Plenarprotokoll 19/190

Deutscher

Stenografischer Bericht

190. Sitzung

Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 27: Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23959 A a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 23960 B wurfs eines Dritten Gesetzes zum Schutz (AfD) ...... 23960 C der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite Armin-Paulus Hampel (AfD) ...... 23961 D Drucksache 19/23944 ...... 23951 B (AfD) ...... 23962 D b) Antrag der Abgeordneten Detlev (SPD) ...... 23963 C Spangenberg, Dr. , Paul Dr. (FDP) ...... 23964 D Viktor Podolay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: COVID-19 – Dr. (DIE LINKE) ...... 23965 A Eigenverantwortung statt Verbote und Marco Bülow (fraktionslos) ...... 23965 D Zwänge – Gesundheitlichen und wirt- (CDU/CSU) ...... 23966 C schaftlichen Kollaps verhindern, Kolla- teralschäden vermeiden Dr. (FDP) ...... 23967 B Drucksache 19/23950 ...... 23951 C Dr. Andrew Ullmann (FDP) ...... 23968 A c) Antrag der Abgeordneten Dr. Achim Kessler, , Gökay Akbulut, Tagesordnungspunkt 28: weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Demokratische Kontrolle Antrag der Abgeordneten , auch in der Pandemie , Dr. , weiterer Drucksache 19/23942 ...... 23951 D Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Job- Kahlschlag in der Automobilindustrie ver- d) Antrag der Abgeordneten Dr. Manuela hindern, Industriestandort Deutschland Rottmann, Britta Haßelmann, Kordula zukunftsfit machen Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und Drucksache 19/23935 ...... 23969 A der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Rechtsstaat und Demokratie in Michael Theurer (FDP) ...... 23969 A der Corona-Pandemie Dr. (CDU/CSU) ...... 23970 A Drucksache 19/23980 ...... 23951 D Leif-Erik Holm (AfD) ...... 23971 B , Bundesminister BMG ...... 23952 A (SPD) ...... 23972 B Armin-Paulus Hampel (AfD) ...... 23953 C (DIE LINKE) ...... 23973 B (AfD) ...... 23954 B Michael Theurer (FDP) ...... 23973 D (BÜNDNIS 90/ Bärbel Bas (SPD) ...... 23955 B DIE GRÜNEN) ...... 23975 B (FDP) ...... 23956 D (CDU/CSU) ...... 23976 B Susanne Ferschl (DIE LINKE) ...... 23958 A Dr. (AfD) ...... 23977 D II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Gabriele Katzmarek (SPD) ...... 23978 C Tagesordnungspunkt 31: (FDP) ...... 23979 C a) Antrag der Abgeordneten Claudia Müller, (DIE LINKE) ...... 23979 D , Dr. Manuela Rottmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 23981 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Risikover- Dr. (FDP) ...... 23981 B teilung bei Gewerbemieten klarstellen – Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . 23982 D Selbstständige, kleine und mittlere Un- ternehmen in der Corona-Krise unter- (SPD) ...... 23984 A stützen Drucksache 19/22898 ...... 24000 D Tagesordnungspunkt 29: b) Antrag der Abgeordneten , Unterrichtung durch die Bundesregierung: Christian Kühn (Tübingen), Claudia Zweiter Bericht der Bundesregierung zur Müller, weiterer Abgeordneter und der weltweiten Lage der Religionsfreiheit: (Be- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: richtszeitraum 2018 bis 2019) Unsere Innenstädte fit für die Zukunft Drucksache 19/23820 ...... 23985 B machen Drucksache 19/23941 ...... 24000 D Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 23985 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Jürgen Braun (AfD) ...... 23986 B Ausschusses für Recht und Verbraucher- Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 23987 A schutz – zu dem Antrag der Abgeordneten Udo (FDP) ...... 23988 A Theodor Hemmelgarn, , (DIE LINKE) ...... 23989 A , weiterer Abgeordneter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 23989 C und der Fraktion der AfD: Soforthilfen für Vermieter gewerblich genutzter (CDU/CSU) ...... 23990 B Räume und Flächen Dr. (SPD) ...... 23991 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren (CDU/CSU) ...... 23992 B Lay, , Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Von der Corona-Krise Tagesordnungspunkt 30: betroffene Gewerbetreibende bei der a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Miete entlasten Achter Bericht zur Lage der älte- Drucksachen 19/18722, 19/23112, ren Generation in der Bundesrepublik 19/24042 ...... 24001 A Deutschland – Ältere Menschen und Digitalisierung – und – Stellungnahme in Verbindung mit der Bundesregierung Zusatzpunkt 9: Drucksache 19/21650 ...... 23993 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen schusses für Wirtschaft und Energie zu und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- dem Antrag der Abgeordneten Manfred neten , , Todtenhausen, Michael Theurer, Reinhard Dr. Andrew Ullmann, weiterer Abgeordne- Houben, weiterer Abgeordneter und der Frak- ter und der Fraktion der FDP: Videotele- tion der FDP: Vitale Innenstädte durch star- fonie allen Bewohnern in Alten- und ken Einzelhandel – Auch in Zeiten von Pflegeheimen zugänglich machen Corona Drucksachen 19/20531, 19/24050 ...... 23993 A Drucksachen 19/19118, 19/20208 ...... 24001 A Dr. Franziska Giffey, Bundesministerin Claudia Müller (BÜNDNIS 90/ BMFSFJ ...... 23993 B DIE GRÜNEN) ...... 24001 B (AfD) ...... 23994 A Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . 24002 A (CDU/CSU) ...... 23994 D Udo Theodor Hemmelgarn (AfD) ...... 24003 A Grigorios Aggelidis (FDP) ...... 23995 C (SPD) ...... 24003 D (DIE LINKE) ...... 23996 B (FDP) ...... 24005 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ (DIE LINKE) ...... 24005 D DIE GRÜNEN) ...... 23997 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 24007 A (SPD) ...... 23997 C (AfD) ...... 24008 A (CDU/CSU) ...... 23998 C (SPD) ...... 24008 D (Hamburg) (CDU/CSU) . . . 23999 B (FDP) ...... 24009 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 III

Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ Baumann, Dr. , weiterer Abge- DIE GRÜNEN) ...... 24010 B ordneter und der Fraktion der AfD: Verstärk- Karsten Möring (CDU/CSU) ...... 24011 A tes und effektiveres Vorgehen gegen die Ausbreitung des Islamismus in Deutschland Pascal Meiser (DIE LINKE) ...... 24011 C Drucksachen 19/17126, 19/23220 ...... 24022 B (SPD) ...... 24012 C Jens Maier (AfD) ...... 24022 B (FDP) ...... 24013 C (CDU/CSU) ...... 24023 D (CDU/CSU) ...... 24014 A (FDP) ...... 24024 C Tagesordnungspunkt 34: (SPD) ...... 24025 B a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Gökay Akbulut (DIE LINKE) ...... 24026 C SPD: Für den Erhalt des Vertrags über (AfD) ...... 24027 B den Offenen Himmel eintreten Dr. (BÜNDNIS 90/ Drucksache 19/23946 ...... 24015 C DIE GRÜNEN) ...... 24027 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Axel Müller (CDU/CSU) ...... 24028 C Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Höhn, Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 24029 B Dr. , Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- Tagesordnungspunkt 35: KE: Militärische Beobachtungsflüge fortsetzen – Vertrag über den Offenen Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Fabio Himmel retten – Austritt der USA ver- De Masi, , weiterer Abgeord- hindern neter und der Fraktion DIE LINKE: Corona- Drucksachen 19/19487, 19/20206 ...... 24015 C Wirtschafts- und Überbrückungshilfen ge- recht und unbürokratisch gestalten c) Beschlussempfehlung und Bericht des Drucksache 19/23939 ...... 24030 A Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten , Margarete in Verbindung mit Bause, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Zusatzpunkt 11: NIS 90/DIE GRÜNEN: Vertrag über den Offenen Himmel aufrechterhalten Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Drucksachen 19/20788, 19/24006 ...... 24015 D schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 24015 D Antrag der Abgeordneten Reinhard Houben, Dr. Marcel Klinge, Michael Theurer, weiterer Dr. (AfD) ...... 24017 A Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Frei- (CDU/CSU) ...... 24017 D raum für gesellschaftliches Leben erhalten – Veranstaltungswirtschaft schützen Dr. (FDP) ...... 24018 C Drucksachen 19/23679, 19/24037 ...... 24030 B Matthias Höhn (DIE LINKE) ...... 24019 A Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 24030 B Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 24019 D Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 24031 B Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) ...... 24020 C (AfD) ...... 24032 B Nikolas Löbel (CDU/CSU) ...... 24021 B (SPD) ...... 24033 B Tagesordnungspunkt 33: Dr. Marcel Klinge (FDP) ...... 24034 A a) Antrag der Abgeordneten Jens Maier, Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ , Marc Bernhard, weiterer DIE GRÜNEN) ...... 24034 C Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . 24035 C Dem radikalen Islam den Boden entzie- hen – Maßnahmenpaket gegen Islamis- Gülistan Yüksel (SPD) ...... 24036 C ten und islamistische Verbände Drucksache 19/23956 ...... 24022 A Nächste Sitzung ...... 24037 C in Verbindung mit Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete ...... 24039 A Zusatzpunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Inneres und Heimat zu dem An- Anlage 2 trag der Abgeordneten , Dr. Bernd Amtliche Mitteilungen ...... 24040 A

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(A) (C)

190. Sitzung

Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: COVID-19 – Eigenverantwortung statt Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte Verbote und Zwänge – Gesundheitlichen nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. und wirtschaftlichen Kollaps verhindern, Kollateralschäden vermeiden Ich teile Ihnen vor Eintritt in die Tagesordnung mit, Drucksache 19/23950 dass sich im Ältestenrat gestern die Fraktionen mit Aus- nahme einer Fraktion im Hinblick auf die Pandemielage Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) wiederum dafür ausgesprochen haben, die reguläre Prä- Ausschuss für Inneres und Heimat senzpflicht am Dienstag der nächsten Sitzungswoche auf- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz zuheben. Nach § 14 Absatz 1 Satz 2 des Abgeordneten- Ausschuss für Wirtschaft und Energie gesetzes bestimme ich deshalb, dass der Dienstag, c) Beratung des Antrags der Abgeordneten (B) 17. November 2020, nicht als Sitzungstag gilt, womit Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, Gökay (D) insbesondere die Pflicht, sich an diesem Tag in die Anwe- Akbulut, weiterer Abgeordneter und der senheitslisten einzutragen, entfällt. Fraktion DIE LINKE

Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 d Demokratische Kontrolle auch in der Pan- auf: demie Drucksache 19/23942 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Überweisungsvorschlag: CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs Ausschuss für Gesundheit (f) eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Be- Ausschuss für Inneres und Heimat völkerung bei einer epidemischen Lage Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz von nationaler Tragweite d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Manuela Rottmann, Britta Haßelmann, Drucksache 19/23944 Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) GRÜNEN Ausschuss für Inneres und Heimat Sportausschuss Rechtsstaat und Demokratie in der Coro- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie na-Pandemie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 19/23980 Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Ausschuss für Inneres und Heimat zung Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss Digitale Agenda Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Haushaltsausschuss beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Detlev Spangenberg, Dr. Robby Schlund, Paul Viktor Podolay, weiterer Abgeordneter (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und der Fraktion der AfD ordneten der SPD) 23952 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

(A) Jens Spahn, Bundesminister für Gesundheit: Jeden Tag werden im Lagebericht des Robert-Koch-Insti- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tuts eine ganze Reihe von Parametern, Zahlen und Ent- Rund neun Monate sind vergangen, seitdem unsere wicklungen veröffentlicht, die man natürlich immer alle Gesellschaft von Covid-19 in ihrem Kern getroffen wur- im Zusammenhang sehen muss. Aber ich habe dieses de. Niemand von uns hat eine vergleichbare Situation je Argument, man sollte doch mehr auf die Intensivsta- erlebt. Wir haben in den letzten neun Monaten gemein- tionen schauen, das würde reichen, nie verstanden. sam daran gearbeitet, dieses Virus unter Kontrolle zu Wenn die Intensivstationen einmal mit Covid-19-Patien- bringen – unter großer Anstrengung, mit vielen Härten ten voll sind, wenn sie überfüllt sind, dann ist es zu spät, und Verzicht. Wir alle erinnern uns an die schrecklichen vor allem für diejenigen, die dort liegen, meine sehr ver- Bilder aus Bergamo in Italien oder aus Ostfrankreich. ehrten Damen und Herren. Unser gemeinsames Ziel war und ist es, eine derartige (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Situation in Deutschland nicht zuzulassen. bei Abgeordneten der LINKEN und des (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und Über 20 000 Neuinfektionen haben wir heute. Das ist des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ein neuer Höchstwert auch hier in Deutschland. Wir Wir tun alles, um unsere Bürgerinnen und Bürger zu sehen: Die Dynamik schwächt sich ab, die Steigerungs- schützen, gerade auch die Älteren und Vorerkrankten. rate sinkt, aber es steigt noch. Wir brauchen hier auch ein Stück Geduld, weil die Zahlen von heute das Infektions- Und ja, wir haben eine bittere Medizin schlucken müs- geschehen von letzter Woche widerspiegeln. Gleichwohl sen – und müssen sie wieder schlucken: starke Einschrän- sehen wir aber eben auch: Mit stark steigenden Infek- kungen der bürgerlichen Freiheiten. Fast 200 000 Men- tionszahlen steigt zeitlich versetzt auch der Behandlungs- schen in Deutschland sind, Stand heute, an dem Virus bedarf, übrigens auch im ambulanten Bereich. Fast erkrankt; mehrere Hunderttausend in Isolation oder in 200 000 Patienten müssen ambulant behandelt werden. Quarantäne. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer fürchten um ihre Existenz, viele Arbeitnehmerinnen und Das Tückische ist: Exponentielles Wachstum ist heim- Arbeitnehmer um ihren Job. Kinder und Jugendliche tückisch. Es bedeutet: Wenn eine Intensivstation nach mussten monatelang auf Schule und Kita verzichten. zehn Tagen halb voll ist, ist sie nach weiteren zehn Tagen Eltern mussten mit der Doppelbelastung aus Homeoffice ganz voll. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die aktuelle und Kinderbetreuung umgehen. Risikogruppen haben Entwicklung jetzt schnell und entschlossen brechen. Des- sich aus Angst vor dem Virus aus dem gesellschaftlichen halb ist es wichtig, dass wir weiter schnell reagieren Leben zurückgezogen. Ärztinnen und Pfleger, Gesund- können. Deshalb dieser Gesetzentwurf. (B) heitsämter und örtliche Verwaltungen stehen unter groß- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D) em Druck. Pflegebedürftige haben ihre Angehörigen Das Gesetz soll ermöglichen: Schutzimpfungen gegen nicht mehr gesehen. – Das war und das ist eine bittere Corona und Testungen auch für Nichtversicherte, wenn Medizin. eine Rechtsverordnung unseres Ministeriums das vor- Manches würden wir mit dem Wissen von heute anders sieht. Es soll ermöglichen: die bessere Nachverfolgung machen. Aber: Die Medizin hat gewirkt. Wir haben es in des Infektionsgeschehens durch digitale Einreiseanmel- der ersten Phase der Pandemie geschafft, die Kurve ab- dung nach Aufenthalten in Risikogebieten im Ausland. zuflachen und die Dynamik zu brechen. Wir haben einen Es soll ermöglichen: auf der Grundlage einer Definition vergleichsweise ruhigen Sommer erlebt. Und wir tun des Begriffs „Risikogebiet“ den Ausschluss von Entschä- auch jetzt wieder alles, um die Kurve abzuflachen und digung wegen Verdienstausfalls, wenn es eine vermeid- unser Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. bare Reise in ein Risikogebiet war. Es soll ermöglichen: mehr Laborkapazitäten für Coronatests, eine Modifizie- Dafür braucht es eine nationale Kraftanstrengung. Die rung des Arztvorbehalts, um patientennahe Schnelltests Lage ist ernst. Die Zahl der Menschen, die wegen Corona noch schneller einsetzen zu können und bei Bedarf auch auf Intensivstationen behandelt werden müssen, hat sich Kapazitäten der Veterinärmedizin zu nutzen. in den letzten zehn Tagen verdoppelt. Und ich möchte dem Parlament in der nächsten Sit- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Auf wie viel?) zungswoche vorschlagen, das Gesetz um Regelungen zu Stand heute kann das Gesundheitssystem noch damit ergänzen, um die Krankenhäuser wirtschaftlich abzusi- umgehen. Aber eine Verdopplung alle zehn Tage, das chern, noch mehr, als wir es bisher gemeinsam in dieser schafft das beste Gesundheitssystem auf Dauer nicht. Situation schon getan haben. Kein Krankenhaus soll wirt- Diese Dynamik ist zu stark, und wir müssen sie gemein- schaftlich einen Nachteil dadurch haben, dass es in dieser sam brechen. Pandemie mithilft, in diesem besonderen Monat und in dieser besonderen Phase. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Und ja, es gibt einige, die sagen, es reiche nicht, jeden Tag nur auf die Infektionszahlen zu schauen. Das stimmt. Mit diesem Gesetz, das wir jetzt beraten, bleiben die Das haben wir übrigens auch nie gemacht. Mitsprache- und Entscheidungsrechte von Bundestag und Bundesrat gewahrt. Der Bundestag hat immer die (Zurufe von der AfD) Möglichkeit, die Rechtsverordnungen zu ändern oder Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23953

Bundesminister Jens Spahn (A) den Verordnungen die Basis zu entziehen. Wenn das Par- Auf all das können wir stolz sein. Aus alldem können (C) lament die epidemische Lage für beendet erklärt, enden wir Zuversicht schöpfen. Wir wissen heute besser als im auch alle Rechtsverordnungen automatisch. Frühjahr, wie es geht und was wirkt. Wir lernen jeden Tag etwas über dieses Virus und über den Umgang mit diesem Unsere gemeinsame Diskussion der letzten Tage hat Virus dazu. Wir sind dem Virus nicht machtlos ausge- hier bereits zu einem Ergebnis geführt, nämlich dem liefert. Wir wissen: Wenn 80 Millionen mitmachen, die neuen § 28a im Infektionsschutzgesetz. Zur rechtlichen AHA-Formel anwenden, die App nutzen, regelmäßig lüf- Klarstellung und Fundierung sollen die möglichen beson - ten, dann können wir diesem Virus viel entgegensetzen. deren Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus beschrieben werden. Und es sollen Schwellenwerte bei (Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD] meldet den Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen festge- sich zu einer Zwischenfrage) legt werden: als Messlatte zur Einschätzung der Verhält- Wir geben aufeinander Acht; wir achten einander. Wir nismäßigkeit der Maßnahmen und um zu regeln, ab wann werden auch die kommenden Herausforderungen ge- bundesweit einheitliche Maßnahmen angeordnet werden meinsam bestehen. sollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich bedanke mich ausdrücklich für die Debatten hier im Parlament, auch die kritischen Anmerkungen. Genau diese Debatten zeichnen unsere Demokratie aus. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Beatrix von Storch [AfD]: Gott sei Dank sind Kollegen Hampel? wir da!) – Finde ich auch, also dass das Parlament da ist, nicht Jens Spahn, Bundesminister für Gesundheit: dass Sie da sind. Ja. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: GRÜNEN – Zurufe von der AfD) Herr Kollege. – Nein, ich meinte jetzt in dieser Debatte, weil ich zu oft erlebe, dass jedenfalls einige in Ihrer Fraktion – nicht die Armin-Paulus Hampel (AfD): Kollegen im Gesundheitsausschuss; mit denen habe ich Danke schön, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie pla- einen guten fachlichen Austausch – versuchen – dazu nen in diesem Gesetzesvorschlag unter anderem, dass (B) gehört im Zweifel auch die Zwischenruferin –, aus der Privatwohnungen kontrolliert werden können. (D) Pandemie und der schwierigen Lage ein politisches ( [CDU/CSU]: Wer erzählt denn so Geschäft zu machen. Und das, finde ich, geht an dieser was? Lesen Sie den Gesetzestext! – Weitere Stelle einfach nicht. Zurufe) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, – Ich will es gerne wiederholen: privater Wohnraum. Das der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE steht da drin. GRÜNEN – Zuruf des Abg. Armin-Paulus ( [Erfurt] [SPD]: Was für ein Hampel [AfD]) Blödsinn! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE Klar ist, diese Pandemie ist eine echte Mammutauf- GRÜNEN: Vielleicht mal lesen! Lesen bildet!) gabe. Der Höhepunkt dieser Pandemie, dieser Aufgabe Wie muss ich mir das vorstellen? Eine Familie mit ist wohl noch nicht erreicht. Niemand kann mit Gewiss- Kindern, die Eltern sind abends eingeladen, die Kinder heit sagen, was die nächsten Monate bringen werden. Das im Teenageralter laden ihre Freunde ein, vielleicht ein verunsichert viele. Viele haben in den letzten neun Mona- paar zu viel nach Ihren Vorstellungen, und der Nachbar – ten Situationen erlebt, bei denen wir einander verzeihen das haben wir ja heute überall; das Denunziantentum ist mussten, ob im Beruflichen oder im Privaten. Wichtig ist ja inzwischen weit verbreitet – ruft die Polizei und sagt: es, kritisch zu sein, auch kontrovers und manchmal emo- Da findet eine Party statt, bei der mehr als fünf Leute tional; aber ich finde es genauso wichtig, dabei nicht zu beieinandersitzen, familiär miteinander nicht verbun- verhärten oder unerbittlich zu werden. Corona ist für uns den. – Wie muss ich mir das vorstellen? Sollen dann die als Gesellschaft zu einem echten Charaktertest geworden. Ordnungshüter bei dieser Wohnung klingeln, sich Zutritt Ob wir ihn bestehen, liegt an uns allen. verschaffen und unter den Betten kontrollieren, ob sich da Die Pandemie setzt unsere Gesellschaft und jeden Ein- Jugendliche verstecken, in der Wohnung aufhalten oder zelnen unter Druck. Die Pandemie hat an vielen Stellen nicht? aber auch unsere guten Eigenschaften hervorgehoben. Sie zeigt, was in uns steckt. Es gibt trotz aller Härten einen Jens Spahn, Bundesminister für Gesundheit: großen Zusammenhalt. Es gibt eine große Solidarität, Herr Kollege, Sie haben darauf hingewiesen, dass es gerade auch der Jüngeren gegenüber den Älteren. Es dieses Phänomen auch heute schon gibt: Wenn es in der gibt viel Flexibilität, Kreativität und Besonnenheit. Nachbarwohnung zu laut ist und es zu Ruhestörungen Und: Es gibt eine gute, konstruktive Zusammenarbeit kommt, kann sich jemand an die Ordnungsbehörden wen- hier im Parlament, zwischen Bund und Ländern, in den den. – Dafür gibt es schon heute klare Prozeduren, und Gemeinden, Städten und Landkreisen. daran ändert sich im Übrigen auch nichts. 23954 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Bundesminister Jens Spahn (A) Ich bin übrigens von einem fest überzeugt – deswegen gesehen werden. Sie sind in einer funktionierenden staat- (C) sollten Sie die Debatte auch gar nicht in diese Richtung lichen Gesellschaft beide unerlässlich und bedingen drehen –: Das, was notwendig ist in dieser Pandemie, einander. damit wir gemeinsam gut durch diese schwierige Zeit kommen, werden wir am Ende nicht durch Zwang und (Beifall bei der AfD) Denunzieren erreichen, sondern dadurch, dass wir auf- Die diesjährigen Coronamaßnahmen haben schon einander aufpassen und aufeinander aufpassen wollen. große gesundheitliche Auswirkungen hervorgebracht. Darum geht es doch vor allem in dieser Gesellschaft. Dies gilt auch für den fehlenden Ausgleich wegen Ein- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schränkungen beim Sport und im kulturellen Bereich. neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Anstatt jetzt Einschränkungen von Grundrechten zu SES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. forcieren, wäre es vonnöten gewesen, dass die Regierung Armin-Paulus Hampel [AfD]) sich schon früher mit dem Problem Pflegebereich befasst Übrigens finde ich es im positiven Sinne sehr bemer- hätte. Dieses Versäumnis wirkt sich jetzt deutlich aus. kenswert, dass entgegen dem, was wir manchmal an Bil- Wohltuend und überraschend ist dagegen das gemein- dern sehen oder was manchmal verbreitet wird, eine ganz same Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutsch- vom 28. Oktober 2020, in dem klar und verständlich die land sagt: Die Maßnahmen sind richtig. – Sie unterstüt- Situation fachlich dargestellt wird. Dahinter stehen mehr zen sie, und sie leben sie in ihrem Alltag. Genau das ist es, als 50 Unterzeichner, Fachverbände und Fachleute. Die- was wir jetzt bei allen Schwierigkeiten – ich sage es noch ses Papier wurde auf Grundlage objektiver Einschätzung einmal: es sind für viele echt harte und schwierige Zei- der Lage formuliert. ten – brauchen: (Zuruf des Abg. [CDU/CSU]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der AfD) Der Rückzug einiger Unterzeichner, meine Damen und Herren, kann auf gesellschaftspolitischen Druck zurück- dass die allermeisten sagen: Wir wollen aufeinander auf- geführt werden, der mittlerweile Formen angenommen passen. – Das bringt uns sicher durch diese Pandemie. hat, die eines demokratischen Rechtsstaats unwürdig Wenn Sie dabei mal mithelfen würden, dass es genau sind. dieses Bewusstsein gibt, dann wäre es noch besser. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) In der Erklärung werden Maßnahmen, die Sie den Bür- (B) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gern als Allheilmittel verordnen, als nicht zielführend (D) betrachtet, so zum Beispiel die Kontaktverfolgung. Hier- Nächster Redner ist der Kollege Detlev Spangenberg, bei auch die Forderung, auf Einsicht statt auf Verbote zu AfD. setzen. Dies erzielt Akzeptanz, meine Damen und Her- (Beifall bei der AfD) ren. (Beifall bei der AfD) Detlev Spangenberg (AfD): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Das Prinzip des ärztlichen Handelns sei es, schwere Ver- Wesen einer Demokratie besteht auch darin, dass die läufe zu mindern, aber neue Schäden nicht entstehen zu Bürger bei Entscheidungen mitgenommen werden. Da lassen, so dieses Papier. haben wir so unsere Zweifel. Bekanntermaßen befasst Unser Antrag „Eigenverantwortung statt Verbote und sich zunehmend die Justiz mit Coronaschutzmaßnahmen, Zwänge – Gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kollaps weil diese nicht auf gesetzliche Grundlage gestellt, son- verhindern, Kollateralschäden vermeiden“ erhebt die dern per Verordnung durchgesetzt wurden. Um dem zu Forderung, den Blick auf den Schutz der Personen zu begegnen, will die Koalition einen § 28a in das Infek- richten, die wirklich gefährdet sind. Ich wurde hier ja tionsschutzgesetz einfügen. Diese geplanten Ergänzun- schon mal als Menschenfeind verunglimpft, weil ich gen durch § 28a widersprechen dem Gedanken von Frei- dies gefordert habe. Jetzt ist es komischerweise üblich, heit und Rechtsstaatlichkeit, und sie verfestigen die es zu fordern, meine Damen und Herren. Unzufriedenheit von Bürgern. Dieser Paragraf ermög- licht beispiellose Einschränkungen der persönlichen Frei- Das heißt im Umkehrschluss: Wir können nicht ein heit, insbesondere kann die Verletzlichkeit des höchst- ganzes Land in den Ruin treiben, sondern wir müssen persönlichen Rückzugsortes, der Geborgenheit in der uns auf die Leute konzentrieren, die wirklich gefährdet eigenen Wohnung – dies wurde eben angesprochen –, sind. Stattdessen werden Einrichtungen mit ausgeklügel- seelische Schäden, aber auch Widerstand hervorrufen. ten Hygienekonzepten per Verordnung ohne logische Begründung zum Schließen verurteilt wie auch gastrono- (Beifall bei der AfD) mische Einrichtungen, die nicht einmal im Freien arbei- Weiterhin sind psychische Belastungen oder Er- ten dürfen. krankungen infolge von Vereinsamung, Druck wegen Absurd ist auch, das Tragen von Masken unter freiem Zwangsmaßnahmen wie auch Sorge um die beruflich- Himmel vorzuschreiben. Meine Damen und Herren, das wirtschaftliche Existenz zu erwarten. Das Wirtschafts- ist völlig aberwitzig; das kann man nicht anders sagen. leben wie auch der Gesundheitsschutz können nicht im Widerspruch – so scheint es uns manchmal – zueinander (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23955

Detlev Spangenberg (A) Wir fordern in unserem Antrag Maßnahmen wie das kann selbst eine AfD-Fraktion nicht ignorieren. Wenn (C) Schnelltests für Besucher in Alteneinrichtungen, Unter- sie darauf pocht, dass das Gesundheitswesen eben nicht stützung gefährdeter Personen, Einführung eines bundes- kollabieren darf, dann muss man jetzt auch Maßnahmen weiten Ampelsystems, kein Zurückstellen von lebens- ergreifen, damit die Zahlen wieder nachzuverfolgen sind. wichtigen Operationen, um Bettenkapazitäten vorhalten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu können. der CDU/CSU) Die von Covid-19 ausgehende Gesundheitsgefahr ist offenkundig nicht größer als die von anderen Viren- Anders geht es nicht, und das kann man nicht ignorieren. erkrankungen. Die weitere deutschland- und weltweite Man kann sich über die Maßnahmen streiten – das tun Ausbreitung des Virus ist nicht zu verhindern. Die Wir- alle – und sich durchaus mit einzelnen Maßnahmen aus- kung des Lockdowns mit den dadurch verursachten einandersetzen. Auf der einen Seite gibt es die, die sagen: Schäden bezüglich Rechtsstaatlichkeit, Gesundheitsver- „Es ist noch viel zu wenig, was wir jetzt machen“, weil sorgung und Wirtschaftsleben steht dazu in keinem zu sie Angst davor haben, dass die Zahlen weiter steigen. rechtfertigenden Verhältnis, meine Damen und Herren. Auf der anderen Seite gibt es viele, die sagen: Das ist (Beifall bei der AfD) alles unnütz; das brauchen wir nicht. Es reicht, wenn wir ein paar Präventionskonzepte haben. – Dabei bezie- Angst ist ein schlechter Ratgeber, so zum Beispiel hen Sie sich auf ein Gutachten, liebe Kollegen der AfD, Professor Streeck zu den schockierenden Bildern, die und instrumentalisieren dieses. Einige Verbände distan- die Medien uns anfänglich zeigten. Das Virus ist gefähr- zieren sich mittlerweile schon vom Gutachten dieser Ärz- lich für wenige, so wie andere Viruserkrankungen auch. te. Dass darin keine Lösung steht, sieht man, wenn man Auch widerspricht Streeck zum Beispiel der Annahme einmal mit klugen Augen auf dieses Konzept schaut. deutlich, es gebe einen fortlaufenden exponentiellen Anstieg bei den Infektionszahlen; dies sei eine wissen- ( [AfD]: Das kann jetzt bei schaftlich nicht haltbare Behauptung, die allerdings oft Ihnen nicht der Fall gewesen sein!) wiederholt wird. – Bei Ihnen ist das nicht der Fall. Wir, meine Damen und Herren, durchlaufen keine (Martin Reichardt [AfD]: Bei Ihnen nicht!) schwere Krise durch das neue Virus, – Es wird keine Lösung zur aktuellen Situation angeboten, und selbst der Kollege der KBV, Gassen, muss zugeben, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: dass er im Moment kein Konzept hat, die Zahlen zu Herr Kollege. senken. (B) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja!) (D) Detlev Spangenberg (AfD): – sondern durch die unverhältnismäßigen politischen Sein Konzept – das gilt auch für die Konzepte von Stre- Maßnahmen dagegen. eck und anderen – wirkt erst, wenn wir die Zahlen wieder im Griff haben. Erst dann können wir mit präventiven Recht vielen Dank. Maßnahmen weiter vorgehen. Ich sehe es übrigens auch (Beifall bei der AfD – Britta Haßelmann so, dass das zwingend erforderlich ist. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat wieder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einer keine Maske getragen! – Weitere Zurufe) der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sie zitieren einerseits ein Gutachten von angesehenen Medizinern und verklagen andererseits den Bundestag, Herr Kollege Spangenberg, bitte denken Sie daran, weil Sie die Maske nicht tragen wollen. auch auf dem Weg vom Pult zurück zum Platz die Mund-Nase-Bedeckung zu benutzen. – Nächste Rednerin (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das ist ist die Kollegin Bärbel Bas, SPD. Dialektik!) (Beifall bei der SPD) Übrigens steht in diesen Konzepten auch, dass Masken zu tragen sind; die AHA-Regeln werden da propagiert. Sie Bärbel Bas (SPD): aber stellen sich hierhin und sagen, Sie wollen Schutz- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, konzepte für den Pflegedienst, und tragen zum Schutz die aktuelle Zahl der Infektionen – mehr als 21 000 – ist von uns allen hier selber nicht mal eine Maske. ein absolut entscheidender Wert (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem (Martin Reichardt [AfD]: Ich dachte, das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- machen Sie nicht mehr!) ordneten der LINKEN – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Hier ist ja auch keine Krankenstation!) und zeigt, dass Handlungsbedarf gegeben war. Das ist Instrumentalisieren, und wenn ich Wissenschaft- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ler wäre, würde ich mich schämen, dass Sie diese Kon- Dass er dringend gegeben war und wir jetzt handeln zepte als Kronzeugen für Ihre kruden Thesen benutzen. mussten, sagt diese Zahl, glaube ich, auch. Wir können Dann gibt es auch noch Leute bei Ihnen, die die Pandemie froh sein, dass viele Erkrankungen einen milden Verlauf komplett leugnen. Da sind Sie ein bisschen gespalten und nehmen. Aber dass es eben auch schwere Verläufe gibt, auch schizophren. Ich frage mich: Was wollen Sie denn 23956 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Bärbel Bas (A) jetzt? Wollen Sie Schutzkonzepte, oder gibt es die Pande- Gesundheitsschutz besser erklärt werden muss. Es ist für (C) mie gar nicht? Sie müssen sich mal einigen, was Sie uns alle gut, wenn wir auch mit den Bürgerinnen und wollen. Bürgern draußen in die Diskussion gehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das der CDU/CSU) haben wir aber 70-mal debattiert!) Die Lage ist ernst; das steht auf jeden Fall fest. Deshalb – Dass wir hier im Bundestag schon sehr oft über das bin ich froh, dass sich so viele, insbesondere auch in den Thema gesprochen haben, stimmt. Ländern, dafür entschieden haben, bundesweit einheit- Auf der einen Seite ist es wichtig, dass die Länder die lich zu handeln. Das ist ein wichtiger Schritt, und wir Sicherheit von uns hier bekommen und wir die Rahmen- haben auch als Parlamentarierinnen und Parlamentarier bedingungen so setzen, dass sie trotz Infektionsgesche- lange angemahnt, diesen zu gehen. hen, das unterschiedlich sein kann, noch einen Spielraum Ich finde es wichtig, dass wir Kitas und Schulen geöff- haben; das sage ich als Gesundheitspolitikerin. Aber auf net lassen. Ich sage aber auch – das habe ich hier an der anderen Seite müssen wir es so rechtssicher gestalten, diesem Pult schon in einem anderen Zusammenhang ge- dass uns die Maßnahmen, die wir – hoffentlich in über- sagt –, dass das natürlich nicht geht: Schulen wie zum wiegender Zahl – für dringend notwendig halten, nicht Beispiel in Solingen entwickeln weitere Konzepte, und am Ende um die Ohren fliegen. die werden dann von der Landesregierung und leider Ich bin dankbar, dass jetzt Bewegung in die Sache einer FDP-Kultusministerin verboten. gekommen ist und wir einen § 28a in das Gesetz ein- (Beifall der Abg. Dr. [CDU/ fügen. Das entbindet uns aber nicht von der Pflicht, CSU] – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: noch weiterzudenken, und zwar in Richtung einer Novel- Das ist unfassbar!) le des Infektionsschutzgesetzes insgesamt. Es muss auch darum gehen – den Rest wird sicherlich mein Kollege Wenn es um Schutzkonzepte geht, wenn man Teilunter- noch ausführen –, wie wir bestimmte Dinge mit einer richt möglich machen will, wenn man digital arbeiten Parlamentsbeteiligung regeln, ob in einem Ausschuss will und das am Ende aufgrund einer komischen Begrün- oder in einem Pandemierat. Ich denke, da muss dung nicht umgesetzt werden kann, das finde ich schon Gesprächsbereitschaft da sein. skandalös. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (B) Abg. Dr. Astrid Mannes [CDU/CSU]) Das sollten wir im Rahmen der weiteren Debatte und im (D) Verlauf des Verfahrens angehen; heute ist ja die erste Wir sollten uns alle stärker dafür einsetzen, präventive Lesung. Wir haben durchaus noch Möglichkeiten, uns Konzepte durchzusetzen. auszutauschen. Dass man um einzelne Maßnahmen streiten kann, sehe Es ist für uns alle gut, glaube ich, dass die Parlaments- ich auch so. Die Bereiche Gastronomie, Kultur und Ver- beteiligung – wir hier im Bundestag haben viel über die anstaltungen sind schon seit Beginn dieser Pandemie in Pandemie diskutiert; aber viele Länderparlamente haben Schwierigkeiten. das nicht getan – insgesamt ein bisschen gestärkt wird. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Die werden Das schadet uns allen nicht. Insofern lautet mein Appell: gerade ruiniert, Frau Kollegin!) Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, wie wir das neben den Maßnahmen, die wir bisher ergriffen Entscheidend ist aber, dass wir die Zahl der Kontakte haben, noch ein Stück besser machen! insgesamt reduzieren. Selbst wenn wir uns darauf eini- gen, weitere Bereiche offen zu lassen, muss uns bewusst Herzlichen Dank. sein, dass wir damit weitere Kontakte ermöglichen und dadurch weitere Infektionen möglich sind; das können (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir nicht ausschließen. Deshalb ist dies eine politische Abwägung. Ich bin und dem Rest der Bun- desregierung dankbar, dass wir mit 10 Milliarden Euro Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: genau diese Branchen zielgerichtet und schnell unterstüt- Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der FDP, zen. Das ist wichtig, und das brauchen die auch. Das muss Christian Lindner. jetzt schnell umgesetzt werden. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD) Ein paar Worte noch zur Beteiligung der Parlamente Christian Lindner (FDP): und zur Rechtssicherheit; mein Kollege Dirk Wiese wird Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit gleich noch genauer darauf eingehen. Nachdem wir in dieser Woche gelten wieder empfindliche Einschränkun- den Debatten der letzten Tage darauf gedrängt haben gen der Freiheit. Die Wirksamkeit und die Notwendigkeit und nachdem die Gerichte ihre ersten Urteile dazu ver- einzelner Maßnahmen sehen wir mit Skepsis, beispiels- fasst haben, bin ich sehr froh, dass unser Koalitionspart- weise die Schließung gastronomischer Betriebe, die über ner auch zu dem Schluss gekommen ist, dass die Abwä- Hygienekonzepte verfügen, die Schließung von Sport- gung zwischen dem Eingriff in Freiheitsrechte und dem und Freizeiteinrichtungen pauschal, die Schließung von Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23957

Christian Lindner (A) kulturellen Einrichtungen. Aber wir hoffen, dass diese Übrigens: In diesem Zusammenhang irritieren mich (C) Maßnahmen wenigstens das Ziel insgesamt erreichen: manche Äußerungen aus der Fraktion der CDU/CSU, die Eindämmung der Infektionszahlen. wir wollten Maßnahmen aufheben. Ähnlich hat sich eine Stimme aus der SPD-Fraktion dieser Tage geäußert. Offen ist aber unverändert, wie es langfristig weiter- Das ist schlicht wahrheitswidrig. Es geht nicht darum, gehen soll. Offen ist, ob uns nicht ein Jo-Jo-Effekt droht, Maßnahmen des Gesundheitsschutzes pauschal aufzuhe- eine Abfolge drastischer Einschränkungen, die wirksam ben. Im Gegenteil: Wir haben bereits mehrfach Vorschlä- sind, aber nach denen wir, unmittelbar nach ihrer Auf- ge eingebracht, wie wir die Infektionsschutzmaßnahmen hebung, wieder zum ursprünglichen Zustand zurückkeh- auf eine gesetzliche Grundlage stellen können. Aber die ren. epidemische Lage von nationaler Tragweite gibt Kompe- Eines ist dagegen inzwischen klar: Die Rechtsgrund- tenzen an die Regierung, die sie nicht mehr braucht, und lagen für die getroffenen Maßnahmen sind wackelig und diese sollte sich das Parlament zurückholen. Und genau bedürfen dringend der gesetzlichen Ordnung. Deshalb darum geht es. diskutieren wir heute den vorliegenden Gesetzentwurf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und insbesondere einen neuen § 28a im Infektionsschutz- der AfD) gesetz. Dazu brauchen wir unter anderem eine Befristung der Vorweg: Wir als Fraktion halten einige der festgehalte- epidemischen Lage, damit der Bundestag die Lage regel- nen Maßnahmen für richtig. Mehr Testmöglichkeiten mäßig neu bewerten kann. Es braucht parlamentarische zum Beispiel sind elementar für den Weg aus dem Lock- Erlassvorbehalte, eine Unterrichtungspflicht der Bundes- down; denn sie bieten die Möglichkeit, Infektionsketten regierung. Der vorliegende Gesetzentwurf liefert dazu zu durchbrechen und Sicherheit zu geben. Es ist fraglos leider nichts. auch empfehlenswert, die Meldung der Neuinfektionen Und er verfehlt zudem deutlich sein Ziel, Rechtssicher- zu digitalisieren. heit für die getroffenen Maßnahmen zu schaffen. Es gibt Aber Sie zwingen uns durch die unnötige Verlänge- eine breite Aufzählung von Freiheitseinschränkungen; rung und teilweise sogar Ausweitung der Verordnungs- aber es wird nicht klar, welche Maßnahme welche Wir- ermächtigungen, das alles in eine Klammer zu ziehen. Es kung hat. Der § 28a unterscheidet zudem zwischen „ein- gibt keinen Grund, warum wir über ein halbes Jahr nach fachen“, „stark einschränkenden“ und „schwerwiegen- der Feststellung der epidemischen Lage immer noch im den Schutzmaßnahmen“. Aber an keiner Stelle wird Notfallmodus an der momentanen Verordnungspraxis definiert, welche Maßnahme zu welcher Kategorie ge- festhalten und diese hier zum Teil sogar entfristen sollen. hört. Das ist schon handwerklich schlecht gemacht. (B) (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der AfD) Es ist für niemanden, weder die Verwaltung noch die Bürgerinnen und Bürger, erkennbar, in welcher Lage Seit Wochen gibt es Kritik an der fehlenden Parla- genau was passieren soll. Der Bestimmtheitsgrundsatz mentsbeteiligung und Zweifel an den Rechtsgrundlagen, wird nicht beachtet. Anders gesagt: Das schafft keine insbesondere für die Verordnungen der Landesregierun- Rechtssicherheit. gen. Stimmen aus allen Fraktionen, der Herr Bundestags- präsident, Wissenschaftler, Gerichte: Alle äußern Zweifel Bundesminister Spahn sagt, es gebe auch andere Indi- an der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlagen. Die- katoren, um die Situation einzuschätzen. Sie erwähnen se Bedenken wurden vergangene Woche noch mit dezi- als Voraussetzungen für Maßnahmen, Herr Minister, belstarken Argumenten vom Tisch gefegt. Meine Vorgän- aber allein die Inzidenzzahlen, anders, als Sie es hier ger würden sich für uns schämen. eben dargestellt haben. Weitere Indikatoren – wer ist gefährdet? wie ist die Auslastung des Gesundheitssys- (Beifall bei der FDP und der AfD) tems? welches Ausbruchsgeschehen gibt es? – kommen Kaum eine Woche später kommen Ihnen dann offenbar gar nicht vor. doch Bedenken, und Sie legen einen Gesetzentwurf vor. Erinnern wir uns: Die Zahl von 50 Fällen pro Es ist aber eine Überraschung, dass er nicht etwa zum 100 000 Einwohner ist nicht aus epidemiologischer Sicht Ziel hat, das Parlament an der Diskussion um geeignete entstanden; es ist eine rein politische Setzung, die sich Maßnahmen der Pandemiebekämpfung zu beteiligen. orientiert an der Personalausstattung der Gesundheitsäm- Nein! Sie legen ein rechtspolitisches Feigenblatt vor, ter. Anders gesagt: Statten wir die Gesundheitsämter bes- um bereits getroffene Entscheidungen nachträglich zu ser aus, müsste auch eine andere Zahl von Inzidenz zur legitimieren. Das geht hart an die Grenze der Missach- Grundlage genommen werden. tung des Parlaments. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der AfD sowie bei der AfD – Zurufe von der LINKEN) Abgeordneten der LINKEN) – Wir sind immer für einen starken Staat da, wo wir ihn Wir begrüßen deshalb die Initiative der SPD-Fraktion brauchen; aber überflüssigen Bürokratismus gibt es mit zur Stärkung des Parlaments. Leider findet sich davon so uns nicht. gut wie nichts in diesem Gesetzentwurf wieder. Wenn Sie (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hansjörg dem Gesetz zustimmen, dann wird Ihr Vorstoß, der gera- Müller [AfD] – Lachen bei der SPD und der de wenige Tage alt ist, zur Makulatur. LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ 23958 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Christian Lindner (A) CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Liebe Bundesregierung, gut, dass Sie unserem Antrag (C) NEN) folgen und die Maßnahmen im Infektionsschutzgesetz konkretisieren. Aber für mehr Akzeptanz sind weitere – Ja, lachen Sie nur; die SPD kann ja lachen. Es geht um Schritte nötig. Freiheitseinschränkungen für die Menschen und Verfas- sungsfragen. Erstens. Maßnahmen, die in Grund- und Freiheitsrech- te eingreifen, müssen demokratisch legitimiert sein, und Der Schwellenwert von 50 ist im Übrigen recht schnell die Debatten dazu, die gehören in die Parlamente. erreicht; das haben wir gesehen. Damit könnten auch schwerwiegendste Maßnahmen ausgelöst werden. (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) Zweitens. Es braucht transparente, nachvollziehbare Strategien, bei welcher epidemischen Entwicklung wie Die Frage der Verhältnismäßigkeit wollen Sie hier quasi vorgegangen wird. Und zu einer starken Strategie gehört als Gesetzgeber vorwegnehmen. Das ist ein Freifahrt- im Übrigen auch – ich muss ja wirklich schmunzeln, dass schein für Grundrechtseingriffe und Freiheitseinschrän- die FDP nach so langer Zeit endlich den starken Staat kungen, den Sie hier ausstellen wollen. entdeckt hat – (Beifall bei der FDP und der AfD) (Christian Lindner [FDP]: Immer!) Auch damit schaffen Sie keine Rechtssicherheit. Dieser eine andere politische Weichenstellung, nämlich Maß- Gesetzentwurf ist deshalb in diesen Punkten eine Enttäu- nahmen gegen den Pflegenotstand und den Lehrerman- schung. gel, Belüftungsanlagen für Schulen, ein Konzept für den (Beifall bei der FDP – Tino Sorge [CDU/CSU]: öffentlichen Nahverkehr usw. Die ganze Rede war eine Enttäuschung! – (Beifall bei der LINKEN) Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ja, ja! Privat vor Staat – von euch erfunden!) Es ist doch absurd: Die Menschen haben zwar die Pflicht zum Abstandhalten; aber sie haben kein Recht darauf – zum Beispiel in überfüllten Bussen und Bahnen, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: in zu kleinen Klassenzimmern, in denen zum Teil nicht Susanne Ferschl, Die Linke, ist die nächste Rednerin. mal die Fenster aufgehen. Und es ist skandalös, dass (Beifall bei der LINKEN) Intensivbetten wegen Personalmangels nicht betreut wer- den können. Gehen Sie doch diese Probleme endlich an. (B) (D) Susanne Ferschl (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin- Drittens brauchen wir den politischen Streit über die nen und Kollegen! Herr Minister! Wir brauchen mehr Verhältnismäßigkeit. Die Union ist hier raus mit ihrer demokratische Kontrolle, gerade in einer Pandemie, die Blockade beim Arbeitsschutzkontrollgesetz. Aber an- wir zweifelsfrei haben. Die Situation im März hat kurz- sonsten gehören die Maßnahmen abgewogen. Was ist in fristige, einschneidende Maßnahmen nötig gemacht. Es welcher Situation schlimmer: Existenzangst, Einsamkeit ist eben keine Grippewelle, wie die AfD ständig behaup- oder Infektionsgefahr? tet. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: In wel- ( [AfD]: Das behauptet die cher Reihenfolge werten Sie das denn?) WHO!) Und darüber muss hier im Parlament unter Einbeziehung Jetzt, acht Monate später, wird wieder massiv in von Expertinnen und Experten gerungen werden, und Grund- und Freiheitsrechte eingegriffen, und zwar ohne zwar nicht nur ausschließlich mit Virologen. Beteiligung der Parlamente, ohne erkennbare Strategie und ohne eine Überprüfung der Wirksamkeit und der (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- Auswirkungen der Maßnahmen, und das geht so nicht Brömer [CDU/CSU]: Machen Sie doch mal weiter. einen Vorschlag, wie es besser geht!) (Beifall bei der LINKEN) Die Krise ist nicht die Stunde der Exekutive. Sie ist die Stunde der Parlamente; denn sie sind die Herzkammer Seit Monaten erleben wir mehrere Akte eines absurden der Demokratie. Theaters, aufgeführt von Kanzlerin und Ministerpräsi- denten mit den Parlamenten als Zuschauern. Zuerst gab Vielen Dank. es einen Wettlauf: „Wer schränkt am schnellsten ein?“, (Beifall bei der LINKEN) danach: „Wer lockert am schnellsten?“, das alles vor der Kulisse: „Wer wird neuer Kanzlerkandidat der Union?“ Und Onkel Söder erzählt uns jetzt, wenn wir alle schön Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: brav sind, dann dürfen wir vielleicht Weihnachten feiern. Nächster Redner ist die Kollegin Dr. Manuela So schwindet die Akzeptanz der Bevölkerung, die wir Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen. dringend brauchen, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der LINKEN) Zuruf von der AfD: Nächste Rednerin!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23959

(A) Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Damen und Herren Ministerpräsidenten heißt es – ich (C) NEN): zitiere –: „Eine abschließende verfassungsrechtliche Be- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- wertung der einzelnen Maßnahmen wird daher von der nen und Kollegen! Ich sehe, dass Sie, die Kollegen von konkreten Ausgestaltung in den jeweiligen Verordnungen der AfD, hier sichtbar das Grundgesetz aufgebaut haben. der Länder abhängen.“ Ein erster Warnschuss des Bayeri- Ich würde Ihnen empfehlen: Gucken Sie mal öfter da schen Verwaltungsgerichtshofs, der deutlich gesagt hat: rein; das bringt mehr. „Im Bund ist die Lösung zu finden“, war nun wirklich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nicht mehr zu überhören. bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Als Gesundheitsdezernentin von am Main Über Nacht wurde dann in den Ministerien – ich frage habe ich in meinem Leben mehr Erfahrung in der Ein- mich eigentlich, in welchem; ich glaube, es war nicht dämmung von Infektionskrankheiten gesammelt, als ich Ihres, Herr Spahn, ich weiß es aber nicht genau – eine mir gewünscht habe: von Lassafieber bis zur H5N1- der berüchtigten Formulierungshilfen zusammengestop- Vogelgrippe. Die Pandemie jetzt ist etwas völlig anderes. pelt. Diesem Vorschlag merkt man leider an, dass er Aber ich weiß noch aus der Zeit: Es kommt auf eines an – offenbar auf gar keine Vorarbeiten zurückgreifen konn- auf schnelle Reaktion. te. – Schaun wir mal, dann sehn wir’s schon. Am Mittwoch vergangener Woche haben die Minister- präsidenten schnell auf steigende Zahlen reagiert und Es wird auch keine Ermächtigungsgrundlage daraus, sich auf neue Beschränkungen verständigt. Und ich wenn man sie ins Bundesgesetzblatt schreibt. Damit weiß, dass den überlasteten Mitarbeiterinnen und Mit- kommen Sie nie und nimmer durch die nächsten Monate. arbeitern in den Gesundheitsämtern bundesweit in dem Es reicht nicht, dass denkbare Maßnahmen im Gesetz Moment ein Stein vom Herzen gefallen ist. erwähnt werden. Ihr Zweck, ihre Voraussetzungen und ihre Grenzen müssen definiert werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch wir ziehen die Erforderlichkeit der drastischen Es reicht nicht, einfach zu regeln, dass beim Über- Reduktion weiterer Kontakte in diesem Moment über- schreiten bestimmter Inzidenzschwellen „einfache“, haupt nicht in Zweifel. „stark einschränkende“ und „schwerwiegende“ Schutz- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das ist klar!) maßnahmen in Betracht kommen. Das wird alles nicht reichen. Schnell waren die Ministerpräsidenten, aber zu lang- (B) sam war die Koalition. Seit Langem prognostizieren FDP und Linke hoffen ja in ihren heutigen Anträgen (D) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese zweite noch auf die Bundesregierung. Wir waren schon länger Welle. Wir wissen, sie wird weitere Einschränkungen be- skeptisch. Wir schlagen vor, dass das Parlament ab heute deuten. Seit Langem weisen Verfassungsrechtler, weisen die Sache in die Hand nimmt. Wir reichen Ihnen mit auch wir darauf hin, dass die Verordnungsermächtigun- unserem Antrag heute wieder die Hand für eine gemein- gen im Infektionsschutzgesetz nicht ausreichen, um die same, eine bessere Lösung. Wir brauchen eine für Gerich- dann erforderlichen Grundrechtseingriffe zu rechtferti- te nachvollziehbare gesetzliche Verknüpfung zwischen gen. Infektionsgeschehen und Rechtsfolgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jetzt zieht auch die Ausrede nicht mehr, dass noch keine Wir brauchen den direkten, dauerhaften Zugang des Par- Zeit war oder dass wir nicht genug über Covid-19 wissen. laments zu wissenschaftlicher Expertise und zu Informa- Wenn es um die Bekämpfung der Pandemie geht, dann tionen der Bundesregierung, um die Entwicklung parla- ist bei der Koalition hier immer viel von Gemeinsamkeit mentarisch angemessen begleiten zu können, etwa in die Rede. Wir halten sie auch für den richtigen Weg. einem interdisziplinär besetzten Pandemierat. Deswegen haben wir Ihnen in den letzten Monaten immer wieder die Hand gereicht. Aber es wurden von Ihnen zig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Chancen verpasst, eine solide gesetzliche Grundlage zu Wir brauchen auch die Debatte hier im Parlament darü- schaffen, auf der wir jetzt die zweite Welle brechen kön- ber, welche Indikatoren für die Bewertung des Infek- nen. tionsgeschehens die richtigen sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unsere Anträge zu Anhörungen im Rechtsausschuss zu den Bevölkerungsschutzgesetzen: abgelehnt. Die Ein- Wir können Regelungen schaffen, die hinreichend wände von Verfassungsrechtlern bei den Anhörungen im bestimmt, gerichtsfest und flexibel für schnelles Nach- Gesundheitsausschuss: überhört. Die zahlreichen kriti- steuern sind, wenn es erforderlich ist; davon bin ich über- schen Veröffentlichungen: nicht gelesen. zeugt. Noch letzten Freitag haben Bundesjustizministerin Lambrecht und Bundesinnenminister Horst Seehofer Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: brieflich die Verantwortung für die Gerichtsfestigkeit an Frau Kollegin, der Kollege Hampel würde gerne eine die Länder abgeschoben. In ihrem Schreiben an die Zwischenfrage stellen. 23960 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

(A) Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stelle ist. Die Menschen, meine Damen und Herren, die (C) NEN): da betroffen sind, wundern sich über unsere juristische Ich möchte aber keine Zwischenfrage von Herrn Diskussion an der Stelle. Hampel hören. – In der „Frankfurter Allgemeinen Zei- tung“ wurde die Frage gestellt: Tut sich der Bundestag Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wirklich einen Gefallen, wenn er sich damit beschäftigt? – Herr Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischen- Ich finde, wir wären allesamt falsch hier im Bundestag, frage des Kollegen Sichert? wenn wir uns danach richten würden, womit wir uns einen Gefallen tun, Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gern. sowie bei Abgeordneten der FDP)

und wenn wir der Auseinandersetzung um schwerwie- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gende Fragen ausweichen würden. Wir sind dafür ge- Herr Kollege. wählt, unsere Rolle als Gesetzgeber auszufüllen, und da- für, den Zweck, die wesentlichen Voraussetzungen und die Bedingungen für erhebliche Eingriffe in die Grund- Martin Sichert (AfD): freiheiten zu wägen und festzulegen. Natürlich wird es Sie haben gerade gesagt, dass es darum geht, dass man streitige Debatten hier geben. Die gibt es doch auch jetzt eine Überlastung der Krankenhäuser verhindern möchte. schon. Die gibt es in den Talkshows, die gibt es im Inter- Jetzt haben Sie aber hier einen Gesetzentwurf vorge- net, die gibt es in der Presse. Aber hier werden die demo- legt, der ohne Definition von irgendwelchen Vorausset- kratisch gewählten Abgeordneten am Ende entscheiden, zungen, irgendwelchen Belastungen der Krankenhäuser und das wird uns allen nützen. oder sonst was völlig willkürlich letztlich die Regierung ermächtigen soll, massive Grundrechtseinschränkungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vorzunehmen. Das ist doch eigentlich eine ganz gute Sache. Es geht ( [CDU/CSU]: Stimmt doch ein- hier um eine Gesetzgebung zur besseren Beteiligung des fach nicht!) Parlaments. Ich bin sicher, dass wir alle zeigen können, dass es wirklich besser ist, das Parlament zu beteiligen, Wir haben bis heute im Land flächendeckend keinerlei und zwar genau bei diesem Gesetz. Obduktionen von Coronapatienten. Warum beschaffen Sie denn nicht erst mal die ganzen Informationen und Danke. schreiben konkrete Voraussetzungen hinein? (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Wir haben momentan nur einen kleinen Prozentsatz der Intensivstationen mit Coronapatienten belegt. Wir Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wissen nicht mal, wie viele von denen, die unter Corona Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein, laufen, tatsächlich wegen Corona dort liegen oder ob die CDU/CSU. Leute auf den Intensivstationen liegen, weil sie wegen (Beifall bei der CDU/CSU) einer anderen Krankheit dort liegen und nur coronaposi- tiv getestet sind; denn alle, die in irgendeiner Weise coro- napositiv getestet werden, werden dort erfasst. Genauso Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): läuft jeder, der coronapositiv erfasst wurde und stirbt, als Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Noch Coronatoter, auch wenn er an einer anderen Krankheit im Sommer waren für viele – da nehme ich mich gar nicht stirbt. aus – die Statistiken, die da täglich zu Corona veröffent- licht wurden, sehr abstrakt. Inzwischen sind wir in einer Warum sorgen Sie nicht dafür, dass wir endlich mal Situation, wo jeder von uns Betroffene mit langanhalten- Informationen und Aufklärung bekommen, was eigent- dem Geschmacksverlust kennt, mit der Problematik, in lich die Grundlage unserer Arbeit als Parlament ist? einer intensivmedizinischen Behandlung zu stecken, oder welche, die wie beispielsweise der Vater einer Mitarbeite- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: rin von mir ohne Vorerkrankungen an dieser schlimmen Herr Kollege. Krankheit verstorben sind. Nun kann man an der Stelle tatsächlich diskutieren: Ist Martin Sichert (AfD): das so schlimm? Passiert das nicht eben? Ist das nicht Warum sagen Sie nicht: „Wir haben hier eine Informa- einfach Lebensrealität? Aber, meine Damen und Herren, tion, und auf dieser Basis können wir Entscheidungen der Maßstab unserer Gesundheitspolitik in Deutschland treffen“? ist schon immer gewesen, dass wir keine Triage im Sinne von Rationierung wollen, dass wir nicht wollen, dass man (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sich als Arzt entscheiden muss, wer weiterleben darf und wer konzentrieren ist nicht so Ihres, oder?) sterben muss. Und das ist eigentlich das Ziel, das hinter unseren Maßnahmen steckt. Denn wenn Sie sich an- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): schauen, mit welcher Dynamik die Zahl der intensivme- Also, das verstehe ich jetzt nun beim allerbesten Wil- dizinisch beatmeten Menschen tatsächlich anwächst, len nicht: Als ob es darauf ankäme, ob man nur wegen dann wissen Sie, wie groß der Handlungsdruck an der oder auch wegen Corona auf der Intensivstation liegt! Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23961

