BH MUSIK, MUSIKWISSENSCHAFT

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Jazz

Deutschland

LEXIKON

09-1/2 Jazz in Deutschland : das Lexikon ; alle Musiker und Platten- firmen von 1920 bis heute / Jürgen Wölfer. - Orig.-Ausg. - Hö- fen : Hannibal-Verlag, 2008. - 503 S. : Ill. ; 24 cm. - ISBN 978-3- 85445-274-4 : EUR 29.90 [#0243]

Jürgen Wölfer ist Jazzkennern durch sein Lexikon des Jazz1 und andere einschlägige Lexika2 bekannt. Nun legt er mit Jazz in Deutschland ein neues Lexikon. Der Titel ist bewußt gewählt, um darin alles unterzubringen, was sich im Jazz in Deutschland seit den zwanziger Jahren in der alten BRD und in der DDR Jahren getan hat und auch heute noch tut. Ein ande- rer Titel wie „Deutsches Jazzlexikon“ etwa hätte das Vorhaben des Autors doch sehr eingeschränkt, denn er verzeichnet auch Jazzmusiker, die nicht in Deutschland geboren sind, aber dennoch die deutsche Jazzszene berei- chert, gar in Deutschland gewohnt, Tourneen durchgeführt, hier länger ge- lebt haben oder es noch tun. Somit kommt der Autor auf 1675 Artikel mit Personennamen, Namen von Bands, wenigen Sachartikeln, Plattenfirmen und Institutionen. In seinem Vorwort bezeichnet der Autor sein Werk als einen „Versuch, den Jazz in Deutschland […] von den Anfängen bis zur Gegenwart in Lexikon- form darzustellen“ (S. 5). Ganz selbstverständlich bezieht er Österreich und die Schweiz mit ein. Auf Definitionen, Beschreibungen von Jazzstilen, Fach- ausdrücke oder gar Diskussionen um den Jazz ganz generell will er sich nicht einlassen. Allerdings findet er die deutsche Jazzszene beinahe

1 Lexikon des Jazz / Jürgen Wölfer. - Erg. und erw. Ausg. - St. Andrä : Hannibal Verlag, 1999. - 518 S. : Ill. - ISBN 3-85445-164-4. - In IFB nicht besprochen. 2 Das grosse Lexikon der Unterhaltungs-Musik : die populäre Musik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart - vom Wiener Walzer bis zu Swing, Latin Music und Easy Listening / Jürgen Wölfer. - Berlin : Lexikon-Imprint-Verlag, 2000. - 589 S. : Ill. ; 24 cm. - ISBN 3-89602-272-5 : DM 49.80 [6356]. - Rez.: IFB 01-2-372 http://www.bsz-bw.de/depot/media/3400000/3421000/3421308/01_0372.html - Das grosse Lexikon der Filmkomponisten : die Magier der cineastischen Aku- stik ; von Ennio Morricone bis Hans Zimmer / Jürgen Wölfer und Roland Löper. - Berlin : Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2003. - 583 S. : Ill. ; 24 cm. - ISBN 3-89602- 296-2 : EUR 24.90 [7395]. - Rez.: IFB 03-1-204 http://naxos.bsz-bw.de/rekla/show.php?mode=source&eid=IFB_03-1_204 „inzestuös“, was die Beschäftigungssituationen der Jazzmusiker angeht, denn „die Mehrzahl dieser gut ausgebildeten Musiker findet als Jazzmusiker nicht genug Arbeit, um davon leben zu können. Die Infrastruktur in Deutsch- land (und allen anderen Ländern) gibt das einfach nicht her“ (S. 5). Von da- her sind Jazzmusiker zu anderen Tätigkeiten gezwungen und sind noch gut bedient, wenn sie eine akademische, pädagogische oder schriftstellerische Tätigkeit haben oder gar im Rundfunk arbeiten können. In seiner Einleitung weist Wölfer darauf hin, dass man den Jazz in Deutsch- land schon seit 1905 nachweisen kann, wenn man ihn als Ragtime oder ei- ne „jazzbeeinflusste Tanzmusik“ sieht (S. 7), ansonsten beginnt das Lexikon mit dem Jahr 1920. Überhaupt scheint für den Autor der Schwerpunkt seiner Arbeit eher in den historischen Jazzstilen zu liegen, denn er erkennt: „Im zeitgenössischen deutschen Jazz gibt es seit den Neunzigern eine kleine Aufbruchsstimmung. Die Altlasten der väterlichen Intellektualismen (das heisst des Free Jazz) werden zugunsten eines neuen Mainstreams und für eine neue Klangsprache aufgegeben, die sich einer bunten Stilmischung mit bunten und sogar humorvollen, manchmal aber langweiligen und schon oft gehörten Sounds widmet“ (S. 11). Die Zeit dazwischen scheint nicht seine Stärke zu sein. Im Lexikon selber finden sich kurze,3 nüchterne Biographien der Musiker und Bands, meistens mit Geburts- und allfälligem Todesdatum, kurzem Werdegang und Bedeutung sowie Hinweisen auf CDs, jedoch keine DVDs, aber soweit vorhanden mit Internetadressen. Eher auffällige Namen wie Theodor W. Adorno oder Helge Schneider sind für den Jazzkenner keine Überraschung. Deutsche Plattenfirmen wie Amiga, Ariola-Eurodisc, Bear Family Records, FMP (Free Music Production) werden ebenfalls berücksich- tigt. Ebenso vertreten sind Festivals wie das American Folk Blues Festival (AFBF), das Deutsche Jazzfestival oder das JazzFest Berlin sowie Institu- tionen wie das Archiv für Populäre Musik, das Bayerische Jazzinstitut, die Deutsche Jazzföderation, das Deutsche Musikarchiv, die GEMA, das Jazz- institut Darmstadt oder die Union Deutscher Jazzmusiker. Recht viele der berücksichtigten Personen könnte man als Kritiker, Schrift- steller, Produzenten, Biblio- und Diskographen bzw. Rundfunkleute charak- terisieren wie: Joachim-Ernst Berendt, Ernest Bornemann, Rainer Bratfisch, Hans Georg Brunner-Schwer, Werner Burkhardt, Gerhard Conrad, Alfons M. Dauer, Manfred Eicher, Gudrun Endress, Werner Götze, Olaf Hudtwal- ker, Janheinz Jahn, Ekkehard Jost, Wolfram Knauer, Klaus Kuhnke, Horst H. Lange, Horst Lippmann, Carl Gregor Herzog zu Mecklenburg, Dan Mor- genstern, Klaus Mümpfer, Bert Noglik, Norbert Rücker, Reginald Rudorf, Hans Ruland, Wolfgang Sandner, Hans-Jürgen Schaal, Siegfried Schmidt- Joos, Peter Niklas Wilson, Heinz-Werner Wunderlich, Dieter Zimmerle. Hier vermißst man jedoch einige Namen (s.u.).

