamtschau die Themen- schwerpunkte, welche im Textteil besprochen wurden. Dabei wurde durchgängig die Person Schneider in den Mittelpunkt und in ein Ver- hältnis zu ihrer Umwelt gestellt, wobei das hinterlassene Werk wie ein Echolot zur Positionsbestimmung genutzt wurde. Die Argumentationen konnten durch künstlerische Werke sowie schriftliche Hinterlassenschaf- ten gestützt werden. Diese Methode ließ sich schlüssig in den Kapiteln anwenden, in denen seine Position als Künstler und sein Umfeld betrach- tet wurde. Im Kontext der Jahrhundertwende gab es etliche Quellen der Inspiration und zahlreiches Konfliktmaterial, das sich in Schneiders Werk spiegelte. Dazu seien nur die sozial-politische Entwicklung des deut- schen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg, die Gedanken des Philosophen Friedrich Nietzsche und die vielfältigen, neureligiösen Strömungen der Jahrhundertwende genannt. Zu diesem ideellen Umfeld gehörte auch Karl May, der aber aufgrund seiner historischen und der persönlichen Bedeutung für Schneider ein eigenes Kapitel gewidmet bekam. In diesem vierten Kapitel wurden mit Intermedialität, Entgrenzung und Transformation wichtige Aspekte aus- gebreitet, welche Schneiders Bedeutung für die Moderne betonen und die eng mit dem Werk Karl Mays verbunden sind. Ähnlich wurde die künstlerische Umsetzung von Körperlichkeit im fünften Kapitel bearbei- tet. Die Homosexualität Schneiders lieferte dabei eine persönliche Facette, die sein Bild des Körpers beeinflusste und dazu beitrug, seine geistige Botschaft in Gestalt des männlichen Körpers zu vermitteln. Dies gipfelte im Kraft-Kunst-Institut und der Überwindung des künstlerischen Ma- terials, was in körperverändernden Praktiken wie dem professionellen Bodybuilding und später in den 1960er Jahren durch Body Art wieder aufgenommen wurde. Im sechsten Kapitel wurde die Einbettung des Künstlers in sein Umfeld und in die Kunstströmung des Symbolismus betrachtet, die ebenfalls seltener Thema der Forschung gewesen ist. Dies hängt sicher auch damit zusammen, dass der Begriff des Symbolismus mehr mit Frankreich und Belgien als mit Deutschland oder sogar Sachsen in Verbindung gebracht wird. Gemeinsam mit Hans Unger, Oskar Zwint- scher und Richard Müller war Schneider Teil einer kunstrevolutionären Strömung, die sich vor allem gegen die althergebrachten Traditionen der Dresdner Kunstakademie auflehnte und, beeinflusst von künstlerischen Leitbildern wie Max Klinger und Carl Bantzer, inhaltlich und technisch eigene Wege beschreiten wollte. Diese in sich vielgestaltige Gruppe wur- de auch unter dem Begriff Sächsischer Symbolismus zusammengefasst.22 Den Abschluss bilden die Einflüsse, die Schneider auf seine Umwelt aus- übte und ein Ausblick, welcher sich mit dem, bei genauerer Betrachtung

22 Günther 2005. 15 vitalen, Nachleben Schneiders in Gestalt seiner Bildideen befasste. Während des Ersten Weltkrieges gab der Künstler eine kokette, aber auch klarsichtige Einschätzung seiner selbst zum Besten, die in einem Brief an seinen Freund Kuno Graf von Hardenberg überliefert wurde:„[. . . ]; und entweder bin ich ein Narr, oder ein Reformer, jedenfalls ein Outsider.“23 Dieser Satz umreißt mit drei Begriffen die Zweifel, die Mission und die Position, in der sich Schneider sah und die sowohl seine Selbstwahrneh- mung als auch sein künstlerisches Schaffen nachhaltig bestimmten.24

23 Schneider an Hardenberg, 16.11.1916. Hardenberg-Archiv. 24 Für die nachfolgende biografische Darstellung wurden neben den teilweise schon bekannten Archivdokumenten auch Quellen verwendet, welche sich in Privatbesitz befinden und bisher nicht veröffentlicht wurden. Dazu zählen Briefwechsel zwischen Sascha Schneider und Dr. Karl Rothe, Professor Heinrich Gerland, Lucia und Richard Lieberknecht, Rudolf Kolbe, Professor Georg Treu und einzelne Briefe Max Klingers. Zur Beleuchtung der unmittelbaren Zeit nach Schneiders Tod standen Briefe von Kuno Graf v. Hardenberg, Eugen von Beulwitz, dem Ehepaar Lieberknecht, Professor Gerland und Schneiders Schwester Lilly Gorutschko und deren Tochter Lydia Langenhaun in Privatbesitz zur Verfügung. Das private Archiv der Familie Hardenberg verwahrte ursprünglich die gesamte Korrespondenz zwischen Schneider und Kuno von Hardenberg, leider ist der frühe Briefwechsel (1902-1914) bei einem Brand vernichtet worden und es haben sich nur Teile in Kopien erhalten.