Dr. Georg Nüßlein (A) (Widerspruch bei der AfD) (Zuruf von der AfD: Tut ihr aber!) (C) Entscheidend ist doch, dass am Schluss tatsächlich diese Wir haben uns des Weiteren darauf verständigt, die Plätze genau für diese Menschen gebraucht werden. Sie Schulen und die Kinderbetreuung offenzuhalten. Also können doch nachvollziehen, wie diese Zahl steigt: Wir müssen wir am Schluss in den Freizeitbereich eingreifen. hatten im April dieses Jahres 2 850 Coronapatienten Auch dort gibt es natürlich relevante Wirtschaftsunter- intensivmedizinisch behandelt. Wir hatten am 1. Oktober nehmen. Diese werden gestützt und finanziert; das wer- 362 Coronapatienten, die intensivmedizinisch behandelt den Sie sehen. Aber dazu kommt von Ihnen kein Wort. wurden; jetzt, am 5. November, waren es 2 653 Corona- Im Übrigen werden die Entscheidungen nicht nur hier patienten. Das ist die Zahl, nach der Sie suchen. Die getroffen. Vielmehr entscheiden die Menschen auch sel- können Sie nachlesen, die finden Sie raus. ber. Schauen Sie es sich an: Schon bevor wir Maßnahmen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – ergriffen haben, waren die Gaststätten leer. Die Debatte, [DIE LINKE]: Die AfD die Sie über die Parlamentsbeteiligung führen, ist eine kann nicht lesen!) Scheindebatte, in der Sie eigentlich nur zugeben, dass die Opposition in der jetzigen Situation nicht so gefragt Das hat der Minister richtig gesagt: Wenn das mit der ist, wie Sie es gern hätten; das ist doch der Punkt. Dynamik so weitergeht, dann sind das in zwei Wochen doppelt und dreifach so viele. Dann sind wir irgendwann Um noch zu Herrn Lindner zu kommen. Wir bessern an dem Punkt, wo Sie entscheiden müssen, wen Sie wei- mit § 28a des Infektionsschutzgesetzes nicht etwa nach. terbehandeln und wen Sie nicht weiterbehandeln, und das Wir rechtfertigen nichts im Nachhinein, überhaupt nicht. müssten Sie dann vertreten. Dafür sind Sie offenkundig, Das tun wir an dieser Stelle nicht. Vielmehr sehen wir weil Sie sagen: Lassen Sie es laufen, schauen wir mal, ganz klar, dass mit dem Fortschreiten der Pandemie, der was passiert; das wird schon irgendwie gut gehen. – Nur langen Dauer und der Verschärfung der Situation die geht das offenkundig nicht gut. Anforderungen an den Parlamentsvorbehalt wachsen. Das ist übrigens der Leitsatz des Gerichtsurteils, das Sie (Beifall bei der CDU/CSU) zitiert haben. Und deshalb bessern wir nicht nach, son- Die Zahlen sind doch da, meine Damen und Herren. Es dern sorgen dafür, dass wir auch in Zukunft, selbst wenn ist doch nicht so, dass das eine Erfindung von der Mehr- die Pandemie leider länger dauern sollte, als wir uns alle heit des Parlaments und übrigens auch von der Mehrheit das wünschen, eine Grundlage haben. der Menschen, die das Ganze mittragen, ist. Das ist doch nicht wahr. Sie sehen doch, wie ansteckend das Virus ist. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Ich habe vorhin versucht, Ihnen klarzumachen, dass es Herr Kollege Nüßlein, der Kollege Hampel würde (B) auch eine persönliche Betroffenheit gibt. Sie müssen es auch noch gerne eine Zwischenfrage stellen. (D) doch auch erleben. Stirbt in Ihrem Umfeld niemand? Ist da niemand schwer krank? Liegt niemand aus Ihrem ( [CDU/CSU]: Nein, das Umfeld auf der Intensivstation? muss nicht sein! – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nein!) (Zurufe von der AfD: Nein! Nein!) – Vielleicht kennen Sie zu wenige Leute und sind zu weit Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): weg von den Bürgern; das kann sein. Noch eine von der AfD? – Ich weiß ja, dass Sie für (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Facebook Vorlagen brauchen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Krux ist aber, dass Sie es nicht sehen wollen. Ihre Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Idee ist offenkundig: Sie wollen diejenigen, die sich für Lassen Sie es zu? unverwundbar halten und sagen: „Wir sind nur ökono- misch beschwert“, einsammeln, weil es für eine kleine Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Partei wie Ihre nur darum geht, ein paar Prozentpunkte Mache ich, ja. hinzuzugewinnen; darum geht es Ihnen. Wir müssen jedoch Politik in der Breite für die Menschen machen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/ Herr Kollege Hampel. CSU]) Die Volksparteien müssen genau das vertreten und dafür Armin-Paulus Hampel (AfD): sorgen, dass es den Menschen in der Breite gut geht, und Danke schön, Herr Präsident. Danke schön, Herr Kol- dürfen nicht nur versuchen, Abtrünnige einzusammeln; lege, dass ich Ihnen die Frage stellen darf. – Sie haben es das ist der Punkt. Sie brauchen auch nicht so zu tun, als ja selber angesprochen, und es ist ja Tenor hier im Hause: ob Sie für bestimmte Leute da wären. Wir kümmern uns Es ist ein massiver Eingriff in die Grundrechte der Bürger genauso gut um diejenigen, die sich hier beschweren. in diesem Land. Sie ruinieren ganze Wirtschaftszweige: Tourismus, Gastronomie, Hotellerie etc. Jetzt komme ich (Beifall des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/ zu einem Punkt, der etwas beinhaltet, was von Anfang an CSU]) in unserem Land und anderswo im Grunde genommen Wir haben uns hier darauf verständigt, nicht zu tief in nie infrage gestellt wurde. Schon nach den chinesischen die Wirtschaft einzugreifen. Erkenntnissen war erkennbar, dass 85 Prozent der Infi- 23962 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Armin-Paulus Hampel (A) zierten von dieser Krankheit entweder leicht betroffen Wir kümmern uns natürlich auch um diese Menschen. (C) waren oder gar keine Symptome hatten. Das wurde nie Wir sorgen dafür, dass entsprechende Hygienekonzepte bestritten; das wurde auch nie angezweifelt. Wir wissen, da sind. Wir sehen trotzdem gleichzeitig, wie groß der dass 15 Prozent schwer erkranken und teilweise auch an Wunsch ist, noch besucht und auch betreut zu werden. Leib und Leben gefährdet sind. Wir wissen auch, wer das ist: die alten Menschen und die Vorerkrankten. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ( [SPD]: Nein!) Jetzt ist die Frage beantwortet, und die Redezeit läuft weiter. Jetzt erklären Sie mir: Muss es nicht Aufgabe einer Bundesregierung sein, als Allererstes genau auf diese Gruppe zu fokussieren und die Pflege- und Altenheime – Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): und zwar professionell – sicher zu machen mit geschütz- Das alles ist schon ziemlich scheinheilig, was Sie da tem Personal etc. und die Vorerkrankten über die Kran- aufführen. Sie tun so, als ob man da kleine punktuelle kenkassen entsprechend zu informieren? Ist nicht das die Eingriffe machen könnte, und das Problem wäre gelöst. Methode, an die wirklich gefährdeten Personen in diesem Man kann das so tun, und vielleicht verfängt das bei dem Lande heranzugehen, bevor ich zum zweiten Mal das einen oder anderen. Aber am Schluss sind wir hier als die ganze Land in der Wirtschaft auf null schalte und unge- Fraktionen, die die Regierung tragen, verantwortlich für heuren Schaden anrichte? das, was passiert. Dafür schaffen wir die Grundlage, auch (Beifall bei der AfD) gesetzlich. Natürlich diskutieren wir über die Maßnahmen. Natür- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: lich schaffen wir an dieser Stelle eine Ermächtigungs- Herr Kollege Hampel, Ihre Frage ist klar geworden. grundlage. Aber am Schluss geht es darum, dass die Der Kollege Dr. Nüßlein wird sie jetzt beantworten. Exekutive jetzt gefragt ist, übrigens nicht nur auf Bundes- ebene, sondern ganz besonders auf Landesebene, bis hinunter zu den Landräten, die übrigens – das möchte Armin-Paulus Hampel (AfD): Danke schön, Herr Präsident. ich auch mal sagen – gemeinsam mit den Gesundheits- ämtern einen hervorragenden Job machen.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Ich stelle zunächst einmal fest, dass Sie bemerkens- werterweise die Zahlen kennen. Wir sorgen dafür, dass sie das qualifiziert und gut tun (B) können, ohne Panik zu machen, aber schon mit der Ziel- (D) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ein setzung, dass wir hier im Bundestag wenigstens die Prob- Fortschritt!) lematik ernst nehmen und sachlich, fachlich vernünftig Das ist ja schon mal spannend und gut zu wissen. Bei der miteinander diskutieren. nächsten Gelegenheit werden Sie es sicherlich wieder Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam- bestreiten. Das ist das Erste. keit. Das Zweite ist: Schauen Sie sich doch einmal die Zah- len an, und machen Sie es nicht ganz so abstrakt. Wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- viele Menschen in Deutschland sind über 60 Jahre alt? ordneten der SPD) 30 Prozent. Dann nehmen Sie noch die dazu, die irgend- welche Vorerkrankungen haben. Allein an Diabetes lei- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: den 9 Millionen bis 10 Millionen Menschen hier im Land. Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch, Es gibt sicherlich eine gewisse Schnittmenge. Aber neh- AfD. men Sie da mal noch etliche dazu. Dann sind Sie am Schluss relativ schnell bei über 40 Prozent der Menschen, (Beifall bei der AfD) die massiv gefährdet sind. (Widerspruch bei der AfD) Beatrix von Storch (AfD): Dann multiplizieren Sie die 40 Prozent mit Ihren 15 Pro- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- zent; dann kommen Sie weiter. Es ist doch schön, wenn ren! Das DIW sagt: Der zweite Merkel-Lockdown, nur man rechnen kann. der für November, kostet die Wirtschaft 19 Milliarden Sie haben die Zahlen, rechnen aber nicht weiter. Sie Euro und 600 000 Arbeitsplätze. – Die Regierung argu- denken nicht in die Zukunft. Und dann werden auch Sie mentiert dabei mit dem Holzhammer: Wer nicht für den am Schluss zu dem Ergebnis kommen, dass wir nicht Lockdown ist, dem seien Menschenleben egal. Ein Tot- einfach so tun können, als ob es nur eine ganz kleine schlagargument! Dazu ist zu sagen: Die Schließung der Gruppe in den Pflegeheimen gäbe, die wir nur ausrei- Gastronomie rettet keine Menschenleben. Wir können chend isolieren müssten, und das Problem wäre gelöst. Menschenleben retten, auch ohne die Wirtschaft zu rui- Das ist doch eine Scheinlösung. nieren, und wer die Wirtschaft ruiniert, der gefährdet am Ende Menschenleben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23963

Beatrix von Storch (A) Selbst der Virologe Alexander Kekulé kritisiert, dass Sie CSU], an die FDP gewandt: Wo ist der (C) mit der Gießkanne statt mit der Pinzette arbeiten und dass Christian? Beim „Morgenmagazin“?) Sie sich im Sommer auf den Herbst und auf den Winter nicht vorbereitet haben. Wie immer kommt das über- Dirk Wiese (SPD): raschend. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Wir haben Alternativen zu dem Lockdown formuliert. Kollegen! Rein rechtlich – das muss man hier einfach Mein Kollege Spangenberg hat es bereits erläutert: mehr einmal feststellen – sind die bisherigen Maßnahmen, die Schnelltests für Seniorenheime und Krankenhäuser, die Bundesregierung seit März getroffen hat – das ist FFP2-Masken für das Pflegepersonal und Unterstützung auch obergerichtlich bestätigt worden –, rechtmäßig, zu- für Risikogruppen zu Hause. Wir wollen Menschenleben lässig, erforderlich und angemessen. Diese Maßnahmen schützen, aber dabei darf die Wirtschaft nicht sterben. waren richtig. Es war richtig, sie zu erlassen, weil wir Wir brauchen die Wirtschaft auch, um Geld für Gesund- zum damaligen Zeitpunkt an vielen Stellen nicht die heit und medizinischen Fortschritt zu haben. Erkenntnis und das Wissen gehabt haben, was am heuti- Es gibt Erkrankungen, die sehr viel schwerwiegender gen Tag vorliegt. Eines ist deutlich geworden: Dieser als Corona sind und die sehr viel mehr Menschen betref- Prozess, den wir in dieser schwierigen und für unser fen. An Krebs erkranken jedes Jahr 500 000 Menschen in Land, für Europa herausfordernden Situation erleben, diesem Land, und es sterben nicht 1 Prozent oder 2 Pro- ist ein lernender Prozess. zent der über 80-Jährigen an ihm, sondern 50 Prozent Daher gilt: Die bisherigen Maßnahmen waren recht- sterben daran. mäßig. Die Einschränkungen, die es gegeben hat, waren (Zuruf des Abg. Stefan Schmidt [BÜND- auch zulässig. Es gilt, eines zu betonen, weil hier manch- NIS 90/DIE GRÜNEN]) mal etwas anderes suggeriert wird: Grundrechte gelten nicht schrankenlos. Grundrechte dürfen eingeschränkt 2018 238 000 Krebstote! Zur Erinnerung: Mit oder an werden. Das sieht unsere Verfassung so vor. Corona starben bislang 11 000 Menschen, ein Zwanzig- stel. Eine Krebsbehandlung kostet bis zu 200 000 Euro. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist Wenn in Zukunft das Geld dafür fehlt, dann werden Men- es!) schen sterben, noch mehr Menschen. Das scheint der Ich sage ganz deutlich: Die Freiheit des Einzelnen endet Regierung aber egal zu sein. Und: Obwohl Krebs die dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das ist zuläs- zweithäufigste Todesursache in Deutschland ist – noch sig. Das ist bei allem, was bisher auf den Weg gebracht mal: über 200 000 sterben daran jedes Jahr –, haben wir und gemacht worden ist, berücksichtigt worden. für die Forschung nur 300 Millionen Euro übrig. (B) (D) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) NEN]: Was wollen Sie damit sagen?) Ich bin manchmal etwas erstaunt, weil ich noch im Der Merkel-Lockdown im November kostet 10 Milliar- März die Aussagen von vernommen habe, den Euro. Das ist mehr als das 30-Fache. Das ist erkenn- die vor den großen Gefahren dieser Pandemie gewarnt bar Irrsinn. hat, die damals mehr Beschränkungen wollte. Das ist mittlerweile allerdings Makulatur, weil die AfD in einer (Beifall bei der AfD) Fraktionssitzung mehrheitlich beschlossen hat – ohne Statt für Schnelltests zu sorgen, wollen Sie mit dem Fachwissen –, dass es Corona nicht gibt. Seitdem hat Gesetz eine Datenkrake schaffen: weniger Bürgerrechte, sich das an diesem Punkt auch gewandelt. aber mehr Überwachung und immer mehr Kontrolle. Das (Zurufe von der AfD) Nein der AfD-Fraktion dazu könnte nicht klarer sein. Die Bundesregierung interessiert sich für Menschenleben Ich finde es schon perfide – das will ich heute auch nur, wenn es den Umfragewerten nützt. Die AfD will einmal sagen –, was in Zusammenhang mit dem Thema Menschenleben schützen, teilweise hier suggeriert wird, aber auch – das muss ich (Lachen des Abg. [DIE ehrlicherweise sagen –, wie es teilweise online diskutiert LINKE]) wird. Wenn ich Meldungen lese, dass bei mir im Hoch- sauerlandkreis ein älterer Mitbürger oder eine ältere Mit- unabhängig von Umfragewerten. bürgerin an Corona verstorben ist, dann stehen darunter Vielen Dank. Kommentare wie: Naja, die war doch 88 Jahre, die war doch 86 Jahre. Was soll das denn? Das kann doch passie- (Beifall bei der AfD – Harald Weinberg [DIE ren. – Im Grundgesetz steht in Artikel 1 Absatz 1: „Die LINKE]: Das haben wir aber vorgestern noch Würde des Menschen ist unantastbar.“ Da steht nicht: die anders gehört!) Würde der jungen Menschen, der Menschen mittleren Alters. Jeder Mensch in unserem Land hat das Recht Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: auf adäquaten Gesundheitsschutz und auf adäquate Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese, SPD. Gesundheitsversorgung. Da dürfen wir keine Abstriche machen. (Beifall bei der SPD – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die FDP (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, gewandt: Wo ist eigentlich Herr Lindner nach der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE der Rede? Musste er raus? – Tino Sorge [CDU/ GRÜNEN) 23964 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: blick auf die heutige erste Lesung des Gesetzentwurfes (C) Herr Kollege Wiese, der Kollege Sichert, AfD, würde ehrlicherweise in den letzten 36 Stunden intensiv damit gern eine Zwischenfrage stellen. auseinandergesetzt, welche Stellungnahmen von den Bundesländern eingegangen sind –, dass in den Stellung- (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Nein!) nahmen der Länder, in denen Sie regieren, nichts von dem zu lesen ist, was Christian Lindner hier angeführt Dirk Wiese (SPD): hat. Sehr geehrter Herr Präsident, mit Ihrem Einverständ- Und ich muss einmal ganz ehrlich sagen – lieber Ralph nis: Albert Einstein hat einmal gesagt: Das Universum Brinkhaus, 30 Sekunden bitte tapfer sein –: Angesichts und die menschliche Dummheit sind unendlich. – Da des Chaos in der Schulpolitik, das Ihre Schulministerin ich glaube, dass die Frage nicht dazu beitragen wird, Gebauer seit März in Nordrhein-Westfalen mit einem dass wir dieses Zitat heute Morgen widerlegt kriegen, organisatorischen Totalversagen anrichtet, wo Schüler würde ich die Frage ablehnen. im Stich gelassen werden, Lehrer im Stich gelassen wer- (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Zuruf den, von der AfD: Frechheit!) (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden bin ich froh, dass die Jamaika-Verhandlungen gescheitert mit diesem Gesetzentwurf § 28 Infektionsschutzgesetz sind, dass Sie keine Regierungsverantwortung hier in konkretisieren. Durch den § 28a werden wir engere Maß- Berlin haben. stäbe anlegen – ja –, aber wir werden auch im laufenden Verfahren sehr genau hingucken. Wir nehmen ja auch die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gerichtsentscheidungen ernst, die in letzter Zeit ergangen Das, was Sie im Schulministerium in Nordrhein-West- sind; gerade auch erst die vom letzten Wochenende. falen machen, ist verantwortungslos und keine Regie- Alles, was dort steht zur Verdeutlichung der Zielrichtun- rungsführung. gen, also dessen, wo es hingehen soll, und ob es der richtige Rahmen ist, werden wir sehr genau prüfen. Dabei (Beifall bei der SPD) wird dieses Parlament mit großem Selbstbewusstsein Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, das sind massive vorangehen. Das machen wir insbesondere durch die Einschränkungen für Gastronomen, für Hoteliers, die wir Anhörung, die jetzt bevorsteht. Wir werden das übrigens beschlossen haben; das stellen wir gar nicht infrage. auch vor dem Hintergrund des § 5 des Infektionsschutz- (Zuruf des Abg. [AfD]) gesetzes und der befristeten Regelungen, die im März des kommenden Jahres auslaufen, machen; aber das geht Aber vor diesem Hintergrund ist es wirklich richtig und (B) über das, was heute zur Debatte steht, hinaus. wichtig, dass das Bundesfinanzministerium, das mittler- (D) weile – das muss ich sagen – auch die Arbeit des Bundes- Ich muss aber auch noch einmal deutlich sagen, dass wirtschaftsministeriums übernommen hat, diese Hilfen ich doch ein bisschen erstaunt bin. Ich habe von der FDP jetzt in dieser Höhe auf den Weg gebracht hat. Das hilft, in den letzten Wochen vernommen, dass Sie Kritik üben, das kommt an, und das ist genau die richtige Antwort in obwohl Sie – ich habe das noch einmal nachgeschaut – dieser Situation. Ich kann nur sagen: Wir brauchen einen seit März nur einen Antrag im Hinblick auf Corona starken Staat, der funktioniert. Wenn wir alle Personal- gestellt haben, dass Sie die Beteiligung des Parlaments kürzungen gemacht hätten, die die FDP über Jahre gefor- einfordern und hier eine Debatte darüber führen wollen. dert hat – „Privat vor Staat“ –, dann wäre dieses Gesund- (Zurufe von der FDP – Carsten Schneider heitssystem schon zusammengebrochen. [Erfurt] [SPD]: Wo ist der Fraktionsvorsitzende Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. schon wieder hin? Erst hier Wortführer und dann wieder verschwinden!) (Beifall bei der SPD) Ich finde es eine Ungeheuerlichkeit und Frechheit, dass Ihr Fraktionsvorsitzender nicht den Anstand hat, bis zum Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Ende dieser Debatte hierzubleiben, sondern dass er Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Andrew Ullmann, gegangen ist. Das ist ein Affront gegen die parlamenta- FDP. rische Debatte. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Andrew Ullmann (FDP): Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Frechheit! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach sechs Missachtung des Parlaments! – Michael Gros- Monaten wird ein weiteres Bevölkerungsschutzgesetz se-Brömer [CDU/CSU]: So viel zum Thema hier im Bundestag behandelt. Plötzlich und unerwartet Parlamentsbeteiligung!) sind wir mittendrin in einer zweiten Pandemiewelle. Jetzt Das zeigt: Er ist gewogen worden und für zu leicht befun- wird reagiert. Jetzt wird gehandelt. – Ein wenig spät in den worden. meinen Augen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn (Beifall bei der FDP) ich dann noch einmal schaue, welche Argumente – auch Trotzdem – das muss ich sagen, aber ich habe leider rechtliche Argumente – Christian Lindner gerade vorge- nur wenige Sekunden Zeit – sind medizinisch wichtige bracht hat, dann stelle ich fest – ich habe mich im Hin- und richtige Punkte angesprochen worden – besser spät Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23965

Dr. Andrew Ullmann (A) als nie –, unter anderem auch die Nutzung von tier- und Seit Monaten erfahren wir bei Pressekonferenzen der (C) zahnärztlichen Laboren zur Testung; eine Forderung Kanzlerin von einem wirren Maßnahmengemisch, das oft übrigens, die die FDP-Fraktion bereits vor zwei Monaten eher der Profilierung einzelner Ministerpräsidenten dient gestellt hat. als dem Schutz der Bevölkerung. (Beifall bei der FDP) (Tino Sorge [CDU/CSU]: Zum Beispiel Bodo Ramelow in Thüringen!) Doch von dem Gesetzentwurf hätte ich viel mehr Ant- Beherbergungsverbote und Sperrstunden sind inzwischen worten erwartet. Zahlen sind wichtig, Zahlen müssen her. als willkürliche Schnellschüsse entlarvt. Und die pau- Differenziertes Vorgehen ist natürlich essenziell, und schale Schließung sämtlicher Restaurants und Freizeit- dazu brauchen wir valide Zahlen. Doch wer eine Pande- einrichtungen lässt sich nicht als sinnvoll vermitteln, mie bekämpfen will, muss Perspektiven geben. Wer eine wenn die Gründe für diese Maßnahmen nicht erklärt Pandemie bekämpfen will, braucht auch Regelwerke für und öffentlich diskutiert werden. bessere Planbarkeit, inklusive belastbarer Hygienemaß- nahmen. Wer eine Pandemie bekämpfen will, muss mas- (Beifall bei der LINKEN – Saskia Esken sivste Grundrechtseinschränkungen gut rechtfertigen. [SPD]: Das tun wir doch!) Und das fehlt in diesem Gesetzentwurf. Wir fordern deshalb von der Bundesregierung, die Verlassen Sie Ihre Strategie des panischen Reagierens. Maßnahmen bewerten zu lassen, und zwar unabhängig, Fangen Sie an zu agieren, und zwar zeitig und voraus- und dem Bundestag regelmäßig zu berichten. Wir for- schauend. dern, dass die Bundesregierung dem Bundestag endlich eine Strategie zur Pandemiebekämpfung zur Entschei- Herzlichen Dank. dung vorlegt, (Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer (Beifall bei der LINKEN) [CDU/CSU]: Gute Rede! Alles rausgeholt!) und zwar eine Strategie, die unterschiedliche Szenarien der Pandemieentwicklung berücksichtigt und die klare Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: epidemiologische Zielwerte vorgibt. Achim Kessler, Die Linke, ist der nächste Redner. Wir wollen nicht nur besser wissen, mit welchen Zie- len die Bundeskanzlerin in die Gespräche mit den Län- (Beifall bei der LINKEN) dern geht, sondern wir wollen auch mitentscheiden. Das, meine Damen und Herren, ist unsere Aufgabe, und nicht (B) Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): die, passiv vor den Fernsehern der Kanzlerin zuzuschau- (D) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist en, wie sie weitreichende Maßnahmen und Grundrechts- unsere gemeinsame Aufgabe, grundlegende Entschei- einschränkungen verkündet. dungen nicht der Exekutive zu überlassen, sondern sie (Beifall der Abg. [DIE LIN- wieder zurück in den Bundestag zu holen. Deshalb müs- KE]) sen die intransparenten Hinterzimmerkungeleien der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten und Ministerprä- Verordnungen, die Grundrechte einschränken, müssen sidentinnen endlich ein Ende haben. dem Bundestag nachträglich zur Entscheidung vorgelegt werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sobald ein Impfstoff zur Verfügung stehen wird, Herr Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, dass wir Minister, werden wir vor der schwierigen Frage stehen, wieder dem Auftrag der Wählerinnen und Wähler und im wer zuerst geimpft werden soll: die Risikogruppen, das Übrigen auch des Grundgesetzes nachkommen, die Bun- Pflegepersonal oder diejenigen, die das Virus am meisten desregierung zu kontrollieren, aber vor allem auch, die verbreiten? Doch an der Erarbeitung der Impfstrategie wesentlichen Entscheidungen selber zu treffen. beteiligt die Bundesregierung den Bundestag nicht. Es Vielen Dank. gibt darüber keine öffentliche Debatte. Die verschiedenen wissenschaftlichen Ratschläge werden nicht öffentlich (Beifall bei der LINKEN) gemacht. So kann das wirklich nicht weitergehen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der LINKEN) Nächster Redner ist der Kollege Marco Bülow. Es muss Ihnen doch inzwischen aufgefallen sein, dass (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) viele der beschlossenen Maßnahmen bei immer mehr Menschen auf Unverständnis treffen. Es muss Ihnen doch auffallen, dass Entscheidungen, die hinter ver- Marco Bülow (fraktionslos): schlossenen Türen getroffen werden, nicht nachvollzieh- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ers- bar sind, und was ich nicht nachvollziehen kann, das setze tens. Die Parlamente sind in einer Demokratie die Ent- ich dann auch nicht um. Meine Damen und Herren, das ist scheidungsmitte. Nur, genau diese Entscheidungsmitte unsinnig, unnötig und verantwortungslos. verlieren Sie immer mehr. Wir erleben insgesamt, auch schon vor Corona, dass die meisten Gesetzentwürfe, vor (Beifall bei der LINKEN) allen Dingen diejenigen, die dann beschlossen werden, 23966 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Marco Bülow (A) von der Regierung geschrieben werden, häufig ausgehan- Auf der anderen Seite haben wir in diesem Land die (C) delt mit Lobbyisten, immer weniger mit dem Parlament dritthöchste Zahl an Milliardären überhaupt auf dieser und noch weniger mit der Bevölkerung. Welt. Es gibt genug Statistiken, die zeigen, dass diese Milliardäre in diesem Jahr auch noch weitere Profite Jetzt fangen wir in Krisenzeiten an, diese Entschei- gemacht haben, weitere Milliarden gescheffelt haben. dungsmitte noch weiter an den Rand zu drücken und Ent- Wann beteiligen wir endlich die Gesamtbevölkerung an scheidungen – wichtige Entscheidungen, einschneidende den Lasten und nicht nur einen Teil? Dahin müssten wir Entscheidungen – vor allen Dingen auf Ministerpräsiden- kommen, und dazu brauchen wir Parlamente und die ten und die Kanzlerin zu verlagern. Genau diesen Weg Bürgerinnen und Bürger. dürfen wir nicht gehen! Die Entscheidungsmitte muss gewahrt bleiben, gerade in Krisenzeiten, zumal wir ja Vielen Dank. Entscheidungen treffen können; wir sitzen ja heute hier (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) zusammen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Haben Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Sie den Gesetzentwurf gelesen?) Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU. Der zweite Punkt. Wenn wir die Spaltung eben nicht (Beifall bei der CDU/CSU) haben wollen, wenn wir nicht denen einen Dienst erwei- sen wollen, die gar nicht daran glauben, dass es ein Virus Thorsten Frei (CDU/CSU): gibt, und wenn wir dieses Virus richtig ernst nehmen, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dann sollten wir die Bevölkerung stärker miteinbeziehen. Kollegen! Wenn man sich die Anträge der Oppositions- Denn dieses Virus und seine Auswirkungen werden wir fraktionen in dieser Debatte mit Titeln wie „Rechtsstaat auch im nächsten Jahr noch erleben. Es wird noch einiges und Demokratie in der Corona-Pandemie“, „Demokra- auf uns zukommen. Alleine die Nachrichten aus Däne- tische Kontrolle auch in der Pandemie“ anschaut, wenn mark zum Beispiel über das mutierte Virus machen mich man sich manche Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sehr sorgenvoll. Wir brauchen eine Versammlung der anhört, dann könnte man glauben, dass wir unmittel- Bürgerinnen und Bürger, die einberufen wird und bei bar vor dem Kollaps des demokratischen Systems in der die Bürgerinnen und Bürger zusammenkommen und Deutschland stünden. mit darüber beraten, wie mit den Auswirkungen dieser Pandemie umgegangen werden soll. Genau dafür sollten (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Michael wir uns einsetzen. Grosse-Brömer [CDU/CSU]: „Nehmen wir uns (B) Amerika mal zum Vorbild“, sagt die AfD! – (D) (Zuruf von der CDU/CSU: Das Parlament!) Hansjörg Müller [AfD]: Genauso ist es!) Wir brauchen drittens – deswegen brauchen wir die Es ist nicht nur irreführend, es ist auch wirklich unred- Parlamente und eben auch die Menschen vor Ort und lich, so zu argumentieren. Wir haben es mehrfach bewie- insgesamt die Bürgerinnen und Bürger – endlich eine sen, indem wir allein in dieser Woche mehrere Debatten Diskussion darüber, wer denn die Lasten zu tragen hat, haben, in denen wir uns mit den unterschiedlichen Folgen weil die Lasten im Augenblick sehr ungleich verteilt sind. der Coronapandemie und der angemessenen demokrati- Es ist ja schön – darüber werden wir später noch reden –, schen Antwort darauf beschäftigen. dass die Gastronomen jetzt eine Unterstützung bekom- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sie sollten men. Aber, Herr Nüßlein, was ich nicht verstanden habe – einmal Ihren eigenen Parlamentspräsidenten vielleicht sind Sie genauso weit entfernt von den Men- ernst nehmen!) schen vor Ort –: Die gastronomischen Einrichtungen waren nicht leer, bevor der Lockdown kam. Ich weiß Also: Seit 71 Jahren stehen in unserer Verfassung nicht, wie das bei Ihnen ist; bei uns war das nicht so. Rechte, auch Rechte der Minderheiten, und diese Rechte können Sie wahrnehmen. (Zuruf des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU]) (Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Sie haben es nicht verstanden!) Die Gastronomen werden entlastet; das ist gut. Aber viele andere – Kreative, Wirtschaft, Selbstständige usw. – Ich fordere Sie auf, das zu tun. Sie tun es ja auch; das kämpfen um ihre Existenz. Für die ist dieser zweite Lock- zeigen die vielen Debatten, die wir nicht nur im Plenum, down existenzgefährdend. sondern auch in den unterschiedlichen Ausschüssen, in den öffentlichen Expertenanhörungen, in den Regie- Viele andere Menschen in diesem Land sind auch am rungsbefragungen und auch an vielen anderen Stellen Limit. Die Lasten sind sehr ungleich verteilt, vor allen haben. Dingen, weil andere in diesem Land daraus Profit schla- (Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Haben Sie gen. Deswegen müssen wir doch mal sehen, wer diese nicht zugehört?) Lasten zu tragen hat. Es kann nicht sein, dass wir am Ende, wie jetzt bei den Haushaltsberatungen, Haushalts- Die Debatte findet hier im Parlament statt. Hier gehört sie posten kürzen und die Menschen irgendwann den Gürtel hin; da haben Sie vollkommen recht. Deswegen ist es noch enger schnallen müssen. Das funktioniert eben irreführend, und es ist auch falsch, wenn Sie so tun, als nicht. wäre dies nicht so. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23967

Thorsten Frei (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Achim Kessler Wir haben jetzt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die (C) [DIE LINKE]: Fragen Sie doch mal den aus meiner Sicht völlig unverhältnismäßig sind: Restau- Dr. Schäuble!) rants werden geschlossen trotz Hygienekonzepten, Kul- tureinrichtungen werden geschlossen trotz Hygienekon- Ich will an dieser Stelle sagen, dass der Bundesgesund- zepten. Deshalb meine Frage: Werden Sie – wenn Sie heitsminister gerade eine, wie ich finde, sehr bemerkens- dieses Gesetz verabschieden, wahrscheinlich gegen unse- werte Rede gehalten hat, weil er auch deutlich gemacht re Stimmen – nach Inkrafttreten des Gesetzes diese gan- hat, dass es nicht so ist, dass wir glauben würden, wir zen unverhältnismäßigen Maßnahmen auch wieder auf- hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen – anders als heben? vielleicht in der einen oder anderen Fraktion. Wir können all das, womit wir hier jetzt konfrontiert ( [CDU/CSU]: Haha!) sind, nicht bis zum Ende denken. Es ist tatsächlich so, dass wir ein Stück weit auf einer Terra incognita unter- Thorsten Frei (CDU/CSU): wegs sind. Wenn man in einem unbekannten Land ist, Herr Kollege, ich teile Ihre Auffassung überhaupt dann ist es mit Sicherheit auch nicht klug, sich in ein nicht. Wir haben an ganz vielen Stellen gesehen, dass vorgefertigtes Betonbett zu legen und sich jede Flexibili- all die Maßnahmen, die die Landesregierungen ergriffen tät zu nehmen, um dann nicht mehr auf eine solche dyna- haben, auch verhältnismäßig waren. mische Krisenlage angemessen reagieren zu können. (Zuruf des Abg. Uwe Witt [AfD]) Deswegen ist es für uns ein Spagat, den wir versuchen müssen, den wir auch hinbekommen müssen: Wie schaf- Dort, wo sie von Gerichten aufgehoben wurden, ist es fen wir es, dass wir zum einen alle wesentlichen Punkte, ganz offenkundig so gewesen, dass eine Begründung insbesondere alle wesentlichen Grundrechtseingriffe, nicht hinreichend war oder es andere Mängel gab. Das selbstverständlich hier in diesem Parlament diskutieren muss man selbstverständlich verbessern und ändern; das und dafür den Rahmen schaffen, und zum anderen der ist überhaupt keine Frage. Aber es ist mitnichten so, dass Regierung und auch denen vor Ort, den unmittelbar zu- die Maßnahmen, die zwischen den Ministerpräsidenten ständigen Gesundheitsbehörden, die Flexibilität belassen, und der Bundeskanzlerin besprochen und von den Lan- um auf diese Krise und die damit verbundenen Heraus- desregierungen in den Rechtsverordnungen umgesetzt forderungen angemessen reagieren zu können? Diesen worden sind, in Gänze nicht den rechtlichen Vorgaben Spagat müssen wir hinbekommen. entsprechen würden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will Ihnen sagen, worum es uns beim § 28a geht: Uns geht es darum, dass wir die Generalklausel durch (B) Das tun wir, indem wir die Schutzmaßnahmen nach klare Regelbeispiele erweitern, dass wir einen Rahmen (D) Feststellung einer epidemischen Lage nationaler Trag- dafür setzen, wo entsprechende – auch schwerwiegende weite – § 5 Infektionsschutzgesetz – in den neu geschaf- -Grundrechtseingriffe möglich sind. Es geht darum, dass fenen § 28a Infektionsschutzgesetz ziehen. Der Deutsche wir uns als Parlament damit beschäftigen und dass wir Bundestag bestimmt also weiterhin die Voraussetzungen schauen, wie wir einen Rahmen setzen können, der es der dafür, ob diese Möglichkeiten bestehen, ob diese Rechte Regierung auch im Einzelfall erlaubt, angemessene ausgeübt werden können oder eben nicht. Und der Deut- Regelungen zu finden, wenn die entsprechenden Voraus- sche Bundestag hat natürlich auch jederzeit die Gelegen- setzungen erfüllt sind. Wir wissen alle nicht, welche heit, diese Regelung wieder zurückzunehmen. Maßnahmen in Zukunft noch notwendig sein werden. Deshalb müssen wir uns diese Flexibilität erhalten. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Frei, gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Dr. Manuela Rottmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte nicht!) Wir werden uns in der nächsten Woche intensiv mit diesem Gesetzentwurf auseinandersetzen, auch im Rah- men einer öffentlichen Expertenanhörung. Natürlich wer- Thorsten Frei (CDU/CSU): den wir dort über viele Dinge miteinander sprechen müs- Selbstverständlich. sen. Aber von einem rechtspolitischen Feigenblatt zu sprechen -wie Herr Lindner; ich hätte ihn gerne ange- Dr. Wieland Schinnenburg (FDP): sprochen –, ist grottenfalsch. Wer so tut, als ob unbe- Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulas- stimmte Rechtsbegriffe in unseren Gesetzen nichts ver- sen. – Ich habe mir den Gesetzentwurf angeschaut. In loren hätten, der kennt sich mit Gesetzgebung wirklich § 28a Absatz 1 steht ganz am Ende der bemerkenswerte nicht aus. Satz: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Die Anordnung der Schutzmaßnahmen muss ihrer- ordneten der SPD) seits verhältnismäßig sein. Natürlich brauchen wir unbestimmte Rechtsbegriffe, Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es lässt um flexibel auf Herausforderungen reagieren zu können. schon tief blicken, dass Sie meinen, dass man das extra Dass der Gesetzgeber Generalklauseln mit Regelbeispie- ins Gesetz hineinschreiben muss; aber nun gut, es ist ja len oder auch Standardmaßnahmen ausformuliert und schön so. auch ausbuchstabiert, ist doch ganz normal. Sie tun so, 23968 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Thorsten Frei (A) als wäre es das erste solche Gesetz, das wir hier im Deut- bietet. Das werden wir immer dann tun, wenn es notwen- (C) schen Bundestag verabschieden würden. Das ist mitnich- dig ist, wenn durch staatliche Entscheidungen in freie ten so. Entscheidungen des Einzelnen eingegriffen wird. Jetzt können wir darüber sprechen, wie wir im Hin- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: blick auf die einzelnen Formulierungen und unbestimm- Herr Kollege Frei, der Kollege Dr. Neumann möchte ten Rechtsbegriffe vielleicht noch etwas mehr Klarheit gern noch eine Zwischenfrage stellen. schaffen können. Dafür sind wir offen; deswegen machen wir eine Expertenanhörung. Ich habe Ihnen vorhin ge- (Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Ullmann!) sagt: Wir haben nicht das Gefühl, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen haben; vielmehr wollen wir ver- Thorsten Frei (CDU/CSU): suchen, gute Lösungen – auch für die Zukunft – zu fin- Bitte schön, das kann er gerne tun. den. Das kann im Übrigen durchaus bedeuten – das will ich an dieser Stelle gleich sagen –, dass wir noch nicht am (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Vielleicht Ende der Gesetzgebung angekommen sind. Vielleicht sagt er mal, wo der Fraktionsvorsitzende ist! müssen wir weiter nachschärfen, weil wir nicht wissen – Das würde uns interessieren!) und Sie im Übrigen auch nicht und alle anderen hier auch nicht –, wie sich diese Pandemie weiterentwickeln wird. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Es gibt keine Zeitzeugen, die eine solche Pandemie – Darf er, ja? vor hundert Jahren die Spanische Grippe oder in den 50er-Jahren die asiatische Grippe – schon einmal erlebt Thorsten Frei (CDU/CSU): haben. Wir brauchen diese Flexibilität. Bei den Gerichts- Ja, selbstverständlich. entscheidungen wird Verhältnismäßigkeit nicht nur danach definiert, wie tief der Grundrechtseingriff ist, son- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Er dern natürlich auch danach, wie lange er dauert. Auch vor möchte seine Redezeit verlängern!) diesem Hintergrund kann es durchaus sein, dass wir uns die einzelnen Maßnahmen hier im Parlament weitere Dr. Andrew Ullmann (FDP): Male werden anschauen und gegebenenfalls nachsteuern Sicherlich nicht. – Ullmann ist mein Name; Sie haben und nachschärfen müssen. Das kann niemand von uns „Neumann“ gesagt. ausschließen.

(B) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (D) Oh, ich bitte um Nachsicht. Trotzdem hat der Kollege Danke für die Antwort, Herr Kollege Frei. – Jetzt läuft Frei zugestimmt, dass Sie eine Zwischenfrage stellen Ihre Redezeit, die im Übrigen zu Ende ist. dürfen. Ich bitte um Entschuldigung, ich habe so viel Mitleid mit Ihnen gehabt, weil Sie eine Redezeit von Thorsten Frei (CDU/CSU): nur einer Minute hatten. Jeder, der das suggeriert, Herr Kollege Ullmann, streut den Menschen Sand in die Augen. Das wollen wir nicht; Dr. Andrew Ullmann (FDP): denn wir setzen auf Transparenz, Offenheit, auf Vertrau- Herzlichen Dank. – Herr Frei, Sie sind Jurist, ich bin en in die Maßnahmen des Staates, weil wir in dem festen Mediziner. Vielleicht können Sie mir zwei Punkte erklä- Glauben sind, dass das die Grundvoraussetzung dafür ist, ren. Sie haben gesagt, Sie hätten es nicht zu Ende ge- dass wir gemeinsam diese pandemische Krise bewältigen dacht, wir seien hier in einer Terra incognita. Was ich können. Deshalb gehen wir diesen Weg und scheuen nicht ganz verstehe, ist das Wort „verhältnismäßig“. Für keine Debatte hier im Parlament. mich ist die Logik etwas ganz Wichtiges. Auch der Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU) ge Schinnenburg hat es gerade gesagt: Es werden Restau- rants geschlossen, obwohl sie ein Hygienekonzept haben, Wir diskutieren alles hier in diesem Parlament: die obwohl dort keine Superspreader-Events stattfinden. Das gesundheitlichen Folgen, die sozialen Folgen, die wirt- ist ein Punkt, bei dem ich nicht verstehen kann, dass das schaftlichen Folgen. verhältnismäßig sein soll. Viele KMUs sind von § 28a des Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Gesetzentwurfs betroffen, sie werden geschlossen. Aber (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- in dem Gesetzentwurf steht nichts von Entschädigung. ordneten der SPD) Das irritiert mich auch ein bisschen, dass wir einfach Betriebe schließen können. Welche Folgen sehen Sie für diese KMUs durch diesen Paragrafen? Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Damit schließe ich die Aussprache. Thorsten Frei (CDU/CSU): Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Herr Dr. Ullmann, zunächst einmal möchte ich darauf den Drucksachen 19/23944, 19/23950, 19/23942 und hinweisen, dass wir überall dort, wo wir durch staatli- 19/23980 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- che Maßnahmen wirtschaftliche Einschränkungen be- schüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Überweisungs- wirkt haben, ein entsprechendes Hilfsprogramm aufge- vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir legt haben und auflegen, das passgenaue Lösungen wie vorgeschlagen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23969

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Michael (C) Grosse-Brömer [CDU/CSU] und Dr. Rainer Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kraft [AfD]) Theurer, Reinhard Houben, Dr. Marcel Klinge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP für multilaterale Freihandelsabkommen, aber auch für bilaterale Freihandelsabkommen. Deshalb, sehr geehrter Job-Kahlschlag in der Automobilindustrie Herr Minister Altmaier, meine Damen und Herren, müs- verhindern, Industriestandort Deutschland sen wir jetzt die Freihandelsabkommen CETA und Mer- zukunftsfit machen cosur ratifizieren. Drucksache 19/23935 (Beifall bei der FDP) Überweisungsvorschlag: Wir brauchen eine Freihandelsoffensive, meine Damen Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) und Herren. Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Aber wir müssen vor allen Dingen die fehlgeleitete Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten CO -Regulierung verändern. Meine Damen und Herren, beschlossen. – Bitte nehmen Sie Platz, dann können wir 2 ich sage es so hart: Die CDU-geführte Bundesregierung mit der Aussprache beginnen. zerstört die deutsche Automobilindustrie Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (Beifall bei der FDP und der AfD) Kollegen Michael Theurer, FDP. durch Kaufprämien und die einseitige Fokussierung auf (Beifall bei der FDP) batteriebetriebene Elektromobilität. Das ist ein Arbeits- platzvernichtungsprogramm zulasten der deutschen Wirt- schaft, des Wohlstandes und der Steuerzahler. Michael Theurer (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Dr. [CDU/CSU]: In aller Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Freundschaft, mein Lieber!) deutsche Automobilindustrie steht für 4 Prozent unseres Und die CDU geführte EU-Kommission mit Frau von Bruttoinlandsproduktes, sie steht – wenn man alle Wert- der Leyen an der Spitze besorgt den Rest. schöpfungsbereiche zusammennimmt – für über 1 Million (Beifall bei der FDP und der AfD) Arbeitsplätze. An ihr hängen Existenzen, Menschen mit gut bezahlten Jobs. Wir sind in Sorge um diese Jobs. Wir Durch die Ausgestaltung der Flottengrenzwerte sorgt sie erfahren ja auch bei den Beratungen im Wirtschaftsaus- dafür, dass die Batterieautos keine Konkurrenz bekom- (B) schuss, dass die IG Metall befürchtet – auch durch den men. Klimaneutral hergestellte Kraftstoffe – synthetische (D) erzwungenen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor –, Kraftstoffe – werden immer noch nicht angerechnet bei dass 450 000 Arbeitsplätze, die am Verbrennungsmotor den Flottengrenzwerten; das ist ein Skandal. hängen, gefährdet sind. (Beifall bei der FDP und der AfD) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn allein Es ist klimapolitisch falsch, meine Damen und Herren; es durch die Elektromobilität – laut Aussagen des Fraunho- muss korrigiert werden. Es ist ein Skandal, dass in fer-Instituts – netto mindestens 100 000 Arbeitsplätze Deutschland die von der Firma Bosch entwickelten wegfallen, dann kann die Politik dies nicht einfach akzep- Kraftstoffe wie Care-Diesel nicht zugelassen werden. tieren, dann müssen wir an dieser Stelle diskutieren, wie wir die Automobilindustrie und vor allen Dingen die ( [AfD]: Das ist eigentlich eine AfD-Rede!) Beschäftigten am Standort Deutschland sichern können. Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland, (Beifall bei der FDP) anders als es die Grünen hier in diesem Haus immer Mit „Industrie“ meinen wir nicht nur die Autokonzerne, wieder darstellen, nicht die Macht, durch internationale sondern vor allen Dingen die mittelständischen Zuliefe- Abkommen Klimaschutz zu erzwingen. Wenn wir Klima- rerbetriebe, die Tier-1-, Tier-2- und Tier-3-Zulieferer, schutz wollen, dann müssen klimaschützende Technolo- und natürlich auch den Maschinenbau, der zu 40 Prozent gien skaliert werden. Wir haben die Technologieführer- am Automobil hängt. schaft auch beim Verbrennungsmotor. Erhalten wir diese, und machen den Verbrennungsmotor klimaneutral durch Drei Krisen prägen zurzeit die Automobilindustrie. synthetische Kraftstoffe, durch E-Fuels! Schaffen wir ei- Klar, da ist Corona und die Schließung von Autohäusern nen regulatorischen Rahmen dafür, dass diese auch zuge- und Werkstätten. Da ist die Unsicherheit, Stichwort lassen werden! „Kurzarbeit“, die viele Menschen dazu bringt, eben (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kein neues Auto kaufen zu wollen. der AfD) Aber es gibt weitere Krisen: die Handelskriege zwi- Da liegt die Macht Deutschlands: schen den USA und China und zwischen den USA und Europa. Wer die deutsche Automobilindustrie analysiert, (Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stellt fest: Wir haben die Arbeitsplätze erhalten, weil wir NEN]: Wer investiert denn dort bitte!) Premiumfahrzeuge in Deutschland herstellen und expor- Als Technologienation können wir der Welt bei 1 Mil- tieren. Wer Arbeitsplätze in der Automobilindustrie er- liarde Verbrennungsmotoren global die Technik in die halten will, der muss sich für Freihandel einsetzen, Hand geben, die diese Verbrennungsmotoren klimaneut- 23970 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Michael Theurer (A) ral macht. Dann verbinden wir Klimaschutz mit dem Wir haben das im Ausschuss ja in dieser Woche mit der (C) Erhalt von Arbeitsplätzen und Wohlstand. Dafür lohnt Präsidentin des VDA, mit Hildegard Müller, sehr intensiv es sich zu kämpfen, meine Damen und Herren. besprechen können. Es gibt viele technologische Neue- rungen, die auf den Weg in die Produktion gebracht wor- (Beifall bei der FDP – [BÜND- den sind; aber sie erreichen die Märkte noch nicht in dem NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war alles? – Umfang, wie wir uns das wünschen. Das gilt etwa für das Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Thema Hybrid; das hat sie ja eindrucksvoll dargelegt. sehen wir auch so!) Ich möchte auch nicht die Behauptung gelten lassen, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: dass die Bundesregierung und der Wirtschaftsminister – ich zitiere – unfähig wären, die Bedeutung und die Nur zum Verständnis: Wenn die Redezeit abgelaufen Chancen individueller Mobilität zu erkennen. – Ich will ist, lasse ich keine Zwischenfragen mehr zu. – Nächster mal ein Beispiel geben, liebe Kolleginnen und Kollegen Redner ist der Kollege Dr. Matthias Heider, CDU/CSU. der FDP: Werfen Sie mal einen Blick auf das „Aufbruchs- (Beifall bei der CDU/CSU) paket“ der Koalition! Sehen Sie sich die Ergebnisse des Transformationsdialogs Automobilindustrie an, den die Bundesregierung initiiert hat! Sehen Sie sich die Analy- Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): sen der Nationalen Plattformen für die Zukunft der Mobi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- lität an! Das Konjunkturpaket sorgt bereits dafür, dass ne Damen und Herren! In der Tat: Der FDP-Antrag trifft Milliarden Euro an Fördergeldern in die Erforschung einen richtigen Punkt. und Erprobung zentraler Zukunftstechnologien wie KI, (Dr. Dirk Spaniel [AfD]: Nein!) Quantentechnologie und – ganz wichtig – Wasserstoff fließen. Aber, lieber Kollege Theurer, so ist das immer: Wenn man versucht, den Nagel auf den Kopf zu treffen, dann (Lachen des Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD]) gehen halt immer ein paar Schläge daneben. Und darüber Durch die steuerliche Forschungsförderung, befristet müssen wir uns jetzt einfach mal unterhalten, sonst kom- bis Ende 2025 zurzeit, wird Forschung weiter ausgebaut. men wir nicht zum Ziel. Die Kfz-Steuer wird stärker am CO2-Verbrauch ausge- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist richtet, sodass emissionsärmere Fahrzeuge, gleich wel- das!) cher Antriebsart, eine Chance haben. Die Feststellung muss an der Stelle einmal getroffen werden. In der Tat, die Zahl der Kurzarbeiter in der Automobil- (B) branche und auch in der Zulieferbranche in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU) (D) ist erheblich; diese Branchen sind besonders betroffen. Sie führen in Ihrem Antrag das Beispiel Süddeutschland Und last, but not least: Dass bis 2024 jetzt noch einmal an. Ich will mal mit meiner Heimat Südwestfalen 2 Milliarden Euro in ein umfassendes Programm zur För- weiterhelfen: Sie ist ein Indikator für die Entwicklung derung von Zukunftsinvestitionen in die Zulieferindustrie der Zulieferindustrie. Im März dieses Jahres waren fließen, meine Damen und Herren, ist ein Erfolg des 50 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Branche in Transformationsdialogs Automobilindustrie, Kurzarbeit; das ist ungefähr der gleiche Stand gewesen, (Dr. Dirk Spaniel [AfD]: Subventionen sind den wir zur Finanzkrise 2009 hatten. Wir sind damals doch kein Erfolg!) schon trauriger westdeutscher Meister in Sachen Kurzar- beit gewesen, und in diesem Jahr, meine Damen und der nicht von heute auf morgen gestaltet werden kann, Herren, sieht es nicht viel besser aus. sondern den wir über einen längeren Zeitraum führen müssen – auch wenn Ihnen das gar nicht gefällt. Eine Entspannung in dem Gewerbe wird sich auch in kurzer Zeit nicht einstellen können. Es ist nicht so wie im (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rainer Kraft Dienstleistungssektor, der noch gewisse Vorteile in dieser [AfD]: Weil es Unsinn ist!) Krise hat. Es bleibt dabei, dass Lieferketten immer noch Meine Damen und Herren, das Förderprogramm, das zum Teil unterbrochen sind. Die Nachfrage nach den dort ausgelobt wird, trifft den Nagel auf den Kopf. Es Produkten der Automobilindustrie ist noch nicht so geht darum, die Produktion mit modernen Anlagen und gewachsen, dass man von einer Entspannung sprechen modernen Prozessen zu modernisieren und neue Produk- könnte, auch wenn die Zulassungszahlen nach dem Sep- te zu entwickeln, auch mit experimenteller Entwicklung, tember langsam wieder anziehen. Das zeigt: Wir müssen beispielsweise mit der Verknüpfung und Nutzung der der Branche eine besondere Aufmerksamkeit widmen, Gaia-X-Daten oder mit den Daten des Ökosystems. und damit geht Ihr Antrag sicherlich in die richtige Rich- Außerdem gilt es, beispielsweise regional übergreifende tung. Innovationscluster zu verbessern oder neu aufzustellen, Aber lassen Sie uns auf den einen oder anderen Aspekt damit die Synergieeffekte, die wir im Verkehrssektor etwas genauer schauen! Sie haben den Transformations- brauchen, auch gehoben werden können. Das ist ent- prozess angesprochen. Die Branche leidet nicht nur unter scheidend. der Coronakrise, sie leidet natürlich auch darunter, dass in Lassen Sie mich das zum Schluss noch mal sagen: den letzten zehn Jahren gewisse Versäumnisse eingetre- ten sind, dass es einen Dieselskandal gegeben hat, der die (Zuruf von der AfD: Er kommt das zweite Mal Branche tief in Mitleidenschaft gezogen hat. zum Schluss!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23971

Dr. Matthias Heider (A) Ich bin zuversichtlich, dass wir die Zulieferindustrie wie- Dabei gibt es keine überzeugenden Argumente für E- (C) der auf Kurs bekommen, dass wir es mit den Maßnahmen Autos. Es mag ja ein nettes Spielzeug sein für gutsituierte schaffen, die Zulieferindustrie wieder in ein besseres Großstädter in den Metropolen. Für die Millionen Pend- Fahrwasser zu bringen, und dass wir es schaffen, die ler, die tagtäglich über das Land fahren, um zu ihrem Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Meine Damen Arbeitsplatz zu kommen, ist das aber nichts weiter als und Herren, das kann eine Regierung tun: Sie kann Hin- ein teurer Klamauk. dernisse beseitigen, sie kann Leuchttürme aufstellen. (Beifall bei der AfD) Aber sie kann eines nicht tun, nämlich die Segel setzen – das müssen die Unternehmen der Branche selber tun. Da können Sie noch so hohe Prämien draufpacken, Geld von uns Steuerzahlern – es nützt nichts; Nachfrage nach (Oliver Luksic [FDP]: Bei Gegenwind ist das einem sinnlosen Produkt kann man nicht künstlich schwierig!) erzwingen. Und da zähle ich darauf, dass die Automobilhersteller in 1 Million E-Autos hat die staatliche Plankommission Deutschland sich den Automobilzulieferern nicht nur in bis 2020 vorgegeben. Es sind jetzt gerade 250 000 echte der Entwicklung zuwenden, sondern dass sie ihnen auch E-Autos. Das heißt, Sie müssen sich jetzt wirklich sputen, die Margen lassen, um die entsprechenden Entwicklun- Sie haben noch 55 Tage Zeit, das Ziel zu erreichen. gen zu tätigen. Das ist entscheidend. Aber – das zeigen die Umfragen – bei Dreiviertel der (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Sind das Sozialunter- Deutschen beißen Sie da auf Granit. Das hat auch gute nehmen, oder was?) Gründe: Die Fahrzeuge sind schon in der Anschaffung Dabei geht es um Arbeitsplätze, und diese Arbeitsplätze viel zu teuer. Den halben Autopreis macht allein die Bat- wollen wir nicht nur in der Entwicklung in Deutschland terie aus, und die ist nach fünf, sechs Jahren fertig. Das schützen, sondern auch in der Produktion. Deshalb ist Laden ist mindestens genauso teuer wie das Auftanken jede vernünftige marktwirtschaftliche Unterstützung da- eines Benziners, wenn nicht sogar teurer. Die Ladesäulen für anzustrengen, dass wir Produktion auch in Deutsch- fehlen; aber selbst wenn sie da wären: Das Laden dauert land behalten. viel zu lange. Da können Sie in der Zeit drei Kaffee trinken. Sie fördern damit vielleicht die Kaffeeindustrie; Tesla findet offenbar in Deutschland einen interessan- aber das hilft leider nicht, wenn man es eilig hat. Bei den ten Markt vor und investiert in eine Produktion hier. Das meisten Säulen stehen Sie über 30 Minuten – bei den können wir auch. Wir müssen es uns nur trauen, und wir Säulen, die wir jetzt haben –, 30 bis 40 Minuten. müssen die richtigen, innovationsfördernden Maßnah- men auslegen. Dazu gehört auch, dass wir einmal grund- (Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) legend über unser Steuersystem nachdenken; das ist eine NEN]: 30 Minuten!) (D) andere Debatte, bei der ich gerne noch einmal auf Sie Auch die Reichweite ist nach wie vor ein Witz. Was also, zukomme. bitte schön, soll das? Wenn man sich nur am Leben von Herzlichen Dank. Zahnarztgattinnen in den Metropolen orientiert, okay. Aber wenn man sich am hart arbeitenden Handwerker (Beifall bei der CDU/CSU) orientiert, der jeden Tag flexibel mit seinem Auto unter- wegs sein muss, dann weiß man genau: E-Autos sind Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: keine Alternative zum Verbrenner. Hören Sie endlich Nächster Redner ist der Kollege Leif-Erik Holm, AfD. auf mit Ihrer Geisterfahrt! (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Aber jetzt kommen Ihre Hammerargumente: Klima- Leif-Erik Holm (AfD): krise, bald sind wir alle tot, wenn wir nicht massiv Sehr geehrte Bürger! Herr Präsident! Liebe Kollegen! CO2-Emissionen einsparen. – Wie sieht denn die Ökobi- Wir reden hier heute über den massiven Jobkahlschlag in lanz eines Stromers über den gesamten Lebenszyklus der Automobilindustrie, und der hat längst begonnen: aus? Hans-Werner Sinn, Ökonom, hat berechnet, dass Angekündigt ist jetzt schon die Streichung von über ein moderner Diesel weniger CO2 rausbläst als ein Stro- 100 000 Arbeitsplätzen. Besonders bei den Zulieferern mer. Neue Studien des VDI sagen Ähnliches. Wörtlich: droht im nächsten Jahr eine verheerende Pleitewelle. Die Produktion der Batterie „verhagelt die CO2-Bilanz … Autos mit modernen Verbrennungsmotoren tragen diese Grund dafür ist nicht in erster Linie Corona und, lieber Last nicht, ihre Ökobilanz ist daher deutlich besser“. Matthias Heider, Grund dafür sind auch nicht gewisse Versäumnisse dieser Regierung, sondern Grund dafür (Beifall bei der AfD – Dieter Janecek ist der E-Auto-Wahn der EU und dieser Merkel-Regie- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!) rung. Mit anderen Worten: Ihre mit unserem Steuergeld sub- (Beifall bei der AfD) ventionierten E-Autos heizen den CO2-Ausstoß sogar noch an. Merken Sie es? Sie führen Ihre eigene Politik Mit Ihrer fetischartigen Fokussierung auf die Stromer ad absurdum. – Wenn das Greta hört! zerstören Sie das Rückgrat unserer Industrie und damit den Wohlstand von Hunderttausenden Familien. Laut (Beifall bei der AfD) Prognosen können fast 500 000 Arbeitsplätze verloren Herr Altmaier, Ihre Bundesregierung geht einen brand- gehen, wenn Sie diesen Irrweg weitergehen. gefährlichen Weg, der uns massiv schaden wird. 23972 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Leif-Erik Holm (A) (Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einem Zukunftspakt Automobil zum Beispiel, der sich (C) NEN]: Technologiefeindlich!) der schwierigen Übergänge bewusst ist, sich aber klar Das zeigen zwei Zahlen: Ein Verbrennungsmotor hat zu alternativen Antrieben bekennt und angesichts des 1 200 Teile, ein Elektromotor hat etwa 200. Glauben Sie Nachfrageschubs vor allem für Elektroautos dementspre- ernsthaft, dass wir in der Massenproduktion auch nur im chend unterstützt. Entferntesten konkurrieren können mit Asien? Es wird Der Verbrenner wird in den kommenden Jahren noch nicht gehen. Wir werden unsere gut bezahlten Arbeits- eine wichtige Rolle spielen. Aber für die Zukunft wird es plätze verlieren, wenn es so weitergeht. Das sagt auch elektrische Antriebe und andere Technologien brauchen, Ernst & Young, die sehen schon jetzt keine Alternative um Klimaneutralität zu erreichen. Deshalb werden wir in zu Werksschließungen und Arbeitsplatzabbau. Das große der Antriebstechnologie genau auf diesen Pfad setzen. Erwachen werde wohl im nächsten Jahr kommen, heißt es, dann werde es eine brutale Auslese geben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das müssen wir verhindern, aber nicht mit noch mehr Um die Wertschöpfungsketten gerade beim neuen Subventionen und Prämien, Herr Minister, sondern mit Antrieb Elektromobilität zu erhalten, geht es vor allen Technologieoffenheit, echter Technologieoffenheit. Was Dingen im Zukunftsbereich der Batteriezellenproduk- ist mit synthetischen Kraftstoffen tion, aber auch, was Brennstoffzellen und autonomes Fahren angeht, darum, diese Zukunftsoptionen zu för- (Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dern. Deutschland und Europa müssen Strategien entwi- NEN]: Was ist mit denen? Wo sind die denn?) ckeln, die hierauf künftig besser reagieren. und mit guten Rahmenbedingungen für unsere Unterneh- In Europa nehmen wir den Klimaschutz ernst, wir ver- men? Also hören Sie endlich auf mit der Strangulation langen von unseren Unternehmen, von unseren heim- der Automobilindustrie, kommen Sie endlich zurück aus ischen Unternehmen sehr, sehr viele Anstrengungen, Ihrem Taka-Tuka-Land der E-Mobilität! auch Investitionsbereitschaft. Deshalb geht es auch da- Herzlichen Dank. rum, fairen Wettbewerb in dieser Industrie zu organisie- (Beifall bei der AfD) ren und bei unfairen Wettbewerbsbedingungen, zum Bei- spiel, wenn Produkte mit einem großen CO2-Footprint die Grenzen Europas passieren, auch klar zu sagen: Die- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ses hat einen Preis, und der muss an der Grenze dement- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd sprechend erhoben werden, Westphal, SPD. (Beifall des Abg. Falko Mohrs [SPD]) (B) (Beifall bei der SPD) (D) weil wir hier auf dem Weg einer CO2-freien – – Bernd Westphal (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Damen und Herren! Der Antrag der FDP zur Automobil- Herr Kollege Westphal, der Kollege Dirk Spaniel, industrie ist Grundlage dieser Debatte. Er beschreibt sehr AfD, würde gerne eine Zwischenfrage stellen. gut Probleme und Herausforderungen, aber auch das, was an Transformation der Zulieferindustrie und vor allen Bernd Westphal (SPD): Dingen der Automobilindustrie notwendig ist. Auch Nein, danke schön. – Wir brauchen also einen Mecha- das, was Zugang zu Handel und Freihandel angeht, ist nismus, der deutsche Produkte vor dieser Billigkonkur- richtig beschrieben. Aber das reicht natürlich nicht aus, renz aus dem Ausland schützt. Problembeschreibung alleine hilft der Automobilindust- rie nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was die Deshalb steht die SPD klar hinter dieser Industrie, hinter FDP vorschlägt – man sieht es in dem Antrag –, ist so ein der Zulieferindustrie und ihren Beschäftigten. Es ist eine bisschen aus der neoliberalen Mottenkiste – es sind Schlüsselindustrie, die, um die Wertschöpfungsketten Steuersenkungen und andere Dinge –; das wird der hier zu erhalten und weiterzuentwickeln, einen starken Industrie im Moment nicht helfen. Wir brauchen flankie- Staat braucht. Wir brauchen jetzt Konzepte, die genau rende Ideen zur Wasserstofftechnologie oder Batteriezel- dieser Branche im Strukturwandel helfen. Deshalb haben lenforschung. wir mit Rahmenbedingungen, die Innovation und Inves- Wir brauchen für die Mobilität der Zukunft auch flä- tition fördern, genau den richtigen Ansatz, um diese chendeckend Ladesäulen. Derzeit debattieren wir über Industrie im Wandel zu unterstützen. ein entsprechendes Gesetz. Wir hatten am Mittwoch im (Beifall bei der SPD – Michael Theurer [FDP]: Wirtschaftsausschuss die Präsidentin des VDA zu Gast. Weiß das das Umweltministerium schon?) Sie hat darauf hingewiesen, dass der Ausbau von 200 Ladesäulen pro Woche nicht reicht; wir brauchen Ein Wandel allein vom Markt gesteuert droht diese 2 000 Ladesäulen, um ausreichend Ladepunkte in unse- Schlüsselindustrie nachhaltig zu schädigen. Es wäre für rem Land zu garantieren. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ein Risiko, wenn wir das einfach laufen ließen. Deshalb (Dr. Dirk Spaniel [AfD]: Wo kriegen wir den wollen wir dieses ganz klar flankieren und handeln, mit Strom eigentlich her? Windmühlen?) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23973

