Debatte Europa kontrovers

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Einleitung

Wo beginnt Europa? Und wo endet es? Nach welchen Normen und Werten sollen die Europäer leben? War die Einführung des Euro ein Fehler? Wie funktioniert der EU-Binnenmarkt? Welche Regelungen aus Brüssel brauchen wir? Und welche nicht?

Europa kontrovers geht Grundfragen der europäischen Politik nach, aber auch solchen Fragen, die besonders im Fokus der öffentlichen Diskussion stehen - etwa die Bürokratisierung der EU. Meinungsträger aus Politik und Wissenschaft beziehen Stellung zu wichtigen Themen wie Migration, Erweiterung, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, demografischer Wandel, Klimawandel und anderen.

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Inhaltsverzeichnis

1. Die Zukunft Europas 7

1.1 Die Zukunft Europas 8

1.2 Sackgasse der nationalstaatlichen Nostalgie 13

1.3 Besseres Europa statt Rückzug auf den Nationalstaat 16

1.4 Polen: Partner für ein starkes Europa 19

1.5 Großbritannien auf dem Weg aus der EU? 23

1.6 Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch gemeinsame Wahlen: Das Beispiel Luxemburg 27

1.7 Wie sieht die EU in Zukunft aus? 30

2. Aktuelle Fragen der Europapolitik 34

2.1 Aktuelle Fragen der Europapolitik 35

2.2 Slowakei: Macht die Schwachen nicht zum Opfer der Krise! 39

2.3 Ungarn: Bedroht der Rechtspopulismus die europäische Integration? 42

2.4 Mehr Subsidiarität in der EU - aber bitte an den richtigen Stellen! 45

2.5 "Wir sind nicht die Melkkuh Europas!" 48

3. Was ist Europa? 54

3.1 Eine Frage mit vielen Antworten 55

3.2 Die EU ist ein Hoffnungsprojekt 58

3.3 Zugehörigkeit zu Europa muss politisch definiert werden 62

3.4 Ein Europa mit variablen Grenzen 66

3.5 Europa: (k)ein geografischer Kontinent? 69

3.6 Musik ist europäische Vielfalt 72

3.7 Europa braucht Barmherzigkeit 75

3.8 Sicherheit, Wohlfahrt und Mitgestaltung in der EU 78

4. Auf dem Weg zur Politischen Union? 82

4.1 Mehr Europa, besseres Europa oder langsamer Rückzug? 83

4.2 Die Politische Union – warum der Ruf nach "mehr Europa" sinnvoll ist 87

4.3 Die Politische Union – Kampfbegriff, aber (derzeit) kein Lösungsansatz 90

4.4 L’union politique? Die Position Frankreichs in Bezug auf das Projekt der Politischen Union 93

5. Gesichter der Euro-Krise 97

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5.1 Die Eurokrise - worum geht es eigentlich? 98

5.2 Lektionen zum Thema Reformen aus Irland 104

5.3 : Schluss mit Fado, Fátima und Fußball 110

5.4 Sollte Griechenland in der Eurozone bleiben - und falls ja, warum? 114

5.5 Lettland und die Eurozone: Auf der Suche nach Stabilität 119

5.6 Jugendarbeitslosigkeit in Spanien: Wahrheiten und Mythen 122

5.7 Kaum Schulden und trotzdem arm - Kann das die Lösung sein? 127

5.8 Faces of the Euro crisis 131

5.8.1 Reform Lessons from Ireland 132

5.8.2 Portugal: now there is no more 'fado', Fátima or 'futeboll' 135

5.8.3 Should Greece remain in the eurozone and, if so, why? 138

5.8.4 Latvia and the eurozone: the search for stability 141

5.8.5 Truths and myths about youth unemployment in Spain 144

5.8.6 Bulgaria: Very few debts and still poor - is this a solution? 147

6. Wege aus der Euro-Krise 150

6.1 Europa im Zeichen der Euro-Krise 151

6.2 ESM - der europäische Währungsfonds 155

6.3 Die Umverteilung europäischer Bonitätsreserven ist keine Lösung der Euro-Krise 158

6.4 Eurobonds - was sie sind und warum sie gut sein könnten 161

6.5 Eurobonds sind keine Lösung 165

6.6 Sündenfall der EZB? Eine kritische Betrachtung der Staatsanleihenkäufe der Europäischen 168 Zentralbank

7. Die Werteordnung der EU und ihre Grundlage 172

7.1 Die Werteordnung der EU und ihre Grundlage: Eine klare Sache? 173

7.2 Griechische Philosophie, römisches Recht und Christentum 177

7.3 Das heutige Europa gründet auf vielem 181

7.4 Europäische Vision und ungarische Wirklichkeit 184

7.5 Den europäischen Wertekatalog gibt es nicht! 187

7.6 Europäische Werte und Identität 190

8. Erweiterung der EU 194

8.1 Die Erweiterung der Europäischen Union 195

8.2 Die künftigen Erweiterungen der EU 199

8.3 Europa endet nicht am Bug* 202

8.4 Der Balkan ist Teil des europäischen Projekts 204

8.5 Hinwendung, Abwendung oder Doppelstrategie? Die Debatte um die Mitgliedschaft der 208 Türkei in der Europäischen Union

8.6 Im Angebot: Alternativen zur EU-Mitgliedschaft 211

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8.7 Erweiterung der EU 214

9. Binnenmarkt 218

9.1 Der Europäische Binnenmarkt – Erfolgsmodell mit sozialer Schieflage? 219

9.2 EU-Bürokratieabbau im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit 223

9.3 Für ein Europa des sozialen Fortschritts! 226

9.4 Überregulierung gefährdet den Erfolg des Binnenmarktes 229

9.5 Die soziale Dimension Europas: Binnenmarkt und faire Arbeitsbedingungen – ein Gegensatz? 232

9.6 Binnenmarkt 236

10. Migration 239

10.1 Einwanderungspolitik in der Europäischen Union – eine schwierige Debatte 240

10.2 Zuwanderung: Ein strategischer Baustein für mehr Innovationskraft! 245

10.3 Steuern und Begrenzen: Keine Migration ohne Integration 248

10.4 Vier Thesen zur Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik in Europa 251

10.5 Migrationspolitik als Interessenpolitik verstehen 254

10.6 Migration 257

11. Außen- und Sicherheitspolitik 261

11.1 Großmacht Europa? - Die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union 262

11.2 Europa muss sich selbst ernst nehmen 266

11.3 Die EU als globaler Akteur in Zeiten der Krise 271

11.4 Konkurrenz belebt das Geschäft: Wie China Europa voranbringt 274

11.5 Und wenn Europa plötzlich doch mit einer Stimme spräche? 277

11.6 Außen- und Sicherheitspolitik 282

12. Klima- und Umweltschutz 286

12.1 Klima- und Umweltschutz in Europa 287

12.2 Wir haben unser ökologisches Konto überzogen - und Europa schaut zu 292

12.3 Trotz allem: Vorbild Europa 295

12.4 Ressourcenkonflikte. Kleine Topografie der Entzündlichkeit der Welt 298

12.5 Klimaschutz als Sinnstiftung 301

12.6 Klima- und Umweltschutz 304

13. Sprachenvielfalt 309

13.1 Sprachenvielfalt in Europa 310

13.2 Sprachenvielfalt in Europa 315

13.3 Mehrsprachigkeit - Chance und Notwendigkeit für Europa. Vier Thesen zur Diskussion 318

13.4 Warum die EU eine einzige gemeinsame Sprache benötigt 322

13.5 Die EU vor dem sprachlichen Abgrund 327

13.6 Symbole der Europäischen Union 330

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13.7 Sprachenvielfalt 333

14. Freiheit oder Sicherheit 336

14.1 Freiheit oder Sicherheit - Dilemma oder falscher Gegensatz? 337

14.2 Freiheit und Sicherheit im digitalen Zeitalter 341

14.3 Ohne Sicherheit ist keine Freiheit 345

14.4 Sicherheit und Freiheit brauchen Datenschutz 348

14.5 Die dunkle Seite der Technik ausmalen 351

14.6 Freiheit oder Sicherheit 353

15. Demografie 357

15.1 Hilfe, wir werden weniger – oder ist das vielleicht gut? Die demografische Entwicklung in der 358 Diskussion

15.2 Demografischer Wandel in Europa 363

15.3 Der demografische Wandel in Europa schafft enorme regionale Verwerfungen 366

15.4 Die Demografie als Sündenbock: Wie Rechnungen ohne den Wirt gemacht werden 369

15.5 Demografische Standortrisiken für Unternehmen 372

15.6 Demografie 376

16. Solidarität 380

16.1 Solidarität in Europa: Wie solidarisch soll Europa sein? 381

16.2 Es geht um das Prinzip - aber auch um wesentlich mehr 385

16.3 Solidarität ohne Grenzen? Eine juristische Klarstellung aus ökonomischer Sicht 388

16.4 Solidarität aus Eigennutz und Überzeugung 392

16.5 Von "Solidarnosc" ins Zeitalter der Solidarität 395

16.6 Überlegungen aus Großbritannien 398

16.7 Solidarität 401

17. Zukunft des Euro (2010) 405

17.1 Der Euro – gemeinsames Geld und gemeinsames Schicksal 406

17.2 Krise als Chance für den Euro nutzen 411

17.3 Schutzwall mit Konstruktionsfehlern: Die Krise des Euro 414

17.4 Austritt als Option 417

17.5 Der Euro ist gescheitert 420

17.6 Zukunft des Euro 423

18. Redaktion 427

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Die Zukunft Europas

9.4.2014

Der erwartete Stimmzuwachs für rechtspopulistischen und europakritischen Parteien bei der Wahl zum Europäischen Parlament hat das Potential, die politische Bühne Europas zu verändern. Die Europäische Union wird es danach weiterhin geben - doch in welche Richtung sie sich entwickeln wird, welche Länder in Zukunft eine stärkere Rolle spielen werden, wie und ob überhaupt die Europäische Integration voranschreiten wird, ist offen.

Fünf junge Wissenschaftlerinnen erläutern ihre Standpunkte zur Zukunft Europas.

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Die Zukunft Europas Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 9.4.2014

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Fraglos steht die Europäische Union derzeit vor besonderen Herausforderungen: im Inneren durch die Eurokrise, eigentlich eine Staatsverschuldungs- und Produktivitätskrise, nach außen beispielsweise durch den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sowie den nicht enden wollenden Krieg in Syrien und die Ereignisse in Ägypten. Sie führen letztendlich alle zu denselben Fragen: Welches Europa wollen wir, wie viel Europa möchten wir – und was sind wir bereit, dafür zu tun?

Welche Weg wird die EU einschlagen? Lizenz: cc by-nc-sa/2.0/de (Simon Greig (via flickr.com))

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 9 Die Zukunft Europas

Die Europäische Union ist die größte Erfolgsgeschichte des vergangenen Jahrhunderts. Alle ursprünglichen Ziele, die sich die Union bei ihrer Gründung gesteckt hatte, sind erfüllt: Der Frieden unter den Mitgliedstaaten ist gesichert, Europa ist wieder aufgebaut, der Kalte Krieg ist überwunden und die Teilung des Kontinents ist es im Wesentlichen auch. Brauchen wir die EU also im 21. Jahrhundert noch? Sollte ein Verein, der seine Ziele erreicht hat, sich nicht besser auflösen?

Mehr oder weniger Europa? Was die Mitgliedstaaten wollen

Hier gehen die Auffassungen weit auseinander. Die Briten denken ernsthaft über einen Austritt aus der EU nach, es sei denn, es gelingt ihnen, die europäische Integration deutlich zurückzuschrauben. Louise Osborne beleuchtet in ihrem Beitrag die Situation im Vereinigten Königreich. In dieser Härte wird die britische Position nur auf der Insel vertreten, aber so manche Sympathie hat der eine oder andere für den Vorstoß des britischen Premierministers durchaus - beispielsweise in den Niederlanden, in Tschechien oder in Finnland.

In Deutschland hört man da ganz andere Töne, von "mehr Europa" oder einem "besseren Europa" ist die Rede. Katrin Böttger begründet diese Position und geht davon aus, dass die vor uns stehenden Aufgaben – andere als die des 20. Jahrhunderts, aber genauso komplizierte – nur in einem europäischen Rahmen angepackt werden können. Steht Deutschland mit dieser Auffassung – die ja auch innerhalb des Landes nicht unumstritten ist – allein? Agnieska Lada sagt "nein" und verweist auf ihr Heimatland Polen, das sich zu einem aktiven Mitspieler für mehr europäische Integration entwickelt hat.

Auch aus dem Süden der Europäischen Union kommt Widerspruch gegen den Rückzug ins Nationale. Die portugiesische Politologin Rubina Berardo hält die nationalstaatliche Nostalgie für eine Sackgasse und verweist auf die Folgen der Globalisierung, die nur gemeinsam zu bewältigen seien. Sie fordert auch dazu auf, den Blick für die europäischen Partner zu schärfen und macht das an ihrem Land deutlich. Portugal hat Schwierigkeiten, aber es hat viel mehr zu bieten als nur Probleme.

Der Nationalpopulismus, wie man ihn derzeit in vielen Ländern beobachten kann, hat seinen Ursprung auch in der Angst vor dem Verlust der eigenen Identität. Diese Befürchtung müsste eigentlich die kleinen Länder in besonderem Maße treffen. So einfach ist es aber nicht. Die Luxemburgerin Sophie Schram beschreibt die Situation in ihrem Heimatland, das gerade einmal 530.000 Einwohner zählt – so viel wie zwei Berliner Stadtbezirke. Die Luxemburger sind in ihrem Staat bald in der Minderheit. Sophie Schram nimmt diese Situation jedoch zum Anlass, nicht mehr Abschottung, sondern weitere europäische Gemeinsamkeiten und Rechte zu fordern.

Generation ohne Zukunft? Das soziale Europa

Es ist also kein einheitliches Bild von der Zukunft Europas, das sich vor uns auftut – und das ist kein Zufall. 28 Staaten mit unterschiedlicher Geschichte, mit verschiedenen Stärken und Schwächen, mit divergierenden Interessen und einer Bevölkerung von über 500 Millionen Menschen, die in 24 Amtssprachen (und vielen weiteren Sprachen) miteinander kommunizieren, lassen sich nicht mit einem Federstreich zusammenführen. Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union müssen sich nach den Erfolgen der EU in den letzten 60 Jahren neu darüber verständigen, was sie mit dieser Union anfangen wollen. Man könnte etwas überspitzt sagen: Die EU muss sich neu begründen.

Die Europäische Union hat im 20. Jahrhundert erfolgreich den zwischenstaatlichen Frieden gesichert, sie steht jetzt in Zeiten der weltweiten Konkurrenz vor der Aufgabe, den sozialen Frieden zu gewährleisten. Alle Meinungsumfragen zeigen, dass es die sozialen Probleme sind, die die Menschen in Europa zurzeit besonders beschäftigten. Tatsächlich öffnet sich – auch in reichen Ländern wie

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Deutschland – die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. In den südlichen Mitgliedstaaten der EU gibt es Arbeitslosenzahlen von deutlich über 20 Prozent, und gerade für junge Leute sieht es oft noch schlimmer aus. Einer ganzen Generation droht die Zukunft abhanden zu kommen.

In der Vergangenheit bestand der Erfolg der europäischen Integration vor allem darin, dass Grenzen abgebaut und hinderliche Regelungen abgeschafft wurden. So ist der größte Binnenmarkt der Welt entstanden, ein enormer Erfolg. Aber diejenigen, die auf diesem Markt nicht benötigt werden, haben wenig davon, dass es im Supermarkt 200 Käsesorten aus ganz Europa gibt. Jetzt geht es darum, neue Regelungen zu schaffen, die verhindern, dass ein Teil der Bevölkerung abgehängt wird. Die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten werden die Europäische Union auch daran messen, ob es ihr gelingt, diesen Trend umzukehren. Sie werden ihr dann allerdings auch die notwendigen Vollmachten geben müssen. Das verträgt sich schlecht mit dem Modell, der EU im Gegenteil Kompetenzen wieder zu entziehen. Für eines von beiden müssen die Mitgliedstaaten und ihre Bürger sich entscheiden.

Weiter oder tiefer? Das offene Europa

Die Europäische Union war immer auf das ganze Europa angelegt, das geht aus den Gründungsverträgen hervor. Tatsächlich ist die EU von 1952, als die erste Gemeinschaft als "Montanunion" oder EGKS gegründet wurde, bis heute von sechs auf 28 Mitglieder angewachsen. Wie setzt sich dieser Erweiterungsprozess fort? Die EU verhandelt derzeit mit der Türkei und Montenegro, demnächst auch mit Serbien und wohl auch mit Mazedonien über den Beitritt. Weitere Länder klopfen an die Tür. Was bedeutet das russische Politik in Bezug auf die Ukraine für den Erweiterungsprozess? Müssen wir die Pforten auch für diejenigen öffnen, die bislang keine Eintrittskarte haben, für die Ukraine, für Georgien, die Republik Moldau, eines Tages für Belarus? Das ist eine ernst zu nehmende Forderung, die sich auf Artikel 49 des EU-Vertrages (http://www.bpb.de/nachschlagen/ gesetze/eu-vertrag/44184/titel-vi-schlussbestimmungen) stützt, demzufolge die Union für alle europäischen Staaten offen ist. Aber die fortschreitende Erweiterung hat Konsequenzen für eine weitere Vertiefung der Integration. Schon jetzt ist das Zusammenspiel der 28 ausgesprochen schwierig und oftmals viel zu langwierig. Heißt "mehr Europa" mehr Integration oder mehr Staaten? Auch das muss in der EU entschieden werden.

Ein starkes Europa im 21. Jahrhundert wird es nur geben, wenn die Bürgerinnen und Bürger das wollen. Man kann den Verdruss über zu viel Einmischung aus Brüssel und zu wenig Mitsprache in europäischen Angelegenheiten nicht einfach bürokratisch verschleifen - nach dem Motto: "Lass die Leute doch murren, wir machen einfach weiter!"

Damit stellt sich für die EU die dritte entscheidende Frage: Wie kann es gelingen, die Bürgerinnen und Bürger stärker an den Entscheidungsprozessen in Europa zu beteiligen und ihnen damit auch deutlicher das Gefühl zu geben, die Träger der europäischen Integration zu sein?

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 11 Mehr Beteiligung: Das Europa der Bürger

Die Stärkung des Europäischen Parlaments, die durch den Lissabonner Vertrag erfolgte, ist sicherlich ein wesentlicher Schritt vorwärts, aber sie ist kein Allheilmittel – und schon gar nicht, wenn weniger als 50 Prozent der Bürger überhaupt an den Wahlen teilnehmen. Nur wenn es gelingt, "Europa" stärker in die nationalen Diskurse zu tragen, es zu einem wichtigen Diskussionspunkt auf der Agenda von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Bürgerinitiativen zu machen, wenn es möglich wird, Entscheidungen der europäischen Ebene nicht nur zu erfahren, wenn sie gefallen sind, sondern sie in ihrer Entstehung zu beeinflussen, wird das Europa der Bürger Wirklichkeit. Dieses neue europäische Demokratiemodell, das es noch zu entwickeln gilt, wird man sich als Mosaik vorstellen müssen, das aus vielen unterschiedlichen Teilen besteht. Es setzt aber ein stärkeres Engagement zu Hause voraus, das man auch wollen muss.

Der Weg zurück in den Nationalstaat schafft nur vermeintlich mehr Demokratie und Bürgernähe. Es hilft nämlich nichts, wenn ein nationales Parlament alles bestimmen, aber wegen der internationalen Rahmenbedingungen letztendlich nichts entscheiden kann. Die Festlegungen müssen nämlich auf der Ebene getroffen werden, auf der es überhaupt Handlungsmöglichkeiten gibt, und das ist der Nationalstaat oftmals schon nicht mehr.

Die Wahlen zum Europäischen Parlament werden diese Entscheidungen nicht bringen, aber sie sind ein wesentlicher Indikator. Da ist zum einen die Wahlbeteiligung: Gehen wenige Menschen zur Urne – vielleicht sogar wie 2009 in einigen Ländern unter 20 Prozent – geben die Bürgerinnen und Bürger damit auch den Anspruch auf, überhaupt mitreden zu wollen. Wer soll eine Volksvertretung respektieren, die vom Volk selbst nicht ernst genommen wird?

Zum anderen ist natürlich entscheidend, wer im Parlament vertreten ist. Wird es zu einem erheblichen Teil von Abgeordneten besetzt, deren erklärter Willen das Scheitern des Projekts Europa ist – und Parteien mit einem solchen Programm gibt es in fast allen EU-Ländern -, dann wird es keine große Wirkung entfalten können und sich selbst lähmen.

Ein Blick zurück nach vorn

Das soziale Europa, das offene Europa, das Europa der Bürger – das sind also drei Schlagworte für den europäischen Zukunftsdiskurs. Dabei ist vieles noch nicht angesprochen, was ebenfalls eine Rolle spielt: Europas Anstrengungen zum Klimaschutz und seine Fähigkeit und Bereitschaft, die anderen großen Länder dieser Welt auf dem ökologischen Weg mitzunehmen; die Offenheit gegenüber Flüchtlingen und die Regelung der Migration, die viele nicht wollen, aber alle brauchen, wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen; der Schutz der Bürgerrechte in Zeiten der technisch möglichen Totalüberwachung; die Sicherung des Friedens außerhalb der Grenzen der Union – das sind nur einige Stichworte.

Wer angesichts der Herausforderungen verzagt, sollte allerdings einmal einen Blick zurück werfen: Als 1950 die Verhandlungen über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl begannen, war der Zweite Weltkrieg mit weit über 50 Millionen Toten gerade einmal fünf Jahre her, große Teile Europas lagen in Trümmern, Millionen Flüchtlinge und Vertriebene mussten untergebracht und versorgt werden, der Kalte Krieg spaltete den Kontinent mit Stacheldraht und bald auch einer Mauer. Geringer waren die Herausforderungen damals wahrhaftig nicht. Nun stehen Entscheidungen an, bei denen man auch abwägen muss, bei denen man etwas erhält und auf etwas verzichtet. Die gute Nachricht ist: Wir können unser Schicksal selbst entscheiden. Viele Menschen auf der Welt genießen dieses Privileg nicht.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-

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Sackgasse der nationalstaatlichen Nostalgie Standpunkt Rubina Berardo

Von Rubina Berardo 9.4.2014 ist als Kind einer deutschen Mutter und eines portugiesischen Vaters auf aufgewachsen. Sie hat ihr Studium der European Politics and Governance mit einem Mastertitel der London School of Economics abgeschlossen und lebt als Politikwissenschaftlerin in Lissabon.

Mit dem Schritt zurück zum starken Nationalstaat wird in vielen europäischen Ländern geliebäugelt. Dabei dominieren kulturelle und ökonomische Vorurteile und Schwarz-Weiß- Malerei die Debatte, beobachtet Rubina Berardo. Sie plädiert für eine tiefere europäische Integration statt eine nationale Rückbesinnung.

Im Zuge der Eurokrise und der bevorstehenden Europawahl 2014 verstärken sich innerhalb Europas organisierte Stimmen, die bei der Bevölkerung ökonomische und kulturelle Zukunftsängste schüren. Diese europafeindlichen Gruppierungen und Parteien setzen auf eine fiktive Sicherheit für die Zukunft, indem sie die Wiederherstellung gesellschaftlicher Homogenität für ihr jeweiliges Land fordern. Durch gezielte Einheitsforderungen soll der Nationalstaat auf seinen unterschiedlichsten Ebenen gestärkt werden. Die gefühlte Unsicherheit gegenüber gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Abläufen bildet den perfekten Nährboden für die Fiktion eines einst besseren weil homogenen Nationalstaates. Propagiert wird eine Vorstellung, die dem Bürger die Option offenlassen möchte, in ein wieder überschaubares und verständliches Gesellschaftsgefüge zurückkehren zu können, das die ganzen Veränderungen der vergangen 25 Jahre ignoriert. Diese gefährliche, weil populistische Nostalgie äußert sich dann in "Euro-Exit" Lösungen, temporären oder langfristigen Aufhebungen des Schengener Abkommens oder selbst in der Wiedereinführung von Zollbarrieren, um die nationale Industrie zu schützen.

Diejenigen, die Integrationsschritte rückgängig machen möchten, vergessen, dass nicht nur Europas Rahmenbedingungen im Wandel sind, sondern auch die der globalisierten Welt. Es ist dadurch unmöglich, das Gestern in die heutige Zeit zu bringen, da das fortgeschrittene Tempo der Globalisierung ein "ceteris paribus" Prinzip (konstante Bedingungen) in der europäischen Gleichung nicht ermöglicht. Zerstört man das Bausteinsystem der europäischen Integration, würde das Übrigbleibende trotzdem nicht dem der Vergangenheit ähneln, sondern eine neue Landschaft schaffen, mit erheblichen negativen Konsequenzen für die politische und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Europas. Damit würde die Utopie von Gestern in Wirklichkeit eine Verschanzung der einzelnen Mitgliedstaaten der EU auslösen.

Bereits im Jahr 2005 beschrieb der US-amerikanische Journalist Thomas L. Friedman in seinem Buch "Die Welt ist flach" [1]: Das Ende des Kalten Krieges bereite zusammen mit den bahnbrechenden technologischen Entwicklungen im Informations- und Telekommunikationssektor ein "level playing field" (ein Spielfeld mit für alle Spieler geltenden gleichen Regeln) für Individuen und Unternehmen auf der ganzen Welt und ermögliche so, einen erheblichen Entwicklungsvorsprung in den Bereichen Produktion, Handel und Wissen. Dies wirke sich nicht nur auf die Art und Weise aus, wie Unternehmen funktionieren, sondern beschränke den traditionellen Spielraum des Nationalstaates, welcher im globalen Kontext immer weniger Einfluss ausüben könne.

Staaten, die gezielt die Sicht der "flachen" Welt ausblenden wollen, werden, so Friedman, von der starken Globalisierungswelle überrannt. Friedman argumentiert, dass die traditionellen

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Nationalstaaten lernen müssten, wie sie vernetzt mit neuen Gemeinschaften, Unternehmen und Bewegungen de facto neue Paradigmen schaffen. Es sind zunehmend Netzwerke, die eine bestimmende Rolle in dieser flachen Welt spielen, entgegengesetzt zu den traditionellen Handlungsmodellen und Hierarchien.

Eine Rückbesinnung zum Nationalstaat hat seine Wurzeln in innereuropäischen kulturellen Vorurteilen. Was noch vor zehn Jahren als nationale Eigentümeleien eingestuft wurde, gerät heute zu einer Brutstätte von kulturellen Verurteilungen. Diese Stereotypen werden verbreitet, als handele es sich um das Schwarz-Weiß-Muster der Fabel von Aesop, "Die Grille und die Ameise". Kritiker klagen die "südeuropäische" Grille an, selbst für ihren Schaden verantwortlich zu sein, nach dem Motto "wer sich den ganzen Sommer über auf dem Feld amüsiert hat", kann nicht auf die sparsame und fleißige Ameise aus Nordeuropa zählen, und mit Unterstützung im harten Winter rechnen.

Die angebliche Nord-Süd-Spaltung in gute und schlechte Mitgliedstaaten, unterstreicht eine exzessive Vereinfachung der europäischen Realität. Die schon real existierende Vernetzung der innereuropäischen Beziehungen widerspricht klar dieser von Euroskeptikern propagierten Einteilung. Diese Vernetzung ist nicht nur Teil des politisch korrekten Diskurses in Europa, sondern schon fest verankerter Bestandteil des alltäglichen Lebens der europäischen Bevölkerung. Über 14 Millionen EU- Bürger leben und arbeiten bereits langfristig in einem anderen Mitgliedstaat. Die Personenfreizügigkeit ist zur unaufgebbaren Freiheit der EU geworden [2]. Durch binationale Eheschließungen wächst auch eine stärkere Sensibilisierung für Europa und eine Verinnerlichung einer europäischen Identität [3].

In einer immer stärker vernetzten Welt, entkräften sich zwangsläufig nationale Stereotypen. Ein Beispiel aus der Realwirtschaft: Eines der wichtigsten Zugpferde der portugiesischen Exportwirtschaft ist das 1995 in Betrieb genommene VW-Werk Autoeuropa im Einzugsgebiet von Lissabon. Es lohnt sich, einige Erfolgszahlen dieses Automobilwerks mit denen anderer VW-Werke weltweit zu vergleichen. Hätten Integrationskritiker Recht mit ihrer Einteilung in "fleißige" Nord-, "faule" Süd-Länder, dann müsste VW-Portugal unter dem Durchschnitt liegen. Es ist aber das Gegenteil der Fall: Arbeiter des VW-Autowerks in Portugal liegen mit einer jährlichen Anwesenheits-Quote von 98,6% [4] auf Platz 1 der weltweiten Rangliste des VW-Konzerns in diesem Indikator.

Ein weiteres aufschlussreiches Beispiel findet man in der Entwicklung des portugiesischen Unternehmens Jerónimo Martins, das als Verteiler im Lebensmittelsektor tätig ist. Es wird in einem jüngst erschienenen Beitrag in der Zeitschrift "The Economist" [5] geschildert, wie dieses Unternehmen aus einem kleinen peripheren Land den Sprung in die globalisierte Wirtschaft geschafft hat. Seit 1995 ist Jerónimo Martins durch die Lebensmittelkette Biedronka mit 243 Discountläden in Polen tätig, wo es 14 Prozent des polnischen Marktes repräsentiert. Durch diese internationale Handelsstrategie, gleicht Jerónimo Martins seinen Rückgang der Geschäfte in Portugal aus. Jetzt stehen neue Märkte, wie Kolumbien, in der Unternehmensplanung. "The Economist" schlussfolgert: "Die Portugiesen entdecken neue Welten seit Jahrhunderten. Jerónimo Martins wird keine Ausnahme sein."

Beide genannten Beispiele unterstreichen, wie Unternehmen die günstigen Impulse der schnelleren, globalisierten und vernetzten Welt zu ihrem Vorteil wenden. In der Regel reagiert die Politik langsamer auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen, oder sie streut gar Sand in das zeitgemäße Globalisierungsgetriebe.

Mit Blick auf die Europawahl 2014, die auf Pluralität und Toleranz ausgerichtet ist, müssen die verantwortlichen demokratischen Entscheidungsträger in Politik und Zivilgesellschaft auf einen wachsenden Diskurs der Integrationskritiker vorbereitet sein.

Der Hauptkatalysator für diese Euroskepsis ist die Nostalgie um Europas schwindende Bedeutung in vielen Bereichen. Nach der Prämisse, dass das Ganze mehr ist als seine Einzelteile, kann Europa sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene nur dann effizienter und demokratisch überzeugender wirken und handeln, wenn der Integrationsprozess über seine kommerzielle und wirtschaftliche

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Reduktion hinauswächst und der europäischen Pluralität eine freiheitlich-soziale Gestalt verleiht.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Rubina Berardo für bpb.de

Fußnoten

1. Friedman, T.L. (2005), The World is Flat A Brief History of the Twenty-first Century, Farrar, Straus and Giroux (Portugiesische Fassung: FRIEDMAN, T.L. (2010), O Mundo é Plano – Uma história breve do século XXI, Lisboa: Editora Actual) 2. EU-Kommission, "Europäische Kommission hält an der Personenfreizügigkeit fest", MEMO/14/9 15/01/2014, abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-14-9_de.htm (http:// europa.eu/rapid/press-release_MEMO-14-9_de.htm) 3. Gaspar, S. & HARO, F. (2011) "Reflections and paradoxes around European identity and European mobility", Revista Migrações, Nummer 8, Lisboa: ACIDI, s.. 9-26, abrufbar unter http://www.oi. acidi.gov.pt/docs/Revista_8/Migracoes_8web9a26.pdf (http://www.oi.acidi.gov.pt/docs/Revista_8/ Migracoes_8web9a26.pdf) 4. Volkswagen Autoeuropa Lda. (Oktober 2013), "Relatório de Sustentabilidade 2012". 5. Economist, The (2014), “A Portuguese explorer: The successes of a globe-trotting grocer from a struggling small country”, abrufbar unter http://www.economist.com/news/business/21597924- successes-globe-trotting-grocer-struggling-small-country-portuguese-explorer (http://www.economist. com/news/business/21597924-successes-globe-trotting-grocer-struggling-small-country-portuguese- explorer)

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Besseres Europa statt Rückzug auf den Nationalstaat Standpunkt Katrin Böttger

Von Katrin Böttger 9.4.2014 (Dr.) ist stellvertretende Direktorin des Instituts für europäische Politik in Berlin. Sie hat in Grenoble und Leipzig Politikwissenschaft studiert und wurde an der Universität Tübingen promoviert.

Viele Politikbereiche, die unser Zusammenleben bestimmen, bedürfen europäischer und nicht nur nationaler Regelungen, glaubt Katrin Böttger. Das betreffe insbesondere die Personenfreizügigkeit und die europäische Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik. Nicht weniger, sondern "mehr Europa" sei dort der richtige Weg.

Im Zuge der seit 2008 andauernden Staatsschuldenkrise in der Eurozone wurden immer wieder Stimmen laut, die weniger Europa und mehr Nationalstaat fordern. Diese Stimmen kamen sowohl aus den von der Krise besonders stark betroffenen Staaten wie Griechenland als auch den von der Krise eher noch begünstigten wie Deutschland. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass die Herausforderungen auf nationaler Ebene nicht bewältigt werden können. Nicht nur auf internationaler Bühne kompensiert gemeinsames Handeln den Verlust von Handlungsfähigkeit im eigenen Staat. Der nationale Weg führt daher nicht weiter.

Als Lösung muss das Gegenteil angestrebt werden: Sowohl im Bereich der Politik als auch der Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen brauchen wir mehr Europa. Die bisherige europäische Integration bleibt unvollständig. Das wird besonders augenfällig – bei Problemen und Lösungen, die nicht an den nationalstaatlichen Grenzen halt machen, wie der Finanztransaktionssteuer, dem Klimaschutz und der Polizeilichen Zusammenarbeit bei grenzüberschreitender Kriminalität. Das Problem ist also nicht zu viel sondern das "Nicht-Europa".

Wie kann dies jedoch der zunehmend europaskeptischen Bevölkerung auch angesichts der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament näher gebracht werden? Hier genügt es nicht, ein neues Narrativ für Europa zu entwickeln, nachdem die friedliche Konfliktregelung und die Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten anstelle kriegerischer Gewalt – erfreulicherweise – selbstverständlich geworden ist. Auch die Debatte über die Form und Struktur der Europäischen Union zum Beispiel als Föderation ist nur sinnvoll, wenn sie inhaltlich geführt wird. Denn wenngleich die Struktur der EU wichtig für ihren zukünftigen Erfolg ist, gilt es aktuell vor allem, sich mit den Politiken der EU auseinanderzusetzen und politische Alternativen und ihre Konsequenzen in einzelnen Politikbereichen deutlich zu machen. Der bisherige Wahlkampf zur Europawahl zeigt, dass die Auseinandersetzung mit Vorschlägen für die weitere Ausgestaltung der Europäischen Union noch zu kurz kommt. Diese Ausführungen sollen einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten und insbesondere aufzeigen, in welchen – die Bürger direkt und unmittelbar betreffenden – Politikbereichen Regulierungsbedarf besteht, der nur auf europäischer Ebene gedeckt werden kann. Exemplarisch hierfür sind die Personenfreizügigkeit und – nicht zuletzt angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Ukraine – die Europäische Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 17 Die vier Grundfreiheiten: Personenfreizügigkeit

Ein europäisches Politikfeld, das in den letzten zwei bis drei Jahren nicht nur in Deutschland in den Medien sehr präsent war und zunehmend in Frage gestellt wird, sind die vier Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarkts: der Freie Warenverkehr, die Dienstleistungsfreiheit, der Freie Kapital- und Zahlungsverkehr und insbesondere die Personenfreizügigkeit.

Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele. So entschied die dänische Regierung im Mai 2011 (zwölf Jahre nach dem Beitritt zum Schengener Abkommen), wieder permanente Kontrollen an den Grenzen zu Deutschland und Schweden einzuführen, die allerdings schon im Oktober 2011 von der neuen Regierung abgeschafft wurden. Die dadurch angestoßene Debatte führte jedoch zu einer Aufweichung des Schengener Abkommens, vor allem auf Betreiben des damaligen deutschen Innenministers Hans- Peter Friedrich, nach der die EU-Mitgliedstaaten künftig Grenzkontrollen leichter wieder einführen dürfen, insbesondere wenn die massenhafte Ankunft von Flüchtlingen befürchtet wird. Zuletzt haben die Schweizer in einem Referendum (http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/178734/ masseneinwanderung-gestoppt-10-02-2014) über die Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung" am 9. Februar 2014 für die Einführung von Obergrenzen und Kontingenten für Zuwanderer gestimmt und damit die zahlreichen bilateralen Verträge ihres Landes mit der EU in Frage gestellt.

Hier gilt "Mehr Europa" im Sinne der Beibehaltung der vier Freiheiten, da es sich um die Kernerrungenschaften der europäischen Integration handelt. Wie sich heute am Beispiel der Schweiz zeigt, könnte ein weiteres Aufweichen der Grundfreiheiten das gesamte Gebilde zum Wanken bringen, da die unterschiedlichen Abkommen und Politikbereiche untereinander stark verschränkt sind. Zudem sind die Argumente, die für die Einschränkung der Freiheiten angeführt werden, nicht stichhaltig. Wenn Bürger und Gewerkschaften durch die Personenfreizügigkeit Dumpinglöhne fürchten, wäre es viel wichtiger, Mindestlöhne einzuführen und diese durch Kontrollen zu schützen. Wenn die Nationalstaaten hierzu nicht bereit sind, muss gegebenenfalls auch die europäische Ebene zum Schutz der Freiheiten einschreiten. Europaweite Rahmensetzungen hätten zudem den Vorteil, dass die Gefahr eines "race to the bottom", also eines Unterbietungswettbewerbs zum Beispiel bei Löhnen, verhindert werden könnte.

Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik: Ukraine

Die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik sollten für die europäische Außenpolitik eine noch deutlichere Priorität darstellen, als dies bislang der Fall gewesen ist. Sie ermöglichen es, den Raum des Friedens, der Demokratie, Stabilität und Sicherheit in Europa weiter auszudehnen.

Für die Nachbarschaftspolitik veranschaulichen dies insbesondere die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine. Hier hat die Europäische Union in der Vermittlung um die Lösung der Konflikte zwischen der ukrainischen Regierung und der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition bis zum Ausbruch der Gewalt Mitte/Ende Februar 2014 eine sehr zögerliche Rolle gespielt. Letztlich hat sie in Vertretung der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashtons das sogenannte Weimarer Dreieck nach Kiew entsandt - die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens, Steinmeier, Fabius und Sikorski. Sie konnten zwischen Regierung und Opposition einen – wenn auch kurzlebigen – Kompromiss vermitteln und zunächst die gewaltsamen Auseinandersetzungen beenden. Jedoch konnten sie nicht verhindern, dass auch die rechtsextreme Partei Swoboda an der Übergangsregierung beteiligt wird, die sogleich die Abschaffung des Russischen als Regionalsprache durchzusetzen versuchte.

Dies zeigt, wie wichtig eine interessen- und wertegeleitete, starke und konsequente Außenpolitik der Europäischen Union in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wäre. Die schon vor der Eskalation der Gewalt in der Ukraine geplanten gemeinsamen Reisen von Steinmeier und Fabius nach Georgien und in die Republik Moldau weisen in diese Richtung einer gemeinsamen Europäischen Außenpolitik. Für die Erweiterungspolitik ist auch aufgrund des zögerlichen Verhaltens seitens der EU nach hoffnungsvollen Anfängen eine Verschlechterung der politischen Lage in der Türkei zu beobachten.

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Der mangelnde Fortschritt im Beitrittsprozess trägt auch dazu bei, dass Nationalisierungstendenzen in Mazedonien stärker werden und die Proteste in Bosnien-Herzegowina aufgrund einer dysfunktionalen Verwaltung und Politik zunehmen. Hier wäre es sinnvoll, wenn die EU sich mehr einbringen und zum Beispiel im Konflikt mit Griechenland um den Staatsnamen Mazedoniens eine die Lösung vorantreiben würde.

Fazit

Die beiden Beispiele der Personenfreizügigkeit und der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik zeigen, dass "Mehr Europa" der richtige Weg ist. Es ist davon auszugehen, dass sich die europäische Integration in den nächsten Jahren vertiefen wird, wie es auch in der Vergangenheit nach Krisen der Fall war. Noch offen ist aber die Frage, in welche Richtung sich die EU entwickelt. Bei einem "Mehr" an Europa sollte insbesondere die soziokulturelle Dimension hervorgehoben werden, deren bisherige Vernachlässigung sich unter anderem an den hohen Arbeitslosenzahlen unter der jungen Bevölkerung nicht nur in Portugal und Spanien, sondern auch in Frankreich zeigt.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Katrin Böttger für bpb.de

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Polen: Partner für ein starkes Europa Standpunkt Agnieszka Łada

Von Agnieszka Łada 9.4.2014 (Dr.) ist Leiterin des Europa-Programms und Senior Analyst am Warschauer Institut für Öffentliche Angelegenheiten. Promotion in Politikwissenschaft an der Universität Warschau. Sie hat Politikwissenschaften und Organisationspsychologie in Berlin und Dortmund studiert wurde an der Universität Warschau mit einer politikwissenschaftlichen Arbeit promoviert.