2. Ein Leben an der Nahtstelle des 20. Jahrhunderts

2.1. Jugend und Ausbildung: Von St. Petersburg nach Dresden (1870-1893)

Rudolph Karl Alexander Schneider wurde am 21. September 1870 in St. Petersburg geboren. Schneider sollte allerdings Zeit seines Lebens die russische Koseform seines Rufnamens Alexander, Sascha, bevorzugen. St. Petersburg, damals Hauptstadt des russischen Zarenreiches, erlebte im 19. Jahrhundert eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte. Die Attrakti- vität der Metropole konnte sich auch Sascha Schneiders Vater Rudolph Schneider (1834-1884) nicht entziehen. Ursprünglich als einziger Sohn des Handelskapitäns Carl Rudolph Schneider in Danzig geboren und zum Buchdrucker ausgebildet, ließ er sich schließlich in der russischen Haupt- stadt nieder, um einen Verlag für künstlerische Graphik zu gründen. Aus seiner ersten, durch den Tod seiner Frau Luise von Hartje beendeten Ehe blieb Rudolph Schneider der Sohn Karl (1866-1930). Rudolph Schneider heiratete bald darauf erneut. Seine zweite Ehefrau wurde die in Berlin geborene, in St. Petersburg lebende Pauline Friederike Parascha Katinka Langenhaun (1841-1908).25 Parascha Langenhaun kam aus einer Schauspielerfamilie.26 Der Vater ihrer Mutter war Theaterdi- rektor, ihre Eltern Leopold und Nanny Langenhaun waren Opernsänger und Schauspielerin am Hofe des Zaren. Parascha Langenhaun hatte noch drei Schwestern, die ebenfalls künstlerisch aktiv waren. Eine der Schwes- tern, Anna Langenhaun, zog 1862 nach Dresden, um im königlichen Hoftheater als Schauspielerin Karriere zu machen. Dort lebte sie mit ihren Schwestern Olga und Leopoldine zusammen und machte sich vor allem als Partnerin des Schauspielers Emil Devrient (1803-1872) einen Namen.27 Diese Beziehung zur Residenzstadt Dresden legte den Grund-

25 Hatzig 1967, S. 28. 26 Hatzig schrieb den Namen Paraskowja, richtig ist die Schreibweise Parascha. In einer handschriftlich von Lydia Langenhaun kommentierten Ausgabe der Publikation von Hatzig 1967 in Privatbesitz sind Korrekturen und Erweiterungen vorgenommen. 27 Emil Devrient spielte zwischen 1831 und 1868 dauerhaft an der Hofbühne in Dresden. Die Zusam- 18 stein für die spätere Bindung Parascha Schneiders an diese Stadt, die sie nach dem Tod ihres Mannes zu ihrer neuen Heimat machen sollte. Parascha und Rudolph Schneider bekamen drei gemeinsame Kinder. Auf den ältesten Sohn Alexander, genannt Sascha, folgten am 16.10.1872 Laura Adele Anna Katharina, genannt Lilly und am 02.03.1878 Louise Caroline Helene.28 Die ersten 12 Jahre seines Lebens verbrachte Sascha Schneider mit seinen Eltern und Geschwistern in St. Petersburg. Die fi- nanzielle Situation der Familie scheint gesichert gewesen zu sein, was die Betreuung der Kinder durch eine russische Amme unterstreicht. Unter den Aufzeichnungen Kuno Graf von Hardenbergs befindet sich auch der mit Maschine geschriebene Entwurf einer nicht veröffentlichten Mono- grafie, welche einige Kindheitserinnerungen beleuchtet.29 Dort heißt es, dass der Kontakt mit der russischen Amme eine Vertrautheit mit der rus- sischen Sprache und den vielfältigen russischen bzw. slavischen Märchen und Sagen bewirkte. Gleichzeitig entstand dieser Quelle nach eine Begeis- terung für die Pracht und die Bildlichkeit der russisch-orthodoxen Kirche, besonders für die Ikonostase und die damit verbundenen Legenden der Heiligen.30 In späteren Erinnerungen Lilly Schneiders widersprach sie einer engen Bindung an eine russische Amme und hebt andere Aspekte wie das schauspielerische Können der Mutter hervor.31 Die Kindheit Sascha Schneiders war nach dieser Darstellung weniger von der westeu- ropäischen Herkunft seiner Familie, sondern seinem russischen Umfeld geprägt, sein Vorname war bestimmt nicht zufällig mit dem des regie- renden Zaren identisch. Vermutlich kam der Sohn Rudolph Schneiders durch den Verlag des Vaters für grafische Kunst auch schon früh mit Ab- bildungen bedeutender Kunstwerke in Berührung, die unter anderem in Mappenwerken aufgelegt wurden. Offenbar zeigte Schneider früh Bega-

menarbeit mit Anna Langenhaun muss zwischen 1862 und 1868 stattgefunden haben. Hardenberg 1904. Dieser Text ist r. o. durch die Worte enquoteMitgeteilt Frühjahr 1904 datiert, Typoskript, 9 Seiten. Er befindet sich im Hardenberg-Archiv. Zitiert als Hardenberg 1904. 28 Die Lebensdaten und weiteren Verzweigungen der Familie Langenhaun-Schneider-Gorutschko sind dem Stammbaum im Anhang zu entnehmen. Laut Lilly Schneider war das Verhältnis zwischen Sascha Schneider und seinen Geschwistern Karl und Luise von Entfremdung und Trennung geprägt. Lilly Gorutschko-Schneider an Ludwig Rohling 16.03.1942. Privatbesitz. 29 Hardenberg 1904. 30 Die Schilderung Hardenbergs zielte wohl auf eine Erläuterung der außergewöhnlichen und fremd wirkenden Bildwelt des jungen Sascha Schneiders, wobei z. B. russische Ikonen als Inspiration nicht von der Hand zu weisen sind. Sowohl die Schilderungen Hardenbergs als auch Gorutschko- Schneiders und Zimmermanns sind aus Schilderungen entstanden. Es existieren keine zeitgenössi- schen Quellen, alle Schilderungen wurden mündlich weitergegeben oder aus Erinnerungsfragmen- ten konstruiert. 31 Lilly Schneider an Dr. Ludwig Rohling, 16.03.1942. Privatbesitz. 19 bung und konnte mit vier Jahren lesen und mit sechs Jahren schreiben.32 Die Hinwendung zur Kunst wurde von der Familie laut Hardenberg nicht gefördert. Den Eltern, vor allem dem als nüchtern, gemessen und still beschriebenem Vater, schwebte eher eine Karriere als Geistlicher vor.33 Die Sommer verbrachte die Familie in Savitaipale im Südosten Finnlands, wo sie naturnah lebten und die Unberührtheit der Wälder und Seen den Jungen beeindruckten.34 Im Jahre 1874 kam es zu dem Unfall, der ihn für den Rest seines Lebens behindern sollte. Beim Spielen mit seiner Schwes- ter stürzte der Vierjährige „auf eine Fußbank, die mit den Füßen nach oben gekehrt lag.“35 Um der Strafe für das verbotene Toben zu entgehen, unterdrückte das Kind wohl seine Schmerzen, doch der Sturz hatte eine Verletzung des Rückgrats verursacht, die von den Ärzten durch eine zweijährige Fixierung in einer Art Streckbett therapiert wurde.36 Laut den Erinnerungen seiner Schwester sprach der kleine Sascha bereits auf dem Krankenlager davon, einmal groß und stark zu werden und seinen als schwach empfundenen Körper durch Sportlichkeit und Heldentaten zu stählen.37 Nach seiner langen Genesung trat neben den fantasievoll- mythischen Aspekten der russischen Hauptstadt auch ihre politische Bedeutung in den Vordergrund. Als Residenz des Zaren war St. Petersburg auch Zentrum der Unru- hen, welche letztendlich zur Oktoberrevolution führen sollte. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts waren bereits mehrere Anschläge auf den damaligen Zaren Alexander II. verübt worden. Die Ausführenden waren meist Studenten, die sich den russischen Nihilisten angeschlossen hatten. Diese sowohl philosophische als auch sozial- und kulturrevolutionäre Be- wegung sah in den Autoritäten wie Monarchie und Staat und Kirche, aber auch in den traditionell patriarchalisch geprägten russischen Familien eine Bedrohung des autonomen und emanzipierten Menschen, der seine Weltordnung allein aus dem Studium der Naturwissenschaften ableiten solle. Nach einer Schilderung Lilly Gorutschko-Schneiders erlebte Sascha Schneider während eines Spazierganges mit seiner Amme das letzte und