Bernd Westphal (A) Deshalb wäre es gut, wenn wir uns in den Gesprächen der Die FDP muss sich Gedanken darüber machen, was sie (C) Koalitionspartner auf ambitionierte Ziele für den Fort- eigentlich will. Denn sie hat einerseits Angst um die Jobs schritt einigen könnten. in der Automobilindustrie – das geht aus dem Antrag hervor –, lehnt andererseits aber Konjunkturpakete ab (Zurufe von der AfD) und kritisiert, dass die Dauer des Bezugs von Kurzarbei- Die Ansätze in Punkt 35 c des Konjunkturpakets sind tergeld verlängert worden ist. Wenn es nach der FDP gut. Der Wirtschaftsminister ist hier und verfolgt die ginge, wären Zehntausende Arbeitsplätze in der Auto- Debatte. Ich würde mir wünschen, dass wir bei den regio- mobilindustrie schon futsch. Man muss an dieser Stelle nalen Clustern schnell klären: Wer kann beantragen, wel- deutlich zum Ausdruck bringen: Die FDP ist der schlech- che Akteure müssen zusammenarbeiten, und wie kriegen teste Ratgeber, wenn es um die Jobs in der Automobil- wir Handlungskompetenz vor Ort gebündelt – Stichwort: industrie geht. Beteiligungsfonds –, um den Strukturwandel vor Ort für (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- die Zulieferindustrie zu organisieren? neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Wir haben mit dem Transformationskurzarbeitergeld GRÜNEN) den Belangen jener Beschäftigten Rechnung getragen, Dass sich die FDP nun auch zu den klimapolitischen die Weiterbildungsbedarf haben. Hier kann man das Geisterfahrern in diesem Haus gesellt, hat der heutige Tag Instrument sehr gut nutzen. gezeigt. Ich frage mich, Herr Theurer: Hören Sie eigent- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD ist seit lich im Wirtschaftsausschuss nicht zu, kriegen Sie die 150 Jahren die Zukunftspartei, die Transformation und Informationen nicht mit? Nicht nur die IG Metall, son- Strukturwandel kann. Dafür schenken uns die Menschen dern auch der VDA haben klipp und klar gesagt: Wir in diesem Land Vertrauen. bekennen uns zum Pariser Klimaschutzabkommen. – Wir dürfen Beschäftigung und Klimaschutz nicht gegen- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bis jetzt war einander ausspielen. Alle politischen Ratgeber und alle es einigermaßen gut!) politischen Entscheider wären gut beraten, die Chancen Deswegen werden wir den Antrag der FDP – das ist nicht eines sozialökologischen Umbaus in der Automobilin- überraschend – ablehnen. dustrie zu erkennen. So könnten auch Jobs entstehen, von denen wir heute vielleicht noch gar nicht wissen, Vielen Dank. dass es sie gibt. (Beifall bei der SPD – Michael Theurer [FDP]: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Was? Ist doch erst erste Lesung! Jetzt schon NIS 90/DIE GRÜNEN) (B) ablehnen? – Gegenruf des Abg. Falko Mohrs (D) [SPD]: Es wird ja nicht besser im Verfahren! Das ist ja das Problem, Herr Theurer!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Ulrich, der Kollege Theurer würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Alexander Ulrich, Die Linke, ist der nächste Redner. Alexander Ulrich (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Darf er gern. (Falko Mohrs [SPD]: Er informiert sich jetzt Alexander Ulrich (DIE LINKE): über den Ausschuss!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute Morgen über die Automobilindust- rie reden. 800 000 Arbeitsplätze direkt und 2 Millionen Michael Theurer (FDP): Arbeitsplätze indirekt – das macht deutlich: Sie ist ein Herr Kollege Ulrich, die Präsidentin des VDA hat in wesentlicher Faktor für gute Arbeitsplätze, Tarifbindung der Sitzung am Mittwoch darauf hingewiesen, dass bei und Wohlstand in diesem Land. Die Situation der Auto- 75 Prozent der Fahrzeuge Verbrennungsmotoren bleiben, mobilindustrie muss uns Sorgen machen. Deshalb ist die trotz der Elektrifizierungsstrategie, die die Bundesregie- Debatte heute mehr als notwendig. rung verfolgt. Darüber hinaus sind 1 Milliarde Fahrzeuge derzeit Verbrenner. Vor diesem Hintergrund hat die Präsi- Nicht notwendig ist, dass man sich mit dem Inhalt des dentin des Verbands der Deutschen Automobilindustrie FDP-Antrags befasst. darauf hingewiesen: Um diese Fahrzeuge klimaneutral zu (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Falko machen, sind synthetische Kraftstoffe aus Wasserstoff Mohrs [SPD]) notwendig. Deshalb frage ich Sie: Hören Sie im Wirt- schaftsausschuss nicht zu? Denn es sind mal wieder Forderungen enthalten, die der Industrie nicht helfen. Es ist ein Ich-wünsch-mir-was der üblichen Forderungen: Begrenzung der Lohnnebenkos- Alexander Ulrich (DIE LINKE): ten, Steuersenkung für Unternehmen usw. Das hilft kei- Herr Theurer, Ihre Nachfrage ist spaßig; denn Sie nem einzigen Arbeitsplatz und wird auch die Zukunft der machen den gleichen Fehler wie schon seit Jahren. Die Automobilindustrie in Deutschland nicht sichern. Debatte über Alternativen zur Elektromobilität wird von Ihnen und anderen leider genutzt, um die Notwendigkeit (Beifall bei der LINKEN) des Ausbaus der Elektromobilität auszubremsen. 23974 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Alexander Ulrich (A) (Michael Theurer [FDP]: Nein, das habe ich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C) nicht gesagt! Das stimmt nicht! – Oliver Luksic neten der SPD) [FDP]: Selektive Wahrnehmung!) Ich komme zu einer zweiten Forderung, die die Die VDA-Präsidentin hat auch gesagt: Wir brauchen IG Metall aufgestellt hat und derzeit Gegenstand der Alternativen wie Wasserstoff, zum Beispiel für Lkws öffentlichen Debatte ist; darüber ist heute noch nicht ge- und auch im Schiffsverkehr. Aber es nutzt nichts, wieder redet worden. Möglicherweise werden wir nicht alle die Bremse bei batterieangetriebenen Fahrzeugen anzu- Arbeitsplätze erhalten können; denn wenn es nicht mehr ziehen. so viele Autos mit Verbrennungsmotor gibt, dann braucht (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- man auch keine Auspuffhersteller mehr, dann braucht neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE man auch nicht mehr den Ölfilterhersteller oder andere GRÜNEN) Hersteller in diesem Bereich. Aber es nutzt auch nichts, für den Heizer auf der E-Lok zu kämpfen. Vielmehr wird Es ist dringend notwendig, dass der Ausbau beschleu- es neue Arbeitsplätze geben. nigt wird. Und ich sage in Richtung Bundesregierung: Das geht nicht, wenn die Infrastruktur nicht endlich (Beifall des Abg. Pascal Meiser [DIE LINKE]) schneller aufgebaut wird. Wir brauchen eine Infrastruktur Deshalb brauchen wir eine Qualifizierungsoffensive für mit Ladesäulen, und natürlich müssen wir auch den Aus- die Beschäftigten, bei der auch die Bundesagentur für bau der erneuerbaren Energien beschleunigen; denn die Arbeit mithelfen muss. Energie, die wir für Elektromobilität brauchen, muss erneuerbar sein. Wir müssen auch drüber nachdenken, ob Arbeitszeit vielleicht umverteilt werden kann. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Herr Theurer, vielleicht kommen Sie mal wieder im Wenn schon vor Jahrzehnten VW gezeigt hat, dass man Ausschuss vorbei. Da kriegt man vielleicht mehr mit, bei weniger Auftragsvolumen Arbeitsplätze mit der als wenn man nur an der einen oder anderen Stelle etwas Viertagewoche retten kann, dann kann das auch eine hört; vielleicht sind Ihre Stichwortgeber auch nicht so gut Maßnahme sein, um in Zukunft die Facharbeiter in die- beim Zuhören. sem Industriezweig zu halten. (Michael Theurer [FDP]: Ich war zugeschaltet, (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: 28,8 Stunden!) Herr Kollege! Ich war dabei! Unverschämt- heit! – Weitere Zurufe von der FDP) Deshalb ist die Forderung der IG Metall mehr als berech- (B) tigt, und wir sollten darüber nachdenken, Jobs über (D) Ich sage noch mal: Wir haben ein großes Problem in Arbeitszeitverkürzungen zu sichern. der Zulieferindustrie, Herr Altmaier. Die Hersteller ver- fügen teilweise noch über sehr viel Geld – das sehen wir (Beifall bei der LINKEN) an den Bonizahlungen, das sehen wir auch an den Divi- dendenauszahlungen; große Hersteller haben schon ange- Wir unterstützen die IG Metall, wenn sie das tarifpoli- kündigt, dass man trotz Corona und Kurzarbeit in diesem tisch auf die Schiene bringt. Aber es könnte auch poli- Jahr die gleichen Gewinnerwartungen hat wie im letzten tisch flankiert werden durch die eine oder andere Maß- Jahr –, große Probleme hingegen hat die Zulieferindust- nahme; denn auch Kurzarbeit ist nichts anderes als eine rie, weil dort die Margen niedriger sind, weil sie nicht die Arbeitszeitverkürzung. Ohne Kurzarbeit hätten wir in finanzielle Eigensubstanz hat, um zum einen Corona zu ganz Deutschland, über den Industriezweig hinaus, schon überwinden und um zum anderen in die Zukunft zu inves- viele Arbeitslose mehr. tieren. Die IG Metall hat mit dem Transformationsfonds einen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: richtig guten Vorschlag gemacht, Herr Altmaier, um die Herr Kollege Ulrich, der Kollege Spaniel würde gerne finanziellen Möglichkeiten der Zulieferindustrie zu stär- eine Zwischenfrage stellen. ken. Nur läuft die Zeit manchem Zulieferer langsam davon. Ich erwarte von Ihnen und auch von der gesamten Alexander Ulrich (DIE LINKE): Bundesregierung, dass man sich den Vorschlag der Da er nachher noch redet, muss er mir jetzt keine Frage IG Metall zu eigen macht stellen. Er kann ja nachher auf mich eingehen, dann hat er (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- vielleicht auch eine vernünftige Argumentationsgrundla- neten der SPD) ge. und dass wir nicht noch ein Jahr darüber diskutieren, wie so was umgesetzt werden kann. Wir brauchen jetzt Ent- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: scheidungen. Beim nächsten Automobilgipfel muss die- Sie wollen also keine Frage zulassen. ser Transformationsfonds auf die Schiene gebracht wer- den – im wahrsten Sinne des Wortes –, damit die Alexander Ulrich (DIE LINKE): Unternehmen der Zulieferindustrie eine Perspektive Nein. haben; denn viele von ihnen sind tatsächlich insolvenz- gefährdet. Es würde Tausende Jobs in diesem Land kos- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Dirk Spaniel ten, wenn die Bundesregierung weiterhin nur zuguckt. [AfD]: Na klar!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23975

Alexander Ulrich (A) Natürlich müssen wir dafür sorgen – damit komme ich zehn Jahre daran gehindert, genauso entschlossen und (C) langsam zum Schluss –, dass die Arbeitsplätze der Zu- mutig in Zukunftstechnologien zu investieren, wie das kunft auch in Deutschland entstehen. Die Batteriezelle in Palo Alto passiert ist. hat ein Vorredner schon angesprochen. Herr Altmaier, Sie waren im Januar in meinem Wahlkreis in Kaisers- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lautern und haben feierlich mit PSA und Opel die hoffent- lich anstehende Ansiedlung eines Batteriezellenwerks in Vizepräsidentin : Kaiserslautern gefeiert. Ich sage Ihnen aber – das zeigt, Herr Spaniel, Sie halten gleich Ihre eigene Rede. Ich dass wir einen aktiven Staat brauchen –: Diese Transfor- glaube, das war ein gutes und richtiges Argument; das mation in der Automobilindustrie wird der Markt nicht wissen Sie auch. – Sehen Sie? Ertappt! alleine regeln. Wir brauchen einen aktiven Staat, der mithilft. Die Batteriezelle in Kaiserslautern ist ein Bei- Herr Janecek. spiel dafür: Hier werden einige Hundert Millionen Euro investiert. Herr Altmaier, wenn der Staat sich beteiligt, Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dann ist das Mindeste, was man erwarten kann, dass diese Was kann man denn jetzt ganz konkret vor Ort tun? Da Unternehmen mitbestimmt sind und dass eine Tarifbin- schaue ich nach Baden-Württemberg. Baden-Württem- dung hergestellt wird. berg hat vor vielen Jahren einen Dialog mit der Auto- mobilindustrie aus der Taufe gehoben. Da geht es um (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- die Probleme der Zulieferindustrie, Herr Altmaier. Da neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geht es um die Speichertechnologien. Da geht es auch Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen. um Grünen Wasserstoff. Dieser kann in bestimmten Be- reichen des Fahrzeugsegments helfen, momentan zwar Wir haben gut bezahlte Jobs in der Automobilindust- nicht im Pkw-Segment, aber beispielsweise im Schwer- rie, und die sollen auch in Zukunft gut bezahlt sein; darü- lastverkehr. ber müssen wir uns politisch auseinandersetzen. Deshalb: Machen Sie was! Infrastruktur, Investitionen, Qualifizie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rung, Tarifbindung und Mitbestimmung – das ist die Zu- Baden-Württemberg ist übrigens auch das Land, in dem kunft. Dann haben wir auch keine Angst vor der Frage, ob die beste Ladeinfrastruktur Deutschlands vorhanden ist. die Automobilindustrie in Deutschland auch noch in ein Wenn Sie dort sind – Cem Özdemir wird später noch für paar Jahren sehr gut aufgestellt ist. uns sprechen –, finden Sie im Umkreis von 10 Kilometern (Beifall bei der LINKEN) überall im Land eine Ladesäule. Das ist Vorbild. So (B) macht man Industriepolitik! (D) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nächster Redner ist der Kollege Dieter Janecek, Bünd- Nun zum Thema Freihandelsabkommen, Herr Theurer. nis 90/Die Grünen. Wir können ja gerne streiten, welche Freihandelsabkom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men zu welchen Kriterien umgesetzt werden müssen. Auch wir Grüne bekennen uns grundsätzlich zum Frei- handel. Aber es wird der Automobilindustrie nicht hel- Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fen, wenn wir die Regenwälder in Brasilien abbrennen. Sehr geehrter Herr Präsident! – Nein, jetzt sehr geehrte Wir müssen Kriterien schaffen, die auch verantwortbar Frau Präsidentin! – Die Beschäftigten in der Automobil- sind. industrie verdienen unsere aktive Unterstützung. Wir müssen ihnen helfen bei der Weiterqualifizierung. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – haben uns als Grüne für ein Modell der Qualifizierungs- Michael Theurer [FDP]: Steht da gar nicht kurzarbeit eingesetzt. Wir sind offen für Ideen der drin!) IG Metall zu Transformationsfonds. Was aber nichts Ich frage mich: Technologieoffenheit, was heißt denn bringt, ist diese Form der Realitätsverweigerung, die die das bei Ihnen? Heißt das, dass sich eine Technologie, die FDP bei den Weltmarkttrends wie der Elektromobilität, sich aktuell auf dem Weltmarkt durchsetzt – – die es ja zweifelsohne gibt, an den Tag legt. (Abg. Dr. Christian Jung [FDP] meldet sich zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einer Zwischenfrage) Ich dachte, Herr Theurer, Sie seien eine Partei der Marktwirtschaft. Schauen wir uns mal die globalen Vizepräsidentin Claudia Roth: Trends an: Hier, vor den Toren Berlins, erwarten wir im Herr Janecek. nächsten Jahr eine Investition von Tesla in Höhe von 10 Milliarden Euro. 10 000 Arbeitsplätze werden dort Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geschaffen. Der VW-Konzern, der größte Automobilkon- Darf ich den Satz noch kurz beenden? zern der Welt, setzt mit einer klaren Strategie auf das Thema Elektromobilität. Tesla ist übrigens an der Börse mehr wert als alle deutschen Automobilhersteller zusam- Vizepräsidentin Claudia Roth: men. Keiner der Automobilhersteller war in den letzten Ja, und dann muss ich Sie etwas fragen. 23976 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

(A) Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Michael Theurer [FDP]: Wir?) (C) Das ist momentan die Batteriezellenfertigung, und das ist auch die Elektromobilität. Wenn diese Technologien Sie schädigen damit das Image der ganzen deutschen auf dem Vormarsch sind, sollen wir uns dann als Staat Industrie weltweit. Ich habe an anderer Stelle schon mal zurücklehnen und sagen: „Wir schaffen keine Bedingun- gesagt, dass es Zeiten gegeben hat, in denen ich von der gen, um das vor Ort zu unterstützen“? Ist das Ihre Aus- FDP etwas anderes erwartet hätte. sage? Sie sprechen in Ihrem Antrag von einseitiger För- (Oliver Luksic [FDP]: Das ist ein anderer An- derung der Elektromobilität und von politischen trag!) Wunschvorstellungen, die den globalen Märkten nicht entsprechen. Ich sage Ihnen: Wir stehen für Technolo- Technologieoffenheit heißt bei Ihnen nichts anderes, als gieoffenheit, aber auch für Unterstützung, und zwar da, dass Sie in der Zukunft auf eine Wasserstoff-E-Fuel- wo die deutsche Industrie einen offenkundigen Nachhol- Technologie setzen, die momentan überhaupt noch nicht bedarf hat; Stichwort: E-Mobilität. Der VW-Chef, Herr entwickelt ist. Diess, setzt voll auf E-Mobilität. BMW will bald jeden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – dritten Mini in China verkaufen, natürlich als E-Mobil. Michael Theurer [FDP]: Das ist doch ein ganz Tesla baut ein Megawerk für E-Autos in Berlin. Sind das anderer Antrag!) also nur Wunschvorstellungen der Bundesregierung? – Nein, das ist die Realität des Marktes, und das sollte Wer auf der Welt investiert denn momentan in diesem gerade die FDP zumindest zur Kenntnis nehmen. Bereich? Zeigen Sie mir ein Beispiel! (Michael Theurer [FDP]: Es gibt da keinen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Markt!)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Die Zahl der Förderanträge für E-Automobile steigt gera- Jetzt ist es zu spät. de an. Im Oktober hatten wir 33 000 Anträge, seit Juli waren es rund 100 000 Anträge.

Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Oliver Luksic [FDP]: Wirklich toll!) Jetzt ist es zu spät für Ihre Zwischenfrage, sagt die Frau Das ist eine echte Förderung der Automobilindustrie und Präsidentin. – Dann komme ich zum Schluss. eben kein Kahlschlag. Ich glaube, wir müssen jetzt einfach die Augen auf- machen. Ich fand übrigens auch die Rede von Herrn (Beifall bei der CDU/CSU – Stephan Brandner (B) Heider richtig, der gesagt hat: Wir müssen uns die aktuel- [AfD]: Mit Steuergeldern!) (D) len Trends auf der Welt anschauen und können nicht Dieser FDP-Antrag ist eine hastige Zusammenstellung weiter eine solche Realitätsverweigerung betreiben, wie aller möglichen Überlegungen, vom Abschluss von Frei- Sie von der FDP das tun. Ihr Feldzug gegen die Elektro- handelsabkommen über die Stabilisierung der Sozialver- mobilität ist von gestern. Wir werden in vielen Segmen- sicherungsbeiträge und einen fairen internationalen ten technologieoffen bleiben. Momentan ist der Trend Steuerwettbewerb bis hin zum Fachkräftemangel. Als ziemlich klar. Lassen Sie uns daher handeln für die Unionsmann kann ich vieles davon unterschreiben. Beschäftigten in der Automobilindustrie, aber nicht mit Aber mal ganz ehrlich: Sind das wirklich die Punkte, der Denkweise von gestern. die jetzt konkret und schnell den Beschäftigten der Auto- Vielen Dank. mobilindustrie helfen und ihre Arbeitsplätze sichern? Ihre Forderung nach Abschaffung der CO2-Flottengren- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zwerte der EU ist eine reine Schaufensterforderung, die in der EU nie durchsetzbar ist, und das wissen Sie. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Die haben auch keine Vielen Dank, Dieter Janecek. – Einen schönen guten Autoindustrie! – Michael Theurer [FDP]: In Morgen von mir, liebe Kolleginnen und Kollegen. der EU kenne ich mich wesentlich besser aus Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion als Sie! Haben Sie schon mal im EU-Parlament Bernhard Loos. gekämpft?) (Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie uns lieber über die wichtigen Punkte für die Automobilindustrie reden: Ladeinfrastruktur, autonomes Bernhard Loos (CDU/CSU): Fahren, Digitalisierung, Förderung von Autobau und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Eigenkapital für Zulieferer. Genau das macht die Bundes- Kollegen! Die FDP spricht in ihrem Antrag von einem regierung schon; dafür braucht es keinen verspäteten An- „Job-Kahlschlag“ und suggeriert, dass die Bundesregie- trag der FDP. rung der aktive Verursacher der Probleme der Branche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sei. Woanders sagt man dazu: Das sind Fake News. – der SPD) Lieber Kollege Theurer, schlimmer noch: Sie reden bewusst die deutsche Schlüsselindustrie schlecht, die Ja, ich kenne die Zahlen der Nationalen Plattform „Zu- mit mehr als 900 000 Beschäftigten 10 Prozent zur Brut- kunft der Mobilität“ mit rund 410 000 gefährdeten Ar- towertschöpfung unseres Landes beiträgt. beitsplätzen in den kommenden zehn Jahren. Aber schon Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23977

Bernhard Loos (A) vor der Coronakrise sprach der Verband der Automobil- deutsche Automobilbauer sind am Entwickeln. Der Ver- (C) industrie von rund 70 000 gefährdeten Arbeitsplätzen in band Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, VDMA, der Fertigung von Verbrennerantriebssträngen. geht allein im Bereich Wasserstoff von bis zu 470 000 Wir von der Union wollen die Automobilwirtschaft neuen Arbeitsplätzen in Deutschland bis 2050 aus. dabei unterstützen, fit zu sein für die Zukunftsherausfor- Natürlich hat Markus Söder völlig recht, wenn er im derungen einer sich weltweit wandelnden Mobilität. Wir „Handelsblatt“ am 12. Oktober sagt: brauchen einen Neustart für die Zukunftsidee des Auto- Ab 2035 sollte es keine Neuzulassungen von fossi- mobils. len Verbrennern mehr geben, dafür aber Elektro-, Im Konjunkturprogramm ist unter Ziffer 35 c bereits Wasserstoff- oder Biospritantriebe. ein Förderprogramm für Zukunftsinvestitionen der Fahr- zeughersteller und der Zulieferindustrie mit einem Das sei technologisch und ökonomisch gut machbar. Gesamtvolumen von 2 Milliarden Euro aufgelegt. Wir haben den Transformationsdialog Automobilindustrie Vizepräsidentin Claudia Roth: bereits ins Laufen gebracht, um Zukunftstechnologien Kommen Sie bitte zum Schluss. auf marktwirtschaftlicher Basis in den regionalen Räumen zu verankern, um dort neue Perspektiven und Bernhard Loos (CDU/CSU): neue Arbeitsplätze zu schaffen. IG-Metall-Chef Jörg Solche Anreizmodelle mit verlässlicher Perspektive Hoffmann hat es doch im Wirtschaftsausschuss auf den für die Produktion von E-Autos helfen der Automobil- Punkt gebracht: Arbeitsplatzverluste müssen in der wirtschaft und der Umwelt. Veränderungen sind Chan- jeweiligen Region kompensiert werden. cen, keine Bedrohungen. Optimismus statt Pessimismus, Vor allem die Zulieferindustrie müssen wir aktiv un- das unterscheidet uns von Ihnen. terstützen. Für die rund 1 000 Zulieferer in Deutschland ist ein Strukturfonds aus meiner Sicht der richtige Weg. Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich danke Gewerkschaft, Industrie und dem Bundeswirt- Herr Kollege! schaftsminister Altmaier, dass über einen solchen Trans- formationsfonds in Milliardenvolumen nachgedacht wird. Es ist besser, wir gestalten den Wandel jetzt mit, Bernhard Loos (CDU/CSU): und zwar positiv, als einer Entwicklung hinterherzulau- Wir bringen Deutschland voran. fen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Der Export ist für die deutsche Automobilwirtschaft (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (B) eminent wichtig. Globale Heraus- und Anforderungen (D) ordneten der SPD) des Weltmarktes sind entscheidend. Ein Blick nach Chi- na, wo ich als Unternehmer öfter selber bin, aber auch nach Kalifornien zeigt es doch: Wir reden von einem Vizepräsidentin Claudia Roth: globalen Trend. Vielen Dank, Bernhard Loos. – Nächster Redner: für (Dr. Dirk Spaniel [AfD]: Ach was!) die AfD-Fraktion Dr. Dirk Spaniel. Allein in China gab es 2019 rund 500 Hersteller von E- (Beifall bei der AfD) Fahrzeugen, (Dr. Dirk Spaniel [AfD]: 1 Prozent Marktan- Dr. Dirk Spaniel (AfD): teil!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hätte nicht gedacht, in dieser Debatte und Tesla aus den USA ist ja mittlerweile auch einer so viel Ahnungslosigkeit und Konzeptlosigkeit von der breiten Öffentlichkeit bekannt. Daher müssen wir, die Regierung zu hören. Politik, die Industrie beim Technologiewandel unterstüt- zen. Das ist doch der Grund, warum der Bund die Bat- (Beifall bei der AfD – Dieter Janecek [BÜND- teriezellenforschung massiv voranbringen will. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hat noch gar nicht gesprochen!) Ich gebe der VDA-Präsidentin Hildegard Müller recht, dass wir auch beim Bau der öffentlichen Ladeinfrastruk- Es ist unfassbar, von welchen Leuten dieses Land regiert tur vieles besser machen müssen. Ohne ausreichende wird. – Herr Theurer, ein dickes Lob an Sie; Sie haben Ladestationen auch im ländlichen Raum gibt es keine wenigstens den Punkt erkannt: Der Erhalt des Verbren- breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit; nungsmotors ist für die Arbeitsplätze in diesem Land essenziell. – Sehr schön. (Dr. Dirk Spaniel [AfD]: Nicht mal damit!) (Beifall bei der AfD) 3 300 Schnellladepunkte im öffentlichen Raum und 28 000 in den Kommunen sind zu wenig. Dazu gehört Aber, Herr Theurer, ich frage mich, was schlimmer ist, natürlich auch ein einheitliches Ladeabrechnungssystem. die Ahnungslosigkeit bei der Regierung oder Ihre Ver- logenheit. Sie haben unseren Antrag zum Erhalt des Ver- Wir müssen natürlich technologieneutral sein. Dazu brennungsmotors ja abgelehnt, nicht Sie persönlich, aber zählen für mich synthetische Kraftstoffe, verbesserte Ver- Ihre ganze Fraktion. brennungsmotoren, Brennstoffzellen und Wasserstoff. Japan und China setzen voll auf Wasserstoff, und auch (Beifall bei der AfD) 23978 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Dr. Dirk Spaniel (A) Also, halten wir mal fest: Wir lernen hier von der darum, dass wenigstens die einigermaßen wirtschaftso- (C) Regierungsseite, dass Ihnen allen der Transformations- rientierten Parteien in diesem Plenum einfach mal über prozess in Richtung Elektromobilität gar nicht schnell ihren Schatten springen und vernünftige Politik machen genug gehen kann. Was bedeutet denn dieser Transforma- und mit diesem Märchenerzählen aufhören, das es hier tionsprozess? Er bedeutet – davon gehen Sie alle ja aus –, gibt. dass wir hier in Deutschland zu einem großen Teil die Vielen Dank. Batteriesysteme für die Elektrofahrzeuge herstellen und die Wertschöpfung im Land halten. Wissen Sie eigent- (Beifall bei der AfD) lich, wie viel Strom man für die Herstellung einer durch- schnittlichen Batterie braucht? Ich will es Ihnen sagen: Vizepräsidentin Claudia Roth: 10 000 Kilowattstunden. Und diese 10 000 Kilowattstun- Vielen Dank, Dr. Spaniel. – Nächste Rednerin: für die den verursachen hier in Deutschland bei unsubvention- SPD-Fraktion . ierten Strompreisen über 3 000 Euro an Kosten. (Beifall bei der SPD) (Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Gabriele Katzmarek (SPD): – Herr Krischer, Sie haben ja keine Ahnung. – In China Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten können Sie die gleiche Batterie für 300 Euro Stromkosten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! herstellen. Jetzt muss ich als Unternehmer mal kurz über- Es ist heute nicht die erste Debatte, die wir über die legen: Baue ich die Batterie für 300 Euro in China oder Zukunft der Automobilindustrie führen, und es wird für 3 000 Euro in Deutschland? Alle, die jetzt mitgedacht auch nicht die letzte Debatte sein. Darüber sind wir uns, haben und überlegen mussten, können froh sein, dass sie glaube ich, alle einig. Politiker sind und nicht in der Wirtschaft ihr Geld ver- dienen müssen. In meinem Wahlkreis ist das Thema „Zukunft der Automobilindustrie“ tagtäglich präsent. Wir haben drei (Beifall bei der AfD) Produktionswerke eines namhaften Automobilherstel- Meine Damen und Herren, es wird in Deutschland lers, große Zulieferer wie Bosch und Schaeffler, kleinere ohne steuerliche Subventionen keine Batteriezellenferti- Zulieferer mit Tausenden von Beschäftigten. Hinzu kom- gung geben. Aus! Alle Arbeitsplätze in der Antriebsst- men viele vorgelagerte Bereiche wie der Maschinenbau rangfertigung werden genauso verschwinden wie die in und letztendlich Arbeitsplätze in der Region vom Bäcker der Solarzellenindustrie. Was Sie hier verbreiten, sind bis zum Zeitungsverkäufer. Dass sich dort Sorgen breit- Geschichten von irgendwelchen Wunderwaffen, sind machen, wie die Zukunft aussieht, wie es um Arbeits- (B) Märchen. Das gibt es alles gar nicht. plätze, um Einkommen oder gar um die Ausbildungsplät- (D) (Beifall bei der AfD) ze der Kinder steht, das kann sich, glaube ich, jeder vorstellen. Völliger Humbug! Die Frage nach der Zukunft der Automobilindustrie ist (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des aber nicht erst heute aufgekommen, mit Covid-19. Nein, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir diskutieren bereits seit vielen Jahren darüber, wie ein Aber kommen wir mal zu einer anderen interessanten Wandel in der Automobilindustrie zu gestalten ist. Aussage. Eine andere interessante Aussage ist ja, dass Sie (Zurufe von der AfD) alle davon ausgehen, dass wir in Deutschland nach wie vor Verbrennungsmotoren erhalten. Und genau deshalb haben wir als Sozialdemokraten, als es die rechte Seite des Hauses mit ihrem Geplärre noch (Zuruf der Abg. Katharina Dröge [BÜND- nicht gab, bereits angefangen, mit den Arbeitnehmerin- NIS 90/DIE GRÜNEN]) nen und Arbeitnehmern in einen Dialog über die Zukunft – Ja, Moment. – Die Politik, die wir momentan betreiben, zu treten. Denn eines ist klar, meine sehr geehrten Damen hat zur Folge, dass es in Europa ab 2030 keine Zulassung und Herren: Der Transformationsprozess, also der funda- für Verbrennungsmotoren mehr gibt. Das heißt, die deut- mentale Wandel in der Automobilindustrie, schen Hersteller müssten ihre Autos komplett exportie- (Zuruf von der AfD: Transformation, genau!) ren. Ja, wer ist denn als Autohersteller so bekloppt und exportiert seine Autos aus dem teuren Deutschland nach gelingt nur mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Amerika oder Russland, wenn er sie vor Ort ohne Import- mern. zölle und bei niedrigeren Arbeitskosten bauen kann? (Beifall bei der SPD) Kein Mensch. Corona – das ist richtig – hat die Krise in Deutschland, (Beifall bei der AfD) in der deutschen Automobilindustrie verschärft. Genau Was Sie hier machen, ist die komplette Abschaffung der deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir handeln und deutschen Automobilindustrie. Und das ist mehr als fahr- dass wir bereits gehandelt haben, meine Damen und Her- lässig. ren von der FDP. Mein Kollege Bernd Westphal hat be- reits einiges dazu gesagt, aber auch mein Kollege Falko Es gibt nur einen richtigen Weg, und das ist der Erhalt Mohrs wird noch darauf eingehen. des Verbrennungsmotors. Das ist die Politik der AfD, und die geht komplett ohne Verlogenheit. Fördern wir synthe- (Zuruf von der AfD: Darauf warten wir tische Kraftstoffe! Das muss unser Weg sein. Ich bitte andächtig!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23979

Gabriele Katzmarek (A) – Darauf können Sie auch sehr gespannt sein. (Beifall bei der SPD) (C) Alle machen sich darüber Gedanken – das unterstelle ich allen demokratischen Parteien in diesem Haus –, wie Vizepräsidentin Claudia Roth: die Lösung aussehen kann, was die richtigen Ansätze Dass er wichtig ist, darf nicht mein Kriterium sein. sind, wenn es um das Thema „Zukunft der Automobil- Sonst wären manche Reden kürzer und manche länger. industrie“ geht. Das unterstelle ich jedem. Nur haben (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) wir – und das unterscheidet uns von Ihnen, Herr Theurer, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Oliver Luksic. FDP – andere Ansätze. (Beifall bei der FDP) Ihr Ansatz ist, dass Sie sofort über Regulierung reden wollen und sagen, Staatseingriffe müssten verhindert Oliver Luksic (FDP): werden. In Ihrem Zehn-Punkte-Programm geht es an ers- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ter Stelle um Freihandelsabkommen. Darüber hinaus geht Wir sind Weltmeister im Bereich Autobau. Schlüsselin- es darin um Steuersenkungen, dustrie in Deutschland ist der Fahrzeugbau. Da sind wir (Oliver Luksic [FDP]: Das sagen wir gar Weltklasse. Wir stehen aber vor einer dreifachen Heraus- nicht!) forderung: Kurzfristig ist das Corona; daneben sind das auch Digitalisierung und Dekarbonisierung. Das Kern- um die Abschaffung des Solidaritätszuschlags für alle, problem ist aber, dass wir ganz planwirtschaftlich auf (Beifall des Abg. Reinhard Houben [FDP]) eine einzige Technologie setzen und damit den sauberen Verbrenner abwickeln. Das sorgt für Kostendruck und aber auch um die Sozialversicherungssysteme – die auch für Jobkahlschlag. sparen Sie in Ihrem Antrag nicht aus –, die Sie ein Stück weit infrage stellen. Das ist nicht unser Ansatz. Das kön- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nen wir hier ganz deutlich sagen. der AfD) (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Problem ist ja nicht der Markt. Sie müssen die Mechanismen verstehen. Ihr Ansatz ist Ihr klassischer Ansatz, nämlich Unter- Die Flottengrenzwerte, die Sie ja noch weiter verschärfen nehmen finanziell zu entlasten, zu sagen, der freie Markt wollen, sorgen dafür, dass Tausende Euro Strafzahlungen werde es schon richten. Dass dies nicht der Fall ist, das für saubere Verbrenner geleistet werden müssen. Gleich- erleben wir heute. Genau deshalb ist es wichtig für uns, zeitig wollen Sie 10 000 Euro und mehr an Subventionen mit den Sozialpartnern, mit Arbeitnehmern und Gewerk- für E-Autos. Mit Marktwirtschaft hat das relativ wenig zu (B) schaften, aber auch mit Arbeitgebern und Arbeitgeber- tun. (D) verbänden, in einen Dialog zu treten, um den richtigen Weg zu finden. Ich glaube, so sind wir richtig und gut (Beifall bei der FDP und der AfD) aufgestellt. Dazu finde ich bei Ihnen allerdings wenig. Das in Kombination mit den neuen Euro-7-Normen, die Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. die Bundesregierung in Brüssel auch noch unterstützt, ergibt faktisch ein Verbot, ein Unmöglichmachen für ( [FDP]: Sehr gut!) den Verbrennungsmotor. Das ist es, was wir kritisieren. Ich will hier heute noch eines sagen, was ich wichtig (Beifall bei der FDP und der AfD) finde: Wir haben in den letzten Wochen und Monaten erlebt, dass Unternehmen die Krise ausnutzen, um sich Vizepräsidentin Claudia Roth: umzuorganisieren, Arbeitnehmer zu entlassen, Werke zu schließen; exemplarisches Beispiel: Conti. Da will ich Herr Kollege Luksic, erlauben Sie eine Zwischenfrage Ihnen sagen: Das ist der falsche Weg. oder -bemerkung von Klaus Ernst? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Oliver Luksic (FDP): der LINKEN) Ja. Bitte schön. Das Beispiel zeigt, dass nicht mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern um einen Weg gerungen wird, Arbeits- Klaus Ernst (DIE LINKE): plätze zu erhalten. Ich kann Ihnen sagen: Wir als Sozial- Danke, dass Sie meine Frage zulassen. – Sie plädieren demokraten werden dafür streiten; denn es geht um die ja, wenn ich Sie richtig verstehe, dafür, das ganze Pro- Zukunft unseres Landes und der Menschen in unserem blem, das wir zurzeit haben, marktwirtschaftlich zu lösen. Lande. Haben Sie sich eigentlich einmal Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, wenn wir in diesem Be- Vizepräsidentin Claudia Roth: reich nicht fördern würden, wenn wir zum Beispiel nicht Frau Kollegin, das war jetzt aber ein langer letzter Satz. massiv in die Batteriefertigung einsteigen würden, was wir momentan machen, wenn wir nicht massiv die Was- (Falko Mohrs [SPD]: Der war aber wichtig, serstofftechnologie fördern würden, was die Bundesre- Frau Präsidentin!) gierung richtigerweise macht? Dann würden wir gar nichts hinkriegen. Haben Sie sich vor allem einmal Ge- Gabriele Katzmarek (SPD): danken darüber gemacht, was passieren würde, wenn wir Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. jetzt mit marktwirtschaftlichen Mitteln und nicht mit 23980 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Klaus Ernst (A) einer Fülle von Geld versuchen würden, diese Corona- dort großes Unverständnis herrscht. Zum Beispiel im (C) krise in den Griff zu kriegen? Dann gäbe es gar keine Kompaktsegment wie Ford Focus oder Ford Fiesta ver- marktwirtschaftliche Entwicklung mehr, weil so viele dient Ford nur wenige Hundert Euro pro Fahrzeug. Wenn Betriebe pleite wären, dass wir in der Wirtschaft eine es elektrifiziert wird und das Fahrzeug dadurch Tausende Konzentration hätten, die möglicherweise dazu führen Euro teurer wird, kann es in Deutschland nicht mehr her- würde, dass wir etwas ganz anderes regulieren müssten, gestellt werden. nämlich eine Monopolisierung. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Sie glauben, dass wir die Probleme, die wir in diesem Lande haben, nur mit marktwirtschaftlichen Mitteln Deswegen, lieber Kollege Ernst: Reden Sie mal mit den lösen könnten. Damit sprechen Sie sich aber eigentlich Betriebsräten. Die haben sehr viel Verständnis für unsere dafür aus, dass wir die Unternehmen pleitegehen lassen, Politik, weil die Regulierung einfach falsch ist. Ford- dass wir die Leute nach Hause schicken, statt Kurzarbeit Chef Gunnar Herrmann hat es klar gesagt: Aufgrund zu ermöglichen. der Regulierung werden in Deutschland weniger Fahr- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) zeuge produziert. – Das ist der Kern des Problems. Das müssen wir ändern. Damit plädieren Sie eigentlich dafür, dass wir dieses Land vollständig ruinieren. Ich habe die FDP immer (Beifall bei der FDP) anders verstanden. Das betrifft nicht nur das Auto, das betrifft auch die Vizepräsidentin Claudia Roth: schweren Nutzfahrzeuge. Da macht die Elektrifizierung Herr Kollege! noch weniger Sinn. Wir brauchen einen Mix an Techno- logien, aber Sie setzen einseitig auf eine einzelne Tech- nologie. Je größer das Fahrzeug und je größer die Reich- Klaus Ernst (DIE LINKE): weite ist, desto weniger macht Ihr einseitiger Fokus auf Das, was Sie gegenwärtig machen, ist das Gegenteil die batteriebetriebene Mobilität Sinn. Lkws, Busse, all von dem, was eine FDP eigentlich machen sollte. das soll elektrifiziert werden, ohne dass Sie erklären, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wo die Ladestationen für diese Fahrzeuge sind. Diese neten der SPD) gibt es noch gar nicht. Übrigens müssten Sie sich auch um die Verteilernetze kümmern. Dafür müsste man ganz Deutschland umgraben. Das haben Sie einfach nicht auf Vizepräsidentin Claudia Roth: dem Schirm. Und das ist das Kernproblem. Gut. – Herr Luksic. (B) (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Oliver Luksic (FDP): der AfD) Herr Kollege Ernst, Sie haben die FDP offensichtlich falsch verstanden. Wir argumentieren nicht, dass der Wo der Staat dagegen eine Rolle spielen muss, ist, Staat keine Rolle spielen soll – das soll er zum Beispiel wenn es zum Beispiel um den Rechtsrahmen für das auto- bei der Ladeinfrastruktur –, aber wir kritisieren das Maß nome Fahren geht. Da haben wir in der Tat einen Rück- an Regulierung, zum Beispiel bei den Flottengrenzwer- stand, der aufgeholt werden muss. Natürlich muss der ten. Einerseits gibt es hohe Strafzahlungen und anderer- Staat auch bei der Infrastruktur eine Rolle spielen. Aber seits hohe Subventionen. was Sie machen, ist, Wunden aufzureißen und dann ein- zelnen Firmen Subventionen zu geben. Reden Sie einmal Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich aus der mit den vielen kleinen Zulieferern, die Hightechprodukte Batterieproduktion alle deutschen Hersteller aus Kosten- herstellen, mit der metallverarbeitenden Industrie. Die gründen verabschiedet haben. Es wird sehr schwierig hängen alle am Verbrenner. Da hilft es relativ wenig, werden, solche Batterien ohne Subventionen dauerhaft wenn Sie ein kleines Pflaster auf eine große Wunde kle- in Deutschland herzustellen. Das ist das gleiche Phäno- ben. men, das wir zum Beispiel bei der Photovoltaik hatten. (Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜND- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN]) der AfD) Auch da lag es an der Energiepolitik. Bosch und alle Ich habe solche Unternehmen besucht, auch im Wahl- anderen haben sich zurückgezogen. Nur aufgrund von kreis von . Subventionen wird die Produktion nicht dauerhaft hier- herkommen. Das ist das Kernproblem. Wir haben eine Die Politik von Peter Altmaier und die von Frau von Verlagerung der Wertschöpfung hin zur Batterie, und der Leyen in Brüssel schadet massiv der deutschen Auto- das kritisieren wir. mobilindustrie. Wir brauchen eine faire Chance für sau- bere Verbrenner, sonst werden wir weiter dauerhaft (Beifall bei der FDP und der AfD) Arbeitsplätze und Wertschöpfung verlieren. Das wollen Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist also das Kern- wir verhindern. problem, das wir haben. Wenn Sie zum Beispiel mit den Betriebsräten diskutieren, zum Beispiel bei Ford – die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sind in meinem Wahlkreis; Peter Altmaier wird das ken- der AfD – Gabriele Katzmarek [SPD]: nen, ich war kurz nach ihm dort –, dann hören Sie, dass Unglaublich!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23981

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: stoffforscher kennengelernt. Unser Antrag zielt nicht nur (C) Vielen Dank, Oliver Luksic. – Nächster Redner: für auf die Pkw, sondern auch auf die Nutzfahrzeuge. Wir Bündnis 90/Die Grünen Cem Özdemir. haben zum Beispiel in Wörth, wo wir jetzt dank der Landesregierung die zweite Rheinbrücke bekommen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden, das größte Lkw-Werk der Welt von Daimler.

Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deswegen frage ich mich bei dem, was Sie jetzt in den Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! letzten 30, 40 Sekunden gesagt haben, ob Sie wirklich Wenn man den Antrag der FDP liest, muss man sich diesen Antrag gelesen haben; denn dieser zielt wirklich ernsthaft Sorgen machen angesichts des zerrütteten Ver- in die Zukunft. Wir versuchen alles, um die Arbeitsplätze hältnisses zwischen der Wirtschaft und der FDP. Ich frage in Baden-Württemberg zum Beispiel, um die Standorte mich: Warum trauen Sie unserer deutschen Automobil- bei uns zu erhalten; Frau Katzmarek hat es auch gesagt. In wirtschaft eigentlich so wenig zu? Offenbar halten Sie der Region Rastatt brennt es im Moment in den Familien. nichts von Topmanagern wie Herbert Diess, der beim Deswegen möchte ich eigentlich nicht so oberflächliche Pkw voll auf E-Mobilität setzt. Reden wie die von Ihnen hören. Vielmehr müssen wir diese Themen lösungsorientiert angehen. Deswegen (Michael Theurer [FDP]: Da haben Sie recht!) möchte ich Sie noch mal fragen: Haben Sie diesen Antrag Offenbar halten Sie auch nichts von Daimler – das nehme wirklich gelesen, oder lesen Sie gerade nur Textbausteine ich schon etwas persönlicher –, die im Pkw-Bereich aus vor? der Wasserstofftechnologie ausgestiegen sind, weil diese für den Pkw zu teuer ist. Das ist schlichte Ökonomie. Das (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der sollte man einmal zur Kenntnis nehmen. AfD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Dann frage ich mich: Für welche Autos wollen Sie Herr Özdemir. eigentlich die teuren Wasserstofftankstellen weiter auf- bauen? Für deutsche Modelle jedenfalls nicht. Sie wollen viel Steuergeld auf diese Technologie setzen. Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank für Ihre Frage. – Ich habe Ihren Antrag Vizepräsidentin Claudia Roth: gelesen, weil ich Anträge von demokratischen Fraktionen immer lese; das gehört sich so. Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder (B) -bemerkung vom FDP-Kollegen? (Zuruf von der AfD) (D)

Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Herr Kollege, ich rede jetzt gerade über den Von wem? Pkw. Da müssen Sie schon richtig zitieren. Denn Daimler hat eine Industrieentscheidung getroffen. Sie haben sich (Abg. Reinhard Houben [FDP] erhebt sich) beim Wasserstoff aus dem Pkw-Bereich zurückgezogen und gehen in den Lkw-Bereich; denn dort macht es auch Vizepräsidentin Claudia Roth: Sinn. Nein, nicht von Ihnen. Setzen! (Michael Theurer [FDP]: E-Fuels!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) Die Klimakrise ist so fortgeschritten, Herr Kollege – ich Von Dr. Jung. Entschuldigung. Dr. Jung hatte sich zuerst glaube, das kann ich hier im Namen von allen sagen –, gemeldet. dass wir auf nichts verzichten können. Wir werden jede Technologie brauchen, aber wir brauchen nicht jede Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Technologie überall. Wir müssen sie dort einsetzen, wo Dr. Jung, aber nur, wenn er Schwäbisch schwätzt. Bit- sie unter ökonomischen, ökologischen Kostengesicht- te. spunkten Sinn macht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Kann er Schwäbisch? Nein, Badisch. – Herr Dr. Jung, Das ist schlichte Ökonomie. Das kann man doch wissen, bitte. wenn man bei der FDP ist und sich gelegentlich mit Marktwirtschaft beschäftigt. Dr. Christian Jung (FDP): Ich nenne Ihnen ein anderes Unternehmen – es geht Lieber Herr Kollege Özdemir, im badischen Landesteil nicht nur um die OEMs, sondern es geht auch um die können wir auch Hochdeutsch, und das sprechen wir hier Zulieferer –: Dettingen an der Erms, 6 Kilometer entfernt in Berlin. – Was mir wichtig ist: Ich habe den Eindruck, von Bad Urach, ElringKlinger, Chef Stefan Wolf, der dass Sie den Antrag von uns – wie auch Ihr Kollege von auch Chef von Südwestmetall ist. Er hat schwierige den Grünen, der vorhin gesprochen hat – überhaupt nicht Transformationen zu meistern. gelesen haben. Wir, der Kollege Theurer und ich, kom- men aus der Region Karlsruhe. Wir haben dort das KIT, (Michael Theurer [FDP]: Der hat sich bedankt wo auch Sie schon mal waren. Dort haben Sie die Wasser- für diesen Antrag!) 23982 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Cem Özdemir (A) Den beneide ich nicht um seine Aufgabe. Aber er geht Ich habe mal gezählt, wie oft in Ihrem Antrag das Wort (C) mutig voran und sagt: Ich gehe in den Wasserstoff zusam- „Klimaschutz“ vorkommt. Wissen Sie, wie oft? Kein ein- men mit Airbus. Denn im Flugzeug macht es natürlich ziges Mal. Das ist nur konsequent; denn Sie wollten den Sinn; da werden wir mit batteriebetriebener Elektromobi- Klimaschutz ja auch den Profis überlassen. Aber die lität nicht vom Fleck kommen. Marktwirtschaft auch gleich mit? Nochmals: Wir brauchen alles, aber wir brauchen nicht (Dr. Christian Jung [FDP]: Das sind doch schon alles überall. Darum geht es. Das kann man doch ver- wieder Floskeln!) stehen; so kompliziert ist es nicht. Nehmen Sie doch mal Folgendes zur Kenntnis: In Ihrem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Antrag steht selber drin: 75 Prozent Exportquote. Schauen wir uns an: Wo sind denn die Exportmärkte? Die wichtigsten Exportmärkte, darunter Frankreich, Vizepräsidentin Claudia Roth: Großbritannien, Spanien, haben angekündigt, in den Gut, danke schön. – Jetzt geht es weiter mit der Rede. nächsten 20 Jahren aus dem fossilen Verbrenner auszu- steigen. Kalifornien – es wäre für sich genommen die Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt – macht es genauso. Ich war ja gerade dabei, zu fragen, für welche Autos China hat ebenfalls entsprechende Pläne. Sie das wollen. – Da gibt es eine weitere Zwischenfrage, Das heißt, wenn wir in 15 Jahren noch Autos exportie- aber ich würde jetzt gerne meine Rede zu Ende bringen. ren wollen, dann müssen sie schlicht emissionsfrei sein. Also, wer deutsche Autos möchte, der muss sich zum Vizepräsidentin Claudia Roth: Fortschritt bekennen und nicht zur Vergangenheit, liebe Ja. Das habe ich mir gedacht. Kolleginnen und Kollegen von der FDP. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Also, deutsche Automobile sind es jedenfalls nicht. Sie Vizepräsidentin Claudia Roth: wollen viel Steuergeld für eine Technologie einsetzen, Herr Kollege. wo deutsche Hersteller im Pkw-Bereich schlicht nichts anzubieten haben. Das wäre schlechte Standortpolitik, Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): meine Damen und Herren. Meine Redezeit ist leider abgelaufen; deshalb kann ich (Michael Theurer [FDP]: E-Fuels!) viele gute Sachen nicht mehr sagen. Aber ich lade Sie ein, (B) meine Damen und Herren: Wirtschaftlichkeit, Effizienz, (D) Ich rate Ihnen, sich von der Industrie da mal auf den Markt – das ist doch verrückt, dass ich das der FDP er- Stand bringen zu lassen. Vielleicht nehmen Sie bei der klären muss. Darum geht es: Anpacken und nicht zau- Gelegenheit gleich den Verkehrsminister mit. dern. Für alle, die den Antrag nicht gelesen haben, für die Danke. Zuhörerinnen und Zuhörer draußen übersetze ich ihn: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Was Sie hier wollen, ist schlicht, einen Schutzzaun um Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Lange drei eine fossile Technologie zu ziehen, die aufgrund eines Minuten! Unglaublich!) völkerrechtlich verbindlichen Abkommens, nämlich des Pariser Klimaschutzabkommens, ein Auslaufdatum hat. Paris heißt nichts anderes als Schluss mit dem Erdöl im Vizepräsidentin Claudia Roth: Verkehr. Das ist die Grundlage, auf der wir hier künftig Vielen Dank, Cem Özdemir. – Nächster Redner: für die Politik machen werden. CDU/CSU-Fraktion Carsten Müller. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Jetzt sage ich es doch, weil ich in Gedanken gerade Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): auch ein bisschen in Georgia bin: Ich hoffe, dass wir im Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Weißen Haus bald einen Partner bekommen, mit dem Herren! In der letzten Rede haben wir vergleichsweise zusammen wir die Dekarbonisierung voranbringen kön- viel Ideologie, viel Lautstärke, leider zu wenig Sachlich- nen. Dann kann es doch nicht sein, dass die FDP die letzte keit gehört. Eines ist, glaube ich, unbestritten: Die Auto- demokratische Fraktion im Bundestag ist, die immer mobilindustrie weltweit und insbesondere auch die deut- noch dem fossilen Verbrenner hinterherweint, während sche steht vor einem tiefgreifenden Strukturwandel. Mit der Rest die Zukunft anpackt. Machen sie doch mit im großer Sicherheit werden die Produkte, wird die gesamte Ideenwettbewerb um die Zukunft, und hören Sie auf zu Industrie im Jahr 2030 ein gänzlich anderes Gesicht schmollen. haben, als sie es heute hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Herausforderungen der Digitalisierung, das Thema Weniger German Angst, mehr German Mut, liebe Kolle- „assistiertes unterstütztes autonomes Fahren“ und auch ginnen und Kollegen von der FDP. das Thema Rechtsrahmenschaffung sind zum Teil ange- sprochen worden. Diese Diskussion hat sich bisher sehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) intensiv mit der Frage der Antriebstechnologie beschäf- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23983

Carsten Müller (Braunschweig) (A) tigt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir neben dem Fahrzeugen gesehen. Ich erinnere auch an die Entwick- (C) Verbrenner eine Vielzahl von alternativen Antrieben lung der Immissionssituation, beispielsweise bei den sehen werden. Dazu wird batteriegestützte Elektromobi- Stickoxiden, in den vergangen zehn Jahren. lität gehören. Dazu wird Wasserstofftechnik gehören, und Ich glaube, dass wir beim Thema „regenerative Kraft- zwar sowohl in Verbrennungskolbenmaschinen wie aller- stoffe“ noch deutlich nachlegen können. Die Kraftstoff- dings auch in Anwendung mit Brennstoffzellen. seite bietet erhebliche Potenziale für eine weitere nach- Ich bin mir sehr sicher, dass insbesondere die Wasser- haltige Ausgestaltung des Verkehrs. Meine Damen und stofftechnologie eine große Rolle spielen wird. Ich will Herren, ich will hier nur die Frage der Beimischungs- mich mal an meinen Vorredner wenden. Mit dem Ansatz, quote bei den E20-Kraftstoffen ansprechen. Praktisch den Sie hier eben für die Mobilitätsbranche versucht alle Fahrzeuge des Modelljahres 2015 ff. können heute haben zu implementieren, nämlich in der Entwicklungs- mit diesen Kraftstoffen betrieben werden. Da können wir phase auf Kosten zu achten, wären wir beim großen Pro- noch mehr herstellen. jekt der Energiewende kläglich gescheitert. Deswegen Wir können auch beim Thema der synthetischen Kraft- sind wir als Union der Auffassung, ideologiefrei an die stoffe wesentlich schneller und besser werden. Ich habe, Dinge heranzugehen. So wie wir es bei der Einleitung der ehrlich gesagt, die Erwartung, dass das Bundesumwelt- Energiewende gemacht haben, werden wir es eben auch ministerium Kraftstoffe mit synthetischer oder bio- für die künftige Mobilitätswende gangbar machen. Des- logischer Herkunft nach DIN EN 15940 in motorischen wegen zählen bei den Technologien, die jetzt am Anfang Anwendungen bei Landfahrzeugen künftig zulässt. Diese der Entwicklung stehen, ökonomische Aspekte noch synthetischen Kraftstoffe sind den bisher bekannten fos- nicht. Wir unterstützen Forschung und fördern diese. silen Kraftstoffen deutlich überlegen und führen eben (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aufgrund dieser Überlegenheit zu einer deutlichen NEN]: Wer hat das EEG gemacht?) Absenkung der Emissionen. Meine Damen und Herren, was brauchen wir, um (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Arbeitsplätze in der Automobilbranche zu sichern? Wir der FDP) brauchen Technologieoffenheit, und wir brauchen eine wahrhafte Betrachtung. Meine Damen und Herren, das Thema „CO2-Reduk- tion und Flottengrenzwerte“ wurde angesprochen. Ich (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- will ein weiteres Thema hier durchaus noch platzieren, NEN]: Was heißt das denn, Herr Müller? Was das mir zugegebenermaßen Sorgen bereitet. Ich habe die wollen Sie uns sagen?) klare Erwartung, dass die Bundesregierung sich auf euro- (B) Diese wahrhafte Betrachtung ist dann eben tatsächlich päischer Ebene entsprechend positioniert, und zwar so (D) eine „Cradle to Grave“-Betrachtung. positioniert, dass die deutsche Automobilindustrie eine gute Chance hat, mit diversen technischen Angeboten Wir als Politik müssen diesen Wandel mit klugen, ver- weiterhin konkurrenzfähig zu bleiben. Es gibt im lässlichen Rahmenbedingungen begleiten. Die Bundesre- Moment Vorüberlegungen zu den Eckwerten der künfti- gierung hat hier einige sehr begrüßenswerte Initiativen gen Euro-7-Abgasnorm. Die deutsche und die europä- auf den Weg gebracht, zum Beispiel die „Energiewende ische Automobilindustrie verkaufen die Fahrzeuge nicht im Verkehr“ des BMWi. Die Nationale Wasserstoffstrate- nur auf dem Heimatmarkt. Wir alle sind sicherlich der gie ist angesprochen worden. Ein anderes Beispiel bietet Überzeugung, dass der Verbrennungsmotor, unter Ver- die Forschungsförderung für ein zukunftsfähiges nach- wendung, wie gesagt, CO2-armer oder -freier syntheti- haltiges Mobilitätssystem durch Automatisierung und scher Kraftstoffe, noch eine große Zukunft hat. Vernetzung des BMVI. Wir müssen das allerdings auch bei der Regulierung Auch 5-G-Forschungscluster, zum Beispiel in meiner beachten. Es ist nämlich im Moment relativ klar, dass, Braunschweiger Heimat, spielen dabei eine große Rolle. wenn sich die Überlegungen, die im Moment für die Hier werden im 5-G-Reallabor, bei dem sich die Euro-7-Regulierung und -Emissionsnorm angestellt wer- TU Braunschweig und das Niedersächsische Forschungs- den, tatsächlich verfestigen, dies ein ideologisch begrün- zentrum Fahrzeugtechnik beteiligen, eben genau solche detes Aus für den Verbrennungsmotor bedeutet. Ich hebe Dinge entwickelt, die dafür sorgen, dass wir Kommuni- dabei nicht nur alleine auf die Emissionen ab, die aus dem kationssysteme dazu bringen können, den Verkehr wei- Verbrennungsvorgang an sich herrühren, sondern ich will terhin nachhaltig zu gestalten. unseren Blick darauf richten, dass in diese Euro-7-Norm Zwei wichtige Punkte will ich ansprechen; das ist Aus- künftig auch solche Dinge wie beispielsweise der Reifen- fluss der von mir und von der Unionsfraktion propagier- abrieb einbezogen werden sollen. ten Technologieoffenheit. (Dr. Dirk Spaniel [AfD]: Ja, aber nur bei Ver- Wir haben es mit ambitionierten europäischen Klima- brennungsmotoren!) zielen für das Jahr 2030 zu tun. Wir haben bisher die An sich ist das ein begrüßenswerter Ansatz. Es wird aller- Erfahrung gemacht, dass gleichsam hohe wie auch tat- dings gänzlich grotesk und ist das Gegenteil von techno- sächlich erreichbare Ziele dazu führen, dass wir unsere logieoffen, wenn wir Reifenabrieb und Partikelemissio- Industrie in Europa und in Deutschland konkurrenzfähig nen nur bei verbrennungsmotorisch angetriebenen halten. Wir haben eine dramatische Reduktion des CO2- Fahrzeugen berücksichtigen wollen, Ausstoßes bei den Fahrzeugen gesehen. Wir haben eine dramatische Reduktion sonstiger Emissionen bei den (Dr. Dirk Spaniel [AfD]: Ja!) 23984 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Carsten Müller (Braunschweig) (A) aber bei den Fahrzeugen, die technikbedingt aufgrund Wenn wir Transformation wollen, dann geht das nur (C) eines höheren Gewichtes einen deutlich höheren Reifen- mit den Unternehmen, und zwar mit der gesamten Breite, abrieb und deswegen deutlich höhere Partikelausstöße sowohl den OEMs als auch den Zulieferern, und dann haben, nämlich batteriegestützte Elektrofahrzeuge, diese geht das nur mit all den Millionen Mitarbeiterinnen und Emissionsart außerhalb jeder Betrachtung bleiben soll. Mitarbeitern. Das ist nicht sachgerecht. (Beifall bei der SPD) Wir wollen die Umwelt schützen. Wir wollen nach- Meine Damen und Herren, Transformation funktio- haltigen Verkehr. Insofern bitte ich die Bundesregierung – niert nur regional. Wir erleben in der Automobilindustrie, die anderen Punkte, die ich angeführt habe, berücksichti- dass wir sehr unterschiedliche Strukturen haben. Wir gend –, sich dafür kraftvoll in Brüssel einzusetzen. Wir haben teilweise eine intensive Zuliefererstruktur, wir wollen Technologieoffenheit für die Zukunft der Arbeits- haben teilweise OEMs. Deswegen hilft es nicht, eine plätze in Deutschland. Methode auf alle Bereiche anzuwenden, sondern wir müssen es regional organisieren, regional denken und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das dann auch mit regionalen Transformationsfonds neten der FDP – Frank Sitta [FDP]: Geht begleiten. Wir haben doch aus dem Strukturwandel der doch! – Dr. Dirk Spaniel [AfD]: Genau! Ich Kohleindustrie, wo es übrigens nicht darum ging, etwas habe auch mal im Lager bei VW gearbeitet! – zu verändern und fortzusetzen, gelernt, dass der Struktur- Gegenruf des Abg. Carsten Müller [Braun- wandel nur dann funktionieren kann, wenn wir genau schweig] [CDU/CSU]: Daher kennen wir uns wahrscheinlich!) diese regionalen Veränderungen mit regionaler Organisa- tion und Geldern begleiten.