Die Zugpferde der Europäischen Union lassen langsam die Zügel locker, meint Agnieszka Łada. Vor allem Länder wie Polen ergriffen immer häufiger die Initiative, wenn es um die weitere Integration der EU gehe. Das Land habe sich auf der europäischen Bühne behauptet und werde in Zukunft eine zentralere Rolle in der EU spielen.

In der EU fragt man sich oft, wer eigentlich Reformen initiieren und welche Stimme gehört werden soll. Es stellt sich die Frage, wer im Stande ist, andere zu mobilisieren. Als Antwort hört man zumeist, dass in erster Linie die "Big Five", also Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien, den Ton angeben sollen. Doch deren Bereitschaft, auf europäischer Ebene die Initiative zu ergreifen, sinkt merklich. Spanien und Italien kämpfen mit schwerwiegenden finanziellen Problemen, Frankreich steht vor der Herausforderung wirtschaftlicher Reformen und Großbritannien hat sich aufgrund der europaskeptischen Tendenzen innerhalb der regierenden Konservativen Partei sowie großer Teile der Bevölkerung zu einem unsicheren Partner entwickelt. So bleibt für Deutschland auf den ersten Blick kaum noch ein großes EU-Land, auf das sich Berlin verlassen könnte. Doch so ein Staat liegt näher, als man es sich vorstellt, nämlich weniger als 100 Kilometer entfernt von der deutschen Hauptstadt. Europäisch mit Enthusiasmus, politisch aktiv und wirtschaftlich erfolgreich, ist nämlich Polen ein wichtiges EU-Mitgliedsland geworden, dessen Möglichkeiten bei der zukünftigen Gestaltung der EU nicht unterschätzt werden sollten.

Gesellschaftlich europäisch

Polen gehört mit seinen 38 Millionen Einwohnern – nach der Bevölkerungszahl die Nummer sechs in der EU - seit Jahren zu den europafreundlichsten Nationen. Dreiviertel der Befragten unterstützten im Mai 2013 in einer Umfrage (http://www.bpb.de/internationales/europa/polen/168307/umfrage-zur- europaeischen-union-und-zum-euro) des polnischen Meinungsforschungsinstitutes CBOS eine stärkere EU-Integration. Auch wenn die Zahl der Befürworter nicht mehr das Niveau von 89 Prozent im Jahr 2007 erreicht, bleiben die Polen eine der EU-enthusiastischen Nationen. Diese positive Beurteilung der EU-Mitgliedschaft durch die polnischen Bürger wird noch deutlicher, wenn man die polnische Zustimmung mit der in anderen Ländern vergleicht, die in derselben Region liegen und auch im Jahr 2004 der EU beigetreten sind. Während im Jahr 2013 in Polen 58 Prozent der Befragten antworteten, dass die EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes gut sei, sagten dies nur 46 Prozent der Slowaken, 32 Prozent der Ungarn und 28 Prozent der Tschechen [1].

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 20 Politisch engagiert

In dieser pro-europäischen Gesellschaft versuchen auch Politiker sich als Europa-Aktivisten zu zeigen. Ministerpräsident Donald Tusk und seine Regierung erfreuen sich in Europa eines großen Ansehens als konstruktive, pragmatische Politiker, die, wenn notwendig, Koalitionen bilden können. Auch die Mehrheit der polnischen Abgeordneten, für die bereits die zweite Wahlzeit in Straßburg und Brüssel zu Ende geht, genießt einen guten Ruf. Sie waren besonders aktiv im Bereich der Beziehungen mit den östlichen Nachbarn der EU sowie in der Energiepolitik. Zum Beispiel engagierten sie sich (http:// www.bpb.de/internationales/europa/polen/136113/analyse) aktiv bei der Regelung der Sicherheit von Gaslieferungen. Auf Initiative polnischer Abgeordneter wurden Korrekturen verabschiedet, die eine Stärkung der Position der EU und bestimmter Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten garantieren, die der EU Gas liefern.

Die richtige Reifeprüfung kam aber 2011. Mit der Übernahme seiner ersten EU-Ratspräsidentschaft im Juli 2011 stand Polen vor vielfältigen Herausforderungen. Krisen in den EU-Nachbarländern oder die Wirtschafts- und Schuldenkrise in der Union waren Probleme, mit denen sich Polen dringend und intensiv beschäftigen musste. Die Situation in den Staaten der EU-Nachbarschaft war – sowohl im Osten als auch im Süden - sehr instabil. So führten die Veränderungen durch den Arabischen Frühling zu keiner Beruhigung der Stimmung in Nordafrika. In Belarus verschärfte Präsident Alexander Lukaschenko die Repression gegenüber Oppositionellen und in der Ukraine wurde die Oppositionsführerin Julia Timoschenko in einem politischen Prozess verurteilt. Dies erschwerte es erheblich, im Bereich der Östlichen Partnerschaft, die eine der polnischen Prioritäten darstellte, Erfolge zu erzielen. Auch die sich ausweitende Wirtschaftskrise erforderte unverzügliches, konkretes und entschiedenes Eingreifen. Da Polen jedoch nicht zur Euro-Zone gehört, waren seine Handlungsmöglichkeiten in vielen Bereichen beschränkt. Als gut vorbereitetes Land, mit einer stabilen Europapolitik sowie im Bewusstsein der Grenzen, die der Lissabonner Vertrag jeder Ratspräsidentschaft setzt, meisterte das Land geschickt die Aufgabe des Vorsitzes.Die damals sehr stark spürbare Wirtschaftskrise verlangte von Polen ein verstärktes Handeln im Bereich der Wirtschaftspolitik, darunter die Finalisierung von bereits begonnenen Reformprozessen. Der größte Erfolg war die Annahme eines Paktes von sechs Rechtsakten, die die Wirtschaftsverwaltung in der EU stärken und diese vor weiteren Krisen bewahren soll, das sogenannte "six-pack". Zudem wurde eine Einigung im Bereich der so genannten Korrelationstabellen - das sind spezielle Dokumente, die beschreiben, auf welche Weise Rechtsvorschriften der EU in den Mitgliedstaaten eingeführt werden - sowie im Bereich der kurzfristigen Transaktionen erzielt. Polen setzte sich stark ein, um die Initiative der Östlichen Partnerschaft weiterzubringen. So gelang es, die Verhandlungen mit der Ukraine über das Assoziierungsabkommen, darunter die Vereinbarungen zur Schaffung der vertieften und umfassenden Freihandelszone (DCFTA), abzuschließen. Zu den konkreten Erfolgen im Bereich der Östlichen Partnerschaft kann man auch die Zustimmung des Rats der EU zu den Verhandlungsmandaten über die Erleichterung von Visa- und Rückführungsabkommen mit Armenien und Aserbaidschan zählen. Die polnische Antwort auf die Schwäche der demokratischen Kräfte in der östlichen und südlichen Partnerschaft war das Konzept zur Schaffung des European Endowment for Democracy, eines neuen Instruments, das schneller und effektiver als bisher Transformationsprozesse unterstützen soll. Polen gelang es für EU-Verhältnisse relativ schnell, dieser Initiative einen Platz in den Unionsdokumenten zu sichern. Das Halbjahr der Ratspräsidentschaft stärkte die polnische Position auf der europäischen Ebene und ließ Polen zu einem reifen EU-Mitglied werden.

Erste Schritte in diese Richtung wurden jedoch schon früher gemacht, als Polen zusammen mit Schweden die Initiative der Östlichen Partnerschaft ins Leben gerufen hatte, deren Ziel es ist, die sechs östlichen EU-Nachbarstaaten (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldawien und die Ukraine) enger an die EU zu binden und sie so auf dem Weg zu Demokratie und freier Marktwirtschaft zu unterstützen. Polen brachte hierbei in die europäische Gemeinschaft eigenes Expertenwissen im Bereich Ostpolitik ein. Wie wichtig diese Erfahrungen sind, zeigen am besten die Ereignisse der ersten Wochen des Jahres 2014, als der polnische Außenminister Radosław Sikorski gemeinsam mit seinen deutschen und französischen Kollegen Steinmeier und Fabius im Namen der EU die Verhandlungen in Kiew im Februar 2014 geführt hat, die in einem Kompromiss zwischen der Janukowitsch-Regierung

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 21 und der Opposition mündeten. Die polnische Expertise in der Ostpolitik und der gute Ruf, dessen sich Polen in der Ukraine erfreut, sind hier nicht zu unterschätzen.

Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Polen nur in der Außenpolitik etwas beitragen kann. Auch ohne als Mitglied der Eurozone dazu verpflichtet zu sein, hat die polnische Regierung alle wichtigen Reformen mitgetragen und zum Beispiel den Fiskalpakt unterzeichnet. Die Schuldenbremse, in Deutschland erst vor kurzem eingeführt, steht in der polnischen Verfassung schon seit dem Jahr 1997. Dass diese Verpflichtung eingehalten wird, erklärt unter anderem die wirtschaftliche Stabilität und dynamische Entwicklung Polens.

Wirtschaftlich erfolgreich

Es ist kaum zu glauben, wie sich die Einschätzungen des lange Zeit als negativ verstandenen Begriffs der "polnischen Wirtschaft" in Deutschland verändert haben. Inzwischen steht diese Bezeichnung nicht mehr für Unordnung und Probleme, sondern für Wirtschaftswachstum und geschickt umgesetzte Reformen. Deutsche Medien berichten regelmäßig über aktuelle Wirtschaftsdaten aus Polen, die die schnelle Entwicklung des östlichen Nachbarlandes bestätigen und in Umfragen beschreiben deutsche Mittelständler Polen zunehmend als einen sehr attraktiven Investitionsstandort.

Seit 20 Jahren verzeichnet Polen einen Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Jahr 2009, als alle anderen Länder rote Zahlen schrieben, gab es in Polen keine Rezession. Das Wachstum des BIP im Jahre 2013 betrug 1,6 Prozent. Die Prognosen für die Jahre 2014 und 2015 sehen ein Wachstum von 2,5 bzw. 2,9 Prozent voraus.

Die Eurozone bleibt der wichtigste Handelspartner Polens. Die polnischen Exporte in die Eurozone lagen in 2013 bei 77,3 Mrd. Euro (Gesamtwert 152,7 Mrd. Euro), die Importe bei 70 Mrd. Euro (der Gesamtwert betrug 155 Mrd. Euro). Der deutsche Warenverkehr mit Polen war im ersten Halbjahr 2013 (https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/logon?language=de&sequenz= tabelleErgebnis&selectionname=51000-0003) größer als mit Russland – und das nicht zum ersten Mal. Polen bleibt der wichtigste deutsche Handelspartner in Mittelosteuropa.

So kann sich Polen als wichtiger Partner auf europäischer Bühne etablieren. Durch die aktuelle polnische Wirtschaftsorientierung steht Polen momentan auf der Seite der sogenannten nordeuropäischen Staaten, als Nichtmitglied der Eurogruppe jedoch mit sehr eingeschränktem Einfluss. Immerhin, auch vor dem Beitritt in die Eurozone sucht und braucht Deutschland Polen als Partner.

Solidarisch mitwirken

Das Land kann umso mehr als guter Partner dienen, da die Polen Europa als eine Gemeinschaft betrachten und sich unter der heutigen Regierung für Solidarität unter den Mitgliedstaaten einsetzen. Das Wort "Solidarität", das für die Polen eine große historische Bedeutung hat, können sie für die Zukunft in einer weiteren Perspektive sehen. Es wird der EU nicht schaden, wenn Polen mit seinen Erfahrungen, seiner stabilen Wirtschaftslage und seinem Engagement mehr Präsenz auf der europäischen politischen Bühne zeigt und Verantwortung übernimmt.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Agnieszka Łada für bpb.de

Fußnoten

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1. Centrum Badania Opinii Publicznej, Słowacy, Czesi i Węgrzy o integracji Europejskiej, BS/137/2013, Warszawa, październik 2013.

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Großbritannien auf dem Weg aus der EU? Standpunkt Louise Osborne

Von Louise Osborne 9.4.2014 ist eine britische Journalistin, die für verschiedene britische und amerikanische Zeitungen arbeitet. Sie hat in London Englisch und Spanisch studiert und lebt in Berlin.

Großbritannien sei innerhalb der EU besser aufgehoben als außerhalb, meint Louise Osborne. Mit dem angestrebten Referendum über die EU-Mitgliedschaft seien die regierenden Konservativen deshalb in eine Zwickmühle geraten: Zwar wolle Premier Cameron gar nicht aus der EU austreten, müsse aber im Vorwahlkampf die europakritischen Stimmen auch innerhalb seiner eigenen Partei besänftigen.

Ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist so wahrscheinlich wie nie zuvor. In einer Grundsatzrede, die der britische Premierminister David Cameron im Januar 2013 in London hielt, versprach er für den Fall, dass seine Partei bei der Wahl zum britischen Unterhaus 2015 die absolute Mehrheit erreicht, für das Jahr 2017 ein Referendum über den Verbleib seines Landes in der EU.

Manche Beobachter sehen Großbritannien bereits auf dem Weg aus der EU hinaus, in einem Wortspiel aus "Britain" und "Exit" (Ausgang) auch "Brixit" genannt. Tatsächlich will Cameron aber die EU gar nicht verlassen. Er möchte stattdessen die Bedingungen der britischen Mitgliedschaft neu verhandeln und einige Kompetenzen aus Brüssel zurückholen. So soll die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU vergrößert und das "demokratische Defizit" verringert werden.

Wenn Cameron die EU aber gar nicht verlassen will, warum spielt er dann das riskante Spiel, ein Referendum vorzuschlagen?

Cameron ist innerhalb seiner eigenen Partei in einer schwachen Position und steht unter starkem Druck euroskeptischer Hinterbänkler seiner konservativen Tory-Partei, seit es ihm bei der Unterhaus- Wahl 2010 nicht gelungen war, die absolute Mehrheit zu gewinnen. Im britischen Mehrheitswahlsystem ist eine solche absolute Mehrheit für eine Partei die Regel. So musste Cameron eine Koalition mit den traditionell pro-europäischen Liberal-Demokratenschließen und eine Reihe von Kompromissen eingehen. Dies hat bei den gegen die EU eingestellten Konservativen zu weiterer Verärgerung geführt.

Auch die Eurokrise, während der die Euroländer Milliarden für die Unterstützung einiger ihrer Mitglieder wie Griechenland, Irland und Spanien aufwenden mussten, stärkte die Position der Euroskeptiker. Die Krise rechtfertigte in den Augen der britischen Wähler den Kurs Großbritanniens, der Währungsunion nicht beizutreten.

Im Oktober 2011 erlebte Cameron in einer EU-Frage die größte Rebellion in der Geschichte der Konservativen Partei seit Ende des Zweite Weltkriegs. 81 Hinterbänkler der Tories stimmten im Unterhaus für ein Referendum, in dem darüber entschieden werden sollte, ob Großbritannien in der EU zu den jetzigen Bedingungen bleibt, die Union komplett verlässt oder die britische Mitgliedschaft neu verhandelt. Die Initiative war im Parlament nicht erfolgreich, weil zwei andere große Parteien, die Liberal-Demokraten und die Labour-Partei, dagegen stimmten. Trotzdem wurde die Revolte innerhalb der Konservativen Partei als Niederlage für den Premierminister angesehen, denn schließlich hatten die Verantwortlichen in der Partei die Abgeordneten angewiesen, gegen das Referendum zu stimmen. Eine weitere Schlappe erlitt Cameron, als 53 Tory-Abgeordnete mit der oppositionellen Labour-Partei

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 24 gemeinsame Sache machten, um reale Kürzungen im EU-Haushalt für die Jahre 2014 bis 2020 zu erreichen.

Es waren wahrscheinlich dieser zunehmende Druck aus der eigenen Partei sowie die wachsende öffentliche Unterstützung für die Anti-EU-Partei "United Kingdom Independence Party" (UKIP) die Camerons Haltung zu einem Referendum verändert haben. Bis dahin war es nur die UKIP, die eine solche Abstimmung über den Verbleib in der EU in ihrem Programm hatte.

In den letzten Jahren ist die UKIP immer populärer geworden und in den Kommunalwahlen im Mai 2013 gewann sie 140 Sitze – viele davon hatten vorher konservative Stadträte eingenommen. In der kommenden Europawahl hat die Partei, einer Meinungsumfrage (http://yougov.co.uk/ news/2014/01/16/european-elections-ukip-closes-first-place) des Marktforschungsunternehmens YouGov zufolge, sogar gute Chancen, vor den Tories durchs Ziel zu gehen. Diese Umfrage vom Januar 16. Januar 2014 sagt UKIP 26 Prozent der Stimmen voraus, womit die Partei nur sechs Prozent hinter der Labour-Partei und sogar drei Prozent vor den Konservativen läge.

Obwohl also Cameron die Debatte über die Europäische Union gerne vermieden hätte, wurde er durch den wachsenden Druck aus der eigenen Partei sowie von UKIP in der Referendumsfrage in die Ecke gedrängt und musste fürchten, als ein Politiker gebrandmarkt zu werden, der gegen eine Volksabstimmung und damit auch gegen die Demokratie wäre.

Nun steht Cameron vor der schwierigen Aufgabe, Großbritanniens Verhältnis zur EU mit dieser neu zu verhandeln und dabei Vertragsänderungen zu erwirken, mit denen er die Euroskeptiker in der Partei wie in der Öffentlichkeit zufriedenstellen kann. Einer Ende März 2014 veröffentlichten Umfrage (http:// yougov.co.uk/news/2014/03/26/eu-referendum-highest-lead-two-years/) von YouGov zufolge würden 36 Prozent der Briten dafür stimmen, die EU ohne weitere Verhandlungen zu verlassen, während 54 Prozent den Verbleib in der Europäischen Union befürworten würden, wenn substantielle Vertragsänderungen durchgesetzt werden könnten. Das aber stellt den Premierminister vor eine Reihe von Herausforderungen und es ist zweifelhaft, ob es ihm gelingen kann, solche Reformen durchzusetzen.

Dabei ist unklar, welche Reformen und Zugeständnisse Cameron eigentlich von der EU erwartet. Mögliche Verhandlungen könnten darauf zielen, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, die er unter anderem durch zu viele EU-Vorschriften eingeschränkt sieht. Andere Forderungen beziehen sich auf eine stärkere demokratische Rechenschaftslegung durch die Einführung einer "roten Karte". Diese würde die Europäische Kommission verpflichten, jedes Vorhaben aufzugeben, sobald ein nationales Parlament die "rote Karte" zeigt. Den nationalen Parlamenten käme dadurch ein wesentlich größerer Einfluss zu – eine Überlegung, die auch in den Niederlanden Anklang findet. Auch könnte Cameron versuchen, die Ausgaben für die Gemeinsame Agrarpolitik zu reduzieren und außerdem die Kompetenzüberprüfung mit der EU fortzusetzen, mit der der Einfluss der Union auf Großbritannien festgestellt werden soll. Cameron erhofft sich davon Anstöße, auf welchen Gebieten Neuverhandlungen geführt werden müssten.

Zuhause ist jedoch die Einwanderung der Punkt, der die britische Öffentlichkeit am meisten beschäftigt, aber hier sind Änderungen schwer durchzusetzen. Konservative Hinterbänkler arbeiten hart daran, das britische Einwanderungsgesetz so zu fassen, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit von Bulgaren und Rumänen wieder eingeschränkt werden könnte. Eine solche Gesetzesänderung widerspräche allerdings dem europäischen Recht.

Einst hatte die Konservative Partei die damalige Labour-Regierung heftig dafür kritisiert, dass diese den Lissabonner Vertrag ohne ein Referendum ratifiziert hatte. Alle drei großen Parteien, die Konservativen, die Liberalen und Labour, hatten bei der Unterhaus-Wahl 2005 versprochen, eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung durchzuführen. Durch die Zurückweisung der Verfassung in den Niederlanden und in Frankreich wurde der Verfassungsprozess nicht weiter verfolgt und

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 25 stattdessen der Lissabonner Vertrag ausgehandelt. Die Labour-Partei entschied daraufhin, dass ein Referendum nun nicht mehr nötig sei. In der Koalitionsvereinbarung der Konservativen mit den Liberal- Demokraten 2010 hat die Regierung dann eine Regelung vereinbart, der zufolge künftig jede Verlagerung britischer Souveränität nach Brüssel durch ein Referendum bestätigt werden muss.

In seiner Grundsatzrede vom Januar 2013 erweckte Cameron den Eindruck, dass die von ihm angestrebten größeren Vertragsreformen möglich wären.

Aber: Jede Vertragsänderung, die Cameron durchsetzen möchte, benötigt die Zustimmung der anderen Staats- und Regierungschefs der EU. Dass es Cameron gelingt, die dafür nötige Unterstützung zu erlangen, ist keineswegs sicher. Der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle brachte es auf den Begriff, dass "Rosinenpickerei" in der europäischen Politik nicht in Frage käme.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel machte Cameron keine Hoffnung, obwohl er ihr bei einem Besuch in London im Februar 2014 den roten Teppich ausrollte. So wurde ihr die Ehre zuteil, vor beiden Kammern des Parlaments zu sprechen und die Königin lud sie zum Tee. Vor den Abgeordneten sagte Merkel, sie müsse diejenigen enttäuschen, die hofften, sie öffne die Tür für grundsätzliche Reformen der EU. Allerdings wolle sie auch die Hoffnungen derjenigen zerstören, die annähmen, dass Europa sich in keiner Weise bemühen werde, Großbritannien in der EU zu halten.

Aber es ist nicht nur Merkel, die Cameron gewinnen muss. Wenn er die Reformen, die er braucht, verhandeln will, muss er die anderen 26 Staats- und Regierungschefs ebenfalls überzeugen. Darauf wies die britische Presse hin, als sie die Behandlung Merkels mit der des französischen Präsidenten Francois Hollande verglich, der im Januar 2014 mit einem Mittagessen in einem britischen Pub abgespeist wurde. Der französische Präsident sagte kurz darauf, eine Revision der EU-Verträge sei für Frankreich "keine Priorität".

Darüber hinaus muss Cameron die Forderungen der Euroskeptiker mit den immer deutlicher wahrnehmbaren Stellungnahmen des Wirtschafts- und Bankensektors in der Londoner City in Einklang bringen, der den Verbleib in der EU wünscht, um weiterhin vom Europäischen Binnenmarkt profitieren zu können.

Durch die britische Geschichte und auch die Geografie lag das Land immer am Rand der Europäischen Union. Als es 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Vorläuferin der Europäischen Union, beitrat, geschah dies aus pragmatischen Gründen und nicht wegen einer sentimentalen Verbindung mit dem Kontinent. Auch die europäische Integration wie Deutschland sie sieht, als Mittel, den Frieden zu erhalten, war für die Briten kein Argument. Dennoch war Großbritannien eine wichtige Kraft in Europa. Durch die Einführung der gemeinsamen Währung und dem Wunsch nach einer engeren fiskalischen und wirtschaftlichen Union, wie die 18 Eurostaaten sie anstreben, verliert Großbritannien jedoch langsam an Einfluss. Es ist in der Gefahr, in der dritten Reihe platziert zu werden, hinter der zweiten Reihe, in der die Länder sitzen, die den Euro übernehmen wollen, und der ersten, in der die Euroländer ihren Platz haben. Das bringt Cameron und andere Pro-Europäer in die schwierige Lage zu begründen, warum es Großbritannien in der dritten Reihe der EU besser gehen sollte, wenn man sie stattdessen vollständig verlassen kann. In dem Fall wäre es vielleicht möglich, besondere Bedingungen auszuhandeln, wie Norwegen oder die Schweiz es getan haben.

Wie Cameron es schaffen will, diese Herausforderungen zu bestehen, nämlich die Anforderungen aus seiner Partei zu erfüllen und die Unterhaus-Wahl 2015 zu gewinnen und dann eine pro-europäische Mehrheit im Referendum zu erzielen, ist unklar. Nach den Meinungsumfragen sieht es im Augenblick nicht danach aus, dass überhaupt eine Partei bei der nächsten Wahl eine absolute Mehrheit erhält. Das würde aber bedeuten, dass Cameron wieder einer Koalitionsregierung vorstehen würde. Sollte allerdings die Labour-Partei gewinnen, wird die Situation noch schwieriger. Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass auch Labour als Reaktion auf Camerons Rede eine Volksabstimmung vorschlagen wird, um nicht als Anti-Referendums-Partei stigmatisiert zu werden. Das könnte die

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 26 traditionell europaskeptischen Konservativen in einer "Nein"-Kampagne zusammenschweißen.

Wie immer die Unterhaus-Wahl 2015 ausgehen wird, wird die britische Öffentlichkeit aller Wahrscheinlichkeit nach die Entscheidung über den Verbleibt in der EU treffen müssen. Fraglich ist, ob es Cameron dann gelingt, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Großbritannien innerhalb der EU besser aufgehoben ist als außerhalb.

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Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch gemeinsame Wahlen: Das Beispiel Luxemburg Standpunkt Sophie Schram

Von Sophie Schram 9.4.2014 Die Luxemburgerin ist Doktorandin an der Universität Trier. Ihren Bachelor-Abschluss hat sie an der Universität des Saarlandes, Mastertitel in European Studies in einem gemeinsamen Studiengang der drei großen Berliner Universitäten sowie an der London School of Economics erworben.

Dank der Freizügigkeit können EU-Bürger in der Europäischen Union wohnen und arbeiten wo sie wollen. Bei nationalen Parlamentswahlen dürfen sie aber in der Regel nur in dem Land wählen, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen, kritisiert die in Deutschland lebende Luxemburgerin Sophie Schram. Sie fordert eine Ausweitung des Wahlrechts für EU-Bürger auch auf nationaler Ebene.

Luxemburg steht vor der Herausforderung, dass in naher Zukunft höchstwahrscheinlich weniger luxemburgische Staatsbürger als Angehörige anderer Nationalitäten auf seinem Staatsgebiet leben werden. Erstens ist eine solche Situation schwer mit klassischen nationalen Identitätsdiskursen zu verbinden: "Mir wëlle bleiwe wat mir sinn", also "wir wollen bleiben, was wir sind", ist nämlich ein Kernelement des nationalen Diskurses und der Konstruktion einer gemeinsamen nationalen Vergangenheit und Unabhängigkeit. Die Herausforderung besteht zweitens in Bezug auf demokratisches Regieren, da aufgrund dieser spezifischen Bevölkerungssituation in naher Zukunft eine Minderheit über eine Mehrheit regieren wird, weil nur eine Minderheit die luxemburgische Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht für das Parlament hat. Das Problem lässt sich nur durch politische Partizipation der ausländischen Bevölkerung und ihre Einbindung in das nationale Narrativ lösen.

Wie kam es zu dieser Herausforderung für Nationalstaat und Demokratie in Luxemburg? Die Transformation der Staatsgrenzen im Zuge der Europäischen Integration führt zu der paradoxen Situation, dass unbegrenzter wirtschaftlicher Mobilität im Binnenmarkt starre Grenzen der politischen Partizipation auf nationaler Ebene entgegenstehen, auch wenn über die Unionsbürgerschaft bereits ein Wahlrecht in lokalen und europäischen Wahlen besteht. In Luxemburg als kleinem Flächenstaat wird diese Herausforderung besonders deutlich, insbesondere weil die überwiegende Mehrheit der ausländischen Bevölkerung EU-Bürger sind (2013 etwa 86 Prozent). Die Ursache des Paradoxons liegt darin, dass der Mensch sich nun einmal nicht kategorisch in Arbeitskraft und Bürger trennen lässt. Bewegt sich die Arbeitskraft in einen anderen EU-Staat, so bewegt sich stets ein Bürger mit.

Diese Situation ist zunächst eine Herausforderung für einen der gängigen luxemburgischen Nationaldiskurse, der sich auf einen essentialistischen Kulturbegriff gründet und sich stark vom Fremden abgrenzt. Ein starkes Gewicht liegt hier auf dem territorialen Zuschnitt Luxemburgs, seiner staatlichen Unabhängigkeit und der Vorstellung einer spezifischen und schutzbedürftigen Sprache und Kultur. Demnach wurde durch die Grenzverschiebungen im Süden (1659), im Osten (1815) und im Westen (1839) das luxemburgische Territorium zwar kleiner, gleichzeitig aber auch zu einer linguistischen und nach Meinung einiger sogar ethnischen Einheit, sodass seine Grenzen einen fast "natürlichen" Charakter erhalten haben. In jüngerer Zeit spiegelt sich dieser Diskurs beispielsweise im Sprachengesetz von 1984, in dem Luxemburgisch als Nationalsprache festgelegt wurde, oder der Einführung eines obligatorischen Sprachentests im Einbürgerungsprozess im Jahr 2008. In diesen Diskurs sind die Befürchtungen einzuordnen, die Luxemburger würden in naher Zukunft eine Minderheit

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 28 der Bevölkerung ausmachen. In Inventing Luxembourg (2010) zeigen Pit Péporté und andere Wissenschaftler der Universitäten Brüssel und Luxemburg, dass aus dieser Situation heraus Teildiskurse über die Notwendigkeit der Erhöhung der luxemburgischen Geburtenrate und insbesondere des Schutzes der luxemburgischen Sprache entwickelt werden.

Seit dem späten 20. Jahrhundert wird die luxemburgische Identität im öffentlichen und politischen Diskurs jedoch insbesondere mit der Idee Luxemburgs als "Europa im Kleinen" verknüpft. Insofern wird der Leitspruch "Mir wëlle bleiwe wat mir sinn" und damit die Partikularität Luxemburgs umgedeutet. Dieser Diskurs legt Wert auf die historische Einbindung der Grafschaft bzw. des Herzogtums in das Heilige Römische Reich, auf europäische Persönlichkeiten wie Robert Schuman oder Jean-Claude Juncker, sowie auf Luxemburgs Rolle als politischer und kultureller Vermittler zwischen der französischen und der deutschen Kultur. Im frühen 20. Jahrhundert wurde hierauf beruhend die Konzeption Luxemburgs und seiner Sprache als "Mischkultur" von Batty Weber (1909) geprägt. In diesen Diskurs ist auch beispielsweise die als positiv bewertete grenzüberschreitende Zusammenarbeit Luxemburgs mit den angrenzenden belgischen und französischen Regionen sowie den deutschen Bundesländern Saarland und Rheinland-Pfalz zu sehen. Das Selbstbild Luxemburgs als Laboratorium der europäischen Einigung wird heute konkret am hohen Anteil ausländischer Bevölkerung (2013 etwa 45 Prozent, Tendenz steigend) und an der offiziellen wie alltäglichen Mehrsprachigkeit festgemacht. Im Gegensatz zu multilingualen Systemen wie der Schweiz sind die verschiedenen Sprachen nämlich nicht auf ein bestimmtes Territorium beschränkt, sondern sie werden herkunfts- und situationsspezifisch benutzt. Diese zunächst positiv besetzte Überzeugung, eine europäische Vorreiterrolle zu übernehmen und Laboratorium für die europäische Integration zu sein, ist tatsächlich im Hinblick auf die Funktionsweise der Gesellschaft in Luxemburg in vielerlei Hinsicht ein Spiegelbild der Union - wenn auch für ein politisches System, in dem Gesellschaften eher nebeneinander als miteinander leben, was sich beispielsweise an dem stark segmentierten Arbeitsmarkt und der politischen Teilhabe festmachen lässt.

Die zweite Herausforderung, die sich aus dem hohen Anteil an EU-Bürgern ergibt, besteht im Hinblick auf die Standards moderner Demokratie, da in absehbarer Zukunft Angehörige der luxemburgischen Nationalität und damit Inhaber des Wahlrechtes zum nationalen Parlament in Luxemburg eine Minderheit darstellen werden. Luxemburg wäre damit der erste Fall innerhalb der Europäischen Union, wo der Grundsatz der Regierung einer Mehrheit nicht erfüllt wird. Und in diese Überlegungen ist die hohe Anzahl an nicht-ansässigen Arbeitskräften oder Grenzpendlern (etwa 40 Prozent der Arbeitskräfte) nicht eingeschlossen. Das Problem ergibt sich dadurch, dass es zunächst sinnvoll erscheint, die Nation als Basis der Demokratie zugrunde zu legen. John Stuart Mill beispielsweise sieht in seinem Essay "Of Nationality, as Connected with Repräsentative Government" ein nationales Wir-Gefühl und gegenseitiges Vertrauen als Grundvoraussetzung einer gemeinsamen freiheitlichen Regierung, da ansonsten gleiche Ereignisse und sogar politische Entscheidungen die einzelnen Menschen unterschiedlich betreffen und es zu Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen kommt. Allerdings zeigt das Beispiel Luxemburg, dass diese Gleichung innerhalb der EU eben nicht mehr aufgeht, weil die Beschränkung des Wahlrechts auf Angehörige der luxemburgischen Nationalität in Verbindung mit hoher Mobilität der Unionsbürger zu einer Regierung der Minderheit führt.

Dagegen kann man sicherlich einwenden, dass die Annahme der Staatsbürgerschaft jedem frei stehe, und dass die Einbürgerungsraten pro 1.000 Einwohner in Luxemburg die höchsten in Europa seien (Pressemitteilung von Eurostat, 27.11.2013 (https://www.destatis.de/Europa/DE/Service/Presse/ Pressemitteilungen/BevoelkerungSoziales/Bevoelkerung/20131127_Staatsbuergerschaft.html; jsessionid=2570FF6F20569A656913C3D0A3F2F9AE.cae4)). Diese Argumentationslogik widerspricht aber dem Gedanken der Unionsbürgerschaft, der Mobilität der EU-Bürger innerhalb der EU, sowie komplexen nationalen oder transnationalen Loyalitätsformen. Ich habe beispielsweise die luxemburgische Staatsbürgerschaft, lebe, arbeite und zahle Steuern aber in Deutschland. Die Entscheidungen des Bundestages betreffen mich in gleichem Maße wie meine deutschen Kollegen und Freunde - deshalb habe ich mich bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 als Ausländerin in Deutschland ausgeschlossen gefühlt. Gleichzeitig fühle ich mich auch der luxemburgischen

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Gesellschaft verbunden. Welche Identität überwiegt, hängt von meiner jeweiligen Lebenssituation ab. Trotzdem möchte ich gerne Bürgerrechte wahrnehmen.

Ein anderes Argument für die Beschränkung des Wahlrechtes auf die Träger der nationalen Staatsbürgerschaft ist es, dass Umverteilung zwischen Arm und Reich nur durch eine nationale (Schicksals-)Gemeinschaft legitimiert wird, weshalb die sogenannte Transferunion in der EU abgelehnt wird. Die Frage, wie Reichtum umverteilt wird, bildet auch tatsächlich die klassische Trennungslinie zwischen Parteien des linken und des rechten Spektrums. Allerdings ist auch dies problematisch. EU- Bürger, die in Luxemburg leben und arbeiten, zahlen nämlich dort Steuern und sind auch dort krankenversichert. Sie finanzieren also Umverteilungsentscheidungen mit, und sind direkt davon betroffen. Deshalb plädiere ich dafür, dass sie an den Parlamentswahlen beteiligt werden sollen.

Gängige Argumente, die für ein ausschließlich nationales Wahlrecht sprechen und Staatsbürgerschaft mit Nationalität gleichsetzen, lassen sich demnach für den Fall Luxemburg entkräften. Die Beteiligung der ausländischen Bevölkerung an nationalen Parlamentswahlen erscheint also durchaus begründet, und gilt in meinen Augen auch für andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Politische Teilhabe ist eine Voraussetzung für den Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften sowie für die Verwirklichung der komplexen Identifikationsformen ihrer Bürger. Den Gedanken von Jürgen Habermas, dass gemeinsame politische Werte das Bindeglied für eine europäische Gesellschaft sein können, würde ich gleichermaßen auf nationale politische Systeme anwenden wollen und auf die politische Beteiligung all jener Unionsbürger, die eng am gesellschaftlichen Leben eines Mitgliedstaates teilhaben und deshalb ein längerfristiges Interesse an den politischen Entscheidungen eines Landes haben.

Erstens wäre das gut für Luxemburg, weil es neue Ideen in die öffentliche politische Debatte einbringen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen den Unionsbürgern in Luxemburg stärken würde. Es könnte somit Teil des nationalen Diskurses über eine Öffnung hin zum Europäischen werden. Zweitens wäre das gut für die Europäische Union. Es würde nämlich zeigen, dass es gemeinsame politische Werte gibt, die alle Europäer teilen und die es allen Unionsbürgern ermöglicht, auch an anderen politischen Systemen teilzuhaben. Hierhin sehe ich die Grundlage für das Vertrauen, das nach John Stuart Mill notwendig ist, um unter einer gemeinsamen Regierung zu leben. Schließlich geht das Leitmotiv "Mir wëlle bleiwe wat mir sinn" auf ein Lied anlässlich der Einweihung der ersten internationalen Eisenbahnstrecke in Luxemburg zurück.

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Wie sieht die EU in Zukunft aus?

Von Judith Fiebelkorn 18.9.2017

ist Redakteurin bei euro|topics.

In der Debatte um die Zukunft der EU kursieren bislang sehr unterschiedliche Konzepte. Nun hat sich Kommissionpräsident Juncker in seiner jüngsten Rede für eine tiefere Integration ausgesprochen. Was kann die Union wieder auf Kurs bringen?

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker spricht vor dem Europäischen Parlament am 13. September 2017. (© picture-alliance/AP)

Angesichts von Stimmenzuwächsen für Rechtspopulisten, der Schuldenkrise und der Flucht Tausender nach Europa gibt es für Europas Kommentatoren viele Gründe, warum die EU unbedingt zukunftsfähig gemacht werden muss. Ein "Weiter so" kann es laut der bulgarischen Tageszeitung Sega (http://www. eurotopics.net/de/175376/wie-soll-die-eu-in-zukunft-aussehen?zitat=175517#zitat175517) keinesfalls geben: "Wenn wir nicht eines Tages der EU in ihrer heutigen Form nachtrauern wollen, müssen wir uns klarmachen, dass die von uns zerstörten Errungenschaften verloren sein werden," so die Zeitung.

Andere Medien sind der Ansicht, dass die Begeisterung für das europäische Projekt zumindest bei Teilen der Bevölkerung zurückkehren könnte. "Es ist Zeit für eine Selbstkritik der europäischen Regierenden. Sie sollten die Fehler eingestehen, die sie möglicherweise begangen haben. Vor allem aber müssen sie zeigen, dass die EU sich nicht auf Klischees wie Spardiktat und Lobbyisten-Paradies reduzieren lässt," kommentierte etwa die luxemburgische Tageszeitung Le Quotidien (http://www. eurotopics.net/de/176383/ist-der-zusammenhalt-der-eu-stark-genug?zitat=176812#zitat176812).

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Viele sehen das Jahr 2017 als ideales Zeitfenster, um eine ernsthafte Debatte über EU-Reformen zu führen. Das 60. Jubiläum der Römischen Verträge und die Wahl des europafreundlichen Emmanuel Macron zum Präsidenten Frankreichs im Frühjahr lieferten erste Anstöße: "Größer als zuvor scheint nun die Möglichkeit, dass man Problemen mit einer klugen Politik begegnen kann, die den Wert von Souveränität ebenso wie den von Zusammenarbeit betont", freute sich die schwedische Tageszeitung Svenska Dagbladet (https://www.eurotopics.net/de/178791/kann-der-eu-mit-macron-ein-neubeginn- gelingen?zitat=178723) über den Ausgang der französischen Präsidentschaftswahl.

Beobachtern zufolge trug aber auch US-Präsident Trumps kontroverse Russlandpolitik und seine Haltung zur Nato dazu bei, dass eine Debatte um die Neuausrichtung der Union immer dringlicher erscheint. Die niederländische Tageszeitung NRC Handelsblad (https://www.eurotopics.net/ de/179869/ernuechterung-nach-trumps-europareise) war ernüchtert nach dem ersten G7-Gipfel in Trumps Regierungszeit: "Jeder, der noch die Illusion hatte, dass Trump einsieht, wie wertvoll die alten Verbündeten der USA sind, wurde eines Besseren belehrt. Trump ist ein Bruch mit der Vergangenheit. Und darauf muss die Welt eine Antwort finden."