32 Hardenberg 1904, S. 1. 33 Hardenberg 1904, S. 2. 34 Savitaipale = Sieben Teufel. Hardenberg 1904, S. 2. Peterich 1928. Rundschau 1920. 35 Range 1999, S. 7. 36 Lilly Gorutschko-Schneider macht in den Erinnerungen die strenge Erziehung der Eltern und die „unbegreifliche Unwissenheit“ des Arztes für die Spätfolgen der Verletzung verantwortlich. S. a. Peterich 1928. 37 Da die Verfasserin der Erinnerungen zum Zeitpunkt des Unfalls zwei bzw. später vier Jahre alt war, ist nicht von einer eigenständigen, sondern eher einer später konstruierten Erinnerung auszugehen. 20 erfolgreiche Attentat der radikalen Vereinigung Народная воля (Volkswil- le) auf Alexander II. am 1. März 1881 aus unmittelbarer Entfernung mit.38 Dabei explodierte eine mit Sprengstoff gefüllte Büchse direkt vor dem Zaren, der kurze Zeit später seinen schweren Verletzungen erlag. Dieses Erlebnis war das Letzte, welches der junge Schneider mit aus Russland nehmen sollte. Im gleichen Jahr verlangte die Erkrankung des Vaters an Tuberkulose einen Umzug in klimatisch günstigere Regionen. Die Familie siedelte von St. Petersburg nach Meran in Südtirol und 1882 nach Zürich um, wo der Vater die Schweizer Graphischen Mitteilungen gründete.39 Der Umzug konnte die Schwindsucht jedoch nicht aufhalten, 1884 verstarb Rudolph Schneider in einer Lungenheilanstalt in Davos. Im gleichen Jahr noch zog Parascha Schneider mit ihren Kindern zu ihren Schwestern nach Dresden, wo sie im Hause Langenhaun Wohnung nahmen. Sascha Schneider, der bereits in der Schweiz zur Schule gegangen war, wurde 1884 in die Quinta der heute noch existierenden Kreuzschule aufgenom- men. Er besuchte das Gymnasium bis 1889 und verließ die Schule mit dem Abschlusszeugnis der Untersekunda.40 Aufgrund des Engagements seines verstorbenen Vaters zur Etablierung und Erhaltung deutscher Kultur in Russland, er gründete u. a. den deutschen Verein „Die Palme“ in St. Petersburg, hatte Sascha Schneider in der Quarta, Obertertia und Untersekunda eine ganze, in der Untertertia eine halbe Freistelle erhal- ten.41 Während seiner Schullaufbahn befasste sich Schneider schon mit Zeichnungen, die sich illustrierend dem Schulstoff annäherten. So ist aus dem Jahre 1885 eine Zeichnung überliefert, die vermutlich eine Szene aus Shakespeares Drama König Richard III. zum Thema hat. Gleichzeitig fiel es dem Schüler schwer, sich in das hierarchische und so- ziale System des Gymnasiums einzufügen. Er wurde mehrfach wegen der Benutzung der Schulbücher- und hefte als Zeichenpapier verwarnt und wohl beinahe vom Unterricht ausgeschlossen.42 Dieses zornig-rebellische Verhalten sollte auch später in der Akademie zu Schneiders Beendigung der akademischen Laufbahn führen. Zu dieser Zeit war er durch die Wer- ke Rubens im neuen Königlichen Museum Dresdens beeindruckt, ein Jahr