Vizepräsidentin Claudia Roth: Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt sehen, dass in Zukunft mehr als ein Drittel der Wertschöpfung beim Vielen Dank, Carsten Müller. – Der letzte Redner in Automobilbau und in der Mobilität von der Batterie dieser lebendigen Debatte: für die SPD-Fraktion Falko abhängt, dann heißt das ganz klar, dass wir neue Wert- Mohrs. schöpfung und Arbeitsplätze nach Deutschland holen (Beifall bei der SPD) müssen. Jetzt wird immer gesagt: Na ja, es baut ja keiner in Deutschland Batteriefabriken auf. – Das ist doch völl- iger Quatsch. Der chinesische Hersteller CATL baut in Falko Mohrs (SPD): Thüringen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- (B) ren! Deutschland – das hat unseren Wohlstand in all den Vizepräsidentin Claudia Roth: (D) Jahren ausgemacht – ist Industrieland, ist Automobilin- dustrieland, und das – das sage ich ganz deutlich an dieser Herr Mohrs, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung Stelle – wollen und das werden wir bleiben, meine oder -frage von Herrn Dr. Spaniel? Damen und Herren. Falko Mohrs (SPD): (Beifall bei der SPD – Dr. Dirk Spaniel [AfD]: Nein, ehrlicherweise nicht. Ich glaube, der hat vom Nicht mit Ihrer Politik!) Automobilbau bisher nur den Bereich der Forschung, und das nur im Anzug, gesehen. Ich habe ein paar Jahre Natürlich gehört dazu, dass wir auch anerkennen, dass in der Produktion eines Automobilbauers verbracht, Herr Industrie sich verändern muss. Die Klimaziele 2030 und Spaniel. Ihre Hinweise brauchen wir an dieser Stelle 2050 sind angesprochen worden. Aber – das gehört auch nicht. zu uns als verantwortungsvolle Politikerinnen und Poli- tiker in diesem Haus – allein die Ziele zu benennen, ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des natürlich nicht ausreichend, sondern es geht immer Abg. Niema Movassat [DIE LINKE]) darum, auch einen Plan zu haben, wie wir eigentlich die Also, Batteriezellen werden in Deutschland gebaut. Menschen, wie wir die Arbeitsplätze, wie wir die Indust- Wir erleben das mit Herstellern aus dem Ausland. Wir rie genau auf diesem Weg der notwendigen Transforma- erleben das bei Volkswagen, die in Salzgitter eine Pro- tion mitnehmen, meine Damen und Herren. duktion aufbauen. Wir erleben das auch an anderer Stelle. Wenn wir auf das Jahr 2030 schauen, dann sehen wir, Das ist der richtige Weg, meine Damen und Herren. dass wir die Klimaziele nur dann erreichen, wenn wir – je Dafür brauchen wir natürlich einen aktiven Staat, eine nachdem, wie die Verschärfung noch ausgeht; ich hoffe, aktive Industriepolitik. Denn allein zu sagen, in der Elekt- dass wir nicht, wovon manche träumen, auf 60 oder romobilität fallen Arbeitsplätze weg, ohne auch zu sagen, 70 Prozent kommen, ich glaube, 55 Prozent ist schon wo neue Arbeitsplätze entstehen, das wäre wirklich sträf- ambitioniert genug – mehr als die Hälfte der neuen Fahr- lich, und das können wir uns im Hinblick auf die Abhän- zeuge mit alternativen Antrieben ausrüsten müssen. Jetzt gigkeit von asiatischen Herstellern wirklich nicht bieten kann man sagen: Das ignoriere ich alles; jetzt zementiere lassen. ich alte Technologien. – Ich glaube, das wird uns einem (Beifall bei der SPD) Plan der Transformation kein bisschen näherbringen, meine Damen und Herren. Wenn wir die Elektromobilität zum Erfolg führen wollen, dann brauchen wir eine flächendeckende Lade- (Beifall der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD]) infrastruktur. Das ist so ein Lowbrainer; das kann man Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23985

Falko Mohrs (A) leicht sagen. Dazu gehört aber auch, dass wir beispiels- Markus Grübel (CDU/CSU): (C) weise beim Gebäude-Elektromobilitätsinfrastruktur-Ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! setz jetzt nicht plötzlich herausstreichen, dass Leerrohre Religionsfreiheit hat Bedeutung. Über 80 Prozent der verlegt werden müssen, lieber Koalitionspartner. Menschen in der Welt bezeichnen sich selber als religiös. Drei von vier Menschen in der Welt leben in einem Land, (Beifall bei der SPD) das ihre Religionsfreiheit einschränkt. Es gehört dazu, dass wir sowohl im privaten als auch Christen sind als größte Religionsgemeinschaft von im halböffentlichen und im öffentlichen Bereich Lade- der Verletzung der Religionsfreiheit besonders betroffen. infrastruktur fördern, meine Damen und Herren. Denn Ebenso leiden Angehörige anderer Religionen und Welt- es kann überhaupt nicht sein, dass, wenn jemand das erste anschauungen unter Diskriminierung und Verfolgung: Mal ein Elektroauto kauft, dies vielleicht das letzte Mal die Muslime, die Bahai, die Ahmadiyya, Jesiden, Juden, gewesen ist, weil er so schlechte Erfahrungen mit der Atheisten. Ladetechnik macht, dass er am Ende sagt: Diesen Weg Die Entwicklung ist leider negativ. Immer mehr Staa- kann ich nicht mitgehen. – Das wäre tatsächlich sträflich ten schränken die Religionsfreiheit ein, und Einschrän- mit Blick auf all die Milliarden, die die deutsche Industrie kungen durch die Gesellschaft nehmen immer mehr zu. in die Zukunftstechnologie investiert. Das kann durch die eigene Familie sein, den Clan, den Wir wollen Zukunft gestalten. Wir wollen dabei Ar- Mob auf der Straße oder durch Terrorgruppen. beitsplätze erhalten. Deswegen brauchen wir zukünftig Letzte Woche hat das Bundeskabinett den zweiten mehr Wertschöpfung in Deutschland und nicht weniger. Bericht beschlossen. Er stellt drei thematische Schwer- Das geht aber nur mit einer verantwortungsvollen Politik, punkte vor und legt die Situation in 30 Ländern dar. Das meine Damen und Herren. Wir wollen Automobilindust- war auch ein Wunsch aus dem Parlament. Ich nenne rieland bleiben, und wir werden es. Volker Kauder, Michael Brand und viele andere, die Vielen Dank. den Wunsch geäußert haben, auch Länderansätze zu verfolgen. Dieser systematische Länderansatz ist der Un- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. terschied zum ersten Bericht. Damit ist er auch eine wich- Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]) tige Informationsquelle für alle, die international unter- wegs sind: für uns Politiker, für die Berichterstatter in den Vizepräsidentin Claudia Roth: Ländern, für die Wirtschaft, die sich in den Ländern enga- Vielen Dank, Falko Mohrs. – Damit schließe ich die giert, für die Gesellschaft und die zivilgesellschaftlichen Aussprache. Organisationen. (B) Es geht um vier Schritte: Wir müssen hinschauen, wir (D) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf müssen laut aufschreien, wenn die Religionsfreiheit ver- Drucksache 19/23935 an die in der Tagesordnung aufge- letzt wird, wir müssen Bündnisse schließen, und wir müs- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Weitere Vorschläge sen handeln. gibt es nicht, also wird genau so verfahren. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Schauen wir nach China. Dramatisch ist die Lage der Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- muslimischen Uiguren und der buddhistischen Tibeter, gierung sehr schwierig die Lage der Christen und der Anhänger von Falun Gong. Es braucht eine unabhängige Untersu- Zweiter Bericht der Bundesregierung zur chung und Berichterstattung zur Lage der Uiguren in weltweiten Lage der Religionsfreiheit China durch die Vereinten Nationen. (Berichtszeitraum 2018 bis 2019) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Drucksache 19/23820 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- ordneten der FDP) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) Oder schauen wir nach Myanmar. Dramatisch ist die Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Inneres und Heimat Lage der Rohingya. Im August 2017 wurden circa Sportausschuss 720 000 Menschen über die Grenze getrieben. Sie leben Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz dort unter schwierigsten Verhältnissen. Die Weltgemein- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union schaft muss sich dafür einsetzen, dass diese Menschen Ausschuss Digitale Agenda sicher in ihre Heimat zurückkehren können. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten (Beifall bei der CDU/CSU) beschlossen. Immer noch leben Zehntausende Christen und Jesiden Ich warte aber, bis die Kolleginnen und Kollegen ihre im Nordirak in Flüchtlingslagern. Das Misstrauen zwi- Plätze eingenommen haben, bevor ich den ersten Redner schen den Religionsgemeinschaften ist nach wie vor aufrufe. groß. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass der IS die religi- öse Landkarte des Irak dauerhaft zeichnet. Erster Redner in der Debatte: Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der CDU/CSU) ten der FDP und des Abg. Jürgen Braun [AfD]) 23986 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Markus Grübel (A) Schauen wir in den Sudan. Es gibt auch positive Ent- Debatte im Deutschen Bundestag zum Thema Religions- (C) wicklungen: Die Übergangsregierung im Sudan hat die freiheit teilnehmen, und ich hoffe, dass Sie bald die Chan- Todesstrafe für Apostasie abgeschafft. Sie hat Weihnach- ce haben, ihr Jewish Theater in New York wiederzueröff- ten zum Feiertag erklärt. nen. Der Bericht behandelt auch drei länderübergreifende (Beifall bei der AfD) Themen. Das Thema „Blasphemie und Antikonversions- Der islamistische Anschlag von Wien macht uns gesetze“: In elf Staaten der Welt droht Konvertiten die schlagartig klar, wie wichtig die Debatte ist, die wir in Todesstrafe. Das Recht auf Konversion ist quasi der Kern diesem Moment führen. Wir trauern mit Österreich und der Religionsfreiheit, nämlich die Chance, meine Reli- verneigen uns vor den Opfern. gion aufzugeben oder zu wechseln. In 70 Staaten gibt es menschenrechtsverletzende Blasphemiegesetze. In Herr Grübel, wir schätzen Ihre Arbeit als Religions- 99 Staaten gelten Gesetze, die religiöse Gruppen bestra- beauftragter der Bundesregierung sehr; sie ist bitter not- fen, wenn sie versuchen, andere Menschen von ihrem wendig. Wir befürchten nur, dass Ihre eigene Regierung Glauben zu überzeugen. diese Arbeit nicht genügend wertschätzt. Unter dieser Bundeskanzlerin werden Sie wohl kaum alles erreichen Ein zweites wichtiges Querschnittsthema ist die digi- können. hat kein Ohr für verfolgte Chris- tale Kommunikation. Onlinehassrede hat einen verheer- ten. enden Einfluss auf die Religions- und Weltanschauungs- freiheit. Digitale Kommunikation bietet aber auch Klar benennen Sie den antisemitischen Mordanschlag Chancen, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Halle; dafür danken wir Ihnen. Judenfeindlichkeit zu stärken. Wir müssen beides sehen. darf in Deutschland keinen Platz haben. Nie wieder Der dritte Thementeil behandelt die Bildungsangebote, Judenhass – egal von wem! die Fragen: „Wie hängen Bildungschancen von der Reli- (Beifall bei der AfD) gionszugehörigkeit ab?“, und: „Wie ist die Darstellung Es ist auch gut, dass die Einschränkungen der Glau- von Minderheitsreligionen in den Unterrichtsmaterialien bensfreiheit für Christen im Zeichen von Corona Thema der Länder?“ dieses Berichtes sind. Ich füge hinzu: Die komplette und Der Bericht zeigt auch die positiven Potenziale der flächendeckende Absage von Ostergottesdiensten in Religionen. Das Entwicklungsministerium – und Minis- Deutschland war ein verheerendes Signal. Die AfD hat ter Müller – hat das erkannt mit der Strategie „Religion als einzige Fraktion das höchste Fest der Christenheit und Entwicklung“, das Auswärtige Amt mit dem Arbeits- verteidigt. bereich „Religion und Außenpolitik“. (B) (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD sowie (D) Abschließend noch eine kurze Bemerkung zu Extre- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE mismus und Terrorismus. Wir brauchen neben dem inter- GRÜNEN – Christine Buchholz [DIE LINKE]: religiösen Dialog, also dem Dialog zwischen den Reli- Schlechter Witz!) gionsgemeinschaften, auch den intrareligiösen Dialog, das Gespräch der Gemäßigten, der Weltoffenen mit den Wir vermissen eine klare Darstellung der gewaltsamen Radikalen, mit den Gewaltbereiten. Nur so erreichen wir Verfolgung von Christen unter dem Islam, der Mordan- Fortschritte. schläge, der Gewaltmission. Es wird in diesem Religions- bericht einfach nicht klar genug geschrieben: Weltweit ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und die Christenverfolgung das größte Problem. der Abg. Gyde Jensen [FDP]) (Beifall bei der AfD) Wir kommen in der Regel nur an die Gemäßigten heran; denn der interreligiöse Dialog beinhaltet gewöhnlich Die EU-Kommission verharmlost Terroranschläge. Sie Gespräche zwischen Gemäßigten. versucht, berechtigte Islamkritik nach islamistischen Ter- roranschlägen zu unterbinden. Der Islam ist keine Rasse, Ich empfehle Ihnen den Bericht zur Lektüre. und deshalb kann Islamkritik niemals Rassismus sein. Herzlichen Dank. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Keine Religion stellt eine derartige weltweite Gefahr Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sehr gut!) dar wie die extremistischen Teile des Islam. Ja, es gibt auch radikale Hindus; das wissen wir. Hindus sind teil- Vizepräsidentin Claudia Roth: weise radikal – in Indien. Aber sie exportieren keinen Vielen Dank, Markus Grübel. – Nächster Redner: für Terror in alle Welt; das ist der Unterschied. die AfD-Fraktion Jürgen Braun. Der radikale Islam zeigt sich schon wieder als tödliche (Beifall bei der AfD) Gefahr. Christen werden beim Gebet brutal abgeschlach- tet – in Nizza. Homosexuelle werden in Deutschland schwer verletzt und umgebracht – in Dresden. Zu diesem Jürgen Braun (AfD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Mord bis heute nicht einmal die kleinste Trauerbekun- Herren! Liebe Kollegen! Besonders begrüße ich auf der dung der Bundeskanzlerin. Besuchertribüne den israelisch-amerikanischen Schrift- Die Taten der Mörder im Namen des Islam beweisen es steller Tuvia Tenenbom mit seiner fantastischen Gattin einmal wieder: Der radikale Islam gehört nicht zu Euro- Tisi. Ich freue mich besonders, dass Sie hier an unserer pa, der Islam gehört nicht zu Deutschland. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23987

Jürgen Braun (A) (Beifall bei der AfD) druck gebracht: „Religions- und Weltanschauungsfreiheit (C) stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit den Frankreichs Präsident Macron ruft zum Kampf gegen anderen Menschenrechten.“ den Islamismus auf; die Bundesregierung tut das Gegen- teil. Innenminister Seehofer verhöhnt die Opfer des Ter- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rorismus. Begründete Islamkritik soll jetzt mit einem DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sogenannten Expertenkreis zur Bekämpfung von Mus- CDU/CSU und der Abg. Gyde Jensen [FDP]) limfeindlichkeit unmöglich gemacht werden. Ich bin sehr dankbar, dass in dem Bericht angespro- Islamische Staaten verbieten die Abkehr vom Islam, chen wird, wie Staaten Religions- und Weltanschauungs- häufig unter Androhung der Todesstrafe. Ebenso wird freiheit einschränken und – Herr Grübel, Sie haben es jede Islamkritik hart bestraft; auch hier droht der Tod. sehr deutlich gemacht – wie aber auch von vielen Einzel- Mildere Strafen enthält dagegen der § 166 des deutschen nen Weltanschauungsfreiheit und Religionsfreiheit ein- Strafgesetzbuches. Dennoch ist dieser Paragraf kein Ruh- geschränkt werden. Das Beispiel im Kapitel zur Digitali- mesblatt für unseren Rechtsstaat. Dieser Paragraf ist per- sierung empfehle ich sehr zur Lektüre. Darin geht es um vers: Er schützt aggressive Religionsgruppen, und Hass und Hetze, die Einschränkungen der Religionsfrei- Gewalttätigkeit wird belohnt. Dieser § 166 bietet keinen heit zur Folge haben, weil Menschen sich gar nicht mehr Schutz für friedliche Religionen. Er nützt nur den Isla- trauen, ihre Religion zu leben. Das finde ich einen sehr, mextremisten. Deshalb muss er gestrichen werden. sehr spannenden und wertvollen Beitrag in diesem Bericht. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich danke Ihnen. – Nächste Rednerin: für die SPD- Die Religionsfreiheit in den unterschiedlichen Ländern Fraktion Dr. Bärbel Kofler. wurde angesprochen. Es gibt Länder wie China, in denen alle Religionen gleichermaßen angegriffen werden. Es (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Markus gibt Theokratien wie Saudi-Arabien, die es nicht zulas- Grübel [CDU/CSU]) sen, dass jemand keiner Religionsgemeinschaft angehört oder eine andere Religionsgemeinschaft wählt, und Ver- Dr. Bärbel Kofler (SPD): stöße mit dem Tode bedrohen. Es gibt aber auch Regio- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! nen der Erde, in denen Religionen nur der Deckmantel für Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nutze die Gelegen- darunterliegende Konflikte sind, seien es sozioökonomi- heit nicht, auf die Rede des Vorredners einzugehen, son- sche Konflikte, wenn es um Verteilungsfragen, zum Bei- (B) dern zum Kern des Berichtes zurückzukommen, nämlich spiel zwischen bäuerlichen Gesellschaften und Hirtenge- (D) zur Situation der Religions- und Weltanschauungsfreiheit sellschaften, geht, oder seien es auch einfach politische weltweit. Konflikte, in denen eine Konfliktpartei ihr eigenes Süpp- chen, auch manchmal ein sehr nationalistisches Süpp- (Beifall bei der SPD) chen, kocht und die Religion als Deckmantel benutzt Der zweite Bericht der Bundesregierung – der Kollege und missbraucht. Grübel hat ihn vorgestellt – zeigt, wie sehr dieses Recht Einen Satz oder zwei Sätze noch. auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit unter Druck ist, weltweit, in vielen Regionen der Erde, in verschie- densten Facetten und unter verschiedensten Gesichts- Vizepräsidentin Claudia Roth: punkten. Er zeigt aber auch auf, dass damit ein Teil der Einen Satz. Menschenrechte allgemein unter Druck ist. Denn was wir zu beklagen haben, ist, dass das Recht auf Religions- und Dr. Bärbel Kofler (SPD): Meinungsfreiheit in vielen Teilen dieser Erde mit Füßen Erstens ist es wichtig, dass im Bericht auch angespro- getreten wird und dass das leider, leider in einen negati- chen wird, dass man keiner Religionsgemeinschaft ange- ven Trend eingebettet ist, was die Frage angeht, wie Men- hören muss und dass auch das ein Recht ist, das unter- schenrechte allgemein geschützt und gestärkt werden strichen werden muss. können. Hier stellen wir dieselben negativen Trends fest. Zweitens ist es ganz besonders wichtig – da möchte ich Das belegt eigentlich auch ein Bericht ganz gut, den es an die Ausführungen des Kollegen Grübel anschließen –, bereits seit ein, zwei Jahren gibt. Der „Civicus Monitor“ dass Terror im Namen einer Religionsgemeinschaft oder spricht von nur 3 Prozent der Weltbevölkerung, die in gegen Religionsgemeinschaften aufs Schärfste abzuleh- Ländern mit offenen Zivilgesellschaften leben. Für nen ist. Die Beispiele, die wir momentan leider schreck- mich gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen licherweise sehen, von den Anschlägen in Frankreich, der Möglichkeit, in einer offenen Gesellschaft zu leben von den Anschlägen in Wien – und miteinander diskutieren zu können, zuhören zu kön- nen, was in anderen Religionen oder in anderen Weltan- schauungen wichtig ist, und der Fähigkeit, Unterschiede Vizepräsidentin Claudia Roth: aushalten zu können. Diese innere Verfasstheit und diese Frau Kofler. Grundfrage der Menschenrechte sind eben auch im Be- reich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ange- Dr. Bärbel Kofler (SPD): griffen. Im Bericht wird das gut mit dem Satz zum Aus- – ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin – 23988 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: Dabei geht es nicht nur um religiöse Institutionen. Wir (C) Wirklich, sonst muss ich abziehen. sehen gerade in China, was passiert, wenn Nichtreligio- sität staatlich verordnet wird. Die Kommunistische Partei unter Xi Jinping hat das Ziel, der eigenen Bevölkerung Dr. Bärbel Kofler (SPD): jeglichen Individualismus abzuerziehen. Dafür wird – bis hin zu den Terroranschlägen auf die Synagoge in Menschen in Umerziehungslagern quasi ihr Glaube aus- Halle und die Moschee in Christchurch zeichnen ein getrieben. Über 1 Million muslimischer Uiguren in Xin- beredtes Bild, dass die Situation in diesem Bereich leider jiang und Hunderttausende Tibeter müssen diese Entwür- sehr dramatisch ist. digung jeden Tag ertragen. Danke. Meine Damen und Herren, der Staat – das muss die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Quintessenz sein – hat sich aus Glaubensangelegenheiten der Abg. [BÜNDNIS 90/DIE herauszuhalten. GRÜNEN] – [CDU/CSU]: Ein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kleiner Halbsatz!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Trotzdem existieren in 70 Ländern weltweit Blasphemie- Vielen Dank, Bärbel Kofler. – Ja, die letzten Sätze gesetze; Herr Grübel, Sie sprachen es an. Natürlich unter- wurden immer länger; das stimmt. Das waren immer scheiden sich diese Gesetze inhaltlich, aber vor allem große Abschnitte. auch in der Anwendung. Zu diesem Thema gehört auch, dass ein Blasphemieparagraf – so wird er genannt – in Die nächste Rednerin steht schon da: für die FDP- Deutschland immer noch besteht, der § 166 StGB. Er Fraktion Gyde Jensen. kommt aber nicht zur Anwendung. Schon alleine deswe- gen unterscheidet er sich diametral von entsprechenden (Beifall bei der FDP) Gesetzen beispielsweise in Pakistan. Aber Deutschland hat Vorbildfunktion. Wenn ich mit dem ägyptischen Bot- Gyde Jensen (FDP): schafter spreche, hält er mir das entgegen und nutzt es zur Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- Argumentation, warum Ägypten nach wie vor die Todes- nen und Kollegen! Die drittgrößte Glaubensgemeinschaft strafe oder Blasphemiegesetze beibehalten kann. auf dieser Welt sind Atheisten und Agnostiker: Men- schen, die sich bewusst entscheiden, nicht an einen Gott (Beifall bei der FDP) (B) zu glauben, oder offen zugeben, dass sie nicht sicher sind, Ich glaube, genau da liegt ein Punkt, wo wir eine wichtige (D) ob ein Gott existiert. Die gibt es nicht nur in unseren Position einnehmen könnten, wenn wir den Paragrafen westlichen Gesellschaften. Experten schätzen, dass unter abschaffen, jungen Menschen im Nahen und Mittleren Osten jeder Fünfte nicht religiös ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wer allerdings im Iran zu einer registrierten religiösen Minderheit gehört, wird diskriminiert und verfolgt. Wer wie es beispielsweise auch unsere Nachbarn in den Nie- sich gar zum Nichtglauben bekennt, muss die Todesstrafe derlanden oder in Dänemark gemacht haben. fürchten. Wir haben es hier schon gehört, und auch im Doch nicht nur der Staat, meine Damen und Herren, Bericht wird es genannt. schränkt Religionsfreiheit ein; auch die Gesellschaft kann Zum vollständigen Bild der weltweiten Religionsfrei- de facto diesen Raum einschränken. Das passiert, wenn heit gehört nicht nur die Freiheit, zu glauben – wie, an Rechte und Rassisten auch hier im Bundestag gegen wen oder an was man möchte –, sondern auch die Frei- Muslime hetzen, Islamismus mit dem Islam gleichsetzen heit, nicht zu glauben. und dadurch den Nährboden für Hass und Gewaltbereit- schaft schaffen. Es passiert, wenn Juden sich nicht mehr (Beifall bei der FDP) trauen, in die Synagoge zu gehen, die Kippa zu tragen, Hier könnte im nächsten Bericht vielleicht ein Schwer- weil in unseren Straßen Antisemiten lauern. Das passiert punkt gesetzt werden, Herr Grübel. Geflüchteten, die bei uns Schutz suchen, weil sie in ihrer Heimat verfolgt werden, obwohl sie dort nur dem Glau- (Beifall der Abg. [BÜND- ben abgeschworen haben oder christlichen Glaubens sind NIS 90/DIE GRÜNEN]) oder konvertiert haben, und dann hier in Deutschland Meine Damen und Herren, nicht nur wir Liberalen, verfolgt werden. sondern viele hier im Bundestag berufen sich auf die All dem können wir natürlich nicht mit der Abschaf- Aufklärung, die den Atheismus ja sozusagen salonfähig fung von Paragrafen begegnen. Aber es erfordert eine gemacht hat. Denn die Aufklärung hat uns auch die Idee gemeinsame gesellschaftliche Anstrengung, zum Bei- eines säkularen Staates gebracht. Darin liegt eine mög- spiel den interreligiösen Dialog – das „House of One“ liche Antwort auf den weltweiten Rückgang der Reli- ist ja nur ein sehr, sehr gutes Beispiel hier aus Berlin – gionsfreiheit: die konsequente Trennung von Glaube und Staat. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Kommen Sie zum Schluss, bitte. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23989

(A) Gyde Jensen (FDP): Aus aktuellem Anlass möchte ich auf eine wichtige (C) – ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, damit Passage des Berichtes hinweisen. Sie schreiben: „Isla- wir hier und weltweit unseren Glauben frei leben können: mistisch motivierte Terroranschläge (sind) häufig ein den Glauben an einen Gott, an mehrere Götter, an gar Auslöser für anti-muslimischen Rassismus und Hassver- keinen oder an einen anderen als noch heute. brechen gegenüber Musliminnen und Muslimen in Euro- Herzlichen Dank. pa.“ Wir wissen: Die übergroße Mehrheit der Muslime verurteilt Attentate, die Terroristen vorgeblich im Namen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ihrer Religion verübt haben. Die schrecklichen Anschlä- der SPD und des Abg. Kai Gehring [BÜND- ge von Wien, Nizza, Paris und Kabul dürfen nicht dazu NIS 90/DIE GRÜNEN]) genutzt werden, einen Generalverdacht gegen alle Mus- lime zu schüren. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Vielen Dank, Gyde Jensen. – Die nächste Rednerin: für NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- die Fraktion Die Linke Christine Buchholz. ten der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Und sie dürfen kein Vorwand sein, um im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung nachzulassen. Ein näch- Christine Buchholz (DIE LINKE): ster Bericht muss da in den praktischen Konsequenzen Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! noch ein bisschen konkreter werden. Weltweit werden Menschen zunehmend wegen ihres Vielen Dank. Glaubens oder Nichtglaubens unterdrückt. Religiöse (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai Minderheiten werden zu Sündenböcken gemacht, um Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bevölkerungen zu spalten und Macht zu sichern. Das nehmen wir nicht hin. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank, Christine Buchholz. – Nächster Redner: Die Linke verteidigt die Freiheit zum Glauben, die für Bündnis 90/Die Grünen Kai Gehring. Freiheit vom Glauben und die Freiheit, den Glauben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) öffentlich und sichtbar zu leben. Diese drei Dimensionen sind unteilbar; sie gehören zusammen. Das Menschen- recht gilt für alle, ob christlich, muslimisch, jüdisch, bud- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dhistisch oder atheistisch. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) Verfolgung aufgrund der Religionszugehörigkeit gehört (D) (Beifall bei der LINKEN) in vielen Ländern und Regionen leider zum bitteren All- Die Linke fordert wirksame Schlussfolgerungen gegen tag. Der Bericht zur weltweiten Lage der Religions- und die Einschränkung des Menschenrechts auf Religions- Weltanschauungsfreiheit ist dafür ein trauriges Attest, freiheit. Im Bericht zur weltweiten Lage der Religions- und das nehmen wir nicht hin. Als weltweit größte reli- freiheit beschreiben Sie sehr eindrücklich, wie in Ägyp- giöse Gruppe werden Christen leider auch besonders häu- ten religiöse Minderheiten und Gruppen in ihren Rechten fig verfolgt. Dagegen müssen wir protestieren und vor- beschnitten und diskriminiert werden. Aber gleichzeitig gehen. ist Ägypten der größte Empfänger von deutschen Kriegs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN waffen. Das, meine Damen und Herren, passt nicht sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) zusammen. Stoppen Sie die Waffenexporte! Ich glaube, dass unser Wort noch mehr Gewicht hat, (Beifall bei der LINKEN) wenn wir nicht vorrangig oder sogar nur für bedrohte Die Linke begrüßt, dass sich der Bericht auch der Reli- Christinnen und Christen streiten, sondern für das Prinzip gionsfreiheit in Deutschland widmet. Das hatten wir in „Religionsfreiheit für alle“. der letzten Debatte auch angemahnt. Wir stellen fest: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gerade in den Zeiten der Pandemie werden antisemiti- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und sche und islamfeindliche Verschwörungsmythen verbrei- der LINKEN) tet. Nicht erst seit den rechten Terroranschlägen von Hal- le und Hanau ist klar: Es gibt ein großes Problem mit der In der chinesischen Provinz Xinjiang ist die Situation Hetze gegen Juden und Muslime in Deutschland. Der der muslimischen Uiguren hochdramatisch. Spätestens Bericht benennt den Anstieg von gemeldeten antisemiti- seit den „China Cables“ ist das Ausmaß der systemati- schen Straftaten um 13 Prozent und von islamfeindlichen schen Menschenrechtsverletzungen an Uiguren bekannt. Straftaten um 4,4 Prozent im Jahr 2019. Wir wissen, dass Die Regierung muss daher dringend ihre Leisetreterei die Dunkelziffer sehr hoch ist. Religiöse Minderheiten gegenüber China beenden. müssen geschützt werden, weltweit und auch hier in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland. Deutschland muss sich aktiv gegen jede Diffamierung (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- und Verfolgung von Gläubigen, Glaubensgemeinschaf- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ten, religiösen Minderheiten, Konfessionswechslern und GRÜNEN und des Abg. Markus Grübel [CDU/ Konfessionslosen einsetzen, sowohl international als CSU]) auch national. Artikel 4 unseres Grundgesetzes schützt 23990 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Kai Gehring (A) die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Diese Frei- weit massiv unter Druck. Es ist in den letzten Jahren (C) heit darf im Alltag nicht brüchig werden. Wir müssen sie schlimmer und nicht besser geworden. Zweitens – das verteidigen. betont er ausdrücklich, und das ist eine traurige Wahr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heit – sind die Christen nicht nur aufgrund ihrer hohen Zahl, sondern auch, weil sie weltweit als Religionsge- Der Angriff auf die Synagoge in Halle vor einem Jahr meinschaft vertreten sind, die am meisten verfolgte Reli- und die Attacke auf einen jüdischen Studenten in Ham- gionsgruppe in der Welt. Und zunehmend erleben wir burg letzten Monat sind Symptome eines ekelerregenden auch, dass Muslime Muslime unterdrücken und Probleme wachsenden Antisemitismus. Auch muslimfeindliche miteinander haben. Attacken häufen sich und dürfen nicht als Einzeltaten abgetan werden. Eine systematischere Analyse der Situa- Dieser Bericht ist auch deswegen so gut, weil er unse- tion in Deutschland ist in künftigen Berichten daher drin- ren Wunsch, einzelne Länder besonders darzustellen, gend geboten. erfüllt hat und weil er ein Augenmerk auf ein Thema wirft, das wir alle bisher so gar nicht auf dem Schirm (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatten, nämlich das Thema „Bildung und Religionsfrei- sowie bei Abgeordneten der SPD) heit“. Für mich ist besonders interessant, festzustellen, Eine der größten Gefahren für das Menschenrecht auf dass es bis zum heutigen Tage keine wirklich durchgän- Religionsfreiheit ist die fundamentalistische Instrumenta- gig gute Überprüfung dessen gibt, was in Lehr- und Lern- lisierung von Religion. Die islamistischen Anschläge der materialien zum Thema Religion gesagt wird. Wir haben letzten Wochen haben dies einmal mehr gezeigt: Paris, zwar eine kleine Untersuchung in Deutschland durch- Nizza, Dresden, Kabul, Wien. Ob Synagoge, Universität geführt, wo wir geschaut haben, was in unseren Schulbü- oder Ausgehviertel, die Anschläge zielten ab auf Orte der chern zum Islam und zu anderen Religionen steht. Freiheit und der Pluralität. Wir gedenken der Opfer und Ich hätte nun die herzliche Bitte, Markus Grübel, dass stehen fest an der Seite ihrer Angehörigen. wir eine Untersuchung darüber machen, was in Lehr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN materialien, die auch in Deutschland in Koranschulen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und ausgegeben werden, über Religionen – nicht nur über der SPD) das Christentum, sondern auch über andere Religionen – Das betrifft auch den unfassbar brutalen islamistisch- aufgeführt wird. Darum würde ich bitten, dass jetzt sehr schwulenfeindlichen Anschlag auf ein Paar in Dresden. schnell etwas dafür unternommen wird. Die Reaktionen darauf waren mir zu lange zu leise. (Beifall bei der CDU/CSU) Was Opfern und Angehörigen nicht hilft, sind falsche (B) Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen, bevor ich (D) Solidarisierungen derer, die friedliche Muslime und Isla- noch einen Wunsch äußere. Im Bericht wird auch die misten gleichsetzen. Das ist falsch und zutiefst unanstän- Religionsfreiheit in unserem eigenen Land angesprochen. dig. Dazu muss ich sagen: Wenn sich in einer dramatischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pandemiesituation auch Kirchen dazu durchringen kön- sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP nen, ihre Gottesdienste einzuschränken und entsprechen- und der LINKEN) de Schutzmaßnahmen zu ergreifen, hat das mit Ein- schränkung der Religionsfreiheit nun wirklich nichts zu Wir dürfen nicht zulassen, dass Fanatiker und Extremis- tun. Wenn ich sehe, was weltweit – in China und in ten unsere Gesellschaft spalten. Die Antwort auf den anderen Ländern – an Unterdrückung geschieht, dann Terror braucht solidarische Allianzen und mehr Empa- müssen wir darauf achten, dass wir die Dinge beim thie, einen wehrhaften und schützenden Staat und eine Namen nennen und nicht kleine Einschränkungen mit lebendige Zivilgesellschaft, oder – wie Papst Franziskus Einschränkungen der Religionsfreiheit in anderen Län- zum Anschlag in Wien sagte –: „Nur Liebe löscht den dern zusammenbringen. Hass aus.“ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sowie bei Abgeordneten der SPD) ordneten der SPD) Einen besonderen Blick will ich – verbunden mit Vizepräsidentin Claudia Roth: einem Appell an die Bundesregierung – auf das Thema Vielen Dank, Kai Gehring. – Nächster Redner: für die Konversion werfen, das im Bericht großartig angespro- CDU/CSU-Fraktion Volker Kauder. chen worden ist. Wir haben viele Menschen, die aus dem Iran oder aus Afghanistan stammen, die bei uns in (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland zum christlichen Glauben kommen, und da wird uns gesagt, dass es kein Problem sei, wenn die Kon- Volker Kauder (CDU/CSU): vertiten in ihr Land zurückgeschickt werden. Und jetzt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! stellt der Bericht im Länderteil ausdrücklich klar, dass Seit vielen Jahren bin ich mit dem Thema „Religions- Konversion im Iran zu einem wirklichen Problem bis freiheit und Einsatz für verfolgte Christen“ unterwegs. hin zur Todesstrafe wird. Deswegen kann ich nur sagen: Viele Länder habe ich besucht, und deshalb kann ich in Deutschland, das Land der Religionsfreiheit, darf keine weiten Teilen aus eigenem Erleben bestätigen, was konvertierten Christen in ein Land zurückschicken, in Markus Grübel in seinem Bericht wirklich deutlich for- dem ihnen die Todesstrafe droht, meine sehr verehrten muliert. Erstens ist das Recht auf Religionsfreiheit welt- Damen und Herren. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23991

Volker Kauder (A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Religionsfreiheit bedeutet, dass im Bereich der Reli- (C) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE gion alle die gleichen Rechte haben. Das ist genau das, GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD) was Demokratie sagt: Alle haben die gleichen Rechte. Das bedeutet, dass nicht einer seine Religion ausüben Deshalb bitte ich darum, dass die Bundesregierung vor darf und der andere nicht. Das bedeutet auch, dass nicht allem dem BAMF für seinen Länderbericht den Bericht der eine Arbeit bekommt, weil er eine bestimmte Reli- von Markus Grübel zur Verfügung stellt. Nun mein Ap- gion hat, und einem anderen die Arbeit verwehrt wird, pell: Die Bundesregierung wird sich doch wohl an den weil er nicht diese Religion oder eine andere Religion hat. Bericht halten, den sie im Kabinett verabschiedet hat. Das Deshalb müssen sich Demokratinnen und Demokraten müsste zu Änderungen beim Thema „konvertierte Chris- immer für diesen Bereich der Gleichstellung und Gleich- ten und Rückschicken in den Iran“ führen. berechtigung auch im Bereich der Religion aussprechen (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Es dürfen und sich mit allem Nachdruck dafür einsetzen. keine Menschen in den Iran abgeschoben wer- den!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege. Heute ist von verschiedenen Ländern die Rede gewe- sen. Einige sind von den Rednerinnen und Rednern aus- gewählt worden, weil es im Bericht einen Länderteil gibt, Volker Kauder (CDU/CSU): lieber Herr Grübel. Es ist unsere Auffassung, dass es per- Ich weiß. Bitte noch einen letzten Punkt. – Ich habe spektivisch so etwas wie ein Monitoring geben muss, noch eine Bitte, lieber Markus Grübel: Beim nächsten dass wir nicht sagen können: Wir schauen jetzt diese Bericht würde ich mir wünschen, dass im Thementeil 30 Länder an, und alle anderen lassen wir unter den Tisch die Rolle der Frauen in der Religion eine größere Rolle fallen. – Eigentlich braucht es so etwas wie ein Monito- spielt. Denn eines wissen wir: Entwicklung zum Positi- ring. ven ist immer nur über die Frauen möglich. Aber was ich eigentlich sagen will: Auch in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP land ist die Religionsfreiheit ja nicht vom Himmel gefal- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie len. Sie ist mit Napoleon gekommen. Es waren die Frei- bei Abgeordneten der LINKEN) heitskämpfer im 19. Jahrhundert, die sie durchgesetzt haben. Und es war nach 1933, als wir die Religionsfrei- (B) Vizepräsidentin Claudia Roth: heit in den Abgrund gestoßen haben. Vor diesem Hinter- (D) Oh, danke schön, Herr Kauder. grund ist es mir wichtig, dass wir in der Welt freundlich und demütig für Religionsfreiheit werben und uns dafür (Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Hat sich einsetzen, aber niemals überheblich. doch gelohnt, Herr Kauder!) Ein Kollege aus dem Europäischen Parlament hat sich – Auch das darf kein Kriterium sein. in diesen Tagen zu Wort gemeldet. Da ging es auch – ich Vielen Dank, Volker Kauder. – Nächster Redner: für komme noch mal auf Volker Kauder zurück – um die die SPD-Fraktion Dr. Lars Castellucci. Frage, was im Moment mit den Kirchen in Deutschland und den Gottesdiensten ist, und es wurde gesagt, es sei ja (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Markus eine willkürliche Entscheidung, dass jetzt weiter Gottes- Grübel [CDU/CSU]) dienste gefeiert werden könnten. Das sei doch höchstens für die Gläubigen wichtig. – Dem möchte ich an dieser Stelle widersprechen; denn die Grundrechte sind nicht Dr. Lars Castellucci (SPD): nur für die wichtig, die sie in Anspruch nehmen wollen, Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sondern die Grundrechte stehen in unserer Verfassung. sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen Deswegen sind diese Grundrechte für uns alle wichtig, und Kollegen! Herr Kauder, ich möchte Ihnen für den und wir müssen uns auch für alle Grundrechte einsetzen, Hinweis auf die Konvertiten und darauf, dass man nie- unabhängig davon, ob wir persönlich von ihnen in einem manden in den Tod zurückschicken darf, ausdrücklich bestimmten Moment Nutzen ziehen oder nicht. danken und Ihnen hiermit auch die Unterstützung der SPD-Fraktion bei diesem Anliegen aussprechen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) der CDU/CSU) Zu diesem „für alle“ möchte ich noch einen letzten Wir haben einen Bericht vorliegen, der bedrückend ist, Punkt ansprechen. Ich erinnere noch mal an die Rede der uns aufzeigt, dass die Religionsfreiheit weltweit von Frau Mohamed Ali gestern, die auch einen kleinen immer stärker unter Druck gerät. Und wir wissen, dass Scheinwerfer auf diese Situation gelegt hat. Es ist in auch die Demokratie weltweit auf dem Rückzug ist. Das Deutschland im 19. Jahrhundert und auch bei der Wei- ist kein Zufall; denn es gibt keine Demokratie ohne Reli- marer Reichsverfassung darüber gesprochen worden, ob gionsfreiheit. diese Religionsfreiheit nicht eigentlich eine ist, die man nur den Christinnen und Christen zuspricht. Nach dem, (Beifall des Abg. Michael Theurer [FDP]) was ich gesagt habe und was, glaube ich, jetzt praktisch 23992 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Dr. Lars Castellucci (A) jeder in diesem Raum teilt, ist klar: Nur Christinnen und Pressefreiheit, keine Demokratie, keine Freiheit von (C) Christen Religionsfreiheit zuzusprechen, ist keine Reli- Kunst und Kultur und dadurch letztendlich auch keine gionsfreiheit, Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben. Und übrigens: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Leni Keinem Glauben anzugehören, ist auch ein Grund- Breymaier [SPD]: Das ist Christenfreiheit!) bestandteil der Religionsfreiheit. sondern Religionsfreiheit muss dann auch für alle gelten. Die Bundesregierung hat am 28. Oktober den zweiten Und gleichzeitig spürt man bei manchen Debatten in Bericht zur Lage der weltweiten Religionsfreiheit vorge- diesem Land, dass es ein bisschen die Haltung gibt: Die stellt. Die Feststellungen in diesem Bericht sollten uns Religionsfreiheit ist erst mal die Religionsfreiheit der ein Alarmsignal sein; denn sie zeigen eine zunehmende Mehrheitsreligion, und die anderen haben die Religions- Gefährdung der Religionsfreiheit weltweit auf. Über freiheit auch, aber nur, wenn sie sich anständig verhal- 70 Staaten haben heute noch Blasphemiegesetze. Denken ten. – Dazu möchte ich sagen: Sich anständig zu verhal- wir an den Iran – Volker Kauder hat es angesprochen –: ten, ist ein guter Ratschlag, der sich an alle Menschen in Wenn man den Glauben wechselt oder unter das Blasphe- diesem Land richtet. Die Religionsfreiheit ist genauso ein miegesetz fällt, dann wird man mit dem Tode bedroht. Recht, das allen Menschen in diesem Land zusteht. Der Bericht zeigt aber im zweiten Teil auch auf, wie es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu einem Anwachsen der Hassreden in den sozialen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Medien kommt. Christen als größte Glaubensgemein- CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) schaft weltweit werden diskriminiert, verfolgt, gefoltert und getötet. Hier empfehle ich auch einen Blick in den Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor diesem Weltverfolgungsindex von Open Doors 2020, der ein Hintergrund ist eines der wichtigsten Dinge, die wir düsteres Bild zeichnet. machen können, um weltweit für Religionsfreiheit zu werben, uns selber für sie hier in diesem Land einzuset- Aber auch Angehörige anderer Religionen leiden zen und Vorbilder zu sein. Das bedeutet vor allem, immer darunter; darüber haben wir heute auch schon gespro- wieder neu aufeinander zuzugehen. chen. Zu erwähnen sind die Unterdrückung der muslimi- Vielen Dank. schen uigurischen Minderheit im chinesischen Xinjiang, die Falun Gong, die Tibeter, die Vertreibung der Roh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ingya durch Buddhisten in Myanmar, der Terror an Chris- der CDU/CSU) ten und Muslimen in Nigeria durch Boko Haram und nicht zuletzt die Gefährdung der Juden weltweit, aber Vizepräsidentin Claudia Roth: leider auch in Deutschland. (B) (D) Vielen Dank, Dr. Lars Castellucci. – Der letzte Redner Deswegen müssen wir uns hier weiterhin einsetzen. in dieser Debatte: Sebastian Brehm für die CDU/CSU- Wir dürfen nicht aufgeben. Im Gegenteil: Wir müssen Fraktion. uns für dieses zentrale Menschenrecht, für die Glaubens- (Beifall bei der CDU/CSU) und Religionsfreiheit, noch stärker einsetzen. Deswegen danke ich Markus Grübel für sein großes Engagement an Sebastian Brehm (CDU/CSU): dieser Stelle, aber auch Volker Kauder, der sich seit Jahr- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zehnten für Religionsfreiheit und insbesondere gegen die Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist die zentrale Christenverfolgung ausspricht und hier engagiert ist. Säule des menschlichen Miteinanders, die in diesen Herzlichen Dank für dieses große Engagement! Tagen unsere Aufmerksamkeit und unsere Stärkung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mehr denn je braucht. Wir schauen mit großer Sorge ordneten der SPD) auf die grausamen Ereignisse von Nizza – Partnerstadt meiner Heimatstadt Nürnberg –, Wien und anderen Orten Ich kann abschließend nur noch mal sagen: Ich bin der und verurteilen scharf den Extremismus, der mit Reli- tiefsten Überzeugung: Religionsfreiheit ist das Kernele- gionsfreiheit absolut nicht vereinbar ist und der mit Reli- ment und das zentrale Menschenrecht. Ist die Religions- gion auch absolut nichts zu tun hat. Dieser Extremismus freiheit in Gefahr, sind die Menschenrechte in Gefahr. stiftet Hass und führt zu sinnloser Gewalt. Deshalb stehen Das dürfen wir nicht zulassen, liebe Kolleginnen und wir bei den Familien der Opfer, sie haben unser tiefstes Kollegen. Mitgefühl. Gleichzeitig sagen wir deutlich: Wir müssen Herzlichen Dank. Extremismus mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämp- fen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Damit schließe ich Aus dem zentralen Grundrecht und zentralen Men- diese sehr wichtige Aussprache. schenrecht der Religionsfreiheit heraus leiten wir alle anderen Menschenrechte ab. Steht es um die Religions- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf freiheit schlecht, so wirkt sich das unmittelbar auf den Drucksache 19/23820 an die in der Tagesordnung aufge- Zustand der anderen Freiheiten aus. Wenn es keine Reli- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine wei- gionsfreiheit gibt, dann gibt es keine Meinungs- und teren Vorschläge. Dann werden wir so vorgehen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23993

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf: schränkungen ganz besonders betroffen. Deshalb ist es (C) umso wichtiger, dass wir sie in den Blick nehmen und a) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- uns darum kümmern, dass es ihnen gut geht. desregierung In diesem Sinne betrachten wir auch den achten Alters- Achter Bericht zur Lage der älteren Gene- bericht der Bundesregierung. Wir werfen dabei ein ganz ration in der Bundesrepublik Deutschland besonderes Schlaglicht auf das Thema Digitalisierung. Ältere Menschen und Digitalisierung Wir haben Sachverständige gebeten, ein ausführliches Lagebild dazu darzustellen. Es ist ganz deutlich: Man und ist nie zu alt fürs Internet. Stellungnahme der Bundesregierung Dafür braucht es zwei Dinge: Es braucht Zugang, aber es braucht auch Kompetenzen. Der Zugang zu den digita- Drucksache 19/21650 len Diensten, der Ausbau der Breitbandversorgung, die Überweisungsvorschlag: Ausweitung von kostenlosen Internetzugängen in Kom- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss Digitale Agenda munen und Pflegeeinrichtungen, das ist eine Aufgabe, bei der Bund, Länder und Kommunen, aber auch die Wirt- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des schaft gefragt sind. Berichts des Ausschusses für Familie, Seni- oren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu Die Digitalisierung: Sie betrifft alle Lebensbereiche. dem Antrag der Abgeordneten Otto Fricke, Deshalb unterstützen wir auch in den verschiedensten Grigorios Aggelidis, Dr. Andrew Ullmann, Lebensbereichen. Wir haben ein Projekt mit dem Malte- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der ser Hilfsdienst, das noch in diesem Jahr Einrichtungen FDP und Treffpunkte mit Technik ausstatten wird, in denen Seniorinnen und Senioren zusammenkommen und in Videotelefonie allen Bewohnern in Alten- denen auch ältere Menschen Unterstützung bei der Be- und Pflegeheimen zugänglich machen dienung erhalten sollen. Unser Programm „Leben wie gewohnt“ wird beispielgebende und modellhafte Bau- Drucksachen 19/20531, 19/24050 und Investitionsprojekte zum digitalen und technikge- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten stützten Wohnen fördern. Es gibt diverse Standorte, an beschlossen. – Ich bitte, andere Gespräche einzustellen. denen das schon ausprobiert wird; das Thema Smarthome Ich bitte die Kollegen – es sind alles Kollegen –, Platz zu ist für ältere Menschen ganz besonders wichtig. nehmen. Wir brauchen eine Entwicklung digitaler Angebote, (B) Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der die auch an die Bedarfe von älteren Menschen anknüpft (D) Bundesministerin Dr. Franziska Giffey. und die Frage „Wie können diese Angebote intuitiv be- dient werden?“ im Blick hat, damit nötige Kenntnisse (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katharina und Kompetenzen auch leicht erworben werden können. Landgraf [CDU/CSU]) Auch innerhalb der älteren Generation gibt es eine digi- tale Spaltung zwischen Internetaffinen und den Zurück- haltenden. Dr. Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Darum machen wir Angebote, zum Beispiel mit unse- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen rem Projekt „Digitaler Engel“, indem wir mit einem und Herren Abgeordnete! Wer sich ein langes Leben mobilen Beratungsteam in ganz Deutschland unterwegs wünscht, der kommt am Älterwerden nicht vorbei. Im sind: in Senioreneinrichtungen, aber auch in den Mehr- Bundesseniorenministerium arbeiten wir dafür, dass generationenhäusern. Oder wir arbeiten mit der BAGSO, Menschen gut älter werden können. Wir wollen, dass der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisatio- sie so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden nen, um eben auch die Plattform wissensdurstig.de zu selbstbestimmt leben können. Wir beschäftigen uns mit unterstützen und dabei mitzuhelfen, dass digital und ana- Themen wie dem altersgerechten Wohnen, dem Umgang log gut zusammengehen. mit Demenz, wozu wir auch gerade die Nationale Mir ist wichtig, zu sagen: Digital alleine reicht nicht. Demenzstrategie beschlossen haben. Digitalisierung ist natürlich kein Ersatz für menschliche Wir wollen, dass Menschen an der Gesellschaft teil- Nähe und Gemeinschaft. Deshalb ist es wichtig, dass das haben können, egal wie alt sie sind. Dazu fördern wir analoge Leben auch in Zeiten der Pandemie älteren Men- über 500 Mehrgenerationenhäuser. Wir unterstützen Pro- schen eine Teilhabe ermöglicht. Wir wollen keine Zwei- jekte gegen Einsamkeit und kümmern uns auch um die klassengesellschaft, in der wir sagen: Die einen dürfen Digitalisierung. Wir wollen, dass ältere Menschen im raus, die anderen müssen drinbleiben, und die Älteren Bedarfsfall gut versorgt sind. Auch das unterstützen können eben nicht teilhaben. – Wir wollen, dass Alt und wir, zum Beispiel mit der Konzertierten Aktion Pflege, Jung gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben – auch aber zum Beispiel auch mit der Ausbildungsoffensive in der Pandemie – teilnehmen können. Pflege für mehr Nachwuchskräfte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir nehmen ältere Menschen in den Blick, ihre Wün- der CDU/CSU) sche und ihre Bedürfnisse. Gerade in diesen Zeiten wäh- So sollte auch die Seniorenpolitik gestaltet sein, und der rend der Coronapandemie sind ältere Menschen von Ein- achte Altersbericht bestätigt uns auf diesem Weg. 23994 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Bundesministerin Dr. Franziska Giffey (A) Herzlichen Dank. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE (C) GRÜNEN]: Das ist kein Thema für die Spal- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tung der Gesellschaft!) der CDU/CSU) 692 Millionen Euro wofür? Integration, meine Damen und Herren, ist eine Bringschuld. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Franziska Giffey. – Nächster Redner: (Beifall bei der AfD) für die AfD-Fraktion Frank Pasemann. Im Einzelplan 17 finden wir verschleiert 152 Millionen für das Programm „Demokratie leben!“. 152 Millionen (Beifall bei der AfD) Euro wofür? Für ein linkes Gesellschaftsprojekt, welches niemand außer den Linken zur finanziellen Ausstattung Frank Pasemann (AfD): ihrer Netzwerke braucht. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin Giffey! Diese über 800 Millionen Euro stehen einer lächer- Sehr geehrte Damen und Herren! Der Achte Bericht zur lichen Haushaltsposition von 12,5 Millionen Euro für Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik ältere Menschen gegenüber. Wäre dieses Steuergeld nicht Deutschland beschäftigt sich auf circa 130 Seiten im deutlich besser in unsere deutschen Landsleute, insbeson- Jahr der Coronapandemie mit der Digitalisierung – ver- dere Kinder und Senioren, investiert? Starke Familien wunderlich! Die Fraktion der FDP fordert nun als brave sind nicht nur die beste Vorbeugung gegen Vereinzelung Serviceopposition Videotelefonie für Alten- und Pflege- und Vereinsamung, sie bilden auch ein resilientes Boll- heime und möchte hierfür 70 Millionen Euro ausgeben. werk gegen Kriminalität und Terrorismus. Die Terroratta- Gleichzeitig legen Sie aber dar, dass derzeit in vielen cken in Nizza, Paris, Dresden und Wien zeigen doch eins Heimen die notwendige Infrastruktur nicht verfügbar ganz deutlich: Ihre Multikultipolitik ist gescheitert! Die ist, geschweige denn für die potenziellen Nutzer gratis Art der von der derzeitigen Bundesregierung gewünsch- zugänglich wäre. ten Integration ist reine Fiktion. Liebe Kollegen der FDP, Ihr Antrag ist gut gemeint, Fördern wir endlich wieder die Familie als Kern von aber nicht gut gemacht. Gut gemacht wäre die Forderung Volk und Nation! Bekämpfen wir den islamistischen Ter- nach einer Politikwende: zurück zu einer funktionieren- ror aufs Schärfste! den Gesellschaft, in der Alte nicht abgeschoben werden, Vielen Dank! ja allzu oft abgeschoben werden müssen – (Beifall bei der AfD – Kordula Schulz-Asche (Beifall bei der AfD) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich hoffe, (B) (D) abgeschoben werden, weil sie nicht in die Selbstverwir- dass viele ältere Menschen Ihre Rede gehört klichungskonzepte der nachrückenden Generation pas- haben! So eine Arroganz, so mit den Proble- sen, abgeschoben aber auch, weil viele Familien heutzu- men älterer Menschen umzugehen!) tage allein von einem Einkommen nur mehr schlecht als recht leben können. Die Vision der Digitalisierung gesell- Vizepräsidentin Claudia Roth: schaftlicher Grundbedürfnisse nach menschlicher Nähe Nächster Redner: Stephan Pilsinger für die CDU/CSU- und familiären Bindungen ist im höchsten Maße verstö- Fraktion. rend, weil dystopisch. (Beifall bei der CDU/CSU) Was die Digitalisierung im Büro schon nicht leistet, nämlich persönliche Kontakte zu ersetzen, wird sie im Stephan Pilsinger (CDU/CSU): Bereich der sozialen Kontakte und Beziehungen der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Familien erst recht nie können. Dieser Bericht und der Thematik der Digitalisierung greift der achte Alters- verbundene Antrag belegen aufs Neue die Unfähigkeit bericht Entwicklungen auf, die aktuell die Gesellschaft der Bundesregierung und leider auch der FDP, eine Poli- in vielfältiger Weise und in ganz unterschiedlichen Be- tik der sinnvollen Stärkung der traditionellen Familie auf reichen verändern. Die zunehmenden Technisierungs- den Weg zu bringen, und Digitalisierungsprozesse betreffen dabei auch die (Beifall bei der AfD) Lebenswelt älterer Menschen. Wenn es darum geht, im Alter selbstbestimmt zu leben und an der Gesellschaft der traditionellen Familie, die eben nicht nur aus Vater, teilzuhaben, dann spielt seit einigen Jahren der Einsatz Mutter, Kind besteht, sondern nur generationsüber- technischer Produkte und Anwendungen eine immer stär- greifend funktioniert. Sie allein ist der Nukleus einer kere Rolle. Technische Geräte und digitale Anwendun- funktionierenden demokratischen Gesellschaft. Sie ist gen haben das Potenzial, alltägliche Aufgaben so zu er- die organische Lebensform, die sich über die Generatio- leichtern, dass sie auch bei körperlichen oder geistigen nen hinweg erstreckt und in der sich die Partner des Einschränkungen noch selbstständig verrichtet werden traditionellen Generationenvertrages gegenseitig und können. ganz selbstverständlich unterstützen. Digitalisierung ist außerdem ein Treiber für Forschung Im Einzelplan 06 des Bundeshaushalts 2021 findet und technologische Entwicklungen. Die entsprechenden man unter dem Titel „Durchführung von Integrationskur- Produkte und Dienstleistungen sind Wirtschaftsfaktoren sen nach der Integrationskursverordnung“ für 2021 eine mit erheblichem Potenzial. Vor dem Hintergrund dieser Summe von über 692 Millionen Euro. verschiedenen Dynamiken und Interessen ist es für die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23995