3 Ein längerer Artikel wird lediglich Klaus Doldinger gewährt, wobei die Länge aus Aufzählung von dessen sämtlichen Filmmusiken herrührt; eine ganze zusätzliche Seite über Klaus Doldinger stammt von Manfred Gillig-Degrave (er ist im Impres- sum als Lektor des Bandes ausgewiesen). Diese Bevorzugung wird vom Verfas- ser nicht begründet. Das Lexikon enthält trotz gegenteiliger Aussage im Vorwort einige wenige Sachartikel wie Blues in Deutschland, Diskografie, Rundfunk, WDR Jazz- preis oder Zeitschriften. Bei den Zeitschriften vermißt man die schweizeri- sche Fachzeitschrift Jazz´n´more, das österreichische Magazin Freistil so- wie die deutschen Zeitschriften Blue rhythm und Fox auf 78. Mit Bewertungen oder Meinungen hält sich das Lexikon zurück. Eine der wenigen Ausnahmen beschreibt Charly Antolinis „exzentrischen Schlag- zeugstil“. Offenbar durch einen Flüchtigkeitsfehler wurde der Bassist Peter Kowald zum Saxophonisten. Das Lexikon bietet „ausländischen“ Jazzmusikern großen Raum wie z.B. Benny Bailey, geb. in Cleveland, gest. in Amsterdam, geb. in Yale, gest. in Amsterdam, Francy Boland, geb. in Namur, gest. in Genf, Da- ve Brubeck, geb. in Concord, , geb. in Pittsburgh, gest. in Montreuil-sous-Bois nahe Paris, Nathan Davis, geb. in Kansas City, Art Far- mer, geb. in Council Bluffs, gest. in New York. Alle diese Musiker haben Be- rührungspunkte mit Deutschland. Bei einer allzu strengen Auswahl hätte z.B. Peter Herbolzheimer nicht ins Lexikon gedurft, denn er ist in Bukarest geboren, in der deutschen Jazzszene aber nicht wegzudenken. Hier setzt auch die massivste Kritik am Lexikon an: wer wird ausgewählt und wer nicht? Bei Maceo Parker heißt es: „er tourt so regelmässig in Deutschland, dass er schon zur Szene gerechnet werden muss“ (S. 256). Für Lester Young bemüht sich der Autor, Festival- und Clubauftritte als Begründung für die Aufnahme ins Lexikon nachzuweisen. Wo sind die Tourneen von John Coltrane, Cannonball Adderley und Albert Ayler? Und wo die ersten Auftritte von Roland Kirk in seinem Lebens vor Publikum in Deutschland? Wo blei- ben die ganzen Tournee-Stars der Lippmann+Rau-Ära wie Charles Mingus, Jimmy Giuffre, Max Roach, Oscar Peterson und viele andere mehr? Warum wird Howard Johnson nicht erwähnt? Ganze Generationen fehlen hier und man gewinnt den Eindruck, daß der Verfasser hier sehr stark nach persönli- chen Kriterien selektiert hat und die historischen Persönlichkeiten bevor- zugt. Eine klare Definition der Auswahlkriterien gibt es nicht im Lexikon und sie wäre hier wirklich dringend erforderlich und sinnvoll. Je nach einem subjektivem Lieblingsgebiet wird jeder in diesem Lexikon weitere Namen und Bands vermissen, wie hier willkürlich und alphabetisch zusammengestellt: Jost Geber (nur im Artikel über die FMP erwähnt), Hart- mut Geerken,4 der Schweizer Avantgarde-Musiker Urs Leimgruber, der Kri- tiker der Frankfurter Rundschau Wilhelm E. Liefland, die Konzertveranstal- ter Fritz Rau und Claude Nobs (Montreux Jazz Festival), der langjährige Lei- ter der Jazzredaktion des Hessischen Rundfunks Ulrich Olshausen, der langjährige Bearbeiter des Bielefelder Jazzkatalogs Manfred Scheffner, Irene Schweizer (wohl die bekannteste Schweizer Jazzmusikerin), Jörg So-