38 So in der von Lydia Langenhaun kommentierten Fassung von Hatzig 1967. 39 Hardenberg 1904, S. 3 40 Laut Hardenberg schloss er 1888 mit dem Primanerreifezeugnis ab, doch die Programme des Gymnasiums zum heiligen Kreuz in Dresden Nr. 485, 491, 497, 504, 507, 526 geben eine andere Auskunft. Archiv des Dresdner Kreuzchores und des Evangelischen Kreuzgymnasiums Dresden. S. a. Range 1999, S. 8. 41 Alle drei Kinder erhielten ganze oder teilweise Schulstipendien. In der kommentierten Ausgabe von Hatzig 1967, S. 30 Range 1999, 8, Anm. 22. 42 Lilly Gorutschko-Schneider an Ludwig Rohling 16.03.1942. Privatbesitz. 21 später erweiterte er sein Interesse auf Bonaventura Genelli (1798-1868) und Peter von Cornelius (1783-1867), Annibale Carraccis (1560-1609) Thronende Madonna mit dem hl. Matthäus (1588) und das in der Dresdner Galerie Alte Meister gezeigte Gemälde Anbetung der Hirten (La Notte) von Antonio Allegri da Correggio hob er als besonders eindringliche Erinnerung hervor.43 Zu dem Zeitpunkt, wo er nach eigenen Angaben seine Aufmerksamkeit auf Dürer konzentrierte, wechselte Schneider 1889 von der Schule aufgrund seines von dem Maler und Professor Leonhard Gey (1838-1894) bezeugtem Talents auf die Königliche Kunstakademie in Dresden.44 Schneiders erste Studienerfahrungen machte er unter Professor Heinrich Ferdinand Hofmann (1824-1911), der während seiner Zeit in Rom von Peter von Cornelius beeinflusst worden war. Diese Verbindung wurde als wenig beeindruckend beschrieben.45 Er übersprang die einführende Klasse der Kunstakademie, die er nur von April bis Juni besuchte und wechselte direkt in die Mittelklasse.46 Im April 1890 konnte er in die Oberklasse und im Jahr darauf in den Malsaal wechseln.47 Es ist nur wenig über die Ausbildung bei Ferdinand Pauwels (1830-1904) und Leon Pohle (1841-1908) bekannt, bei denen Schneider im Folgenden unterrich- tet wurde. In seiner Rückschau beschreibt er die Klassen bei Pauwels sogar als „verlorene Zeit“.48 Einen etwas genaueren Eindruck erhält man aus der Schilderung Richard Müllers (1874-1954), der in einem autobio- graphischen Text den Akademiealltag umreißt:„In Dankbarkeit gedenke ich auch meines Klassenlehrers in der Akademie, Prof. L. Gey, der uns u.a. über den Bau des menschlichen Auges und Ohres usw. aufklärte und sie uns in Verkürzungen und Überschneidungen darstellen lehrte, alles Dinge, die für das ganze künstlerische Schaffen grundlegend waren. Sascha Schneider, R. Max Eichler und mich nahm er besondere scharf vor,

43 Hardenberg 1904,S. 3-4. Gemeint ist das Gemälde Die heilige Nacht, welches auch als das Lieb- lingsbild Karl Mays galt. Correggio, Antonio Allegri da: Die heilige Nacht, 1527/30, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Alte Meister. 44 In der von Lydia Langenhaun kommentierten Ausgabe vonHatzig 1967 heißt es, dass die Prüfung durch Leonhard Gey an der Akademie von der Familie erlaubt wurde, um seine Hoffnung auf eine Künstlerkarriere zu zerstören. S. a. Felix Zimmermann 1923a, S. 10. 45 Hardenberg 1904, S. 3-4 46 Schneiders früheste Zeichnungen zeigen großes Talent, auch wenn sich sein eigener Stil noch in der Nachahmung der altmeisterlichen Tradition verlor. Siehe dazu als Beispiele: Kat. Z 015, Z 016, Z 023, Z 026, Z 027, Z 031, Z 032 und ff. 47 Hauptstaatsarchiv Dresden. Kunstakademie Dresden Nr. 110. Er wurde mit „sehr gut“ beurteilt und erhielt sowohl in der Oberklasse als auch im Malsaal Prämien für seine Arbeiten. S. a. Range 1999, S. 9. 48 Schneider war 1892 zu Prof. Ferdinand Pauwels in das Atelier für Historienmalerei aufgenommen worden. Hauptstaatsarchiv Dresden. Kunstakademie Dresden Nr. 110. Hardenberg 1904, S.4. 22 weil er uns wohl für die talentvollsten seiner Schüler hielt. Im täglichen Abendakt, von 5 bis 7 Uhr, standen sämtliche Lehrer der Akademie zur Korrektur zur Verfügung, unter ihnen Scholz, Schilling, Gey, Pauwels, Dies und Geyger. [...]IndenPausen wurden die Arbeiten der anderen Schüler betrachtet.[. . . ] Natürlich ging es auch manchmal recht fidel zu. Fast jeder Schüler hatte eine Gabe, die zum lachen reizte. Da wurde das Geheul eines Hundes imitiert, den man getreten hatte oder ein Professor wurde in Gang und Sprache nachgeahmt, insbesondere sein Ausspruch, das wir alle talentlos seien. [sic!]“49 Schneiders späterer Biograph Felix Zimmermann (1874-1946) schilderte Richard Müller als „erbarmungslo- sen Abschilderer des Seienden“.50 Müller sollte von 1900 bis 1935 an der Dresdner Akademie unterrichten und ab 1933 deren Rektor sein.51 Aus dem Jahr 1890 bzw 1894 sind frühe Ölstudien überliefert, die das Talent des Zwanzigjährigen belegen. Der erwähnte Ernst Moritz Geyger hatte 1893 ein Meisteratelier für Kup- ferstich an der Akademie inne, was die ersten graphischen Versuche der Kunstschüler erklärt.52 Schneider wurde nie ein begeisterter Graphi- ker, während Richard Müller, stark von Geyger und Klinger beeinflusst, ein großer Meister dieser Kunst werden sollte.53 Der Archäologe Georg Treu (1843-1921) spielte ebenfalls eine wichtige Rolle in Schneiders Aus- bildung und vermittelte ihm erste Eindrücke der antiken Kunst. Zum Zeitpunkt von Schneiders Studium an der Kunstakademie betreute Treu die Skulpturensammlung des Albertinums und war als Professor für Kunstgeschichte am Polytechnikum bzw. der Technischen Universität in Dresden. Dieser frühe Kontakt schürte offensichtlich ein großes Interesse an der Antike und ihrer Kunst, die Schneider für den Rest seines Lebens behalten sollte. Treu erweiterte die Skulpturensammlung nicht nur um antike Originale, sondern auch um zeitgenössische Plastiken, die mit den antiken Stücken korrespondierten und setzte sich für die Anschaffung von Abgüssen ein, um die Geschichte der Plastik zu dokumentieren. Aus Schneiders Briefwechsel mit Georg Treu (1901-1917) geht dement- sprechend nicht nur eine ähnliche Geisteshaltung, sondern auch eine Förderung Schneiders und Eingliederung seiner Werke in die Sammlung