Stephan Pilsinger (A) Seniorenpolitik wichtig, zu wissen, inwiefern Technisie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) rung und Digitalisierung ältere Menschen tatsächlich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des darin unterstützen, selbstbestimmt zu leben und an der Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) Gesellschaft teilzuhaben. Daher gilt mein Dank sowohl unserer Bundesfamilienministerin Franziska Giffey als Eine Entschuldigung der Ministerin bei unseren Pflege- auch der Bundesregierung, die sich mit dem achten kräften für diese diffamierende Serie halte ich daher für Altersbericht des wichtigen und hochaktuellen Themas längst überfällig. „Ältere Menschen und Digitalisierung“ angenommen hat. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Unerlässlich für eine gute Pflege von Seniorinnen und Senioren ist aber eine professionelle Altenpflege durch Die Pflegekräfte in unserem Land leisten täglich Groß- qualifiziertes Pflegepersonal. Daher möchte ich auch die es – nicht nur während der Coronapandemie –, und dafür Serie „Ehrenpflegas“, ein Projekt im Rahmen der Kam- haben sie unseren größten Respekt verdient. pagne des Bundesfamilienministeriums für die neue Pfle- geausbildung, nicht unangesprochen lassen. Um Jugend- Vielen Dank. liche für eine Ausbildung in der Pflege zu begeistern, hat das Bundesfamilienministerium diese Serie mit Kosten in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Höhe von 700 000 Euro in Auftrag gegeben. Die Serie neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) soll auf unterhaltsame Weise über den Pflegeberuf infor- mieren und auf die Chancenvielfalt der neuen Pflegeaus- Vizepräsidentin Claudia Roth: bildung aufmerksam machen. Vielen Dank, Stephan Pilsinger. – Nächster Redner: für Dies ist dem Bundesfamilienministerium aber leider die FDP-Fraktion Grigorios Aggelidis. mehr als missglückt. (Beifall bei der FDP) (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Darstellung des Berufsbilds der Pflege in dieser Serie Grigorios Aggelidis (FDP): ist hochgradig unsachlich und geht an den Realitäten von Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Ausbildung und Berufspraxis vollständig vorbei. Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal den Altenbericht zum Anlass nehmen, hier ein ganz deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liches Dankeschön an alle älteren Menschen in unserem (B) sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Land zu sagen für all das, was sie für uns getan haben, (D) Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) damit wir in einem der wohlhabendsten und freiesten Die Serie „Ehrenpflegas“ verletzt das berufliche Selbst- Länder der Welt leben können. verständnis unserer Pflegekräfte und ihr Berufsethos. Mehr noch: Sie missachtet die Professionalität unserer (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Pflegekräfte. der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) Pflicht und die Verantwortung, alles zu unternehmen, Insbesondere zwei Aspekte empfinde ich als äußerst damit auch für die älteren Menschen in unserem Land kritikwürdig: das Credo „Selbstbestimmt in allen Lebenslagen“ Reali- tät ist. Dazu gehört für uns Freie Demokraten selbstver- Der erste Kritikpunkt ist, dass vor allem in der ersten ständlich die Teilhabe am sozialen, kulturellen und ge- Folge suggeriert wird, dass die Pflegeausbildung für alle sellschaftlichen Leben. Eine gute niederschwellige Menschen geeignet ist, die sonst keine Perspektive hät- Infrastruktur, was Mobilität, Gesundheit, soziales Leben, ten. Aber: Professionelle Pflege können nicht alle leisten! persönliche Kontakte und seniorengerechtes Wohnen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und betrifft, ist hier besonders wichtig. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Darüber hinaus stellt der Altenbericht fest: Eine zent- Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) rale Rolle spielt heute schon – sie wird zukünftig eine Wir brauchen junge Menschen, die lernen wollen, die noch größere Rolle spielen – die Digitalisierung: die Fra- Verantwortung übernehmen wollen und die die Fähigkeit ge des Zugangs in die digitale Welt und die Möglich- dazu haben, Menschen professionell und respektvoll zu keiten der digitalen Teilhabe. Dies ist schon in normalen versorgen. Zeiten eine besondere Herausforderung, die die Bun- desregierung bisher verkannt, man kann auch sagen: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und verschlafen hat. In Pandemiezeiten sind diese Fragen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des geradezu existenziell, also fast lebensnotwendig. Die Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) Sachverständigenkommission empfiehlt, dafür Sorge zu Der zweite Kritikpunkt ist, dass mit der Serie Kli- tragen, dass in allen Wohnformen älterer Menschen Inter- schees bedient werden, gegen die unsere Pflegekräfte netzugänge bereitstehen und genutzt werden können: Pri- und der gesamte Pflegebereich seit Jahren ankämpfen vatwohnungen, betreutes Wohnen, Bewohnerzimmer in müssen. den stationären Versorgungseinrichtungen. 23996 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Grigorios Aggelidis (A) Genau das fordert am Ende des Tages schon unser Die Bundesregierung teilt darüber hinaus die Auf- (C) Antrag aus dem Juni: ein Förderprogramm in Höhe von fassung der Kommission, eine gute technische Infra- 70 Millionen Euro für den Ausbau des Internetzugangs struktur sicherzustellen. Sie ist eine der zentralen sowie die Beschaffung einer technischen Basisausrüs- Voraussetzungen für Teilhabe und Selbständigkeit. tung in Pflege- und Senioreneinrichtungen, Die Digitalisierung betrifft alle Bereiche unserer (Beifall bei der FDP) Gesellschaft und Wirtschaft. und zwar zur Ermöglichung der Videotelefonie als erstem Weiter heißt es: Schritt für die Bewohnerinnen und Bewohner, und das Der Gefahr, hier von wichtigen Teilhabemöglichkei- gegenfinanziert. Kurzfristig müssen hierbei der generelle ten ausgeschlossen zu werden, muss stärker begeg- Internetanschluss sowie die Beschaffung der Basisaus- net werden. rüstung priorisiert werden. Mittelfristig sind unserer Überzeugung nach die Pflege- und Senioreneinrichtun- Sehr geehrte Bundesregierung, das ist ein Zitat aus der gen dahin gehend zu ertüchtigen, dass den Bewohnern Stellungnahme zum siebten Altenbericht von 2016. Heu- auch die Videotelefonie und der Internetzugang und die te reden wir über den achten, und dieser stellt fest: Wir Teilhabe in ihren Privaträumen ermöglicht wird. haben es mit einer massiven digitalen Spaltung unter älteren Menschen zu tun. Viele Menschen können sich Eins möchte ich noch einmal betonen, weil das von Geräte nicht leisten, es fehlt an Wissen, und es fehlt an einigen immer wieder bewusst missverstanden oder Kompetenzen. Und viele ältere Menschen, insbesondere schon fast Fake-News-mäßig verbreitet wird: Für uns im ländlichen Raum, haben nicht mal einen Internetan- sind das alles zusätzliche Möglichkeiten, die genutzt wer- schluss, oder der, den sie haben, ist zu langsam. den können – neben dem persönlichen Kontakt, der per- sönlichen Teilhabe, natürlich unter Beachtung der ent- Im Januar wurde Ihnen der Bericht übergeben. Seitdem sprechenden Hygienekonzepte. ist digitale Teilhabe älterer Menschen durch Corona umso (Beifall bei der FDP) wichtiger geworden. Missstände haben sich verschärft. Viele Menschen sind zu Hause oder im Pflegeheim von Darüber hinaus unterstützen wir natürlich auch die digitaler Kommunikation abgetrennt. Hier müssen wir weiteren Forderungen aus dem Altenbericht, wie bei- schnellstmöglich voranschreiten. spielsweise ältere Menschen bei der Umsetzungsstrategie „Digitalisierung gestalten“ einen deutlich höheren Stel- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. lenwert beizumessen. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Der Bericht wird sehr deutlich, und auch wir Linke (B) Vizepräsidentin Claudia Roth: sagen: (D) Kommen Sie zum Schluss. Erstens. Wir brauchen flächendeckendes Internet im ganzen Land und in allen Pflege- und Altenheimen. Grigorios Aggelidis (FDP): Ja, letzter Gedanke. – Wir sollten die Technologien als Zweitens. Ältere Menschen, die in Armut leben, müs- Chance für ältere Menschen, auch im Pflegebereich, nut- sen Geld für einen Internetanschluss und für digitale zen. Sie bieten die Chance, Generationen stärker zusam- Geräte erhalten. menzuführen. Wir sollten – last, but not least – ein Mo- nitoring zum Thema „Digitalisierung für ältere Drittens. Wir brauchen wohnortnahe Unterstützungs- Menschen“ einführen. angebote, die Kompetenzen im Umgang mit digitalen Geräten vermitteln. Ältere Menschen haben ein Recht Selbstbestimmt in allen Lebenslagen sein zu können, auf digitale Teilhabe, und die Bundesregierung muss da- Teilhabe auch für ältere Menschen in unserem Land zu für sorgen, dass das schnellstmöglich verwirklicht wird. sichern – dafür ist unser Antrag ein Schritt, aber ein wichtiger Schritt. Unterstützen Sie bitte dieses Anliegen! Es wurde bereits angesprochen: Neue Technologien Stimmen Sie unserem Antrag zu! können dazu beitragen, dass Menschen eben länger in ihren eigenen vier Wänden wohnen können. Hausnotruf- Herzlichen Dank. systeme, Sensoren, die bei Stürzen das Pflegepersonal (Beifall bei der FDP) oder die Nachbarn informieren, oder auch Haushaltsro- boter können dabei helfen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Auch der Kontakt zu anderen Menschen kann erleich- Vielen Dank, Herr Aggelidis. – Nächste Rednerin: für tert und Einsamkeit kann reduziert werden: durch Video- die Fraktion Die Linke Katrin Werner. anrufe, durch die Nutzung von sozialen Medien und Apps (Beifall bei der LINKEN) für Nachbarschaftshilfe. Gerade in Coronazeiten ist das alles superwichtig. Ebenso können Gesundheitspräven- tion und Pflege verbessert werden. Katrin Werner (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Bei allen Chancen, die die Digitalisierung bietet, ist für und Herren! Wir beraten heute den achten Altersbericht uns Linke aber klar: Nichts, aber auch gar nichts ersetzt der Bundesregierung mit dem Titel „Ältere Menschen den persönlichen Kontakt. Direkte Kontakte und Begeg- und Digitalisierung“. Am Anfang möchte ich kurz zitie- nungen müssen durch die Digitalisierung ermöglicht ren: bzw. ergänzt und eben nicht ersetzt werden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23997

Katrin Werner (A) Pflegeheime sind in den letzten Jahren kaputtgespart Lassen Sie mich meine Rede mit zwei positiven Bei- (C) worden. Es fehlt massiv an Pflegekräften und an digitaler spielen beenden: Ich möchte darauf hinweisen, dass der Infrastruktur. Das verhindert Teilhabe und Kommunika- Verein „Wege aus der Einsamkeit“ mit dem regen Twit- tion von Bewohnerinnen und Bewohnern. In der Pande- teraccount „Altersfreuden“ ein ganz vielfältiges Angebot mie zeigt sich das besonders deutlich. Wir müssen hier für ältere Menschen bietet, das sehr interessant ist. Ich dringend schneller und mehr investieren. kann nur empfehlen, dem zu folgen. (Beifall bei der LINKEN) Mein zweites Beispiel: Ich war vor zwei Wochen in Wiesbaden in einem Quartiersprojekt für ältere Men- schen, das im Radius von 500 Metern Teilhabe und Hil- Vizepräsidentin Claudia Roth: fen für ältere Menschen organisiert, mit einer fertigen Vielen Dank, Katrin Werner. – Nächste Rednerin: für Internetplattform und mit vielfältigen Hilfsangeboten – Bündnis 90/Die Grünen Kordula Schulz-Asche. aber ohne Finanzierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt in Deutschland viele, viele gute Projekte, meine Damen und Herren; aber wir brauchen endlich eine flä- chendecke Kraftanstrengung. Wir brauchen Personal und Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Geld, um dabei zu helfen, die Einsamkeit älterer Men- NEN): schen zu vermeiden und gute soziale Teilhabe bis ins Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hohe Alter tatsächlich sicherzustellen. möchte zunächst Danke sagen für den achten Altersbe- richt „Ältere Menschen und Digitalisierung“; denn durch Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Corona ist dieses Thema so aktuell wie noch nie. Danke (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sage ich auch an das Deutsche Zentrum für Altersfragen, das seit dem ersten Altenbericht 1993 wissenschafts- basiert die Teilhabe älterer Menschen in unserer Gesell- Vizepräsidentin Claudia Roth: schaft in den Mittelpunkt stellt. Ich möchte auch der En- Vielen Dank, Kordula Schulz-Asche. – Nächste Red- quete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ dieses Haus nerin: für die SPD-Fraktion Ursula Schulte. danken, die das große und wichtige Thema Gesundheit (Beifall bei der SPD) aufgegriffen hat. Ich glaube, dass das allen weiterhilft, um gute Politik zu machen. Ursula Schulte (SPD): ([Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich näher auf den achten Altersbericht (B) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (D) der SPD) „Ältere Menschen und Digitalisierung“ eingehe, sind mir folgende persönliche Anmerkungen sehr wichtig: Älter Leider kommen viele dieser Empfehlungen viel zu sel- sein, alt sein ist so viel mehr als Pflegebedürftigkeit und ten und bei viel zu wenigen Menschen an. Die Themen Krankheit. „Digitalisierung“ und „Netzausbau“, der Voraussetzung ist, dürfen nicht das gleiche Schicksal erleiden. Was ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten also zu tun? der CDU/CSU) Gerade angesichts des Coronavirus hat sich dieser einge- Erstens. Es braucht Akzeptanz für und Kenntnisse über schränkte Blick auf ältere Menschen noch einmal ver- ältere Menschen und ihr Umfeld. Dabei geht es auch um stärkt. Alle über 60 wurden nicht mehr als Menschen die Familien, die Pflegekräfte, die Hausärzte usw. Dafür gesehen, die noch mitten im Leben stehen, sondern nur braucht man Geld und Personal. noch als Risikogruppe angesehen, die es zu schützen galt. Zweitens. Es braucht Institutionen und Organisatio- Das ist zwar nicht grundsätzlich falsch, wird aber den nen, die Verantwortung für Dienstleistungen und Infra- älteren Menschen nicht gerecht. Schutzbedürftig sein strukturen übernehmen, für Ausstattungen und Kompe- bedeutete im Frühjahr dieses Jahres für Pflegebedürftige, tenzen. Dafür braucht es Geld und Personal. Sterbende oder Menschen im Krankenhaus vor allem Einsamkeit und Isolation. Dies hat sehr viel Leid verur- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sacht und darf sich so nicht wiederholen. Es braucht einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verbindliche Regeln zum Datenschutz, zu Verantwort- der CDU/CSU) lichkeiten und zur Finanzierung. Es braucht also Geld Mir ist sehr bewusst, dass das Handeln in Pandemie- und Personal. zeiten immer auch ein Balanceakt ist. Dennoch sage ich: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Wir müssen das Recht auf soziale Teilhabe pflegebedürf- SES 90/DIE GRÜNEN) tiger Menschen wahren; denn sie sind und bleiben Inha- ber ihrer Grundrechte. Schon bin ich beim Antrag der FDP zur Digitalisierung von Pflegeeinrichtungen. Sie fordern 70 Millionen Euro (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für Internet und Basisausrüstung. Aber, meine Damen der CDU/CSU) und Herren, es braucht in Pflegeeinrichtungen eben Liebe Kolleginnen und Kollegen, in keiner Debatte zur auch Personal – das haben Sie vergessen –, und Personal Digitalisierung darf der Hinweis auf die Infrastruktur kostet Geld. fehlen. Genauso wichtig ist natürlich die Frage, wie es 23998 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Ursula Schulte (A) gelingen kann, die Digitalisierung für alle, also auch für – Alles gut; der Fehler ist mir neulich auch passiert. (C) ältere Menschen, nutzbar zu machen. Ich glaube ja – da Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Landgraf, geht es auch mir persönlich manchmal so –, dass ältere CDU/CSU-Fraktion. Menschen nur so tun, als würden sie der Technik ableh- nend gegenüberstehen. In Wirklichkeit verstehen sie die (Beifall bei der CDU/CSU) technischen Neuerungen nicht, finden die Anwendungen zu schwierig und scheitern schon an der Bedienungsan- Katharina Landgraf (CDU/CSU): leitung. Es kommt also auch auf die Nutzerfreundlichkeit Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte an. Angebote wie die der kommunalen Mehrgeneratio- zuerst zum Antrag der FDP sprechen. Er ist wirklich gut – nenhäuser können da helfen. da muss ich ein Lob aussprechen –, Liebe Kolleginnen und Kollegen, der achte Altersbe- richt sagt, es gibt nicht den älteren Menschen, und er (Beifall bei der FDP) meint sogar, dass die Verschiedenheit im Alter noch aber die Adresse stimmt nicht. Das haben wir ja schon im wächst. Neben dem Bildungsstand bestimmen natürlich Ausschuss besprochen: Nach der Föderalismusreform im die finanziellen Ressourcen die jeweiligen Lebenssitua- Jahr 2006 fällt alles, was Pflegeheime und Heimrecht tionen und damit auch die Teilhabemöglichkeiten. Viele betrifft, in die Kompetenz der Länder, also haben wir ältere Menschen haben einfach keinen Zugang zum Inter- damit nichts zu tun. Wir könnten aber als Bund natürlich net oder können sich die Technik nicht leisten. Es ist für noch ein bisschen Gas geben, was den Netzzugang anbet- mich nicht verwunderlich, dass wieder einmal die älteren rifft; und da stimmt die Adresse ein kleines bisschen. Frauen besonders benachteiligt sind. Daher sollten wir den Vorschlag im Altersbericht, digitale Teilhabe über (Katrin Werner [DIE LINKE]: Wäre doch ein sozialrechtliche Hilfen oder mittels der Hilfsmittelkata- Anfang!) loge zu fördern, auf jeden Fall prüfen. Also, beim Netzausbau, da sind wir dran. Insgesamt ist (Beifall bei der SPD) die Idee also gut. Liebe Kolleginnen und Kollegen: Ein zu Hause zu Jetzt komme ich zum Altenbericht; der achte ist es. Die haben, ist für ältere Menschen – noch einmal – von enor- Sachverständigenkommission hat sich sehr viel Arbeit mer Bedeutung. Deswegen wollen ja auch viele mög- gemacht. Erst hatte ich ein bisschen Horror, aber ich lichst lange zu Hause, im gewohnten häuslichen Umfeld muss sagen: Es liest sich gut; Kollegen, es liest sich bleiben. Bei der Erfüllung dieses Wunsches kann die gut, man kann sehr klug werden daraus. – Ich danke Digitalisierung helfen, angefangen von der Möglichkeit, ganz herzlich allen Sachverständigen, an dieser Stelle be- (B) sich nach Hause Lebensmittel liefern zu lassen oder von sonders Herrn Professor Andreas Kruse, der in bewährter (D) der Telemedizin Gebrauch zu machen. Weise – man spürt ihn sprechen in manchen Phasen – das Ganze gesteuert hat. Das letzte Zuhause ist dann oft eine stationäre Einrich- tung. Meine Generation wird den Zugang zum Internet Chancen im Alltagsleben erleichtern, Unabhängigkeit und zu digitalen Diensten schon als selbstverständlich stärken, Teilhabe – da fragen jetzt die Senioren: Wo kann erachten. Mich hat es ein bisschen erschüttert, dass nicht uns das helfen? Und: Hilft mir das wirklich? Die Frau nur die BAGSO, sondern noch andere gesagt haben, dass Ministerin hat das Stichwort „Smarthome“ schon er- es nur in einem Drittel der Seniorenheime einen Inter- wähnt. Ich nenne weitere Stichworte: Mobilität – wo netzugang für die Bewohnerinnen und Bewohner gibt, finde ich den Fahrplan oder den Rufbus? –, Verwaltung, und das oft nur in Gemeinschaftsräumen. Wie man der auch Einkaufen kann man machen, Gesundheit, Teleme- Meinung sein kann, dass ältere Menschen keine Privat- dizin, Pflege, aber auch Bildung – man wird klüger, wenn sphäre mehr brauchen, erschließt sich mir leider nicht. man das Richtige antippt und nicht die Fake News –, Information insgesamt, auch soziale Kontakte. Also die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Seniorinnen und Senioren sollen und wollen stärker an BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der technischen Entwicklung teilhaben. Sie müssen die Hier besteht wirklich dringender Handlungsbedarf, und Veränderungen aber auch akzeptieren und proaktiv sein; unsere Ministerin hat ja schon Wege der Unterstützung sie müssen offen sein. Und wir müssen helfen, die Neu- aufgezeigt. gier zu wecken. Leider sagt die Präsidentin, dass meine Redezeit zu Viele Ältere wissen ja gar nicht, was alles möglich ist. Ende ist. Deswegen kann ich nicht mehr auf den FDP- Sie müssen also bereit sein und dürfen nicht nur sagen: Antrag eingehen, den wir ablehnen werden, weil der Nur wenn es sich lohnt, mache ich da mit. Bund hier nicht originär zuständig ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herzlichen Dank. Es besteht eine Kluft zwischen denen, die wirklich wol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten len, und denen, die nicht wollen und nicht können. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident : Das betrifft – es gibt da viele interessante Statistiken – natürlich vor allem die Älteren jenseits der 70. Aber wir Vielen Dank, Frau Kollegin. haben ja jetzt moderne Altersbilder: Auch jenseits der 70 (Ursula Schulte [SPD]: Oh, Entschuldigung!) kann man sehr sportlich und sehr offen sein. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 23999

Katharina Landgraf (A) Die Anbieter müssen aber auch besser gestalten; sie lition wichtig. Das sieht man an vielen einzelnen Projek- (C) müssen unbürokratisch, einfach abrufbar ein Programm ten und Maßnahmen. Daran werden wir auch weiter bauen; es muss erklärt werden, und die Hürden müssen arbeiten. abgebaut werden. Dazu brauchen wir Assistenzen, die Es ist deswegen klug, zu fragen: Wie bringen wir, in den ersten Schritt begleiten. Insgesamt dürfen wir nicht der Nachbetrachtung des Berichts, heute und in den zulassen, dass grundsätzlich Interessierte der digitalen nächsten Wochen drei Dinge zusammen? Nämlich die Welt fernbleiben, weil ihnen die Unterstützung fehlt. Lebenssituation von Seniorinnen und Senioren, die ak- Die Mehrgenerationenhäuser machen da schon sehr viel. tuelle, schwierige Situation in der Coronapandemie und Aber zum Schluss – wie die anderen auch sagten –: die Fragestellung: Wie kann Digitalisierung helfen? Nichts kann den persönlichen menschlichen Kontakt Gerade beim Thema Lebenssituation geht es für viele ersetzen. Darum: Unsere Konzepte mit Schnelltests und Seniorinnen und Senioren um Teilhabe. Es stellt sich die unsere Hygienekonzepte müssen wir noch verbessern, Frage: Wie leben diese Menschen? Ich will nur daran damit es weiterhin zu Kontakten kommen kann. Und erinnern, dass wir in der Großen Koalition auch gesagt langfristig müssen wir die Empfehlungen in allen Poli- haben: Das Thema Einsamkeit kann mehrere Lebenspha- tikfeldern nutzen, nicht nur in der Familienpolitik. sen betreffen: die ganz jungen Menschen, die nur noch irgendwie eine Wischbewegung auf Mobilgeräten ken- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nen, leiden unter Einsamkeit; ebenso die mittlere Genera- Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. tion, die drei Wochen das Projekt in der Stadt A, dann drei Wochen das Projekt in der Stadt B durchleben muss; insbesondere betrifft Einsamkeit aber die Seniorinnen Katharina Landgraf (CDU/CSU): und Senioren. Alle müssen mithelfen, Digitalisierung für das Alter erlebbar zu machen. Deswegen möchte ich noch ganz kurz zurückkommen auf die Ausschusssitzung, die wir hatten. Die Kollegin Vielen Dank. Bleiben Sie gesund! Schulte berichtete sehr eindringlich über die Lebenssitua- tion von vielen Menschen jetzt in der Coronapandemie, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- was sie erleben und erleiden, nämlich weniger Kontakte, ordneten der SPD) soziale Isolation. Da gab es den Zwischenruf eines Kol- legen der AfD, der sagte: Da haben Sie doch selbst Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Schuld, nehmen Sie doch das schwedische Modell! – Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzter Redner in dieser Ich will nur eines sagen: Wenn – und da bin ich bei Kant – (B) Debatte ist der Kollege Marcus Weinberg, CDU/CSU- die Würde den Menschen zu einem besonderen Lebewe- (D) Fraktion. sen macht, dann ist es auch unser aller Aufgabe, das Leben zu schützen, weil es die höchste Gabe ist an Wür- (Beifall bei der CDU/CSU) de, die wir bewahren können. Wenn das das Ziel ist, dann ist es auch in dieser Coronapandemie wichtig, gerade die Seniorinnen und Senioren zu schützen. Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche Kollegen! Die Ministerin hat bei der Betrachtung der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Lebensphasen schön formuliert, dass man am Älterwer- Wenn ich dann so eine laxe Bemerkung wie „Nehmen den nicht vorbeikommt. Richtig. Man kann aber auch Sie doch das schwedische Modell!“ höre, dann kann ich sagen: Das Beste kommt zum Schluss. Das ist wie so nur sagen: Was wäre denn die Konsequenz gewesen? Wir ein Krabbencocktail, wo Sie sich auch die dickste Krabbe mussten es ertragen, dass 10 000 Menschen in Deutsch- bis zum Schluss aufbewahren. Das Leben könnte man land verstorben sind während dieser Coronapandemie. durchaus mit diesem Krabbencocktail vergleichen. Weitestgehend betroffen waren Seniorinnen und Senio- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) ren. In Schweden waren es „nur“ 6 000 – aber in Schwe- den leben auch nur 10 Millionen Menschen. Deswegen müssen wir uns um ein gutes Leben im Alter (Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE kümmern. GRÜNEN] betritt den Plenarsaal) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bin froh, dass wir diese Debatte führen. Eine Er- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: kenntnis sollte sein, dass wir häufiger über die Lebens- Herr Kollege, darf ich Sie kurz unterbrechen. – Frau modelle, Lebensphasen von Seniorinnen und Senioren Kollegin, auch für Sie gilt Maskenpflicht beim Betreten in Deutschland reden müssen, auch hier im Deutschen des Plenarsaals des Deutschen Bundestages. Bundestag, und das breiter aufstellen; denn bei dieser Lebensphase geht es um mehr als nur um die Frage der Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Digitalisierung oder die Frage danach, wie es in den Pfle- Wenn ich das umrechne, würden wir nicht über geeinrichtungen aussieht. Vielmehr brauchen wir einen 10 000 Tote beklagen, sondern über 46 000 Tote. Und Gesamtansatz, wie man die Seniorenpolitik weiterentwi- da haben wir einen sozialethischen Grundansatz in dieser ckeln kann. Da haben wir viel getan. Ich teile das, was die Zeit, der heißt, zunächst einmal Leben zu schützen und Ministerin gesagt hat: Dieses Thema ist der Großen Koa- Leben zu retten. 24000 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Marcus Weinberg (Hamburg) (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Herr Kollege Weinberg, ich habe Ihnen gerade das NEN) Wort entzogen, weil Sie 40 Sekunden über der Zeit sind. Nach dreimaliger Aufforderung ist es an der Zeit, Deswegen ist es wichtig, dass wir auch sagen, wie wir dass Sie wirklich aufhören. – Sie können gehen. Senioren schützen können. Das ist nichts Abstraktes, son- dern da geht es um tatsächliche Zahlen. Nehmen Sie eine (Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Stadt wie Hof in Bayern oder auch Stade in Niedersach- Gut! Vielen Dank, Herr Präsident! – Beifall sen; dort leben 46 000 Menschen. Das schwedische bei Abgeordneten der CDU/CSU) Modell hätte bei uns zur Folge gehabt, dass eine dieser Städte ausgelöscht worden wäre im Verlaufe des Jahres; Damit sind wir am Schluss der Aussprache. und das ist für uns nicht zu ertragen. Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 30 a. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ich komme zur Zusammenführung der Themen Ein- Drucksache 19/21650 an die in der Tagesordnung aufge- samkeit, Corona und Digitalisierung. Ich habe bereits führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- gesagt: 1,2 Millionen Menschen über 65 leiden unter Ein- weisungsvorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der Fall. samkeit. Digitalisierung kann – kann! – ein Schlüssel Dann verfahren wir so. sein, wie man das Thema Einsamkeit auch angeht; aber es wird nicht der einzige Schlüssel sein. Tagesordnungspunkt 30 b. Wir kommen zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Zweiter Punkt – damit komme ich zum Thema der Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Belastung aktuell, in der Coronazeit –: Die vulnerable Fraktion der FDP mit dem Titel „Videotelefonie allen Bevölkerungsgruppe der Senioren ist besonders betrof- Bewohnern in Alten- und Pflegeheimen zugänglich fen. Das ist die Großmutter, die gerne ihren Enkel sehen machen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- möchte, aber auch die Umkehrung: Auch der Enkel empfehlung auf Drucksache 19/24050, den Antrag der möchte seine Großmutter wieder in den Arm nehmen. Fraktion der FDP auf Drucksache 19/20531 abzulehnen. Deswegen, glaube ich, wird es jetzt wichtig sein, dass Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer gerade die Länder, weil sie die Verantwortung haben, stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist diese Be- dafür sorgen, dass verstärkt Digitalisierung eingesetzt schlussempfehlung gegen die Stimmen der FDP-Fraktion wird, aber auch weiterhin die Möglichkeiten, persönliche und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktionen Kontakte zu pflegen, gestärkt werden. der AfD und von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stim- men der regierungstragenden Fraktionen angenommen. (B) (D) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 c sowie Herr Kollege! Zusatzpunkt 9 auf: 31 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Claudia Müller, Anja Hajduk, Dr. Manuela Ich kann zusammenfassend sagen, Herr Präsident: Der Rottmann, weiterer Abgeordneter und der Bericht zeigt uns, welche Chancen die Digitalisierung Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bietet, – Risikoverteilung bei Gewerbemieten klar- stellen – Selbstständige, kleine und mitt- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: lere Unternehmen in der Corona-Krise Kommen Sie bitte zum Schluss. unterstützen Drucksache 19/22898

Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Überweisungsvorschlag: – als Maßnahme, als Instrument, aber nicht nur allein. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Es geht darum, den Zugang zu dieser Technologie zu Ausschuss für Tourismus stärken und so für mehr Teilhabe zu sorgen. Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Daniela Wagner, Christian Kühn (Tübingen), Herr Kollege Weinberg, bitte kommen Sie zum Claudia Müller, weiterer Abgeordneter und Schluss. der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unsere Innenstädte fit für die Zukunft Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): machen Aber – und das sei auch gesagt – wir nehmen die Drucksache 19/23941 Empfehlung des Berichtes gerne auf. Digitalisierung Überweisungsvorschlag: und ältere Menschen werden wir zum Schwerpunkt der Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommu- Digitalisierungstrategie – – nen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (Das Mikrofon wird abgeschaltet) Ausschuss für Kultur und Medien Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24001

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Wenn wir das nicht wollen, wenn wir nicht wollen, (C) Berichts des Ausschusses für Recht und Ver- dass gähnende Leere in unseren Klein- und Mittelstädten braucherschutz (6. Ausschuss) herrscht, brauchen wir dringend kluge, hilfreiche Kon- zepte. Wir Bündnisgrüne haben dazu verschiedenste Vor- – zu dem Antrag der Abgeordneten Udo schläge gemacht, leider sind wir bei Ihnen, werte Bun- Theodor Hemmelgarn, Marc Bernhard, desregierung, damit bisher auf taube Ohren gestoßen. So Frank Magnitz, weiterer Abgeordneter haben Sie, werte Bundesregierung, mit der Senkung der und der Fraktion der AfD Mehrwertsteuer die Autohäuser und den Versandhandel Soforthilfen für Vermieter gewerblich unterstützt. Kauf-vor-Ort-Gutscheine, wie wir sie vorge- genutzter Räume und Flächen schlagen haben, wären hier deutlich zielgerichteter gewe- sen, gerade um die Vielfalt zu unterstützen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Pascal Meiser, Dr. Gesine Lötzsch, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weiterer Abgeordneter und der Fraktion Der Aufwand, der durch die begrenzte Mehrwerts- DIE LINKE teuersenkung entstanden ist, hat bei vielen kleinen Unter- Von der Corona-Krise betroffene Ge- nehmen den Nutzen deutlich übertroffen. Gewerbetreib- werbetreibende bei der Miete entlasten enden brechen die Einnahmen weg, und die Vermieter bieten in den seltensten Fällen von sich aus Mietminde- Drucksachen 19/18722, 19/23112, rung an. Genau deswegen brauchen wir eine Klarstellung 19/24042 im gesetzlichen Rahmen, wodurch geregelt wird, dass ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- das wie Schadensfälle behandelt wird. Eine dadurch richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- mögliche Vertragsanpassung würde den Gewerbemieter- gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- innen und -mietern schnell und unbürokratisch helfen neten Manfred Todtenhausen, Michael Theurer, und sie entlasten. Doch Sie tun nichts, sondern lassen Reinhard Houben, weiterer Abgeordneter und Gewerbemieter/-innen jahrelang auf die Gerichtsent- der Fraktion der FDP scheidungen warten. Vitale Innenstädte durch starken Einzelhan- Dabei wäre es doch so einfach, liebe Bundesregierung, del – Auch in Zeiten von Corona wenn man nur wollen würde. Es ist so wichtig, dass wir als Gesetzgeber jetzt an dieser Stelle aktiv werden. Drucksachen 19/19118, 19/20208 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für die Aussprache ist eine Dauer von 60 Minuten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) beschlossen. (D) Denn nach dem Immobilienboom der vergangenen Jahre Ich bitte, den Platzwechsel zügig vorzunehmen. ist es nur fair, wenn wir das durch Corona entstandene Risiko für Einzelhandel und Gastronomie nicht allein auf Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- die Gewerbetreibenden abwälzen, sondern zwischen den nerin der Kollegin Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grü- Vertragsparteien aufteilen. Derzeit aber tragen diejeni- nen, das Wort. gen, die ein Café, einen kleinen Laden oder eben auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein Kosmetikstudio betreiben, ganz allein die Last. Mit den Coronahilfen sichern Sie vor allem den Immobilien- konzernen die Einnahmen. Das kann doch nicht Sinn und Claudia Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zweck dieser Hilfen sein. Handeln Sie hier endlich! Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bereits vor der Coronapandemie lit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten unsere Innenstädte unter Kundenschwund. Doch seit und bei der LINKEN) dem Frühjahr fegt Corona sie wie ein eisiger Wind gänz- Zum Schluss – das ist genauso wichtig –: Planen Sie lich leer. Auch die neuen, jetzt im November gültigen die Coronahilfen für die nächsten Monate. Es braucht Maßnahmen werden den Trend leider weiter verschärfen. endlich langfristige Konzepte. Behalten Sie dabei im Auch wenn die Geschäfte weiter geöffnet sind, werden Hinterkopf: Der Dezember ist für viele der umsatzstärks- sie unter der Unsicherheit der Menschen im öffentlichen te Monat, er ist für viele entscheidend für ihr Bestehen. – Raum weiter leiden. Wir brauchen die vielen kreativen, innovativen Impuls- Es besteht jetzt die ernsthafte Gefahr, dass Innenstädte geberinnen für die Innenstädte. Sie schaffen neue, moder- weiter veröden und zukünftig gänzlich von den großen, ne, kreative Angebote und erhöhen die Anziehungskraft immer gleichen Ketten beherrscht werden, weil nur diese in Innenstädten. Helfen Sie ihnen: jetzt, schnell und ziel- die momentane Situation finanziell durchstehen können. gerichtet! In den kleinen Städten könnte es sogar passieren, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich selbst diese Ketten weiter zurückziehen. Dann haben sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE]) wir kein Angebot mehr in den Innenstädten, dann herrscht dort gähnende Leere, und das wäre städtebaulich Vizepräsident Wolfgang Kubicki: eine Katastrophe. Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Nächster Redner (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist der Kollege Carsten Müller, Braunschweig. Einmal sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Löwe, immer Löwe! 24002 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der und das ist auch überhaupt nicht intendiert; das findet sich (C) FDP: So eine Müllerei!) im Übrigen in allen zur Beratung herbeigezogenen Unter- lagen und Ausführungen wieder. Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Sie befürworten die Ergänzung des Wortes „Pande- Sehr geehrter Herr Präsident, Sie haben jedenfalls bei mie“ in § 313 BGB, aber übersehen, dass das zu gar der Wahl Ihres Geburtsortes alles richtig gemacht und keiner rechtlichen Klarstellung führt, weil Sie bestenfalls sich Braunschweig ausgesucht. die rechtliche Erörterung von der Frage des Ob auf die Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sicherlich Frage des Wie verlagern. Deswegen sind Ihre Vorschläge schränkt uns die pandemische Lage im Moment alle leider untauglich. Wir wollen weiterhin die Einzelfallent- ein, die Gewerbetreibenden in Sonderheit. Die Große scheidung vor Gericht haben. Koalition und die Bundesregierung haben darauf mit umfangreichen Hilfsprogrammen reagiert, die bei Bedarf (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ angepasst werden. Solche Bedarfe erleben wird gerade, DIE GRÜNEN]: Das heißt viele Insolvenzen und deswegen wird angepasst. bei Einzelfallentscheidungen vor Gericht!) Die verschiedenen Anträge, die hier zur Beratung ste- Meine Damen und Herren, bei den Diskussionen ist hen, befassen sich vor allem mit dem Thema Gewerbe- verschiedentlich der Hinweis auf den Artikel 1104 des mietrecht. Eine kleine Ausnahme bildet allerdings der Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches der Republik Antrag der FDP. Da ist noch allerhand anderes reinge- Österreich angeführt worden. Das ist eine Regelung, die rührt. Ich weiß gar nicht, ob Sie sich das selber durchge- seit knapp 105 Jahren dort gilt. Verschiedentlich wird lesen haben. In Ihrem Forderungskatalog finden wir gesagt, man möge etwas Ähnliches auch hier einführen. weite Passagen, die wir auch schon beim vorvorletzten Das ist aus unserer Sicht im Moment jedoch ungeeignet, Tagesordnungspunkt, als es um die Automobilwirtschaft weil unsere Kodifikation anders aufgebaut ist und anders ging, auf dem Tisch hatten. Das ist ein mehr oder weniger funktioniert und die bestehenden Gewerbemietverträge angeblich liberaler Kolonialwarenladen, den Sie hier ins vor dem Hintergrund unserer jetzigen Kodifikation ge- Gespräch bringen. schlossen sind. Das kann man vielleicht später einmal erörtern, aber erst dann, wenn Zeit dazu ist und wenn es (Widerspruch bei der FDP) geboten ist. Aber wir wollen zurück zum Thema kommen. Ich will noch einmal auf das Thema „Kriterium der (Zuruf von der FDP: Wir wollen nach Hause!) Einzelfallbetrachtung“ abstellen. In Ihren Ausführungen Die Grünen und die Linksfraktion schlagen Eingriffe in und auch eben in Ihrem Redebeitrag, Frau Kollegin (B) (D) Gewerbemietverträge vor. Meine Damen und Herren, es Müller, haben Sie das Bild gezeichnet, dass den großen gibt, wie gesagt, einerseits umfangreiche Hilfen der Bun- Immobilienkonzernen, die auf der einen Seite stehen, die desregierung, es gibt aber andererseits bereits heute kleinen Mieter, die auf der anderen Seite stehen, schutz- rechtliche Regelungen, die eine ganze Palette von Anpas- los ausgeliefert sind. Das mag in einigen Bereichen der sungsmöglichkeiten bieten, zum Beispiel § 536 BGB Republik so sein. Wenn ich allerdings meinen Blick nach zum Thema Mietminderung Schöningen in den Landkreis Helmstedt oder in die schö- ne Bergstadt Altenau in den Oberharz werfe, stelle ich (Zuruf des Abg. Pascal Meiser [DIE LINKE]) fest: Da ist das Kräfteverhältnis zwischen Vermietern und oder auch im Grundsatz die Störung der Geschäftsgrund- Mietern genau umgekehrt. Da gibt es keine Übernach- lage, die in § 313 BGB geregelt ist. Damit sind ganz frage von Mietern; da ist der Mieter in der stärkeren individuelle Lösungen zwischen den Vertragsparteien Situation. Darauf geben Ihre Vorschläge überhaupt keine möglich, zielgenau und, wie gesagt, abgestellt auf die Antwort. jeweilige konkrete Situation. Und was über all dem (Zurufe der Abg. Claudia Müller [BÜND- schwebt, ist das hohe Gut der Vertragsfreiheit. Deswegen NIS 90/DIE GRÜNEN]) tun wir uns sehr schwer, uns Ihren Vorschlägen zu öffnen. Meine Damen und Herren, wichtig ist: Die hier vorge- Mithin: Die geltende Rechtslage ist geeignet, die anste- schlagenen Regelungen unterscheiden sich wesentlich henden großen Probleme zu lösen. Noch geeigneter sind von dem zeitlich befristeten und klar definierten Miet- die Hilfen der Bundesregierung, die die Große Koalition moratorium im Zuge der Coronagesetzgebung im Früh- fortlaufend weiterentwickelt. Deswegen wird Ihren An- jahr. Wir haben explizit geregelt, dass eine Kündigung trägen die Zustimmung der Unionsfraktion verweigert aufgrund von coronabedingten Zahlungsverzögerungen werden müssen. nicht in Betracht kommt und damit den Mieterschutz (Zuruf des Abg. Pascal Meiser [DIE LINKE]) angehoben. (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Und wie ist das Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. jetzt?) (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Kühn In Urteilen einiger Landgerichte ist tatsächlich die Fra- [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ge aufgeworfen worden, ob mit dieser seinerzeitigen Ich hoffe, die ganzen kleinen Gewerbetreiben- Regelung die Anwendung des § 313 BGB ausgeschlos- den haben das gehört! – Gegenruf des Abg. sen sein soll. Dazu kann von dieser Stelle ganz klar Nein Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: gesagt werden. Das war zu keinem Zeitpunkt intendiert, Und die ganzen kleinen Vermieter auch!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24003

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: freien. Mit anderen Worten: Mieter und Vermieter sollen (C) Herzlichen Dank, Herr Müller. – Nächster Redner ist in Verteilungskämpfen gegeneinander ausgespielt wer- der Kollege , AfD-Fraktion. den – schöne neue Welt! (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Das Problem ist nur: So funktioniert das nicht. Der Udo Theodor Hemmelgarn (AfD): Notfall Gewerbeimmobilien würde sich weiter verschär- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- fen. Wenn man Zahlungsausfälle kompensieren will, nen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf den Tribü- muss man das an Punkten machen, an denen sie auftreten. nen und an den Fernsehschirmen! Wenn man Zahlungswege willkürlich unterbricht, führt (Zuruf von der CDU/CSU: Und vor den Live- das dazu, dass ein großer Teil des Systems instabil wird streams!) und sich die Folgen spätestens durch Insolvenzen völlig unkontrolliert in den Bankensektor und auf die Finanz- Die Politik der Bundesregierung zeichnet sich in Corona- märkte ausbreiten. zeiten zunehmend dadurch aus, dass sie in der politischen Richtung immer konfuser und in der Umsetzung der Und es ist ein Irrglaube, dass die Folgen nur die Rei- Maßnahmen dafür umso härter und totalitärer wird, bis chen treffen würden. Betroffen wären auch Privatanleger hin zur Drangsalierung. Das macht es nicht leichter, die sowie Renten- und Pensionsfonds, kurz: die Altersvor- Dinge wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. sorge von Millionen Menschen. Wer jemals ernsthaft geglaubt hat, dass die Grünen irgendeine Art von Wirt- Zu Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 hat schaftskompetenz besitzen, der wird hier und jetzt eines diese Regierung ein dreimonatiges Kündigungsmorato- Besseren belehrt. Wir können der deutschen Wirtschaft rium umgesetzt, nach dem die Mieter von Wohn- und nur ganz klar sagen: Wenn ihr euch mit diesen Grünen ins Gewerberäumen drei Monate lang mit den Mietzahlun- Bett legt, werdet ihr in einem sozialistischen Alptraum gen aussetzen durften. Die Zahlungsketten wurden will- wieder aufwachen. kürlich unterbrochen, und diese Regierung fand das toll. (Beifall bei der AfD – Lachen beim BÜND- Wir haben einen Antrag gestellt, mit dem der gewerb- NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. liche Vermieter im Blick behalten werden sollte, weil Mechthild Rawert [SPD]) bereits damals absehbar war, dass hier die größten Ver- Gewerbemieter und -vermieter sind jetzt so gut wie luste eintreten würden. Unser Antrag sieht deshalb vor, möglich zu unterstützen, am besten auch dadurch, dass dass die Vermieter eine Art Waffengleichheit erhalten Sie den Lockdown in dieser Form sofort beenden. Das ist und ihre Zahlungen von Darlehen ebenso aussetzen kön- von vitalem Interesse für den Erhalt unserer Innenstädte. (B) nen wie die Mieter ihre Mietzahlungen. Diesen Punkt (D) Das allein wird aber nicht reichen. Die strukturellen Pro- müssen im Übrigen jetzt auch die Grünen und die Linken bleme unserer Innenstädte reichen sehr viel tiefer. Wie als Problem erkannt haben; ähnliche Forderungen für man diese Probleme lösen kann, das werden wir Ihnen private und kommunale Vermieter finden sich auch in zeitnah in unseren Anträgen in den kommenden Wochen ihren Anträgen wieder. mitteilen. (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]. Dieses Thema ist aus unserer Sicht zu wichtig, als dass Sie haben es gar nicht verstanden!) man es als Anhang zu irrigen Linken- und Grünenanträ- Daneben fordern wir ein KfW-Programm, das betroffe- gen behandeln könnte. nen Vermietern Überbrückungshilfen im Wege von Dar- Vielen Dank. lehen gewähren soll. (Beifall bei der AfD) Um nicht missverstanden zu werden: Wir sind dafür, dass auch dem Gewerbemieter, egal ob Gastronomie oder Einzelhandel, geholfen wird, und zwar vorbehaltlos. Ent- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sprechende Hilfsprogramme werden von uns unterstützt. Vielen Dank, Herr Kollege Hemmelgarn. – Nächster Aber: Diese Hilfe darf nicht auf Kosten anderer gehen. Es Redner ist der Kollege Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion. nützt niemandem, wenn die Vermieter an diesen Zah- (Beifall bei der SPD) lungsausfällen pleitegehen. (Beifall bei der AfD) Bernhard Daldrup (SPD): Als wir unseren Antrag zur Unterstützung von gewerb- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich lichen Vermietern im Mai dieses Jahres zur Diskussion persönlich finde es sehr gut, dass es neben den Maßnah- stellten, wurden uns von anderen Parteien in diesem men der Bundesregierung und somit der Koalition auch Hohen Hause Wahnvorstellungen attestiert. Heute sind eine Reihe von Anträgen der Opposition gibt – heute fünf wir an einem Punkt angelangt, wo selbst die „Wirt- ganz unterschiedliche an der Zahl, die sich mit der Situa- schaftsWoche“ auf Seite 1 vom „Notfall Gewerbeimmo- tion von Handel und Innenstädten befassen, auch mit den bilien“ spricht. Gewerbemieten. Es war meines Erachtens jedenfalls richtig, dass die Bundesregierung mit dem Kündigungs- (Zuruf des Abg. Bernhard Daldrup [SPD]) moratorium bei Mietausfall auch auf die Gewerbemieten Grünen und Linken fällt in dieser Situation nichts Besse- reagiert hat. Dieses Moratorium war leider befristet und res ein, als den Gewerbemieter auf die eine oder andere ist zum 1. Juli dieses Jahres ausgelaufen. Ich persönlich Art ganz oder teilweise von den Mietzahlungen zu be- bedauere das; ich komme gleich noch mal darauf zurück. 24004 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Bernhard Daldrup (A) Dessen ungeachtet hat die Bundesregierung allerdings Statt Erwartungen von 30 Prozent oder mehr Rendite zu (C) mit sehr vielen Maßnahmen den Gewerbetreibenden geh- pflegen, sollten sie jetzt handeln. Man muss die „Wirt- olfen, und zwar in einem Umfang wie kaum in einem schaftsWoche“ schon richtig lesen, Herr Hemmelgarn, anderen Land. Ich will hier nur stichwortartig die Sofort- wenn man wissen will, worum es eigentlich geht. hilfe nennen und die Überbrückungshilfen I und II – die Fortschreibung ist in Arbeit –, die sogenannte November- In dem anregenden Antrag, den die Grünen gestellt hilfe usw. usf. Die am 28. Oktober 2020 beschlossenen haben, wird die Forderung nach einem Krisengipfel ge- Maßnahmen betreffen Gewerbetreibende, Gastronomie- stellt. Mir wäre viel wohler dabei, wenn wir die Forde- betriebe, Einrichtungen der Freizeitgestaltung, Dienst- rung nach einem Zukunftsgipfel stellen würden, leistungsbetriebe ganz unterschiedlicher Art, wobei Solo- (Beifall bei der SPD) selbstständige bis zu einem Verlust von 5 000 Euro direkt antragsberechtigt sind. der eine Antwort auf die Frage geben könnte: Wie sieht eigentlich die Stadt der Zukunft aus? Ist das noch die Ich habe heute das Protokoll von #AlarmstufeRot, dem durchmischte europäische Stadt, die wir in der erweiter- Zusammenschluss ganz vieler Kulturschaffender und ten Leipzig-Charta beschreiben, oder ist es nur noch – ich Institutionen, bekommen, die ausdrücklich anerkennen, zitiere jetzt mal – „eine Ansammlung von IP-Adressen“, dass die Politik sie eben nicht alleine lässt. Sie haben wie es beispielsweise im Marketing von Google heißt? ganz konkrete Forderungen und Verbesserungsvorschlä- Das kann ja wohl so nicht sein, und darauf werden wir ge. Und ich sage ganz offen: Ich erwarte auch, dass die Antworten finden müssen. Bereitschaft des Bundesfinanzministers, in erheblichem Maße Hilfen zur Verfügung zu stellen, vom zuständigen Ja, wir brauchen aktuelle Hilfsangebote. Aber vor BMWi so administriert wird, dass die Mittel zielgerichtet allem brauchen wir Konzepte, wie unsere Städte auf der ankommen und auch tatsächlich abgerufen werden kön- einen Seite zu höherer Resilienz kommen können, also nen und nicht im administrativen Dickicht des BMWi gegen Pandemie stabil werden, gegen Klimawandel, ge- versinken. gen digitale Verletzlichkeit, und wie sie auf der anderen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Seite zur Bewältigung der Transformation in eine digita- der CDU/CSU) lisierte Zukunft in die Lage versetzt werden. Die Stadt als eine zutiefst soziale Veranstaltung zu organisieren und Wir müssen jetzt die Frage beantworten, was denn die Innenstadt nicht als Renditeprojekt zu verstehen, das eigentlich zu tun ist, wenn die Pandemie längerfristig ist eigentlich die Aufgabe, die wir haben. anhält; das ist eben schon einmal angesprochen worden. Es ist sinnvoll, glaube ich, wenn wir dann auch über ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) erneutes Kündigungsmoratorium bei Covid-19-beding- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) tem Zahlungsverzug sprechen – das ist schon richtig – Ich will auf andere Anträge aus Zeitgründen nicht ein- und auch über die Vorschläge, das Mietrecht so zu kon- gehen. Ich will aber noch einen Unterschied deutlich kretisieren, dass Betriebsschließungen und Nutzungsbe- machen. Ich glaube, wir brauchen nicht eine Maßnahme schränkungen aufgrund von Corona eine schwerwiegen- nach der anderen in einem Katalog, wie die Grünen ihn de Veränderung in der Vertragsgrundlage bilden. Ich auflisten, sondern wir brauchen etwas, das kommunale glaube, lieber Kollege Müller, neue Situationen verlan- Selbstverwaltung, verstanden als die Freiheit, die Ange- gen neue Antworten und nicht nur den Hinweis auf alte legenheiten der örtlichen Gemeinschaften regeln zu kön- Lösungen, die dann nicht greifen. nen, unterstützt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) GRÜNEN) Und dazu braucht man nicht Projekt um Projekt, sondern Ich weiß aus meiner Zeit als Stadtentwickler und Wirt- dazu braucht man einen kommunalen Solidarpakt, wie schaftsförderer sehr lange schon, dass die wirklichen Pro- wir ihn bereits haben, mit der Übernahme von Gewerbe- bleme der Innenstädte Kernprobleme sind, die durch die steuerausfällen, mit der Entlastung von Sozialausgaben Coronakrise allenfalls beschleunigt wurden, aber schon und anderem mehr. Das ist, glaube ich, eine entscheiden- vorher vorhanden waren. Dabei bilden die Gewerbemie- de Geschichte. ten ein Kernproblem. Es geht um Banalisierung und um Filialisierung der Innenstädte; es geht um Verdrängung Wir machen schon jetzt sehr viel, die Städtebauförde- des ortsspezifischen Einzelhandels, um Leerstandsprob- rung, „Smart City“ beispielsweise und viele andere Maß- lematik und vieles andere mehr. nahmen. Ich glaube, der Beirat Innenstadt und auch der runde Tisch, den es in der Sache gibt, das sind alles Maß- Ich spreche hier nicht in erster Linie von einzelnen nahmen, die sehr konstruktiv das aufgreifen, was hier Grundstückseigentümern, die sich nicht an Maßnahmen gefordert worden ist und was wir tatsächlich nutzen müs- halten, sondern vielmehr von immer dominanter werd- sen, um eine gute Zukunft für die Städte auch in der enden Immobilienfonds, die zur Lösung des Problems Coronakrise und auch für die Gewerbetreibenden hinzu- beitragen müssten, anstatt selber den Kernbestandteil bekommen. des Problems auszumachen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN) der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24005