Viele Szenarien sind denkbar

Den ersten Aufschlag zu einer möglichen EU-Reform machte die EU-Kommission im März, als sie ein "Weißbuch" mit fünf Szenarien vorstellte. Sie beschreibt darin, wo die Gemeinschaft im Jahr 2025 stehen könnte – je nachdem, welchen Weg sie einschlägt. Die Szenarien reichen von einer Reduzierung der EU auf einen gemeinsamen Binnenmarkt bis zu einem europäischen Bundesstaat, in dem die Brüsseler Institutionen deutlich mehr Kompetenzen haben als bisher.

Die Presse nahm den Vorstoß von Kommissionspräsident Juncker mit gemischten Gefühlen auf: "Durch das Weißbuch wird der Ball endlich wieder zu den nationalen Regierungen gespielt, die seit Jahren die europäischen Institutionen und insbesondere die Kommission als Sündenbock für die eigenen Defizite und Fehler missbrauchen," frohlockte die spanische Tageszeitung El País (http://www. eurotopics.net/de/175376/wie-soll-die-eu-in-zukunft-aussehen?zitat=175439#zitat175439). Die polnische Blatt Gość Niedzielny (http://www.eurotopics.net/de/176383/ist-der-zusammenhalt-der-eu-stark- genug?zitat=176655#zitat176655) war hingegen weniger begeistert: "Das Weißbuch liefert einen bescheidenen und konfusen Beitrag zur Debatte über die Zukunft Europas. Bescheiden, weil es sich nicht ernsthaft mit den Gründen der europäischen Krise auseinandersetzt. Konfus, weil in ihm sogar fünf Szenarien für die Zukunft Europa gezeichnet werden und diese eher einem Universitätsseminar entsprungen zu sein scheinen als einer reiflichen politischen Überlegung."

Medial am stärksten diskutiert wurde das Szenario eines Europas der zwei Geschwindigkeiten. Ein Modell flexibler Integration, bei dem sich nicht alle gleichermaßen beteiligen, sondern nur für einzelne Politikbereiche eine vertiefte Zusammenarbeit wählen – wie beim Euro oder dem Schengener Abkommen. Für dieses Modell müssten die EU-Verträge nicht geändert werden, sondern es könnte eine bereits von allen Mitgliedsländern ratifizierte Vertragsklausel genutzt werden, um in einem "Kreis der Willigen" Beschlüsse schneller und flexibler zu fassen.

Die Debatte um ein Kerneuropa, das die Richtung vorgibt, und eine Peripherie, die sich je nach Bedarf an gemeinschaftlichen Vorhaben beteiligt, weckte besonders bei Medien der mittel- und osteuropäischen Staaten die Angst, abgehängt zu werden: "Hier werden diskrete aber effiziente Grenzen gezogen, seien es wirtschaftliche, gesetzgeberische oder verwaltungstechnische, um dem angeblich schlechten Einfluss der Ostländer auf den Wohlstand der Westländer zu begegnen," kommentierte das rumänische Onlineportal Contributors (http://www.eurotopics.net/de/175376/wie- soll-die-eu-in-zukunft-aussehen?zitat=175327#zitat175327). Auch die kroatische Tageszeitung Večernji list (http://Večernji list) warnte vor der "Errichtung neuer Eiserner Vorhänge".

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 32 Hoffnungsträger Macron

Mit Blick auf eine Neubelebung des europäischen Projekts setzten viele Kommentatoren auf Emmanuel Macron. Vor der Stichwahl um das französische Präsidentenamt schrieb die italienische Tageszeitung La Repubblica (https://www.eurotopics.net/de/181045/hat-macron-jetzt-freie-bahn): "Der junge Macron kann der deutsch-französischen Achse neue Stärke verleihen. Europa braucht eine neue Dynamik." Noch in seinem Wahlprogramm hatte sich der neue französische Präsident für die Ausgabe von Eurobonds ausgesprochen, um die Schulden der einzelnen Mitglieder zu vergemeinschaften. Er wollte die Eurozone stärken und mit einer Euro-Wirtschaftsregierung mit eigenem Budget ein Investitionsprogramm zur Ankurbelung der Wirtschaft auflegen.

Doch diese Vorhaben waren bereits nach seinem Antrittsbesuch bei Kanzlerin Merkel teilweise vom Tisch. Zwar sprachen sich beide für eine Vertiefung der Eurozone aus, also den Ausbau eines Kerneuropas, auch mit notwendigen Änderungen der EU-Verträge. Doch eine Vergemeinschaftung von alten Schulden führe nur zu einer Politik der Verantwortungslosigkeit, sagte Macron gegenüber der Presse.

Die neue Einigkeit zwischen Merkel und Macron wurde von den Medien bejubelt, traten sie doch als ein Duo auf, das bereit scheint, die Führung in Europa zu übernehmen. "Historisch betrachtet ist es die deutsch-französische Achse, die Europa sowohl vorantreibt als auch zusammenhält. Wenn es gut läuft, ist die Kombination aus Merkels Erfahrung und Macrons Begeisterung genau das, was die EU jetzt braucht," freute sich die schwedische Tageszeitung Sydsvenskan (http://www.eurotopics.net/ de/179287/gelingt-merkel-und-macron-der-neustart-der-eu?zitat=179248#zitat179248).

Euro und Schengen für alle

Auf ihrem EU-Gipfel im Juni verständigten sich die Staats- und Regierungschefs auf eine Stärkung der gemeinsamen Verteidigungspolitik, die mit Hilfe eines Verteidigungsfonds finanziert werden soll. Eine einstimmig unterzeichnete Erklärung in der Frage der Verteidigung war bisher immer an der Blockade der Briten gescheitert, die nun nicht mehr am Tisch saßen.

Die italienische Tageszeitung La Stampa (http://www.eurotopics.net/de/181344/ist-die-eu-aus-dem- groebsten-raus?zitat=181318#zitat181318) war voll des Lobes: "Schnell, konkret und kompakt. Beim Treffen des Europäischen Rats zeigte die EU Eigenschaften, die man lange vermisst hat." Etwas weniger euphorisch beschrieb die Tageszeitung Die Presse (http://www.eurotopics.net/de/181344/ist- die-eu-aus-dem-groebsten-raus?zitat=181301#zitat181301) aus Österreich die Stimmung nach dem Gipfel: "Das derzeitige Gefühl in Brüssel kennt jeder, der schon einmal bei einem Unfall glimpflich davongekommen ist. Paradoxerweise ist die Situation, in der sich die EU momentan befindet, nicht mit einem Unfall zu vergleichen, sondern eher mit einer unüberschaubaren Großbaustelle."

Nach der Sommerpause griff Kommissionspräsident Juncker die Debatte über die Zukunft der EU wieder auf. Seine Forderung: Alle EU-Mitglieder sollen dem Euro- und Schengen-Raum beitreten. Damit konterkarierte er die Pläne von Merkel und Macron, die unterschiedliche Geschwindigkeiten innerhalb der EU bevorzugen. "Der Wille, die absolute Einheit der 27 Mitgliedstaaten zu wahren, zwingt Juncker zu einem Balanceakt. Widerstand gegen Junckers Pläne ist programmiert.", kritisierte die Neue Zürcher Zeitung (http://www.eurotopics.net/de/185929/wie-visionaer-ist-junckers-rede?zitat=186042 #zitat186042). Und das slowenische Blatt Primorske novice (http://www.eurotopics.net/de/185929/wie- visionaer-ist-junckers-rede?zitat=186059#zitat186059) urteilte: "Die EU wird den Nationalstaaten einen weiteren Teil ihrer Souveränität nehmen."

Andere Kommentatoren sahen Junckers Rede zur Lage der EU deutlich positiver. Den Wunsch des Kommissionspräsidenten nach einem europäischen Finanzminister kommentiert die slowakische Tageszeitung Pravda (http://www.eurotopics.net/de/185929/wie-visionaer-ist-junckers-rede?zitat=186066 #zitat186066) wohlwollend: "Er könnte der Vorbote einer Fiskalunion sein, dank derer sich Katastrophen, wie die griechische, gerechter und eleganter lösen ließen." Und auch The Irish Times

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(http://www.eurotopics.net/de/185929/wie-visionaer-ist-junckers-rede?zitat=186087#zitat186087) lässt sich von Junckers Optimismus anstecken und findet, dass die eingangs erwähnten Krisen so langsam überwunden sind: "Die EU befindet sich im fünften Jahr einer konjunkturellen Erholung, die endlich alle Mitgliedstaaten - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - erreicht. Die Union hat es geschafft, die Flüchtlings- und Schuldenkrise zu überstehen und dabei ihre Institutionen intakt zu halten. Und auch die Welle rechter Populisten schwillt ab."

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Judith Fiebelkorn für bpb.de

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Aktuelle Fragen der Europapolitik

29.4.2014

Auch nach der Wahl zum Europäischen Parlament wird die Europäische Union vor politischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen stehen. Die zunehmende Popularität von eurokritischen und rechtspopulistischen Positionen und Parteien kann die Europäische Integration genauso untergraben, wie soziale Ungleichheiten, unklare Kompetenzverteilungen zwischen den politischen Entscheidungsebenen und die als unzureichend wahrgenommene Beteiligung der europäischen Bürgerinnen und Bürger am politischen Prozess.

Wie diese Herausforderungen in den europäischen Staaten wahrgenommen und bewertet werden, kommentieren vier junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Slowakei, den Niederlanden, Deutschland und Ungarn.

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Aktuelle Fragen der Europapolitik Einleitung

Von Eckart D. Stratenschulte 29.4.2014

(Prof. Dr.) ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Nach der Europawahl am 25. Mai 2014 steht die Europapolitik vor einer Reihe von Herausforderungen, deren Bewältigung darüber entscheiden wird, ob die Europäische Union in fünf Jahren besser dastehen wird als zurzeit oder ob sie in eine Abschwungphase gerät, an deren Ende, wenn nicht ihre Auflösung, so doch ihre Bedeutungslosigkeit stehen könnte.

Die wirtschaftliche und politische Krise in der Europäischen Union hat vielerorts die Europabegeisterung gedämpft. Wie wird sich die EU weiter entwickeln? (© picture-alliance/dpa) Als erstes wird es im Jahr 2014 darum gehen, die Schlüsselstellungen in der Europäischen Union neu zu besetzen. Für das Europäische Parlament geschieht dies durch die Wahl, die darüber entscheidet, welche Kräfte wie stark im Parlament vertreten sind. Im Europäischen Parlament gibt es keine klare regierende Mehrheit, der auf die Dauer der Legislaturperiode eine Opposition gegenüber steht, sondern das Parlament besteht aus verschiedenen Fraktionen, die sich wiederum aus vielen nationalen Parteien zusammensetzen. Insgesamt sind im Europäischen Parlament derzeit über 160 unterschiedliche Parteien vertreten, aus denen heraus sich über die Fraktionen jeweils eine Gestaltungsmehrheit generieren muss. Dabei geht es nicht nur um die Abstimmungen im Plenum, sondern auch darum, wie die Ausschüsse besetzt sind und wer in den Ausschüssen zum Berichterstatter für ein Thema benannt wird. Was so technisch klingt, ist in Wirklichkeit hochpolitisch. Die Berichterstatterin oder der Berichterstatter bereitet einen Beschluss des Europäischen Parlaments vor und formt durch

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Gespräche, Verhandlungen und Formulierungsvorschläge für diesen eine Mehrheit im jeweils zuständigen Ausschuss. Hat die Vorlage den Ausschuss passiert, wird sie im Plenum meistens auch angenommen.

Zum 1. November 2014 tritt zudem eine neue Europäische Kommission ihr Amt an. Der Präsident der Kommission wird vom Europäischen Rat, also den Staats- und Regierungschefs der EU, nominiert und dem Europäischen Parlament zur Wahl vorgeschlagen. Nach dem Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Lissabonner Vertrags muss der Europäische Rat dabei gemäß Art. 17 das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament "berücksichtigen". Damit ist gemeint, dass der Präsident der Europäischen Kommission aus der Parteiengruppe hervorgeht, die die Mehrheit bei den Wahlen errungen hat. Die Wählerinnen und Wähler stimmen also indirekt auch über den Kommissionspräsidenten ab und die Parteiengruppierungen haben zum ersten Mal Spitzenkandidaten vorgeschlagen. Für die Sozialdemokraten ist das der gegenwärtige Präsident des Europäischen Parlaments, der Deutsche Martin Schulz, und für die Christdemokraten der langjährige Ministerpräsident von Luxemburg, Jean-Claude Juncker. Dass einer von beiden Kommissionspräsident wird, ist allerdings keineswegs sicher. Zum einen werden vermutlich weder die Sozialdemokraten noch die Christdemokraten im Europäischen Parlament eine Mehrheit erhalten, sondern eine solche nur mit anderen Parteiengruppierungen (den Liberalen, den Grünen, den Linken, den Konservativen) formen können. Zum anderen verpflichtet der Vertrag die Staats- und Regierungschefs nur, das Wahlergebnis in Rechnung zu stellen, nicht einen bestimmten Kandidaten zu nominieren. So hat der jetzige (christdemokratische) Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, bereits erklärt, eine weitere und damit dritte Amtszeit anzustreben – obwohl er nicht der Spitzenkandidat ist.

Der Kommissionspräsident wird einer Kommission vorstehen, der außer ihm weitere 27 Mitglieder angehören – aus jedem Mitgliedstaat eines. Auch die neue Kommission wird also politisch heterogen besetzt sein. Offiziell sucht der Kommissionspräsident die Kommissarinnen und Kommissare zwar aus, tatsächlich muss er sich jedoch weitestgehend an die Vorgaben der Mitgliedstaaten halten. Ob die ihre besten Leute schicken oder jemanden, den sie zuhause nicht mehr politisch unterbringen können oder wollen, wird sehr über die Qualität der Kommission entscheiden.

Neu zu berufen ist auch der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, also quasi der Europäische Außenminister. Die bisherige Amtsinhaberin, die Britin Catherine Ashton, wird dafür nicht mehr zur Verfügung stehen. Sie galt allgemein als schwache Besetzung, der es nicht gelungen ist, die Außen- und Sicherheitspolitik der Union klar zu konturieren – was allerdings auch daran lag, dass die Mitgliedstaaten dies nicht zugelassen haben.

Schließlich muss der Europäische Rat einen neuen Präsidenten wählen. Herman Van Rompuy, der diese Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs fünf Jahre lang geleitet hat, darf laut Vertrag nicht noch einmal antreten. Zwar ist der Ratspräsident nur ein Koordinator des Gremiums, von seinem Geschick, die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedsländer zusammenzuführen und die Union nach außen zu vertreten, hängt aber viel für den Erfolg der Arbeit des Rates ab.

Über die Personalpolitik darf die Europäische Union jedoch die inhaltlichen Aufgaben nicht vernachlässigen. Die Akzeptanz der Europäischen Union bei den Bürgerinnen und Bürgern ist relativ gering. Lediglich 31 Prozent der in einer regelmäßig durchgeführten Untersuchung ("Eurobarometer") befragten Personen äußerten sich positiv über die EU, 28 Prozent negativ. Der Rest hatte dazu keine Meinung oder wollte sie nicht offenbaren. Oft werden diese Zahlen dahingehend interpretiert, dass die Menschen "weniger Europa" wollten. Allerdings zeigt die Meinungsumfrage ein anderes Bild: Vielen Menschen bleibt die europäischer Integration deutlich hinter ihren Erwartungen zurück. Ihre Kritik an der EU speist sich nicht aus der Angst, dass es zu viel Integration gebe, sondern aus dem Ärger, dass es zu langsam gehe und damit die EU ihre Aufgaben, gerade in der Wirtschafts- und Sozialpolitik aber auch in der politischen Beteiligung und Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger, nicht erfüllen könne.

Für die Tagesordnung der Europäischen Union bedeutet dies zweierlei: Zum einen müssen die

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Ergebnisse verbessert, zum anderen müssen die Menschen stärker einbezogen werden.

Für die Ergebnisse, den sogenannten Output, wird die Bewältigung der Eurokrise und der sozialen Krise in vielen Mitgliedstaaten entscheidend sein. Eine hohe Arbeitslosigkeit, das Abwandern von erheblichen Teilen der jungen Generation und die Zunahme der sozialen Ungleichheit sind Herausforderungen, an deren Bewältigung die Menschen den Wert der Europäischen Union im 21. Jahrhundert bemessen werden. Dabei ist allerdings klar, dass die EU selbst diese Aufgaben nur im Zusammenspiel mit den Mitgliedstaaten lösen kann. Die Europäische Union kann in Griechenland oder auch in Deutschland keine Arbeitsplätze schaffen – wie sollte das gehen? Sie kann nur über gemeinsame Anstrengungen und auch über die Verteilung europäischer Haushaltsmittel die entsprechenden Prozesse in den Mitgliedstaaten unterstützen. Um die Fußballsprache zu bemühen: Die EU kann als Trainer wirken, auf dem Platz spielen müssen jedoch die Mitgliedstaaten. Der Trainer kann, um im Bild zu bleiben, keine Tore schießen, er kann die Spielweise vorgeben, muss den Spielern aber auch genügend Freiraum lassen. Der politische Begriff dafür ist „Subsidiarität“, die besagt, dass die Aufgaben jeweils auf der Ebene gelöst werden sollen, die dafür am besten geeignet ist. Hanna Lorenzen setzt sich damit in ihrem Artikel auseinander.

"Macht die Schwachen nicht zu Opfern der Krise" fordert der Slowake Brian Fabo in seinem Beitrag, der sich mit der Lage in der Slowakei beschäftigt und die EU auffordert, nun einen Gang hochzuschalten, um sicherzustellen, dass nicht Staaten wie die Slowakei für die Eurokrise dauerhaft zahlen, obwohl sie sie nicht verursacht haben.

Aber auch in den wohlhabenderen Ländern gibt es das Gefühl, ungerechtfertigt für die Krise - die irgendwie immer die Krise der anderen ist - zur Kasse gebeten zu werden. Caspar van den Berg beschreibt in seinem Artikel mit dem drastischen Titel "Wir sind nicht die Milchkuh Europas" die öffentliche Meinung in den Niederlanden. Nicht nur in unserem westlichen Nachbarland hat sich daraus eine starke rechtspopulistische Partei entwickelt, auch beispielsweise in Ungarn ist das so. Die rechtsextreme und stark antieuropäische Partei Jobbik, die übrigens aus einer Studentenbewegung entstanden ist, wurde bei den Parlamentswahlen, die im April 2014 in Ungarn stattfanden, mit rund 20 Prozent Stimmanteil bestätigt. Inwieweit dieser Rechtspopulismus eine Bedrohung für die europäische Integration darstellt, untersucht der ungarische Wissenschaftler András Hettyey. Sowohl aus den Niederlanden als auch aus Ungarn gibt es denselben Befund: Die Rechtspopulisten arbeiten sehr stark mit der Unterscheidung zwischen "denen da oben" oder "denen in Brüssel" und "uns hier im Land". Sie greifen damit ein Gefühl auf, das viele Menschen in Bezug auf die Europäische Union haben, nämlich dass sie nicht hinreichend in den europäischen Entscheidungsprozess einbezogen werden.

Eine für die Zukunft der EU mitentscheidende Aufgabe wird es daher sein, die Bindungen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern Europas und ihrer supranationalen Organisation zu verstärken. Dies wird nicht nur durch zusätzliche Information zu bewerkstelligen sein, sondern nur durch mehr Teilhabe. Hier ist zu denken an mehr Kontakte mit den Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die bislang durch 40 jährliche Sitzungswochen von ihren sowieso großen Wahlkreisen ferngehalten werden, an Bürgerforen, die Nutzung des Instruments der Europäischen Bürgerinitiative, die Verbreiterung der Teilnahme an den Anhörungen der Europäischen Kommission zu wichtigen Vorhaben (die es jetzt schon gibt, die aber nur wenige kennen) und an mehr europäischem Diskurs im eigenen Land. Und einmal mehr gilt: Das kann nicht aus Brüssel heraus geleistet, sondern von dort nur unterstützt werden. In den Mitgliedstaaten muss eine neue europa-orientierte Diskussionskultur entwickelt werden, durch die auch sichergestellt ist, dass Vorhaben nicht erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangen, wenn sie schon beschlossen sind. Vielmehr müssen solche Vorhaben schön während der oft Jahre andauernden Vorbereitungen der Europäischen Kommission, des Rats der Europäischen Union und des Europäischen Parlament mit den Bürgern diskutiert werden.

Die Auseinandersetzungen im Osten unseres Kontinents, die 2014 in der Annexion der Krim durch Russland und dessen Drohung gegen den östlichen Teil der Ukraine ihren Höhepunkt fanden, haben

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 38 wieder einmal deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass die Demokratien in Europa, die sich in der Europäischen Union zusammengeschlossen haben, gemeinsam handlungsfähig sind und auch handeln. Die Voraussetzung dafür ist, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten vor den Problemen nicht kapitulieren, sondern sie als das sehen, was sie sind: Herausforderungen. Die nächsten fünf Jahre werden in Europa sicherlich spannend.

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Slowakei: Macht die Schwachen nicht zum Opfer der Krise! Satndpunkt Brian Fabo

Von Brian Fabo 29.4.2014 Brian Fabo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Central European Labour Studies Institute in Bratislava/Slovakia. Er hat einen Master-Titel in Politischer Wissenschaft an der Central European University (CEU) in Budapest erworben. Außerdem hat er einen Abschluss an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn/Tschechien erworben.

Die Europäische Union sollte sich mehr um seine jüngeren und schwächeren Mitgliedsländer kümmern, meint Brian Fabo. Gerade die östlichen Länder, wie die im Verhältnis kleine Slowakei, seien häufig als Mitglieder "zweiter Klasse" behandelt worden. Dabei tragen auch sie die Folgen der Eurokrise mit.

In diesem kurzen Beitrag möchte ich auf die slowakische Einstellung zur europäischen Einheit eingehen und dafür plädieren, dass die Zentren von EU und Eurozone sich mehr um ihre östliche Peripherie kümmern.

Um meinen Punkt verständlich zu machen, möchte ich kurz den Zusammenhang skizzieren. In den 1990er-Jahren wurde die Slowakei als Nachzügler in Bezug auf die europäische Integration angesehen, da die autoritäre Regierung von Vladimír Mečiar, der in dieser Zeit das Land regierte, weder bereit noch in der Lage war, die für einen EU-Beitritt notwendigen Reformen ins Werk zu setzen. Nachdem allerdings Mečiars Regierung 1998 zusammengebrochen war, verlor die Slowakei keine Zeit, holte den Rückstand gegenüber den Nachbarn auf und war in der ersten Runde der EU- Osterweiterung 2004 dabei. Die Ambitionen der Slowakei gingen aber darüber hinaus und so übernahm das Land 2009 den Euro als seine Währung – abgesehen von Slowenien deutlich vor den anderen postkommunistischen Ländern.

Von da an wurde es allerdings ein bisschen schwieriger. Das 2010 neu gewählte Parlament weigerte sich, die Garantien der bisherigen Regierung in Bezug auf die Unterstützung Griechenlands zu übernehmen. Der Streit verschärfte sich ein Jahr später, als die Partei "Freiheit und Solidarität", die Teil der Regierungskoalition war, sich weigerte, für die slowakische Teilnahme am dauerhaften Rettungsschirm ESM (European Stability Mechanism) zu stimmen. Die Premierministerin Iveta Radičová verband die Abstimmung darüber mit der Vertrauensfrage – und verlor. Die Regierung brach daraufhin auseinander, so dass es Anfang 2012 zu Neuwahlen kam.

Obwohl die aus diesen Wahlen hervorgegangene Regierung der Sozialdemokraten die slowakische Teilnahme am ESM umgehend beschloss, hinterließ das slowakische Verhalten, das als Mangel an Solidarität interpretiert wurde, bei dem westeuropäischen Publikum einen bitteren Nachgeschmack. Die Slowaken wurden als eine opportunistische Nation gesehen, die sehr gerne bereit war, die süßen Früchte der Integration in Form von Milliarden Euro schweren Transfers aus dem EU-Haushalt, dem Zugang slowakischer Bürger zum attraktiven westlichen Arbeitsmarkt und einer stabilen Währung zu genießen, aber nicht bereit war, in Zeiten der Krise ihren Beitrag zur Rettung der EU zu leisten. Richard Sulík, der Vorsitzende der Partei „Freiheit und Solidarität“, hatte dazu eine völlig andere Wahrnehmung: Er verwies darauf, dass die Slowaken dreimal weniger verdienten als die Griechen und dass ihre Renten viermal niedriger waren als deren Pensionen, und dass es die Griechen waren, nicht die Slowaken, die über ihre Verhältnisse gelebt hatten.

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Allerdings gehen Sulíks Argumente in die falsche Richtung, denn obwohl die Slowaken tatsächlich relativ arm sind, sind sie heute viel näher am Wohlstand der westlichen Nationen als noch vor zehn Jahren. Und es geht nicht nur um die Wirtschaft. Die politische Stabilität, die Entwicklung des zivilgesellschaftlichen Sektors und das Funktionieren der privaten und öffentlichen Institutionen ist sehr viel weiter fortgeschritten als in den postkommunistischen Staaten, die außerhalb der EU geblieben sind. Eine nachhängende Entwicklung der Slowakei befreit das Land daher nicht von den Pflichten gegenüber dem europäischen Projekt, denn ohne EU ginge es ihm deutlich schlechter. Zwischenzeitlich haben die Griechen in der Krise stark gelitten und ihr Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt gemessen in Kaufkraftparitäten mittlerweile auf demselben Niveau wie das der Slowaken (http:// www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70546/bip-pro-kopf).

Dennoch ist es genauso ungerechtfertigt, den Slowaken opportunistisches Verhalten gegenüber der EU zu unterstellen. 92,46 Prozent der Slowaken stimmten in der Volksabstimmung 2003 (http://volby. statistics.sk/ref/ref2003/webdata/en/tab/tab3_a.htm) für den Beitritt zur EU. Das war nicht nur das erste erfolgreiche Referendum in der Geschichte des Landes, sondern auch das mit dem höchsten Anteil an "Ja"-Stimmen aller Beitrittsreferenden in Mittelosteuropa. Die Slowakei stand eine Reihe von Jahren harte Reformen und mehrere Austeritäts-Runden durch, um die Kriterien für den Beitritt zur EU und zur Eurozone zu erfüllen. Im Zusammenhang mit der ESM-Abstimmung setzte die Premierministerin Radičová ihre gesamte politische Karriere aufs Spiel, um zu erreichen, dass die Slowakei sich den EU-Partnern gegenüber verantwortlich verhält.

Obwohl viele "alte" Mitglieder der EU die Slowakei als Mitglied zweiter Klasse behandelten, indem sie die Öffnung ihres Arbeitsmarktes für lange Zeit hinauszögerten, unterstützt eine Mehrheit der Slowaken weiterhin sowohl die EU als auch die gemeinsame Währung, wie die Umfragen von Eurobarometer vom November 2013 (http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb80/eb80_en.htm) zeigen. Es mag ja sein, dass Richard Sulík für die Euroskeptiker ein Superstar ist, aber seine Partei hat laut Umfragen (http://spectator.sme.sk/articles/view/53364/10/poll_one_in_five_will_vote_in_ep_elections. html) vom März 2014 mittlerweile mit der in der Slowakei gültigen Fünfprozenthürde zu kämpfen. Demgegenüber führen die regierenden Sozialdemokraten, deren Politik man etwas vereinfacht als "Wir machen es wie die Deutschen" charakterisieren könnte, die Umfragen unangefochten an. Die Slowaken haben wiederholt ihren Willen, ihre Ausdauer und ihren Mut bewiesen, um auch in schwierigen Zeiten ein loyaler Partner der EU zu sein. Trotz einiger Auf und Abs erinnert die Einstellung der Slowaken zur europäischen Einigung an das Thema von Beethovens 16. Streichquartett: "Es muss sein!". Das Schicksal der Slowakei ist von dem der Europäischen Union nicht zu trennen.

Um auf die Eingangsthese dieses Artikels zurückzukommen, möchte ich betonen, dass Verantwortlichkeit keine Einbahnstraße ist. Es ist unbestritten, dass es innerhalb der Eurozone große wirtschaftliche Unterschiede gibt. Da ist zum einen der Unterschied in der Produktivität zwischen dem Zentrum der Eurozone, namentlich Deutschland, und der Peripherie. Außerdem bestehen große Unterschiede im Lebensstandard der Menschen, die im Zentrum leben, und denen an den Rändern der Eurozone wie der Slowakei oder den baltischen Staaten. So reicht der Bruttolohn in den schwach entwickelten Teilen der Slowakei kaum an das Niveau der Minijobs in Deutschland heran und die Folgen fehlender Investitionen in die Infrastruktur, die Bildung und die Verwaltungskapazitäten werden immer offensichtlicher. Der vielversprechende Trend einer Annäherung der Lebensbedingungen hat sich seit dem Ausbruch der Eurokrise in Nichts aufgelöst. Es besteht die reale Gefahr, dass Länder wie die Slowakei auf Dauer gegenüber dem Zentrum der Eurozone unterentwickelt bleiben. Schon jetzt ist zu beobachten, dass vor allem junge Slowaken das Vertrauen in die Zukunft ihres Landes verlieren.

Ich denke, die EU und die Eurozone müssen das Problem der Wohlstandsunterschiede effektiv anpacken, wenn wir aus der Krise einiger und stärker hervorgehen wollen. Zugegeben: Es gibt schon beschränkte finanzielle Transfers vor allem in Form der Strukturfonds. Diese sind für die slowakische Wirtschaft die wichtigste Quelle öffentlicher Investitionen im Land und von daher äußerst bedeutsam. Auch hat die Slowakei von dem guten Regelwerk des Gemeinschaftsrechts, dem sogenannten acquis

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 41 communautaire, profitiert. Zusätzlich sind wegweisende Antworten auf die Krise im Zusammenhang mit dem Programm "Europa 2020" (http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische- union/43011/die-sicherung-des-wohlstands) entstanden, die sich auf herausragende Themen wie Erziehung, Inklusion und die Beschäftigung junger Menschen beziehen.

Dennoch: Es muss noch mehr geschehen. Jetzt, nachdem das Schlimmste der EU-Krise überstanden ist, ist es Zeit für die Union und die Eurozone einen Gang hochzuschalten und sicherzustellen, dass die Krise keine langfristige Belastung für die schwachen Mitgliedstaaten wie die Slowakei darstellt. Sicherlich muss man in Rechnung stellen, dass den europäischen Institutionen Grenzen gesetzt sind. Hier sind sowohl die Beschränkungen des EU-Budgets zu nennen als auch die zunehmende Entfremdung der Öffentlichkeit, die die EU als ineffektiv und zu bürokratisch ansieht. Dennoch ist eine klare Selbstverpflichtung nötig, die sicherstellt, dass die Lücke zwischen den Bürgern der Slowakei und denen der westeuropäischen Staaten mit der Zeit nicht größer, sondern kleiner wird.

Die praktische Umsetzung eines solchen Ziels muss auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Die Finanztransfers werden auch in Zukunft von größter Bedeutung sein, damit die Slowakei die Bereitstellung öffentlicher Güter, unter deren Mangel das Land seit einem Vierteljahrhundert leidet, vornehmen kann. Hier müssen sich allerdings auch die Slowaken selbst aktiv einbringen. Die Mittel, die das Land erhält, könnten besser verwendet werden, und hier spielt auch der Kampf gegen die Korruption eine Rolle. In diesem Zusammenhang ist der Know-how-Transfer von Kompetenzen und erfolgreichen Beispielen zwischen den Verwaltungen innerhalb der EU von großer Bedeutung. Notwendig ist auch ein gemeinsames Handeln im Hinblick auf die Steuergesetzgebung, damit kleine und offene Volkswirtschaften wie die der Slowakei nicht unter den Steueroptimierungsstrategien der multinationalen Konzerne leiden. Diese suchen sich nämlich gerne Schlupflöcher in den Binnenmarktregeln, um ihre Gewinne dort zu versteuern, wo die Abgaben am geringsten sind – und nicht dort, wo die Gewinne erarbeitet werden.

Man wird diese Aufgaben nur anpacken können, wenn es eine klare und starke Verpflichtung der EU und der Eurozone gibt, dafür zu sorgen, dass die Slowaken die Früchte der europäischen Integration genießen können – genau wie dies die Bürger der Staaten, die schon seit Jahrzehnten der EU angehören, auch tun. Wehren muss man sich gegen nationale Egoismen und gegen Stereotype, in denen die Interessen der Slowaken, Polen oder Litauer – oder auch der Spanier, Griechen und Italiener – gegen die der Deutschen, der Niederländer oder der Belgier ausgespielt werden. Wenn die Staaten, die durch eine gemeinsame europäische Staatsbürgerschaft und eine einheitliche Währung zusammengehalten werden, sicherstellen, dass die Zukunft der Slowaken und anderer "Kleiner" in der Krise nicht unter die Räder kommt, dann kann die Gemeinschaft sich darauf verlassen, dass die Slowaken das nächste Mal, wenn sie für das gemeinsame Europa um ein Opfer gebeten werden, antworten: "Ja, es muss sein!"

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Ungarn: Bedroht der Rechtspopulismus die europäische Integration? Standpunkt András Hettyey

Von András Hettyey 29.4.2014 Dr. András Hettyey ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ungarischen Instituts für internationale Angelegenheiten in Budapest. Er hat drei Mastertitel an der ELTE-Universität sowie an der deutschsprachigen Andrássy-Universität erworben, an der er auch in Politikwissenschaft zum Dr. phil. promoviert wurde.

Kaum ein europäisches Land steht der freien Marktwirtschaft so skeptisch gegenüber wie Ungarn. Die Ungarn wollen einen starken Nationalstaat, sagt András Hettyey, dabei sei das Land auf Investitionen von außen und vor allem aus der EU angewiesen. Die eurokritische Rhetorik der regierenden Parteien sei daher oft nur "Schall und Rauch".

"Vorsicht, Kapitalismus!" Als im November 2013 das bekannte Wirtschaftsmagazin Forbes das erste Mal in Ungarn erschien, machte der Herausgeber mit dieser provokativen Aussage Werbung für das Blatt. Der Slogan war ein Volltreffer. Denn wenn etwas den allermeisten Ungarn suspekt ist, dann ist es Politik, fettarmes Essen – und eben Kapitalismus. Selbst unter hochgebildeten, konservativen Jugendlichen und Intellektuellen, die in ihrer Freizeit eifrig nach den günstigsten Angeboten für Smartphones suchen, gehört es zum guten Ton, den freien Wettbewerb, ausländische Investoren und erfolgreiche Geschäftsmänner mit Argwohn zu betrachten. Eine tiefe, ja fast selbstverständliche Skepsis gegenüber dem freien Wettbewerb ist eine der wichtigsten Quellen, aus denen der ungarische Rechtspopulismus schöpft. Die Europäische Union als solche wird hingegen weniger als Bedrohung angesehen, und dient somit weniger als Feindbild.

Zunächst die Zahlen. Eine Umfrage des Pew Research Center (The Pew Global Attitudes Project (http://www.pewglobal.org/2009/11/02/end-of-communism-cheered-but-now-with-more-reservations/)) aus dem Jahre 2009 kam zu dem Ergebnis, dass in Ungarn nur 31 Prozent der Befragten der Meinung ist, dass ein marktwirtschaftlichen System ein besseres Leben ermögliche. 65 Prozent waren der entgegengesetzten Meinung. Zum Vergleich: in Polen waren 70 Prozent der Meinung, dass man in einer Marktwirtschaft besser dran sei. Eine ähnliche Umfrage der Europäischen Bank für Wiederaufbau (EBRD) aus dem Jahr 2010 (Life in Transition (http://www.ebrd.com/pages/research/economics/data/ lits.shtml)) zog dasselbe Fazit. Nur etwa 30 Prozent der Ungarn antworteten auf die Frage, ob das marktwirtschaftliche System gegenüber anderen Systemen zu bevorzugen sei, mit Zustimmung. Was die EU betrifft, so sind die Ungarn laut Eurobarometer-Umfragen weiß Gott keine glühende Integrationsbefürworter, das Vertrauen gegenüber Brüssel bewegt sich allerdings im osteuropäischen Durchschnitt und somit über den Durchschnitt vieler westeuropäischen Gesellschaften.

Die Antwort auf die Frage, wieso die Ungarn so kritisch mit der Marktwirtschaft (und wieso gleichzeitig rechtspopulistische Strömungen so stark) sind, liefern die Erhebungen gleich mit. Nur acht (!) Prozent der Befragten in der Pew-Studie gaben an, dass sie aktuell besser lebten, als in den Jahren des Kommunismus. 72 Prozent fühlten sich schlechter gestellt. An dieser Perzeption konnten die Milliarden, die die EU durch Kohäsions- und sonstige Mittel nach Ungarn schickt, scheinbar wenig ändern. In Polen fanden immerhin 47, in der Tschechischen Republik 45 Prozent, dass sie besser lebten als unter Jaruzelski, Husak und Co. Kein Wunder, dass ein ungarisches Forschungsinstitut anhand Umfragen sowohl 1999 als auch 2006 feststellen konnte, dass der populärste ungarische Politiker des 20. Jahrhunderts János Kádár ist, der langjährige starke Mann des kommunistischen Ungarns.

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Unter Kádár gab es keinen Kapitalismus, stattdessen einen starken Staat, der vieles regelte: es gab Vollbeschäftigung und ein großzügiges soziales Netz. Vieles von damals wird heute zurückgewünscht. Dass dieses planwirtschaftliche System Ungarn Ende der 1980er-Jahre in den wirtschaftlichen und politischen Bankrott führte, wird dabei ausgeblendet. Was bleibt, ist ein verklärendes und vereinfachendes Bild der Kádár-Zeit, als der Staat noch allen unter die Arme griff und niemand zurückgelassen wurde.

Wenn also der Kapitalismus in Ungarn skeptisch betrachtet wird, so bringt man dem Staat im Gegenzug viel Vorschussvertrauen entgegen. Einen starken und beschützenden Staat wünschen sich auch noch heute viele in Ungarn. Die EBRD-Umfrage hat herausgefunden, dass trotz (oder gerade wegen?) der Wirtschaftskrise das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung und in das Parlament in den Jahren 2006-2010 stark gestiegen ist. Das Vertrauen in Banken und Investoren sank in der gleichen Periode dramatisch. Dass die Bevölkerung sich einen starken Staat und ein umfangreiches soziales Netz wünscht, hat natürlich auch die Politik seit langem registriert. Dabei ist der Staat in Ungarn schon jetzt alles andere als schwach. Die Steuereinnahmen des Staates im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt waren 2011 mit 37 Prozent nur unbedeutend geringer als in Deutschland (40 Prozent).

Die meisten Wähler haben allerdings scheinbar kein Problem mit dem jetzigen System. Dementsprechend scheinen die meisten Politiker den Staat ebenfalls als Teil der Lösung zu betrachten. Da passt es ins Bild, dass die aktuelle Regierung seit 2010 eine Reihe von Verstaatlichungen durchgeführt hat. Betroffen waren – unter anderem - private Rentenversicherungen, der Handel mit Zigaretten oder das Herausgeben von Schulbüchern. Der Staat hat sich zudem an mehreren großen Firmen Beteiligungen gesichert (oder existierende Beteiligungen ausgebaut), unter anderem an der Ölfirma MOL, am Fahrzeughersteller Rába oder an den Budapester Wasserwerken. Und wenn etwas nicht verstaatlicht werden kann, dann muss es zumindest dem Staat gehorchen. Das Herzstück des Programms der regierenden Fidesz-Partei für die Wahlen im April 2014 war die "rezsicsökkentés", die von staatlicher Seite verordnete Senkung der Energiepreise.

Gepaart wird diese zunehmende staatliche Lenkung mit einer populistischen Rhetorik seitens der Regierungspartei Fidesz und der rechtsradikalen Oppositionspartei Jobbik gegen den Kapitalismus in all seinen Erscheinungsformen. Oft wird dabei "die EU" oder "Brüssel" als Handlanger des Kapitalismus mit einbegriffen. "Die Multis aus Brüssel [sic!], Bankiers und Bürokraten unternehmen einen neuen Angriff gegen ungarische Familien, aber wir werden weder Unrecht noch doppelte Standards akzeptieren und weichen nicht einer Politik der Extraprofite und Habgier", sagte der sichtlich auf Wahlkampfmodus geschaltete Premier Viktor Orbán im Februar 2014. Obwohl eine Reihe von Studien darauf hinweisen, dass die Investitionen der "Multis" nicht nur Arbeitsplätze schaffen, sondern auch ungarische Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU) zu mehr Aufträgen verhelfen, ließ Orbán verkünden, dass ausländische Konzerne, die nur ungarische Firmen ruinieren, nicht willkommen seien. Es ist wohl kein Zufall, dass die allermeisten hochrangigen Fidesz-Politiker in ihrem Berufsleben ausschließlich in der Politik gearbeitet haben. Erfahrungen im privaten Wettbewerb haben nur die Wenigsten von ihnen.