49 Der autobiographische Text Richard Müllers ist nicht veröffentlicht, lässt sich aber bei der Galerie Saxonia, Titurelstr. 2, 81925 München einsehen. Die Galerie verwaltet den Nachlass des Künstlers. S. aGünther 1998. 50 Felix Zimmermann 1923a, S. 11 Dr. Felix Zimmermann war Journalist, Feuilleton Redakteur und Theaterkritiker, er schreib u. a. für die Dresdner Nachrichten. 51 Günther 2005, S. 78. 52 Siehe dazu z. B. das Brustbild Selbstbildnis mit Pelzmütze (um 1894, Kat. D 010). 53 Günther 2005, S. 74. 23 des Albertinums hervor.54 Leonhard Gey (1838-1894) war Schüler von Julius Schnorr v. Carolsfeld gewesen. Offenbar war es Geys Einschät- zung zu verdanken, dass Schneider den Schritt auf die Akademie wagte. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler war wohl sehr harmonisch, von Zimmermann gar als „väterliche Liebe“ beschrieben.55 Aus Schnei- ders Akademiezeit sind etwa 40 Werke bekannt, die noch stark auf die akademischen Einflüsse und die künstlerische Herkunft seiner Lehrer verweisen.

2.2. Etablierung und Erfolg als freischaffender Künstler (1893-1904)

Sascha Schneider verließ mit einem Donnerschlag im Jahr 1893 die Kunst- akademie in Dresden. Das plötzliche Ende von Schneiders Ausbildung verursachte der Student selbst durch die Initiierung eines öffentlichen Skandals. Während eines Kommerses, welcher anlässlich des Geburtsta- ges König Alberts von Sachsen abgehalten wurde, hielt der Präses eine Rede voll von „patriotischem Phrasengeklingel“.56 Schneider drückte seine Verachtung für das untertänige Verhalten dadurch aus, dass er den Raum verließ und mit einem Teller voll „etwas Unsagbarem“ zurück- kehrte und vor den Redner abstellte.57 Nach dieser Aktion, die beinahe in einer Schlägerei geendet hätte, musste Schneider die Akademie zum 29.09.1893 verlassen.58 Schneiders abrupte Beendigung des Studiums fand ein Jahr vor dem Tod seines geschätzten Lehrers Leonhard Gey statt, dessen Hinscheiden auf Schneiders verschollener Zeichnung Der Gram in eindrucksvoller Symbo- lik thematisiert ist. Die künstlerische Beschäftigung mit Geys Ableben spricht für die mehrfach geäußerte enge Beziehung zwischen Lehrer und Schüler.59 Zu den Kommilitonen an der Akademie pflegte Schneider we- nig Freundschaften. Der 1872 geborene Reinhold Max Eichler (1872-1947) zählte zu seinen Freunden, ebenso wie der oben bereits erwähnte Richard

54 z. B. Schneider an Treu, 18.10.1901. Privatbesitz. 55 Hatzig 1967, S. 31. 56 Hardenberg 1904, S. 5. 57 Ebda. 58 Diese Anekdote fand keinen Niederschlag in den Akten der Kunsthochschule. Hauptstaatsar- chiv Dresden. Kunstakademie Dresden Nr. 110. Schneider verließ zu Michaelis die Hochschule. Hardenberg 1904, S. 5. Range 1999, S. 11. 59 Hatzig 1967, S. 31. 24

Müller und Werner Begas (1872-1927), Sohn des berühmten Bildhauers Reinhold Begas (1831-1911).60 Gemeinsam mit seinem Kommilitonen Richard Müller bezog Schneider ein erstes gemeinsames Atelier, welches auch als „elende Dachstube“ bezeichnet wird und sich im Dachgeschoss des Kaufhauses von Johannes Mühlberg (1869-1949), einem Freund und Förderers der jungen Künstler, befand.61 Schneider begann dort, groß- formatige Kartons zu zeichnen, die 1894 im Kunstsalon Lichtenberg in Dresden ausgestellt wurden und großes Aufsehen erregte. Die Ausstel- lung und damit einhergehend auch der Verkauf seiner Werke war Ziel des Künstlers und die Entwicklung des modernen Kunsthandels in Dres- den spielte ihm zu. Neben den Aktivitäten des Sächsischen Kunstvereins, der nationale und internationale Künstler auf Ausstellungen präsentierte, etablierte sich in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts auch der private Kunsthandel in Dresden. Drei Galerien sind dabei als wichtigste Orte der zeitgenössischen Kunst zu nennen, einmal die Galerie Ernst Arnold, der Kunstsalon Lichtenberg und der renommierte Kunstsalon Emil Richter.62 Diese Salons zeigten Kunstwerke in Wechselausstellungen und boten sie zum Verkauf an. Für Sascha Schneider richtete der Kunstsalon Lich- tenberg im September 1894 eine Ausstellung ein, die sowohl ein großes Publikum anlockte als auch ein beachtliches Medienecho provozierte.63 Schneider bot aufgrund der positiven Reaktionen die Zeichnungen dem Verlag J. J. Weber in Leipzig zur Reproduktion an.64 Der Verlag war auf die Reproduktion in Stahlstich und Holzschnitt bzw. -stich spezialisiert und gab seit 1834 die Illustrierte Zeitung heraus. Gleichzeitig kümmerte sich ein Berliner Kunsthändler namens Lewitt, mit dem sich Schneider allerdings kurze Zeit später überwarf, um eine Wanderausstellung der Kartons. Durch diese stetigen Tätigkeiten in der Öffentlichkeit erregte Schneider die Aufmerksamkeit Max Klingers. Es ist im Tagebuch Harry Graf Kesslers vermerkt, dass Klinger bereits 1894 Schneider nicht nur lobte, sondern ihn dem einflussreichen Kessler mit eindeutigen Worten empfahl.65