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nen zu sagen: Das machen wir trotzdem; es schadet ja (C) Vielen Dank, Herr Kollege Daldrup. – Ich sehe, auch nicht. – Denn es gilt Montesquieu: „Wenn es nicht not- Sie sind von sich so ergriffen, dass Sie die Maske ver- wendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es notwendig, gessen haben. – Also, „Tragen“ meint nicht das Mit-sich- kein Gesetz zu erlassen.“ Herumtragen, sondern das Aufsetzen oder Umbinden. (Beifall bei der FDP – Christian Kühn [Tübin- (Heiterkeit – Bernhard Daldrup [SPD]: Ent- gen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist schuldigung!) aber notwendig!) Vielen Dank. Um unsere Ablehnung des Linkenantrags zu begrün- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in allem Ernst: Das den, reicht schon der Hinweis auf eine Forderung: Sie wird alles gesehen, das wird alles notiert. Es macht auch wollen einen Rechtsanspruch auf Absenkung der Netto- keinen Spaß, von hier oben regelmäßig zu sehen, dass kaltmiete um 30 Prozent für Gewerbemieter mit pande- Leute, wenn sie telefonieren gehen, wenn sie wieder rein- miebedingtem erheblichem Umsatzverlust. – Das ist kommen, die Maske nicht aufsetzen. Wenn wir das ernst undifferenziert, begrifflich ungenau und der Höhe nach meinen, dann sollten wir uns auch vorbildlich an die willkürlich. eigenen Regeln halten. Das ist ja keine Empfehlung, son- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der AfD) dern eine Anordnung. Nein, wir müssen das Problem vom Kopf auf die Füße (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) stellen. Die Unternehmer und ihre Mitarbeiter wollen Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin arbeiten. Das müssen wir, soweit es geht, ermöglichen. Katharina Willkomm, FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Maßnahmen müssen punktgenau und differenziert angeordnet werden. Die Bundesregierung muss wegkom- Katharina Willkomm (FDP): men von dem Auf-Sicht-Fahren. Alle Unternehmen, ob Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und geschlossen oder nicht, brauchen Klarheit, nach welchen Kollegen! Wir alle können uns nach dieser Woche auf Kriterien Bundesregierung und Länder Maßnahmen drei Dinge sicher einigen: wie elementar wichtig ein ergreifen. Das gilt für Hilfen genauso wie für Einschrän- funktionierender Rechtsstaat, funktionierende Institutio- kungen. nen und eine soziale Marktwirtschaft sind. (Beifall bei der FDP) (Beifall des Abg. [SPD]) Die Schließungsanordnungen müssen berücksichtigen, (B) Für Coronamaßnahmen bedeutet das: Die wesentli- wie viel Gefahr tatsächlich von den spezifischen Betrie- (D) chen Entscheidungen müssen im Parlament diskutiert ben ausgeht und welche Schutzkonzepte jeweils umge- werden, bevor sie ins Werk gesetzt werden, setzt sind. Die Bundesregierung muss den Einbau von geeigneten Luftreinigungstechniken mit einer Sonderab- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) schreibung fördern. und den Maßnahmen, die hinterher dabei herauskommen, muss man schon auf hundert Meter ansehen, dass sie (Beifall bei der FDP) verhältnismäßig sind. Nur wenn das gelingt, kommen Und wir brauchen die Einführung einer negativen die Menschen mit. Gewinnsteuer. Konzepte dafür haben wir Freien Demo- (Beifall bei der FDP) kraten Ihnen vorgelegt. Die Tafelrunde aus Bundeskanzlerin und Ministerprä- (Beifall bei der FDP) sidenten zwingt Kunst und Kultur, Sport und Hotels, So helfen wir den Betrieben durch die Pandemie – mit Gastronomie und Freizeitwirtschaft ein Sonderopfer rechtsstaatlichen Maßnahmen und wirtschaftlicher Un- auf. Das ist brutal hart und der Hintergrund für den jetzi- terstützung. gen Tagesordnungspunkt. Vielen Dank. Die undifferenzierten Coronamaßnahmen bedeuten: Gewerbemieter haben null Umsatz, sollen aber weiter (Beifall bei der FDP) volle Gewerbemiete zahlen. Die Frage ist nun, wer jetzt was tun muss, um das Problem zu lösen. Die Grünen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: haben recht, wenn sie sagen, dass die Coronamaßnahmen Vielen Dank, Frau Kollegin Willkomm. – Nächste die Geschäftsgrundlage massiv stören. Aber sie haben Rednerin ist die Kollegin Caren Lay, Fraktion Die Linke. unrecht, wenn sie dafür § 313 BGB umschreiben wollen; (Beifall bei der LINKEN) denn dieser Paragraf bietet als Generalklausel bereits jetzt alle Möglichkeiten für die Gerichte, eine faire Risi- koverteilung unter Coronabedingungen zu entscheiden. Caren Lay (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- (Beifall bei der FDP) ren! Die Coronapandemie trifft den Mittelstand hart. Vie- Und Sie sprechen es in Ihrem Antrag dann auch selbst le, insbesondere kleine Geschäfte stehen mit dem Rücken an, dass die ersten Gerichtsurteile nahelegen, dass auch zur Wand, mit einem Bein in der Insolvenz. Nach Aus- die Justiz in Ihrem Sinne auf eine Störung der Geschäfts- sagen des Handelsverbandes drohen 50 000 Geschäfts- grundlage entscheidet. Es ist deshalb falsch, wie die Grü- schließungen. Das bedeutet das Aussterben von Innen- 24006 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Caren Lay (A) städten, das Aus für inhabergeführte Läden, für Restau- ( [DIE LINKE]: Sehr (C) rants, Bars und Klubs. Leerstand ist die Folge, Verödung richtig! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Innenstädte. Wo früher „Helgas Eckkneipe“ war, NEN: Genau!) zieht Starbucks ein, es bleiben nur die immer gleichen Und es gibt ja auch bereits negative Urteile. So ver- Ketten übrig, und unsere Fußgängerzonen verwandeln wehrte beispielsweise das Landgericht einem sich in eintönige Konsummeilen ohne Herz und ohne geschlossenen Restaurant die Mietsenkung. Wir brau- Lokalkolorit. chen Rechtssicherheit, damit die kleinen Unternehmen Das wollen wir als Linke nicht; das Aussterben gerade wissen, woran sie sind. der kleinen Geschäfte müssen wir verhindern. Wir wollen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lebendige Innenstädte – auch nach der Pandemie! neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) In Österreich gibt es eine solche klare Rechtsgrund- Zu Beginn der Pandemie hat die Bundesregierung ja lage, und zwar seit fast 100 Jahren. Im Falle einer Seuche auch ein Kündigungsmoratorium beschlossen. Miet- muss keine Miete gezahlt werden. Das wurde dort auch schulden aus den Monaten April bis Juni konnten aufge- erst jüngst vor Gericht bestätigt. Ein sehr vermieter- schoben werden und durften nicht zur Kündigung führen. freundliches Parlament wie dieses würde das sicherlich Das hat so manchen Laden vor der Insolvenz gerettet. überfordern. Wir schlagen deswegen als Linke eine Hal- Aber leider ist dieses Kündigungsmoratorium nicht ver- be-halbe-Regelung vor. Wenn der Laden dichtgemacht längert worden. Das geht so nicht. Wer den Lockdown II wird, dann müssen nur 50 Prozent der Miete gezahlt beschließt, muss auch das Kündigungsmoratorium II werden. Das beträfe vor allem Gastronomie, Theater, beschließen. Kinos und Klubs. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Denn eines muss doch wirklich klar sein: Wer pandemie- Das ist übrigens exakt die Forderung des Handelsver- bedingt seine Miete nicht bezahlen kann, dem darf nicht bandes Deutschland und des Immobilienverbandes ZIA, gekündigt werden. beide keine Institutionen, die im Verdacht stehen, beson- ders links zu sein. Ich hoffe deswegen, dass auch Sie (Beifall bei der LINKEN) diesem Vorschlag zustimmen können. Drei Viertel der Unternehmen, die im Gaststättenverband (Beifall bei der LINKEN) DEHOGA organisiert sind, gaben bei einer Umfrage aus Eines kann, glaube ich, nicht sein: dass die Mieterin- dem Oktober an – also, das war noch vor dem zweiten (B) nen und Mieter, egal ob im Gewerbebereich oder im (D) Lockdown –, dass sie einen Umsatzverlust von 50 Prozent Wohnungsbereich, die Kosten für diese Pandemie alleine erwarten. Und jeder Siebte rechnet damit, sein Geschäft tragen und die Immobilienbranche, übrigens als einzige aufgeben zu müssen. Branche, völlig unbeschadet durch diese Krise segelt. Noch schlimmer sieht es bei Diskotheken und auch bei Das geht nicht. Das ist nicht gerecht. Klubs aus. Die sind nämlich schon seit März geschlossen, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. aber müssen ja die Miete weiter bezahlen. Neun von zehn Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Klubs rechnen damit, nie wieder öffnen zu können, wenn NEN]) sich jetzt nichts tut. Damit würde ein wichtiger und im Übrigen auch international renommierter Teil unserer Wir können ja davon ausgehen, dass ein nicht uner- Kultur von der Landkarte verschwinden. Und das darf heblicher Teil der bisherigen Coronahilfen einfach an nicht sein. die Vermieterseite durchgereicht wurde. Wir fordern hier eine gerechte Beteiligung von Vermieterinnen und (Beifall bei der LINKEN) Vermietern. Meine Damen und Herren, es gibt gute Gründe für den (Beifall bei der LINKEN) Lockdown. Aber: Wer einer ganzen Branche den Stecker zieht, der muss dafür sorgen, dass sie überlebt! Es gibt dann noch diejenigen, die zwar während der Pandemie öffnen dürfen, aber große Einkommensverlus- (Beifall bei der LINKEN) te hinnehmen müssen, etwa weil die Anzahl von Kunden Ein ganz großer Posten ist eben die Miete. Wir fordern, beschränkt ist. Viele Geschäfte sind davon betroffen. Für dass bei Betrieben, die geschlossen werden, die Miete diese Gewerbe fordert Die Linke eine reguläre Möglich- abgesenkt werden kann, und zwar rechtssicher, meine keit der Mietsenkung um 30 Prozent. Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Keine Angst, liebe Kleinvermieterinnen und Kleinver- mieter: Wir schauen als Linke sehr genau hin, wer wie Anders, als Sie es hier behaupten und auch die Bun- viel hat und wer sich was leisten kann. Deswegen fordern desregierung schreibt, ist das deutsche Recht eben nicht wir für den Fall, dass eine Mietsenkung die Vermietenden eindeutig. Die Betroffenen müssen tatsächlich klagen. selbst in die Bredouille bringen würde, einen Härtefall- Aber das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein, dass fonds, der schnelle und unbürokratische Hilfe leistet. wir jetzt von jedem kleinen Restaurantbetreiber erwarten, dass er den Klageweg beschreitet. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24007

Caren Lay (A) Bereits vor der Coronapandemie hatten wir als Linke Vor diesem Hintergrund bitte ich darum, dass wir uns (C) ein Gewerbemietrecht gefordert, hatten wir eine Deck- den § 313 Bürgerliches Gesetzbuch sehr genau ansehen. elung der Gewerbemieten gefordert. Jetzt, während der (Beifall des Abg. Christian Kühn [Tübingen] Coronapandemie, ist es unausweichlich, die explodieren- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) den Mieten auch für Gewerbeflächen zu begrenzen. In diesem Paragraf geht es um den Wegfall der Geschäfts- Meine Damen und Herren, wir müssen endlich han- grundlage. Es war übrigens lange Zeit nur eine Formel deln, damit Tante Emmas Laden, Enzos Pizzeria, der Rechtsprechung, die 2002 aber ins bürgerliche Recht Ahmeds Späti und Gretchens Klub auch nach der Pande- aufgenommen worden ist. Haben sich wesentliche Um- mie noch da sind. stände geändert, kann das dazu führen, dass die Parteien Vielen Dank. jeweils eine Änderung der Vertragsbeziehungen erzwin- gen können, auf dem Verhandlungsweg oder vor Gericht, (Lebhafter Beifall bei der LINKEN) und zwar so, wie es dem jeweiligen Vertrag entspricht. Deswegen können auch Vorschläge, bei denen gesagt Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wird: „Wir machen halbe-halbe oder 30 Prozent“, man- Vielen Dank, Frau Kollegin Lay. – Nächster Redner ist chen Umständen nicht gerecht werden. Wir wollen aber, der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. dass eine Regelung so ausgefüllt wird, dass sie jedem Einzelfall gerecht wird. Das geht am Ende des Tages (Beifall bei der CDU/CSU) rechtlich gesehen nur durch eine Generalklausel. Herr Kollege, einen ganz kleinen Moment. – Ich möch- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und te die Vertreter der Bundesregierung darauf hinweisen, der FDP) dass die Pflicht zum Tragen von Nasen- und Mundschutz Es ist in der Tat nicht vertretbar, dass die Risikover- auch für sie gilt. – Herr Kollege, Sie haben das Wort. teilung, gerade auch bei den coronabedingten Schlie- ßungen, einseitig zulasten der Mieter vorgenommen Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): wird. Auch die Vermieter müssen ihren Beitrag dazu leis- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ten, wenn sich gesamtgesellschaftlich ein Risiko verwirk- Herren! Die Coronapandemie hat in der Tat sehr viele licht hat. Gastronomen, Kleingewerbetreibende und Vertreter der (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Veranstaltungswirtschaft in eine sehr schwierige wirt- Aber das muss eben in der Generalklausel bleiben, meine schaftliche Situation gebracht. Für nicht wenige ist das Damen und Herren. (B) in der Tat existenzbedrohend. Deswegen – das will ich (D) zunächst einmal festhalten – war es richtig, dass wir im Wichtig ist aber auch: Wir können diese Risikovertei- März in einer unklaren Pandemielage vor dem Hinter- lung nur dann fordern, wenn der Staat, der die Schließung grund der anlaufenden wirtschaftlichen Hilfen beschlos- anordnet, entsprechend für Kompensation sorgt. Deswe- sen haben, ein Mietmoratorium einzuführen. „Mietmora- gen ist unser wichtigster Punkt heute auch, dass wir unse- torium“ heißt übrigens nicht, dass die Zahlungspflicht ren Blick auf die Hilfen richten, die jetzt ausgereicht aufgehoben ist. Vielmehr haben wir nur gesagt, dass dem- werden. Da gibt es für uns zwei Dinge, die nicht ver- jenigen, der nicht bezahlen kann, nicht gekündigt werden handelbar sind und die wir durchsetzen werden. darf. Ich denke, das war in dieser Situation richtig, um Zum einen: Diese Hilfen müssen schnell und unkom- den Menschen Sicherheit zu geben. pliziert beantragt werden können, ohne viel Bürokratie, Jetzt stehen wir aber vor einer anderen und etwas kom- mit einfachen Internetplattformen, die dafür Sorge tra- plexeren Situation, und das Recht muss sich immer auch gen, dass die davon Betroffenen schnell ihre Daten ein- auf die Situation beziehen, die vorgefunden wird. Wir geben können. haben bei den Gewerbemieten völlig unterschiedliche Der zweite Punkt ist: Die Hilfen müssen auch schnell Situationen: Wir haben Gewerbemietobjekte, gerade im und unkompliziert ausbezahlt werden. Es kann nicht sein, Einzelhandel, die überhaupt nicht betroffen sind von den dass die Auszahlung der Hilfen, die jetzt für November pandemiebedingten Einschränkungen. Wir haben Gastro- kommen, einen ähnlichen langen Zeitraum erfordert wie nomieobjekte, die in der Tat nicht öffnen können, oder im März und im April, wo die Auszahlung der Hilfen solche Objekte, die einen eingeschränkten Geschäftsbe- viele Wochen gedauert hat. Hilfen müssen also schnell trieb haben, beispielsweise Hotels, die keine Touristen, ausgezahlt werden, und sie müssen bald kommen. Dafür aber sehr wohl noch Geschäftsreisende aufnehmen dür- werden wir Sorge tragen. fen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vor diesem Hintergrund brauchen wir eine differen- zierte Antwort. Kein Gesetz der Welt, auch nicht im bür- Letztlich müssen wir die Situation so lösen, dass wir gerlichen Recht, kann jeden Einzelfall lösen. Vielmehr auf der einen Seite die Risikoverteilung zwischen Ver- haben wird uns im bürgerlichen Recht darauf verstän- mietern und Mietern über § 313 BGB gesamtgesell- digt – übrigens seit 100 Jahren –, dass das Recht die schaftlich vornehmen, aber als Staat den Unternehmern grundlegenden Voraussetzungen bestimmt, aber der Ein- dort, wo sie es nicht zu verantworten haben, auch zur zelfall verhandelt wird oder gegebenenfalls vor Gericht Seite stehen durch ein großes, umfassendes Hilfspaket, entschieden wird. Aber das Gesetz kann und wird nicht das wir in den nächsten Tagen auf den Weg bringen. alles lösen können, meine Damen und Herren. Herzlichen Dank. 24008 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Dr. Volker Ullrich (A) (Beifall bei der CDU/CSU) lohnung für die Beachtung aller Vorschriften jetzt mit (C) einem Wellenbrecher-Berufsverbot belegt werden, sind Vizepräsident Wolfgang Kubicki: einzig und allein die Bundesregierung und die Landes- regierungen. Genauer gesagt: Frau Merkel und ihre par- Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Nächster teiübergreifenden Erfüllungsgehilfen sind schuld daran. Redner ist der Kollege Jens Maier, AfD-Fraktion. (Beifall bei der AfD – Christian Kühn [Tübin- (Beifall bei der AfD – Zuruf von der SPD: Ist gen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie das eine Maske? – Gegenruf der Abg. Britta haben nichts verstanden! Das ist so bitter!) Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Morgen ist das ein Häkeltuch! Wir kennen Das hat mit den Mietern und Vermietern überhaupt nichts das!) zu tun. Darum ist es nur richtig – wie das ja auch ange- dacht ist –, dass derjenige das Problem löst, der es verur- sacht hat; und das ist der Staat. Jens Maier (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Daher lautet die erste Forderung: Rücknahme und ren! Die völlig unverhältnismäßigen Coronaschutzmaß- Beschränkung der Coronaschutzmaßnahmen auf Risiko- nahmen haben dazu geführt, dass die deutsche Wirtschaft gruppen, damit die Wirtschaft wieder in Gang kommen im zweiten Quartal dieses Jahres um fast 10 Prozent kann. eingebrochen ist. Abertausenden Gastwirten, Hotelbe- (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ treibern, Einzelhändlern, Betreibern von Diskotheken, DIE GRÜNEN]: Sie haben nichts verstanden! Kinos, Fitnessstudios oder Kneipen steht finanziell das Gar nichts!) Wasser bis zum Hals. Die sogenannten Coronasoforthil- fen für Selbstständige sind längst verpufft. Und ja: Die Die zweite Forderung lautet: staatliche Hilfen für Mieter geschuldeten Miet- und Pachtzahlungen werden trotz des und Vermieter zur Schadensbegrenzung. auferlegten faktischen Berufsverbots Monat um Monat (Beifall bei der AfD) fällig, und viele wissen nicht, wie sie da durchkommen Was wir aber nicht brauchen, sind staatliche Eingriffe sollen. in bestehende Mietverhältnisse, wie Linke und Grüne Die Linken machen es sich jetzt ganz leicht und sagen: dies vorschlagen. Das ist der völlig falsche Weg. Gewerbemieter sollen zulasten der Vermieter pauschal Vielen Dank. einen gesetzlichen Anspruch auf Senkung der Nettokalt- miete um 30 Prozent haben. Ihre Kündigung soll während (Beifall bei der AfD) der gesamten Pandemie ausgeschlossen sein. (B) (D) Die Grünen sagen: Vermieter und Mieter, einigt euch. – Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Sie wollen die Störung der Vertragsverhältnisse über Vielen Dank, Herr Kollege Maier. § 313 BGB lösen, also über die Lehre vom Wegfall der (Abg. Jens Maier [AfD] verwendet als Mund- Geschäftsgrundlage. Behördlich angeordnete Betriebs- Nase-Bedeckung einen Schal – Heiterkeit bei schließungen und Nutzungsbeschränkungen sollen einen Abgeordneten der AfD – Britta Haßelmann Anspruch auf Vertragsanpassung bewirken. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jeder macht Ich könnte jetzt im Einzelnen auf Geschichte und sich halt, so gut er kann, zum Kasper! – Gegen- Anwendungsbereich des § 313 BGB eingehen; das will ruf des Abg. Karsten Hilse [AfD]: Ist hier Ver- ich jetzt hier nicht weiter verfolgen. Festzuhalten ist aber, mummungsverbot? Schauen Sie sich mal in dass ein ganz großer Teil von Vermietern in Deutschland Ihren Reihen um!) Privatpersonen sind, die die Mieteinnahmen dringend Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild Rawert, zum Abzahlen ihrer Kredite und für ihre Altersvorsorge SPD-Fraktion. brauchen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der AfD) Tatsache ist auch, das Grüne und Linke in ihren Anträ- Mechthild Rawert (SPD): gen die Situation von Gewerbetreibenden ausblenden, die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was das eine Gewerbeimmobilie selbst erworben haben und Verhältnis zum Staat betrifft, kann ich nur sagen: Ich monatlich die Kreditraten dafür abzahlen müssen. Ließe bin doch sehr stolz, Mitglied der SPD-Fraktion zu sein, man diese Menschen allein, würde schon das zu einer die ein sehr gutes Verhältnis zum Staat hat und vor allen unzulässigen Ungleichbehandlung von Gewerbetreiben- Dingen den Staat auch als verantwortlichen Akteur für den führen. soziale Daseinsvorsorge sieht. Und das finde ich nun wirklich super. Linke und Grüne sind sich aber in einem einig, nämlich darin, dass ein anderswo geschaffenes Problem nun zwi- (Beifall bei der SPD – Dr. Götz Frömming schen Mietern und Vermietern gelöst werden soll. Diese [AfD]: Sie leben ja auch von ihm!) Verschiebung auf das falsche Gleis ist letztendlich ein Die SPD-Fraktion macht sich stark für das soziale Ablenkungsmanöver; denn verantwortlich dafür, dass Mietrecht, für bezahlbaren Wohnraum und selbstver- kleine und mittlere Unternehmer in diesem Land mit ständlich auch für bezahlbare Gewerbeflächen. Vor allen immer weiter einschneidenden Hygieneauflagen und Dingen ist es positiv, dass wir uns für mehr Regulierung behördlichen Kontrollen drangsaliert werden und zur Be- auf dem Gewerbemarkt einsetzen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24009

Mechthild Rawert (A) An dieser Stelle etwas Ungewöhnliches: Ich bedanke resse der Mieter und der Mieterinnen und vor allen Din- (C) mich ausdrücklich bei der Mehrheit der Kollegen und gen der Gewerbetreibenden und – das freut mich – Kolleginnen der Union, dass sie ihr Mitglied Jan-Marco lebendiger Innenstädte! – Bleiben Sie gesund. Luczak mit Blick auf den Schutz von Mietern und Mie- terinnen eingefangen haben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Dass Ihnen das gelungen ist und dass wir nun doch zu Vielen Dank, Frau Kollegin Rawert. – Nächster Red- einer von uns vorher schon vereinbarten Regelung hin- ner wird sein der Kollege Manfred Todtenhausen, FDP- sichtlich des Umwandlungsverbotes von Miet- in Eigen- Fraktion. tumswohnungen kommen, dafür danke ich Ihnen herz- lich. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Damit ist im Interesse von Mieterinnen und Mietern für Manfred Todtenhausen (FDP): die Zukunft ein ganz wesentlicher Schritt getan. Und als Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Berlinerin sage ich Ihnen: Diese Regelung trägt auch ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe mich wesentlich zum Schutz vor Verödung von Innenstädten der Auffassung an, dass für viele Einzelhändler die Mie- oder einzelnen Kiezen in unseren Bezirken bei. ten als Fixkosten sehr belastend sind, besonders wenn die Umsätze in Coronazeiten deutlich ausbleiben. Was wir (Beifall bei der SPD) aber auch brauchen, sind Strukturreformen, die dem sta- Was mich im Zusammenhang mit dem Thema Gewer- tionären Handel heute und besonders auch nach der Coro- bemieten weiterhin umtreibt, ist die Verhöhnung derjeni- nakrise helfen. gen in den vielfach als „systemrelevant“ bezeichneten Berufen. Sie wurden beklatscht und werden jetzt ohne (Beifall bei der FDP) Regulierung einfach im Regen stehen gelassen. Das be- Wir Freien Demokraten stimmen den Grünen zu: Auch trifft die Berufe im Gesundheitswesen, das betrifft die wir setzen uns für eine Gemeindefinanzreform ein, die Beschäftigten bei der BSR, die vielen Dienstleister, die die Steuereinnahmen der Kommunen nicht so anfällig Start-ups. Das kann nicht sein. Da erwarte ich – von uns für Krisen macht und die Betriebe vor Ort entlastet. Wir allen, insbesondere aber auch von uns als Koalition –, wollen die Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil der dass wir hier eine Regelung finden, die zum Beispiel Gemeinden an der Umsatzsteuer ersetzen – zusammen den Start-ups ein Wohnen und Arbeiten in den Innen- mit einem kommunalen Zuschlag mit eigenem Hebesatz- (B) (D) städten, hier in Berlin und anderswo, ermöglicht. recht auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP) Kollege Ullrich, Kollege Müller, ich denke schon, dass die soziale Funktion des Mietrechts auch auf das Gewer- Wir wissen: Die Gewerbesteuer betrifft den Handel be- bemietrecht zu übertragen ist. Ich denke vor allen Din- sonders. Andere Selbstständige sind dagegen häufig nicht gen, wir können es nicht einfach der Justiz überlassen, betroffen – ganz zu schweigen vom Onlinehandel. dass Tausende von Einzelgerichtsurteilen darüber gefällt Meine Damen und Herren, die GWB-Novelle, die werden, wie denn jetzt dieser § 313 BGB im Kontext mit Novelle zum Wettbewerbsrecht, die auch wir gefordert Vertragsfreiheit auszulegen ist. haben, steht kurz vor der Verabschiedung. (Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Carsten Bei der Anpassung des Baurechts brauchen wir drin- Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]) gend neue Initiativen, um Handel, Wohnen, Arbeiten und Wir brauchen hier als Koalition zumindest eine pauschale Verkehr zukunftsgerecht zu verbinden und Planung und Festlegung der Interpretation und damit der Regulierung, Umsetzung zu beschleunigen. damit wir hier Rechtssicherheit schaffen. (Beifall bei der FDP – Bernhard Daldrup (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: [SPD]: Machen wir gerade!) Unfug!) Wir Freien Demokraten wollen aber nicht nur raus aus Heute in der Zeitung steht schon, wie einzelne Rechts- der Krise. Wir wollen Reformen für eine Agenda 2030, anwälte den Mietern und den Mieterinnen das eine oder die den Betrieben aus dem Einzelhandel und der Gast- das andere raten. Das kann nicht sein. Justiz und Rechts- ronomie neue Chancen in den Innenstädten eröffnet. wesen, das ist kein Basar. Das ist unsere Verantwortung, und das gilt auch hier für das Gewerbemietrecht. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Caren Lay Sie brauchen nachhaltige Entlastung bei Steuern und [DIE LINKE] und Claudia Müller [BÜND- Abgaben, bei Energiekosten und bei Bürokratismus. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Und sie brauchen Flexibilität im Wettbewerb mit dem Ansonsten freue ich mich, dass in den sehr breiten und Onlinehandel – Stichwort: Sonntagsöffnung –; denn bunten Anträgen zu diesem Tagesordnungspunkt auch hier gibt es keinen fairen Wettbewerb. Gerade am Sonn- vorgeschlagen wird, dass wir gesellschaftliche Bündnisse tag machen die Onlinehändler ihre höchsten Umsätze, bilden. Machen Sie mit vor Ort! Seien wir stark im Inte- ihre stärksten Gewinne. 24010 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Manfred Todtenhausen (A) Die Coronazeit mit ihren Abstands- und Hygiene- Dieser Zielsetzung, meine Damen und Herren, muss (C) regeln ruft also nach Flexibilität in dieser Frage, beson- jede Förderpolitik und jede Hilfsmaßnahme dienen. Die ders für die Zeit nach dem Teil-Lockdown, der dem Han- Bundesregierung hat sich diesem Problem aus unserer del sehr zusetzt. Sicht bisher zu wenig angenommen. Ein runder Tisch bringt uns da nicht weiter. Wir brauchen einen echten Der Einzelhandel hat im Frühjahr dieses Jahres Ware Krisengipfel oder, Kollege Daldrup, gerne auch einen eingekauft, auf der er heute noch sitzt, und die Lager sind Zukunftsgipfel. voll. Ich begrüße es daher sehr, dass der Wirtschafts- minister Altmaier sich wie wir dazu bekennt, mehr Sonn- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tagsöffnungen zu erlauben. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP) Wir fordern einen Städtebau-Notfallfonds, der Umnut- So hat er auf dem Innenstadtgipfel des BMWi selbst zungen und Innenstadtkonzepte unterstützt. Dafür haben angeregt, dies zu unterstützen. Hier wollen wir Minister wir eine halbe Milliarde Euro im Haushalt beantragt. Altmaier beim Wort nehmen. Endlich Sonntagsöffnun- Wir wollen die Stadt der kurzen Wege, der guten gen statt Sonntagsreden! Das geht aber nur, wenn wir Mischung aus Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur hierfür die Rechtsgrundlage schaffen, und zwar gerichts- fördern, stützen und schützen. Paris macht es gerade fest. vor mit dem Konzept der 15-Minuten-Stadt. Es gibt (Beifall bei der FDP) auch die Innenstadtoffensive der hessischen Landesregie- rung „Ab in die Mitte!“, wo mit Wettbewerben unter Gestern erst hat Verdi wieder Klage gegen die Öffnung Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Akteure an- der Geschäfte an den Adventssonntagen in NRW einge- schließend Konzepte umgesetzt und bezuschusst werden. reicht. Wem nützt das? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Der Wissenschaftliche Dienst hat uns in einer Ausarbei- Wir brauchen eine Baurechtsanpassung, um Gewerbe- tung aufgezeigt, wie eine Grundgesetzänderung aussehen und Kulturerhaltungsgebiete einzuführen. All das findet könnte. Liebe Union, liebe Grüne, nutzen wir also den sich in Ihrem Entwurf des BauGB leider nicht. Zeitpunkt! Sorgen wir für ein faires Miteinander von Ein- Wir brauchen – last, but not least – mehr Grünflächen zelhandel und Onlinehandel, und zwar bald! und Bäume, mehr Aufenthaltsqualität in der Stadt, und Vielen Dank. wir brauchen eine Verkehrswende in unseren Innenstäd- ten. Unsere Innenstädte bieten dann hohe Lebensqualität, (Beifall bei der FDP) (B) wenn nicht alles vollsteht mit Blech, wenn es Grünflä- (D) chen gibt, wenn es Bäume gibt, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Stefan Keuter [AfD]: Wir reden hier über das Vielen Dank, Herr Kollege Todtenhausen. – Nächste Gewerbe!) Rednerin ist die Kollegin Daniela Wagner, Bündnis 90/ Die Grünen. wenn es Orte des Verweilens und der Kontemplation gibt. Das sind attraktive Innenstädte. Dort gehen Menschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gerne hin.

Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Überall, wo Städte diese Wege eingeschlagen haben, Kolleginnen und Kollegen! Unsere Innenstädte sind hat der Einzelhandel davon profitiert. Entgegen anders- schon länger in einer Krise; das hat lange vor der Coro- lautenden ängstlichen Prognosen vorher hat er davon napandemie begonnen. Besonders in kleinen Städten immer profitiert. Wer auch profitiert hat, das sind die greifen schon länger Leerstand und schleichende Ver- Bürgerinnen und Bürger. Deswegen: Lassen Sie uns ge- ödung um sich. Das führt zu einem Verlust an Attraktivi- meinsam einen Weg gehen, um die Verödung unserer tät, Identität und Heimat. Shoppingcenter mit Filialisten Innenstädte aufzuhalten, und auch Corona zum Anlass auf der grünen Wiese ziehen Kaufkraft aus Innenstädten nehmen, ab, und die Digitalisierung des stationären Handels steckt noch in den Kinderschuhen. Und ganz wichtig: Wohnen (Stefan Keuter [AfD]: Wir reden über Gewer- in den Innenstädten ist für Normalverdiener kaum er- bemieten!) schwinglich und in vielen Städten längst verschwunden. über bisherige Konzepte nachzudenken und Neues zu Meine Damen und Herren, Innenstädte sind dann beginnen. besonders attraktiv, wenn es vielfältige Nutzungen und Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Angebote gibt, kommerzielle und nichtkommerzielle, schulische und nachschulische Angebote, Wohnen, Kul- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – tur, Kunst, kleinteiliges Handwerk, inhabergeführten Stefan Keuter [AfD]: Voll am Thema vorbei!) Einzelhandel. Das sind die Innenstädte, die die Leute gerne besuchen, und zwar sowohl Touristen als auch Ein- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wohner. Vielen Dank, Frau Kollegin Wagner. – Nächster Red- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ner ist der Kollege Karsten Möring, CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24011

(A) Karsten Möring (CDU/CSU): Pascal Meiser (DIE LINKE): (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Vielen Dank, Herr Kollege Möring, dass Sie die Zwi- Thema der heutigen Debatte betrifft die Kommunen, schenfrage zulassen. – Sie haben gerade so en passant genauer: die Probleme der Innenstädte in den Kommunen gesagt, Sie möchten nicht auf die konkrete Rechtslage mit Blick auf einen Teil ihrer Funktion, was Gewerbe und eingehen. Ich finde diese aber ganz entscheidend, weil Gewerbemieten angeht. Dieses Problem in den Innen- wir ja die Situation haben, dass einige Gewerbemieter städten ist – das ist eben richtig gesagt worden – natürlich auf Grundlage der bestehenden Gesetzeslage schon ver- älter als die Probleme, die uns die Coronapandemie sucht haben, die Miete zu mindern oder auf Wegfall der geschaffen hat. Aber Corona hat diese Probleme ver- Geschäftsgrundlage zu klagen. Das Ergebnis ist: Alle mir schärft und zum Teil auch deutlich sichtbar gemacht. bekannten Urteile in dieser Sache sind zulasten der kla- genden Mieterinnen und Mieter ausgegangen. Vielleicht Wenn wir über die Frage der Hilfen sprechen, dann, sind Ihnen ja andere Fälle bekannt. Wenn ja, würde es denke ich, können wir konstatieren, dass die Bundesre- mich sehr interessieren, wenn Sie die hier vortragen gierung mit ihren umsatzbezogenen Hilfsmaßnahmen könnten. genau den richtigen Weg gewählt hat. Er ist relativ un- kompliziert, er ist leicht und eindeutig nachvollziehbar, Wenn dem aber so ist, dass die entsprechende Rechts- und das ist das Entscheidende für eine schnelle Umset- grundlage nicht ausreichend ist, dann sagen wir hier doch zung. faktisch, dass wir die Mieterinnen und Mieter mit ihren Wofür diese Mittel dann aufgewendet werden, ob für Problemen alleinlassen. Das heißt, sie müssen immer Miete oder für andere Kosten wie den Lebensunterhalt, wieder klagen und werden immer wieder verlieren, so hängt natürlich davon ab, wer sie beantragt und wer sie wie bisher die Rechtsprechung ist. Ich finde, dass wir in bekommt, weil die Situationen der einzelnen Betroffenen dieser Pandemiesituation, in der wir uns befinden und in völlig unterschiedlich sind. Gerade darin liegt der der tatsächlich staatliche Maßnahmen für Gewerbetrei- Charme dieser Hilfskonstruktion: dass die Hilfen eben bende mit Problemen geschaffen wurden, unserer Verant- passgenau für diese verschiedenen Situationen zur Ver- wortung nicht gerecht werden. Deswegen brauchen wir fügung stehen. eine Klarstellung im Bürgerlichen Gesetzbuch, dass die Miete entsprechend gemindert werden kann oder gege- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) benenfalls eindeutig festgelegt wird, um wie viel die Deswegen brauchen wir keine Sonderregelung hin- Miete gesenkt werden kann. Da würde mich Ihre Ein- sichtlich der Gewerbemieten. Den § 313 BGB will ich schätzung der Rechtslage und der bisherigen Rechtspre- jetzt nicht noch mal auseinanderklamüsern; der ist hier chung tatsächlich sehr, sehr interessieren. schon zweimal angesprochen worden. (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das wäre schon mal interes- sant, weil wir nicht das Gefühl haben, dass Sie Karsten Möring (CDU/CSU): es verstanden haben!) Als Nichtjurist werde ich mich hüten, hier Gerichts- schelte zu betreiben. Ich denke mal, das ist ein Thema, – Ja, ist gut. Herr Kollege. – Ich bin sicher – und das das Sie im Rechtsausschuss diskutieren sollten, meinet- zeigen übrigens die Erfahrungen der Vergangenheit –: wegen auch in Form von Anhörungen. Nur, wenn Sie Entscheidend ist die Frage, wie Mieter und Vermieter sagen, es gäbe schon soundso viele Fälle, dann kann es miteinander umgehen. Während wir am Anfang der sich ja höchstens um erstinstanzliche Urteile handeln und Coronazeit im Frühjahr noch vermutet haben, dass es noch nicht um grundsätzliche Auseinandersetzungen. eine sehr konfliktreiche Auseinandersetzung geben Das ist der erste Punkt. wird, und deswegen dieses Moratorium geschaffen ha- ben, müssen wir nun feststellen, dass die Zahl der Fälle, Der zweite Punkt ist: Ich habe ja gesagt, dass der § 313 die streitig waren und Unterstützung gebraucht haben, ob BGB vielleicht die Lösung für einen Teil des Problems, im Gewerbe- oder im privaten Bereich, insgesamt viel, aber nicht für das zentrale Problem ist. Denn die Erfah- viel geringer gewesen ist, als wir vermutet haben. Das ist rung zeigt, dass in den allermeisten Fällen andere Mög- auf den gesunden Menschenverstand der Beteiligten zu- lichkeiten greifen und funktionieren. Auch die Verbände rückzuführen. Wir gehen doch nicht davon aus, dass wir haben sich in diese Richtung geäußert, auch wenn sie nur Konflikte haben. Natürlich kann es Interessengegen- natürlich gerne noch andere Möglichkeiten hätten. sätze geben. Aber die Erfahrung zeigt, dass die Beteilig- ten auch bereit sind, Abstriche zu machen und aufeinan- (Beifall des Abg. [CDU/CSU]) der zuzugehen. Ich würde gerne in meinen Ausführungen fortfahren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Kollege Daldrup hat vorhin darauf hingewiesen, dass wir uns noch mal darüber unterhalten müssen, ob das Instrument der Stundung oder Ähnliches noch mal auf- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gewärmt werden soll oder ob wir mit der Frage der Um- Herr Kollege Möring, erlauben Sie eine Zwischenfrage satzerstattungsanteile das Problem schon gelöst haben. aus der Fraktion Die Linke? Ich denke, das kann man in Ruhe machen, wenn wir sehen, wie sich das Ganze entwickelt. Wir sind ja eigent- Karsten Möring (CDU/CSU): lich nicht schlecht darin, schnell nachzusteuern, wenn es Bitte sehr. notwendig ist. 24012 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Karsten Möring (A) Auch auf die anderen Punkte, die Sie genannt haben, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) möchte ich noch mal zurückkommen. Denn die Innen- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. stadtprobleme, die wir haben, haben ganz entscheidend mit dem Strukturwandel im Einzelhandel zu tun. Ich bin auch der Auffassung, dass die Lösung der Probleme im Karsten Möring (CDU/CSU): Einzelhandel der Kern der Lösung der Innenstadtproble- Wenn ein Mieter nicht kann, welche Chance hat der matik ist. Vermieter auf einen anderen Mieter? Und da gibt es schon Interessen, die man gegenseitig ausgleichen kann. Ich stelle mir vor, jemand wohnt in einem peripheren Stadtviertel. Warum fährt er in die Innenstadt? Er fährt (Beifall bei der CDU/CSU) nicht in die Innenstadt, weil dort die Grünen – jetzt nehme ich mal ein etwas überspitztes Beispiel – ein Repaircafé Vizepräsident Wolfgang Kubicki: eingerichtet haben und er seine Kaffeemaschine dorthin Vielen Dank, Herr Kollege Möring. – Nächster Redner bringen kann, um sie reparieren zu lassen; dann setzt er ist der Kollege Klaus Mindrup, SPD-Fraktion. sich in einen Park und wartet so lange, bis sie fertig ist, falls er nicht nach Hause fahren will. (Beifall bei der SPD)

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Klaus Mindrup (SPD): NEN]: Können Sie sich auch vorstellen, dass Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ich eine Miele-Kaffeemaschine kaufe?) Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist ja schon Ich will also sagen: Die Funktion, die die Innenstadt angesprochen worden: Im Sommer dieses Jahres hätte erfüllen muss, muss der Zentralität entsprechen, die sie die SPD-Fraktion und die gesamte SPD, auch die Mit- hat. Darin liegt doch das Problem: dass wir durch die glieder des Bundeskabinetts, das Mietenmoratorium ger- Zentralität der Innenstadt eine Reihe von Funktionen ne verlängert. Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis möchte dort gebündelt haben. Der Einzelhandel muss sich mit ich aus dem „Tagesspiegel“ vom 30. Juni dieses Jahres Konzepten auseinandersetzen, wir er dem Onlinehandel zitieren: Paroli bieten kann; darauf können wir als Gesetzgeber „Eine Verlängerung der coronabedingten Sonder- nicht sehr viel Einfluss nehmen. Dafür braucht man Krea- regelungen wäre ein völlig verfehltes Signal“, sagte tivität; die ist bei einigen vorhanden, und es entwickelt Jan-Marco Luczak, der rechts- und verbraucher- sich ja auch etwas. politische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfrak- tion dem Tagesspiegel. „Wir setzen gerade alles Wenn dann bemängelt wird, es wäre im Bereich der daran, zur Normalität zurückzukehren und das Wirt- (B) Digitalisierung zu wenig getan worden, sage ich: 822 Mil- (D) schaftsleben ans Laufen zu bringen.“ lionen Euro setzen wir in die Smart-City-Projekte ein, die wir in drei Chargen im Wettbewerb verteilen – 822 Mil- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte es mir gerne lionen Euro! Aber wenn die Grünen in ihrem Antrag gewünscht, dass wir wieder Normalität haben. Ich hätte fordern: „500 Millionen hierfür, 500 Millionen dafür; es mir gerne gewünscht, dass das Virus überwunden ist. 290 Millionen hierfür, 290 Millionen dafür; hier noch Aber es war schon damals klar, dass das nicht der Fall mal was draufgesattelt, da noch mal was draufgesattelt“, sein wird. Die Prämisse der Entscheidung der Bundesre- dann sage ich: Es fehlt mir eine vernünftige Überlegung gierung damals war falsch; also ist die Entscheidung auch zur Priorisierung und ein Blick für die Zusammenhänge, falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen. was geschehen muss. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Caren Lay Deswegen will ich gar nicht sagen: „Wir brauchen [DIE LINKE]) einen Zukunftsgipfel“ oder: „Wir brauchen einen Krisen- Die Pandemie ist nicht überwunden, und ich bin wirk- gipfel“. Der runde Tisch, der seit dem Sommer im Innen- lich verwundert über das, was die AfD hier in den Reden ministerium eingerichtet ist, ist im Prinzip genau das gesagt hat: dass wir überzogene Maßnahmen hätten. Wir richtige Format. Wir brauchen die Akteure an einem haben in Deutschland immer noch einen Lockdown light. Platz, damit sie im gemeinsamen Gespräch, in der ge- Schauen Sie sich die Infektionszahlen in unseren Nach- meinsamen Diskussion mit unterschiedlichem Verständ- barstaaten an. Schauen Sie sich vor allem die Infektions- nis und unterschiedlichen Interessen ihre Potenziale ent- zahlen in den Ländern an, die auf Mund-Nase-Schutz falten und Probleme streitig lösen können, um auf diese verzichtet haben; da explodieren die Zahlen bis hin zum Weise Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Das Zusammenbruch des Gesundheitswesens. Ich möchte in ist der richtige Ansatz, also: Kreativität, gemeinsames Deutschland keine Triage erleben; ich möchte sie nie Gespräch, Ausgleich der Interessen. erleben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Letztes Wort. Der Vermieter eines Kaufhauses – Gale- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- ria Kaufhof in Köln – kommt dem Mieter entgegen, um KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Schließung zu vermeiden. Bei all den Kaufhausdis- sowie bei Abgeordneten der FDP) kussionen, die wir hatten, ist die Lösung gewesen, dass die Vermieter Zugeständnisse gemacht haben – nicht nur Das Tragen von Mund-Nase-Schutz ist also eine ein- die Vermieter, das Personal auch. Ich denke, das ist ein fache Maßnahme, die Menschenleben retten kann. Hinweis darauf, dass den Beteiligten schon klar ist, dass Schauen Sie sich Japan an, um zu verstehen, wie weit sie in Alternativen denken müssen. man in dieser Frage mit Disziplin kommen kann. Es liegt Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24013

Klaus Mindrup (A) an uns allen, und jeder, der sich nicht so verhält, gefährdet Dieses einseitige Abladen beim Mittelstand, bei den (C) das Leben anderer Menschen, liebe Kolleginnen und Kol- Unternehmerinnen und Unternehmern, bei den Künstler- legen. innen und Künstlern, die mit ihrem gesamten Vermögen haften, das ist einfach falsch, Der Kollege Daldrup hat aber auch – an dieser Stelle komme ich wieder zurück zum Hauptthema – angespro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen, dass die Fördermittel nicht richtig abfließen; das ist DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der eine Schlüsselfrage in dieser Pandemie. Die Pandemie LINKEN) wird sich nicht unserer Bürokratie anpassen. Wir müssen und das bringt unsere Innenstädte und unsere Dörfer in in vielen Punkten – das Bundeswirtschaftsministerium ganz schwierige Situationen. war ja adressiert worden – schneller und besser werden, damit die Hilfen bei den Betroffenen auch ankommen, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: liebe Kolleginnen und Kollegen. Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hagen Reinhold, FDP-Fraktion? (Beifall bei der SPD)

Die Zahlen, die ich von der DEHOGA zu Mahnungen Klaus Mindrup (SPD): und Kündigungen im Bereich Gastronomie und Hotel- Ja, bitte. lerie habe, sind wirklich dramatisch. Es ist gut – das ist ja auch schon positiv angesprochen worden –, dass wir in Hagen Reinhold (FDP): der Novemberhilfe einen anderen Weg gehen. Da möchte Herr Präsident, danke, dass Sie die Zwischenfrage ich mich ausdrücklich bei Olaf Scholz bedanken. Es ist erlauben. – Kollege Mindrup, ich verlängere jetzt mal richtig, dass wir dort umsatzbezogen handeln. Aber bei ein bisschen Ihre Redezeit. den anderen Hilfen ist das eben noch nicht passiert, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es geht darum, dass wir wei- Klaus Mindrup (SPD): ter lebenswerte Innenstädte und Dörfer haben. Danke. Jetzt kommen wir zu der Frage des § 313 BGB. Ich bin kein Jurist; aber ich habe Lebenspraxis. Ich bin Auf- Hagen Reinhold (FDP): sichtsrat in einer Wohnungsbaugenossenschaft. Wir Ich gebe Ihnen noch mal die Möglichkeit – Sie haben konnten entscheiden, dass unsere Mieterinnen und Mieter gerade Herrn Scholz und die Neuausrichtung der Förde- entsprechend ihrer Situation Mieten nicht zahlen muss- rungen gelobt –, mir vielleicht ein Problem zu erläutern, (B) ten, dass Mieten gestundet, dass sie abgesenkt worden das ich bis jetzt als ungeklärt ansehe. (D) sind. Es gibt auch viele mittelständische Unternehmer, Wir reden jetzt viel über die Gewerbemieten, und das die das machen. ist auch richtig und wichtig. Wir reden auch viel über die, die, sagen wir mal, schnell verderbliche Waren einkaufen Wo wir ein Problem haben, ist bei den Fonds – das ist und vielleicht auch einen schnellen Umsatz haben. Mich hier auch angesprochen worden –, weil die Fondsmana- treibt aber eigentlich schon seit Anfang März um, dass es ger keine Rechtsgrundlage haben und befürchten, dass sie viele Einzelhändler und Gewerbetreibende gibt, die ihre selber in die Haftung gehen; sie sind in einer Treuhand- Waren Anfang des Jahres ordern, die Saisonwaren für funktion. Deswegen ist es richtig, dass man den § 313 einen Zeitraum bis zum Ende des Jahres ordern, auf Mil- noch mal diskutiert und den Fondsmanagern sagt: Ihr lionen Euro Warenbestand sitzen bleiben und jetzt wieder müsst euch anders verhalten. betroffen sind. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Bei mir im Wahlkreis – ich komme aus einer touris- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE tisch geprägten Region – sind die Hotels geschlossen. Es GRÜNEN) sind natürlich auch gar keine Gäste da, die in irgendeinem Einzelhandelsgeschäft etwas kaufen können. Denen nützt Es ist sogar im Interesse ihrer eigenen Geldanleger, dass der Umsatzausgleich herzlich wenig, und die stehen zur- zukünftig die vielen Betriebe, die sich bei ihnen einmie- zeit ratlos da. Da sind auch nicht die Mieten das alles ten, eben nicht insolvent gehen. Entscheidende, sondern die vollen Lager mit Waren, die sie nicht loswerden. Dies ist eine völlig ungeklärte Frage, Das betrifft auch die Frage der Verhältnismäßigkeit. Es die bis jetzt mehrfach angesprochen wurde. wird jetzt so getan, als gebe es für diese Gruppe und auch Sie haben gerade gelobt, dass sich da bei Olaf Scholz für die Vermieterinnen und Vermieter keine Hilfen. Es was ändert. Welche Antwort gebe ich denn den Unter- gibt die Tilgungsaussetzung; die können sie bei den Ban- nehmen, die mich hilfesuchend anrufen und sagen: „Da ken beantragen. Ich habe viele Unternehmen bei mir im muss was passieren!“? Was sage ich denen eigentlich? Wahlkreis, die das machen. Das ist auch sinnvoll; denn wir sparen damit öffentliches Geld. Wir haben nicht un- (Beifall bei der FDP) endlich viel öffentliches Geld. Aber Tilgungsaussetzung ist etwas Vernünftiges; das kann man in Anspruch neh- Klaus Mindrup (SPD): men. Man muss es natürlich so hinkriegen, dass das Werter Kollege, Sie haben völlig zu Recht darauf hin- Rating bei den Banken wieder angepasst wird. Aber es gewiesen, dass diese Pandemie den Einzelhandel ganz ist möglich, liebe Kolleginnen und Kollegen. stark trifft. Ich glaube, es ist wirklich notwendig, dass 24014 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Klaus Mindrup (A) wir im Sinne des Zukunftsgipfels, der vom Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Daldrup angesprochen worden ist, uns auch mit dem neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Handel zusammensetzen. Ich tue das in meinem Wahl- Es ist schon der § 313 Bürgerliches Gesetzbuch ange- kreis. Ich stehe in engem Austausch mit dem Geschäfts- sprochen worden. Auch da haben wir Diskussionen. führer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg, um Natürlich, wir wollen das Beste für unser Land. Deswe- dort zu helfen. Wir kommen auch nicht daran vorbei, gen werden wir uns die Fälle jedenfalls noch mal angu- dort Zuschüsse zu zahlen; denn der Handel ist aus meiner cken. Natürlich sind wir dabei gesprächsbereit. Das glau- Sicht vor allen Dingen dort, wo er sozusagen innenstadt- be ich fest, zumindest in Bezug auf meine Fraktion. prägend ist, auch systemrelevant. Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben ein richtiges Thema adressiert. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sollten das vertiefen. Dafür haben wir ja auch die Aus- Wenn wir weitergehen, kommen wir zu einem Thema, schussdebatte. das natürlich auch in diesem Antragspaket inkludiert ist: (Beifall bei der SPD) zu den Innenstädten. Es wurde schon angesprochen: Das Thema der Innenstädte war auch vorher schon ein großes Jetzt habe ich noch elf Sekunden. In diesen elf Sekun- Problem. Die Innenstädte sind massiv unter Druck. Ein den möchte ich einfach damit enden, dass ich uns allen in Einzelhändler hat keine Chance gegen Amazon. Des- dieser Pandemiezeit Gesundheit wünsche und gute Ent- wegen bin ich auch der festen Überzeugung, dass es scheidungen im Interesse der Menschen in diesem Lande. eben nicht sein kann, dass es weiterhin Versandhändler Danke schön, liebe Kolleginnen und Kollegen. aus dem Ausland gibt, die bei uns keine Steuern oder zu wenig Steuern zahlen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und Vizepräsident Wolfgang Kubicki: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank, Herr Kollege Mindrup. – Letzte Redne- rin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Emmi Deswegen müssen wir da entsprechend rangehen. Ich Zeulner, CDU/CSU-Fraktion. möchte aber auch ganz klar sagen: Es geht mir nicht um Steuererhöhungen, sondern es geht mir einfach darum, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dass es nicht sein kann, dass Versandhändler zu großen ordneten der SPD) Teilen von dem Umsatz, den sie hier erwirtschaften, nichts weitergeben. Emmi Zeulner (CDU/CSU): Um den Einzelhandel insgesamt in den Innenstädten (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und zu stärken, nützen aber meiner Meinung nach keine Maß- (D) Kollegen! Es war eine interessante Debatte, weil uns alle nahmen wie 500-Euro-Konsumgutscheine – das ist nicht hier nämlich etwas eint: dass wir unser Land in dieser nachhaltig. Vielmehr, wenn ich in den Innenstädten etwas Pandemie nicht alleinlassen wollen; weil uns nämlich tun möchte, dann muss ich ins Quartier gehen, dann muss alle eint, dass wir wollen, dass unsere Innenstädte belebt ich durchmischen, dann muss ich tatsächlich wortwört- bleiben, den Herausforderungen gewachsen sind. Und lich auch Leben in die Innenstadt bringen. uns eint auch alle, dass wir dort, wo es notwendig sein sollte, nachschärfen wollen. (Beifall der Abg. Daniela Wagner [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Es wurde jetzt schon viel über die Überbrückungshil- fen I und II gesprochen. Die Idee der Überbrückungshilfe Das heißt, ich muss das Quartier umgestalten. Die war natürlich auch, dass wir dort das Thema der Mieten Leipzig-Charta – über die diskutieren wir ja auch hier und der Gewerbemieten mitverankern. Deswegen ist es zeitnah – gibt darauf schon Antworten, wie die Innenstadt natürlich mitgedacht, dass bei der Beantragung der Über- der Zukunft aussehen kann. Auch im Innenministerium brückungshilfen auch die Gewerbemiete, die eben im gibt es bereits – man kann es natürlich immer anders Vorjahr noch leichter zu stemmen war als jetzt in der nennen, man kann es „Zukunftsrat“ nennen oder sonst Pandemiezeit, Berücksichtigung findet. Deswegen ist wie –, angeführt von unserem Bundesinnenminister sie auch in den Überbrückungshilfen inkludiert. Horst Seehofer, einen Beirat, der sich genau mit diesem Thema beschäftigt und passgenaue Antworten geben (Beifall bei der CDU/CSU) muss. Wir haben jetzt in der Novemberhilfe organisiert, dass Aber entscheidend ist natürlich Strukturpolitik, nicht das Ganze ein Stück weit unbürokratischer geht. Es gibt irgendwelche Konsumgutscheine. Es ist Strukturpolitik viele Stimmen in der Unionsfraktion, die eben wollen, in ihrer reinsten Form. Ich schaue in meine Heimat im dass zukünftig auch der Lebensunterhalt der Unterneh- ländlichen Raum. Man kann auch Innenstädte nicht mit- mer Berücksichtigung findet. Ich würde wirklich auch die einander vergleichen, weil sie sehr unterschiedlich sind. Kollegen der SPD bitten, dass wir da ein Stück weiter- Im ländlichen Raum ist zum Beispiel eine Antwort, dass kommen, weil es nicht sein kann, dass Unternehmer – wir dort in eine Innenstadt, auch wenn dort natürlich noch egal welche – und auch Künstler und Gastronomen zum Luft nach oben ist, was Belebung angeht, Hochschulen Jobcenter gehen müssen, um beispielsweise die Grundsi- verlagern, dass wir dort faktisch Leben schaffen, indem cherung zu beantragen. Vielmehr muss auch ihr Bedarf in wir Außenstellen von Fachhochschulen einrichten. Diese den entsprechenden Überbrückungshilfen Berücksichti- Einrichtungen sind dann nicht irgendwo am Stadtrand gung finden. angesiedelt, sondern die sind mitten in der Innenstadt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24015

Emmi Zeulner (A) Ein Campus im Landkreis Kronach in Oberfranken liegt von Corona“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- (C) mitten in der Innenstadt. So organisieren wir, dass wir schlussempfehlung auf Drucksache 19/20208, den An- auch dort zukünftig wieder Leben haben. Das ist Struk- trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/19118 turpolitik in der reinsten Form. abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Bei der Städtebauförderung haben Sie viele Themen Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen angesprochen. Etwas, dem ich mich am ehesten noch der Fraktionen der AfD und der FDP mit den Stimmen nähern kann, ist das Thema „Grün in der Stadt“. Sie der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. nennen das so. „Grün in der Stadt“ bedeutet für einen Stadtbaurat in Berlin, dass er grüne Punkte auf den Boden Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 c auf: malt, um den Autoverkehr rauszuhalten. Aber für mich ist a) Beratung des Antrags der Fraktionen der vielleicht ein anderer Begriff etwas griffiger, nämlich CDU/CSU und SPD „Natur in der Stadt“. Das wünsche ich mir. Ich glaube, da müssen wir auch noch mal bei den Programmen nach- Für den Erhalt des Vertrags über den schärfen. Ich weiß, dass mich Marie-Luise Dött und viele Offenen Himmel eintreten andere darin unterstützen, mehr Natur in die Stadt zu Drucksache 19/23946 bekommen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des In diesem Sinne gibt es weiterhin mit Sicherheit ganz, Berichts des Auswärtigen Ausschusses ganz spannende Diskussionen, wo wir und wie wir unsere (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- Innenstädte zukunftsfest machen können. Auf diese neten Matthias Höhn, Dr. Gregor Gysi, Heike Beratungen freue ich mich. Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Frak- Vielen herzlichen Dank. tion DIE LINKE (Beifall bei der CDU/CSU) Militärische Beobachtungsflüge fortset- zen – Vertrag über den Offenen Himmel retten – Austritt der USA verhindern Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Frau Kollegin Zeulner. – Damit schließe Drucksachen 19/19487, 19/20206 ich die Aussprache. c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses Wir kommen zur Abstimmung über die Tagesord- (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- nungspunkte 31 a und 31 b. Interfraktionell wird Über- neten Katja Keul, Margarete Bause, weisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/22898 und Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordne- (B) 19/23941 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- (D) ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE schüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Überweisungs- GRÜNEN vorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. Vertrag über den Offenen Himmel auf- rechterhalten Tagesordnungspunkt 31 c. Wir kommen zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Drucksachen 19/20788, 19/24006 Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 19/24042. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- beschlossen. – Bitte den Platzwechsel zügig durchführen. schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion der AfD auf Drucksache 19/18722 mit dem Titel Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- „Soforthilfen für Vermieter gewerblich genutzter Räume ner dem Kollegen Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Frak- und Flächen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- tion, das Wort. lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktio- Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): nen des Hauses angenommen. Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Kollegen! Das mit dem Umgruppieren und dem Reagie- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- ren auf den Aufruf als Redner ganz am Anfang einer tion Die Linke auf Drucksache 19/23112 mit dem Titel Debatte funktioniert am Ende dieser Sitzungswoche „Von der Corona-Krise betroffene Gewerbetreibende bei wohl etwas langsamer, insbesondere deshalb, weil wir der Miete entlasten“ . Wer stimmt für diese Beschluss- wahrscheinlich alle miteinander, die wir heute da sind, empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält viele Nächte schon damit zugebracht haben – nicht wir sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die in Deutschland allein, sondern Menschen auf der ganzen Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Frak- Welt –, das Ergebnis der Wahl des amerikanischen Präsi- tion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übri- denten zu erfahren, damit wir wissen, wie es sicherheits- gen Fraktionen des Hauses angenommen. politisch und außenpolitisch in den nächsten Jahren Zusatzpunkt 9. Abstimmung über die Beschlussemp- vorangeht. fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu Ich wollte beginnen mit den Worten: Die Uhr läuft. Die dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Vitale Uhr läuft zum einen für die Präsidentenwahl in den Ver- Innenstädte durch starken Einzelhandel – Auch in Zeiten einigten Staaten von Amerika. Die Uhr läuft zum ande- 24016 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) ren – sie ist fast abgelaufen – für den Vertrag über den auf einmalige Art und Weise ein gemeinsames Schreiben (C) Offenen Himmel, einen Vertrag, in dem sich 34 Nationen aller Fraktionen an den Kongress und an den Auswärti- aus Europa und Nordamerika verbunden und verpflichtet gen Ausschuss in den Vereinigten Staaten geschickt mit haben, gemeinsam Verifikation zu betreiben, gemeinsam der dringenden Bitte, die Entscheidung parlamentarisch über das Vertragsgebiet zu fliegen und gemeinsam mili- zu überdenken. tärische Aktivitäten zu beobachten. Man könnte sagen: Das ist ein einfaches Vertragswerk; das macht man ganz Wir hier im Deutschen Bundestag haben ebenfalls par- einfach. – Aber es war damals und ist auch heute etwas lamentarische Entscheidungen zu treffen. ganz Besonderes, einen Vertrag zu haben, in dessen Rah- Erstens. Wir sollten versuchen, die Vereinigten Staaten men sich Partner, die nicht immer Freunde und zum Teil von Amerika vom Verbleib zu überzeugen und geeignete auch keine Bündnispartner sind, gemeinsam für Sicher- Angebote machen, die auch Amerika etwas bringen. Es heit, Abrüstung und Verifikation einsetzen. Es ist nicht geht nicht darum, dass man gegebenenfalls über Satelli- selbstverständlich, werte Kolleginnen und Kollegen, dass ten bessere Bilder haben kann. Aber es gibt nichts Besse- Soldatinnen und Soldaten aus unterschiedlichen Armeen, res als den Austausch der Soldatinnen und Soldaten im mit unterschiedlichen historischen Hintergründen und gleichen Flugzeug und an den gleichen Geräten. mit unterschiedlichen militärischen Interessen gemein- sam in einem Flugzeug sitzen, gemeinsam das Vertrags- Zweitens. Wir müssen die Russische Föderation davon gebiet überfliegen und gemeinsam Ergebnisse austau- überzeugen, dass Open Skies in jedem Fall Sicherheit schen und verifizieren. und Stabilität in Europa bringt, und zwar allein durch das Zusammenwirken. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. [CDU/CSU]) Drittens. Wenn wir die Vereinigten Staaten von Ame- rika nicht halten können, müssen wir dafür werben, dass Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die dann wenigstens weitere Staaten mitarbeiten. Ich denke Besonderheiten dieses Vertrages sind genau das Zusam- dabei auch an China. Gemäß unserem gemeinsamen Koa- menwirken der Soldatinnen und Soldaten in den Flug- litionsantrag ist es notwendig, China das Angebot zu zeugen, der gemeinsame Austausch und die Vertrauens- machen, in dieses Vertragswerk einzusteigen. Wir Deut- bildung, die dort stattfindet. Ich will in Abwandlung der sche sind Exportweltmeister. Das könnten die Chinesen Worte eines Bundestagspräsidenten, soweit mir das ge- durch diesen wunderbaren Vertag – zusammen mit uns – stattet ist, sagen: Menschen, die das gleiche Geld haben, ebenfalls sein. schießen nicht aufeinander. Menschen, die miteinander in einem Flugzeug die gleiche Arbeit verrichten und sich Meine sehr verehrten Damen und Herren, die friedens- (B) kennen, werden auch nicht aufeinander schießen. – Das sichernde Idee von Open Skies sollte bestehen bleiben, (D) ist der große Erfolg des Vertrags über den Offenen Him- sollte über Europa hinausgehen und sollte vor allen Din- mel: die Unberechenbarkeit, die Kriegsgefahr und die gen eine Selbstverständlichkeit in NATO-Kanälen, in Gegnerschaft zu überwinden und in Berechenbarkeit Sicherheitskanälen und in allen Gesprächen sein. Da auf münden zu lassen. Eine großartige Idee, die uns allen in das Schreiben des Unterausschusses Abrüstung, Rüs- Europa über viele Jahre Frieden und Sicherheit beschert tungskontrolle und Nichtverbreitung hin der Vorsitzende und vor allen Dingen die Tür für Rüstungskontrollver- des Auswärtigen Ausschusses in den USA, der Abgeord- träge geöffnet hat! nete Eliot Engel, betont hat, dass in den USA nach wie Vor diesem Hintergrund haben wir in Deutschland und vor viel Unterstützung für diesen Vertrag bei den Parla- in Europa mit besonderer Sorge, ja mit Erschrecken zur mentarierinnen und Parlamentariern vorhanden ist und Kenntnis genommen, dass die Vereinigten Staaten von überhaupt gemeinsame Anstrengungen für Frieden und Amerika unter Präsident Trump den Verstoß der Russi- Sicherheit im Mittelpunkt stehen, denke ich, dass diese schen Föderation gegen den Vertrag über den Offenen Unterstützung nach Kräften gefördert werden muss. Es Himmel – ich sage das ganz bewusst – dazu genutzt ha- wird aber nicht so gut funktionieren, wenn wir den Ame- ben, aus diesem Vertrag auszusteigen. Die Russen haben rikanern – quasi wie aus allen Trompeten – den Marsch zwar den Vertrag verletzt, sind aber noch Vertragspartner. blasen und sagen, was sie falsch machen. Vielmehr soll- Solange ich einen Vertragspartner habe, kann ich auf ihn ten wir sie inständig dazu bewegen, wieder zum Vertrags- einwirken, kann ich ihn auf seine vertraglichen Pflichten werk zurückzukehren. hinweisen, kann ich ihn zur Einhaltung seiner vertragli- All dies berücksichtigt der Antrag der Koalitionsfrak- chen Pflichten anhalten und den Gesprächsfaden weiter- tionen und geht damit über die Anträge der Opposition spinnen, was bei einer Kündigung nicht der Fall ist. weit hinaus. – Ich sehe, dass meine Redezeit zu Ende Der 22. November des Jahres 2020, an dem die Kün- geht, Herr Präsident. digung und der Austritt der Vereinigen Staaten von Ame- Ich komme zum Ende. Ich hoffe, dass der Wahlkrimi in rika aus dem Vertrag über den Offenen Himmel zum den Vereinigten Staaten zu dem Ergebnis führt, dass wir Tragen kommen, ist ein wichtiges Datum. Ich bin der am Ende Open Skies erhalten und damit den Frieden in Auffassung, dass es kaum noch ein Zurück gibt, wenn und für Europa sichern können. das zum Tragen kommt; denn Verifikation ohne die Ver- einigten Staaten von Amerika als den größten transatlan- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. tischen Partner wird schwer möglich sein. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Unterausschuss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung hat der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24017

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: können, dass Verträge wie der über den Offenen Himmel (C) Vielen Dank, Herr Dr. Brunner. – Nächster Redner ist bald unnötig werden. Können wir zum Beispiel in der der Kollege Dr. Roland Hartwig, AfD-Fraktion. OSZE nicht darauf hinwirken, einen Vertrag über die Sicherheit in Europa mit Russland auszuarbeiten? (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Dr. Roland Hartwig (AfD): Sollten wir nicht Elemente der 2003 auf dem EU-Russ- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies wird land-Gipfel in Sankt Petersburg entwickelten Idee der offensichtlich eine Debatte, in der alle Fraktionen natio- vier gemeinsamen Räume mit Russland aufgreifen, die nale Interessen über Parteipolitik stellen werden; denn neben Wirtschaft, Forschung, Kultur und Bildung auch wir sind uns doch alle einig, dass der Vertrag über den eine Kooperation im Bereich der äußeren Sicherheit vor- Offenen Himmel bewahrt werden muss, und hatten genau sah? Können wir nicht eine jährliche Debatte zur sicher- dies ja auch im Mai in einem gemeinsamen Brief an das heitspolitischen Lage in der Bundesrepublik Deutschland amerikanische Repräsentantenhaus bekräftigt. Die von ermöglichen, um Konzepte für den europäischen Raum den Amerikanern vorgebrachten Einwände rechtfertigen zu entwickeln? auch nicht annähernd die Aufkündigung des Vertrages. Die Probleme können behoben werden. Lassen Sie Meine Damen und Herren, es besteht ein starker und mich das an dem in Ihren Anträgen genannten Beispiel weiter wachsender Bedarf an einer globalen Sicherheits- von Königsberg illustrieren. architektur für das 21. Jahrhundert. Wir sollten deshalb gemeinsam mit anderen Staaten darauf hinwirken, einen Grund für die russische Einschränkung der Flugstre- Prozess anzustoßen, um die gesamte Architektur der glo- cken von Beobachtungsflügen über Königsberg auf balen Sicherheit zu erneuern und Sicherheit für alle Staa- 500 Kilometer war eine zwar vertragskonforme, aber ten zu gewährleisten, nicht nur für die NATO-Staaten und doch exzessive Beobachtung des Gebiets durch Polen die Nuklearmächte. Ich habe die Hoffnung, dass wir mit im Jahr 2014. Beobachtungsflüge über Königsberg blei- der heutigen konstruktiven Debatte einen kleinen, aber ben aber auch weiterhin möglich. Da es auch über Däne- wichtigen Schritt in die richtige Richtung gehen werden. mark und Deutschland Streckenbegrenzungen gibt, könn- ten wir den Russen entgegenkommen und die auch für Vielen Dank. Königsberg vertraglich festschreiben. (Beifall bei der AfD) Bevor wir uns aber in den Details des Vertragswerkes verlieren, sollten wir uns die Frage stellen, warum wir Vizepräsident Wolfgang Kubicki: diesen Vertrag überhaupt brauchen. Die Antworten (B) sind: Es ist ein wichtiger Bestandteil der europäischen Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hartwig. – Als nächsten (D) Rüstungskontrollarchitektur, die in den letzten Jahren Redner rufe ich auf den Kollegen Roderich Kiesewetter, ohnehin schwer beschädigt worden ist, und der Vertrag CDU/CSU-Fraktion. hilft uns dabei, Vertrauen zwischen den Völkern Europas (Beifall bei der CDU/CSU) zu bilden.