Auch die populistische, rechtsextremistische Jobbik-Partei sieht in dem Staat die Lösung aller Probleme. Da die Einwanderung in Ungarn wegen sprachlicher Barrieren keine große Sprengkraft hat und mithin das Thema "Masseneinwanderung" nicht zur politischen Mobilisierung taugt, hat sich die Jobbik einem Wirtschaftspopulismus verschrieben, der auf die armen Ungarn zugeschnitten ist, deren einzige Hoffnung ein starker Staat ist. Das Wahlprogramm der Partei (Zitat: "das Modell des globalen Kapitalismus ist gescheitert") möchte zwar die Vertiefung der Integration in der EU stoppen, und eher ein Europa der Nationen (was immer das bedeuten soll) verwirklichen – aber einen Austritt propagiert auch die Jobbik nicht.

Natürlich ist vieles von dieser populistischen Rhetorik – vor allem was die Fidesz betrifft – nur Schall und Rauch. Ungarn ist wie fast kein zweites Land auf EU-Fördermittel und ausländische Investoren angewiesen. Dementsprechend hat die aktuelle Regierung etwa mit Steuersenkungen das Land

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 44 attraktiver für ausländisches Kapital gemacht. Im Großen und Ganzen fühlen sich in Ungarn die Investoren (und insgesamt die "Kapitalisten") wohl, und machen gute Geschäfte. Auch gibt es eine Reihe von starken ungarischen „Multis“, die etwa auf dem Balkan starke Positionen haben. Dennoch: weil es der Politik genehm ist, stimmt sie immer wieder gerne in die populistische Antikapitalismus- und manchmal auch Anti-EU-Rhetorik ein. Dies hat zur Folge, dass 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus in Ungarn eine Atmosphäre vorherrscht, in dem die meisten Leute noch immer meinen: im Zweifel soll es lieber der (National-)Staat richten.

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Mehr Subsidiarität in der EU - aber bitte an den richtigen Stellen! Standpunkt Hanna Lorenzen

Von Hanna Lorenzen 29.4.2014 Hanna Lorenzen ist bei der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa verantwortliche Mitarbeiterin für den Bereich Seminare und Konferenzen. In ihren Zuständigkeitsbereich fallen mehrsprachige Bildungsprojekte zu aktuellen europapolitischen Themenschwerpunkten. Sie studierte Europawissenschaften an den Universitäten Maastricht, Glasgow und der Humboldt- Universität zu Berlin.

Unser Leben wird seit langem nicht mehr nur durch Lokal- und Bundespolitik bestimmt, auch auf europäischer Ebene fallen wichtige Entscheidungen. Wer was auf welcher Ebene regelt, ist nicht immer eindeutig geklärt, meint Hanna Lorenzen. Sie plädiert für eine Neuausrichtung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und den Nationalstaaten.

Stellten wir uns die Beziehung zwischen der europäischen und den nationalen, regionalen und lokalen Entscheidungsebenen als Partnerschaft vor, so wäre das Subsidiaritätsprinzip der Kontrollmechanismus über die Einhaltung des Ehevertrags in puncto Rollenverteilung in der Kindererziehung und Aufteilung der Haushaltsaufgaben. In der EU regelt das Subsidiaritätsprinzip die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Es folgt dabei der auf den ersten Blick einfachen Logik, dass immer derjenige zuständig ist, der die Aufgabe am besten erledigen kann. In einem europäischen Binnenmarkt sollte die europäische Ebene darüber entscheiden, zu welchen Zöllen in China produzierte Windräder nach Europa eingeführt werden. Es sollte hingegen der lokalen Verwaltung überlassen bleiben, wie die Müllabfuhr geregelt wird. Seit dem Vertrag von Lissabon haben die nationalen Parlamente mehr Mitspracherechte bezüglich der Subsidiaritätsprüfung. Die Kommission ist seither verpflichtet, die nationalen Parlamente über jeden geplanten Rechtsakt zu informieren. Wenn eine bestimmte Anzahl der nationalen Parlamente der Meinung sind, dass die EU ihre Kompetenzgrenzen überschritten hat, so können sie unter einer vorgegebenen Frist eine Subsidiaritätsrüge aussprechen, welche die Kommission zu prüfen hat.

In der praktischen Umsetzung weist der neue Kontrollmechanismus noch einige Schwächen auf. Erstens, mangelt es an der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Parlamenten. Für viele scheint die vorgegebene Frist von acht Wochen zu kurz, um die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu prüfen und sich anschließend mit anderen Parlamenten über die gemeinsame Auslegung auszutauschen. Zu oft mangelt es an einem gemeinsamen Verständnis von Subsidiarität, das nicht parteiengefärbt ist oder nationale Befindlichkeiten über das europäische Gemeininteresse stellt. Dies führt in der Folge dazu, dass die Parlamente bisher nur wenige Subsidiaritätsrügen bei der Europäischen Kommission einreichen. Zweitens ist die Europäische Kommission zudem nicht verpflichtet, einen Vorschlag aufgrund einer Subsidiaritätsrüge zu ändern.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 46 Ohne Frage nach dem "Was in Europa?" keine Antwort auf das "Wer in Europa?"

Es fällt den nationalen Parlamenten verständlicherweise schwer, zwischen der Frage nach der Einhaltung der Subsidiaritätsklausel und dem konkreten Inhalt eines Gesetzesentwurfs zu unterscheiden. So steht für die nationalen Parlamentarier oftmals weniger die Frage im Vordergrund, ob die EU im Begriff ist, ihre Kompetenzen zu überschreiten, sondern sie beurteilen vielmehr die politische und nationale Erwünschtheit eines Gesetzentwurfs. Die Auslegung des Subsidiaritätsprinzips entbehrt konkreter Leitlinien. Es bleibt unklar, ob die Subsidiaritätsprüfung in erster Linie ein juristisches Mittel ist, um die EU in ihre Kompetenzschranken zu verweisen oder ob es eine Möglichkeit für die nationalen Parlamente darstellt, frühzeitig auf politische Inhalte innerhalb der EU Einfluss zu nehmen. Der Vertrag von Lissabon gibt nicht eindeutig vor, ob die nationalen Parlamente nur mitbestimmen sollten, wer in einem Politikbereich aktiv wird, oder ob sie auch eine tragenden Rolle in den Fragen nach dem was und wie übernehmen. Da über die Einhaltung der Kompetenzgrenzen bereits der Europäische Gerichtshof entscheidet, wenn man ihm die Frage in Form einer Klage stellt, liegt nahe, dass den nationalen Parlamenten auch ein inhaltlicher Gestaltungsspielraum eingeräumt wird.

Strittige Beispiele zum Thema Subsidiarität in Europa machen klar, dass die Kompetenzfrage nach dem ‚wer‘ niemals klar von den Fragen nach dem ‚was‘ getrennt werden kann. Wenn die Kommission einen Vorschlag zur Vereinheitlichung bestimmter Arbeitskleidung macht, so spielt das Ziel dabei eine entscheidende Rolle. Zielt die Vereinheitlichung darauf ab, gemeinsame Produktstandards bezüglich der Produktsicherheit und Qualität zu gewährleisten und damit Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern, ist die europäische Handlungsebene gefragt. Ist die Vereinheitlichung dagegen gedacht, Sozialstandards zu harmonisieren, so ist ein europäischer Handlungsbedarf prinzipiell nicht gegeben. Unterschiedliche Sozialstandards haben ebenso wie unterschiedliche Lohnniveaus Einfluss auf die relative Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Sie stellen jedoch keine Hemmnisse im grenzüberschreitenden Handel dar.

Eine Harmonisierung widerspräche demnach dem Subsidiaritätsprinzip. Mit der Frage nach Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips geht auch die Frage nach der Zielsetzung einer Kompetenzverlagerung einher. Die nationalen Parlamente müssen ihre Rolle in der Frage nach Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips auch auf die Prüfung der Inhalte ausweiten können. Nur so spielen sie auch politisch eine aktivere Rolle in der europäischen Gesetzgebung.

Wo benötigen wir mehr und wo weniger EU-Kompetenz?

In Großbritannien und den Niederlanden hat der Reflexionsprozess über die bestehende Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedsländern bereits begonnen. Beide wollen mit diesem Prozess prüfen, ob einige Kompetenzbereiche der EU vielleicht doch besser auf der nationalen Ebene aufgehoben wären. Diese Reflexion ist heikel, da sie an den Grundfesten des europäischen Vertragswerks rüttelt. Vielleicht ist dieser Reflexionsprozess jedoch auch lange überfällig und birgt Chancen für eine eindeutigere Kompetenzordnung in Europa. Die europäische Finanz- und Verschuldungskrise hat offenbart, dass wir viel zu oft die höchsten Gerichte in politische Fahrwasser führen, indem wir sie aufgrund fehlender gesetzlicher Grundlagen über inhaltliche Kompetenzfragen entscheiden lassen, anstatt sie politisch zu diskutieren und zu manifestieren. Die Krise hat uns vor Augen geführt, dass die Glaubwürdigkeit des europäischen Projekts gefährdet ist, wenn die EU-Bürger den Eindruck gewinnen, dass ihre nationalen Parlamente schwerwiegende europäische Gesetzesvorschläge durchwinken, statt sie sorgfältig zu prüfen.

In seiner Rede zur Lage der Union im September 2013 machte Kommissionspräsident José Manuel Barroso deutlich, dass die EU ihre zukünftigen Kompetenzfelder eher in den großen als in kleinteiligen Fragestellungen sehen muss. Die Krise machte uns einige der größten Strukturprobleme der EU schmerzhaft klar: Wir haben eine gemeinsame Währung, aber keine einheitliche Finanzpolitik. Wir

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 47 haben eine gemeinsame Wettbewerbspolitik, aber große Gefälle in der Wachstums- und Beschäftigungspolitik. Auf Dauer geht das nicht zusammen.

Genau hier müssen wir die zukünftigen Handlungsräume der europäischen Ebene sehen und weniger in der Regulierung von Apfelgrößen und Ölkännchen. Damit sich die EU langfristig den größeren Fragen widmen kann, wo europäisches Handeln notwendig ist, muss auch an der Kompetenzverlagerung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten gearbeitet werden.

Die politische Wegbereitung zur Neuausrichtung der EU-Kompetenzen kann auch auf den nationalen, regionalen und lokalen Ebenen vorbereitet werden. Vor allem die nationalen Parlamente spielen in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Sie können entscheidende Impulse für eine klar definierte Kompetenzverteilung zwischen der nationalen und der europäischen Ebene setzen. Die nationalen Parlamente sollten europäische Politik mithilfe der Subsidiaritätsrüge aktiv mitgestalten. Dies kann Europa nur nutzen, wenn die Parlamente nicht allein prüfen, ob der Grundsatz der Subsidiarität gewahrt wurde, sondern auch auf der Grundlage inhaltlicher Fragen. Die nationalen Parlamente werden bis heute um ein Vielfaches bürgernäher wahrgenommen als das Europäische Parlament. Solange das so ist, gilt es auch für die nationalen Parlamente, europäischer zu werden: In ihrer Denkweise, ihrer Zusammenarbeit und mit einem unverstellten Blick auf die politischen und wirtschaftlichen Realitäten in Europa. Vor allem sollten sie darauf hinarbeiten, dass die EU für Probleme, die auf europäischer Ebene tatsächlich effektiver gelöst werden können, auch die Kompetenzen für diese Politikfelder übertragen bekommt und sich im Gegenzug aus kleinteiligen Regulierungen eher heraushält. Wo eine europaweite Regulierung von Traktorensitzen und anderen Produktstandards notwendig ist, sollten die nationalen Parlamente die Urheber dieser Vorschläge klar benennen. Häufig sind die kuriosesten Vorschläge über EU-Verordnungen auf die Wünsche eines Landes oder einer Region zurückzuführen. Hier sollten sich die Akteure der nationalen und regionalen Ebene ebenso in der Aufklärungspflicht gegenüber den Bürgern über die Sinnhaftigkeit einer solchen Regulierung auf europäischer Ebene sehen wie ihre europäischen Amtskollegen. Wir brauchen mehr Subsidiarität – jedoch an den richtigen Stellen!

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"Wir sind nicht die Melkkuh Europas!" Die öffentliche Meinung in den Niederlanden in den Zeiten der Krise - Standpunkt Caspar F. van den Berg

Von Caspar F. van den Berg 29.4.2014 Dr. Caspar F. van den Berg ist Assistenzprofessor am Institut für öffentliche Verwaltung in Den Haag. Er unterrichtet dort unter anderem Politikwissenschaften und Public Management.

Das Verhältnis der Niederländer zur Europäischen Union ist in den letzten Jahren merklich abgekühlt, beobachtet Caspar F. van den Berg. Das liege jedoch nur zum Teil an Europa selbst: Die Vorbehalte gegen die europäische Integration mischen sich mit Kritik an der nationalen politschen Klasse und eigenen Erfahrungen der Frustration und Ohnmacht.

Einführung

Seit dem Beginn der Zusammenarbeit von sechs europäischen Staaten 1958, die zur heutigen Europäischen Union führte, waren die Niederlande immer ein Motor und ein Unterstützer der europäischen Integration. Bis heute zeigen die Umfragen von Eurobarometer, dass die Mehrheit der Niederländer die Überzeugung vertritt, die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU sei eine gute Sache. Zwei Ereignisse in den letzten Jahren, nämlich das Referendum über die Europäische Verfassung 2005 und die Krise in der Eurozone seit 2009, haben aber deutlich gemacht, dass die Menschen in den Niederlanden mittlerweile kritischer über die europäische Integration denken. In der öffentlichen Diskussion kam die Meinung auf, die Niederlande seien zur "Melkkuh" Europas geworden. Damit wurde zum einen darauf Bezug genommen, dass die Niederlande ein Nettozahler in der EU sind, zum anderen wurde der seit 2010 geleistete niederländische Beitrag zu den europäischen Rettungsmechanismen EFSF und ESM in Frage gestellt. Das Bild von der Milchkuh soll die These unterstützen, die Grenze der Zahlungsfähigkeit der Niederlande sei erreicht und das Land habe bereits mehr beigetragen, als es eigentlich müsse, grenzüberschreitende Solidarität habe ihre Beschränkungen.

In diesem Beitrag soll die niederländische Einstellung gegenüber der Europäischen Union sowie die Debatte über die europäische Integration in Zeiten der Krise dargestellt werden. Zu diesem Zweck sollen zuerst die beiden Referenzpunkte, das Referendum 2005 und die Eurozonen-Krise, beleuchtet werden, um dann zu erörtern, welche Konsequenzen diese Ereignisse für die niederländische Politik und für die öffentliche Meinung in Holland haben.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 49 Der Weckruf 2005

Durch den 2004 unterzeichneten Verfassungsvertrag der damals 25 Mitgliedstaaten sollten die verschiedenen die EU konstituierenden Verträge durch ein einziges Dokument ersetzt werden. Der Vertrag schlug institutionelle Reformen auf europäischer Ebene sowie eine klarere Aufteilung der Verantwortlichkeiten und Kompetenzen der europäischen Institutionen beziehungsweise der Mitgliedstaaten vor. Als Teil des Ratifizierungsprozesses waren auch die Franzosen und die Niederländer aufgefordert, dem Vertrag in einem Referendum zuzustimmen. Am 29. Mai 2005 stimmte eine Mehrheit der französischen Bevölkerung aber gegen die Europäische Verfassung und drei Tage später wiesen die Niederländer den Vertrag in einer Volksabstimmung mit 62 gegenüber 38 Prozent ebenfalls zurück. Das französische "non" und das holländische "nee" waren der Anfang einer Reflexionsphase, in der die Mitgliedstaaten überlegten, wie man mit dem kontroversen Vertrag im Weiteren umgehen soll. Erst die deutsche Ratspräsidentschaft im Jahr 2007 beendete diesen Stillstand. In den Niederlanden war die Zurückweisung des Vertrags ein beachtlicher Schock für die politische Elite und zeigte eine wichtige Veränderung in der öffentlichen Einstellung der Niederländer gegenüber der EU: Die Bürger bewegten sich weg vom "permissiven Konsens" und hin zum "einschränkenden Dissens".

Bis 2005 waren Europa und die europäische Integration in den Niederlanden recht selten Gegenstand von Parlamentsdebatten oder Zeitungskommentaren, genauso wenig kamen sie in den alltäglichen Gesprächen der Menschen vor. Wir nennen dieses Phänomen "permissiven Konsens", weil die Bürgerinnen und Bürger weder für noch gegen die europäische Integration eingestellt waren, sondern sie einfach hinnahmen. Dies führte dazu, dass die politische Elite sich wenig Mühe gab, ihre Europapolitik zu erklären. Auch in der Konkurrenz der Parteien war Europa kein Thema. Zwei Gründe führten zu diesem permissiven Konsens: zum einen das generell große Vertrauen der Bürger in die politische Elite und zum anderen die Tatsache, dass es sich bei den europäischen Themen in dieser Zeit vor allem um eher technische Fragen mit geringen Auswirkungen auf das tägliche Leben der Menschen handelte. Die niederländischen Politiker fanden es sicherlich ganz angenehm, dass die Bürger ihnen für die Europapolitik einen Blankoscheck ausstellten, sie hätten allerdings bedenken sollen, dass eine solche Situation nicht für immer anhält. Als die Referenden über den Vertrag von Maastricht 1992 in Frankreich und in Dänemark ein enttäuschendes Ergebnis erzielten, sahen viele Kommentatoren dieses schon als ein erstes Bröckeln des permissiven Konsenses.

Das Ergebnis des niederländischen Referendums 2005 hatte zwei wichtige Konsequenzen, eine politisch-administrative und eine gesellschaftspolitische. Auf der politisch-administrativen Seite begriff man nun, dass "Europa" Teil des normalen innenpolitischen Diskurses werden müsse und dass die Niederlande auf der europäischen Bühne als kritischerer Partner aufzutreten hätten. Die Vorgaben, die die niederländischen Beamten für ihre Treffen und Verhandlungen auf EU-Ebene mit auf den Weg bekamen, wurden nun klarer definiert und waren weniger integrationsfreundlich. Das niederländische Parlament kümmerte sich stärker um EU-Fragen und wollte die EU zu einer weiteren Ebene des Regierungshandelns machen, genau wie das mit der regionalen und der lokalen Regierungsebene zu Hause auch der Fall war. Die Regierung verhandelte denn auch hart mit den europäischen Partnern, als der Verfassungsvertrag schließlich in den Vertrag von Lissabon gegossen wurde.

Auf gesellschaftspolitischer Ebene wurde der Kluft zwischen "Europa" und der politischen Elite auf der einen Seite und den Bürgern auf der anderen Seite große Aufmerksamkeit gewidmet. Generell war man der Meinung, der permissive Konsens sei deshalb verschwunden, weil die europäische Politik über rein technische Regelungen hinausgewachsen und ihre unmittelbaren Konsequenzen für die Bürger immer sichtbarer geworden seien. Hierbei handelte es sich auch um als negativ wahrgenommene Erscheinungen wie den Zustrom billiger Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa oder Wohlstandstransfers nach Südeuropa. Die verstärkte Sichtbarkeit Europas fand allerdings lange Zeit keine Berücksichtigung im öffentlichen Diskurs [1].

Das Missverhältnis zwischen der technokratischen EU-Ebene einerseits, auf der die großen Linien vieler Politikbereiche entschieden werden, und der nationalen Ebene andererseits, auf der die

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 50 gesellschaftliche und politische Debatte stattfindet, führte zu einer Trennung von Politikformulierung, die sich auf europäischer Ebene vollzieht, und politischer Debatte, die auf nationaler Ebene stattfindet. Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass die nationale Demokratie durch die europäische Integration beschädigt wird, da die Rahmensetzung auf europäischer Ebene dem parteipolitischen Wettbewerb auf nationaler Ebene wenig Raum lässt. Dadurch dass die Ausformulierung der Politik sich immer mehr von der nationalen auf die europäische Ebene verlagerte, waren die Bürger im Ergebnis immer weniger in der Lage, die EU-Politiken, von denen sie betroffen waren und sind, zu beeinflussen. Auf nationaler Ebene gab es also Instrumente der Entscheidungsfindung, aber nichts zu entscheiden, auf europäischer Ebene Entscheidungen ohne Mitwirkungsmöglichkeiten für die Bürger. Daraus ist ein Legitimitätsproblem sowohl für die nationale wie für die europäische Ebene entstanden.

Entwicklungen seit Beginn der Wirtschaftskrise

Seit 2008 ist die Einstellung der Niederländer gegenüber Europa von weiteren Ereignissen beeinflusst worden: der Wirtschafts- und Finanzkrise Ende 2008, der Kreditkrise 2008/2009, der Eurokrise seit 2009 und seit September 2011 von den weitreichenden Rettungsprogrammen.

Wenn man fragt, wie und in welchem Maße diese Ereignisse die öffentliche Meinung in den Niederlanden im Hinblick auf die EU beeinflusst haben, muss man zuerst feststellen, dass der Anteil der Befürworter der niederländischen Mitgliedschaft in der EU dauerhaft größer ist als der der Gegner einer solchen Zugehörigkeit. Er lag und liegt laut Eurobarometer konstant über 60 Prozent (http://ec. europa.eu/public_opinion/cf/showtable.cfm?keyID=374&nationID=10,&startdate=1973.09&enddate=1995.05). Die rote Linie in der untenstehenden Grafik zeigt die Unterstützung der niederländischen EU- Mitgliedschaft zwischen 1973 und 2011. Allerdings heißt die Befürwortung der niederländischen Zugehörigkeit nicht, dass die Menschen leidenschaftliche Unterstützer der EU sind. Auf die Frage, warum die Befragten denn der Ansicht seien, dass die EU-Mitgliedschaft ihres Landes eine gute Sache sei, weisen sie vielmehr auf die Tatsache hin, dass die Niederlande als kleines Land die EU brauchten und die EU-Mitgliedschaft eine notwendige Voraussetzung für wirtschaftliches Wohlergehen sei.

Die Gegner einer EU-Mitgliedschaft sind hingegen der Auffassung, dass die Niederlande zu viel Souveränität aufgäben und immer weniger in der Lage seien, ihre eigenen Angelegenheiten zu bestimmen, dass sie ihre Identität verlören und dass zudem zu viel Geld nach Brüssel fließe. Außerdem besteht die weitverbreitete und sich verstärkende Auffassung, dass die Niederlande für das Regierungsversagen in anderen Ländern zahlen müssten, während die Kaufkraft und die soziale Absicherung der hart arbeitenden Holländer selbst bedroht sei – verstärkt durch die generelle Angst, dass "andere" in die Niederlande kommen und dort die Jobs besetzen. [2]

Allerdings sind die Gegner einer EU-Mitgliedschaft nicht grundsätzlich anti-europäisch. Auch sie räumen ein, dass die EU ihre Vorteile habe und sie unterstützen die Idee, dass grenzüberschreitende Probleme wie die Umweltverschmutzung, die Kriminalität oder die Wirtschaftskrise auf europäischer Ebene angepackt werden müssen.

Interessant ist auch, dass die Beschwerden und Bedenken der Bürger sich nicht nur auf die EU beziehen, sondern sich in gleicher Weise gegen die eigene politische Klasse richten. Viele Menschen haben das Gefühl, dass die europäische Integration nur eine der gesellschaftlichen Entwicklungen ist, die sich derzeit in die falsche Richtung bewegen und dass die politische Klasse nichts dagegen tue. Sie meinen, dass die nationalen Politiker mit der europäischen Integration und der Vergrößerung der EU einfach fortfahren, ohne auf ihre Wähler zu hören, die im Referendum doch klar gemacht hätten, dass sie nicht noch mehr Europa wollen. Die Anhänger dieser Auffassung sehen das größere und tiefer integrierte Europa als einen fahrenden Zug, der sich nicht stoppen lässt, was sie mit den Empfindungen der Machtlosigkeit und Frustration zurücklässt. Nach dem Referendum 2005 sah es für einen Moment so aus, als habe der Zug die Richtung geändert, aber zurzeit haben sie nicht länger den Eindruck, dass dem so sei.

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Ein Ergebnis der Krise ist in jedem Fall, dass die Unterschiede zwischen den Befürwortern und den Gegnern der europäischen Integration größer und die Kluft zwischen ihnen tiefer geworden ist. Für diejenigen, die der EU-Mitgliedschaft ablehnend gegenüber stehen, hat die Krise gezeigt, dass die EU schlecht funktioniert und dass die Niederlande die Rechnung für die vermeidbaren Fehler anderer Länder zahlen. Den Befürwortern Europas ist die Krise hingegen der Beweis, dass die Länder die Schwierigkeiten nur in einer gemeinsamen europäischen Anstrengung überwinden können.

Das Wichtigste ist allerdings vielleicht, dass die Krise gezeigt hat, dass die EU und der Euro keine absolute Sicherheit bieten und kein Allheilmittel darstellen, um immerwährend Wachstum und Wohlstand für die Niederländer zu liefern. Diese allgemeine Erkenntnis wirft bei den Bürgern die Frage auf, ob die EU tatsächlich eine Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität sei. Das ist deshalb bedeutsam, weil die Unterstützung für die EU zu einem großen Teil auf der Idee von "Europa" als wirtschaftlicher Notwendigkeit beruht. Wenn diese Annahme ins Wanken gerät, verringert sich auch die Unterstützung für die EU.

Wie hängen wirtschaftliche Schwierigkeiten und EU-Unterstützung zusammen? Es zeigt sich über die Jahre, dass die Unterstützung der EU-Mitgliedschaft in gleicher Weise schwankt wie das Wirtschaftswachstum (siehe Schaubild). Immer wenn es mit der Wirtschaft bergab geht, sinkt auch die Zustimmung zur EU (1975, 1982, 1987, 1993, 2002). Bei der jüngsten Wirtschaftskrise, die stärker ist als viele Rezessionen vor ihr, ist allerdings der Zustimmungsrückgang nicht so stark. Es ist jedoch möglich, dass der Knick nach unten noch kommt, wenn die auf europäischer Ebene vereinbarten Austeritätsprogramme wirklich greifen. Außerdem stammt die letzte hier angegebene Zahl der EU- Unterstützung von 2011.

Schaubild: Unterstützung für die niederländische EU-Mitgliedschaft in der niederländischen Bevölkerung (rote Linie, in Prozent) und jährliches Wirtschaftswachstum (blaue Linie, in Prozent x 10). Quellen:http://ec.europa.eu/public_opinion/cf/showtable.cfm?keyID=374&nationID=10, &startdate=1973.09&enddate=1995.05 (http://ec.europa.eu/public_opinion/cf/showtable.cfm? keyID=374&nationID=10,&startdate=1973.09&enddate=1995.05); www.oecd-ilibrary.org/economics/ quarterly-gross-domestic-product-change-over-previous-quarter_2074384x-table13 (http://www. oecd-ilibrary.org/economics/quarterly-gross-domestic-product-change-over-previous-quarter_2074384x- table13)

Schaut man sich die niederländische Innenpolitik an, zeigt sich, dass Europa in den letzten Jahren in den Mittelpunkt der politischen Debatte gerückt ist. Das Scheitern der ersten Regierung unter Premierminister Rutte im April 2012 wäre vermutlich ohne den von ihm und seinen europäischen Kollegen vereinbarten Druck zu Einsparungen nicht eingetreten. Hinzu kommt, dass die politischen Parteien die europäische Integration zu einem wichtigen Punkt im Wahlkampf gemacht haben, und zwar vor allem die Gruppierungen, die der EU kritisch gegenüber stehen. Die Freiheitspartei (PVV) von Geert Wilders hat ihre anti-islamische Rhetorik auf die EU ausgedehnt, was im Titel ihres Parteiprogramms von 2012 klar zum Ausdruck kommt: "Deren Brüssel, unsere Niederlande". Die PVV möchte, dass die Niederlande die Eurozone verlassen und dass die niederländischen Wähler in einem Referendum gefragt werden, ob ihr Land weiterhin in der EU bleiben soll. Linksaußen im politischen Spektrum hat sich auch die Sozialistische Partei (SP) klar gegen die EU positioniert. Sie hat sich deutlich gegen jede europäische Beschränkung eines Haushaltsdefizits ausgesprochen und möchte die Privatisierungsprozesse und Wettbewerbsregeln rückgängig machen, die im Zusammenhang mit dem Europäischen Binnenmarkt eingeführt wurden. Die Argumente der SP gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) waren allerdings nicht systembedingt, sondern bezogen sich speziell auf eine mangelnde parlamentarische Kontrolle über die Verwendung des Geldes der Steuerzahler. Außerdem monierte die SP, dass es keine hinreichende Überwachung des Ausgabenverhaltens des ESM gebe.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 52 Schlussfolgerung

Die veränderten innenpolitischen Machtverhältnisse in den Niederlanden, bei denen sowohl die Wirtschaftskrise als auch die gewandelte öffentliche Einstellung zur EU eine wichtige Rolle spielen, haben die Parteien des "Mainstreams" in eine schwierige und die extremistischen Anti-EU-Parteien in eine komfortable Situation gebracht.

Die politischen Parteien der Mitte wie die Sozialdemokraten (PvdA) und die Liberalen (VVD) tun sich schwer damit, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die niederländische Wirtschaft seit Jahrzehnten von der europäischen Integration in weit größerem Maße profitiert hat als sie jetzt Mittel einsetzen muss und dass die Verweigerung des niederländischen Beitrags zu den Rettungsmaßnahmen die Investitionen, die niederländische Banken und Pensionsfonds in Südeuropa getätigt haben, gefährden würde. Ihre Argumentation ist komplexer und schwieriger zu verstehen als die der Anti-EU-Parteien, was ihnen in der Wahlauseinandersetzung erheblich zum Nachteil gereicht.

Im Ergebnis meinen die moderaten Parteien, dass sie irgendwie mit ihren extremeren Konkurrenten Schritt halten müssen, also die PvdA mit der SP und die VVD mit der PVV. Die Mainstream-Parteien achten sehr darauf, nicht als "europhil" angesehen zu werden – das ist zurzeit der schlimmste Vorwurf. Sie verheddern sich daher in einer halbherzigen und defensiven Einstellung gegenüber der EU. In diesem Zusammenhang hat die PvdA Stimmung gemacht gegen die Drei-Prozent-Beschränkung für das Haushaltsdefizit und die VVD hat sich in der letzten Wahlkampagne euroskeptischer gegeben als zuvor. Ein weiteres Beispiel ist das Verhalten von Premierminister Rutte. Er hat sich eine gewisse euroskeptische Attitüde zugelegt und äußert sich im nationalen Rahmen entsprechend. Auf europäischer Ebene macht er allerdings von seinem Vetorecht im Rat keinen Gebrauch. Durch dieses Verhalten geben die moderaten Parteien ihrer eigenen Unsicherheit und ihrem Unwohlsein Ausdruck, was wiederum den euroskeptischen Parteien SP und PVV Vorteile verschafft. Ganz offensichtlich wäre die einzig effektive Antwort auf die radikale Position der Anti-Europäer eine radikal pro-europäische Position – aber eine solche Botschaft wird derzeit als politischer Selbstmord gesehen.

Das zentrale Problem ist, dass die alte Überzeugung, die die stillschweigende Unterstützung für die EU sicherte, nämlich dass die EU entscheidend wichtig ist für Frieden, Sicherheit und Wohlstand in den Niederlanden, viel von ihrem Zuspruch verloren hat. Frieden und Sicherheit waren wichtige Argumente für die Generationen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten, für die jungen Menschen sind diese Werte aber selbstverständlich. (Es mag sein, dass sich dieses durch die Ereignisse vor der Haustür der EU, nämlich in der Ukraine, wieder ändert.) Hinzu kommt ein weiteres: Lange Zeit war die Auffassung, dass der überwiegende Teil des niederländischen Volkseinkommens in Europa verdient wird, völlig unbestritten. Jetzt sieht es aber für viele so aus, als würde Europa mehr kosten als es bringt. Die Angst, dass man seinen Job beispielsweise an einen Rumänen verliert, der deutlich weniger Lohn beansprucht, wird durch Vorteile wie eine einfache Grenzkontrolle oder billigere Telefongespräche nicht aufgewogen. Schließlich hat sich die EU durch so viele Kompromisse entwickelt, dass viele den klaren Vorteil oder überhaupt den Sinn der EU nicht mehr erkennen können und den Eindruck gewinnen, es gebe die EU nur um ihrer selbst willen. Die schwierige Herausforderung für die niederländischen Spitzenpolitiker besteht darin, mit einem neuen und frischen Narrativ über Europa in die Öffentlichkeit zu treten, um so dem Zynismus der Metapher von der holländischen Milchkuh entgegenzutreten und den Weg frei zu machen für eine ausgewogene Strategie europäischer Zusammenarbeit, die optimistisch ist und die Unterstützer jeder Niederländerin und jedes Niederländers verdient.

Fußnoten

1. Berg, C.F. van den (2011) Transforming for Europe: The reshaping of national bureaucracies in a system of multi-level governance. Leiden: Leiden University Press. 2. Den Ridder, J. and G. Arts (2012) "Gevraagd: een spannende en constructieve discussie over de EU". In: P. de Jong and S.L. de Lange (eds), Europa, Burgerschap en Democratie. Den Haag: Rob.

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Was ist Europa?

16.9.2009

Auf diese Frage gibt es ebensoviele Antworten wie Menschen in der Europäischen Union leben. Doch sind nur EU-Bürger auch Europäer? Oder anders gefragt: Welche Maßstäbe können und sollen angelegt werden, um Europa zu definieren? Die Beiträge in diesem Kapitel beantworten die Frage nach einer europäischen Identität auf unterschiedliche Weise: politisch-pragmatisch, historisch, geografisch, aber auch mit Hilfe von kulturellen Traditionen wie der Religion oder der Musik.

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Eine Frage mit vielen Antworten

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 18.11.2009

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Dem Thema "Europa" kann man sich aus den unterschiedlichsten Richtungen nähern. Ein Beispiel dafür sind die sieben Beiträgen, die die Frage "Was ist Europa?" auf unterschiedliche, mitunter kontroverse, Art beantworten und damit zur Diskussion anregen wollen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Wer auf eine eindeutige und unbestreitbare Antwort hofft, wird enttäuscht werden und muss gar nicht weiterlesen. Die einfach klingende Frage "Was ist Europa?" ist tatsächlich schwierig zu beantworten und die Überlegungen fallen je nach Standpunkt der Betrachtenden sehr unterschiedlich aus.

Der vermeintlich einfachste Weg, sich der Antwort zu nähern, ist der über die Geografie. Aber der Beitrag von Hans-Dietrich Schultz zeigt, dass auch die Disziplin, die wir in der Schule "Erdkunde" genannt haben, keine einfache Antwort hat. Europa ist als Kontinent nicht zu definieren, ihm fehlenden die klaren Grenzen. Europa ist, lehrt Schultz uns, eine Setzung. Anders ausgedrückt: Europa ist, was wir für Europa halten.

Auch die Geschichtswissenschaft sät Zweifel, dass es eine eindeutige Fassung des Begriffs "Europa" geben könnte. Holm Sundhaussen greift die Aussage von der "Definition Europa" auf und fährt fort: "Definitionen aber sind Setzungen, die nicht richtig oder falsch sind." Europa identifiziere sich über Gemeinsamkeiten, die mit Geschichte und Vergangenheit zu tun hätten. Das aber mache die Sache nicht leichter, fährt der Historiker fort. Sundhaussens Schlussfolgerung ist, dass Europa nicht ein realexistierender Raum sei, sondern ein "Prozess und Projekt".

Nun sollen solche Relativierungen nicht zu der These führen, über Europa könne man gar nichts sagen. Im Gegenteil: Man wird Europa nur verstehen, wenn man sich intensiv damit beschäftigt und es in seiner Vielschichtigkeit beschreibt. Eine Aussage, die sich eindeutig treffen lässt, ruft aus der Sicht der Religion Maria Jepsen in Erinnerung: "Europa ist seit Jahrhunderten religiös und kulturell vorwiegend christlich geprägt." Allerdings macht die protestantische Bischöfin im Verlauf ihres Textes sehr klar, dass sie mit dieser Aussage nicht andere ausschließen, sondern die Christen in eine besondere Verantwortung nehmen will. Dass sie mit dieser Auffassung nicht allein steht, zeigt die Charta Oecomenica der christlichen Kirchen. Maria Jepsens Fazit: Europa muss Barmherzigkeit sein.

Einen anderen Blick auf unseren Kontinent hat aus der Sicht der Musikwissenschaft Wolfgang Rathert. Er sagt: "Europa ist Musik." Dabei ist klar, dass es nicht "die" europäische Musik gibt, im Gegenteil: Die Musik zeigt Europas Vielfalt. Dennoch hat Europa spezifische Musikformen hervorgebracht, vor allem die Oper. Sicherlich gibt es heute Opernhäuser auf allen Kontinenten, ihren Ursprung hat die Oper jedoch in Europa. Wolfgang Ratherts Schlussfolgerung: "Europa ohne Musik wie auch Musik ohne Europa – beides bleibt unvorstellbar."

Die 30-jährige Europaabgeordnete Franziska Brantner beantwortet die Frage aus der Sicht der Politik, wählt aber einen emotionalen Zugang zu Europa. Zuallererst empfindet sie "das Gefühl von Heimat und jede Menge Hoffnung". Gerade vor dem Hintergrund ihres Aufwachsens in einem Städtchen an der französischen Grenze betont die sie Erleichterungen im grenzüberschreitenden Verkehr und die

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 56 fortdauernde Bedeutung der Friedenssicherung durch die europäische Integration. Dass sie die tägliche Politik der Europäischen Union keineswegs unkritisch sieht, macht die Parlamentarierin der Grünen in ihrem Beitrag deutlich. Dennoch setzt sie sich für die EU ein – und zieht daraus die Konsequenz, sich zu engagieren und das Europa der Zukunft mitzugestalten.

Auf die Frage, was Europa sei, hat auch die Professorin für Politikwissenschaft Carina Sprungk keine eindeutige Antwort. Aber dass das heutige Europa wesentlich von der Europäischen Union geprägt wird, ist für sie unstrittig. Diese EU sei "als Modell regionaler Integration" weltweit einzigartig und habe für die EU-Bürger wesentliche Lebensbedingungen positiv gestaltet. Da sind zum einen Frieden und Sicherheit zu nennen, zum anderen aber auch die "Wohlfahrt", das heißt, das wirtschaftliche Wohlergehen. Das Projekt Europa ist für Carina Sprungk allerdings noch nicht vollendet, es fehlen mehr Möglichkeiten zur politischen Beteiligung sowie eine europäische Identität.

Der Staatsrechtler Dietmar Herz weist darauf hin, dass Europa aus einer "Dialektik von Abgrenzung und Zusammenführung" entstand – und entsteht. Europa sei eine politische Idee und damit stelle sich die Frage nach den Grenzen Europas nicht im geografischen Sinne. Die Geografie sei vor allem dann nicht hilfreich, "wenn sich Staaten an der europäischen Peripherie, die historisch zum europäischen Kulturraum (der Mittelmeerregion) gehören, zu den politischen Ideen und Werten Europas bekennen". Wenn es um den Beitritt zur Europäischen Union gehe, spiele allerdings auch die Position des jeweiligen Landes im internationalen Gefüge eine Rolle.

Die verschiedenen Beiträge zeigen, dass man sich dem Thema "Europa" sehr unterschiedlich nähern kann. Zahlreiche weitere Standpunkte und Meinungen zu dem Themenkomplex Europa/Europäische Union sind möglich. Europa kontrovers will nicht letzte Wahrheiten verkünden, sondern zur Diskussion anregen.

Literatur

Gerhard BRUNN: Die europäische Einigung von 1945 bis heute, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006

Jürgen ELVERT: Die europäische Integration, Darmstadt 2006

Curt GASTEYGER: Europa zwischen Spaltung und Einigung – Darstellung und Dokumentation, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, überarb. Neuauflage, Bonn 2005

Dietmar HERZ/Christian JETZLSPERGER: Die Europäische Union, 2. überarb. Aufl., München 2008

Geert MAK: In Europa – Eine Reise durch das 20. Jahrhundert, München 2005

Eckart D. STRATENSCHULTE: Europa – (Ein) Überblick, Bundeszentrale für politische Bildung, Zeitbilder, Bonn 2007

Werner WEIDENFELD (Hrsg.): Die Europäische Union, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008

Werner WEIDENFELD/Wolfgang WESSELS (Hrsg.): Europa von A bis Z, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2009-11-01

Guy VERHOFSTADT: Die Vereinigten Staaten von Europa, Eupen 2006

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Dossier Europäische Union der bpb (http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/) europa.eu (Server der Europäischen Union mit vielen Informationen in allen Amtssprachen) (http:// europa.eu) europarl.de (Server der Vertretung des Europäischen Parlaments in Deutschland) (http://www.europarl. de) auswaertiges-amt.de (Europa-Seite des Auswärtigen Amtes) (http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/ de/Europa/Uebersicht.html) cafebabel.de (mehrsprachige kostenlose Internetzeitschrift, die sich speziell an ein jüngeres Publikum richtet) (http://www.cafebabel.de) euractiv.de (unabhängiger kostenloser Informationsdienst über die Entwicklungen in der Europäischen Union) (http://www.euractiv.de)

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Die EU ist ein Hoffnungsprojekt Standpunkt Franziska Brantner

Von Dr. Franziska Brantner 12.11.2009

ist Politikwissenschaftlerin und gehört seit 2009 für Bündnis 90/Die Grünen dem Europäischen Parlament an.