60 Hardenberg 1904, S. 4. 61 Hardenberg 1904, S. 5. Vollmer und Steinmetz 2009, S. 111; Pauli 1894-95, S. 119. Im Jahre 1919 sollte dort das Kraft-Kunst-Institut eröffnen. 62 H. Biedermann 2001, S. 211. 63 Felix Zimmermann 1923b, S. 5. 64 Fendler o. J. Zwei der Werke wurden an das Kupferstichkabinett Dresden, zwei weitere an das Stadtmuseum Magdeburg verkauft. Hatzig 1967, S. 32. Die Mappe wurde positiv besprochen:Lindau 1897, S. 134–136. Der Verlag J.J. Weber warb 1906 damit, bereits die 4. Auflage der Mappe anbieten zu können. Werbung in: Ehrenberg 1906, S. 2. 65 Riederer und J. Schuster 2004, S. 309. 25

In die unmittelbare Zeit nach der Ausstellung fiel Schneiders Teilnahme an der Dresdner Secession mit Carl Bantzer (1857-1941), Robert Sterl (1867-1932), Paul Baum (1859-1932), Richard Müller und dem lebenslan- gen Freund Hans Unger (1872–1936) in der Künstlerkolonie Goppeln. Lange hielt es Schneider nicht in der impressionistisch geprägten At- mosphäre um Carl Bantzer, doch einige der Künstlerkontakte blieben lange erhalten.66 Die Gründung der Dresdner Secession ist mit der Grün- dung des Vereins bildender Künstler von 1894 gleichbedeutend, an deren Vierteljahresheften Schneider gestalterisch mitarbeitete. Räumlich kon- zentrierte er sich mehr auf Deutschland und genauer auf Sachsen, wo er sich bereits einen Namen gemacht hatte (Abb. A.1). Schneiders Werke wurden vermehrt besprochen und abgedruckt, was eine Steigerung der Popularität mit sich brachte. Auf der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung 1897 in Leipzig war Schneider mit einer nicht näher bestimmbaren Graphik oder Zeichnung vertreten, die nur als Männ- licher Kopf bezeichnet wird.67 Im gleichen Jahr ist auch die Mitarbeit an der Zeitschrift Jugend in München belegt.68 Durch die verbesserte peku- niäre Situation konnte sich Schneider 1896 einen lange gehegten Wunsch erfüllen und eine Reise durch Italien antreten. Dieser Aufenthalt verla- gerte Schneiders Interesse von nordischen bzw. östlichen Themenwelten und Motiven hin zur Kultur des Mediterraneums. Das Jahr 1898 war geprägt durch verschiedene Reisen. Im Mai fuhr er nach Paris.69 Dieser Aufenthalt in Paris schien wenig beeindruckend auf Schneider gewirkt zu haben, da er von ihm nicht erwähnt wurde. Wesentlich anziehen- der waren für Schneider der italienische Raum, den er im November, vermutlich gemeinsam mit Richard Müller, besuchte.70 Von September 1898 bis März 1899 verband Schneider einen Aufenthalt in Florenz mit dem anfertigen eines Auftragswerkes. Der in Florenz le- bende deutsche Baron von Kaufmann hatte Schneider den Auftrag erteilt, einen Raum seines Florentiner Domizils, der Villa Colombaia im Stadtteil Bellosguardo mit Wandgemälden ausmalen zu lassen. Dabei handelte es sich um vier Gemälde, die Längsseiten wurden mit Darstellungen der Hölle (Inferno) und des Paradies (Paradiso), die Stirnseiten mit Personifika- tionen von Tag (Giorno) und Nacht (Notte) geschmückt. 71 Für Schneider

66 Kardinar 1991, S. 42; Günther und Melzer 2009, S. 12–14. 67 Gewerbe-Ausstellung 1897, 51, Nr. 713. 68 Jugend 1897, S. 717. 69 Auflistung der Lebensstationen Schneiders als Typoskript im Hardenberg Archiv, nach 1927. 70 Auflistung der Lebensstationen Schneiders als Typoskript im Hardenberg Archiv, nach 1927. 71 Cingottini 1998, S. 131. 26 waren diese heute nicht mehr erhaltenen Gemälde eine monumentale Fingerübung, die ihn auf die in Deutschland wartenden Aufträge zur Monumentalmalerei vorbereitete.72 Der Triumphbogen in der Johanneskirche in Cölln bei Meißen war sein erster öffentlicher Auftrag des akademischen Rates Dresden auf Emp- fehlung Hermann Prells, den er entgegen seiner bisherigen Monumen- talwerke in Fresko-Technik ausführen wollte.73 Juli bis August 1899 war Schneider mit der Ausführung des Freskos beschäftigt. Der Auftraggeber der großen Arbeit war der Akademische Rat der Dresdner Akademie, welcher aus dem Kunstfond des Königlichen Ministeriums des Inneren Mittel zur Realisierung zur Verfügung stellte. Ebenfalls im Jahre 1899 war Schneider mit einem Werk bei der Deutschen Kunstausstellung der Berliner Secession vertreten. Die von Max Liebermann initiierte Aus- stellung stellte die erste selbstständige Ausstellung der Künstlergruppe ohne den Verein der Berliner Künstler dar. Die Secession hatte in der Kantstraße in Charlottenburg ein eigenes Gebäude mit 338 Kunstwerken bestückt.74 Schneider war dort mit dem Gemälde Ungleiche Waffen vertre- ten, welches im Katalog als verkäuflich gekennzeichnet wurde.75 Für den Verkauf der bei den eigenständigen Kunstausstellungen gezeigten Werke waren die Cousins Bruno und Paul Cassirer zuständig, die neben ihrer Haupttätigkeit als Kunsthändler die Verwaltungsaufgaben der Secession in ihrer Funktion als „Secretäre“ bearbeiteten.76 Ebenfalls für das Jahr 1899 ist die Teilnahme Schneiders an der V. Ausstellung der Vereinigung Bildender Künstler Österreichs, der zeichnerischen Werken gewidmeten Ausstellung der Wiener Secession mit drei Werken überliefert.77 Für den Rest des Jahres 1899 ist eine Erholungsreise nach Viareggio nachzuweisen. Im Frühjahr 1900 kehrte Schneider aus Italien zurück und zog mit seiner Mutter und Schwester Lilly Schneider nach Meißen, hier blieb er bis zum Antritt seiner Weimarer Professur wohnen.78 Im Jahr 1900 begann Schneider mit der Ausmalung der Gutenberghalle im Buchgewerbehaus in Leipzig, wo er neben dem Monumentalgemälde an der Stirnseite des Saales,Baldurs Sieg über die Mächte der Finsternis, auch Pfeilergemälde von den Gegensatzpaaren Wotan und Loge und Wahr-