4 Er wurde soeben in der Rezension der Festschrift Pilze hats kosmischerweise wenig : Schriftfest zum siebzigsten Geburtstag von Hartmut Geerken / hrsg. von Detlef Thiel … - Norderstedt: Books on Demand, 2009. - 259 S. - ISBN 978-3- 8370-7508-3 : EUR 29.50 vom Rezensenten Rainer Bratfisch mit der Bezeich- nung: „most underrated German jazz musician …“ geadelt: Jazz-Podium. - 58 (2009),3, S. 61. lothurnmann (Schweizer Saxophonist und Journalist)5. Eine ziemlich stren- ge Grenze wird zur deutschen Bluesszene gezogen. Hier fehlen mit Aus- nahme des bereits erwähnten Artikels über Blues in Deutschland fast alle wichtigen Namen, die man jetzt besser in der gerade erschienenen Antho- logie Ich habe den Blues schon etwas länger6 nachlesen kann. Das Lexikon enthält zahlreiche Fotos, jedoch werden die Kriterien für die Auswahl nicht deutlich. Insgesamt wirkt das Lexikon aktuell, wenngleich nicht bei allen Musikern die Geburts- und Sterbedaten vollständig angege- ben wurden. Dem Lexikon folgt ohne Begründung eine umfangreiche chronologische Diskographie Jazz auf Amiga 1947 bis 1991. (S. 379 - 492). Genausogut hätte hier eine Diskographie der Free Music Production stehen können oder die einer anderen deutschen Plattenfirma. Es folgen Jazzlabels in Deutsch- land und ihre wichtigsten Musiker, eine sehr kurze Liste mit Internetadres- sen ohne erkennbare Auswahlkriterien, ein kurzes Literaturverzeichnis, Ver- sandadressen und Bildnachweise. Insgesamt stellt Das Lexikon Jazz in Deutschland eine wichtige Publikati- on dar, die zudem eine Marktlücke füllt. Die vorliegende Ausgabe kann al- lerdings nur als ein erster Entwurf durchgehen, wie dies der Autor selber vorsichtig andeutet. Möge dem Lexikon eine zweite, vollständigere Auflage beschert sein, vielleicht ohne Amiga-Diskographie, die separat ggf. mit an- deren Verzeichnissen deutscher Plattenfirmen oder als zweiter Teil des Le- xikons erscheinen könnte. Bernhard Hefele

QUELLE Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft http://ifb.bsz-bw.de/

5 Auch der Rezensent, der mehr als zehn Jahre die umfassendsten Jazzbibliogra- phien publiziert hat, könnte nach diesen Kriterien aufgenommen werden. 6 Ich hab den Blues schon etwas länger / Spuren einer Musik in Deutschland / Michael Rauhut ; Reinhard Lorenz (Hg.). - 1. Aufl. - Berlin : Links, 2008. - 409 S. : zahlr. Ill. ; 24 cm. - ISBN 978-3-86153-495-2 : EUR 29.90 [#0036]. - Rez. in IFB: http://ifb.bsz-bw.de/bsz286886952rez.htm