Schauen wir uns dabei mal die Praxis der letzten Jahre Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): an. Fast alle Beobachtungsflüge fanden über Europa statt, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- nur wenige über den USA. Warum müssen wir Europäer ne sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein guter uns denn gegenseitig so aufmerksam beobachten und Tag des Bundestages in Bezug auf Rüstungskontrolle und genau nachverfolgen, ob es Truppenbewegungen in vertrauensbildende Maßnahmen, aber kein Tag für Deutschland gibt und wo die Russen ihre Raketen statio- Rapallo- und Königsberg-Romantik, liebe Kolleginnen nieren? Doch letztlich nur deshalb, weil die künstliche und Kollegen. Es geht um nüchterne Fragen der Rüs- Trennung des europäischen Kontinents immer noch fort- tungskontrolle und der Verifikation. Die Große Koalition besteht. Schützengräben und Stacheldraht in der Ostuk- und wir als Union haben bereits im Jahr 2013 maßgeblich raine sind heute Zeichen dieser Trennung, die wir längst dazu beigetragen, dass wir guten Gewissens sagen kön- überwunden glaubten. Ich darf noch einmal in Erinne- nen: Der Offene Himmel hat eine Zukunft. Im Jahr 2013 rung rufen: Michail Gorbatschow sprach beim Ende des haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, ein neues Kalten Krieges vom „gemeinsamen Haus Europa“. Fran- Open-Skies-Flugzeug zu beschaffen, das tatsächlich im çois Mitterrand sah mit dem Ende des Kalten Krieges für nächsten Jahr in Betrieb genommen wird. Das ist deshalb Europa die Möglichkeit, zu seiner eigenen Geschichte eine Besonderheit, weil unser allererstes Flugzeug dieser und seiner eigenen Geografie zurückzukehren, so wie Art 1997 bei einer fürchterlichen Flugkatastrophe vor man zu sich nach Hause zurückkehrt. Südafrika abgestürzt ist, mit fatalen Folgen für viele Wir haben uns 1990 in der Charta von Paris gemein- Familien. sam das Ziel gesetzt, ein Europa zu schaffen, dass geeint, Wenn wir heute bei der Verteidigung des Offenen Him- frei und sicher ist. Nach drei verlorenen Dekaden müssen mels und dieses Rüstungskontrollwerks glaubwürdig sein wir feststellen, dass wir heute leider weit davon entfernt wollen, bedeutet das auch, dass wir uns hier mit modern- sind, weiter als noch beim Fall der Mauer. sten technischen Mitteln einbringen müssen. Das leistet Erinnern Sie sich noch an die positive Grundstimmung dieses Flugzeug, und das hat diese Große Koalition mit dieser Zeit? Lassen Sie uns doch bitte überlegen, wie wir Unterstützung des ganzen Hauses geleistet. Herzlichen unseren gemeinsamen europäischen Raum so gestalten Dank. 24018 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Roderich Kiesewetter (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (C) ordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum ist der Ver- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: trag über den Offenen Himmel so wichtig? Der Kollege Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter. – Nächster Brunner hat es angesprochen: Er ermöglicht auch kleine- Redner ist der Kollege Dr. Marcus Faber, FDP-Fraktion. ren Staaten die Teilhabe an der Rüstungskontrolle und (Beifall bei der FDP) den vertrauensbildenden Maßnahmen, weil sie sich allein eben keine satellitengestützte Aufklärung leisten können. Und wenn russische Offiziere, amerikanische Piloten und Dr. Marcus Faber (FDP): baltische Offiziere gemeinsam Seite an Seite über Sibi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- rien oder über Portugal fliegen, ist das etwas ganz ande- ne Damen und Herren! Vor drei Tagen haben die USA res, als wenn man im Satellitenzentrum steht und ver- gewählt. Der noch amtierende Präsident Trump hat in den sucht, Satellitenbilder auszuwerten; denn diese Daten letzten vier Jahren Spuren hinterlassen – nicht nur im werden gemeinsam erhoben, gemeinsam kontrolliert, ge- eigenen Land. Er hat internationale Rüstungskontrollver- meinsam ausgewertet. Das ist das Gute. träge aufgekündigt: den INF-Vertrag mit Russland, JCPoA, das Nuklearabkommen mit dem Iran, und eben Noch ein anderer Gedanke – Kollege Brunner hat ihn auch Open Skies – alles Verträge, die auch für die Sicher- schon angesprochen –: Der Ausstieg der Amerikaner ist heit Europas zentral sind. durch nichts gerechtfertigt. Viele amerikanische Kolle- Im Mai hat Trump den Austritt aus Open Skies erklärt. gen im Kongress und im Senat sind sich bewusst, dass Aus Sicht meiner Fraktion, aus Sicht der Freien Demo- dieser Vertrag, wenn sie aussteigen, den Amerikanern kraten, ist das ein falsches Signal. schadet. Gerade die kleineren Staaten haben sich auf amerikanische Fähigkeiten gestützt. Es waren die Ame- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Bärbel Bas rikaner, die dreimal mehr Überflüge über Russland [SPD]) geleistet haben als Russen über Europa oder den USA. Trump reißt damit eine zentrale Säule der internationalen Auch das gehört zur Wirklichkeit dazu. Von den Rüstungskontrolle ein. Der Open-Skies-Vertrag erlaubt 1 800 Flügen, die es bisher gab, sind 12 Prozent mit es den Parteien, fremden Luftraum zu überfliegen, um deutscher Beteiligung erfolgt. Wir wollen das auch wei- militärische Aktivitäten zu überwachen. Wenn Russland terhin leisten und bringen uns jetzt aktiv mit eigenen spontan eine bereits geplante Flugroute ändert, ist dies Fähigkeiten ein. schlicht vertragswidrig. Kritik an dem Vertragspartner Wenn wir aber den Vertrag erhalten wollen, müssen ist deshalb berechtigt, um nur diesen einen Punkt zu nen- (B) wir drei, vier Dinge einordnen: nen. Aber ist das ausreichend, um den Vertrag zu ver- (D) lassen? Ich meine, nein. Es verdeutlicht nur die Proble- Erstens. Dieser Punkt ist an Russland gerichtet: Wir me, die wir gerade in der Rüstungskontrolle haben. In brauchen Überflugrechte über Kaliningrad, und zwar einer Zeit von aufkeimenden Konflikten wäre gerade uneingeschränkt. Hier muss Russland einlenken. jetzt eine funktionierende Rüstungskontrolle wichtig. Zweitens. Wir brauchen den Zugang zur Grenze zwi- Deshalb möchte ich klarstellen: Wir Freie Demokraten schen Russland und Georgien. Teile Georgiens sind von verurteilen den Ausstieg der USA aus den genannten Ver- russischen Truppen besetzt, aber Russland erlaubt keine trägen. Die Konsequenz muss aber sein, alles daranzu- Überflüge. Auch hier muss sich Russland bewegen. setzen, dass der Open-Skies-Vertrag Bestand hat. Dafür setzen wir uns ein. Drittens. Wir sollten den Amerikanern die Tür offen halten für eine Rückkehr in den Vertrag. Es muss den (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Roderich USA aber auch klar sein: Aus dem Vertrag draußen heißt: Kiesewetter [CDU/CSU]) keinen Zugang mehr zu den Daten. Ich bin sehr froh, dass Ja, auch wir halten es nicht für hinnehmbar, dass Russ- sich unsere drei Anträge – von der Koalition, von den land das Abkommen nicht einhält. Auch die US-Forde- Grünen und von den Linken –, die heute hier beraten rung nach einem neuen Abkommen, das China beinhal- werden, nur in Nuancen unterscheiden. Unser Koalitions- tet, ist absolut richtig und nachvollziehbar. Jedoch muss antrag ist der weitergehende Antrag, aber wir sind in ein solches Abkommen eben auch verhandelt werden. einer wirklich guten Einmütigkeit. Völkerrechtlich bindende Verträge lassen sich nicht von Viertens. Wenn wir zukunftsfähig vertrauensbildende einem Tag auf den anderen verhandeln. Maßnahmen leisten und Rüstungskontrolle ermöglichen Der Antrag der Grünen spiegelt das eigentlich wider; wollen, dann sollten wir den Vertrag auch öffnen, unab- eigentlich. Er lässt aber zugleich große Lücken, zum Bei- hängig davon, ob die USA wieder eintritt oder nicht. Ich spiel werden die Vertragsverletzungen vonseiten Russ- bin zuversichtlich, dass eine Regierung Biden ihn wieder lands hier nicht angesprochen. Sie sind aber der Grund aufleben lassen wird. Aber wir sollten ihn auch für Staa- für das Problem und dafür, dass wir heute hier stehen. ten des ostpazifischen Raums und nicht nur für China Ich komme damit zum Antrag der Linken. Sie nehmen öffnen. So können wir dann auch die Rüstungskontrolle Russland in Schutz, wo es nur geht; wie der Kollege und vertrauensbildenden Maßnahmen weltweit besser Höhn diese Woche in den Medien. Sie sprechen hier leisten, als es heute der Fall ist. Aber das Signal, das heute von reinen Behauptungen, wenn es um die Vertragsver- von dieser Debatte ausgeht, ist ein ermutigendes. letzungen geht. Es sind aber eben keine Behauptungen. Herzlichen Dank. Das kann man nachlesen, zum Beispiel im Jahresbericht Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24019

Dr. Marcus Faber (A) des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr. Lassen Sie mich sagen: Lieber Kollege Faber, ich brau- (C) Ich stelle Ihnen im Anschluss auch gerne den Bericht zur che keine Belehrung über das Zentrum für Verifikations- Verfügung, dann können Sie Ihren Antrag noch einmal aufgaben und über General Braunstein. Wir haben ihn überarbeiten. besucht, er war bei mir im Unterausschuss; ich kenne diesen Bericht. (Beifall bei der FDP) Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir Der Antrag der Koalition macht die genannten Punkte uns – jetzt bin ich beim Antrag der Koalition – darüber deutlich. Deswegen werden wir als Freie Demokraten einig sind, dass wir hier gemeinsam ein Signal setzen diesem auch zustimmen. Wir brauchen für den Vertrag wollen, müssen wir aufpassen, dass wir die Dinge nicht Offener Himmel dringend ein Upgrade. Und wir als Freie wechselseitig überfrachten. Wir können gerne über China Demokraten arbeiten an diesem Upgrade gerne mit. reden – in vielerlei Hinsicht. Aber wer glaubt denn, dass Vielen Dank. nun ausgerechnet in dem Moment, in dem die Vereinigten Staaten aus dem Vertrag austreten, die Volksrepublik Chi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten na zu bewegen ist, einzutreten? Deswegen ist doch dieser der CDU/CSU) Konnex an dieser Stelle falsch. Unser erstes Ziel muss sein, unseren Verbündeten, die Vereinigten Staaten, im Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vertrag zu halten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Faber. – Nächster Red- muss heute der Schwerpunkt sein. ner ist der Kollege Matthias Höhn, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Marcus Faber (Beifall bei der LINKEN) [FDP]: Das eine schließt das andere nicht aus!) Danach können wir auch über alles andere reden. Matthias Höhn (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Lassen Sie mich zum Schluss noch mal betonen: Es ist ren! Vertrag über den Offenen Himmel: Das hat ja beina- gut, dass wir heute an dieser Stelle ein gemeinsames he etwas Poetisches. So schön dieser Name klingt, so Signal setzen, dass wir in dieser Frage einen so großen wichtig ist auch dieser Vertrag; das ist von Kolleginnen Konsens haben, auch wenn ich mir das früher gewünscht und Kollegen schon betont worden. Er ermöglicht Rüs- hätte. tungskontrolle von Vancouver bis Wladiwostok, gemein- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. same Rüstungskontrollflüge der über 30 Nationen, die in (B) diesem Vertrag vereinigt sind. Insofern schafft dieser Ver- (Beifall bei der LINKEN) (D) trag Transparenz. Ohne Transparenz schaffen wir kein Vertrauen, und ohne Vertrauen schaffen wir keine Sicher- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: heit. Deswegen ist dieser Vertrag so zentral für die Sicherheitspolitik, meine sehr verehrten Damen und Her- Vielen Dank, Herr Kollege Höhn. – Ich erteile nun- ren. mehr das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun ist schon darauf hingewiesen worden: Donald Trump hat den Vertrag gekündigt. Das ist nicht der ein- zige Vertrag, den er in seiner Amtszeit gekündigt hat. Es Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist umso bitterer, dass wir das an einem Tag bereden, an Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden dem mittlerweile stündlich die Hoffnung wächst, dass er hier über etwas, was in den internationalen Beziehungen die Präsidentschaftswahlen verloren hat. Mangelware geworden ist, eine schwindende Ressource, nämlich Vertrauen. Da man nicht einfach so vertraut, gilt Aber deswegen lassen Sie mich an dieser Stelle auch in diesen internationalen Beziehungen – ich zitiere jetzt sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ja, es war gut und mal Lenin –: Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser. richtig – darüber habe ich mich als Vorsitzender gefreut –, dass wir im Unterausschuss diese Einmütigkeit herge- (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: stellt und uns an den Kongress gewandt haben. Aber Leider!) das war bereits im Mai. Meine Fraktion hat bereits im Juni einen Antrag vorgelegt. Das, was wir die letzte Zeit immer erlebt haben, ist, dass Verträge, also Kontrollinstrumente, die Vertrauen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 22. November damit Sicherheit zwischen den Staaten schaffen, reihen- endet die Ausstiegsfrist. Jetzt reden wir über den Antrag weise gekündigt und missachtet wurden. der Koalition. Die Aufforderung an Donald Trump, in diesen Vertrag zurückzukehren, kommt fast zu spät. Das Herr Kollege Hartwig, erstens, der Ort in Russland, ist mein Vorwurf an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: über den Sie sprachen – wenn Sie denn ernst genommen Bei aller Einigkeit: Der Vorschlag kommt zu spät, und werden wollen –, heißt übrigens Kaliningrad. wir hätten dieses gemeinsame Zeichen längst im Sommer setzen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf (Beifall bei der LINKEN) des Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD]) 24020 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Jürgen Trittin (A) Zweitens. Wenn Sie sich darauf berufen, dass es hier ja (Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Keuter (C) dieses schöne Vertragswerk von Paris gibt: Wer hat denn [AfD]: Ohne Maske! Unglaublich! – Armin- diese Charta von Paris auf der Krim mit Füßen getreten, Paulus Hampel [AfD]: Herr Präsident!) wer tritt sie in der Ostukraine jeden Tag mit Füßen? Das war einer der Vertragsstaaten, nämlich Russland. – Wissen Sie, meine pädagogischen Fähigkeiten sind an ihre Grenzen gestoßen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall des Abg. Karsten Möring [CDU/CSU]) SPD und der FDP) Ich mache wirklich darauf aufmerksam: Ich werde dafür Umso bedauerlicher ist es, dass wir in diesen ganzen Sorge tragen, dass das Präsidium schärfere Ordnungs- Kontrollelementen, vom Rückzug aus dem Atomabkom- maßnahmen für diejenigen ergreift, insbesondere aus men mit dem Iran, von der einseitigen Aufkündigung des den regierungstragenden Fraktionen, die die Masken- Vertrages über das Verbot nuklearer Mittelstreckenrake- pflicht dauernd missachten. ten bis hin zur Gefährdung des Vertrages über die Be- grenzung strategischer Atomwaffen, erleben müssen, (Beifall der Abg. Dr. [DIE wie all dies von der Trump-Administration Stück für LINKE] – [CDU/CSU]: Das Stück abgeräumt wurde. Ich glaube, dass es sehr wichtig gilt für alle, oder?) ist, in dieser Situation dieses Element der Vertrauensbil- dung, das sich in Open Skies widerspiegelt, zu erhalten. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Ich finde es schon überraschend, dass Sie zwei Anträ- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ge, einen von der Linken, einen von den Grünen, lange ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mit haben liegen lassen, sie am Mittwoch im Auswärtigen dem Open-Skies-Vertrag in der Tat einen Markstein der Ausschuss abgelehnt und jetzt einen eigenen auf den Abrüstungskontrolle, den ein Vertragspartner mit einer Tisch gelegt haben. Das Interessante ist, worin sich Ihr nicht zutreffenden Begründung verlassen will. Ich erspa- Antrag zum Beispiel von unserem unterscheidet. Sie re mir die Bewertungen, halte aber fest, dass es natürlich – haben die Konsequenz nicht beschrieben, dass dann, das ist mehrfach dargelegt worden – gerade der Sinn wenn man dieses Abkommen mit den bisherigen Ver- solcher Maßnahmen, wie sie im Open-Skies-Vertrag, tragsstaaten zusammenhält, auch sichergestellt sein dem Offenen-Himmel-Vertrag, vereinbart sind, ist, Ver- muss, dass die Informationen künftig tatsächlich nur trauen zu schaffen, indem beide Seiten – wenn man so noch unter den Vertragsstaaten geteilt werden; das unter- will: alle Beteiligten – gemeinsam überprüfen, was am scheidet Ihren Antrag von unserem. (B) Boden liegt und sich dort abspielt. Das unterscheidet ja (D) Es gibt da noch einen zweiten Punkt; ich finde, da hätte gerade den Vertrag über den Offenen Himmel von Gary es größerer Klarheit bedurft. Sie haben überhaupt nicht Powers. berücksichtigt, mit welcher Begründung die USA auf Die Wege, die man damit geht, sind nicht die Lösung Druck des Senats dieses Abkommen gekündigt haben, für den ewigen Frieden. Sie sind aber Teil eines Denkens, nämlich mit dem Vorwurf der Spionage. Die Wahrheit eines globalen multilateralen Vertrauens, allein auf des- ist: Alle Daten aus den Überwachungsflügen werden sen Grundlage nur vernünftige bilaterale, wohlausgewo- allen Vertragsstaaten zur Verfügung gestellt, und ange- gene Abrüstungsschritte gefunden werden können, die sichts der gemischten Besatzungen kann niemand heim- dringend notwendig sind. lich andere Gebiete überfliegen. Das heißt, dieser Vor- wurf ist absurd. Wenn Sie die USA überzeugen wollen, Wenn ich „bilateral“ sage, dann beschreibt das aber dann müssen Sie die Absurdität dieses Vorwurfes an die- auch die Problematik des Vertrages über den Offenen ser Stelle benennen. Himmel: Der Vertrag rührt aus einer anderen Zeit. Diese beginnt eigentlich 1973 in Helsinki und geht bis 1975, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zeit einer Ost-West-Konfrontation. Heute ist es eine sowie des Abg. Matthias Höhn [DIE LINKE]) andere Konfrontationssituation – dabei denke ich nicht nur an China, aber insbesondere an China –, für deren Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Lösung eine globale, multilaterale Herangehensweise Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. dringend notwendig ist. Deswegen muss man zwei Dinge tun. Man darf nicht Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nur auf das Prinzip Hoffnung vertrauen; denn wir müssen Damit komme ich zum Schluss, Herr Präsident. – Wir die Welt, so wie sie ist, und die Entscheidung, die in alle hoffen, dass wir dieses Abkommen erhalten können – diesen Tagen in den USA fällt, akzeptieren. Wie sagte hoffentlich mit einem US-Präsidenten. Aber das hängt mein Kollege Kauder früher immer: Politik beginnt mit unter anderem von Georgia und Philadelphia ab. dem Betrachten der Wirklichkeit. – Wir müssen uns für alle Wirklichkeiten rüsten, das heißt, wir müssen zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einen den Vertrag am Leben erhalten und zum anderen danach trachten, denjenigen, die ausgetreten oder noch Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nicht beigetreten sind, mit einer verbesserten Form Vielen Dank, Herr Kollege Trittin. – Nächster Redner zukünftig Angebote zur Verifikation des Vertrages zu ist der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion. machen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24021

Christian Schmidt (Fürth) (A) Zum anderen müssen wir – gerade im transatlantischen Neubeginn von kooperativer Rüstungskontrolle kommt. (C) Raum; das betrifft uns sehr – verstehen, dass es hier nicht Denn wir brauchen einen konstruktiven Dialog, wir brau- darum geht, jemandem etwas Hämisches hinterherzuru- chen nicht mehr dieses Übereinander-Reden, Übereinan- fen, dass es nicht darum geht, sich voneinander abzukop- der-Schimpfen. Wir brauchen nicht weniger kooperative peln, der eine von dem anderen, der Bessere von dem Rüstungskontrolle, wir brauchen wieder mehr davon. vermeintlich Schlechteren, sondern dass es um Zusam- Diese Hoffnung verbinden wir mit einer neuen Administ- menarbeit geht. ration in Washington. Für uns Deutsche besteht die Verpflichtung, auf dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Weg, der fatalerweise – Kollege Kiesewetter hat das [FDP]) angesprochen – mit der Tupolew Tu-154 M begann, wei- Klar ist aber auch: Wir sollten nicht nur auf die USA terzugehen. Ich erinnere mich sehr gut an sie; ich bin warten, vielmehr liegt die Verantwortung bei uns selbst. einmal mitgeflogen. 1997 kam es zur Katastrophe, als Wir sind selbst gefordert, mehr Verantwortung zu über- eine Maschine der Flugbereitschaft des Bundesministe- nehmen; denn die Kritik wird vielleicht in der Art und riums der Verteidigung vor der Küste Namibias mit dem Weise, wie sie vorgetragen wird, eine andere werden, amerikanischen Transportflugzeug „Starlifter“ zusam- aber in der Sache wird sie sich sicherlich nicht verändern. mengestoßen ist. Ich glaube, es waren an die 50 Todes- Wir, auch Deutschland, müssen mehr internationale Ver- opfer. antwortung übernehmen. Die Debatte, dass wir unserer Es hat lange gedauert, bis das deutsche Beobachtungs- internationalen wirtschaftlichen Stärke auch eine politi- flugzeug fertig war. In diesem Jahr ist es hoffentlich so sche internationale Stärke hinzufügen, müssen wir hier weit. Der Weg muss nun sein, die Beziehungen mit den im Deutschen Bundestag und mit der Gesellschaft führen. amerikanischen Partnern – mit wem auch immer genau – Deswegen brauchen wir diesen Open-Skies-Vertrag, wiederaufzunehmen und die Verifikation weiterzuentwi- und wir wollen die Amerikaner darin halten. Wir ermah- ckeln und fortzusetzen, am besten unter Einbeziehung nen aber auch die Russen, dem Vertrag gerecht zu wer- anderer Krisenländer in der Welt. Das wäre ein guter den. Ja, wir brauchen Überflüge über Kaliningrad – der Tag für Europa und für die Abrüstungspolitik. Kollege Kiesewetter hat es gesagt –, und ja, wir brauchen (Beifall bei der CDU/CSU) eine Lösung für die Grenzregion in Georgien. Wir wollen die Amerikaner halten, und wir wollen sie zurückgewin- Vizepräsidentin : nen. Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen; aber das bedeutet auch, dass wir den Vertrag öffnen müssen, Das Wort hat der Kollege Nikolas Löbel für die CDU/ auch im Hinblick auf den pazifischen Raum. Denn wir CSU-Fraktion. (B) dürfen die Situation in Japan, Neuseeland, Australien (D) (Beifall bei der CDU/CSU) nicht ignorieren, dass China nicht nur mit Wirtschafts- politik, sondern auch mit starker militärischer Präsenz Nikolas Löbel (CDU/CSU): Realitäten schafft. Deswegen braucht Open Skies einen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Neubeginn. Wir brauchen diesen Vertrag, und dafür müs- gibt ein Beispiel aus dem August 2017, das mich in sen wir uns einsetzen. Dafür setzen wir heute im Bundes- diesem Zusammenhang unheimlich beeindruckt: Ein rus- tag ein Zeichen. sisches Militärflugzeug fliegt über den normalerweise Dafür herzlichen Dank. hermetisch abgeriegelten Luftraum von Washington, (Beifall bei der CDU/CSU) D. C. Es ist ein russisches Flugzeug, es löst keinen Alarm aus, es steigen keine Abfangjäger auf. Das ist keine Szene aus einem amerikanischen Actionfilm, obwohl es ein Vizepräsidentin Petra Pau: bisschen danach klingt. Das ist die Realität von Open Ich schließe die Aussprache. Skies: ein russisches Militärflugzeug mit russischen Sol- Tagesordnungspunkt 34 a. Wir kommen zur Abstim- daten, die einfach nur den Open-Skies-Vertrag mit Leben mung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und erfüllen. Das ist, finde ich, ein schönes Beispiel dafür, SPD auf Drucksache 19/23946 mit dem Titel „Für den was Open Skies bedeutet, nämlich eine vertrauensbilden- Erhalt des Vertrags über den Offenen Himmel eintreten“. de Maßnahme für kooperative Rüstungskontrolle. Wer stimmt für diesen Antrag? – Die Koalitionsfraktio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen, die AfD-Fraktion und die FDP-Fraktion. Wer stimmt Open Skies ist schlicht und ergreifend ein guter dagegen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer Vertrag. Die Idee, dass man durch Zusammenarbeit, enthält sich? – Die Fraktion Die Linke. Der Antrag ist durch kooperatives Wirken Vertrauen schafft und damit angenommen. gegenseitige Rüstungskontrolle ermöglicht und für Ab- Tagesordnungspunkt 34 b. Abstimmung über die Be- rüstung sorgt, kam schon 1955 auf. Open Skies ist und schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu bleibt ein guter Vertrag; aber er ist durch die einseitige dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Mili- Aufkündigung durch die US-Administration unter tärische Beobachtungsflüge fortsetzen – Vertrag über den Donald Trump brüchig geworden. Deswegen bleibt zu Offenen Himmel retten – Austritt der USA verhindern“. hoffen, dass es unter einer neuen US-Administration, Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung unter einem neuen Präsidenten Joe Biden – das End- auf Drucksache 19/20206, den Antrag der Fraktion Die ergebnis der US-Präsidentschaftswahl wird vielleicht im Linke auf Drucksache 19/19487 abzulehnen. Wer stimmt Laufe der nächsten Stunden bekannt gegeben – zu einem für diese Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktio- 24022 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) nen und die FDP-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die In Deutschland leben mittlerweile mehrere Millionen (C) Fraktion Die Linke, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Muslime; die genaue Anzahl ist unbekannt. Die aller- und die AfD-Fraktion. Wer enthält sich? – Niemand. Die meisten von ihnen sind friedlich und haben nichts Böses Beschlussempfehlung ist angenommen. im Sinn. Diese Leute sind aber nicht friedlich, weil sie Muslime sind, sondern obwohl sie Muslime sind. Tagesordnungspunkt 34 c. Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu (Marian Wendt [CDU/CSU]: Oh! Oh! – Helin dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit [DIE LINKE]: 4 Millionen!) dem Titel „Vertrag über den Offenen Himmel aufrechter- Darüber, was den Islam eigentlich ausmacht, kann man halten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- lange diskutieren. Theoretisieren hilft da aber nicht wei- empfehlung auf Drucksache 19/24006, den Antrag der ter, weil es dazu sehr unterschiedliche Auffassungen gibt. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache Ich sage: Man muss einfach nur die Augen aufmachen, 19/20788 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- dann erkennt man, was Islam bedeutet: empfehlung? – Die CDU/CSU-Fraktion und die SPD- Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion, die (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die NEN]: Wenn ich die Augen aufmache, sehe Grünen. Wer enthält sich? – Die FDP-Fraktion. Die Be- ich Sie!) schlussempfehlung ist angenommen. „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.“ Wenn man so vorgeht, kommt man zu folgendem Ergebnis: Da, wo Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 a sowie den der Islam zu Hause ist, gibt es keine Freiheit, Zusatzpunkt 10 auf: (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das 33 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens stimmt doch gar nicht!) Maier, Ulrich Oehme, Marc Bernhard, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD keine Demokratie, keinen Rechtsstaat, der unseren Vor- stellungen auch nur annähernd gleichkommt. Dem radikalen Islam den Boden entzie- hen – Maßnahmenpaket gegen Islamisten (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer und islamistische Verbände [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht!) Stattdessen findet man dort Intoleranz, Frauenfeindlich- Drucksache 19/23956 keit, Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz NEN]: Frauenfeindlich ist die AfD doch auch!) (B) (D) ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Hass auf Homosexuelle, Christenverfolgung, Steinigung, Berichts des Ausschusses für Inneres und Heimat Enthauptung und beispiellose Grausamkeit gegenüber (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tieren. Martin Hess, Dr. , Dr. Gottfried (Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. Timon Curio, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Gremmels [SPD]) der AfD Es ist eine Illusion, zu glauben, es gäbe auch nur eine Verstärktes und effektiveres Vorgehen gegen einzige Spielart des Islam, die mit unseren Wertvorstel- die Ausbreitung des Islamismus in Deutsch- lungen, mit unserem Grundgesetz kompatibel wäre. land ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Drucksachen 19/17126, 19/23220 NEN]: Keine Ahnung! Null Ahnung!) Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Islam und Grundgesetz schließen sich aus. beschlossen. (Beifall bei der AfD – Dr. Irene Mihalic Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist lächer- ordnete Jens Maier für die AfD-Fraktion. lich! – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Pfui!) (Beifall bei der AfD) Versuche im islamischen Kulturkreis, diesen einzuhe- gen, müssen als gescheitert angesehen werden. Jens Maier (AfD): (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Ihre Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- Politik ist gescheitert!) ren! Unter Punkt 7 unseres Grundsatzprogrammes heißt es: Der Islam gehört nicht zu Deutschland. – Dazu stehen Das haben wir im Iran Ende der 70er-Jahre gesehen und wir als AfD. erleben es gerade in der Türkei. Gerade die Türkei ist in dieser Hinsicht ein abstoßendes Beispiel. Das erkennt (Beifall bei der AfD – Konstantin Kuhle man, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Erdogan auf [FDP]: Gut, dass wir hier nicht auf dem Partei- Präsident Macrons Äußerungen zu dem Anschlag auf den tag sind! – Marian Wendt [CDU/CSU]: Ja, wir Lehrer, der bei Paris enthauptet wurde, reagiert hat. Mac- sind hier nicht in Kalkar! – Gökay Akbulut ron möge sich auf seinen Geisteszustand untersuchen [DIE LINKE]: Das ist ein schlechtes Grund- lassen, so Erdogan. Das ist eine bodenlose Unverschämt- satzprogramm!) heit und zeigt, wofür sich dieser Herr hält. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24023

Jens Maier (A) Niemals darf die Türkei Mitglied der EU werden. Moscheevereine, die als radikalislamisch eingeschätzt (C) werden, müssen sofort verboten werden. Die Finanzie- (Beifall bei der AfD) rung solcher Vereine durch ausländische Staaten muss Die auf Eis gelegten Beitrittsverhandlungen müssen end- verboten werden. gültig und für alle Zeiten beendet werden. Vor allem darf (Beifall bei der AfD -Helin Evrim Sommer kein Geld mehr als Heranführungshilfe – und das sind [DIE LINKE]: Sie müssen auch verboten wer- Milliarden – in die Türkei fließen. den!) Die jüngsten Anschläge in Nizza, Dresden und Wien Wir brauchen eine Nulltoleranzpolitik gegenüber radika- haben gezeigt, dass der liberale Umgang mit dem Islam in lislamischen Vereinen. Es kann nicht sein, dass die Mus- den europäischen Ländern verfehlt war und weiterhin ist. limbrüder, die Milli-Görüs-Bewegung sowie Salafisten Wenn wir für uns und unsere Nachkommen das erhalten in Deutschland schalten und walten können, wie sie wol- wollen, was hier mühsam erkämpft wurde – Rechtsstaat len, und von liberalen Toleranzschwachmaten dabei noch und Demokratie –, dann müssen wir sofort damit anfan- in Schutz genommen werden. gen, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Diese können nur darin bestehen, die Islamisierung unserer Heimat auf (Beifall bei der AfD – allen Ebenen zurückzudrängen und endlich den Mut und [SPD]: Lieber Himmel! Jetzt reicht es aber!) die Kraft aufzubringen, dieses Land vor der weiteren Die Umsetzung unserer Forderungen kommt nicht nur Islamisierung zu schützen und zu verteidigen. den sogenannten Ungläubigen zugute, sondern auch den hier friedlich lebenden Muslimen. Sie sind nämlich die (Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. Timon ersten Opfer radikalisierender Beeinflussung. Gremmels [SPD]) (Marian Wendt [CDU/CSU]: Sie sind vor allen Schluss mit der weichen Welle gegenüber radikalen Isla- Dingen Opfer Ihrer Propaganda!) misten! Es ist unser Land! Es ist unsere Kultur! Und das soll auch so bleiben! Darum: Stimmen Sie unseren Anträgen zu! (Gökay Akbulut [DIE LINKE]: Nein, das ist (Timon Gremmels [SPD]: Im Leben nicht!) Ihre Parallelkultur, Ihre Parallelwelt!) Vielen Dank. Was die gewaltsamen Übergriffe und Anschläge be- (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer trifft: Da sind die Sicherheitsbehörden gefragt. Hier [DIE LINKE]: War das wieder eine Hetzrede!) muss man feststellen, dass da einiges im Argen liegt. Wie kann man denn polizeibekannte Gefährder draußen (B) Vizepräsidentin Petra Pau: (D) frei und ohne ausreichende Beobachtung herumlaufen lassen? Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Marian Wendt das Wort. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU) Gefährder gehören in Sicherungshaft und nicht auf die Straße. Wenn man das so machen würde, wäre der An- Marian Wendt (CDU/CSU): schlag in Dresden verhindert worden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Schriftfüh- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Gefähr- rer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fünf radikalis- der gehören auch nicht ins Parlament!) lamischen Anschläge in den letzten vier Wochen haben uns alle erschüttert. Wir haben hier darüber in den letzten Für die Umsetzung solcher Maßnahmen hat die AfD Vor- Tagen debattiert und der Toten, der Angehörigen und der schläge gemacht. vielen Opfer gedacht. Wir haben über viele Maßnahmen Weiterhin muss auch der ideologischen Ausbreitung debattiert, und wir sind uns einig, dass wir weiter ent- des Islam entgegengewirkt werden. Dem radikalen Islam schlossen handeln werden. muss der Boden entzogen werden. Das ist das Anliegen Der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus for- unserer Anträge. dert uns alle – nicht zum ersten Mal. Gemeinsam haben wir, um nicht nur den Islamismus, sondern auch andere Konkret heißt das, dass man die Einflussnahme von extremistische Gewalttaten zu bekämpfen, schon seit Imanen, Jahren und Jahrzehnten hier im Bundestag viele Maß- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: „Imame“ nahmen, gemeinsam mit den Ländern und der Bundesre- heißt das! – Benjamin Strasser [FDP]: Imame!) gierung, beschlossen. die ungestört Hass predigen, unterbinden muss. Solche Wir haben den Pakt für den Rechtsstaat gemeinsam mit Personen müssen sofort ausgewiesen werden, wenn dies den Ländern geschlossen. Wir haben die Zahl der Polizis- rechtlich möglich ist. ten alleine bei der Bundespolizei um insgesamt 7 500 erhöht. Wir haben mehr Personal für Bundeskriminalamt, (Zuruf von der LINKEN) Verfassungsschutz und BND zur Verfügung gestellt und Zudem sollten Predigten nur noch in deutscher Sprache für mehr rechtliche Möglichkeiten gesorgt. Ja, wir haben erlaubt sein. uns gerade auch beim Thema Quellen-TKÜ geeinigt, um unseren Verfassungsschutzämtern und den Behörden die (Beifall bei der AfD) technischen Möglichkeiten in die Hand zu geben, mit 24024 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Marian Wendt (A) denen sie Terroristen auch im 21. Jahrhundert effektiv unionsgeführte Regierung machen, zu unterstützten und (C) verfolgen können. Das alles waren richtige und wichtige ihnen zu helfen. Das werden wir weiter tun: im Bereich Maßnahmen, und wir gehen weiter diesen Weg, liebe Quellen-TKÜ, mit dem bevorstehenden Bundeshaushalt Kolleginnen und Kollegen. und auch darüber hinaus. Für Unterstützung dabei danken In diesem Kampf braucht es vor allen Dingen Ruhe, wir Ihnen. Wir stehen ganz fest an der Seite unserer Sachlichkeit und Konsequenz, so wie ich das eben be- Sicherheitsbehörden, die uns im Kampf gegen islamisti- schrieben habe. Ihre Anträge hingegen, Herr Maier, schen Terrorismus stärken. sind an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten. Vielen Dank. (Beifall der Abg. Dr. Irene Mihalic [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Konstantin Kuhle [FDP]) Sie spielen sich als vorderste Kämpfer gegen den islamis- tischen Terrorismus auf. Aber für die Opfer müssen diese Vizepräsidentin Petra Pau: Anträge ein Schlag ins Gesicht sein. Sie befassen sich Zur Erläuterung: Ich mache das genauso wie meine nicht einmal inhaltlich mit der Materie. Deswegen: Kollegen vorher: Wenn das Ende der Redezeit erreicht Schämen Sie sich! wird, rufe auch ich keine Zwischenfragen und Zwischen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bemerkungen mehr auf. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Ottmar von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN und des Abg. Benjamin Strasser NEN]: Das schadet bei denen eh nichts!) [FDP]) Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Benjamin Ich will ein Beispiel nennen: Sie fordern unter Buch- Strasser das Wort. stabe 2 c, dass die Länder und Bundesbehörden Informa- tionen sammeln und Nachrichten miteinander austau- (Beifall bei der FDP) schen. Ich frage mich: Haben Sie schon mal etwas vom GTAZ, vom Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum, Benjamin Strasser (FDP): gehört? Wissen Sie überhaupt, dass es verschiedene Ver- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und fassungsschutzbehörden gibt, die Nachrichten miteinan- Kollegen! Die islamistischen Anschläge der letzten der teilen? Mir scheint, dass Sie sich in Ihrem Köpfchen Wochen sind ein Angriff auf unsere freie und offene einfach ausdenken, wie es sein könnte, und die Realität, Gesellschaft. wie sie seit Jahrzehnten in dieser Bundesrepublik ist, gar (B) nicht betrachten. Vorschläge, wie wir die Arbeit der Sicherheitsbehör- (D) den verbessern können, um das Risiko solcher Anschläge (Abg. Stefan Keuter [AfD] meldet sich zu einer zu minimieren, haben wir gestern diskutiert. Deswegen Zwischenfrage) empfehle ich uns an dieser Stelle, den Blick auch einmal Deswegen ist es gut, dass Sie für dieses Land keinen Deut zu weiten. Wer es ernst meint mit dem Kampf gegen Verantwortung tragen. Islamismus, muss sich auch fragen, wie wir jenseits der Ein weiteres Beispiel. Sie sagen: Die Bundeszentrale vielen Präventionsprogramme Menschen besser vor isla- für politische Bildung muss den Kampf gegen Extremis- mistischer Radikalisierung schützen. Das ist ein Auftrag mus aufnehmen. – Das hat sie bereits. Es gibt zahlreiche an uns alle, an die gesamte Gesellschaft. Programme – auch Aussteigerprogramme, wie von Ihnen Liebe Kolleginnen und Kollegen, da geht zunächst ein- gefordert – für Rechtsextremismus, Linksextremismus mal ein Auftrag an die große Mehrheit der friedfertigen und islamistischen Terrorismus. Ihre Leute sind sogar Muslime hier in Deutschland. Wir brauchen innerislami- teilweise Teilnehmer dieser Programme, von daher soll- sche Debatten, zum Beispiel über die Gleichberechtigung ten Ihnen diese Aussteigerprogramme doch besonders von Mann und Frau und über die Bekämpfung von mus- gut bekannt sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. limischem Antisemitismus oder Homophobie. Diese Pro- (Beifall des Abg. Timon Gremmels [SPD]) bleme anzusprechen, ist kein Akt der Islamfeindlichkeit, sondern die Voraussetzung für ein friedliches Zusammen- Deswegen: Ziehen Sie Ihre Anträge am besten einfach leben unter der Werteordnung des Grundgesetzes. zurück! Verschonen Sie uns mit Ihren Hass- und Hetz- reden und mit der Unsachlichkeit in Ihren Reden zur (Beifall bei der FDP) Sicherheitsarchitektur, damit wir als unionsgeführte Bun- Der Auftrag geht aber auch an die politische Linke, die desregierung hier diesen Kampf gegen Terrorismus auf- bisher zu oft die Augen vor der Unvereinbarkeit des nehmen können. politischen Islam mit dem Grundgesetz verschließt. So Ich will noch ein ganz aktuelles Beispiel nennen: Heu- hieß es etwa in der „taz“, Macron bausche den islamisti- te wurden bereits vier Hausdurchsuchungen im Zusam- schen Mord in Paris zu einer Grundsatzfrage auf, was menhang mit dem Anschlag in Wien durchgeführt. Dabei dem türkischen Präsidenten Erdogan gerade recht kom- wurden zahlreiche Belege festgestellt, um hier Verbin- me. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht der französi- dungen aufzuzeigen. sche, sondern der türkische Präsident treibt einen Keil zwischen Muslime und Nichtmuslime. Es geht darum, unsere Sicherheitsbehörden zu stärken, ihnen nicht in irgendwelchen Anträgen Vorwürfe zu (Beifall bei der FDP – Helin Evrim Sommer machen, sondern sie ganz konsequent, wie wir das als [DIE LINKE]: Wer unterstützt denn Erdogan? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24025

Benjamin Strasser (A) Wer schickt denn Waffen? Die Bundesregie- Ich glaube, das ist ein deutlicher Vorteil, den ich da auf (C) rung!) unserer Seite habe. Wir sollten deshalb bei der Verteidigung von Meinungs- Ich möchte einmal zitieren, was Sie gesagt haben. und Pressefreiheit fest an der Seite Macrons stehen. Wenn ich mich nicht ganz falsch erinnere, Herr Maier – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und damit haben Sie im Grunde die Idee und den Geist des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihres Antrags bestmöglich zusammengefasst –, sagten Sie, dass die Mehrheit der Muslime friedlich sei, nicht Der Auftrag geht aber auch an die Konservativen in weil sie Muslime seien, sondern obwohl sie Muslime unserem Land, die immer noch keinen Frieden mit dem seien. Das ist nicht nur zutiefst beleidigend für alle Men- Gedanken geschlossen haben, dass Deutschland ein Ein- schen muslimischen Glaubens in diesem Land und auch wanderungsland ist. für diejenigen, die als muslimisch gelesen und identifi- (Marian Wendt [CDU/CSU]: Stimmt doch gar ziert werden, es ist auch noch blanker Rassismus und nicht!) nichts anderes. Ohne die Teilhabe muslimischer Staatsbürger in zentra- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ len Lebensbereichen lässt sich keine vernünftige Präven- CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ tion organisieren; denn ein großer Teil dieser Menschen DIE GRÜNEN) ist nicht zu Gast hier, sondern wird in Deutschland blei- Dazu, dass Sie sich in Ihrem Antrag abarbeiten am Isla- ben. Ihre Integration ist Teil einer funktionierenden Isla- mismus, am politischen Islam, am legalistischen politi- mismusprävention. schen Islam, sage ich hier: Sie sind nichts anderes als der Der Auftrag geht aber auch an uns selbst, an uns Libe- legalistische Arm des Rechtsextremismus in diesem rale, die wir vom Individuum her denken. Nicht nur in Land, Frankreich, sondern auch hierzulande schotten sich be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- stimmte Stadtteile kulturell und sozial voneinander ab. KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Deshalb dürfen wir das Instrument der Stadtplanung bei NEN) der Verhinderung von Radikalisierung und Gewalt nicht unterschätzen. Eine angemessene Durchmischung der und Sie haben es mit dem Antrag und Ihrer Rede wiede- Milieus sowie eine Anbindung an die Zentren gehören rum bestmöglich bewiesen. dazu. (Lachen des Abg. Frank Pasemann [AfD]) (Beifall bei der FDP) Sie unterscheiden sich dabei erstaunlicherweise – ich (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Demokraten muss das in dem Fall sagen; sonst lobe ich ihn nicht sehr – (D) sollten uns alle selbst hinterfragen und neue Ansätze aus- von Sebastian Kurz, dessen Überlegungen in vielen Fra- probieren; dann können wir langfristig die Gefahr des gen der Migrationspolitik ich nicht teile; auch viele seiner Islamismus eindämmen. Ideen von Integration sind nicht die meinen. Er hat aber etwas begriffen, was Sie nicht begriffen haben: dass es Vielen Dank. eben nicht darum geht, in dem Fall Österreicherinnen und (Beifall bei der FDP) Österreicher gegen Migranten auszuspielen, dass es nicht die Frage ist „Christen gegen Muslime“, sondern dass es Vizepräsidentin Petra Pau: eine Frage der Gemeinschaft ist und dass es eine Frage ist von Frieden gegen Krieg; nichts anderes ist es. Das Wort hat der Kollege Helge Lindh für die SPD- Fraktion. Sie aber wählen die andere Variante, Sie wählen die Variante, sich selbst vom Geiste her auf die Seite der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dschihadisten zu schlagen; denn Sie machen mit solchen Anträgen, mit Ihrer Argumentation genau deren Werk. Helge Lindh (SPD): Die Vorfreude bei der AfD-Fraktion ist unüberhörbar – (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- ich habe mir das aber auch mühsam verdient. KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) (Heiterkeit der Abg. Marian Wendt [CDU/ CSU] und Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]) Sie betreiben das Prinzip der Spaltung, der Verhetzung, der Trennung und des Gegeneinanderausspielens und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! eines Gegeneinanderaufhetzens – nicht sehr klug, glaube Ich sage an dieser Stelle, Ihre Diktion aufgreifend: Ich ich, und das Gegenteil von Radikalisierungsbekämpfung. bin stolz, ein liberaler Toleranzschwachmat zu sein, Sie betreiben Radikalisierung, Sie schaffen Gründe für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Extremismus. Aber Sie kennen sich ja auch darin bestens der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- aus. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit der Abg. Helin Evrim Sommer lieber liberaler Toleranzschwachmat als rechtsradikaler [DIE LINKE]) illiberaler völkischer Intelligenzschwachmat. Deshalb finde ich es auch erstaunlich, wenn Sie in (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Ihrem Text von Aussteigerprogrammen reden – ich war BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- erstaunt, dass Sie diese Option überhaupt ermöglichen –; ordneten der CDU/CSU und der FDP) denn Sie haben ja selber vorhin in der Rede deutlich 24026 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Helge Lindh (A) gemacht und in Ihrem Antrag, dass es gar keinen Aus- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (C) stieg gibt: Wenn ein Mensch einmal muslimisch ist, ist er SES 90/DIE GRÜNEN) aus Ihrer Sicht verloren, kann er nicht Deutscher sein, es Wenn Sie – und ich mache Ihnen dieses Angebot – sich sei denn, er erklärt – wahrscheinlich wäre das Ihr einmal kundig machen wollen, wenn Sie einmal bessere Wunsch – seine Mitgliedschaft in der AfD und schwört Texte schreiben wollen, wenn Sie einmal bessere dem Islam ab. Aber ich kann allen Menschen muslimi- Reden halten wollen, wenn Sie von dem Status des illi- schen Glaubens nur raten: Bitte tun Sie das nicht! Es wäre beralen Intelligenzschwachmaten abweichen wollen, schade um unser Land. dann machen Sie Folgendes: Treffen Sie einmal Musli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ minnen und Muslime! Reden Sie nicht über sie, reden Sie CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ mit ihnen – und Sie werden eine Erfahrung von Intelli- DIE GRÜNEN) genz, von Weisheit, von Nachdenklichkeit und von Klug- heit machen, die Ihnen ganz neue Horizonte eröffnet. So viele Menschen, Musliminnen und Muslime, die Sie Genau das wünsche ich Ihnen. tagtäglich begleiten, haben dieses Land aufgebaut – Sie Alles Gute. hingegen haben nichts zur Freiheit und Demokratie in diesem Land beigetragen, im Gegenteil. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wenn Sie dann auch noch von Prävention sprechen – LINKEN) auch da war ich erstaunt; ich hatte einen Moment der Hoffnung; es kann sich ja auch immer Erkenntnis ein- stellen –, passt das aber doch nicht so, weil Sie im Neben- Vizepräsidentin Petra Pau: satz gleich wieder erläutern, dass man ja letztlich weniger Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Gökay machen sollte gegen Rechtsextremismus. Und wieder ist Akbulut das Wort. es die Logik des Verrechnens von Prävention Rechts- (Beifall bei der LINKEN) extremismus, Prävention Islamismus, Prävention Links- extremismus. Gökay Akbulut (DIE LINKE): Dann muss ich mir auch die Kommentare Ihrer Sym- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen pathisanten ansehen, unter anderem von Herrn Maaßen, und Herren! Die islamistischen Anschläge der vergange- der sich unheimlich aufgeregt hat, dass ich massive Prä- nen Tage in Europa und weltweit sind abscheulich. Unse- ventionsmaßnahmen fordere. Er meint, das Ganze sei mit re Gedanken sind bei den Opfern, den Verletzten und Abschiebungen zu lösen. Wenn wir uns aber über Extre- ihren Angehörigen. (B) misten deutscher Nationalität – egal welcher Ideologie, (D) Sie einschließlich – unterhalten, ist das Instrument der Gewaltbereite Islamisten und Rechtsextreme wie die Abschiebung nicht möglich. So weit haben wir es nicht AfD in Deutschland haben vieles gemeinsam, beispiels- geschafft – wenn man es sich in Ihrem Fall auch manch- weise gemeinsame Feindbilder, ein autoritäres Weltbild mal wünschen würde. Aber wir sind ein Rechtsstaat, und und ein ähnlich konservatives Frauenbild. Rechtsextre- deshalb ist das selbstverständlich nicht möglich. misten und Islamisten sind bemüht, sich gegenseitig hochzuschaukeln. Im Bundestag kann man eindeutig Mir ist es wichtig, an dieser Stelle noch einmal deutlich sehen, dass die Schaukel regelmäßig von der AfD ange- zu machen, dass es vielleicht gut wäre, sich in die Per- stoßen wird. Am anderen Ende dieser Schaukel steht spektive derjenigen zu versetzen, über die hier geurteilt unter anderem Erdogan, der mit seinen Aggressionen wird, wenn wir über solche Anträge solche Debatten füh- und Äußerungen Islamisten weltweit ermutigt und mobi- ren. Es ist ein Grundverständnis dieses Landes, dass man, lisiert. Dieses gefährliche Pulverfass muss dringend ent- wenn man anerkannt wird, wenn man Freiheit und Würde schärft werden. genießt, sich nicht erklären muss. Musliminnen und Mus- lime aber, die nichts dafür können, was in Paris gesche- (Beifall bei der LINKEN) hen ist, nichts dafür können, was in Wien geschah, nichts Die Bundesregierung und die demokratischen Fraktio- dafür können, was in Dresden geschah, müssen sich per- nen haben in dieser Debatte vieles gesagt; auch meine manent, seit vielen Jahrzehnten in diesem Land erklären. Kollegin . Der Umgang mit Islamis- Ich finde, das ist peinlich und eine Schande, und wir ten wurde in dieser Woche insbesondere in der Aktuellen können das nicht weiter fordern und unterstützen. Stunde thematisiert. Aber wie kommt es, dass die Bun- desregierung so wenig Ahnung hat, beispielsweise über Zum Zweiten möchte ich auch darauf hinweisen, dass eine nachweislich besonders gewaltbereite islamistische es die Idee unserer Verfassung doch sein muss, dass Men- Tätergruppe, die sich seit über 20 Jahren in Deutschland schen anders sein dürfen, ohne zu anderen gemacht zu aufhält? Wir haben eine Kleine Anfrage zu den in werden. Deutschland lebenden islamistischen Tätern des Sivas- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Massakers in der Türkei gestellt. Diese Täter wurden in KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- der Türkei verurteilt, weil sie 1993 bei einem islamisti- NEN) schen Anschlag 33 Menschen wegen ihres alevitischen Glaubens getötet haben. Etwa zwei Dutzend dieser Täter Genau das erleben wir aber immer in diesen Debatten: sind damals vor ihrer Verurteilung geflüchtet, teilweise Wir machen Musliminnen und Muslime zu anderen, sogar direkt aus dem Gefängnis. Neun dieser Islamisten anstatt Vielfalt und Unterschiedlichkeit anzuerkennen. sollen sich aktuell in Deutschland aufhalten. Wie kann es Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24027