72 Schneider fertigte 1897 auch das Monumentalgemälde Ungleiche Waffen, Morgenstimmung und 1898 Ruderer an. Meist malte er in seinem Atelier und ließ dann die Leinwand auf die Wand aufkleben. 73 Felix Zimmermann 1923a, S. 15; Hatzig 1967, S. 32. 74 Der Katalog erschien bei Bruno & Paul Cassirer, Kunst- und Verlagsanstalt. B. Secession 1899, S. 50. 75 B. Secession 1899, S. 28. 76 B. Secession 1899, S. 8. 77 Unter Sascha Schneider ist im Katalog mit den Nummern 113-115 Das Gefühl der Abhängigkeit (unverkäuflich), der Anarchist (unverkäuflich) und die verschollene Studie Dietrich von Bern im Rosengarten vermerkt. W. Secession 1899, S. 25; Muther 1900, S. 23. 78 Hardenberg 1904, S. 9. 27 heit und Poesie anfertigte.79 Am Ende des gleichen Jahres beschäftigte Schneider sich erneut mit einer Darstellung der Wahrheit und schuf sein ohne Auftrag begonnenes Monumentalgemälde Um die Wahrheit. Das monumentale Gemälde fand viel Anklang und Verbreitung, so in der Illustrierten Zeitung und sogar als Karikatur.80 Im folgenden Jahr konn- te Schneider seine Teilnahme an der Internationalen Kunstausstellung in Dresden 1901 sichern. Die Ausstellungs-Kommission setzte sich aus verschiedenen Größen aus Politik und Kultur zusammen, die als „Vertre- ter der Königlichen Staatsregierung“ fungierten. Unter den Mitgliedern befanden sich auch Dr. Woldemar v. Seidlitz81 und Prof. Dr. Georg Treu, die beide positiv zu Schneider eingestellt waren und eine Teilnahme an dieser Ausstellung mit Sicherheit förderten.82 Dem Katalog ist zu entnehmen, dass Schneider mit dem noch zum Ver- kauf stehenden, heute verschollenen Ölgemälde Es werde auf der Aus- stellung im Vestibül gleich hinter dem Haupteingang vertreten war.83 Da sich Schneider nun als Ausstatter öffentlicher Bauten einen Namen gemacht hatte, wurde er beauftragt, das Foyer der zwischen 1900 und 1902 durch den Architekten Carl Moritz (1863-1944) erbauten Oper Köln auszumalen.84 Die Schaffung der insgesamt 35 monumentalen Pfeiler- und Wandgemälde nahm einige Zeit in Anspruch und Schneider wohnte bis Juni 1903 bei dem Architekten Moritz in Köln.85 Beinahe zeitgleich wurde Schneiders gigantisches Gemälde Um die Wahr- heit 01.05. bis 20.10.1902 auf der deutschnationalen Kunstausstellung in Düsseldorf gezeigt.86 Während der Reise nach Köln lernte Schnei- der wohl auch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen kennen, der in Darmstadt durch die Gründung der Darmstädter Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe moderne Kunst und Kunsthandwerk förderte.87 Eine besondere Bedeutung nimmt Schneiders Freundschaft mit Kuno

79 Eine Beschreibung der zerstörten, nur in schwarzweiß reproduzierten Gemälde findet sich in: Volkmann o. J. S. 19–29; S. a. Eschner 1910. 80 Illustrierte Zeitung Nr. 3059, 13.02.1902, S. 238. Starck 2010, S. 5; G. Haenel 1902, S. 228–233. 81 Der Kunsthistoriker Woldemar v. Seidlitz (1850-1922) war von 1884 bis 1919 Vortragender Rat im Generaldirektorium der Königlichen Sammlungen für Wissenschaft und Kunst in Dresden. 82 Georg Treu (1843-1921) wird im Ausstellungskatalog als Geheimer Hofrat, Kgl. Professor und Direktor der Kg. Skulpturensammlung geführt. Der klassische Archäologe war – wie Schneider – in St. Petersburg geboren und engagierte sich besonders für die Sammlung antiker Originale, die er durch moderne Werke ergänzte. Kunstausstellung 1901, S. 10. 83 Kunstausstellung 1901, S. 47. 84 Schäfke 2006, S. 253–261. 85 Hardenberg 1904, S. 9. Kipper 1902, S. 69–70. Dort ist auch vermerkt, dass Masken der Sternbilder nach Zeichnungen Schneiders von dem Bildhauer Haller modelliert worden waren. 86 Düsseldorf 1902, 59, Nr. 937. 87 Hardenberg 1904, S. 9. 28

Graf von Hardenberg ein, den Schneider 1902 kennenlernte.88 Harden- berg hatte erst Jura studiert, widmete sich aber schon während des Studi- ums und einem anschließenden Aufenthalt in Paris seinen umfassenden künstlerischen Interessen. Nach einer Weltreise zog Hardenberg nach Dresden und knüpfte dort Kontakte zu dem Großindustriellen Karl Au- gust Lingner, der als Volksaufklärer der Hygiene das Dresdner Hygiene Museum errichten ließ.89 Hardenberg bewegte sich in Dresdner Künst- lerkreisen und traf wohl bei einer dieser Gelegenheiten auf den jungen Sascha Schneider. Nach Lingners Tod 1916 trat Hardenberg als Hofmar- schall in die Dienste des Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen ein.90 Am 06.05.1903 wurde die Sächsische Kunstausstellung in den Räumen des Sächsischen Kunstvereins eröffnet. Schneider war mit dem Gemälde Auf zum Kampf (Phalanx der Starken) von 1902 vertreten, welches program- matisch für seine künstlerischrevolutionäre Einstellung war. Wie bereits geschildert, hatte sich Sascha Schneider zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf verschiedenen Ebenen und vor allem in den verschiedenen Medien der Öffentlichkeit bekannt gemacht.91