Die EU ist und bleibt ein fortlaufendes Projekt, sagt Franziska Brantner, MdEP für Bündnis90/ Die Grünen. Wichtig sei, europäische Herausforderungen auch europäisch zu regeln.

Um auf die hier gestellte Frage: "Was bedeutet Europa für Sie?" zu antworten, habe ich mich in die Sonne gesetzt, nachgedacht und nachgefühlt. Meine spontane Reaktion, bevor alle rationalen Erklärungsmuster die Chance hatten einzugreifen, war: sehr viel, das Gefühl von Heimat und jede Menge Hoffnung.

Europa ergreift all meine Lebensfelder und durchdringt sie. In einfache Worte zu fassen ist das kaum.

Das erste Wort, das ich fassen kann, klingt vielleicht seltsam, aber es trifft mein Grundgefühl gegenüber Europa: Heimat. Hier fühle ich mich daheim. Ich fühle mich zu Hause in Freiburg, Paris, Stockholm oder Peruggia. Ich reagiere verärgert, wenn jemand versucht, meine Identität einzuengen oder auf das Deutschsein zu beschränken. Ich bin eine europäische Bürgerin. Und dass dies nicht nur mein Standpunkt, sondern Fakt ist, dafür bin ich der europäischen Integration dankbar. Die in den EU- Verträgen verbriefte EU BürgerInnenschaft (EU citizenship) ermöglicht Vielfalt in der Identität und eröffnet einen Bezugsrahmen, der größer ist als der einer Nation.

Außerdem gibt mir Europa, die europäische Integration, Hoffnung. Hoffnung darauf, dass Menschen eben doch aus Fehlern lernen können und bereit sind, gemeinsam neue Wege zu gehen, hin zu mehr Frieden. Vielleicht ist es der tägliche Beweis dafür, dass Machiavelli und Hobbes zwar grundlegend Recht haben, und wir in einer Welt der nationalen Egoismen und des "Jeder für sich" leben, aber Ausnahmen möglich sind, der Mensch sein Schicksal eben doch in die Hand nehmen und ändern kann, wenn er oder sie denn nur will.

Ich lehre im Bereich der internationalen Beziehungen. Dort ist die wiedererstarkende Grundthese die der Anarchie zwischen Staaten und des reinen Machtvermehrungskalküls. Die verheerenden Konsequenzen davon können täglich in den außenpolitischen Teilen unserer Zeitungen nachgelesen werden. Eines der wenigen Mut machenden und Hoffnung gebenden Gegenbeispiele ist und bleibt die EU. Und sie gibt nicht nur mir Hoffnung. Auf vielen Reisen in Konfliktgebieten habe ich FriedensaktivistInnen getroffen, die alle mit Hilfe des Beispiels der EU ihre Hoffnung auf regionalen Frieden nähren. Jeder wiedererstarkende und aufkeimende nationale Egoismus macht mir deswegen Angst und treibt meine europapolitischen Aktivitäten an.

Europäische Integration bedeutet deshalb für mich auch Frieden. Das mag altmodisch daherkommen. Der ursprüngliche Legitimationsgrund der europäischen Integration - Frieden schaffen zwischen ehemaligen Erzfeinden - ist und bleibt zentrales Bedeutungsmoment. Zuerst wurde Aussöhnung ermöglicht zwischen Frankreich und Deutschland, später dann zwischen Deutschland und Polen (ein noch fortwährender Prozess). Gerade Deutschland hätte ohne den Rahmen der europäischen Integration niemals seinen heutigen Platz in der Staatengemeinschaft finden können.

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Ich bin aufgewachsen in einer kleinen Stadt, Neuenburg am Rhein. Wie der Name schon sagt, liegt Neuenburg direkt am Rhein, mit Rheinbrücke nach Frankreich – eine Grenzstadt also. Die Geschichte der Stadt ist durch Zerstörung und Wiederaufbau geprägt, von den deutsch-französischen Kriegen der letzten Jahrhunderte. Diese Geschichte ist durchaus noch präsent, und trotzdem sind meine Erinnerungen hauptsächlich geprägt durch den samstäglichen Einkauf im Hypermarche Leclerc in Frankreich. Das frische Baguette und der leckere Käse. Ich habe das "Fallen der Grenzzäune", besser gesagt das Abbauen der Grenzstation noch sehr gut in Erinnerung. Auf einmal konnte man über den Rhein fahren, ohne am Grenzposten Halt zu machen. Neuenburg lebt wirtschaftlich mittlerweile stark von den französischen Nachbarn.

Auf dem Balkan haben wir das Friedensprojekt noch längst nicht abgeschlossen. Die weitere Nachbarschaft der EU ist auch nicht gerade durch Frieden und Freiheit gekennzeichnet. Außerdem ist Frieden, genauso wenig wie Demokratie, "garantiert" und selbstverständlich. Nationale Egoismen und Konkurrenz sind nach wie vor ständig bestimmende Faktoren der europäischen Tagesordnung. Ein Rückfall in weitreichendere Auseinandersetzungen ist nie ausgeschlossen. Wir dürfen die Errungenschaften des europäischen Prozesses für Völkerverständigung nicht kleinreden.

'Frieden in Europa' ist und bleibt also notwendiger Legitimationsgrund für das Projekt der europäischen Integration. Aber das reicht heute nicht mehr aus. Viele beklagen das. Meiner Meinung nach sollten wir uns darüber freuen, dass Frieden innerhalb der EU selbstverständlich erscheint und Jugendliche nicht mehr in Angst vor unmittelbarem Krieg aufwachsen.

Mittelbarer, aber mittlerweile auch schon als "gegeben" angesehen, ist die Freiheit, die wir durch die europäische Integration erlangt haben: zu reisen, im europäischen Ausland zu studieren und arbeiten zu können. Dies ohne Grenzkontrollen, ohne Visa (welches Privileg im Vergleich zum Rest der Erdbevölkerung, der um Visa-Erleichterungen für die Einreise in die EU kämpft), ohne Geld wechseln zu müssen, ohne Aufenthaltserlaubnisse für Studierende und vieles andere mehr.

Diese Freiheit hat mein eigenes Leben ganz entscheidend bestimmt und bedeutet mir daher sehr viel. Aufgrund meiner Schulzeit am Deutsch-Französischen Gymnasium in Freiburg (ein Symbol und Produkt der deutsch-französischen Aussöhnung) waren meine Überlegungen zur Wahl meines Studienortes nicht durch nationale Grenzen beschränkt. Wir hatten immer wieder auch von den Studienmöglichkeiten in Frankreich erfahren. Mein Ziel war, in einer Großstadt zu studieren, Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre, mit guter Betreuung – also keine Massenuni. Diese drei Ziele waren in Deutschland nicht zu vereinbaren. Köln, Berlin oder Hamburg kamen als Städte in Frage, dort konnte man auch überall meine gewünschten Fächer studieren – aber nicht unter guten Studienbedingungen. Bei der Freien Universität in Berlin zum Beispiel war zu der Zeit schon klar, dass Gelder gekürzt und sich der Massenbetrieb dadurch nicht unbedingt verbessern würde.

In Frankreich waren meine drei Ziele jedoch vereinbar, an Sciences Po in Paris. Es erschien mir also nur logisch, mich dort zu bewerben und nicht in Deutschland mit dem Studium zu beginnen. Erst hinterher wurde mir bewusst, dass ich mit dieser Entscheidung eher zur Ausnahme gehörte. Seither ist es mein Ziel, dafür zu kämpfen, dass alle junge Menschen diese Chancen und Möglichkeiten haben und ergreifen können, egal ob Auszubildende oder Studierende.

Neben diesen persönlichen Erfahrungen bedeutet die Europäische Union für mich vor allem ein rechtlicher Rahmen, der ermöglicht, supranationale Entscheidungen zu treffen für Herausforderungen (oder auch wirkliche Probleme), die nationale Grenzen überschreiten. Die EU ermöglicht friedliche Konfliktlösung in einem rechtlichen, bestimmt nicht immer einfachen, Verfahren. Es ist eine Regierungsform, die gemeinsames Agieren ihrer Mitglieder ermöglicht. Dies ist eine enorme Errungenschaft – auch wenn viele der Entscheidungen, die letztlich getroffen werden, mir politisch gegen den Strich gehen. Die EU Handelspolitik zum Beispiel trägt meiner Meinung nach zu Armut und Entwicklungshemnissen in Entwicklungsländern bei. Auch die Flüchtlingspolitik der EU kritisiere

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 60 ich – sie respektiert nicht grundlegende Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen. Klimaschutzmaßnahmen der EU greifen zu kurz, Gelder werden noch immer nicht nachhaltig eingesetzt. Diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Bin ich trotzdem weiterhin für europäische Integration? Ja.

Dies bringt mich zu einer zentralen Frage: Wovon machen wir das "Ja" zum gemeinsamen EU Agieren (statt lokal oder national) abhängig? Ist unser Kriterium die übergeordnete Sinnhaftigkeit, auf eine gemeinsame Herausforderung auch gemeinsam zu reagieren oder kommen andere Kriterien hinzu? Als Beispiel soll die Flüchtlingspolitik dienen: Die Flüchtlinge vor den Küsten Südeuropas wollen in die EU und nicht unbedingt nach Spanien oder Italien. Der Umgang mit ihnen ist eine europäische Herausforderung. Konsequenterweise braucht sie eine gemeinsame europäische Antwort. Aber wenn man die aktuellen Mehrheiten (Berlusconi, Sarkozy, Schäuble - etc.) in der EU kennt, könnte man sagen: lasst uns das doch lieber nicht vergemeinschaften und wir sorgen dafür, dass zumindest das deutsche Gesetz und die deutsche Politik nicht verwässert wird, oder zumindest nicht via Brüssel.

Der Reflex "Ja, aber so nicht", also ein generelles Ja zur "Verbrüsselisierung", aber nicht zum Inhalt der Politik, die in Brüssel entschieden wird, ist menschlich, aber politisch potentiell gefährlich. Dieser Reflex ist nicht unähnlich denen des amerikanischen Senats, der internationale Verträge nur dann umsetzt, wenn es ihm politisch gerade passt. Mein Reflex ist: Europäische Herausforderungen gilt es europäisch zu regeln, wenn einem einzelne Politikentscheidungen nicht gefallen, muss man auf den nationalen Ebenen aller Mitgliedstaaten und im Europaparlament für andere Mehrheiten kämpfen oder notfalls zivilen Ungehorsam leisten. Falls man sich in der demokratischen Minderheit befindet, ist das Ergebnis zu akzeptieren wie Entscheidungen von Herrn Schäuble auf nationaler Ebene. Dies bleibt aber eine Gratwanderung, weil der Demokratisierungsprozess der EU noch längst nicht abgeschlossen ist und die Frage eine andere Bedeutung gewonnen hat mit 27 Mitgliedsstaaten, mit größerer Differenzierung der Interessenlagen und unterschiedlichen politischen Grundwerteanschauungen.

Unter der Einstimmigkeitsregel ist das Ergebnis der kleinste gemeinsame Nenner, häufig nicht gerade der progressivste und wenig sexy. Aber zu Not gibt es auch immer mindestens ein Land, das seine politische Meinung vertritt und dadurch "das Schlimmste" blockieren kann. Bei Mehrheitsentscheidungen besteht "das Risiko", dass man sich in der Minderheit wiederfindet. Egal ob Einstimmigkeit oder Mehrheitsentscheidung: Das Ergebnis wird ein Kompromiss sein. Oft sind es Kompromisse über Themenpakete hinweg, eine Hand wäscht die andere. Die Ergebnisse mögen einem politisch gefallen oder nicht, man kann Teil der Mehrheit oder der Minderheit sein. Wie im Nationalstaat auch.

Grundregeln: Demokratiefrage Aber wie demokratisch ist die EU denn nun? Der Einfluss des und der Einzelnen ist - vergleichbar mit dem Einfluss auf den deutschen Bundesrat - geringer als auf unseren Bundestag: man kann zwar fürs EP stimmen, aber nicht über alle 27 Regierungen mitbestimmen (genauso wenig wie als Hessin über die bayrische Regierung). Die 27 Regierungen entscheiden aber beim Ministerrat über die Verträge, Richtlinien und Gesetze der Europäischen Union. Auf dieses Dilemma wäre eine radikale Antwort die Verlagerung aller Entscheidungskompetenz auf das EP und eine aus dem EP entstehende Regierung. Das Aufgehen der Mitgliedsstaaten in einem neuen Staat. Aber die EU ist ein eigenes Konstrukt, ohne Vorbild. Das wird es wahrscheinlich auch in Zukunft bleiben. Sie wird so schnell nicht die Nationalstaaten ersetzen, noch ein europäischer Nationalstaat werden. Alternativ gibt es politische Antworten: eine weitere Stärkung des Europaparlaments, eine konsequente Subsidiaritätskontrolle - Entscheidungen müssen so lange und so schnell wie möglich so nah am Bürger wie möglich getroffen werden -, eine Offenlegung der Interessenlagen - welche Regierung stimmt wie ab? - und eine stärkere Kontrolle der nationalen Regierungen - eine zentrale Aufgabe der Opposition und für transnationale Kampagnen, wie gerade auch vom Bundesverfassungsgericht eingefordert.

Grundwerte: Identitätsfrage

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Im Nationalstaat weiß man, welche Grundrechte einem garantiert sind. Auf EU Ebene ist das schwieriger. Bis jetzt werden in der EU noch nicht alle Entscheidungen gegen ein "EU Bill of Rights" (Grundrechtscharta) gecheckt. Obwohl der Europäische Gerichtshof weitgehend die nationalstaatlichen Menschenrechtsprinzipien der jeweiligen Verfassungen hinzuzieht, hat er doch limitierte Verfassungskontrollrechte im deutschen Sinne. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass ein Verfassungsgericht es schon richten wird, wie wir es in Deutschland häufig tun. Was wir brauchen ist also eine "Verfassung", die Spielregeln und Grundwerte festlegt, die noch eindeutiger als jetzt eine Subsidiaritätsüberprüfung verankert, die Kontrolle durch nationale Oppositionen erleichtert, ein "Bill of Rights" beinhaltet sowie dem Europäischen Gerichtshof die Autorität gibt, jedes "EU Gesetz" auf dessen Vereinbarkeit mit dem "Bill of Rights" hin zu überprüfen. Sonst wird es auf lange Sicht schwieriger sein, weitere Verlagerungen von Kompetenzen bejahen zu können, vor allem, wenn man gerade Teil der politischen Minderheit ist.

Dies bringt mich zum Lissabonvertrag. Was ist das Kriterium für unsere Zustimmung? Bei 27 Mitgliedsstaaten ist ein EU Vertrag ebenso wie einzelne EU Politikentwürfe zwangsläufig ein Kompromiss. Wer Maximalforderungen als Messlatte anlegt, stellt die Grundidee der Europäischen Union - Konflikte statt gewaltsam mittels politischer Kompromisse zu lösen - in Frage. Stattdessen muss die Messlatte sein: Geht der Vertrag in die richtige Richtung? Ist der Vertrag im Vergleich zum "bis jetzt bestehenden" - und nicht nur im Vergleich zu unserem Wunschziel- eine Verbesserung oder Verschlechterung? Ein zentrales Kriterium dabei ist, inwieweit der Vertrag dazu beiträgt, uns langfristig aus dem "Ja, aber" Dilemma herauszubringen. Der Vertrag von Lissabon geht in diese Richtung, mit der Grundrechtecharta (dem EU Bill of Rights), der stärkeren Einbindung nationaler Parlamente und mehr Mitspracherechten für das EP, und verdient deswegen ein lautes JA. Die EU ist und bleibt ein fortlaufendes Projekt – das ist auch das Schöne daran, da man die Möglichkeit hat mitzugestalten! Es ist ein Hoffnungsprojekt, es bedeutet mir viel.

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Zugehörigkeit zu Europa muss politisch definiert werden Standpunkt Dietmar Herz

Von Prof. Dr. Dietmar Herz 12.11.2009 ist Direktor der Willy Brandt School of Public Policy und Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Erfurt. Im November 2009 wurde er zum Staatssekretär im Thüringer Justizministerium ernannt.

Es sei eine "negative" Seite Europas, sich durch die Beschwörung eines Gegenbildes abgrenzen zu wollen. Dietmar Herz glaubt nicht, dass Europa kulturell-religiös oder gar geografisch definiert werden kann. Nur politisch-pragmatisch.

Europa - Die Idee eines "politischen Raums". Vier (vorläufige) Überlegungen

"Viel hat der europäische Genius erfunden und der Welt gegeben; Böses und Gutes, solche Dinge zumeist, die zugleich gut und böse waren. Darunter den Staat; darunter die Nation. (...) Die Gesellschaft, welche aus dem dunklen Zeitalter des Werdens, dem nachrömischen Zeitalter, allmählich sich erhob, war bereits eine in Nationen geteilte; (...) Aber Staaten und Nationen blieben aufeinander bezogen. Es konnte sie nicht alleine geben, gab die eine nur, wenn es die andere gab. Ihr Wetteifern, ihr Miteinander und Gegeneinander hat Europa groß gemacht. Es hat, das ist wahr, als es gar zu arg damit wurde und die rechte Zeit für solches Spiel schon vorüber war, auch zur europäischen Selbstzerstörung geführt. (...) Es haben die einzelnen Nationalismen einander angespornt und nachgeäfft und die gleichen Worte für die gleiche Sache gebraucht. Gerade der blödeste Nationalismus, durch den man Europa zerreißen und leugnen wollte, bewies gegen Europa gar nichts; denn er war eine gesamteuropäische Krankheit."

- Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Europa - das kulturelle, politische und historiographische Verständnis des Kontinents

Europa ist nicht nur ein Kontinent. Die Erzählung von der phönizischen Prinzessin, die von Zeus begehrt und entführt und aus ihrer kleinasiatischen Heimat in ein Land gebracht wurde, dem sie ihren Namen gab, versinnbildlicht die Verbundenheit Europas und Asiens. Der Mythos verweist auf eine (religiös-kulturelle) Gemeinsamkeit. Europa ist daher zuvörderst kein geographischer Begriff.

Europa ist ein politisch-kultureller Raum. Der geographisch-kulturelle Kern dieser ersten Vorstellung von Europa ist der gesamte Mittelmeerraum - Kleinasien, die Levante, Ägypten und Nordafrika einbeziehend. Und dieses Europa - jedenfalls seine mehr als drei Jahrtausende dauernde politische und kulturelle Entwicklung - reicht sogar über diesen geographischen und kulturellen Raum hinaus. Am Beginn des politischen Europas aber stehen das klassische Griechenland, der Hellenismus und das Römische Reich. Die politischen Konzepte dieser kulturellen Entwicklungen definierten "Europa". Sie waren nicht unangefochten: Der Begriff von Europa entsteht in Auseinandersetzung mit den großen

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 63 kulturellen Entwicklungen an seinen (geographischen) Rändern: Das achämenidische Reich, das alte Israel, die politischen Ordnungen Mesopotamiens, die drei Reiche und Zeitalter Ägyptens, Karthago - alles Ausgangspunkte der europäischen Kultur. Die Genese der politischen Vorstellung "Europa" verlief daher nicht immer friedvoll. Europa entstand (und entsteht) in einer Dialektik von Abgrenzung und Zusammenführung. Daraus entwickelte sich das kulturelle, politische und schließlich das historiographische Verständnis des Kontinents.

Die politische Begründung Europas sind am Anfang die einander durchdringende griechische Oekumene und das Römische Reich. In diesem Raum entstehen die politischen Konzepte, die zur Grundlage europäischen Denkens werden: Die politische Philosophie der Griechen und das römische Recht.

Der Zerfall des Römischen Reichs markiert das Ende dieser politisch-kulturellen Einheit des Mittelmeerraums und zugleich den Bruch zwischen Antike und Mittelalter. Im westlichen und nördlichen Raum des Mittelmeers und in West- und Mitteleuropa entsteht eine neue Vorstellung von Einheit. Diese aber nimmt Bezug auf die Vergangenheit: Die am Ende der Völkerwanderungszeit entstehenden politischen Ordnungen beziehen sich immer wieder auf die Einheitskonzeption des Römischen Reiches - als große Klammer für die unterschiedlichen Ordnungen fungiert nun das Christentum. Auch dieses kommt aus Asien. Das katholische Christentum schließlich verbindet Europa - nach heftigen Auseinandersetzungen und Abgrenzungen mit den Vorstellungen des byzantinischen Christentums und zeitweise wirkmächtigen Häresien.

Gleichzeitig sucht Europa den Bezug zur Vergangenheit. Die europäische Kultur der nachrömischen Zeit ist geprägt von wiederholten Versuchen der Wiederaneignung der griechisch-römischen Welt. Zuerst in der "karolingischen Renaissance", später in der Rezeption griechisch-römischen Denkens, schließlich im Humanismus und der Renaissance. Auch diese Abgrenzung und gleichzeitige Annäherung setzte sich fort. Auch das christliche Europa grenzt sich ab und tauscht sich gleichzeitig kulturell aus. Für Jahrhunderte prägt Europa die Auseinandersetzung mit der arabischen Kultur und dem Islam als der großen Herausforderung der christlichen Welt. Die Kreuzzüge führen zur militärischen Auseinandersetzung mit dem Islam - der erste Versuch diese Expansion rückgängig zu machen. Gleichzeitig verlief die Rezeption der griechischen Philosophen vermittelt durch arabische Denker, Kommentatoren und Übersetzer.

Europa als "Raum der Freiheit" und "Gegenbild"

Europa als politische Idee entwickelte sich in Abgrenzungen zu den politischen Konzepten seiner Umgebung. Für die Griechen war die Welt außerhalb des politisch-kulturellen Raums der poleis das Land der Barbaren. Der sprachlich-kulturellen Abgrenzung entsprach ein unterschiedliches Verständnis von Politik. In den Worten Christian Meiers: "Es spricht jedenfalls vieles dafür, Europa nicht einfach ethnisch, von den Völkern, sondern von dem her zu verstehen, was diese Völker so eigenartig durchdrungen, sie herausgefordert, was ihnen so ungeheure Spielräume eröffnet, was sie (oder wenigstens mehrere von ihnen) zum Beispiel seit dem sechzehnten Jahrhundert dazu befähigt hat, die ganze Welt teils in Besitz zu nehmen, teils in den Ban zu schlagen; solange es dauerte" .

Die Selbstbehauptung Europas als Raum der politischen Freiheit hat freilich seine Gegenseite. Im Rückblick wird die Auseinandersetzung zwischen Griechen und Persern als der Beginn einer Geschichte ständiger Abwehr interpretiert. Schon immer, so behaupteten nun Deuter und Chronisten sei Europa - und seine Kultur der Freiheit - von "asiatischen" Völkern bedroht worden: den Persern und Parthern in der Antike, den Hunnen in der Völkerwanderungszeit, den Arabern und Mongolen im Mittelalter, schließlich den Türken in der frühen Neuzeit. Besonders augenfällig wird diese Vorstellung, betrachtet man die Haltung der Europäer zu den in Asien und Europa lebenden Türken. Das Osmanische Reich galt in der frühen Neuzeit als das Land, das außerhalb der christlichen Staatenwelt stand. So urteilt noch Johann Gottfried Herder in seinen Ideen zur Geschichte der Menschheit Ende des achtzehnten Jahrhunderts: "Die Türken, ein Volk aus

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Turkistan, ist trotz seines mehr als dreihundertjährigen Aufenthalts in Europa diesem Weltteil noch immer fremde (...) Ihr Reich ist ein großes Gefängnis für alle Europäer, die darin leben; es wird untergehen, wenn seine Zeit kommt. Denn was sollen Fremdlinge, die noch nach Jahrtausenden asiatische Barbaren sein wollen, was sollen sie in Europa?"

Dies ist die "negative" Seite Europas - eine Abgrenzung, die Identität (wie rudimentär auch immer) durch die Beschwörung eines Gegenbildes schaffen will. Bis heute eine der auffälligsten Fehlentwicklungen der Integration. Immer wieder kommt es zu Versuchen, Europa dadurch zu definieren, dass man sagt, was es nicht ist, nicht sein kann oder nicht sein soll.

Europa, der Nationalstaat, die Versuchung der Hegemonie und die Tragödie des Krieges

Die Einheit ging schließlich verloren. Das Konzept des souveränen Nationalstaats, in seiner im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gefundenen Ausprägung, steht der Idee Europas entgegen. Der Nationalstaat widerspricht nicht nur prinzipiell einer möglichen Einheit. Er war auch ein Konzept, dass sein Gegenüber als Konkurrent, Bedrohung oder anzueignendes Territorium betrachtete. Der Nationalstaat erlag so der Versuchung der Hegemonie. Zu Anfang verliefen die Konstruktionen nationaler und europäischer (politischer) Identitäten noch parallel. Alsbald gerieten die beiden Vorstellungen aber in Widerspruch zueinander. Die nationale Identität duldete keine anderen Identitäten neben sich. Spätestens in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts überlagerte und verdrängte der Gedanke des Nationalstaats die europäische Identität. Die "Konstruktion" nationaler Identitäten war durch den Rückgriff auf Sprache und ethnische Herkunft und durch politische Machtkonzentration in klar begrenzten geographischen Räumen leichter zu bewerkstelligen. Die Nation wurde zum wichtigsten Bezugspunkt der Politik; die Beziehung zu Europa wurde auf einige vage umschriebene kulturelle Aspekte beschränkt.

Die Vertreter des nationalen Gedankens betonten immer mehr die Unterschiedlichkeit der europäischen Nationen, nicht die Ähnlichkeit der politischen Systeme der europäischen Staaten - und deren Genese aus einer gemeinsamen "europäischen" Vergangenheit. Nationalismus führte so zum Wettbewerb und zum Kampf der Nationen um die Vormachtstellung in Europa und schließlich in der Welt. Die Epoche des Nationalstaats sah daher mehrfach den Versuch, die dauernde Hegemonie eines Nationalstaats in Europa und der Welt zu etablieren. Diese Entwicklungen entfalteten aber eine ungeheure Dynamik. Europa gestaltet die Welt. Die europäischen Nationalstaaten expandierten. Europa (und seine Idee von Staat und Nation, von Wirtschaft und Gesellschaft) unterwarf sich die gesamte Welt. (Eric Jones).

Mit dem Ersten Weltkrieg hatte diese Entwicklung ihren (vorläufigen) Abschluss gefunden. Das Gesicht nationalstaatlicher Konkurrenz - und des Krieges, als Ausdruck und Mittel dieser Konkurrenz - hatte sich tiefgreifend verändert. Aufgrund des waffentechnischen Fortschritts im neunzehnten Jahrhundert kostete die Kriegsführung nun weit mehr Menschenleben, als dies bisher der Fall gewesen war. Mit Maschinengewehren, weitreichender Artillerie und Granaten und schließlich Flugzeugen waren Waffensysteme erfunden worden, gegen die es kaum wirksamen Schutz gab. Schließlich wurden sogar chemische Kampfstoffe entwickelt und im Ersten Weltkrieg erstmals eingesetzt. Überhaupt: Der Erste Weltkrieg setzte "Maßstäbe" für das Massensterben der Soldaten in den modernen Massenschlachten. Die Sommer-Schlacht am 1. Juli 1916 kostete an ihrem ersten Tag in der ersten halben Stunde 30.000 britischen Soldaten das Leben, während der Kämpfe an der Somme wurden 60.000 Briten verletzt oder getötet. Viereinhalb Monate dauerten die Kämpfe. Auf Seiten der Entente und der Deutschen fielen 1,3 Millionen Soldaten.

Trotz der verheerenden Folgen des Ersten Weltkrieges fand der konkurrierende und zerstörerische Nationalismus erst nach dem Zweiten Weltkrieg seinen endgültigen Abschluss. Angesichts der Opferzahlen von mehr als 50 Millionen Menschen, der systematischen Völkervernichtung und des Ausmaßes der Zerstörung, konnte sich die Idee einer europäischen Friedensordnung durchsetzen.

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Diese beruhte zunächst auf der gemeinsamen Kontrolle der Kohle- und Stahlproduktion in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), mit der einer erneuten Aufrüstung die Grundlage entzogen werden sollte. Schrittweise wurde die wirtschaftliche Kooperation auf immer mehr Bereiche ausgeweitet und mündete schließlich in die politische Integration. Die europäische Einigung erwies sich als Erfolgsprojekt, das hohe Strahlkraft entwickelte: von anfänglich 6 Mitgliedstaaten expandierte die Europäische Union bis heute auf 27 Mitglieder. Die Überwindung des Nationalstaates wurde zumindest denkbar.

Die Einheit des Kontinents. Ein vorläufiges Fazit - Europa als "politischer Raum"

Was folgt aus der Geschichte Europas - nicht nur der Geschichte der europäischen Integration? Zumindest müsste das Verhältnis von Nationalstaat und europäischer Einheit neu bestimmt werden. In einer Rede an der Humboldt-Universität hat der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer betont, dass es an der Zeit sei, das Ziel (la finalité) der europäischen Integration zu bestimmen. Es wäre "ein nicht wieder gut zu machender Konstruktionsfehler, wenn man die Vollendung der politischen Integration gegen die vorhandenen nationalen Institutionen und Traditionen und nicht unter deren Einbeziehung versuchen würde. Ein solches Unternehmen müsste unter den historisch-kulturellen Bedingungen Europas scheitern (...) Die Vollendung der europäischen Integration lässt sich erfolgreich nur denken, wenn dies auf der Grundlage einer Souveränitätsteilung von Europa und Nationalstaat geschieht."

Europa ist eine politische Idee, eine Teilung der nationalstaatlich gehaltenen Souveränität ist denkbar. Die zweite Frage, die sich dann stellt, ist die nach den Grenzen Europas. Die Zugehörigkeit zu Europa ist nicht in kulturell-religiösen - oder gar in geographischen - Begriffen zu erfassen. Es bedarf einer (pragmatischen) politischen Definition. Dies hat eine Reihe von Konsequenzen, zunächst aber muss man sich über eine grundlegende Voraussetzung klar sein: Die Geographie und damit die (definitorische) Begrenzung der Beitrittsmöglichkeiten dient lediglich der Funktionsfähigkeit des politischen Systems. Nicht alle Staaten der Welt können der Union beitreten, aber eine Begrenzung auf den (geographisch definierten) Kontinent Europa ist jedenfalls dann nicht sinnvoll, wenn sich Staaten an der europäischen Peripherie, die historisch zum europäischen Kulturraum (der Mittelmeerregion) gehören, zu den politischen Ideen und Werten Europas bekennen.

Die politischen Voraussetzungen des Beitritts umfassen allerdings nicht nur die innerstaatliche Situation des jeweiligen Landes, sondern auch dessen Position im internationalen Gefüge. Das heißt: Das eurasische Russland kann nicht Teil des als politische Einheit verfassten Europas sein, weil es durch seine Größe die politischen Strukturen Europas sprengen würde.

Daraus folgt: Die westlichen Balkan-Staaten, Belarus, die Ukraine und die Türkei sind mögliche Beitrittsstaaten; die übrigen Mittelmeeranrainer und die Staaten des südlichen Kaukasus sind (zunächst) privilegierte Nachbarn. Russland, die angelsächsischen Demokratien (USA, Kanada, Australien, Neuseeland) sind politische Verbündete - wenn auch unterschiedlicher Art.

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Ein Europa mit variablen Grenzen Standpunkt Holm Sundhaussen

Von Prof. Dr. Holm Sundhaussen 18.11.2009

ist emeritierter Professor für südosteuropäische Geschichte an der Freien Universsität Berlin.

Der geografische Raum der europäischen Geschichte ist kein konstanter, sondern ist vielmehr ständigen Veränderungen unterworfen. Die Frage nach einer europäischen Identität lasse sich deshalb nicht allgemeinverbindlich und zeitlos beantworten. Holm Sundhaussen sieht Europa als Projekt mit variablen Grenzen.

Macht es überhaupt Sinn, über "Europa" zu sprechen, solange nicht klar ist, was gemeint ist? "Europa" ist eine Frage der Definition. Definitionen aber sind Setzungen, die nicht richtig oder falsch sind. Sie können plausibel, in sich widerspruchsfrei und anschlussfähig oder das Gegenteil von alledem sein. Aber sie sind niemals richtig oder falsch.

Seit der Name Europa von einer Gestalt der griechischen Mythologie auf einen Raum übertragen wurde, hat sich das Europaverständnis permanent verändert. Geografen, Dichter, Politiker, Historiker und "normale" Bürgerinnen und Bürger verbinden mit Europa sehr unterschiedliche Vorstellungen. Selbst der geografische Europabegriff und vor allem dessen Abgrenzung nach Osten und Südosten sind nicht unumstritten, auch wenn die große Mehrzahl der Länder, die gewöhnlich zu Europa gezählt werden, davon nicht betroffen ist.

Nach dem Umbruch von 1989 war in vielen postsozialistischen Ländern von einer "Rückkehr nach Europa" die Rede. Was heißt das? Der Begriff Rückkehr impliziert die Vorstellung, dass die Gesellschaften und Staaten vor Implementierung der sozialistischen Systeme zu Europa gehört haben, dann abgetrennt wurden und nach dem Kollaps des Realsozialismus in ihre ("eigentliche") Heimat zurückkehren. Für die Länder und Gesellschaften im Balkanraum - südlich von Save und unterer Donau - war es bereits die zweite "Rückkehr". Schon einmal, nach Gründung und Ausbau der postosmanischen Staaten im Verlauf des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, sind sie "nach Europa zurückgekehrt". Oder wollten nach Europa zurückkehren. Ob sie angekommen sind, ist eine andere Frage. Zuerst waren es der Islam bzw. die "orientalische" Herrschaft der Osmanen, die die Balkanhalbinsel für fast ein halbes Jahrtausend aus der europäischen Geschichte herausfallen ließen, dann der real existierende Sozialismus. Beide seien "uneuropäisch". Da die in Frage stehenden Länder geographisch immer zu Europa gehört hatten, konnten sie sich weder von ihm entfernen noch dorthin zurückkehren.

Der Ort der Rückkehr bezeichnet also nicht einen geographisch abgrenzbaren, sondern einen gedanklichen Raum, der zudem heute nicht mehr das ist, was er zum Zeitpunkt der Trennung war. Dessen ungeachtet berufen sich die Rückkehrer auf eine europäische Familie oder auf ein "gemeinsames Haus". Aber was konstituiert die Gemeinsamkeit? Sind es politische, ökonomische und kulturelle Standards und Wechselbeziehungen, ein gemeinsames (nicht näher definiertes) Wertesystem oder gar der "Universalismus", der von Europa seinen Ausgang nahm und mit diesem gleichgesetzt wird? Oder sind es einfach nur Nähe und Nachbarschaft? Oder eine gemeinsame Geschichte, die in erster Linie durch Kriege und Konflikte gekennzeichnet war und viele "uneuropäische" Merkmale aufwies (man denke stellvertretend an das nationalsozialistische

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Deutschland)? Obwohl es darauf keine einvernehmliche Antwort gibt, steckt in den Köpfen vieler Familienmitglieder die Vorstellung, dass sie einmal zusammengehörten und sich nach Phasen der Divergenz wieder aufeinander zu bewegen.

Für die Bürgerinnen und Bürger des nichtsozialistischen Nachkriegseuropa, insbesondere der "alten" EU (vor den Osterweiterungen von 2004 und 2007) war Europa das westliche, oft als "abendländisch" etikettierte Europa, wobei vieles unscharf war und bis heute geblieben ist. Unklar ist nach wie vor, ob es europäische Werte gibt, die über das hinausreichen, was in der UN-Charta und anderen weltweiten Abkommen verankert ist? Für die postsozialistischen Gesellschaften, die der EU beigetreten sind oder den Beitritt anstreben, stellt sich die Situation insofern anders dar, als sie in Gestalt der Kopenhagener Beitrittskriterien mit einem normativen Regelwerk konfrontiert wurden bzw. werden, an dessen Aushandlung sie nicht beteiligt waren. Die Frage "Was ist Europa?" oder "Was stiftet europäische Identität?" ist in Teilen der osteuropäischen Gesellschaften daher heftig umstritten. Bewunderung für Europa und Enttäuschung über Europa liegen dicht beieinander. Neben pro-westlichen (pro- europäischen) gibt es anti-westliche (anti-europäische) Strömungen, insbesondere im Balkanraum, in Rumänien, Moldova, der Ukraine, Weißrussland oder Russland. ("Anti-okzidentale" Bewegungen gibt es zwar auch im "alten" Europa, dort sind sie aber seit Ende des Zweiten Weltkriegs weniger stabil und einflussreich.) Pro- und Antiwestler haben inkompatible Vorstellungen von dem, was Europa bzw. was das "wirkliche", das "authentische" Europa ist.

Für die meisten Menschen haben europäische Gemeinsamkeit und europäische Identität etwas mit Geschichte oder Vergangenheit zu tun. Das macht die Sache nicht einfacher. Der polnisch- amerikanische Historiker Oscar Halecki z.B. unterscheidet in seinen Schriften zwischen Europa als geografischem Raum und der europäischen Geschichte. Auch das geografische Europa hat eine Geschichte, diese ist aber nicht identisch mit der "europäischen Geschichte" im Sinne Haleckis. Letztere ist definiert durch die Verbindung von antikem Erbe und Christentum. Hinzu kommen ethnische und staatliche (oft kleinräumige) Vielfalt. Der geografische Raum dieser europäischen Geschichte ist nicht konstant, sondern verlagert sich, expandiert oder schrumpft (mit jeweils neuen Zentren und Peripherien). So ist es möglich, dass Teile des geografischen Europa aus der "europäischen Geschichte" herausfallen bzw. herausgefallen und zurückgekehrt sind (z.B. diejenigen Teile, die zeitweilig von islamischer oder tatarischer Herrschaft geprägt wurden: in Spanien, Sizilien, im Balkanraum oder in Russland). Und es ist ebenso möglich, dass sich das geografische Zentrum dieser Geschichte nach Außereuropa (z.B. nach Nordamerika) verlagert. Halecki machte keinen Unterschied zwischen dem west- und dem ostkirchlichen Europa, obwohl sich im Wirkungsbereich der West- und Ostkirchen sehr unterschiedliche Wert- und Normvorstellungen entwickelt haben, die - was Aufklärung, Säkularisierung, Individualismus oder Spiritualität betrifft - (bislang) nicht miteinander vereinbar sind. Aber darüber wurde in der breiten Öffentlichkeit nicht gesprochen. Und über das zeitweilige Herausfallen von Teilen Europas aus der "europäischen Geschichte" gehen die Meinungen auseinander. Wie gesagt: Definitionen sind nicht richtig oder falsch. Haleckis Vorschlag ist nur einer von vielen und unterstreicht die Vielgestaltigkeit des geografischen Europa. Aber auch die Formel von der "Einheit in der Vielfalt" löst unser Problem nicht, solange nur die Vielfalt, aber nicht die Einheit bestimmt wird.

Die Frage, was Europa ist, lässt sich also nicht allgemeinverbindlich und zeitlos beantworten. Und weil das so ist, erscheint es sinnvoll, Europa nicht als real existierenden Raum, sondern als Prozess und Projekt zu definieren. In der Präambel zur (gescheiterten) "Verfassung für Europa" vom Sommer 2003 wurde nach langen Debatten eine pragmatische Lösung gefunden. Obwohl die "Überlieferungen" und das historische "Erbe" darin angesprochen wurden, standen die modernen Grundprinzipien und ihre Weiterentwicklung im Vordergrund. Ein so verstandenes, offenes und der Zukunft zugewandtes Europa hat seine Wurzeln im geografischen Europa, war bzw. ist aber weder in der Vergangenheit noch heute mit diesem identisch. Das wichtigste und erfolgreichste Element des Prozesses ist die Überwindung früherer Gegensätze zwischen Staaten und Gesellschaften sowie die Bereitschaft, sich auf ein gemeinsames Regelwerk zu verständigen. Die Grenzen des Projekts Europa sind dabei variabel (durchaus im Sinne Haleckis) und müssen von den Teilnehmern ausgehandelt werden. Kurzum: Europa

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 68 ist ein bewegter - mitunter auch bewegender - Raum.

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Europa: (k)ein geografischer Kontinent? Standpunkt Hans-Dietrich Schultz

Von Prof. Dr. Dr. Hans-Dietrich Schultz 18.11.2009

ist Professor für Didaktik der Geografie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Generationen von Fachleuten versuchten erfolglos die "wahren geografischen Grenzen" des Kontinents Europa zu finden. In der modernen Geografie ist man sich jedoch einig darüber, dass solche Abgrenzungen keine natürlichen Gegebenheiten sondern Konstruktionen sind. Die Frage nach der geografischen Reichweite Europas ist daher eine politische.