Gökay Akbulut (A) sein, dass es keine Ermittlungsverfahren in Deutschland auf einer Skala von 1 bis 10 – 10 „höchst“, 1 „gar nicht“ – (C) gegen diese islamistischen Mörder gibt? Es gibt sogar ein? – Er sagte: 2016 bei 8 – als das Attentat auf dem Hinweise, wonach einige dieser Täter in Moscheen der Breitscheidplatz stattgefunden hat –, 2020 bei 7; lediglich Milli Görüs aktiv seien. Wieso konfrontiert die Bundes- ein Punkt weniger. Wir sehen gerade an den terroristi- regierung diesen Verband nicht damit? schen Attentaten in Nizza, in Wien und in Dresden, ( [AfD]: Das ist jetzt aber rechte dass es hier sehr wohl eine Gefährdung gibt. Hetze!) Frau Akbulut, Sie haben eben Erdogan angesprochen Meine sehr geehrten Damen und Herren, rechtspopu- und gesagt, dass wir viele Probleme auf ihn projizieren listische Parteien und auch viele konservative Politiker würden. vermischen in dieser Debatte häufig Islam und Islamis- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das hat mus. Sie vermischen absichtlich friedliche Muslime mit sie doch gar nicht gesagt!) gewaltbereiten Islamisten. Dies schadet dem friedlichen Das ist nicht so, aber wir erkennen natürlich, dass sich die Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Türkei derzeit unter Erdogan verändert. Wir können aktuell beobachten, dass Erdogan Aserbaidschan ermun- Vizepräsidentin Petra Pau: tert hat, mit NATO-Waffen, mit militärischer türkischer Kollegin Akbulut, gestatten Sie eine Frage oder Unterstützung und mit Unterstützung islamistischer Ter- Bemerkung aus der AfD-Fraktion? roristen aus Syrien, Söldnern und Foreign Fighters Berg- karabach anzugreifen. Gökay Akbulut (DIE LINKE): (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das müs- Nein. – Nach islamistischen Angriffen werden leider sen Sie uns sagen? – [DIE auch friedliche Muslime stigmatisiert. Außerdem wird LINKE]: Wie lange darf er denn noch reden?) häufig nicht bedacht, dass auch Muslime Opfer von isla- Wir sehen eine islamistische Gefährdung, und darauf mistischen Anschlägen sind. Ich möchte auch darauf hin- weisen wir hin. Ich möchte Sie bitten, diese Gefahr nicht weisen, dass in den letzten Jahren im Kampf gegen isla- zu unterschätzen. mistische Organisationen die Kurdinnen und Kurden in Nordsyrien, auch Mitglieder meiner Familie, große Opfer (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gebracht haben. NEN]: Das hat hier keiner gemacht!) Als Linksfraktion stehen wir für eine friedliche Gesell- schaft ohne Rassismus, Hass und Hetze. Wir stehen für Vizepräsidentin Petra Pau: die universellen Menschenrechte, für eine echte Gleich- Möchten Sie erwidern? – Wenn das nicht der Fall ist, (B) (D) berechtigung von Frau, Mann und Divers sowie für Reli- dann hat jetzt die Kollegin Dr. Irene Mihalic für die Frak- gions-, Meinungs-, Kunst- und Kulturfreiheit. tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Vizepräsidentin Petra Pau: Liebe Kollegen! Erst die Attentate in Frankreich und Ich erteile dem Abgeordneten Keuter das Wort zu einer Dresden und nun der schreckliche Anschlag von Wien – Kurzintervention. wir als Europäerinnen und Europäer dürfen uns durch solche Taten auf gar keinen Fall spalten lassen, sondern Stefan Keuter (AfD): müssen eng zusammenstehen, um dem islamistischen Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Wir können es nicht Terrorismus und dieser wirklich virulenten Gefahr in so stehen lassen, dass in den ganzen Reden, die gerade unserer Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. erfolgt sind, zuletzt von der Kollegin Akbulut, davor vom Kollegen Wendt, das Ausmaß der islamistischen Bedro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hung und des islamistischen Terrorismus in Deutschland Nur gemeinsam werden wir unsere Werte gegen die Fein- heruntergespielt werden. de der Freiheit, der Demokratie und der Vielfalt vertei- (Marian Wendt [CDU/CSU]: Machen wir doch digen. Und da kann ich es nicht ernst nehmen, wenn sich gar nicht!) ausgerechnet die Feinde der Freiheit, der Demokratie und der Vielfalt auf der rechten Seite dieses Hauses auf- Wir arbeiten in diesem Hause noch an der Aufklärung schwingen, genau die Werte, die sie eigentlich zutiefst des Attentats auf dem Breitscheidplatz. Wir hatten ges- verabscheuen, auch noch verteidigen zu wollen. tern wieder eine lange Sitzung mit sehr interessanten Gästen, unter anderem dem Präsidenten des Bundes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kriminalamtes und dem Präsidenten des Bundesnachrich- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten tendienstes. Der Präsident des Bundeskriminalamtes sag- der CDU/CSU und des Abg. Benjamin Strasser te, dass die islamistische, radikal-islamische Gefährdung [FDP]) in Deutschland noch lange nicht vorbei ist und unver- Ihr Antrag ist voller Hass, und die Alibimaßnahmen, die ändert weiter besteht. Den Präsidenten des Bundesnach- da drinstehen, sind auch noch unkonkret. Nein, liebe richtendienstes habe ich selber befragt: Wie schätzen Sie Kolleginnen und Kollegen, was die AfD hier vorlegt, ist die terroristisch-islamistische Bedrohung in Deutschland falsch und deshalb abzulehnen. 24028 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Dr. Irene Mihalic (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Stattdessen brauchen wir substanzielle Maßnahmen, die sowie der Abg. Marian Wendt [CDU/CSU] unsere Sicherheit und das gesellschaftliche Zusammen- und [DIE LINKE] – Karsten leben effektiv verbessern. Hilse [AfD]: Sehr peinlich!) Nun wütet der islamistische Terror schon einige Jahre Vizepräsidentin Petra Pau: in Europa. Die Muster von Taten und Tätern ähneln sich, aber Konsequenzen bleiben weitgehend aus. Wir müssen Es sei mir noch mal der Hinweis gestattet: Am Ende bei der Gefahrenerkennung und der Überwachung von einer Rede lasse ich keine Fragen oder Bemerkungen Gefährdern und Netzwerken endlich besser werden. mehr zu. Immer wieder begehen Menschen Anschläge, die schon (Marian Wendt [CDU/CSU]: Sehr gut! Weiter längst im Blick der Sicherheitsbehörden waren, deren geht’s!) wahre Gefährlichkeit aber nicht erkannt wurde. Instru- mente wie RADAR-iTE sind gut und wichtig. Wir müs- Das Wort hat der Kollege Axel Müller für die CDU/ sen aber grundsätzlich zu einer besseren Koordination der CSU-Fraktion. Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden kommen, Pri- (Beifall bei der CDU/CSU) oritäten vereinbaren und klare Verantwortlichkeiten im GTAZ festlegen. Unsere Vorschläge dazu liegen seit Lan- Axel Müller (CDU/CSU): gem auf dem Tisch, meine Damen und Herren. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall der Abg. Tabea Rößner [BÜND- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! NIS 90/DIE GRÜNEN]) „Dem radikalen Islam den Boden entziehen – Maßnah- Der Fall in Wien legt den Finger in eine weitere Wunde menpaket gegen Islamisten und islamistische Verbände“, der Sicherheitspolitik, und das ist das Thema „Prävention so fordert es der vorliegende Antrag. Die Rede des AfD- und Deradikalisierung“. Obwohl wir seit Jahren darüber Redners hatte allerdings wenig mit dem Antrag zu tun. diskutieren und auch hier immer wieder Konzepte vorge- Anträge mit dieser Zielrichtung hat die AfD schon legt haben, gibt es kein bundesweites Präventionsnetz- häufig gestellt. Ein ähnlicher Antrag, bei dem es um die werk, in dem alle regionalen Stränge zusammenlaufen. angebliche Intoleranz des Islam ging, war Gegenstand Das muss sich dringend ändern. der Debatte vom 11. Oktober 2018. Mein Kollege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sensburg hat darin eine ganze Reihe solcher Anträge der AfD, verteilt über die Länderparlamente, aufgezählt. Wir müssen auch endlich an das Umfeld der Täter ran. (B) Ich gebe dem österreichischen Bundeskanzler – ich hätte Nach islamistischem Terror wie nach den Ereignissen (D) nicht gedacht, dass ich das einmal sagen würde – unum- von Dresden, Nizza und Wien entfaltet die AfD immer wunden recht, wenn er sagt: Es geht hier nicht um die Aktionismus, stets verknüpft mit markigen Sprüchen wie Religionsausübung. Aber wir müssen verhindern, dass „Null Toleranz“ und Kampfansagen, in der Regel aber Menschen Religion missbrauchen, um ihre verfassungs- ohne konkret zu werden. feindlichen Strategien zu verfolgen. Heute nun ergeht eine Aufforderung an die Bundes- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Islamismus ent- regierung, geeignete Maßnahmen – ich nenne das mal schlossen entgegenzutreten, ist das Gebot der Stunde. Sie so – zu ergreifen. Zielrichtung sollen „die radikal-islami- von der AfD und Ihre Anträge brauchen wir dafür ganz schen Moscheevereine“ sein. Was darunter allerdings sicher nicht. genau zu verstehen ist, bleibt nach der Antragsbegrün- dung unklar. Diese spricht von Salafisten, also der kon- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN servativen, sich auf die Altvorderen beziehenden Rich- sowie der Abg. Marian Wendt [CDU/CSU], tung des Islam, genauso wie von den Islamisten, die einen Benjamin Strasser [FDP] und Helin Evrim radikal-politischen Islam propagieren, und den Dschiha- Sommer [DIE LINKE]) disten, die dies ergänzend mit Gewalt tun wollen. Welche Wenn ich Ihnen zum Schluss noch einen Rat geben der sich in der vorgenannten Art betätigenden Vereine darf: Wenn Sie wirklich etwas zur Sicherheit im Land wollen die Antragsteller mit diesen Maßnahmen überzie- und zum gesellschaftlichen Frieden beitragen wollen, hen? Das bleibt völlig unklar. Zudem versuchen Sie, den dann fangen Sie gerne bei sich selber an: Eindruck zu erwecken, als ob bisher nichts geschehen wäre. Ich halte Ihnen entgegen, dass das Bundesministe- (Marian Wendt [CDU/CSU]: Ja!) rium des Innern in den letzten Jahren 14 Vereine aus dem Löschen Sie ihre Twitter- und Facebook-Accounts! Bereich des Islamismus verboten hat. Das betraf unter Hören Sie auf, Hass und Hetze zu verbreiten, und been- anderem den IS, den Verein „Die wahre Religion“ alias den Sie Ihre Versuche, die Gesellschaft zu spalten! „Stiftung LIES“, Ansaar International als Unterstützer der Hamas und nicht zuletzt die Hisbollah. (Abg. Petr Bystron [AfD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Sie fordern weiter die Untersagung von Finanzierun- gen von radikal-islamischen Moscheevereinen durch aus- Damit könnten Sie wirklich einen Beitrag leisten, anstatt ländische Staaten und Organisationen. Als Beispiel dem Kalkül islamistischer Terroristen auch noch zu ent- heben Sie entsprechende Verbote in Österreich hervor. sprechen. Leider konnte das den schrecklichen Anschlag in Wien Ganz herzlichen Dank. nicht verhindern. Ich behaupte, ein solches Verbot wird Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24029

Axel Müller (A) Zahlungen bestenfalls erschweren, aber nicht unterbin- offene Gesellschaft zu verteidigen. Zur offenen, freien (C) den. Ich behaupte weiter: Ohne eine Bewusstseinsände- Gesellschaft gehört auch die Freiheit des Glaubens und rung in den Köpfen der zum Empfang radikaler Botschaf- der Religion, aber eben so, wie es sich gebührt in einer ten bereiten Menschen lässt sich die Gefahr nicht Verfassungsordnung, nämlich im Rahmen der bestehen- verhindern. den Grundrechte, auch der Grundrechte anderer. Klar ist: Im September 2019 war ich dabei, als dem Berliner Unser aller Gegner ist nicht der Islam, sondern das sind Rabbiner, Historiker und Publizisten Dr. Andreas Nach- gewalttätige Extremisten, die diese Ordnung beseitigen ama die Moses-Mendelssohn-Medaille für religiös moti- wollen. vierte und auf Völkerverständigung abzielende Toleranz (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verliehen wurde. In seiner Ansprache führte der Preis- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) träger eindrucksvoll aus, dass der Fanatismus in den Köp- fen der größte Feind der Toleranz sei. Und die AfD-Rede Das Erschreckende ist: Das liest sich im Antrag der von Ihnen, Herr Maier, war ein eindrucksvolles Beispiel AfD anders. Sie stellen fest, dass in der Bundesrepublik hierfür. Deutschland mehrere Millionen Muslime leben. So weit, Die vom Fanatismus ausgehende Ansteckungsgefahr so gut. Sie schreiben aber auch – ich zitiere aus Ihrem können wir nicht durch Repression allein bekämpfen. Antrag –: Wir müssen den intoleranten Fanatikern den geistigen Nicht wenige Muslime vertreten eine Form von Isla- Nährboden entziehen. Das erreichen wir nicht, wenn, mismus und nutzen das ihnen garantierte Recht auf wie im Antrag gefordert, islamischen Geistlichen aufer- Religionsfreiheit, um anderen Menschen ihr radika- legt wird, ihre Predigten in deutscher Sprache zu halten, lislamisches Weltbild zu vermitteln. was schon deshalb abzulehnen ist, weil das gegen die Religionsausübungsfreiheit verstößt. Der Rabbiner darf Das ist nichts anderes als ein Generalverdacht gegen auf Hebräisch, der russisch-orthodoxe Priester in Kir- weite Teile unserer muslimischen Mitbürgerinnen und chenslawisch und der Imam auf Arabisch predigen. Mitbürger, und das können wir auf keinen Fall so stehen lassen. Radikale und von Intoleranz gekennzeichnete Glau- bensorientierung – das lehrt die Geschichte des Christen- (Beifall der Abg. Marian Wendt [CDU/CSU] tums – kann man nur dadurch zurückdrängen, dass man und Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE in Zeiten der Aufklärung für einen Glauben an die Ver- GRÜNEN]) nunft Bahn bricht – das hat nicht bei allen geklappt –, zum Beispiel durch eine staatliche Imam-Ausbildung wie Das ist weder ehrlich noch in Deutschland irgendwie (B) an der Universität Tübingen oder durch Programme wie akzeptabel. (D) „Demokratie leben!“. Dieses Programm führen die An- Entscheidend ist etwas anderes. Entscheidend ist, dass tragsteller ausdrücklich an, was insofern verwundert, als wir nach wie vor wachsam sind, dass wir den Sicherheits- Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Dr. Hartwig behörden vertrauen und dass wir hinter den Sicherheits- dieses Programm für ineffizient und verfehlt hält. Meine behörden stehen. Entscheidend ist, dass das geltende Damen und Herren, das lässt tief blicken. Recht angewandt wird und dass wir dort, wo es notwen- Abgrund für Deutschland! Ich wünsche Ihnen ein dig ist, auch nachschärfen, dass wir den Datenaustausch schönes Wochenende. Überlegen Sie mal, wie Sie diese verbessern und dass wir auch deutlich machen, dass die drei Wörter auch abkürzen können. Sicherheitsbehörden hier eine klare Handschrift haben. Danke schön. Wichtig sind aber auch Prävention und Bildung. Kein Mensch wird als Islamist oder als Rassist geboren; Men- (Beifall bei der CDU/CSU – Karsten Hilse schen werden erst dazu. Wir müssen uns fragen, wo sich [AfD]: Wie intelligent! Von Ihnen bin ich Bes- Menschen radikalisieren. Wir müssen dem begegnen seres gewohnt! – Marian Wendt [CDU/CSU]: durch Bildung und durch Aufklärung. Das ist wie beim Kreuzworträtsel!) Wichtig ist vor allen Dingen, dass wir nicht in die Falle tappen, die uns die Feinde der Freiheit stellen, nämlich Vizepräsidentin Petra Pau: dass wir in der Sprache und im Umgang selber radikal Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU- werden. Wir müssen vielmehr versöhnen und das Land Fraktion. zusammenführen. Wir müssen für unsere Werte eintreten (Beifall bei der CDU/CSU) und all denen eine Absage erteilen, die diese Werte nicht leben wollen. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag mit Fug und Recht ab. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herzlichen Dank. Herren! Die Anschläge und Terrortaten von Paris, Nizza, Wien und Dresden haben uns erschüttert, und ich denke, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dass in dieser Debatte noch einmal ein Gedenken an die ordneten der FDP) Opfer wichtig ist. Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus Vizepräsidentin Petra Pau: ist reell. Ziel der Terroristen ist es, die liberale, aufge- Denken Sie bitte an die Mund-Nase-Bedeckung. – Ich klärte und offene Gesellschaft anzugreifen. Es gilt, diese schließe die Aussprache. 24030 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf ten – um das gleich deutlich zu sagen –, dass das drin- (C) Drucksache 19/23956 an die in der Tagesordnung aufge- gend, so schnell als möglich, erledigt wird. Sie haben ja führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- auch nur vier Tage gebraucht, um den Shutdown zu weisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ver- beschließen. Sie hätten die Zeit vielleicht schon nutzen fahren wir wie vorgeschlagen. können, auch zu regeln, wie die Unternehmen an ihr Geld Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- kommen, die ihre Existenz verlieren, wenn es jetzt nicht fehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem schnell Geld gibt. Hier also bitte deutlich nachlegen! Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Verstärktes (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- und effektiveres Vorgehen gegen die Ausbreitung des neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Islamismus in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Wir erwarten, dass die Soloselbstständigen und Kleinun- 19/23220, den Antrag der Fraktion der AfD auf Druck- ternehmen das Geld ohne bürokratische Hürden bekom- sache 19/17126 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- men. schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/ Im Übrigen: Anfang März ging es ja auch unproblema- Die Grünen gegen die Stimmen der AfD-Fraktion ange- tisch. Aber bei der Auszahlung der Überbrückungshilfen nommen. haben Sie sich die Argumentation der Steuerberater zu Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 sowie den Zusatz- eigen gemacht und gesagt, es gebe zu viel Betrug, statt punkt 11 auf: den Betroffenen schnell zu helfen. Unsere Anfrage an die Bundesregierung hat zutage gebracht, dass in den Bun- 35 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus desländern bei 2,2 Millionen gestellten Anträgen ledig- Ernst, , Doris Achelwilm, weiterer lich 4 000 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Nur Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 4 000! Wenn man wegen der 4 000 Fälle den Rest mehr Corona-Wirtschafts- und Überbrückungshil- oder weniger gängelt und sie nicht zu ihrem Geld kom- fen gerecht und unbürokratisch gestalten men lässt, dann ist das unerträglich. Das muss so schnell wie möglich geändert werden. Genau das wollen wir mit Drucksache 19/23939 unserem Antrag, meine Damen und Herren. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) (Beifall bei der LINKEN) Sportausschuss (B) Ausschuss für Kultur und Medien Es war von Anfang an falsch, den Unternehmerlohn (D) Haushaltsausschuss für Soloselbstständige und Kleinunternehmer für nicht ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des zuschussfähig zu erklären. Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ordneten Reinhard Houben, Dr. Marcel Klinge, NEN]: Ja!) Michael Theurer, weiterer Abgeordneter und der Da gibt es jetzt offensichtlich Bewegung bei der Bundes- Fraktion der FDP regierung. Ich weiß nicht, an was es noch hakt. Sie sind Freiraum für gesellschaftliches Leben erhal- sich wohl nicht einig, wie viele das jetzt kriegen und wie ten – Veranstaltungswirtschaft schützen viele das nicht kriegen sollen, und dann wird auf das Drucksachen 19/23679, 19/24037 Hartz-IV-System verwiesen. Meine Damen und Herren, das ist eben nicht dasselbe. Bei Hartz IV haben die Solo- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten selbstständigen das Problem, dass sie in eine Bedarfs- beschlossen. gemeinschaft hineingerechnet werden, sofern sie eine Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege haben, und dann kriegen sie möglicherweise überhaupt Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke. nichts. Deshalb ist es unakzeptabel, das über das Hartz- IV-System abzuwickeln. Wir wollen einen fiktiven Un- (Beifall bei der LINKEN) ternehmerlohn von 1 200 Euro pro Monat. Das ist für die Betroffenen sicherlich noch viel zu gering, aber gemes- Klaus Ernst (DIE LINKE): sen an Kurzarbeitergeld oder Ähnlichem akzeptabel. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundes- Also bitte, legen Sie da nach und kommen Sie schnell regierung hat sicherlich keine Schuld, dass es Corona zu einem Ergebnis! gibt – ohne Zweifel nicht –, aber natürlich Verantwortung dafür, welcher Art der Shutdown ist und wie wir mit der (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Wirtschaft, die davon betroffen ist, umgehen. NIS 90/DIE GRÜNEN) Wir wissen – das ist auch in Ordnung –, dass durch die Komplett übersehen hat die Bundesregierung die neuen Maßnahmen 75 Prozent als Ausgleich für den Belastung kleiner Unternehmer durch hohe Fixkosten Umsatzrückgang im November vorgesehen sind. Aber wie Gewerbemieten und Leasingraten. Wir wollen, dass bis jetzt gibt es noch keine Regelung, wie die betroffenen derartige Kosten um 30 Prozent abgesenkt werden kön- Unternehmen tatsächlich gestützt werden. Sie können nen, wenn ein Unternehmen pandemiebedingt mit Um- offensichtlich noch keine Anträge stellen, und wir erwar- satzverlusten in Höhe von mindestens 30 Prozent kon- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24031

Klaus Ernst (A) frontiert ist. Das würde sofort helfen, das würde Liquidi- Erinnerung rufen. Am 4. November ist im „Handelsblatt“ (C) tät in diesen Unternehmen lassen und ihnen das Über- gemeldet worden, dass die Linken eine Vermögensabga- leben leichter machen. be von bis zu 30 Prozent vorschlagen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Zum Schluss noch zu Ihren Maßnahmen. Sie machen Das soll insgesamt 300 Milliarden Euro ergeben. Damit Kneipen, Restaurants und Konzerte dicht. Das wäre wird Mittelstand, damit werden inhabergeführte Unter- selbstverständlich, gäbe es da Nachweise für große Infek- nehmen aus dem Lande herausgetrieben. tionsgeschehen. Aber genau die gibt es dort nicht. Auch (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Um die zu Zeiten, als die Kontakte noch nachvollziehbar waren, geht’s doch gar nicht!) waren genau da nicht die Infektionsherde. Das bestätigen im Übrigen auch die Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Damit wird die Axt an das angelegt, was unseren Wohl- Wir hatten dagegen große Probleme bei privaten Feten, stand in Deutschland ausmacht und worum wir uns alle übrigens auch bei Gottesdiensten, auf Hochzeiten, in sorgen, es wieder flottzubekommen. Sammelunterkünften oder am Arbeitsplatz wie bei der Es ist ja nicht so, als ob nichts gemacht worden wäre. Fleischindustrie. Nach wie vor sind Sie ein Gesetz schul- Die Soforthilfe ist angesprochen worden. Da sind in einer dig, das endlich die Arbeitsbedingungen in der Fleisch- sehr kurzen Zeit, in einem sehr schnellen Verfahren industrie regelt und künftig ausschließt, dass dort große 13,8 Millionen Euro allein vom Bund herausgegeben Infektionsherde entstehen. Das machen Sie nämlich worden. Hinzu kommt, was die Länder dazugetan haben. nicht, wenn Sie die Kneipen schließen, meine Damen Die Überbrückungshilfe I wurde schon wieder abgelöst und Herren. durch die Überbrückungshilfe II; da ist noch vieles in der (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Pipeline und wird noch bearbeitet. Aber auch hier sind NIS 90/DIE GRÜNEN) 1,3 Milliarden Euro abgeflossen. Das hätte etwas mehr sein können, aber wir arbeiten ja daran, wie jedermann Deshalb mein dringender Appell: Kommen Sie da zu sehen kann, vor allen Dingen die Leute, die im Wirt- Potte! schaftsausschuss sind und diese Themen in den ständigen Die Schließungen im Freizeitbereich und von Restau- Runden mit Wirtschaftsminister und Staatssekretären in- rants führen übrigens dazu, dass die Leute privat weiter tensiv besprechen. feiern, und dann haben Sie überhaupt keinen Einfluss Wir hatten doch alle gehofft, wir hätten das im Früh- mehr, was da passiert. Das ist kontraproduktiv. Denken jahr weitgehend überstanden: Wir halten uns alle einiger- Sie darüber mal nach! maßen an die Maßnahmen und haben es dann vielleicht (B) (Dr. [AfD]: Wir gehen hinter uns. (D) nach Hause und stecken uns an!) (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Danke schön. NEN]: Das hätten Sie wissen können!) (Beifall bei der LINKEN) Aber wir mussten sehen: Wir haben es nicht hinter uns. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das hätte Vizepräsidentin Petra Pau: man schon vorher wissen können!) Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Willsch für die Heute haben wir Rekordzahlen: über 20 000. Ich bitte CDU/CSU-Fraktion. doch mal um konkrete Vorschläge, ob wir jetzt vielleicht (Beifall bei der CDU/CSU) gar die Schulen oder die Kindergärten schließen sollen. Wir sind uns doch, glaube ich, bei rationaler Betrachtung einig, dass wir versuchen müssen, die Zahl der Interaktio- Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): nen etwas runterzufahren. Deshalb ziehen wir ja Masken Frau Präsidentin! Lieber Klaus Ernst, das war eine auf, deshalb halten wir Abstand, deshalb halten wir dünne Suppe, die da gerade serviert worden ist, muss Hygieneregeln ein. Wenn man das eine nicht will, muss ich mal feststellen, man sagen, was man stattdessen will. Dazu habe ich lei- (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Dicker als Ihre der nichts gehört. Politik, Herr Willsch!) (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Haben als ob du im Wirtschaftsausschuss nicht dabei gewesen wir doch gesagt!) wärst. Wir beraten doch permanent: Wie können wir die Was den November anbelangt, haben wir jetzt ganz Maßnahmen verbessern? Wie können wir sie treffsicher gezielt gesagt: Denjenigen, denen wir das Geschäft sozu- machen? sagen verbieten, denen wir den Laden dichtmachen, muss (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Nur jetzt in einer ordentlichen Größenordnung von 75 Prozent darüber reden hilft den Menschen nicht!) vom letztjährigen Umsatz Hilfe gegeben werden, wobei ich dem Haus dringend empfehle, darüber nachzudenken, Wir steuern permanent nach, weil wir für einen solchen ob man nicht anwendet, was für die Soloselbstständigen Fall natürlich keine Blaupause haben. ja schon vereinbart ist, nämlich zu sagen, dass es nicht Ich will aber, ehe sich hier die Falschen zum Retter unbedingt auf den Umsatz im November des Vorjahres unserer Wirtschaft und unserer Unternehmer aufschwin- ankommt, sondern man auch ein Zwölftel des letztjähri- gen, noch einen weiteren Vorgang aus dieser Woche in gen Jahresumsatzes nehmen kann. Denn es gibt natürlich 24032 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Klaus-Peter Willsch (A) viele Bereiche, die, unabhängig von der Rechtsform, ob (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: (C) Soloselbstständiger oder kleines familiengeführtes Un- Um Gottes willen!) ternehmen, gerade im November jedes Jahr eine Saure- Schauen wir uns doch mal die Zahlen des Grauens, Gurken-Zeit haben, weil sie da die Weihnachtsmärkte heruntergerechnet auf eine Stadt mit 100 000 Einwoh- aufbauen, ob das Eventtechniker, Eventcaterer oder nern, zum Beispiel meine Landeshauptstadt Schwerin, Schausteller sind. Sie alle brauchen eigentlich den an: Da sind, statistisch gesehen, seit März – seit März! – Dezember, und wir wissen heute noch nicht, ob sie im 750 Menschen auf Corona positiv getestet worden. Bei Dezember arbeiten können. Aber ihnen Hilfe auf Basis der gegenwärtig äußerst kritischen Lage kommen mo- eines nicht vorhandenen Umsatzes im letzten Jahr anzu- mentan täglich 19 Menschen hinzu. Ach ja, krank werden bieten, scheint mir nicht weit genug gesprungen. die alle gar nicht. Nur 28 von diesen 100 000 Menschen Es gibt im Gegensatz zu dem, was Klaus Ernst hier brauchten seit März eine intensivmedizinische Behand- vorgetragen hat, die klare Zusage, sowohl von Wirt- lung. schaftsminister Altmaier als auch von Finanzminister (Marianne Schieder [SPD]: Diese Ignoranz ist Scholz, dass im November Geld fließt, und wenn es nur ja nicht zu fassen!) eine Abschlagszahlung ist, weil noch nicht alles durch ist. Aber wir hoffen und setzen darauf, dass das ganze Gerade einmal 13 sind gestorben, von 100 000, Genehmigungsverfahren, die Art und Weise der Antrags- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Uner- wege, klargestellt wird. Und dann wird das genauso wie hört!) bei der Soforthilfe im März/April schnell auf den Weg kommen. Wir wollen doch alle, dass es hier weitergeht, fast alle übrigens mit zum Teil gravierenden Vorerkran- und tun dafür alles, was wir können. Dessen können Sie kungen, und 9 von diesen 13 waren über 80. alle versichert sein. Nur: Diese Pandemie über Nacht (Marianne Schieder [SPD]: Seien Sie froh, dass wegschaffen, das können wir leider nicht. Sie nicht betroffen sind!) (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das for- Bleiben also 4 Gestorbene, für die Sie die ganze Stadt dert auch keiner! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: herunterfahren, Tausende von Arbeitsplätzen riskieren, Über die Nordsee! – Heiterkeit bei Abgeordne- Existenzen zerstören, Kultur und Brauchtum vernichten. ten der LINKEN) Übrigens, insgesamt sind seit März in dieser 100 000- Menschen-Stadt, in diesem beschaulichen Städtchen, Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Tausend Menschen gestorben, im Übrigen genauso viele (Beifall bei der CDU/CSU) wie im letzten Jahr. (B) Ihr Lockdown ist unverhältnismäßig, weil er schlicht (D) Vizepräsidentin Petra Pau: nicht erforderlich ist. Das Wort hat der Abgeordnete Enrico Komning für die (Beifall bei der AfD) AfD-Fraktion. Der Lockdown und die nur dadurch bedingten Corona- (Beifall bei der AfD) hilfen sind, meine Damen und Herren, purer Aktionis- mus. Der Lockdown trifft die Falschen, diejenigen, die Enrico Komning (AfD): sich seit Monaten auf einen Winter mit vermeintlich Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- hoher Infektionsgefahr vorbereitet haben. Laut Herrn ren Kollegen! Liebe Kollegen von den Linken, ich kann Altmaier war das Kind, das Sie beim ersten, nach eigenen mir vorstellen: Sozialist zu sein in diesen Zeiten, ist wirk- Angaben unnötigen Lockdown in den Brunnen geschmis- lich schwierig, wenn einem die CDU und die SPD diese sen haben, dank eines sündhaft teuren Seils schon wieder ganze Arbeit abnehmen. halb emporgeklettert. Nun lassen Sie das Kind wieder reinfallen, zusammen mit dem wertvollen Seil. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Ja, die Bundesregierung ist gegenüber den Eltern die- Dieser Showantrag offenbart ja Ihre ganze Verzweiflung. ses Kindes, den gebeutelten Unternehmen, schadener- Dabei müssten Sie angesichts des dritten Ermächtigungs- satzpflichtig, und zwar schnell und unbürokratisch. Die gesetzes von heute Morgen Verstetigung einer Staatswirtschaft durch dauerhafte (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Transferleistung, finanziert durch enteignende Maßnah- men wie den hier von den Linken geforderten Anspruch doch eigentlich jubeln: Wieder ein Stück Demokratie auf Mietminderung, machen wir als Rechtsstaatspartei abgeschafft! aber nicht mit. (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Timon (Beifall bei der AfD) Gremmels [SPD]: In Geschichte nicht aufge- passt!) Wir bräuchten eigentlich gar keine Coronahilfen, mei- ne Damen und Herren; denn die beste Coronahilfe ist die Fünf Tage Lockdown haben an Ihrer Infektionsfront, sofortige Abschaffung aller Coronazwangsmaßnahmen. liebe Bundesregierung, nicht auch nur den Hauch eines Effekts gehabt. Die täglichen Wasserstandsmeldungen zu (Beifall bei der AfD) den sogenannten Infizierten sollen Angst und Schrecken Setzen Sie auf den individuellen Schutz besonderer Risi- verbreiten, um den Menschen erfolgreich eine pandemi- kogruppen in Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen, sche Lage vorzugaukeln. und setzen Sie im Übrigen auf selbstverantwortliche Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24033

Enrico Komning (A) Bürger! Die Warnungen vor der Überlastung unseres traurig, zu sehen, wie in meiner Heimatstadt Dortmund (C) Gesundheitssystems sind eine Kampagne. Nach wie vor der größte Weihnachtsbaum der Welt wieder abgebaut sind knapp 30 Prozent der Intensivbetten nicht belegt. wird und die dazugehörige Weihnachtsstadt erst gar nicht Zum Schluss, meine Damen und Herren: Was hätten wieder aufgebaut wird. Ähnlich wie diesen Schaustellern wir mit nur einem Bruchteil Ihrer herausgepfefferten ging es Besitzern von Hotels, Restaurants, Kneipen, Multimilliarden-Coronahilfen für unser Gesundheitswe- Klubs und Veranstaltern. Steigende Infektionszahlen sen alles tun können? machten uns allen einen Strich durch die Rechnung. Begegnungen mussten wieder unterbunden werden. Um Vielen Dank. diesmal Bildung und einen Großteil der Wirtschaft nicht (Beifall bei der AfD) runterzufahren, blieben Einschränkungen im Freizeitbe- reich. Schade ist, dass wir an dieser Stelle das immer wieder erklären müssen und manche das anscheinend Vizepräsidentin Petra Pau: immer noch nicht begriffen haben. Ich erlaube mir den Hinweis: Man kann sehr unter- schiedlicher Meinung sein – und das haben wir heute (Beifall bei der SPD – Dr. Alexander Gauland Morgen auch miteinander debattiert – zum Inhalt und [AfD]: Weil es nicht zu begreifen ist! Sie kön- zur Nützlichkeit des Gesetzes zum Schutz der Bevölke- nen es lassen!) rung bei einer epidemischen Lage von nationaler Trag- Dafür gibt es jetzt einen Ausgleich von 75 Prozent des weite. Ich bitte aber, es zu unterlassen, die Gesetzesvor- Umsatzes im November des Vorjahres. Details wurden haben, welche wir hier im Moment bearbeiten, mit einem ausgearbeitet, sodass er im November auch beantragt Wort zu belegen, welches nur historische Parallelen her- werden kann. Das ist ein guter und, wie ich finde, relativ vorruft. unbürokratischer Schritt, der von vielen in der Branche (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, auch begrüßt wird. der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN) Dabei sind Anregungen aufgenommen worden: Auch Wir wollen uns daran erinnern, dass mit dem Ermächti- mittelbar betroffene Unternehmen erhalten einen Aus- gungsgesetz, welches im Jahre 1933 in diesem Hause gleich; To-go-Geschäfte dürfen die fehlenden 25 Prozent beschlossen wurde, die Abschaffung der Demokratie ausgleichen; auch größere Unternehmen wie Veranstalter und der parlamentarischen Demokratie beschlossen wur- werden berücksichtigt; und bei kleineren Unternehmen, de. die bis zu 5 000 Euro beantragen, braucht der Steuerbera- (Enrico Komning [AfD]: Wir sind auf dem ter nicht noch gegenzuzeichnen. (B) besten Weg!) (D) Alleinlassen dürfen wir aber nicht die Unternehmen – Ich gehe davon aus, dass alle Mitglieder dieses Hauses das sei an dieser Stelle gesagt –, die nicht von der Novem- hier darüber streiten, wie wir genau die Demokratie in berhilfe profitieren. Damit meine ich zum Beispiel die unserem Land erhalten und stärken Reisebranche. Auch diesen Unternehmen müssen wir (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, stärker unter die Arme greifen. Deshalb ist es richtig, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE dass die Überbrückungshilfe III kommt und noch einmal GRÜNEN) verbessert wird. und gleichzeitig die entsprechenden Maßnahmen ergrei- (Beifall bei der SPD) fen, die es allen Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, Was wir aber noch viel mehr brauchen, meine Damen entsprechend dem Grundgesetz hier in unserem Land zu und Herren, ist eine Perspektive – das kommt auch in leben. einem Antrag vor – für alle Betroffenen. Das heißt: Wie (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- können wir die Betriebe wieder ans Schaffen bekommen KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und gleichzeitig die Bevölkerung schützen? Dafür müs- sen wir meiner Meinung nach viel mehr auf Hygienekon- Das Wort hat die Kollegin Sabine Poschmann für die zepte, Tests und digitale Registrierungen setzen als auf SPD-Fraktion. Schließung. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam mit Wirt- (Beifall bei der SPD) schafts- und Gesundheitspolitikern daran arbeiten, einen verlässlichen Rahmen für 2021 zu finden. Dabei vertraue Sabine Poschmann (SPD): ich auf die Innovationskraft der Unternehmen und die Sehr geehrte Frau Präsidentin, ich danke Ihnen sehr für Mitarbeit der Bevölkerung. diese Worte. Herzlichen Dank an die Unternehmen! Halten Sie die (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Öhrchen steif! Ein schönes Wochenende! BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Herzlichen Dank. ordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsi- dentin! Für viele war es unbegreiflich, warum sie im November wieder schließen mussten; denn sie hatten Vizepräsidentin Petra Pau: gute Hygienekonzepte und haben alles getan, um die Das Wort hat der Kollege Dr. Marcel Klinge für die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Es macht auch mich FDP-Fraktion. 24034 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) (Beifall bei der FDP) Miete. Das ist nicht nur Akuthilfe, sondern dringend (C) gebotene Wertschätzung gegenüber der Lebensleistung von Millionen Menschen. Dr. Marcel Klinge (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der FDP) Kollegen! Covid-19 ist eine Gefahr für Leib und Leben und zugleich eine enorme wirtschaftliche Bedrohung für Zweitens. Um möglichst viele Betriebe durch diese Millionen von Unternehmen, Selbstständigen und Ge- schwere Krise zu bekommen, müssen wir ihre Zahlungs- werbetreibenden. Vor allem unsere Tourismusbetriebe, fähigkeit erhalten. Das geht – einfach und wirkungsvoll – die Schausteller, die Kultur- und Kreativwirtschaft, die über eine negative Gewinnsteuer. Wenn Unternehmen Veranstaltungsbranche haben unglaublich harte Monate Verluste aus diesem Krisenjahr 2020 mit Gewinnen aus hinter und wahrscheinlich unglaublich harte Monate vor 2019 und 2018 verrechnen können, dann spült das drin- sich. gend benötigtes Geld in ihre Kassen zurück. Als Sprecher für Tourismus sehe ich den seit Montag Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, in diesem geltenden flächendeckenden Shutdown für diese Bran- Monat gilt mehr denn je: Wer hauruckartig ganze Bran- chen sehr, sehr kritisch – nicht weil wir Freidemokraten chen schließt, der muss genauso blitzschnell und verläss- etwa die gesundheitlichen Risiken nicht sehen, sondern lich helfen. Es gibt noch sehr viel zu tun. Handeln Sie weil das Vorgehen der Großen Koalition in diesem Fall endlich! pauschal, unverhältnismäßig und aktionistisch ist. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Die Betriebe, Frau Poschmann, haben doch in der Pande- Vizepräsidentin Petra Pau: mie ihre Hausaufgaben gemacht. Das Wort hat die Kollegin Katharina Dröge für die Bei den bisherigen Wirtschaftshilfen hingegen hakt es Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. an allen Ecken und Kanten: Nur ein Bruchteil der Mittel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kommt bislang bei den Betroffenen an. Das Verfahren ist zu kompliziert, langatmig und eben auch widersprüch- lich. Nehmen wir die KfW-Schnellkredite: Die hat der Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wirtschaftsminister Peter Altmaier in den vergangenen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Monaten wie geschnitten Brot angepriesen. Diejenigen, Kollegen! Manchmal ist es momentan echt schwer aus- die solch einen Kredit ohne klare Perspektive aufgenom- zuhalten, wenn man mit Künstlerinnen spricht, die seit (B) men haben, gehen aber bei den Überbrückungshilfen bis- Monaten keinen Auftritt mehr hatten, wenn man mit (D) lang leer aus. Soloselbstständigen spricht, die seit Monaten keine Auf- träge mehr haben, mit Veranstaltern oder Gastronomen, Die Liste, liebe Koalition, der notwendigen Nachbes- die sich mit ihren Hygienekonzepten solch eine Mühe serungen ist also lang, auch bei den November-Hilfen. gegeben haben und jetzt trotzdem schließen müssen. Die- Erst heute haben mich viele E-Mails von Messebauern se Verzweiflung, diese Existenzängste, die in den Gesprä- und Reisebüros erreicht, die eben nicht wissen, wie es chen zum Ausdruck gebracht werden, sind echt schwer weitergeht, und auf Antworten von Ihnen warten. auszuhalten. Meine Damen und Herren, die Betriebe haben ihre Hausaufgaben gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, dass diese Lassen Sie mich klar sagen: Ich glaube, es gibt eine Koalition ihren Job endlich mal macht. große Mehrheit in diesem Haus, die sagt, dass in dieser Krise, in dieser Pandemie die bestmögliche Bemühung (Beifall bei der FDP) um den Schutz unser aller Gesundheit das ist, was im Vordergrund stehen muss. Da sind wir uns einig mit vie- In unserem Antrag zur Rettung der Veranstaltungswirt- len Künstlerinnen und Künstlern, vielen Gastronomen, schaft, den wir an diese Debatte ankoppeln, finden Sie vielen Soloselbstständigen, die megasolidarisch mit uns viele Ideen, wie Hilfen deutlich besser gelingen und durch diese Krise gehen, die große persönliche Konse- umgesetzt werden können. Zwei Punkte, meine Damen quenzen akzeptieren und trotzdem sagen: Es ist richtig, und Herren, sind uns Freien Demokraten besonders wich- dass der Schutz der Gesundheit im Vordergrund steht. tig und liegen uns am Herzen: Erstens: die überfällige Einführung eines fairen Unter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nehmerlohns. Wie kann es sein, dass Soloselbstständige, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) gestandene Unternehmerinnen und Unternehmer, erst Aber wir sind auch Wirtschaftspolitiker, und als Wirt- ihre Altersvorsorge aufbrauchen und dann Grundsiche- schaftspolitiker müssen wir dafür sorgen, dass diejeni- rung beantragen müssen? Bittsteller in einer Amtsstube gen, die in dieser Krise so wahnsinnig solidarisch sind, zu sein, das steckt ganz sicher nicht in der DNA dieser dann auch bestmöglich von uns unterstützt werden. Da, Schaffer. muss ich sagen, hat dieses Parlament, hat diese Regierung (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nicht ihr Bestmögliches gemacht, und das ist ein Pro- blem, vor dem wir alle jetzt stehen. Deshalb brauchen wir für sie neben allem anderen – neben den Hilfen, die es schon gibt – einen Unternehmer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lohn zur Finanzierung der Lebenshaltungskosten und der sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24035

Katharina Dröge (A) Es gibt eine einfache Regel, und die heißt: Nach dem Vizepräsidentin Petra Pau: (C) Sommer kommt der Herbst. – Das konnten wir alle wis- Frau Kollegin. sen. Wir konnten alle wissen, dass es ziemlich wahr- scheinlich ist, dass die Infektionszahlen im Herbst wieder steigen werden. Darauf haben uns viele Experten hinge- Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wiesen. Wie kann es dann sein, dass Sie keinen Plan für Die Pandemie wird noch länger dauern, und wir brau- den Herbst hatten, dass Sie immer gesagt haben, ein chen Zuverlässigkeit und Planbarkeit. Dann werden die Lockdown werde nicht kommen, aber am Ende doch Unternehmen durch diese Krise kommen. Mit diesem einen machen, dass Sie, wenn Sie ihn machen, erst Hin und Her von Ihnen funktioniert das nicht. dann anfangen, zu überlegen, wie die Unterstützung für die Unternehmen, die wieder geschlossen werden müs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sen, aussehen könnte? Wenn Sie jetzt, in der Zeit, in der sowie der Abg. Simone Barrientos [DIE LIN- die Unternehmen schon geschlossen haben, sagen: KE]) „Irgendwann im November wird das Geld schon fließen“, dann ist das zu spät. Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Carsten Müller das Wort. sowie der Abg. Simone Barrientos [DIE LIN- KE]) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie hätten sich darauf vorbereiten müssen, dass so etwas noch einmal passieren kann. Die Hilfen hätten stehen Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): müssen; sie hätten in dem Moment, in dem eine Schlie- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ßung notwendig wird, fließen müssen, funktionieren Herren! Meine Vorrednerin ist offensichtlich einem groß- müssen. en Irrtum unterlegen: Eine Pandemie ist nicht planbar. – Und deswegen ist das, was im Moment passiert, ziemlich Es gibt eine zweite klare Regel: Nach dem November genau richtig, nämlich abgestuft und angemessen zu rea- kommt der Dezember. – Und im Dezember wissen die gieren. Unternehmen wieder nicht, was auf sie zukommt, weil die Hilfen, die Sie jetzt als Notfallhilfen für die Krise (Beifall bei der CDU/CSU) konzipiert haben, im November auch schon wieder aus- laufen. Es ist unklar, wie die Überbrückungshilfen dann Das hat die Bundesregierung gemacht: Sie hat schnell und unkompliziert Hilfen zur Verfügung gestellt. 75 Pro- (B) im Dezember überarbeitet werden sollen. Der Wirt- (D) schaftsminister sagt sogar: Im Januar wird dann irgend- zent des Vorjahresumsatzes im November werden den- etwas überarbeitet. jenigen erstattet, die vom jetzigen Lockdown betroffen sind. Das ist eine ganz einfach ausrechenbare, schnell Was den Unternehmerlohn für Soloselbstständige an- zu leistende Hilfe, und sie ist angemessen. Sie kommt geht, zu dem die Union zu Recht sagt, dass er notwendig auch unmittelbar bei den betroffenen Unternehmen an, ist, machen Sie jetzt irgendetwas, was so eine Art Unter- im Übrigen nicht nur bei den unmittelbar betroffenen nehmerlohn für den November sein soll. Er läuft im – das war uns sehr wichtig, das haben wir hier mehrfach Dezember aus, und dann stehen die Soloselbstständigen zum Gegenstand der Debatten gemacht –, sondern auch wieder vor der Situation, dass sie diesen Unternehmer- bei den mittelbar betroffenen, die ihren Umsatz zu 80 Pro- lohn nicht haben, sie stehen dann wieder vor der Situa- zent in den vom Lockdown betroffenen Branchen tion, in die Grundsicherung zu müssen. Meine Güte, machen. bewegen Sie sich endlich einmal! Wichtig ist, dass den Soloselbstständigen geholfen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird. Das haben wir heute hier und ebenso in den letzten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Tagen mehrfach erörtert. Ich finde es richtig, dass insbe- sondere bei den Soloselbstständigen die Inanspruchnah- Wir haben im Herbst vorgeschlagen, dass das kommen me der Hilfe entweder durch Abstellen auf den Vorjahres- muss. Wie lange sollen die Unternehmen denn jetzt noch November oder auf einen vorjahresmonatlichen Mittel- auf diese Hilfe von Ihnen warten? wert geschehen kann. Damit ist Kreativen, insbesondere Künstlerinnen und Künstlern, geholfen. Meine Damen Wir brauchen Verlässlichkeit, wir brauchen einfache und Herren, auch an solche Unternehmen, die im Novem- Überbrückungshilfen – das Geld fließt nicht ab, weil es ber 2019 noch nicht existierten, ist gedacht worden. Da- zu kompliziert ist –, wir brauchen eine echte Existenz- rauf wird entsprechend Bezug genommen. sicherung für die Unternehmerinnen, und wir brauchen einen klaren, bundeseinheitlichen Stufenplan: Bei wel- Ein Thema ist angesprochen worden: KfW-Schnell- cher Inzidenz passiert was? Es kann sein, dass wir noch kredite. Dort ist erheblich nachgebessert worden. Diese einmal zu regionalen Lockdowns kommen; das kann nie- Schnellkredite stehen mittlerweile auch für Unternehmen mand ausschließen. Dann müssen Sie Hilfen auf den Weg mit bis zu zehn Beschäftigten zur Verfügung. Höchst- bringen, die auch funktionieren. Machen Sie endlich kreditsumme sind 300 000 Euro, und der Bund – das ist einen Plan, einen langfristigen Plan, nicht nur für die für eine schnelle und unkomplizierte Abwicklung über nächsten zwei Monate, nicht nur für die Zeit, die Sie die Geschäftsbanken besonders wichtig – übernimmt gerade überblicken können! das vollständige Haftungsrisiko. 24036 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

Carsten Müller (Braunschweig) (A) Dass die Maßnahmen auf den Punkt treffen, stellt nicht heterogen aufgestellt ist. Wir finden hier alles von Ein- (C) nur die Unionsfraktion fest; das stellt im Übrigen auch zelunternehmerinnen und Einzelunternehmern bis hin zu der DEHOGA fest. Er wurde heute hier in einigen Bei- einem Unternehmen mit über 1 000 Beschäftigten. Wir trägen zitiert, und er bezeichnet diese schnelle Hilfe brauchen eine schnelle Umsetzung – ich will das aus- zutreffend als gerecht und konsequent, er begrüßt und drücklich sagen –, und zwar noch in diesem Monat; ich unterstützt sie. habe die Nöte beschrieben. Trotzdem darf eines nicht vergessen werden – ich habe Ich habe Zuversicht, dass die Bundesregierung diese dazu schon vor einer Woche etwas ausgeführt –: Die Ver- Anregungen aufnimmt, und bedanke mich für die Auf- anstaltungswirtschaft, die Schaustellerinnen und Schau- merksamkeit. steller, sind besonders von dem Lockdown betroffen. (Beifall bei der CDU/CSU) Diese Branche befindet sich nicht im zweiten Lockdown, sondern tatsächlich noch im ersten. Sie hatte in den Früh- jahrs- und Sommermonaten keine Möglichkeit, sich von Vizepräsidentin Petra Pau: der Schließung, vom Lockdown Ende des ersten Quar- Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Yüksel das tals, Anfang des zweiten Quartals dieses Jahres zu erho- Wort. len. (Beifall bei der SPD) Gerade bei den Schaustellerinnen und Schaustellern ist die Lage außergewöhnlich unberechenbar. Sie können Gülistan Yüksel (SPD): ihre Tätigkeit im November nicht aufnehmen. Die Weih- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen nachtsmärkte – für viele eine Haupteinnahmequelle im und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Coro- gesamten Jahr – starten normalerweise im November. navirus zwingt uns dazu, Einschränkungen zu erlassen, Es ist eben so: Keiner weiß, wie sich die Pandemie bis die unserer freiheitlichen Gesinnung widerstreben. Wir dahin entwickelt haben wird. Und: Ein Weihnachtsmarkt- reduzieren für eine befristete Zeit Kontakte, weil wir Ver- geschäft lässt sich nicht in der Nacht vom 30. November antwortung übernehmen müssen und wollen: Verantwor- auf den 1. Dezember anfahren und eröffnen. Deswegen tung dafür, dass wir die Kontrolle über die Ausbreitung wünsche ich mir, dass wir dieser hart getroffenen Gruppe des Virus wiedergewinnen, Verantwortung dafür, dass weitere Hilfen zukommen lassen und ihnen entsprechen- unser Gesundheitssystem nicht kollabiert, Verantwortung de Hilfen auch für den Dezember zusagen. dafür also, dass alle Schwererkrankten die nötige inten- (Beifall bei der CDU/CSU) sivmedizinische Behandlung erhalten. Täten wir dies nicht, so wären die gesellschaftlichen Schäden und die Meine Damen und Herren, die Überbrückungshilfe, wirtschaftlichen Kosten am Ende viel höher. (B) die wir jetzt ausloben, bedarf insbesondere für die ange- (D) sprochene Veranstaltungswirtschaft Nachbesserung in Einigen Wirtschaftsbereichen verlangt diese Verant- nach meinem Dafürhalten fünf wesentlichen Punkten. wortung besonders viel ab, liebe Kolleginnen und Kol- Ich will diese kurz aufzählen. legen. So müssen sich gerade die Hotels und Gaststätten, die Reisebüros und Reiseveranstalter, die Künstlerinnen Erstens sind die Deckelung der monatlichen Fixkosten und Künstler, die Schaustellerinnen und Schausteller und die Fördergelder und zweitens die Kriterien, auf die weiterhin auf einen starken Staat verlassen können. sie angewendet werden müssen, zu nennen. Ich glaube schon, dass wir den Unternehmen, die in den Referenz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten monaten ab März dieses Jahres im Vergleich zum Vor- der CDU/CSU) jahreszeitraum einen Umsatzeinbruch von 75, 80 Prozent Es ist nur gerecht, dass wir den Menschen in diesen haben, ganz besonders helfen müssen. Das geht meines Branchen schnell und unbürokratisch helfen. Mit um- Erachtens, wenn wir den beihilferechtlichen Rahmen fangreichen Wirtschaftshilfen haben wir genau dies seit sorgfältig sondieren. Krisenbeginn getan. Drittens. Im Übrigen müssen wir unabhängig von einer Zu Beginn der Pandemie wirkten die Soforthilfen Mitarbeiteranzahlbegrenzung auf maximal 249 helfen. schnell und unmittelbar. Direkt im Anschluss unterstütz- Ich hatte Ihnen in der vergangenen Woche dargestellt, ten die Überbrückungshilfen. Diese Überbrückungshilfen dass wir gerade in der Veranstaltungsbranche viele inter- haben wir zuletzt verbessert und bis zum Jahresende ver- national arbeitende Champions in unserem Land haben, längert. Wir zahlen jetzt zusätzlich 10 Milliarden Euro an die unglaublich beschäftigungsintensiv sind. Da sterben außerordentlichen Wirtschaftshilfen, um die Folgen der viele, wenn wir die Grenze von 249 nicht anheben. Wir aktuellen Schließungen abzumildern; meine Kollegin sollten bei der Umsatzgröße bzw. einer Bilanzsumme von Sabine Poschmann ist eben kurz darauf eingegangen. 150 Millionen Euro im Jahr ansetzen. Wir helfen auch in Zukunft. Aktuell arbeitet die Bun- Viertens. Bei den zugrundegelegten Fixkosten müssen desregierung daran, die Überbrückungshilfen bis Juni unbedingt sogenannte Vorhaltekosten mit berücksichtigt 2021 zu verlängern und anzupassen. Damit wird die werden. Nur so bekommen es die kerngesund aufgestell- gleichlautende Forderung des Linkenantrages schon ten Unternehmen hin, über diese Krise hinwegzukom- erfüllt. men. Bereits umgesetzt sind auch andere Vorschläge des Fünftens. Das Brückengeld für Unternehmerinnen und Antrages. So haben wir die Zuschussdeckelung für kleine Unternehmer ist angesprochen worden. Es ist besonders und mittelständische Unternehmen abgeschafft und die vonnöten, weil die Veranstaltungsbranche besonders Personalkostenpauschale auf 20 Prozent erhöht. Die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24037

Gülistan Yüksel (A) SPD hat die staatlichen Hilfen entscheidend mitgeprägt Zusatzpunkt 11. Wir kommen zur Abstimmung über (C) und auf die erwähnten Verbesserungen gedrängt. Dazu die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft war ich genau wie meine Kolleginnen und Kollegen aus und Energie zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit der Tourismus-AG mit zahlreichen Betroffenen im Ge- dem Titel „Freiraum für gesellschaftliches Leben erhal- spräch. Zusammen haben wir dafür gesorgt, dass gerade ten – Veranstaltungswirtschaft schützen“. Der Ausschuss die Lage der Tourismusbranche angemessen berücksich- empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache tigt wird. Wichtig war und ist uns, dass all diese Hilfen 19/24037, den Antrag der Fraktion der FDP auf Druck- einfach und schnell bei den Betroffenen ankommen. sache 19/23679 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Sehr geehrte Damen und Herren, zum Schutz unserer schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, Familien und Mitmenschen müssen und sollten wir Ver- die AfD-Fraktion und die Fraktion Die Linke. Wer antwortung übernehmen. Mit den vielfältigen Wirt- stimmt dagegen? – Die FDP-Fraktion und die Fraktion schaftshilfen verteilen wir die Last dieser Verantwortung Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Niemand. auf viele Schultern. Gemeinsam können wir es stemmen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Lassen Sie uns also daran arbeiten. Herzlichen Dank. Schönes Wochenende! Bleiben Sie Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- gesund! nung. (Beifall bei der SPD) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Vizepräsidentin Petra Pau: tages auf Mittwoch, den 18. November 2020, 13 Uhr, ein. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Ich wünsche Ihnen alles Gute bis dahin. Die Sitzung ist Drucksache 19/23939 an die in der Tagesordnung aufge- geschlossen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- weisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ver- fahren wir wie vorgeschlagen. (Schluss: 16:27 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020 24039

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Bellmann, Veronika CDU/CSU Nestle, Dr. Ingrid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Benning, Sybille CDU/CSU Nietan, Dietmar SPD Brandt, Michel DIE LINKE Nissen, Ulli SPD Dassler, Britta Katharina FDP Nord, Thomas DIE LINKE Diaby, Dr. Karamba SPD Oehme, Ulrich AfD Domscheit-Berg, Anke DIE LINKE Pilger, Detlev SPD Esdar, Dr. Wiebke SPD Post, Florian SPD Freihold, Brigitte DIE LINKE Radomski, Kerstin CDU/CSU Gabelmann, Sylvia DIE LINKE Remmers, Ingrid DIE LINKE Gädechens, Ingo CDU/CSU Rimkus, Andreas SPD Glaser, Albrecht AfD Roth (Heringen), Michael SPD Hahn, Florian CDU/CSU Rupprecht, Albert CDU/CSU Hartmann, Verena fraktionslos Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ Hebner, Martin AfD (B) DIE GRÜNEN (D) Herdt, Waldemar AfD Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU Herzog, Gustav SPD Schiefner, Udo SPD Hollnagel, Dr. Bruno AfD Schielke-Ziesing, Ulrike AfD Irlstorfer, Erich CDU/CSU Schlund, Dr. Robby AfD Juratovic, Josip SPD Schmidtke, Dr. Claudia CDU/CSU Kemmer, Ronja* CDU/CSU Schön, Nadine CDU/CSU Konrad, Carina FDP Schulze, Dr. Klaus-Peter CDU/CSU Kuhle, Konstantin FDP Schwartze, Stefan SPD Lamers, Dr. Dr. h. c. Karl A. CDU/CSU Solms, Dr. Hermann Otto FDP Luczak, Dr. Jan-Marco CDU/CSU Steinke, Kersten DIE LINKE Maas, Heiko SPD Strenz, Karin CDU/CSU Magnitz, Frank AfD Tack, Kerstin SPD Magwas, Yvonne CDU/CSU Teuteberg, Linda FDP Mattheis, Hilde SPD Vries, Kees de CDU/CSU Möhring, Cornelia DIE LINKE Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE Müller, Bettina SPD Weber, Gabi SPD Müller-Böhm, Roman FDP Weeser, Sandra FDP 24040 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 190. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2020

(A) Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der (C) Abgeordnete(r) Deutschen Einheit 2020 Drucksache 19/22580 Weiler, Albert H. CDU/CSU Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Weingarten, Dr. Joe SPD mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Zdebel, Hubertus DIE LINKE Beratung abgesehen hat.

Ziegler, Dagmar SPD Ausschuss für Inneres und Heimat Drucksache 19/19658 Nr. A.1 Ziemiak, Paul CDU/CSU Ratsdokument 7629/20 Drucksache 19/20243 Nr. A.2 Ratsdokument 8330/20 Zimmermann, Pia DIE LINKE Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 19/22367 Nr. A.42 * aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Ratsdokument 9772/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.43 Ratsdokument 9773/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.44 Ratsdokument 9855/20 Anlage 2 Drucksache 19/22367 Nr. A.45 Ratsdokument 9922/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.47 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Ratsdokument 10075/20 Drucksache 19/23265 Nr. A.9 Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie Ratsdokument 10682/20 gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 19/22367 Nr. A.55 absehen: Ratsdokument 8871/20 Drucksache 19/22367 Nr. A.56 Ausschuss für Inneres und Heimat Ratsdokument 9548/20 Drucksache 19/23265 Nr. A.10 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 10834/20

Evaluationsbericht nach Artikel 5 des Gesetzes zur Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Verlängerung der Befristung von Vorschriften Drucksache 19/22367 Nr. A.62 Ratsdokument 8797/20 nach den Terrorismusbekämpfungsgesetzen Drucksache 19/23265 Nr. A.12 Ratsdokument 10631/20 (B) Drucksache 19/23350 (D) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Drucksache 19/20243 Nr. A.21 Ratsdokument 8219/20 – Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregie- Drucksache 19/22367 Nr. A.64 rung Ratsdokument 9161/20

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