2.3. Professor Schneider in der „gemütlichen Necropolis“ Weimar (1904-1908)

Der genaue zeitliche Ablauf Schneiders Berufung an die Weimarer Kunst- schule lässt sich anhand von Briefen rekonstruieren.92 In einem Brief an Kuno v. Hardenberg teilt Schneider dem Freund mit, dass der Direktor der Kunstschule, Hans Olde, ihm eine Professur für die Aktklasse an- getragen habe. „Ich habe zugesagt, da Weimar jetzt doch der Herd der modernen Kunstbestrebungen ist [. . . ]. So ist ein heißer Wunsch gestillt

88 Der erste nachgewiesene Brief von Schneider an Hardenberg datiert auf den 20.03.1902. Kopie in Privatbesitz 89 Karl August Lingner (1861-1916) war durch die Produktion des Mundwassers Odol zu großem Reichtum gekommen. S. a. Franz 1998, S. 79; Franz 2005, S. 174–179, Kerssenbrock 2006, S. 550–551. 90 Kerssenbrock 2006, S. 552. 91 Die Verbreitung der Kunst Sascha Schneiders fand vor allem durch die in der damaligen Zeit weit gestreuten Herstellung von Reproduktionen und Postkarten statt. Die Publikation ausgewählter Werke als Mappe wurde z. B. auch vom Verlag Breitkopf & Härtel angeboten. Der Katalog des Verlages E. A. Seemann in Leipzig zeigt eindrucksvoll die Menge an farbigen Reproduktionen, die vom Kunden – auf Wunsch auch gerahmt – erstanden werden konnte. Von Sascha Schneider konnte man unter der Nummer 2023 das Gemälde Astarte in der Größe 14 x 23 cm erwerben. 92 Die Bezeichnung „gemütliche Necropolis“ ist einem Brief Schneiders entnommen. Schneider an Rudolf Kolbe, 29.01.1908. Privatbesitz. 29 worden.“93 Im Juli waren die Verhandlungen abgeschlossen und der Ar- beitsvertrag zur Unterschrift bereit. Der Vertrag umfasste den Zeitraum vom 01.10.1904 bis zum 01.04.1907, sein jährliches Gehalt sollte 2500 Mark betragen.94 Wenn bis zum 01.04.1907 keine schriftliche Kündigung von einer Seite einging, verlängerte sich der Vertrag um ein weiteres Jahr. Eine Bedingung des Vertrages war ein Atelier für den eigenen Gebrauch, welches dem Künstler unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde. Sein Gehalt wurde aus der Kunstschul-Kasse bestritten. Auf der Rückseite des Vertrages ist die ministeriale Genehmigung handschriftlich eingetragen und von Dr. Karl Rothe, Staatsminister und Schneiders Förderer und Freund, unterzeichnet.95 Ab Oktober wollte sich Schneider in Weimar einfinden, sein offizieller Dienstbeginn war zum 01.11.1904 und die Umzugskosten wurden aus der Großherzoglichen Schatulle bestritten.96 Schneider siedelte vorerst ohne seine Familie nach Weimar, während seine Mutter und Schwester gemeinsam nach Dresden gingen. Die Professur für Aktmalerei wurde in Weimar nur bedingt Wirklichkeit, da Schneider hauptsächlich in der Naturklasse eingesetzt wurde. Die Naturklasse war 1886 für Studenten eingerichtet worden, welche noch nicht mit dem lebenden Modell ar- beiten konnten, aber aufgrund ihres Niveaus die Antikenklasse bereits verlassen hatten.97 Während seiner Professur in Weimar leitete Schneider die Naturklasse, Malklassen, Akt-Zeichenklassen und Akt-Malklassen. Die Klassen fanden nach Geschlechtern getrennt statt, Schneider un- terrichtete vorwiegend Damen. Mit der Ernennung Hans Oldes zum neuen Direktor kam es 1902 zu einer Verjüngung und Erneuerung des Professorenkollegiums. Außer Sascha Schneider wurden auch Ludwig v. Hofmann und der Bildhauer Adolf Brütt berufen. Nach der Pensionie- rung von Fritjof Smith am 01.10.1904, dessen direkte Nachfolge Schneider antrat, bestand das Lehrpersonal der Kunstschule außerdem noch aus

93 Schneider an Hardenberg, 03.05.1904. Vollmer und Steinmetz 2009, S. 78. „4 Jahre Weimar Aktsaal & Damenaktsaal“ Schneider an Hardenberg Juli 1904, Kopie in Privatbesitz. 94 Schneider an Hardenberg Juli 1904, Kopie in Privatbesitz. 95 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand Großherzoglich Sächsische Hochschule für bil- dende Kunst, 102. Dr. Karl Rothe war vom 01.06.1899 bis zum 09.11.1918 Staatsminister und beim Ministerial-Department des Großherzoglichen Hauses, zusätzlich ab dem 22.04.1901 beim Kultus- ministerium beschäftigt. Damit war er mit für die Verwaltung der Kunstschule verantwortlich. Blaha, Boblenz und Wahl 2008, S. 49. 96 Aus den Unterlagen geht hervor, dass Schneider für seine Umsiedlung nach Weimar 230 Mark berechnete, bei von Hofmann und Hans Olde waren es 630 bzw. 640 Mark). Thüringisches Haupt- staatsarchiv Weimar, Bestand Großherzoglich Sächsische Hochschule für bildende Kunst, 87. 97 Blaha, Boblenz und Wahl 2008, S. 56.