Noch immer lernen Schüler und Schülerinnen, dass schon der einfache Blick auf die Karte zeige, dass die Kontinente wirklich da seien und durch die Verteilung von Land und Wasser auch klare Grenzen besäßen, Ausnahme Europa. Hier sei nur im Norden, Westen und Süden die Grenze durch das Meer eindeutig gezogen, im Osten, auf dem Lande, sei es dagegen viel schwieriger, natürliche Marken zu finden. Meist geben heute die Schulbücher das Uralgebirge, den Ural-Fluss, manchmal an seiner Stelle auch den Fluss Emba als Grenze an, außerdem das Ostufer des Kaspischen Meeres und die Manytschniederung bis zum Asowschen Meer.

Doch was die Karte ihrem Betrachter zeigt, kann sie ihm nur zeigen, weil seine Wahrnehmung entsprechend dressiert wurde. Nähme er das Kriterium der Land-Meer-Grenze ernst, müsste jede Insel, wie klein auch immer, ein eigener Minikontinent sein; und selbst wenn man den Kontinentalschelf für die Grenzziehung noch hinzunähme, blieben genügend Inseln und Inselchen für ein eigenes Kontinentdasein übrig. Dagegen fiele Europa als Kontinent aus; es wäre nur noch eine große Halbinsel Asiens, sein Endland im Westen wie Indien im Süden, und wurde daher schon im 19. Jahrhundert gelegentlich mit ihm zu "Eurasien" zusammengezogen. Selbst Afrika hängt über die Sinai-Halbinsel mit Asien zusammen und müsste, streng genommen, mit Asien und Europa zu "Eurafrasien" vereint werden, wenn es nicht das Zugeständnis gäbe, dass diese kleine Verbindungsstelle unschädlich für seinen Kontinentstatus sei.

An der Illusion, dass es Europa und die anderen Kontinente wirklich gibt, waren die Vertreter der älteren länderkundlichen Geografie freilich nicht unschuldig. Jeder Erdteil war für sie ein großes Naturgebiet, wobei sie annahmen, dass die Eigenart eines physischen Raumes sich in der Eigenart seiner Kultur spiegelte, egal, ob es sich nur um eine kleinere oder größere Landschaft oder gar einen ganzen Kontinent handelte. Als Europas Spezifika und zugleich Vorzüge galten u. a. seine Lage inmitten der anderen Kontinente, die Feingliedrigkeit seiner Küsten mit ihren zahlreichen Halbinseln und Nebenmeeren, seine reiche innere Kammerung und nicht zuletzt das gemäßigte Klima. Damit war Europas Status als eigenständiger gemäßigter Erdteil unter den anderen extremeren Landmassen gerettet, auch wenn er im Osten nicht von Meer umspült wurde. Mehr noch: Europa galt in der Geografie infolge seiner qualitativen Eigenschaften als von der Natur dazu bestimmt, Träger und Förderer der menschlichen Entwicklung zu sein. So bekam der europäische Kolonialismus den Anstrich einer geografisch begründeten Notwendigkeit.

Kritik am Kontinentstatus Europas gab es seit dem 19. Jahrhundert, aber ohne nachhaltige Wirkung. Es sei, spottete ein Geograf, unter die Kontinente geraten wie Pilatus in das Credo, und ein anderer mokierte sich auf einem Fachkongress darüber, dass sich die Besucher an den klassischen Nahtstellen

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 70 der Erdteile von dem erhebenden wie falschen Gefühl ergreifen lassen würden, jenseits von Gibraltar, Bosporus und Ural seien Land und Leute nicht mehr europäisch, sondern afrikanisch oder asiatisch. Es half nichts: Generationen von Fachleuten plagten sich damit ab, endlich die "wahre Grenze" Europas zu finden - und konnten sich nicht einigen. Ja, selbst die Kriterien der Grenzziehung blieben immer umstritten. Sollten nur rein physische Merkmale gelten, oder durfte es auch ein Mix von physischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eigenschaften sein?

So schwankte die Ostgrenze Europas zwischen dem 25. und 100. Breitengrad ö. L. hin und her, je nachdem, ob man Russland dabeihaben wollte oder nicht, ob Land und Leute bereits als europäisch galten oder ob Europa schon jenseits des polnischen Bug zu "verdämmern" schien. In einer der engsten Versionen reichte seine Ostgrenze nur bis zu einer Linie, die vom Weißen Meer zur Donaumündung führte und das "abendländische" Europa vom asiatischen "Russosibirien" trennte; andere Geografen ließen es bis über den Jenissej gehen. Aber auch für die Süd- und Südostgrenze wurden weit auseinander liegende Varianten angeboten, darunter immer auch solche, die Bosporus und Dardanellen, ertrunkene frühere Flusstäler, locker übersprangen. Im Extremfall wurden große Teile Nordafrikas und Vorderasiens bis hin zum Pamirgebirge zu einem "Groß-Europa" gerechnet, das auch politischgeografisch einen Machtblock bilden sollte. Afghanistan war bei dieser Raumkonstruktion ein europäisches Randland, die Arabische Halbinsel ebenso und das Mittelmeer ein europäisches Binnenmeer mit Auslass zum Atlantik.

Trennte das Mittelmeer hingegen Kontinente, dann standen die Geografen hier wie auch anderswo vor der leidigen Inselfrage. Wohin mit ihnen, mit den Kleinen und Großen Sporaden, mit den Azoren, Jan Mayen, Spitzbergen, der Bäreninsel oder Island? Intensiv suchte man nach Anhaltspunkten, um die Illusion einer natürlichen Gliederung aufrecht zu erhalten. Wo gab es untermeerische Gebirgsrücken und Meerestiefen, die verbanden oder trennten? Wo existierte eine Meeresfauna, die hier anders war als dort? Wo bildeten die Inseln Reihen und Gruppen, die als Brücken fungieren mochten? Das erscheint uns heute absurd, doch sind es aktuelle Geografieschulbücher auf ihre Weise nicht minder, wie sich gut an der Zuordnung der Insel Zypern zeigen lässt. Seitdem der griechische Teil in der EU ist, wird sie neu platziert und zum geografischen Kontinent Europa gerechnet, die Türkei aber "ist" Asien, obwohl Anatolien zum größten Teil viel weiter westlich liegt. Würde man hingegen die geltende Konvention der Grenzen Europas zugrunde legen, würde Zypern der erste asiatische Staat in der EU sein. Eine ähnliche Situation gab es früher schon einmal. Solange Rhodos und einige weitere Inseln im Ägäischen Meer noch osmanisch waren, gingen sie an Asien, kaum waren sie griechisch, gehörten sie zu Europa.

Für die moderne wissenschaftliche Geografie ist dagegen klar, was sich in der Schulgeografie noch nicht allgemein durchgesetzt hat: Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Auch die "natürlichen Räume" sind nicht einfach von der Natur gegeben, selbst wenn sie einem aus der Karte direkt ins Auge zu springen scheinen. Nur weil die üblichen Kontinente in der Schule von Generation zu Generation weitergereicht wurden und werden, konnten sie sich den Anschein der Ewigkeit erwerben und sind heute kanonisiert. Tatsächlich aber sind alle Abgrenzungen von Räumen zweckgebunden, und es gibt somit ebenso viele Räume, wie es Zwecke gibt. Solche Raumgebilde sind weder richtig noch falsch, sondern brauchbar oder unbrauchbar.

Wenn heute manche Politiker die Türkei aus der EU mit dem Argument heraushalten wollen, dass sie nicht zum geografischen Europa gehöre, wie man im Geografieunterricht gelernt habe, so liegen sie gleich doppelt falsch. Zum einen gab es im 19. und 20. Jahrhundert immer geografische Europakonstrukte, die auch das Gebiet der Türkei einschlossen, zum anderen ist für die Beantwortung der Frage nach der EU-Zugehörigkeit der Geograf gar nicht zuständig; denn die Frage nach der geografischen Reichweite Europas ist keine geografische Frage, sondern eine politische, die auch mit politischen Argumenten entschieden werden muss. Schon jetzt gehören Räume, die nicht Teil des konventionellen Europas sind, zur EU. Seine Westgrenze liegt in der Karibik. Sie wird markiert von einer kleinen "Insel über dem Winde": St. Martin. Ihr französischer Teil "ist" Europa, so wie es weitere französische Territorien "d´outre mer" sind. Schon jeder Euroschein ist der Beweis.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 71

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Musik ist europäische Vielfalt Standpunkt Wolfgang Rathert

Von Prof. Dr. Wolfgang Rathert 18.11.2009

ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Europa ohne Musik und Musik ohne Europa – beides ist für Wolfgang Rathert unvorstellbar. Musik zieht sich wie ein roter Faden durch die europäische Geschichte, denn bereits als Zeus die Königstochter Europa entführte, hatte diese Musik mit im Gepäck.

Auf die Frage, was Europa sei, gibt es viele Antworten. Eine lautet: Europa ist Musik - und die Musik zeigt Europas Vielfalt. Stellen wir uns als Gedankenexperiment vor, Europa wäre musikalisch stumm. Wäre die Vorstellung auszuhalten? - Wohl kaum. Und falls doch, welche Musik würden wir besonders schmerzlich vermissen? Die Bewohner der einzelnen Nationen, aber auch die jeweiligen Generationen würden wahrscheinlich sehr unterschiedliche Antworten geben - so unterschiedlich, wie es der kulturellen Vielfalt Europas entspricht. Die Jüngeren würden aber möglicherweise gerade jene Musik vermissen, die in der Regel nicht aus Europa kommt, nämlich die sogenannte Pop- oder "U"-Musik. Sie gilt als Errungenschaft der nordamerikanischen Musik, doch hat sie bei genauerem Hinsehen auch einen ihrer Ursprünge in der europäischen Volksmusik. Die älteren würden wohl an Bach, Beethoven, Chopin, Mozart oder Tschaikowsky denken, vielleicht auch an den großen französischen Barock-Komponisten Marc-Antoine Charpentier, dessen "Te Deum" als Melodie der Eurovisions-Hymne ein Ohrwurm geworden ist. Es würde also etwas Entscheidendes an der europäischen Identität fehlen, wenn es die Musik nicht gäbe! Und blickt man noch weiter zurück, so entdeckt man, dass die Musik sich wie ein roter Faden durch die europäische Geschichte zieht.

Bereits als Zeus die Königstochter Europa entführte, hatte diese Musik mit im Gepäck: nicht nur in klingender Form, sondern bereits in Gestalt eines durchdachten Tonsystems. Dieses sogenannte "vollständige" (teleion) System war ein für die weitere europäische Entwicklung entscheidender Schritt, durch eine Art verbindliches Alphabet Ordnung in die Musik zu bringen. Das Wort "Musik", eigentlich die "Kunst der Musen", bezeichnet die Möglichkeit, aus Schallereignissen Gebilde hervorzubringen, die auf der einen Seite Kommunikation (als Sprache) ermöglichen, auf der anderen Seite aber bestimmte emotionale Zustände (als Klang) auslösen. Durch ihre bis heute nicht restlos erklärbare psychische Wirkung war die Musik zusammen mit dem Tanz das ideale Gefäß der Darstellung religiöser oder magischer Praktiken bis hin zu ekstatischen Zuständen. Dahinter stand der Gedanke einer Einheit der Künste, aus der sich in der italienischen Renaissance die Oper als eine zentrale kulturelle Ausdrucksform der europäischen Gesellschaft entwickelte. In den Augen ihrer Schöpfer sollte die Oper die antike Einheit von Sprache und Musik nachahmen; doch zugleich war die Darstellung subjektiver Stimmungen eine Provokation, da sie sich gegen den strengen Stil der polyphonen katholischen Kirchenmusik richtete, bis dahin der Inbegriff von Musik für geistliche wie weltliche Herrscher in Europa. Und doch wurde die Oper zum Symbol der europäischen Musik, und keine andere Hochkultur hat eine vergleichbar komplexe Form des Ineinandergreifens aller Künste auf Grundlage der Musik hervorgebracht.

Von der für uns heute kaum noch vorstellbaren Einheit von Musik, Sprache und Kult im antiken Griechenland bis zur Entstehung der Oper war es nicht nur chronologisch ein weiter Weg. In

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 73 faszinierender Weise nahm die Musik eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der politischen und kulturellen Einheit des christianisierten, abendländischen (West-)Europas ein. Exemplarisch zeigte sich dies in der Entstehung und Ausbreitung des Gregorianischen Chorals, also des einstimmigen und unbegleiteten Gesangs der katholischen Kirche und der christlichen Orden. Das um 600 in Rom unter dem Papst Gregor IV. zusammengestellte Repertoire an Gesängen für Messe und Stundengebete breitete sich parallel zu den Gesängen der Ostkirche in Westeuropa aus: zunächst in Frankreich und Spanien (dort in Verschmelzung mit arabischen und jüdischen Einflüssen), unter Karl dem Großen dann auch in Mitteleuropa. Multiplikatoren waren die Klöster, in denen Bildung tradiert und transportiert wurde. Karl der Große erkannte und nutzte die Macht der Musik konsequent. Zwar galt die Musik im Altertum als Wissenschaft, als Teil des Quadriviums. Aber die durch die Spätantike geprägten Gelehrten der karolingischen Zeit betonten vor allem ihre rhetorische Kraft, ihre repräsentative und funktionale Bedeutung.

Musik wurde dadurch universell: Wissenschaft und Kunst zugleich, wanderte sie von den Klöstern aus sehr schnell quer durch Europa und nahm einen ungeheuren Aufschwung, der erstmals im "Ereignis Notre Dame" kulminierte. Zwischen 1170 und 1250 bildete sich an der Pariser Hauptkirche in Zusammenarbeit von Klerus und Gelehrten, von Musikern und Dichtern ein musikalisches Repertoire mehrstimmiger Musik heraus, das die riesigen, von Licht durchfluteten Architekturen der gotischen Kathedralen akustisch widerspiegelte. Wichtige neue musikalische Formen und Gattungen wurden dadurch angestoßen, so die kunstvolle mittelalterliche Motette, die zur ersten "europäischen", d.h. bilingualen Gattung in der Musik wurde, da ihr simultan gesungene französische und lateinische Texte zugrunde lagen.

Die glanzvolle Musik des mittelalterlichen Zentrums Paris strahlte auf ganz Europa aus und führte dazu, dass Musik ein Prestige-Objekt wurde. So kam es zur Gründung zahlreicher musikalischer Ensembles, als prächtige fürstliche Hofkapellen wie als städtische Turmbläser. Entsprechend differenziert war der Sozialstatus von Musikern: Der einzelne Sänger oder Instrumentalist war in eine strenge Hierarchie eingebunden, der Komponist jedoch konnte zum "Star" werden und sich die Angebote der Herrscherhäuser aussuchen. Die europäische Musiklandschaft des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit ist daher ungeheuer vielfältig, ja international "vernetzt" gewesen! So erlebte einer der größten und immer noch die Musikgeschichte beeinflussenden Komponisten aller Zeiten, der im heutigen Belgien geborene Josquin Desprez (ca. 1450- 1521), den Höhepunkt seiner Karriere am Hof des Herzogs von Ferrara, dem er auch musikalisch ein Denkmal setzte. Messen, Motetten und Chansons der sogenannten franko-flämischen Vokalpolyphonie, die über fünf Generationen hinweg die europäische Kunstmusik dominierte, trugen Beinamen wie L´homme armé ("Der Mann in Waffen") und wiesen damit auf die grenzüberschreitende Fähigkeit der Musik hin - in diesem Fall auf ein französisches Soldatenlied, dessen Hauptmelodie in Messen oder Motetten "einwanderte" und damit in ganz Europa präsent war.

Springen wir in das 18. Jahrhundert, an dessen Ende mit der Französischen Revolution auch der Untergang des "Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation" erfolgte, dem der Aufstieg der modernen Nationalstaaten folgte. Parallel zur bis heute wirksamen institutionellen Organisation des Musiklebens durch Opernhäuser und Orchestergründungen und die finanzielle Förderung der Musik durch den Staat wird im Barock mit dem "gemischten Geschmack" erneut eine übergreifende und identitätsstiftende Idee von Musik greifbar. So spiegeln die Bezeichnungen der einzelnen Sätze der barocken Instrumentalsuite ihre Herkunft oder soziale Funktion aus bzw. im höfischen oder volkstümlichen Tanz: Allemande (Deutschland), Courante (Italien/Frankreich), Sarabande (Spanien) und Gigue (England). Zur Aufgabe der Komponisten wird es, die verschiedenen nationalen und stilistischen Idiome zu einer Einheit zu verschmelzen.

Bach konnte sich über den Zeitgeschmack in Versailles oder London nur durch Notenabschriften informieren, Händel - verkörperte dagegen diese Aufgabe in seiner Biographie: Von seinem Geburtstort Halle an der Saale ging er zum weiteren Studium nach Rom, wo er großartige Oratorien für Kardinäle komponierte, um dann in London als Autor des "Messias" endgültig zu Weltruhm zu gelangen. Bestattet

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 74 in der Westminster Abbey, wird Händel von den Briten zu Recht als größter englischer Komponist verehrt. Doch er ist zugleich ein europäischer Musiker par excellence, wie nach ihm nur noch Franz Liszt. Durch die Gründung einer Handel & Haydn Society 1809 in Boston verlieh auch die junge amerikanische Nation ihrer Bewunderung von Händels Werk Ausdruck und setzte damit einen "Export" europäischer Musik in die USA in Gang, der ab 1933 durch die erzwungene Emigration nahezu aller bedeutenden europäischen Komponisten in die USA eine ganz andere Bedeutung bekam, bevor es dann im Kalten Krieg zu einem Re-Import populärer Musik kam. Die Hoffnung aber, Musik könne als eine weltumspannende Sprache die tiefgreifenden politischen und ideologischen Konflikte unserer Zeit positiv beeinflussen, bleibt die wichtigste Botschaft der europäischen Musik. Dies mag der tiefere Grund dafür sein, dass der große amerikanische Avantgardist John Cage seiner einzigen, 1984 in Frankfurt uraufgeführten Oper den Namen Europeras gab. Europa ohne Musik wie auch Musik ohne Europa - beides bleibt unvorstellbar.

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Europa braucht Barmherzigkeit Standpunkt Maria Jepsen

Von Maria Jepsen 18.11.2009

ist Theologin und Bischöfin der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche.

Aus der traditionell christlichen Prägung Europas erwachse eine besondere Verantwortung für das europäische Projekt, das von den Kirchen als Friedensprozess begriffen wird. Deshalb gelte es, den Begriff der Barmherzigkeit privat, politisch und geistlich mit Leben zu füllen, sagt die Theologin Maria Jepsen.

Europa ist seit Jahrhunderten religiös und kulturell vorwiegend christlich geprägt. Diese Feststellung macht uns stolz, ist aber auch eine Verpflichtung, der wir uns stellen müssen. Daher haben sich die Christen Europas auf eine Charta verständigt, die das christliche Bild von Europa sowie die Pflichten, die für Christen aus ihrer Verantwortung erwachsen, festlegt. Diese Charta Oecumenica (CO), die am 22. April 2001 in Straßburg von Metropolit Jéremie (Konferenz Europäischer Kirchen, KEK) und Kardinal Vlk (Consilium Conferentiarum Epispocorum Europae, CCEE) unterzeichnet wurde, hat seither für die kirchlichen Ansichten und Aktivitäten auf europäischer Ebene grundlegende Bedeutung.

Die Charta versteht sich als Basistext für die kirchliche Arbeit in Europa. Sie ist eine Sammlung von Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit der Kirchen in Europa, zu deren Beachtung sich die teilnehmenden Kirchen verpflichten. Die KEK, die Konferenz Europäischer Kirchen, vertritt dabei die meisten orthodoxen, reformatorischen, anglikanischen, freikirchlichen und altkatholischen Kirchen in Europa, die CCEE die römisch-katholischen Bischofskonferenzen in Europa. Damit ist die Charta, zumindest ihrem Anspruch nach, eine Willenskundgebung fast aller Christinnen und Christen Europas. Sie legt außerdem Ziele fest, auf deren Verwirklichung die Kirchen bei der Ausgestaltung Europas im Zuge seines politischen Zusammenwachsens achten wollen.

Damit verstehen sich die Kirchen nicht als Außenseiter oder bloße Beobachter des europäischen Prozesses, sondern erheben den Anspruch der Mitgestaltung Europas. Sie tun das in durchaus selbstkritischer Weise:"Durch die Jahrhunderte hindurch hat sich ein religiös und kulturell vorwiegend christlich geprägtes Europa entwickelt. Zugleich ist durch das Versagen der Christen in Europa und über dessen Grenzen hinaus viel Unheil angerichtet worden. Wir bekennen die Mitverantwortung an dieser Schuld und bitten Gott und die Menschen um Vergebung. Unser Glaube hilft uns, aus der Vergangenheit zu lernen und uns dafür einzusetzen, dass der christliche Glaube und die Nächstenliebe Hoffnung ausstrahlen für Moral und Ethik, für Bildung und Kultur, für Politik und Wirtschaft in Europa und in der ganzen Welt." (CO III,7)

Eines der wesentlichen Ziele wird bereits im Vorwort der Charta beschrieben:"Auf unserem europäischen Kontinent zwischen Atlantik und Ural, zwischen Nordkap und Mittelmeer, der heute mehr denn je durch eine plurale Kultur geprägt wird, wollen wir mit dem Evangelium für die Würde der menschlichen Person als Gottes Ebenbild eintreten und als Kirchen gemeinsam dazu beitragen, Völker und Kulturen zu versöhnen." Die "wichtigste Aufgabe der Kirchen in Europa" sei es dabei, "gemeinsam das Evangelium durch Wort und Tat für das Heil aller Menschen zu verkündigen" (CO II,2) und Abstand zu nehmen von "schädlicher Konkurrenz" untereinander. Damit das keine leeren Worte bleiben, wird die Einrichtung ökumenischer Gremien auf allen Ebenen empfohlen. Basisnah gilt es, vor allem auch

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"die Rechte von Minderheiten zu verteidigen und zu helfen, Missverständnisse und Vorurteile zwischen Mehrheits- und Minderheitskirchen ... abzubauen." (CO II,4)(Für den Ostseeraum etwa arbeiten die Kirchen der anrainenden Staaten inzwischen im Netzwerk Theobalt zusammen für Verständigung und Frieden.)

Bei der politischen Mitgestaltung Europas setzen sich die unterzeichnenden Kirchen "für ein humanes und soziales Europa ein, in dem die Menschenrechte und die Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Toleranz, der Partizipation und der Solidarität zur Geltung kommen. Wir betonen die Ehrfurcht vor dem Leben, den Wert von Ehe und Familie, den vorrangigen Einsatz für die Armen, die Bereitschaft zur Vergebung und in allem die Barmherzigkeit." (CO III,7)Es wird die Gefahr gesehen, dass "Europa sich zu einem integrierten Westen und einen desintegrierten Osten entwickelt. Auch das Nord-Süd-Gefälle ist zu beachten. Zugleich ist jeder Eurozentrismus zu vermeiden und die Verantwortung Europas für die ganze Menschheit zu stärken, besonders für die Armen in der ganzen Welt." (CO III,7) Ausdrücklich wird die "Vielfalt der regionalen, nationalen, kulturellen und religiösen Traditionen" als Reichtum betrachtet (CO III,8) Hier setzt sich die Charta vor allem für "gewaltfreie Konfliktlösungen" ein. Man will dazu beitragen, "dass Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende in Europa menschenwürdig aufgenommen werden", verpflichtet sich, jedem Nationalismus entgegenzutreten, der zur "Unterdrückung anderer Völker und nationaler Minderheiten führt" und will die "Stellung und Gleichberechtigung der Frauen in allen Lebensbereichen" fördern. (CO III,8).

Gegen die Ausbeutung der Güter der Erde drängt man auf "nachhaltige Lebensbedingungen für die ganze Schöpfung" und verpflichtet sich, "einen Lebensstil weiterzuentwickeln, bei dem wir gegen die Herrschaft von ökonomischen Zwängen und von Konsumzwängen auf verantwortbare und nachhaltige Lebensqualität Wert legen". (CO III,9)Man will die christlich-jüdische Zusammenarbeit fördern und verpflichtet sich, "allen Formen von Antisemitismus und Antijudaismus in Kirche und Gesellschaft entgegenzutreten;" sowie "auf allen Ebenen den Dialog mit unseren jüdischen Geschwistern zu suchen und zu intensivieren." (CO III,10)

"Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen sowie den christlich-islamischen Dialog" will man, auch angesichts "massiver Vorbehalte und Vorurteile auf beiden Seiten", intensivieren, das Gespräch über den einen Gott führen und das "Verständnis der Menschenrechte" klären - dies alles unter der Verpflichtung, "den Muslimen mit Wertschätzung zu begegnen," und "bei gemeinsamen Anliegen mit den Muslimen zusammenzuarbeiten." (CO III,11).Die Charta stellt fest: "Die Pluralität von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und Lebensformen ist ein Merkmal der Kultur Europas geworden." Daraus folgt die Verpflichtung, "die Religions- und Gewissensfreiheit von Menschen und Gemeinschaften anzuerkennen und dafür einzutreten, dass sie individuell und gemeinschaftlich, privat und öffentlich ihre Religion und Weltanschauung im Rahmen des geltenden Rechtes praktizieren dürfen." (CO III, 12)

Alles in allem begreifen die Kirchen das Projekt Europa als einen langsamen Friedensprozess. Vor dem Hintergrund der Geschichte der beiden Weltkriege und der konfliktreichen europäischen Geschichte wollen sie der Versöhnung dienen, ohne dabei ihre eigenen Überzeugungen zu kaschieren. Die Kirchen wehren sich seit langem in der Armutsfrage gegen eine Verengung des Blicks nur auf Europa oder die eigene Region und betonen die weltweite Verantwortung gerade der reicheren Regionen. Zudem: Das in Sachen Kultur und Religion seit alters gepflegte europäische Überlegenheitsgefühl anderen Kontinenten gegenüber muss revidiert werden.Andrea Riccardi etwa warnt und mahnt: "Der kulturelle Übergang vom Imperialismus zur Interesselosigkeit, der sich in der öffentlichen Meinung Europas allgemein vollzogen zu haben scheint, zwingt uns zu einer Gewissensprüfung." (A.R. Der Präventivfriede, 116f.) Man ist auf dem Weg zu einem Dialog der Kulturen und Religionen, vor Ort und weltweit.Forderte der frühere Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors: "Europa braucht eine Seele", so bringt die Charta Oecumenica einen alten Begriff ins Gespräch, den es privat, politisch und geistlich mit Leben zu füllen gilt: Barmherzigkeit.

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Sicherheit, Wohlfahrt und Mitgestaltung in der EU Standpunkt Carina Sprungk

Von Prof. Dr. Carina Sprungk 18.11.2009

ist Professorin für Europäische Integration am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.

Für die Politikwissenschaftlerin Carina Sprungk ist das heutige Europa maßgeblich von der Europäischen Union geprägt. Als Modell erfolgreicher regionaler Integration habe die EU zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen beigetragen. Trotzdem sieht sie das Projekt Europa noch nicht als vollendet an.

Einleitung

Was Europa ist, ist nicht eindeutig zu definieren. Wir können weder mit Bestimmtheit sagen, was der Ursprung des Wortes "Europa" ist noch wo genau die Grenzen Europas liegen. Aus politischer Sicht ist jedoch unbestritten, dass das heutige Europa wesentlich von der Europäischen Union (EU) geprägt ist, die seit Mitte des letzten Jahrhunderts die Integration Europas vorantreibt. Die EU ist als Modell regionaler Integration in ihrer Ausgestaltung, ihren Kompetenzen und der Dauer ihres Bestehens bislang weltweit einzigartig. Sie hat dazu beigetragen, dass heute überall in Europa Frieden und Wohlstand herrschen. Allerdings bleiben trotz des Integrationsprozesses starke Unterschiede zwischen den verschiedenen Staaten und Regionen Europas bestehen. So ist der Nordwesten Europas wohlhabender als der Südosten. Auch zeigt die geringe politische Beteiligung der Bürger an der EU, dass man noch immer nicht von einer gemeinsamen europäischen Identität der Bürger Europas sprechen kann.

Europa und die EU

Europa stellt aus geografischer Sicht zwar den westlichen Teil des Kontinents Eurasien, wird aber historisch und kulturell gesehen als eigenständiger Kontinent behandelt. Es bildet nach Australien den zweitkleinsten Kontinent hinsichtlich der Landmasse, ist aber mit mehr als 700 Millionen Einwohnern nach Asien die am dichtesten besiedelte Region der Welt. Europa ist jedoch zugleich geprägt von einer einzigartigen geografischen, sprachlichen, kulturellen und politischen Vielfalt. So hat zum Beispiel der 1949 gegründete Europarat im Jahr 2009 insgesamt 47 Mitgliedsländer mit unterschiedlichen politischen Systemen, deren Bevölkerungen mehr als 100 Sprachen sprechen und zahlreiche religiöse Strömungen - darunter mehrheitlich Christentum und Islam - vertreten. Trotz dieser Heterogenität befindet sich mit der EU in Europa der weltweit größte regionale Integrationsverbund, in dem jenseits nationalstaatlicher Grenzen und unter dem Leitspruch "in Vielfalt geeint" (1) rechtlich verbindliche Entscheidungen für die Bürger der derzeit 27 EU-Mitgliedstaaten getroffen werden. Dies ist umso bemerkenswerter, als sich historisch gesehen der moderne Nationalstaat in Europa entwickelt hat und dessen Geschichte bis hin zu den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts wesentlich von nationalstaatlichen Konflikten geprägt war. Der europäische Kontinent ist insofern zugleich Geburtsort des Regierens im Nationalstaat sowie des Regierens jenseits des Nationalstaates in der EU. Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern es der EU tatsächlich gelungen ist, den heterogenen Kontinent Europa zu einen. Anhand der drei Sachbereiche der Politik - Sicherheit, Wohlfahrt und Herrschaft (2) - wird nun untersucht, inwiefern die EU in Europa zur Schaffung eines einheitlichen politischen Raums beigetragen hat, der die Sicherheit seiner Bürger, deren wirtschaftliche Wohlfahrt und deren

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Partizipation an der Herrschaft gewährleistet.

Europa als Raum der Sicherheit

Das Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich weitgehend durch Frieden und politische Stabilität aus. Die EU hat hierzu in mehrfacher Hinsicht einen wesentlichen Beitrag geleistet. Für die Gründungsväter des europäischen Integrationsprozesses war die Schaffung eines vereinigten Europa nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Wesentlichen ein Friedensprojekt. Durch die Errichtung von supranationalen Organisationen sollten Konflikte zwischen Nationalstaaten und dadurch künftige Kriege verhindert werden. Die 1951 von sechs westeuropäischen Staaten gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl bildete den Ausgangspunkt des Integrationsprozesses, in dem durch die gemeinsame Bündelung nationalstaatlicher Kompetenzen auf europäischer Ebene eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen ihren Mitgliedern nahezu undenkbar ist und der durch die 1992 gegründete EU mit ihren heute 27 Mitgliedstaaten fortgeführt wird. Die Gewährleistung von Frieden und Stabilität durch Integration kann damit auf eine fast 60jährige Geschichte zurückblicken.

Die so geschaffene Sicherheit blieb jedoch zunächst eine nach innen gerichtete für und zwischen den Mitgliedern des Integrationsverbundes. So verwies die eingeschränkte Handlungsfähigkeit der EU angesichts der nach Ende des Ost-West-Konfliktes ausbrechenden Kriege in Jugoslawien und später im Kosovo, die nicht ohne die Hilfe der USA beendet werden konnten, darauf, dass Europa trotz der EU Ende der 1990er Jahre noch nicht zu einem gemeinsamen Raum der Sicherheit geworden war. Diese Erfahrungen nahm die EU zu Beginn des neuen Jahrtausends jedoch als weiteren Anlass zu Reformen, die das Ziel hatten, den nach innen geschaffenen Raum der Sicherheit zu öffnen und zu erweitern. Dies geschah zunächst durch die geographische Erweiterung mit der Aufnahme von zwölf neuen Mitgliedern in den Jahren 2004 und 2007, darunter zehn ehemals kommunistische Staaten. Zudem wird auch europäischen Staaten, die (noch) nicht Mitglieder der EU sind, eine Teilhabe am Raum der Sicherheit geboten. So sind Norwegen, Island und die Schweiz Teil des Schengener Abkommens, das sich durch den Wegfall von Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedern bei gleichzeitiger Stärkung der Kontrolle an den Außengrenzen auszeichnet. Weiterhin sind alle Länder des Westbalkans als potenzielle Kandidatenländer anerkannt und über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen oder Beitrittsverhandlungen eng mit der EU verbunden.

Letztlich versucht die EU aber auch zunehmend, Europa als erweiterten Raum der Sicherheit zu konsolidieren. Dies geschieht zum einen durch die 2004 ins Leben gerufene Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) mit dem Ziel, durch bilaterale Partnerschaften mit den (neuen) östlichen und südlichen Nachbarn für Wohlstand, Sicherheit und Stabilität in den Grenzregionen der EU bzw. Europas zu sorgen. Zum anderen stehen auch die im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit 2003 erfolgenden militärischen und zivilen EU-Operationen außerhalb des europäischen Kontinents im Zeichen einer Konsolidierung und Gewährleistung der Sicherheit Europas. In diesem Zusammenhang sind auch die gemeinsamen Maßnahmen gegen "neue Bedrohungen" wie Terrorismus und organisierte Kriminalität zu sehen. Die damit verbundenen verschärften Einreise- und Abschiebebestimmungen sowie die Speicherung personenbezogener Daten sind jedoch nicht ohne Kritik geblieben. Insgesamt lässt sich aber festhalten, dass sich das Europa des 21. Jahrhunderts nach einer konfliktreichen Vergangenheit mit Hilfe der EU weitgehend zu einem politischen Raum entwickelt hat, der durch Frieden und politische Stabilität für die Sicherheit seiner Bürger sorgt.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 80 Europa als Raum der Wohlfahrt

Trotz stagnierender Wachstumsraten und steigender Arbeitslosenzahlen gehört Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu den wohlhabendsten Regionen der Welt. Dies schlägt sich nicht nur in wirtschaftlichen Indikatoren nieder, sondern auch in Daten zur sozioökonomischen Ungleichheit und zur Lebensqualität.(3) Auch wenn sich in Europa unterschiedliche Varianten des Kapitalismus (4) ausgeprägt haben, verfolgen doch nahezu alle Staaten ein Modell der sozialen Marktwirtschaft. Weiterhin sind europäische Länder im globalen Vergleich weltweit führend im Umweltschutz.(5) Die EU hat auch zur Gestaltung Europas als Raum der Wohlfahrt einen wesentlichen Beitrag geleistet.

So hat im Bereich der Wirtschaftsintegration die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes im Jahr 1992 unter anderem zu stärkerem Wachstum, mehr Arbeitsplätzen und besseren Investitionsmöglichkeiten geführt. (6) Vom Zugang zum Binnenmarkt trotz fehlender EU-Mitgliedschaft profitieren auch Länder des Europäischen Wirtschaftsraums sowie - in eingeschränktem Ausmaß - die Nachbarländer im Rahmen der ENP sowie auch Drittstaaten im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Auch hat die Mitgliedschaft in der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) die Folgen der Finanzkrise von 2008 für einige Volkswirtschaften abgemildert und ein koordiniertes europäisches Vorgehen erleichtert. Zudem hat die EU-Umweltpolitik Europa zu einer weltweiten Vorreiterrolle beim Kampf gegen den Klimawandel gebracht, aber auch innereuropäisch zahlreiche Umweltstandards verbessert.

Allerdings haben die Integrationsschritte der EU nicht zu einheitlichen Standards in den Bereichen Wirtschaft und Umwelt beigetragen. Wenn Europa im Vergleich mit anderen Regionen der Welt als wohlhabend gelten kann, so bestehen doch innerhalb Europas beträchtliche Unterschiede - trotz der integrativen Kraft von Binnenmarkt, WWU und EU-Umweltpolitik. So lässt sich sowohl wirtschaftlich als auch umweltpolitisch ein Gefälle zugunsten des nordwestlichen Europa feststellen: Trotz Erweiterung und intensiver Kooperation mit Nicht-Mitgliedern fallen die meisten Länder im Süden und Osten Europas sowohl in ihrer makroökonomischen Performanz als auch in den Umweltrankings hinter ihren Nachbarn zurück. Dies ist jedoch zumindest für die 2004 und 2007 beigetretenen Mitgliedstaaten zum Teil auf die noch unvollständige wirtschaftliche Integration zurückzuführen. So hatten insbesondere die neuen Mitgliedstaaten, die sich noch nicht für die Mitgliedschaft in der WWU qualifiziert haben, unter den Folgen der Finanzkrise zu leiden. Zudem gelten auch weiterhin Beschränkungen bei der Freizügigkeit der Arbeitnehmer der neuen in die alten Mitgliedstaaten. Gleichzeitig verweist jedoch auch ein Blick auf die Situation der alten Mitgliedstaaten auf die Grenzen der integrativen Kraft der EU: Die Volkswirtschaften der WWU-Mitglieder Frankreich und Deutschland stagnieren seit Jahren, und letzteres konnte bis zum Jahr 2006 zusätzlich seine Emissionen nicht wie gemäß dem Kyoto-Protokoll vereinbart reduzieren. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die EU zwar einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung Europas als Raums der Wohlfahrt geleistet hat, aber dennoch innerhalb Europas wesentliche Unterschiede bestehen bleiben.

Europa als Raum der Teilhabe an der Herrschaft

Bei den Mitgliedstaaten der EU sowie den Ländern, die als (potenzielle) Kandidaten fungieren, handelt es sich grundsätzlich um liberale Demokratien, die ihren Bürgern die Teilhabe an der politischen Herrschaft ermöglichen. (7) Die EU hat vor allem im Rahmen der Süderweiterung in den Jahren 1981/86 und der Osterweiterung 2004/07 die Demokratisierungsprozesse der ehemals autoritären Regime unterstützt. Die Offenheit europäischer Regime für die Teilhabe ihrer Bürger an politischen Prozessen ist zudem ein wichtiges Kriterium für die Aufnahme in den Integrationsverbund. Die EU betreibt auch aktiv Demokratieförderung in ihren Nachbarstaaten und anderen Regionen der Welt. Letztlich versucht sie auch selbst einen Raum der Teilhabe an der Herrschaft zu gestalten. Hier sind zum Beispiel die Schaffung eines Europäischen Parlaments mit regelmäßigen Wahlen, die Verabschiedung einer Grundrechtecharta, die kontinuierliche Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in den Politikprozess oder die im Lissabonner Vertrag vorgesehenen Bürgerbegehren zu nennen.

Allerdings kann die EU nur mäßigen Erfolg bei der Schaffung eines einheitlichen Raums der

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Herrschaftsteilhabe vorweisen. Zwar befürwortet eine knappe Mehrheit der Bürger eine Mitgliedschaft ihres Landes in der EU; gleichzeitig fühlen sich im Jahr 2009 jedoch 53 Prozent der Bürger nicht zufriedenstellend repräsentiert.(8) Auch die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament ging trotz seiner gestiegenen Kompetenzen kontinuierlich zurück und erreichte 2009 mit 43 Prozent einen historischen Tiefpunkt. Allerdings zeigen sich auch hier wieder beträchtliche Unterschiede zwischen den Ländern. Insgesamt hat sich jedoch kaum ein europaweiter öffentlicher Raum entwickelt, in dem Bürger an der politischen Herrschaft der EU regelmäßig und aktiv teilnehmen.

Fazit: Quo vadis Europa?

Es hat sich gezeigt, dass die Integrationsleistung der EU vor allem in den Bereichen Sicherheit und Wohlfahrt liegt. Das Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist also vor allem ein gemeinsamer politischer Raum, der zu der Sicherheit seiner Bürger und deren Wohlfahrt beiträgt, wobei sich im Wohlfahrtsbereich zum Teil deutliche Unterschiede innerhalb Europas abzeichnen. Die größten Defizite sind jedoch im Bereich der Teilhabe an der Herrschaft zu verzeichnen. Trotz fast 60jähriger Integrationsgeschichte und aktiver Bemühungen der EU ist in Europa kaum ein gemeinsamer Raum der politischen Beteiligung an europäischer Politik entstanden. Die Zukunftsaufgabe liegt deshalb in einer Stärkung der Herrschaftsteilhabe, der die Integration in den Bereichen Sicherheit und Wohlfahrt sinnvoll ergänzt. Letztlich gilt es damit, eine gemeinsame europäische Identität zu schaffen, zu der sowohl nationale als auch europaweite politische Parteien einen wichtigen Beitrag leisten können.

Anmerkungen

(1) Vgl. Europäisches Glossar, http://europa.eu/scadplus/glossary/eu_union_de.htm (07.10.2009)

(2) Vgl. Ernst-Otto Czempiel 1981. Internationale Politik. Ein Konfliktmodell. Paderborn: Schöningh.

(3) Vgl. z.B. OECD Factbook 2009, http://lysander.sourceoecd.org/vl=6158078/cl=35/nw=1/rpsv/ factbook2009/ (07.10.2009)

(4) Vgl. Hall, Peter A. und David Soskice (2001) Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford: Oxford University Press.

(5) Vgl. dazu den Environmental Performance Index, http://epi.yale.edu/Regions (07.10.2009)

(6) Vgl. http://ec.europa.eu/internal_market/benefits_de.htm (07.10.2009)

(7) Vgl. Freedom House Index, http://www.freedomhouse.org/template.cfm?page=21&year=2009&display= map (07.10.2009) Hier wird jedoch Albanien, Bosnien-Herzegovina, Moldawien, Montenegro und der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien nur der Status "teilweise liberal" vergeben.

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Auf dem Weg zur Politischen Union?

4.9.2013

Die gegenwärtige Krise in Europa ist nicht nur eine Krise des Finanz- und Wirtschaftssektors, sondern auch der Politik. Die bisherigen, vor allem von Deutschland getragenen Lösungsansätze treffen in vielen Ländern auf empörtes Unverständnis und offene Ablehnung - auch wenn Alternativen bislang fehlen. Das Zerwürfnis kann tiefe Risse in der Europäischen Gemeinschaft hinterlassen. Wie kann Europa das verhindern?

Eine mögliche Antwort darauf ist die Politische Union, also die Ausweitung der Europäischen Integration auf der politischen Ebene. Was beinhaltet das Konzept der Politischen Union? Und welche Hoffnungen verbinden sich damit? Drei Experten erklären ihren Standpunkt.

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Mehr Europa, besseres Europa oder langsamer Rückzug? Szenarien zur Weiterentwicklung der Europäischen Union

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 4.9.2013

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

In der Debatte um die europäische Integration stehen sich zwei Positionen gegenüber: Die einen fordern "mehr Europa" in Form einer Politischen Union. Die anderen wollen die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten stärken. Unbestritten ist, dass die wirtschaftliche und politische Integration Europas eng zusammenhängen.

Deutschland muss seine Vorstellungen von der Politischen Union Europas offensiv vertreten und die Franzosen auf diese Reise mitnehmen, fordert die französische Politologin Léa Briand in ihrem Beitrag. Da trauen uns unsere Nachbarn im Westen allerdings mehr zu, als wir liefern können. "Die" deutsche Vorstellung von einer Politischen Union gibt es nicht und wir sind auch innerhalb Deutschlands weit von einem Konsens darüber entfernt.

Aber was ist eigentlich eine Politische Union? Was kann sie, was die EU bislang nicht vermag? Warum ist sie nötig? Und wie soll sie funktionieren?

Die EU ist (als Europäische Gemeinschaft, EG) nicht durch einen großen Wurf entstanden, sondern hat sich Stück für Stück durch die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten entwickelt, die der Union auf verschiedenen Politikfeldern schrittweise Souveränität überlassen haben. Man könnte sagen, die EG/ EU hat sich in die Integration vorgetastet. Nach einem der Gründerväter der Union, Jean Monnet, nannte man das die "Methode Monnet". So ist aus der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1952) die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG (1958) entstanden, aus dieser die Zollunion (1968) und aus dieser der Binnenmarkt (1993).

Unterbrochen wurde diese stetige, aber langsame Entwicklung durch die Veränderungen in Europa in den Jahren 1989 bis 1991, der Zeit zwischen den ersten halbwegs freien Wahlen in Polen (Juni 1989) über den Fall der Berliner Mauer (November 1989) bis zum Zerfall der Sowjetunion (Dezember 1991). Europa musste neu strukturiert werden und alles sollte sehr schnell gehen. Es traten plötzlich zahlreiche Bewerber um die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft auf die politische Bühne und durch die sich abzeichnende Vereinigung der beiden deutschen Staaten war klar, dass es in der Gemeinschaft in Bezug auf die Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft eine klare Nummer 1 geben werde – was aber eigentlich keiner wollte.

Die Antwort auf diese Herausforderungen war die Währungsunion, also die Perspektive einer einheitlichen Währung für die gesamte Europäische Union. Damit sollte die gemeinsame Identität verstärkt werden, und es ging auch darum, das nun stärkere Deutschland mit seiner dominanten Währung, der D-Mark, einzubinden. Deshalb musste die Währungsunion sein und deshalb musste sie zu dem Zeitpunkt beschlossen werden, zu dem sie es wurde. Tatsächlich bestanden vorher schon jahrelang Überlegungen, wie man die europäischen Währungen zusammenführen könnte. Der Startschuss wurde dann aber vier Wochen nach dem Mauerfall (9. November 1989) auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EG in Straßburg (8./9. Dezember 1989) gegeben.

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Geld ist der Treibstoff der Wirtschaft und hält sie am Laufen, die Währung ist der jeweilige nationale Ausdruck des Geldes. Eine Währung hat einen Binnenwert und einen Außenwert, man kann sich also etwas dafür kaufen (z. B. Kleidung oder Lebensmittel – das ist der Binnenwert) und man kann sie gegen andere Währungen (zum Beispiel gegen den US-Dollar) tauschen – das ist der Außenwert. Wenn eine Volkswirtschaft an Wettbewerbsfähigkeit verliert, weil die Produktion von Gütern im eigenen Land verglichen mit dem Weltmarkt zu teuer ist, sinkt der Außenwert der Währung. Damit kann ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit zum Teil zumindest kurz- und mittelfristig kompensiert werden, da das Ausland zwar mehr für die eingeführten Waren bezahlen muss, aber in einer Währung, die weniger wert als ihre eigene ist.

Eine Währungsunion verhindert diese Anpassungsprozesse, sie ist im Kern nichts anderes als ein unauflösliches Austauschverhältnis zwischen verschiedenen Währungen. Während man früher für eine Deutsche Mark mal mehr und mal weniger Französische Francs bekommen hat, gilt jetzt immer derselbe "Umtauschkurs ": 1,95583 DM sind ein Euro, das entspricht 6,55957 Französischen Francs. Anders ausgedrückt: Für immer ist eine D-Mark so viel wert wie 3,35 Französische Francs. Wenn jetzt eine der beiden Volkswirtschaften schwächelt, hat diese keine Chance, das durch Abwertung der eigenen Währung gegenüber der Währung des Nachbarlandes wieder auszugleichen. Eine Abwertung würde bedeuten, dass man den Austauschkurs zwischen den beiden Währungen verändern würde, also eine Währung „billiger“ macht. Es hätte dann – um im Beispiel zu bleiben – mehr Francs für eine D-Mark gegeben.

Mit der Währungsunion ist dem Kraftfahrzeug Europa ein starker Motor eingesetzt worden, aber eine stärkere Antriebsmaschine braucht auch ein stabileres Fahrgestell, das sicherstellt, dass das Gefährt nicht ausbricht und im Graben landet. Es ist in einer Währungsunion nämlich wichtig, dass möglichst kein Teilnehmerland mit seinen wirtschaftlichen Kernzahlen, also den Lohnstückkosten, der Staatsquote oder dem Exportanteil, schlechter dasteht als die anderen, weil es nicht länger durch eine Abwertung seiner Währung auf eine Verschlechterung seiner Wettbewerbsposition reagieren kann. Das bedeutet: Es muss in den Mitgliedsländern gleiche oder möglichst ähnliche Bedingungen bei den Arbeitsmarktregeln, bei den Renten und in der Sozialpolitik geben. Man muss also einen staatenähnlichen gemeinsamen Raum schaffen, in dem diese Dinge gemeinsam für alle entschieden werden. Das ist ein Schritt hin zu den Vereinigten Staaten von Europa, da nun zu der Wirtschafts- und Währungsunion auch eine Politische Union hinzukommt, in der wichtige politische Entscheidungen von den Mitgliedstaaten nicht mehr eigenverantwortlich zu Hause, sondern gemeinsam in der EU getroffen werden.

Dem deutschen Bundeskanzler zu Zeiten der Wiedervereinigung, Helmut Kohl, war dieser Zusammenhang zwischen Währungs- und Politischer Union durchaus klar: Keine Währungsunion ohne Politische Union, lautete seine Forderung. Allerdings konnte er sich mit dieser Auffassung bei seinen Partnern, vor allem bei Frankreich und seinem Präsidenten François Mitterrand, nicht durchsetzen. Dieser scheute die weitreichende Übertragung nationaler Souveränität auf die europäische Ebene. Andererseits war die französische Position klar: Keine deutsche Vereinigung ohne Währungsunion!

So wurde 1991 durch den Vertrag von Maastricht, der 1993 in Kraft trat, die Währungsunion beschlossen, die Politische Union jedoch verschoben. Sie sollte auf einem eigenen Gipfel, der ursprünglich den Arbeitstitel "Maastricht II " trug und damit den Zusammenhang deutlich machte, verabschiedet werden. Tatsächlich geschah dies jedoch weder auf dem Gipfel von Amsterdam 1997, noch auf dem von Nizza im Jahr 2000. Auch der Versuch einer europäischen Verfassung, die Anfang des neuen Jahrtausends erarbeitet und 2004 unterzeichnet wurde, scheiterte an ablehnenden Volksabstimmungen in den Niederlanden und in Frankreich im Jahr 2005.

Mittlerweile war die Währungsunion längst in Kraft, seit 1999 gibt es das gemeinsame Geld als Buchgeld (also auf dem Konto), seit 2002 auch als Scheine und Münzen. Regeln für eine Politische Union versuchte die EU durch die Hintertür mit dem Stabilitäts- und

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Wachstumspakt von 1997 zu schaffen, den die Unterzeichnerstaaten allerdings nicht übermäßig ernst nahmen. Das Ergebnis ist bekannt: Die Euro-Staaten bauten ihre Schulden nicht ab, sondern auf, viele von ihnen taten wenig, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder gar zu steigern, und alle hofften, dass das schon gut gehen werde. Dies war auch bis 2009/2010 der Fall, als deutlich wurde, dass das erste Euro-Land, nämlich Griechenland, seine Schulden nicht mehr bedienen konnte. Was folgte ist noch in guter Erinnerung: Bürgschaften wurden gegeben, Rettungsschirme gespannt, Schulden erlassen, drastische soziale Einschnitte in den südeuropäischen Staaten vorgenommen - aber wirklich überwunden ist die Krise nicht.

Neben den aktuellen Herausforderungen, vor denen die Euro-Staaten und ihre Bürger, die Europäische Zentralbank, die europäischen Institutionen, der Internationale Währungsfonds und der private Finanzsektor standen und stehen, lautet jetzt die Frage, wie es in Europa weitergehen kann. Hier stehen sich zwei Positionen gegenüber:

Die einen sagen, man müsse nun das nachholen, was man in den 1990er-Jahren versäumt habe. Man müsse also die Politische Union schaffen, die immer als Voraussetzung für eine funktionierende Währungsunion gesehen wurde. Man könnte diese Auffassung mit einem Wort des deutschen FinanzministersWolfgang Schäuble und anderen etikettieren als "Mehr Europa ". Einen Ausdruck findet diese Meinung auch in der Forderung nach einem "europäischen Finanzminister", der letztlich die nationalen Finanzminister beaufsichtigen sollte. Der Beitrag des Chemnitzer Europawissenschaftlers Marcus Hornung geht in diese Richtung.

Dem widerspricht die andere Auffassung, die die Währungsunion als Fehler bezeichnet. Der Euro sei ein Zuviel an Integration gewesen, was nun nicht durch eine weitere Vertiefung der Integration geheilt werden könne. Wenn ein Medikament falsch verordnet sei, helfe auch die doppelte Dosis nicht. Man benötige nicht mehr Europa, sondern mehr nationale Verantwortung und Handlungsfreiheit, also "Mehr nationale Eigenverantwortlichkeit". Das ist die Grundüberzeugung des Beitrags von Alexander Dierks, der in Chemnitz Politik studiert und auch macht.

Die Diskussion wird in Deutschland zurzeit intensiv geführt, aber sie folgt nicht den traditionellen Parteilinien. Tatsächlich äußern sich die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Parteien. In der Freien Demokratischen Partei, die in der Bundesregierung 2009 bis 2013 unter anderem mit dem Außen- und dem Wirtschaftsminister vertreten war, gab es sogar eine Mitgliederbefragung, ob die Partei die Politik der Eurorettung der von der FDP mitgetragenen Bundesregierung weiterhin unterstützen solle. Auch in den anderen Regierungsparteien haben einige Abgeordnete im Deutschen Bundestag gegen die eigene Bundesregierung gestimmt.

Im Zusammenhang mit einem Ausbau der Europäischen Union wird auch viel davon gesprochen, die EU bürgernäher zu gestalten und den Menschen mehr Mitwirkungsmöglichkeiten zu geben. So wird beispielsweise immer wieder die Forderung erhoben, es solle die Möglichkeit geschaffen werden, den Präsidenten der Europäischen Kommission oder den Präsidenten des Europäischen Rates, also der Runde der Staats- und Regierungschefs der EU, direkt zu wählen. Damit, so die Befürworter dieser Ideen, würden die Bürgerinnen und Bürger der EU stärker an den Entscheidungen beteiligt. Und wenn sie sich einbezogen sähen, würden sie sich auch stärker für die EU interessieren. Das sei ein konkreter Schritt zu mehr Demokratie in Europa.

Allerdings ist auch diese Auffassung nicht unbestritten. Man könne nicht den Präsidenten der Europäischen Kommission – von der sowieso die wenigsten Menschen wüssten, was diese eigentlich tut – direkt wählen und ihn dann mit 27 Kommissaren umgeben, auf deren Auswahl er tatsächlich kaum Einfluss hat und die unterschiedliche politische Lager repräsentieren – je nach Situation im entsprechenden Mitgliedstaat. Selbst wenn er wollte, könnte ein solcher Präsident nicht die Ergebnisse liefern, die seine Wähler von ihm erwarteten. Gleiches gelte für den Präsidenten des Europäischen Rates, der in diesem ja nicht einmal Stimmrecht besitzt, da er selbst kein Regierungschef ist. Man müsste also das ganze europäische System von Grund auf umbauen, was zähe und jahrelange

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Verhandlungen voraussetzen würde. Diese würden die Bürgerinnen und Bürger aber nicht an Europa binden, sondern sie von den europäischen Institutionen eher abschrecken.

Es gibt also noch viel zu besprechen in Europa, bevor wir uns innerhalb der 28 Mitgliedstaaten auf eine Richtung geeinigt haben. Aber dass jetzt über die politische Zukunft der EU im Diskurs gerungen wird, ist sicherlich ein positiver Nebeneffekt der Krise, die uns seit einigen Jahren in Atem hält.

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Die Politische Union – warum der Ruf nach "mehr Europa" sinnvoll ist Standpunkt Marcus Hornung

Von Marcus Hornung 4.9.2013 Marcus Hornung ist seit Oktober 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Jean Monnet Professur Europäische Integration und Fachstudienberater für Europa-Studien mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung. Er studierte European Studies mit den Schwerpunkten Europarecht und Europapolitik an den drei Berliner Universitäten (M.E.S.), der Masarykova Univerzita Brno und der Technischen Universität Chemnitz (B.A.).

Gerade in Krisenzeiten wird deutlich, dass wir nicht unter "zu viel", sondern unter "zu wenig" Europa leiden, meint Marcus Hornung. Beschreitet Europa den Weg hin zur Politischen Union, werde es gestärkt aus der gegenwärtigen politischen und Wirtschaftskrise hervorgehen.

Die Agenda der europäischen Debatten in Politik, Publizistik und Wissenschaft ist stetig im Fluss. Je nach Zeitpunkt, Stimmung und zeitlicher Nähe zur nächsten Wahl werden unterschiedlichste Themen diskutiert – von der jüngsten, vermeintlich technokratischen Richtlinie der Europäischen Union bis hin zu ganz grundsätzlichen Aspekten des europäischen Integrationsprozesses. Dabei ist auffällig und logisch, dass letztgenannte Diskussionen immer dann zutage treten, wenn es in Europa kriselt: Während der ”Eurosklerose” der 1970er-Jahre wurde auf europapolitischer Ebene begonnen, sich mit einer uns alle einenden ”Europäischen Identität” auseinanderzusetzen; der Vertrag von Maastricht zur Gründung der Union bot der Presse die Grundlage, über ein ”Demokratiedefizit” der Union zu spekulieren; die Verfassungskrise des vergangenen Jahrzehnts gab der Wissenschaft Anlass, die der fortschreitenden Einigung zugrunde liegenden ”Werte der Union” zu analysieren und die gegenwärtige Wirtschafts- und Währungskrise hat eine weitere Debatte angestoßen: Das Für und Wider einer ” Politischen Union” in Europa ist sowohl auf politischer, journalistischer als auch auf sozialwissenschaftlicher Ebene allgegenwärtig.

Obwohl der Begriff ”Politische Union” im Zuge der Krise nicht neu geschaffen wurde, hat gerade die Wissenschaft ein erhebliches Problem mit ihm: Weder besteht Klarheit darüber, ob wir die Politische Union nicht längst haben, noch existiert eine tragfähige Konsensdefinition darüber, was die Politische Union eigentlich ist: Häufig ist zu lesen, die Politische Union sei all das, was die angeschlagene Wirtschafts- und Währungsunion sinnvoll ergänzen würde. Andere Autoren setzen die Politische Union mit einem Fernziel eines Europäischen Bundesstaates – der Idee der ”Vereinigten Staaten von Europa” – gleich. Bei solch divergierenden Vorstellungen muss bezweifelt werden, ob alle vom gleichen Gegenstand sprechen. Wie schon bei der Debatte um die Anwendbarkeit des Begriffs ”Demokratie” auf die Europäische Union besteht für die Wissenschaft auch hier wieder ein Theorieproblem. Während Presse und Rundfunk über die fehlende Definition hinwegsehen, versucht die Wissenschaft nun nacheilend, begriffliche Klarheit zu schaffen.

Der europäische Integrationsprozess kennt zwei Teilprozesse, die sich gegenseitig immer wieder bedingt haben: Zum einen war und ist er eine anhaltende inhaltliche Vertiefung, zum anderen eine stetige räumliche Erweiterung. Interessant scheint, dass die Diskussion zur Politischen Union die horizontale Dimension – und damit zum Beispiel jahrzehntelange Debatten etwa um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union – völlig ausblendet und allein die vertikale Integration fokussiert. Diese lässt sich ihrerseits in zwei Komponenten aufgliedern: die Frage, welche ehemals nationalen Politikbereiche von der Union bearbeitet werden, und die Frage, wie – das heißt, mit welchen Entscheidungs- und Durchsetzungsmechanismen – sie in der Europäischen Union behandelt werden.

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Hier setzt der rechtswissenschaftliche Begriff des Politischen an: Das Politische ist demnach durch Allzuständigkeit gekennzeichnet, was übertragen auf die Union bedeuten würde, dass sie für alle Politikbereiche zuständig wäre und diese auch – supranational – bis in die Mitgliedstaaten durchsetzen könnte. Entwickelt sich die Union also langsam zu einer Politischen Union, bedeutet das im Kern: mehr inhaltliche Reichweite, mehr Durchsetzungsbefugnisse – kurzum: ”mehr Europa”.

Eine Reihe guter Gründe sprechen für ”mehr Europa”: Erstens befindet sich die Union nicht nur aufgrund der Wirtschafts- und Währungskrise am Scheideweg, so dass neue Modelle erwogen werden müssen. Zweitens dürfen die Union und ihre Mitgliedstaaten die Chancen, die in der Krise erkannt werden können, nicht verschwenden. Und drittens ist ”mehr Europa” der einzige Weg hin zu einem demokratischeren Europa.

Möchte man sich die Errungenschaften des Integrationsprozesses bewusst machen, lohnt ein Blick auf seine Anfänge: Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl der 1950er-Jahre bezog sich vertikal auf nur ein einziges Politikfeld und horizontal auf nicht mehr als ihre sechs Gründungsstaaten. Im Laufe der Jahrzehnte nahm der Einigungsprozess Fahrt auf: Vertikal wurde eine Vielzahl an Kompetenzen von den Mitgliedstaaten auf die europäische Ebene übertragen und horizontal wuchs die damalige Gemeinschaft der sechs Gründungsstaaten zur heutigen Union der 28 Mitgliedsländer an. Die vielen Erweiterungen machten immer wieder Anpassungen der europäischen Verträge erforderlich: Während sich am Anfang des Integrationsprozesses noch sechs Minister schnell einig wurden, ist das heute bei 28 Ministern eine Herausforderung, so dass beispielsweise die Regeln der Entscheidungsfindung verändert werden mussten. Die Größe der heutigen Union sorgt positiv formuliert für echte Vielfalt – negativ formuliert für ein immenses Gefälle. Nach sechs Jahrzehnten europäischer Integration scheint es, als ob Vertiefung und Erweiterung mit den der Union zur Verfügung stehenden Mechanismen und Kompetenzabgrenzungen kaum noch in Einklang zu bringen sind. Der Umstand, dass sich viele Mitgliedstaaten in diversen Politikbereichen nicht mehr einigen wollen – oder können – lähmt die Union. Zu Recht werden daher Modelle der ”differenzierten Integration” diskutiert, die der Vielfalt zwischen den Mitgliedstaaten durch größere Flexibilität gerecht werden sollen. Der gordische Knoten könnte jedoch auch durch das ”mehr Europa” einer Politischen Union zu lösen sein: Würden konsequent auch letzte vermeintlich nationalstaatlich-sensible Politikbereiche wie die Steuerpolitik auf die europäische Ebene übertragen, würde der Integrationsprozess wieder beschleunigt, das Gefälle zwischen den Mitgliedstaaten verringert, die Transparenz zwischen den Nationalstaaten erhöht und dadurch ein Beitrag zur Überwindung der Vertrauenskrise bei den Europäerinnen und Europäern geleistet werden.

Dass es in Europa gegenwärtig kriselt, kann für diesen Aufbruch ein guter Nährboden sein: Die Wirtschafts- und Währungskrise hat uns vor Augen geführt, dass wir bis dato nicht unter ”zu viel”, sondern – durch fehlende Kontroll-, Durchgriffs- und Sanktionsmechanismen – unter ”zu wenig” Europa leiden. Hierin liegt der Kern der Vertrauenskrise, zu der sich die letzten Jahre des Integrationsprozesses entwickelt haben. Diese Erkenntnis sollte motivieren, sich eben nicht mit dem Status quo abzufinden, sondern ambitioniert die europäische Einigung voranzutreiben, um die nun identifizierten Lücken endlich zu schließen. Der Blick in die Vergangenheit belegt, dass Europa darin Meister ist, denn wann immer eine Krise den Integrationsprozess bedrohte, ging die Gemeinschaft oder Union schon wenige Jahre später gestärkt hervor: Die ”Krise des leeren Stuhls” der 1960er-Jahre vermochte die damalige Gemeinschaft nur wenige Monate auszubremsen, bevor der Gipfel von Den Haag 1969 umso ambitioniertere Ziele in Aussicht stellte. Aus der gescheiterten frühen Währungsunion (Werner-Plan) der 1970er-Jahre ging wenige Jahre später das Europäische Währungssystem hervor, das erheblich dazu beitrug, die Wechselkursschwankungen zwischen den Mitgliedstaaten zu minimieren. Die Verfassungskrise des vergangenen Jahrzehnts wurde nach einer kurzen Reflexionsphase durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon überwunden – ganz ohne das Einbüßen materiellen Rechts. Die Union und ihre Vorläufer sind krisenerprobt und wissen aus Schwächen Lehren zu ziehen. Auch die gegenwärtige Krise sollte nicht verschwendet und nötige Primärrechtsreformen sollten auf dem Weg hin zu ”mehr Europa” angegangen werden.

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Das ist schon deshalb geboten, weil die Entwicklungen in einer dynamischen und globalisierten Welt die politischen Gegebenheiten sonst zu überholen drohen. Es ist längst klar, dass wesentliche Herausforderungen unserer Zeit sich nicht mehr nur auf Nationalstaaten beziehen und in Folge durch sie isoliert auch nicht mehr zu bearbeiten sind: Umwelt- und Klimaprobleme machen an nationalstaatlichen Grenzen ebenso wenig Halt wie bedrohliche Epidemien; organisierte Verbrecher müssen sich beim Grenzübertritt im Schengen-Raum genauso wenig ausweisen wie Studierende oder Pendler. Und dass Wirtschafts- und Finanzturbulenzen einzelner Staaten uns – früher oder später – alle betreffen können, mussten wir auch in Deutschland erkennen. Da alle diese europäischen Themen die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar berühren, müssen sie in die damit befassten Politikprozesse angemessen eingebunden werden. Da die Union für viele Herausforderungen unserer Zeit die einzig adäquate Regelungsebene darstellt, muss sie auch mit den entsprechenden Kompetenzen in allen denkbaren Politikfeldern ausgestattet werden, was längst noch nicht der Fall ist. ”Mehr Europa” bedeutet nämlich auch, mehr europäischen Einfluss aufeinander zu nehmen und im Umkehrschluss zuzulassen.

Es ist sinnvoll, die Politische Union einzufordern, auch wenn sich hinter diesem Begriff letztlich nur der Bedarf an ”mehr Europa” verbirgt. Dem nachzukommen, wird erneut langjährige Verhandlungs- und Ratifikationsprozesse erfordern. Das jedoch sollte zugunsten nachhaltiger Stabilität in Europa in Kauf genommen werden.

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Die Politische Union – Kampfbegriff, aber (derzeit) kein Lösungsansatz Standpunkt Alexander Dierks

Von Alexander Dierks 4.9.2013 Alexander Dierks hat einen Bachelor in European Studies und beendet an der TU Chemnitz gerade sein Masterstudium in Politikwissenschaft. Seit 2011 ist er Landesvorsitzender der Jungen Union Sachsen und Niederschlesien. Nebenberuflich ist er für einen Bundestagsabgeordneten als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.

Eine Politische Union würde die Probleme, vor denen Europa in der Krise steht, nicht lösen können, meint Alexander Dierks. Stattdessen müssen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mehr Eigenverantwortung übernehmen.

"Es ist etwas faul im Staate Dänemark" – diesen Satz aus Shakespeares Hamlet könnte man derzeit auch in abgewandelter Form auf die Europäische Union projizieren. Die Frage, welchem Zielpunkt die Europäische Integration zustrebt, ist so alt wie das europäische Einigungsprojekt selbst. Schon seit dem Misserfolg der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahr 1954 ist bekannt, dass nicht jeder geplante Integrationsschritt von Erfolg gekrönt sein muss. In lebhafter Erinnerung ist uns allen noch das Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags an Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005. Damit verbunden ist auch die Lehre, dass eine tiefgreifende Weiterentwicklung der Europäischen Union letztlich an jedem einzelnen Mitgliedsstaat scheitern kann – sei sie auch noch so gut vorbereitet.

Spätestens seit 2009 – in diesem Jahr leistete Griechenland gewissermaßen seinen europäischen Offenbarungseid und korrigierte seinen Schuldenstand auf ein realistisches Niveau nach oben – sind Europa und die Zukunft der Europäischen Union wieder in aller Munde. Das ist im Grunde zu begrüßen, findet doch die Zukunft des geeinten Kontinents nun endlich Einzug in die Gesprächsrunden der Stammtische und in das Bewusstsein der Bevölkerung. Die Bedeutung Europas ist damit nicht mehr nur Gegenstand politischer und intellektueller Elitendiskurse, sondern Teil der öffentlichen politischen Wahrnehmung – und das ist gut!

Seit 2009 ist den meisten Bürgerinnen und Bürgern des vereinten Europa, den politischen Verantwortungsträgern ohnehin, auch bewusst, dass Europa mehr ist als nur Reisen ohne Grenzkontrollen und Vorgaben für den Krümmungswinkel von Gurken. Und seitdem ist auch wieder Leben in die Debatte über die Zukunft der Europäischen Union gekommen. In Deutschland hat sich aus dieser Debatte heraus sogar eine Partei gegründet. Von "weniger" bis "ganz viel Europa" ist jedenfalls alles zu haben. Auch die Vereinigten Staaten von Europa, zu Kanzler Helmut Kohls Zeiten noch ein Sehnsuchtswort, sind wieder Teil des öffentlichen Diskurses. Weniger pathetisch ausgedrückt geht es um mehr Kompetenzen für Europa und die Vertiefung der "Politischen Union".

Aber was heißt eigentlich Politische Union, was verbirgt sich hinter diesem großen Begriff, dessen Klang Sicherheit und Stabilität verspricht? Nun, abschließend vermag diese Frage mutmaßlich niemand zu beantworten. Es gibt Ansätze, das Europäische Parlament und den Rat, neben der Kommission, mit Initiativrechten bei der europäischen Gesetzgebung auszustatten. Es wird darüber nachgedacht, den Präsidenten der Europäischen Kommission direkt von den Bürgerinnen und Bürgern wählen zu lassen, oder den Europäischen Stabilitätsmechanismus in einen Europäischen Währungsfonds umzuwandeln. Und natürlich muss der Stabilitäts- und Wachstumspakt um einen automatischen Sanktionsmechanismus erweitert werden – ein Sparkommissar soll über seine

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Einhaltung wachen – jedenfalls nach Dafürhalten der Deutschen. Diese Initiativen sind leicht begründet: Die Krise ist entstanden, weil es zu wenig Europa gab. Wenn wir in der Welt von morgen bestehen wollen, brauchen wir mehr Europa.

Doch wollen die Europäerinnen und Europäer eine Politische Union? Diese Frage ist immens wichtig, soll Europa doch nicht zuletzt den Bürgern dienen und von europäischen Bürgern, überzeugten Europäern, getragen werden. Hierzu geben aktuelle Umfragen zur Zufriedenheit der Bürger mit der EU Aufschluss: In nahezu allen Ländern - Deutschland bildet eine rühmliche Ausnahme - sind die Zustimmungswerte zur Europäischen Union in einem rasanten Sinkflug begriffen. Noch dramatischer sieht es aus, wenn man danach fragt, ob die EU der wirtschaftlichen Lage im eigenen Land zuträglich ist – auch hier bildet Deutschland eine Ausnahme, wenngleich die Zustimmungswerte ebenfalls sinken. Und wenn es um die Frage geht, ob Angela Merkel in der Euro-Krise gute Arbeit leistet? Die Deutschen beantworten diese Frage weit überwiegend positiv, während die Bewertung in Südeuropa genau umgekehrt ausfällt.

Die Eurokrise führt uns schmerzhaft vor Augen, dass unter den Völkern Europas und deren Regierungen völlig unterschiedliche Vorstellungen von dem bestehen, was Europa sein soll und was eigentlich die Einführung einer gemeinsamen Währung bedeutet. Bis 2009 war das scheinbar halb so schlimm. Die Deutschen erfreuten sich an einem großen Absatzmarkt ohne störende Wechselkursverluste. Und die Länder des europäischen Südens erfreuten sich an vergleichsweise niedrigen Zinsen. Wenn jemand gegen die Defizitkriterien verstieß, war das nicht so bedeutend, zumal wenn es die Gründungsnationen Frankreich und Deutschland waren. Als Dankeschön hat man dann auch bei den südeuropäischen EU-Mitgliedern nicht so genau hingeschaut. Mit dem Aufkommen der Krise hat sich vieles geändert. Unter der Führung Angela Merkels und zunächst noch Nicolas Sarkozys wurde der europäische Fiskalpakt verhandelt und strengere Defizitkontrollen und eine Schuldenbremse für alle Mitgliedsstaaten vereinbart. Im Gegenzug erhalten Krisenstaaten Hilfen aus dem Europäischen Stabilitäts-Mechanismus (ESM), um die drohende Zahlungsunfähigkeit abzuwenden. Seitdem ist klar, dass eine gemeinsame Währung auch gemeinsame Verantwortung und eine verwandte Ausgabenpolitik zu bedeuten hat – nicht zum Amüsement einiger nationaler Regierungen und der betroffenen Menschen. Das ist verständlich und nachvollziehbar und soll nicht kleingeredet werden. Fakt ist aber, dass es so ist. Gepaart ist dieses Unzufriedenheitsgefühl mit der Annahme, dass deutsche Interessen die europäische Politik dominieren.

Doch zurück zur Vertiefung oder Vollendung der Politischen Union. Das würde einen langwierigen Verhandlungs- und Ratifizierungsprozess voraussetzen. Die Europäischen Verträge müssten grundlegend geändert werden, wie es bereits 2004 mit dem Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrags versucht wurde und wie es durch den 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon geschah. Beide Beispiele zeigen, wie zäh und risikoreich ein Verhandlungsprozess sein kann, auch wenn weniger tiefgreifende Entscheidungen zur Abstimmung stehen. Und selbst wenn es kurzfristig gelingen würde, diese Änderungen vorzunehmen, was wäre das Ergebnis? Bei der Einführung des Stabilitäts- und Wachstumspakts gingen seine Befürworter davon aus, damit die Stabilität eines gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraums zu garantieren, nur um jene Kriterien als erste zu brechen und als sei das noch nicht genug, die anstehenden Strafzahlungen zu verweigern. Würden "automatische" Sanktionsmechanismen daran etwas ändern? Das darf bezweifelt werden, gerade und auch, wenn diese einen großen und einflussreichen Mitgliedsstaat betreffen würden. Und wie soll die Direktwahl eines Präsidenten der Europäischen Kommission aussehen? Wenn man eine Wette darauf eingehen würde, dass diese Person nicht deutscher Staatsbürgerschaft wäre, würde man diese aller Voraussicht nach gewinnen. Wären wir Deutschen der Meinung, dass dieser Präsident ein Deutscher sein sollte? Mit Sicherheit – gerade vor dem Hintergrund unserer Verantwortung in der Krise. Würde diese Wahl etwas daran ändern, dass die Mentalitäten und Politiktraditionen in Europa doch viel unterschiedlicher sind, als wir das bis 2009 zu glauben wagten? Kurzfristig jedenfalls nicht.

Gerade in Bezug auf Letzteres stellt uns die jetzige Situation vor eine gewaltige Bewährungsprobe. Geht es doch nicht zuletzt darum, ob die EU ihrem Leitspruch "In Vielfalt geeint" gerecht werden kann,

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 92 ob sie diese Vielfalt zulassen kann, obwohl wir durch eine gemeinsame Währung eine große gemeinsame Verantwortung übernommen haben. Es wird in den kommenden Jahren eine große Herausforderung sein, diese Friedens- und Wirtschaftsgemeinschaft zu erhalten, aus Vielfalt Stärke zu schöpfen und dennoch den Besonderheiten und Gegebenheiten aller Mitgliedsstaaten Rechnung zu tragen. Das wird nur gelingen, wenn alle Mitgliedsstaaten sich ihrer Verantwortung bewusst sind und bereit sind, die Regeln einzuhalten, die im Grunde seit dem Maastrichter Vertrag bestehen. Ein mangelndes Verantwortungsbewusstsein, würde auch eine vertiefte Politische Union, die sich zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin nicht verwirklichen lassen wird, nicht ersetzen können. Europa fährt derzeit auf Sicht und das wird noch einige Zeit so bleiben. Europa befindet sich auf dem Weg kleiner, aber möglicher Lösungen. Eine Politische Union ist (derzeit) keine Lösung, sondern würde zum Teil des Problems werden.

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L’union politique? Die Position Frankreichs in Bezug auf das Projekt der Politischen Union Standpunkt Léa Briand

Von Léa Briand 4.9.2013 Die Französin Léa Briand ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Institut für Migrations- und Sicherheitsstudien in Berlin. Zuvor war sie beim European Council on Foreign Relations in Berlin tätig und Stipendiatin des Deutsch-Französischen Parlamentsstipendiums im Bundestag. Sie verfügt über einen Master in Politikwissenschaft und internationalen Beziehungen der Sciences Po Bordeaux und studierte außerdem an der Philipps-Universität Marburg, an der Freien Universität Brüssel und an der Humboldt Universität zu Berlin.

Der französische Widerstand gegen eine politische Integration in Europa schwindet, urteilt Léa Briand. Zwar misstraut Frankreich weiterhin der Idee einer Politischen Union, steht einer europäischen Wirtschaftsregierung aber offen gegenüber.

Am 16. März 2013 sprach der französische Präsident François Hollande bei einer Pressekonferenz [1] vor europäischen Journalisten[2] im Elysée-Palast von der Verwirklichung einer europäischen Politischen Union. Es mag für die deutschen Leser normal und gewöhnlich klingen, das Thema der politischen Integration der EU anzusprechen, in Frankreich aber war dies das erste Mal seit vielen Jahren der Fall. Endlich sprach Hollande aus, was die deutsche politische Elite seit Jahren – und vor allem in den letzten Monaten – bewegt: ”Deutschland erklärte mehrmals, dass es für eine Politische Union sowie eine neue Phase der Integration bereit ist. Frankreich ist willens, dieser Politischen Union einen Inhalt zu geben.” Der Begriff ”Politische Union” war über viele Jahre hinweg ein Tabu in der französischen Politik. Wer eine Chance haben wollte, gewählt bzw. wiedergewählt zu werden, vermied es besser, von politischer Integration zu sprechen. Einer Wirtschafts- oder Währungsintegration stimmte Frankreich gerne zu, aber im reinen politischen Bereich schob das Land die Idee immer wieder auf die lange Bank.

Dieses Verhalten der französischen Elite ist nicht neu. Schon in den Jahren 1991 und 1992, bei der Volksabstimmung über den Vertrag von Maastricht, mussten sich die Regierung und die proeuropäischen Parteien sehr bemühen, das Volk von den Vorteilen des Vertrags zu überzeugen. Die Zustimmung betrug nur 51 Prozent. Im Jahr 1994 kam es zu einem erneuten Rückschlag für die Befürworter einer Politischen Union, als die französische Regierung den Deutschen den Rücken zukehrte. Grund dafür war das Positionspapier[3] von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble zur Zukunft Europas, dem von französischer Seite keine konkreten Reaktionen folgten. Die beiden CDU-Politiker plädierten für ein (vor allem) deutsch-französisches Kerneuropa als Motor der politischen Integration.

Die Ablehnung der Idee einer Politischen Union ist keine neue, erst durch die Finanzkrise erzeugte Tendenz in Frankreich. Auch 2005, in einer Zeit, als es Frankreich wirtschaftlich gut ging, erteilten die Franzosen Europa eine klare Abfuhr: Sie lehnten den Vertrag über eine Verfassung für Europa mit einer Mehrheit von fast 55 Prozent ab. Obwohl sich sowohl die Regierung des Präsidenten Chirac als auch die Führung der Hauptoppositionspartei – die Sozialistische Partei – für den Vertrag einsetzten, entschied sich die Mehrheit der Franzosen dagegen. Dieses Ergebnis war ohne Frage ein schwerer Schlag für die Europäische Union insgesamt, aber auch innenpolitisch folgten in Frankreich Konsequenzen aus der Abstimmung. Die Regierung von Jean-Pierre Raffarin trat zurück und Dominique de Villepin wurde neuer Premierminister. Die Sozialistische Partei, die sich im Vorfeld der Abstimmung bereits an der Frage nach der Position bezüglich des Vertrags gespalten hatte, stürzte in eine Identitätskrise.

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Die französische Diskussion über eine Politische Union ist keine rein europäische, sondern auch eine innenpolitische Debatte.

Auf europäischer Ebene verursachte das negative Ergebnis dieser Abstimmung ein kleines politisches Erdbeben, welches durch die niederländische Ablehnung zwei Tage später verstärkt wurde. Es wurde für Europa sichtbar, was in der französischen Innenpolitik schon seit Jahren langsam reifte: Frankreich, gefolgt von den Niederlanden - beide Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft und Motoren der Integration - erfuhren eine tiefe Diskrepanz zwischen dem Europadiskurs der Eliten und der Meinung der Bevölkerungen. Die Franzosen hatten von Anfang an keine vergleichbare proeuropäische Haltung wie die Deutschen. Bei jeder bedeutsamen europäischen Entscheidung mussten – und müssen – die proeuropäischen Parteien und die politischen Führungskräfte sehr viele Energie aufbringen, um das französische Volk erneut von der Wichtigkeit Europas und den Vorteilen der Union zu überzeugen. Jede Europawahl ist gleichzeitig eine Abstimmung für oder gegen die EU. Die Gründe für diese gewisse Europazurückhaltung lassen sich bereits in der Nachkriegsgeschichte und in den Gründungsjahren der französischen Fünften Republik finden, analysieren, kommentieren und mit der deutschen Situation vergleichen. Dies würde allerdings über den Rahmen dieses Beitrages hinausgehen.

Bedeutet das einen stetigen Rückgang des Interesses der französischen Bevölkerung an Europa? Dass Präsident Hollande von der Politischen Union sprach, war merkwürdig, besonders in jenen wirtschaftlich schwierigen Zeiten für Frankreich. Es zeigt aber die Wichtigkeit der EU in der französischen Politik. Zwar dominieren eher negativ behaftete Begriffe wie Eurorettung, Eurobonds und Budgetverhandlungen die Debatten, aber die EU ist dauerhaft präsent. Die Regierung sowie fast alle Parteien positionieren sich entlang von EU-Entscheidungen. Man misst die politische Ausrichtung am Maßstab der Unterstützung von EU-Maßnahmen. Niemals zuvor war die EU so ein großes Thema in den innenpolitischen Diskussionen. Ob sich das positiv auf die Einstellung der Franzosen gegenüber den EU-Institutionen und der Union insgesamt auswirkt, bleibt zu bezweifeln. Auch das Verhältnis zwischen der Europäischen Kommission und der französischen Spitze wird dadurch nicht entspannt, da es sich hauptsächlich um kritische Beiträge über die EU in der Öffentlichkeit handelt. Ob kritisch oder nicht, tragen die Berichte trotzdem dazu bei, das Bewusstsein der Franzosen für die Notwendigkeit und Allgegenwärtigkeit der Union zu stärken.

Die aktuelle Lage ist neu und außergewöhnlich in der Geschichte der europäisch-französischen Beziehungen: Einerseits werden der aktuelle EU-Kurs und die aufgedrängten Sparmaßnahmen so heftig wie noch nie kritisiert; andererseits war Frankreich gleichzeitig nie zuvor so abhängig von der EU wie heute. Zwar erlebte das Land bereits mehrere schwere wirtschaftliche Krisen, aber niemals waren diese in einem solchen Maße an die europäische Integration gekoppelt. Daraus ergibt sich die äußerst ambivalente Situation für das Land: Man kritisiert die EU und weist die Institution bewusst zurück, in dem Wissen, genau auf diese nicht verzichten zu können.

Vielleicht ist dieses Verhalten eine Art letzter Kampf oder ein Ehrengefecht, bevor die politischen Kräfte die Waffen niederlegen und zugeben, dass Frankreich gerade ohne die EU nicht überleben kann. Diese These könnte die Worte von Präsident Hollande am 16. Mai erklären: Innenpolitisch die EU kritisieren, die Muskeln spielen lassen, zeigen, dass Frankreich nicht so schnell aufgibt und sich ideologisch gegenüber dem liberalen Duo Barroso und Merkel positioniert. Auf EU-Ebene, aufgrund der aktuellen Notwendigkeit, weiterhin volle Unterstützung für die kommende Integration demonstrieren. Die zwei magischen Worte auszusprechen, war ohne Zweifel ein Zeichen in Richtung des deutschen Partners. Denn gerade seit letztem Jahr hatte dieser das Thema der Politischen Union auf seiner Agenda ganz oben angesetzt.[4] Natürlich diente die Geste auch zur Beruhigung aller anderen Beobachter des deutsch-französischen Tanzpaares, dem Antrieb der EU. Die Botschaft war eindeutig: Nur weil die Staatsoberhäupter aus unterschiedlichen politischen Lagern stammen und gerade nicht dieselben Ansichten zur Krisenlösung teilen, ist der Tanz noch nicht beendet. Und ja, Frankreich möchte immer noch an der Spitze der EU und aller ihrer Fortschritte stehen.

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Ja zur Politischen Union, aber unter welchen Bedingungen und unter welchen Umständen? An dieser Stelle blieb der Präsident sehr vage und den ”französischen Prinzipien” der politischer Integration seiner Amtsvorgänger treu. Er wiederholte die Argumente, welche eigentlich seit den neunziger Jahren die französische Linie bezüglich der EU prägen: Ja zu einer Wirtschaftsunion, ein Ja sogar zu einer wirtschaftspolitischen Regierung. Aber bei allem, was darüber hinausginge, bedürfe es noch vieler Diskussionen und Verhandlungen. Das war die bisherige französische Auffassung der Politischen Union und war auch genau das, was die Deutschen nicht mehr hören wollten.

Warum kann sich Frankreich nicht von dieser Vorstellung lösen? Der Wille, die europäische Integration der EU weiter mitzutragen und voranzutreiben, ist vorhanden. Der sozialistische Präsident ist zweifellos proeuropäisch orientiert, ebenso wie seine Anhänger und die parlamentarische Mehrheit. Das zeigt sich in der Mitte Mai verabschiedeten ”Convention Europe” der sozialistischen Partei[5], die ein Plädoyer für Europa darstellt. Ausgehend von einer engen Verknüpfung der Zukunft Frankreichs mit der Europäischen Union legt dieses Europamanifest die Positionen der Partei in europäischen Fragen fest.

Was Frankreich blockiert und dem nächsten Schritt somit im Wege steht, ist die implizierte Nähe der Politischen Union zur Idee der Föderation. Solange über Wirtschaftsunion gesprochen wird, bewegt man sich in sicheren Sphären, auf die beiden Wörter Politische Union hingegen, reagieren die französischen Politiker fast allergisch. Zu stark nähert man sich hier den gefährlichen föderalistischen Küsten. Das Problem liegt jedoch nicht im Föderalismus an sich. Die französischen Politiker und Politologen schätzen erfolgreiche Beispiele von föderalistischen politischen Systemen, in Frankreich selbst jedoch ist Föderalismus undenkbar. Die Gründe hierfür führen zurück in die Geschichte: Sowohl das monarchische Ancien Régime als auch das postrevolutionäre Jakobinertum legten die Grundlagen für den Zentralismus des heutigen Frankreichs. ”Staat” und ”zentral” sind zwei untrennbare Wörter in Frankreich. Nicht, dass die Franzosen die Idee der Souveränitätsaufgabe generell ablehnen, aber diese darf nicht mit dem Föderalismusprinzip gekoppelt werden.

Sollten wir also die Worte des Präsidenten als leere Floskeln verstehen? Nein, so negativ ist die Lage nicht. Das französische Misstrauen gegenüber der Politischen Union scheint doch nicht so stark zu sein, wie es eine Umfrage aus dem Herbst 2012 zeigt: 55 Prozent der Franzosen waren für die Entwicklung der EU als ”Bund von Nationalstaaten”. Im Vergleich dazu sprachen sich hingegen für dieses föderalistische Projekt in Deutschland nur 46 Prozent dafür aus.[6] Die Mentalitäten ändern sich anscheinend schneller als gedacht. Vielleicht wissen die Europäer einfach, dass sich die Zukunft eines nachhaltigen Europas nicht nur um eine simple Auswahl zwischen Föderalismus und Intergouvernementalismus handeln, sondern viel kompliziertere Fragen aufwerfen wird.

Vielleicht muss man das Geschenk ”Politische Union” anders verpacken, aber vor allem muss man den Mut haben, diesen schönen Begriff mit Ideen zu füllen und konkrete Vorschläge anzubieten. Gerade in Deutschland muss dem Konzept mehr Inhalt gegeben werden. Denn Deutschland könnte die Rolle als Vorreiter für Frankreich und die anderen Partner spielen. Was 1994 mit dem Angebot von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers begann und verworfen wurde, könnte in den nächsten Jahren eine Wiedergeburt erfahren. Die Machtverhältnisse haben sich verändert. Die Ära, die Generation und vor allem die Rahmenbedingungen sind heute anders als damals. Deshalb muss auch Deutschland seinem Wunsch heute mehr Substanz geben. Von dem 1994 veröffentlichten CDU-Vorschlag über die Rede von Joschka Fischer an der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2000[7] – in der er an eine europäische Föderation appellierte – bis zum jetzigen Standpunkt haben sich die deutschen Vorstellungen einer Politischen Union weiterentwickelt. Diese müssen auch den zögernden Partnern vermittelt werden. Und vielleicht sollten die Deutschen nicht zu sehr enttäuscht sein, wenn Hollande nur von einer ”Wirtschaftsregierung” spricht. Die Bundesregierung beugt sich nebenbei langsam in diese Richtung. Jahrelang sprach man über wirtschaftliche Integration, um das Projekt der Politischen Union zu vermeiden, um damit das Gefahrengebiet zu umschiffen. Vielleicht traf das vor einem Jahrzehnt zu. Niemals in der Vergangenheit hat die EU eine Krise mit einem so hohen

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Integrationsniveau erlebt. Es ist den Europäern heutzutage klar, dass die Lösungen und der Wiederaufschwung durch die Union kommen werden. Heute könnte eine Wirtschaftsregierung dazu dienen, die politische Integration voranzubringen. Das Hauptargument zum Überzeugen der Bürger wäre simpel: Damit die EU bei zukünftigen Krisen nie wieder in ein politisches Chaos verfällt, wie es jüngst der Fall war, braucht man mehr als eine Zusammenlegung der Zentralbanken. Dieses (Traum) szenario würde zudem die französischen und deutschen Positionen zusammenbringen, und den beiden Ländern ihre Rolle als Integrationsmotor der EU zurückgeben.

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Fußnoten

1. Intervention liminaire du président de la République lors de la conférence de presse, Palais de l’Elysée, 16. Mai 2013, http://www.elysee.fr/assets/pdf/intervention-liminaire-du-president-de-la- republique-lors-de-la-conference-de-presse.pdf (http://www.elysee.fr/assets/pdf/intervention-liminaire- du-president-de-la-republique-lors-de-la-conference-de-presse.pdf). 2. Zu Gunsten der einfacheren Lesbarkeit wird sowohl für die männliche wie die weibliche Form die männliche Form verwendet. 3. Wolfang Schäuble und Karl Lamers für die CDU-CSU Bundestagsfraktion, ”Überlegungen zur europäischen Politik”, 1. September 1994, http://www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf (http://www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf). 4. ”Merkel: Wir brauchen mehr Europa”, Interview mit Angela Merkel für die ARD, 7. Juni 2012, http:// www.bundesregierung.de/Content/DE/Interview/2012/06/2012-06-07-merkel-ard.html (http://www. bundesregierung.de/Content/DE/Interview/2012/06/2012-06-07-merkel-ard.html). 5. Parti Socialiste, Convention Nationale ”Notre Europe”, 16. Juni 2013, http://www.parti-socialiste. fr/articles/hebdo-ndeg694-convention-nationale-notre-europe (http://www.parti-socialiste.fr/articles/ hebdo-ndeg694-convention-nationale-notre-europe). 6. Europäische Kommission, Standard-Eurobarometer 78, ”Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union”, Herbst 2012, http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb78/ eb78_publ_de.pdf (http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb78/eb78_publ_de.pdf). 7. Joschka Fischer, ”Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanke über die Finalität der Europäischen Integration”, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin, 12. Mai 2000, http:// whi-berlin.de/documents/fischer.pdf (http://whi-berlin.de/documents/fischer.pdf).

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Gesichter der Euro-Krise

6.11.2013

Ursachen und Auswirkungen der Euro-Krise sind vielfältig. Und ebenso vielfältig sind die Einschätzungen, was Europa, die Europäischen Union und die Eurozone aus der Krise lernen können, welche Schlüsse sie für die Zukunft ziehen sollten. Sind die Reformen und Sparprogramme für die verschuldeten Länder erfolgreich und ein Modell für die Zukunft? Kann die Eurozone alten und neuen Mitgliedern dauerhaften Nutzen bringen? Und wie wird in den einzelnen Ländern auf Probleme und Maßnahmen geblickt? Experten aus Irland, Portugal, Griechenland, Lettland, Spanien und Bulgarien mit ihren Standpunkten zu den vielschichtigen "Gesichtern der Euro-Krise".

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Die Eurokrise - worum geht es eigentlich? Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 6.11.2013

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Was bedeutet eine Währungsunion für die beteiligten Staaten? Welche Auswirkungen hat eine hohe Staatsverschuldung einzelner Länder in einer Währungsunion? Und wie reagiert die Eurozone auf die Herausforderungen in der Krise? Eckart Stratenschulte mit einer Einführung in die Euro-Krise: von Ansteckungsgefahr über Rettungsschirm bis Zahlungsausfall.

Die Eurokrise hat viele Gesichter: Anzeichen einer wirtschaftlichen Stabilisierung stehen zunehmender Proteststimmung und Armut gegenüber. (© picture-alliance/dpa, /chromorange, Collage: bpb) Blickt noch jemand durch? Wir haben seit mehreren Jahren eine Eurokrise, aber die Wirtschaft brummt, die Preise sind stabil und die Zinsen sind niedrig. Letzteres ist zwar schlecht für die Sparer und Lebensversicherer, aber gut für die Staatsfinanzen und für alle, die sich zum Beispiel eine Wohnung oder ein Haus kaufen wollen. Wo ist also die Krise? Bei den anderen, hört man oft, und das mit dem Zusatz: Und wir müssen es bezahlen. Ist das so?

Eine Währungsunion nimmt jedem beteiligten Staat ein Stück Handlungsfreiheit. In unserer Währungsunion, deren Geld der Euro ist, haben die Deutsche Bundesbank (http://www.bpb.de/ nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19028/deutsche-bundesbank) oder die Französische Nationalbank nicht mehr die Möglichkeit, die Währung auf- (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/ lexikon-der-wirtschaft/18723/aufwertung) oder abzuwerten (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 99 lexikon-der-wirtschaft/18542/abwertung). Deshalb ist es wichtig, dass alle Teilnehmerstaaten im Wesentlichen derselben wirtschaftlichen Linie folgen. Eine solche gemeinsame Richtung ist auch bei der Gründung der Währungsunion vereinbart und im "Stabilitäts- und Wachstumspakt" von 1997 festgehalten worden. Das Problem der Eurozone ist, dass sich nicht alle Teilnehmerstaaten an die gemeinsame Vereinbarung gehalten haben - und zwar sowohl in Bezug auf die Staatsverschuldung als auch im Hinblick auf die Entwicklung der Produktivität.

Öffentlicher Schuldenstand, 1997 - 2012 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Im Vordergrund der derzeitigen öffentlichen Debatte steht die Staatsverschuldung. Die Eurostaaten hatten vereinbart, dass die Gesamtverschuldung 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts nicht überschreiten dürfe. Kaum ein Eurostaat liegt wirklich unter dieser Grenze, auch Deutschland nicht.

Die Staatsverschuldung ist aus mehreren Gründen bedeutsam. Zum einen ist klar, dass mehr Schulden auch mehr Schuldendienst (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20564/ schuldendienst) zur Folge haben. Das heißt, dass der Staatshaushalt immer stärker durch Zinszahlungen belastet wird. Und jeder Euro, der für Zinsen aufgewendet wird, fehlt zum Beispiel in der Bildung. Zum anderen darf man sich die Staatsverschuldung nicht als einen großen Kredit vorstellen, den ein Staat einmal aufgenommen hat. Tatsächlich werden die Schulden laufend umstrukturiert. Staaten begeben kurzfristige Anleihen, für drei, sechs oder zwölf Monate. Die Schulden müssen also immer wieder refinanziert werden. Die internationalen Finanzmärkte, das sind Banken,

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Versicherungen, Anlagefonds, schauen sich ein Land, dem sie Geld leihen sollen, natürlich an. Wenn sie das Gefühl haben, die Rückzahlung könnte schwierig werden, geben sie entweder gar kein Geld oder sie verlangen als Risikoprämie sehr hohe Zinsen. Bekommt der Staat kein Geld mehr, mit dem er alte Kredite durch neue ersetzen kann, kann er die bisherigen Anleihen nicht bedienen, er ist bankrott. Bekommt er das Geld zwar, aber nur gegen hohe Zinsen, vergrößern sich seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten immer weiter.

Darüber, wann ein Staat überschuldet ist, gibt es viele wissenschaftliche und politische Diskussionen. Aber alle Zahlenangaben führen in die Irre. Tatsächlich lässt sich sagen: Ein Staat ist dann überschuldet, wenn die potenziellen Geldgeber ihn für überschuldet halten, ihm also nicht zutrauen, den gewährten Kredit auch zurückzuzahlen. Spätestens hier kommt der zweite Faktor ins Spiel, die Wettbewerbsfähigkeit. Jede Sparkasse gewährt einem Handwerker, der fleißig arbeitet, eher einen Kredit als jemandem, der untätig zu Hause rumsitzt, und zwar ganz einfach deshalb, weil man dem Fleißigen zutraut, seine Schulden auch zu begleichen. Mit diesen Bemerkungen ist der Rahmen für die Eurokrise beschrieben. Die Volkswirtschaften der beteiligten Länder haben sich nicht aufeinander zu bewegt, sondern sind in puncto Verschuldung und Produktivität weiter auseinander gegangen. Da die internationalen Finanzmärkte dem Euro großes Vertrauen entgegengebracht haben, sind die Zinsen auch für die Länder, die Schwierigkeiten mit der Produktivität hatten und haben, lange Zeit gesunken. Diese haben daraus nicht die Konsequenz gezogen, die Verschuldung unter diesen günstigen Bedingungen zurückzuführen, sondern im Gegenteil das "billige Geld" genutzt, um weitere Kredite aufzunehmen und so die Mängel in der Wettbewerbsfähigkeit zu überdecken. So etwas geht natürlich nur eine gewisse Zeit gut, genau wie bei jedem Privatmann, der Monat für Monat sein Girokonto weiter überzieht: Irgendwann schluckt der Geldautomat die Geldkarte und das Konto wird für weitere Abhebungen gesperrt.

Dies ist exakt das, was Griechenland 2009/2010 geschehen ist. Die Kreditgeber wollten ihr Geld wieder haben und keine neuen Anleihen mehr gewähren. Damit stand Griechenland vor der Pleite. Theoretisch hätten die anderen Eurostaaten jetzt sagen können "Pech gehabt und selbst schuld!", aber so einfach war es nicht. Zum einen ist die Europäische Union ein Solidarverband, in dem man den anderen nicht einfach fallen lässt. Zum anderen hätte ein Zahlungsausfall Griechenlands zuerst einmal diejenigen getroffen, die ihm Geld geliehen hatten. Das waren nicht zuletzt deutsche, französische und andere europäische Banken. Die Krise wäre damit also auch in die anderen Länder geschwappt. Und zum Dritten bestand die Gefahr, dass die Pleite eines Eurostaates die internationalen Geldgeber misstrauisch machen würde. Wenn Griechenland heute seine Schulden nicht mehr bedienen kann, wer garantiert dann, dass Spanien, Portugal, Italien - ja vielleicht sogar Frankreich dazu morgen und übermorgen noch in der Lage sind? Die Zinsen wären also für alle diese Staaten drastisch in die Höhe geschnellt.

Die erste Lehre aus der Eurokrise war daher, dass es innerhalb der Währungsunion eine große "Ansteckungsgefahr" (so wird das wirklich genannt) gibt, dass also unter Umständen Volkswirtschaften ins Wanken geraten, weil es ihrem Nachbarn schlecht geht.

Die Eurostaaten haben daher im Mai 2010 beschlossen, Griechenland durch eine Garantie zu helfen und gleichzeitig Reformen verlangt, die den Schuldenstand dort senken. Die Europartner haben das Geld, das den Griechen keiner mehr leihen wollte, auf den internationalen Märkten aufgenommen und - gegen einen Zinsaufschlag! - an Griechenland weitergereicht, das damit wiederum bei den Banken seine Schulden beglichen hat. Wenn Griechenland seine Kredite zurückzahlt, entsteht daraus den anderen Staaten kein Schaden, im Gegenteil, sie haben sogar noch Profit gemacht. Diese Hilfe war das sogenannte Erste Griechenlandpaket, das eine Höhe von 110 Mrd. Euro hatte, von denen 80 Mrd. von den Eurostaaten kamen und der Rest vom Internationalen Währungsfonds (http://www.bpb.de/ nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19746/internationaler-waehrungsfonds). Diese Unterstützung wurde außerhalb der europäischen Verträge auf der Basis bilateraler Vereinbarungen geleistet. Im europäischen Recht war eine solche Leistung nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Die sogenannte "bail- out-Klausel" des Art. 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union legt bis heute

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 101 fest, dass keiner für die Schulden des anderen aufkommen muss. Dem ersten Griechenland-Paket folgte 2011 ein zweites in der Größenordnung von 109 Mrd. Euro. Mittlerweile ist davon die Rede, dass es im Jahr 2014 wohl ein drittes Griechenlandpaket wird geben müssen.

Während man anfangs dachte, es gehe nur darum, einem Land in einer besonderen Situation zu helfen, und das auch nur einmal, wurde man schnell eines anderen belehrt. Aus unterschiedlichen Gründen kamen weitere Eurostaaten in Schwierigkeiten: Irland, eine eigentlich sehr produktive Volkswirtschaft mit allerdings überdimensionierten Banken, Spanien, in dem die Immobilienblase platzte, Portugal, das ebenfalls unter niedriger Produktivität litt, und schließlich Zypern, das von der griechischen Krise wegen der engen griechisch-zyprischenVerflechtung von Banken und Wirtschaft besonders hart getroffen wurde.

Die Eurozone reagierte auf die neuen Herausforderungen mit der Schaffung eines "Rettungsschirms". Das ist im Wesentlichen eine Art institutionalisierte und auf alle Eurostaaten ausgeweitete Griechenland-Hilfe. Die erste Institution, die zeitlich beschränkt war, hieß EFSF (Europäische Finanz- Stabilisierungs-Faszilität), der jetzige Rettungsschirm heißt ESM (Europäischer Stabilitäts- Mechanismus).

Der ESM verschenkt kein Geld, er gibt lediglich Kredite. Solange die Staaten diese Kredite bedienen , entstehen den Geberstaaten keine Kosten. Der ESM hat einen Umfang von 700 Mrd. Euro, von denen 500 Mrd. verliehen werden können. Der Rest dient dazu, die Finanzmärkte zu beruhigen. Die Geberstaaten gehen damit natürlich ein Risiko ein, da es ja sein kann, dass die Empfängerstaaten die Kredite nicht zurückzahlen können. Wenn es anders wäre, würde man ja die ganze Konstruktion nicht benötigen und die Staaten könnten sich über die Banken und Fonds finanzieren. Um das Ausfallrisiko klein zu halten, drängen die Geldgeber die Länder, die Hilfen aus dem ESM bekommen, die Wirtschaft zu reformieren und zu modernisieren, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Gleichzeitig müssen sie die Staatsverschuldung zurückführen.

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Arbeitslosigkeit 2012 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Diese Maßnahmen haben in den Programmländern weitreichende Auswirkungen. Renten und Einkommen werden gekürzt, Steuern erhöht, Vergünstigungen gestrichen, öffentliche Leistungen zurückgefahren und viele Menschen werden in die Arbeitslosigkeit entlassen. Der Spagat, gleichzeitig einerseits die Wirtschaft anzukurbeln und auf mehr Wettbewerbsfähigkeit zu trimmen und andererseits

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 103 die Staatsausgaben drastisch zu senken, ist sehr schwierig - wenn nicht unmöglich. Entsprechend heftig sind die Proteste in den betroffenen Ländern. Oftmals richten diese sich gegen die "Troika", das sind die Vertreter aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, die die Fortschritte der Länder beurteilen sollen. Das Zeugnis der Troika ist wiederum die Voraussetzung für die Auszahlung der nächsten Tranche der Kredithilfe. Dass die Mitglieder der Troika, bei denen es sich um hohe Beamte der drei Institutionen handelt, in der Öffentlichkeit keiner kennt, dass sie von niemandem gewählt oder auch nur in einem öffentlichen Prozess berufen sind, macht die Sache nicht einfacher und lässt das Gefühl einer kalten Diktatur des internationalen Kapitals aufkommen. Auch Deutschland als finanziell stärkstes und wichtigstes Euroland und eines derjenigen, die bei den anderen schnelle Veränderungen anmahnen, steht heftig in der Kritik - bis hin zu verunglimpfenden Äußerungen und Plakaten gegen die Bundeskanzlerin.

Die Zweifel, ob es den Krisenländern gelingen kann, gleichzeitig die Wirtschaft anzukurbeln und die Staatsfinanzen auf eine gesunde Basis zu stellen, wachsen auch international. Um die Last für Griechenland zu erleichtern, kam es 2012 bereits zu einem Schuldenschnitt. Alte Anleihen von Privatanlegern (also vor allem Banken, Hedge-Fonds (http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und- fakten/globalisierung/52612/hedge-fonds), Pensionskassen) im Wert von rund 200 Mrd. Euro wurden gegen neue umgetauscht, die aber nur noch 93 Mrd. Euro wert waren. Griechenland konnte so 107 Mrd. Euro Schulden los werden. Damit fällt es dem Land leichter, die Lasten zu tragen und wieder auf die Füße zu kommen. Bei den Gegnern des Schuldenschnitts wird - neben der Notwendigkeit, das Geld abzuschreiben - befürchtet, dass damit die Reformanstrengungen in den Krisenländern nachlassen. Es ist dieser erzieherische Aspekt, der die Betroffenen in den Krisenländern zusätzlich verbittert, denn er meint: "Wir helfen euch nicht so viel, wie wir könnten, weil ihr euch sonst auf die faule Haut legt."

Eine ähnliche Diskussion gibt es auch über eine gemeinschaftliche Verbürgung der Schulden innerhalb des Euroraums. Jedes Land wäre weiterhin verpflichtet, seine eigenen Schulden zurückzuzahlen, aber alle würden zur Beruhigung internationaler Geldgeber gemeinsam dafür garantieren. Der Sachverständigenrat der Deutschen Wirtschaft hat ein solches Verfahren für alle Staatsschulden im Euroraum vorgeschlagen, die die Marke von 60 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt übersteigen. Oft wird über solche Modelle unter dem Stichwort "Eurobonds (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/ lexikon-der-wirtschaft/159949/eurobonds)" diskutiert. Die Gegner einer solchen Maßnahme sprechen von einer "Schuldenunion". Entschieden ist allerdings nichts.

Die nachfolgenden Beiträge beleuchten die Eurokrise aus der Sicht verschiedener Länder. Karl Whelan bewertet die Entwicklung in Irland, während Leire Salazar und Luis Garrido auf die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien eingehen und Margarida Bon de Sousa die Folgen der Sparpolitik in Portugal beschreibt. Griechenland wäre trotz der harten Auflagen der Troika schlecht beraten, die Eurozone zu verlassen, sagt Dimitris Katsikakis, und Paul Raudseps begründet, warum Lettland trotz der Turbulenzen im Euroraum diesem jetzt beitritt. Bulgarien macht finanzpolitisch alles richtig, hat aber nichts davon. Das ist der Gegenstand des Artikels von Yasen Georgiev.

Alle Beiträge zeigen: Es ist oftmals nicht so einfach, wie eine auf Schlagworte reduzierte Diskussion vermuten lässt - aber wichtig und interessant genug, sich damit zu beschäftigen, ist das Thema allemal.

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Lektionen zum Thema Reformen aus Irland Standpunkt Karl Whelan

Von Karl Whelan 6.11.2013 Prof. Dr. Karl Whelan lehrt seit 2007 Wirtschaftswissenschaften am University College in Dublin und Mitglied der Finanzwirtschaftlichen Gruppe, die den Wirtschafts- und Finanzausschuss des Europäischen Parlaments berät.

Bald wird Irland seinen Finanzbedarf wieder durch eigene Staatsanleihen decken können. Aber ist das Land deshalb ein Vorbild für die Krisenländer in Südeuropa? Nur bedingt, meint Karl Whelan. Irland sei nicht durch Reformen im Zuge des EU-IWF-Programms aus der Krise gekommen und die vollständige Erholung der irischen Wirtschaft derzeit nur schwer vorstellbar.

Der Absturz der irischen Wirtschaft in den letzten Jahren ist wahrscheinlich der dramatischste von allen Euroländern. Noch 2007 wurde Irland von vielen als Klassenbester bei den ökonomischen Hausaufgaben angesehen. Aber der danach folgende Zusammenbruch mit einem vollständigen Einbruch des Immobilienmarktes, einer quälenden Arbeitslosigkeit und einer schweren Bankenkrise waren mehr als die irische Regierung bewältigen konnte, so dass sie einem Anpassungsprogramm der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds zustimmte.

Heute ist Irland im Begriff dieses EU-IWF-Programm zu verlassen und seinen Finanzbedarf wieder durch Staatsanleihen zu decken. Trotz weiterhin schlechter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und hoher Arbeitslosigkeit wird das Land regelmäßig anderen Staaten mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten als Vorbild genannt. Vor allem die EU-Vertreter verweisen darauf, dass der relative Erfolg des irischen Anpassungsprogramms zeige, dass die negativen Folgen von Budgetkürzungen durch Strukturreformen aufgefangen werden könnten. Ich glaube allerdings, dass dies die falsche Botschaft ist. Während Irland ein gutes Beispiel für die Vorteile eines flexiblen Arbeitsmarktes bietet, sind doch in Wirklichkeit in den letzten Jahren nur wenige Strukturreformen von Bedeutung durchgeführt worden.

Während die Kommentatoren oftmals alle "peripheren" Volkswirtschaften über einen Kamm scheren, wenn sie Probleme diagnostizieren oder Lösungsvorschläge unterbreiten, war die Krise in Irland in Wirklichkeit ganz anders als die in Griechenland, Portugal oder Italien. Die irische Krise entstand aus einer Spekulationsblase im Immobilienbereich, der großen Einfluss auf alle Sektoren der Volkswirtschaft hatte. Im Folgenden beschreibe ich, wie die Krise entstand und wie sich das Land so weit erholt hat, dass es das EU-IWF-Programm hinter sich lassen kann.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 105 Die Blase

Wie viele Immobilienblasen spiegelte der enorme Anstieg der Preise für Häuser und Wohnungen vor Beginn der Krise auch ein Stück ökonomischer Wirklichkeit wider. Bei einer schnell zunehmenden Bevölkerung und einer Wirtschaft, die seit 1990 stark wuchs, war die Nachfrage nach Wohnraum sehr groß. Darüber hinaus ermöglichte die Währungsunion des Eurogebiets den irischen Geldgebern, ihre Hypotheken für historisch niedrige Zinsen anzubieten. Als Folge vervierfachten sich die Preise für Häuser zwischen 1996 und 2007, das war das doppelte des Preisanstiegs in den Vereinigten Staaten von Amerika im gleichen Zeitraum. Als es auf dem Immobilienmarkt immer verrückter zuging, wurde klar, dass die Immobilien im Verhältnis zu ihrem realen Wert in den Jahren vor 2007 zunehmend überbewertet waren.

Die Folge des Anstiegs der Haus- und Wohnungspreise war ein außergewöhnlicher Boom der Bauindustrie. Da es zudem recht geringe Vorgaben für Stadtentwicklungs- und Bauplanungen gab, ist die Gesamtzahl der Wohnungen von 1,4 Mio. im Jahr 2000 auf 1,9 Mio. im Jahr 2008 gestiegen. Viele dieser Bauaktivitäten waren spekulativ und wurden durch Kredite irischer Banken finanziert.

Entwicklung des realen BIP Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb)

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 106 Der Zusammenbruch

Diese Entwicklung konnte nicht ewig weiter gehen - und sie tat es auch nicht. Gegen Ende des Jahres 2007 begannen die Haus- und Wohnungspreise zu fallen. Die Nachfrage nach Neubauten brach ein und potenzielle Käufer, die eben noch sehr interessiert waren Wohnungseigentum zu erwerben, warteten ab. Der Wirtschaftsboom des "keltischen Tigers" Irland hatte dem Staat gesunde Finanzen beschert. Die Gesamtverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt lag 2007 bei nur 25 Prozent, während gleichzeitig das im Sovereign Wealth Fund angelegte Staatsvermögen 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmachte. Allerdings hing, wie sich bald zeigte, die gute finanzielle Lage von einem intakten Wohnimmobilienmarkt ab.

Arbeitslosigkeit – Globale Finanz- und Wirtschaftskrise Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Als die Bauaktivitäten zum Erliegen kamen und damit zusammenhängend die Arbeitslosigkeit stark stieg, führte das zu einem erheblichen Verlust der Einkommensteuereinnahmen bei gleichzeitig erheblichem Anstieg der Sozialausgaben. Darüber hinaus war das irische Steuersystem während des Baubooms dahingehend geändert worden, dass ein immer größerer Steueranteil aus dem Immobilienbereich gezahlt wurde. Da die Bauaktivitäten im Inland nun zum Erliegen kamen und gleichzeitig die Weltwirtschaft in eine erste Rezession geriet, fiel das reale irische Bruttoinlandprodukt in den Jahren 2008 und 2009 jeweils um 10 Prozent. Obwohl Irland jahrelang Budgetüberschüsse gehabt hatte, stand es nun plötzlich vor einer erheblichen Finanzierungslücke.

Das Ausmaß des erwarteten Defizits war - trotz des ursprünglich geringen Verschuldungsgrads - so groß, dass die irische Regierung schnell merkte, dass kein Spielraum für staatliche Wirtschaftshilfen bestand, um den Absturz abzuschwächen. Im Gegenteil: Seit Ende 2008 gab es eine Reihe jeweils gekürzter Haushalte. Die Gehälter im Öffentlichen Dienst wurden deutlich beschnitten, die Einkommen- und die Mehrwertsteuer erhöht, die Sozialausgaben wurden gekürzt, die sonstigen Ausgaben sogar drastisch, und die Investitionen wurden eingestellt. Alles zusammengenommen machten die Ausgabenkürzungen und die Steuererhöhungen einen Betrag aus, der 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von 2012 entsprach.

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Zu den großen Finanzproblemen kam hinzu, dass die irischen Banken wegen der hohen Ausfälle bei Immobilienanleihen zusammenbrachen. Unglücklicherweise beschloss die Regierung, alle Bankschulden zu verbürgen, was die irischen Steuerzahler schließlich ungefähr 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kostete. Dies führte zusammen mit der hohen Verschuldung zu einer Gesamtverschuldungsrate von 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Da die Finanzmärkte unter diesen Umständen das Vertrauen in die Bonität Irlands verloren, war Irland gezwungen das Anpassungsprogramm von EU und IWF anzunehmen.

Das Programm

Die Ziele des EU-IWF-Programms waren die Stabilisierung des Bankensektors und die Rückführung der Verschuldung. Beide Ziele wurden erreicht. Obwohl der Druck auf die Banken, die eigene Größe und das Kreditvolumen zu reduzieren, weiterhin erheblich ist, stabilisierten sich die Einlagen im Bankensektor wieder. Die jährliche Neuverschuldung soll in diesem Jahr auf 7 Prozent zurückgeführt werden und 2015 bei nur noch 2 Prozent liegen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 108

Arbeitslosigkeit 2012 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Verglichen mit anderen Ländern, die EU-IWF-Programmen unterliegen, hat Irland sich gut geschlagen. Nach Jahren des Rückgangs der Wirtschaftsleistung ist diese in den letzten beiden Jahren nicht weiter geschrumpft. Die Beschäftigung nimmt wieder zu und die Immobilienpreise beenden ihre Talfahrt. Wenn man die Ausgangsbedingungen, nämlich die Ausgabenkürzungen der öffentlichen Haushalte

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 109 sowie die hohe Verschuldung von Privathaushalten und Unternehmen, in Betracht zieht, ist das eine beeindruckende Leistung, die im Wesentlichen auf starken Exportzahlen beruht. Irland hat eine kleine und sehr offene Volkswirtschaft, die sehr stark davon lebt, dass die im Land produzierten Waren und Dienstleistungen im Ausland verkauft werden. Traditionell hatte Irland daher einen hohen Handelsbilanzüberschuss. In den Schlussjahren des Booms litt allerdings die Produktivität und der Exportanteil am Bruttoinlandprodukt nahm ab. In den letzten Jahren verzeichnet Irland jedoch den höchsten Produktivitätszuwachs, gemessen an den Lohnstückkosten, von allen Krisenländern.

Die Zunahme der Wettbewerbsfähigkeit spiegelt sich zum Teil in der verzweifelten Lage auf dem Arbeitsmarkt wider, zeigt aber auch, dass die irische Wirtschaft recht flexibel ist. So rangiert Irland im OECD-Arbeitsschutzindex am unteren Ende aller Eurostaaten und die Weltbank ordnet das Land in ihrer "Doing Business"-Liste weit oben ein. 2013 belegte Irland in diesem Ranking den 15. Platz der Länder, in denen man am besten wirtschaftlich tätig sein kann (Deutschland lag auf Platz 20).

Flexible Arbeitsmärkte

Dieser relative Erfolg Irlands bei der Wiederherstellung seiner Wettbewerbsfähigkeit und der Schaffung eines nachhaltigen Exportwachstums unter schwierigen Bedingungen kann als ein Argument in der Diskussion gesehen werden, die von den Beamten der Europäischen Kommission und europäischen Spitzenpolitikern immer wieder angestoßen wird: Die Anpassung an eine sich verändere Finanzsituation geht leichter vonstatten, wenn die Arbeits- und Produktmärkte flexibler sind.

Allerdings ist Irland kein gutes Beispiel für eine weitverbreitete Version dieser Argumentation, nämlich dass Irland vorbildlich zeigen würde, wie durch Strukturreformen auf den Arbeits- und Gütermärkten auch dann Wachstum entstehen könne, wenn die Volkswirtschaft sich einem Sparkurs unterzieht. Tatsächlich gab es nämlich nur sehr wenige Strukturreformen während des EU-IWF-Programms, da dieses Programm auf - im Vergleich zum europäischen Durchschnitt - ziemlich deregulierte Märkte traf. Die vielleicht größte Arbeitsmarktreform in dem ursprünglichen EU-IWF-Programm, nämlich die Kürzung des im europäischen Maßstab hohen Mindestlohns, wurde wieder zurück gedreht, als die frisch gewählte Regierung im Frühjahr 2011 das Programm neu verhandelte.

Ein kurzer Blick in die jüngsten Berichte der EU-Kommission über Irlands Fortschritt zeigt den bescheidenen Charakter der in das Programm eingeflossenen Reformen. Eine Angleichung der Verfahren zur Begutachtung von Unternehmen, die Reform des Wasserrechts sowie die Förderung des Wettbewerbs gehören zu den wenig aufregenden Themen, die der letzte Bericht diskutiert. Reformen in den Arbeits- und Gütermärkten sind Maßnahmen, die Wachstum langfristig fördern und die daher eher in Zeiten der wirtschaftlichen Expansion als in denen einer Rezession ins Werk gesetzt werden sollte.

Zudem darf man Irlands Wirtschaftserfolg nicht überschätzen. Die jetzige Wachstumsrate wird wohl nicht hoch genug sein, um die Gesamtverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt wie geplant zu stabilisieren. Eine vollständige Erholung der irischen Wirtschaft ist schwer vorstellbar, wenn nicht die Eurozone insgesamt und auch Großbritannien dauerhaft auf den Wachstumspfad zurückkehren.

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Portugal: Schluss mit Fado, Fátima und Fußball Standpunkt Margarida Bon de Sousa

Von Margarida Bon de Sousa 6.11.2013 Margarida Bon de Sousa ist Journalistin beim portugiesischen "Jornal i". Sie hat an der Universidad Católica Portuguesa Informationswissenschaften studiert und war vor ihrer jetzigen Tätigkeit beim portugiesischen Fernsehen und bei der Zeitung Diário de Noticias tätig.

Sparpakete und Euro-Krise haben in Portugal ihre Spuren hinterlassen, schreibt Margarida Bon de Sousa. Zwar sinkt die Arbeitslosenquote mittlerweile wieder, aber viele Familien blicken ihrer Meinung nach in eine unsichere Zukunft. Die Mittelschicht sei näher an die Unterschicht gerückt und Tausende gut ausgebildete Menschen hätten das Land verlassen.

Portugal wird nach Irland das zweite Land sein, das nach den Eingriffen der Troika, bestehend aus der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds, an den Kapitalmarkt zurückkehren wird. Vermutlich geschieht dies am Ende des ersten Halbjahres 2014. Aber während die portugiesische Wirtschaft erste Anzeichen einer Erholung zeigt, sind die Portugiesen weit davon entfernt, eine Verbesserung in ihrem Alltag zu spüren, und das trotz des Rettungspakets von 78 Mrd. Euro, das Portugal von der EU und dem Währungsfonds seit 2011 erhalten hat. In den letzten Jahren hat das Land die schlimmste Wirtschaftskrise seit den 1970er- Jahren erlebt. Und das Volk, das sich unter der Diktatur von António de Oliveira Salazar als Flucht aus der harten Realität dem Fado, also dem traurigen volkstümlichen Gesang, dem Wallfahrtsort Fátima als Ausdruck der Religiosität und dem Fußball zugewandt hatte, ist nicht mehr dasselbe.

Die Krise der letzten zwei Jahre stürzte die Gesellschaft in einen Schockzustand, nahe der Apathie und Resignation. Tausende von Familien haben durch die Intervention von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds viel verloren: ihre Häuser oder Wohnungen, ihre Autos, ihren Job und ihr Einkommen. Im Straßenbild der großen Städte hat sich dieser soziale Absturz aber nicht gespiegelt. Die Straßen füllten sich nicht mit Bettlern und Obdachlosen, wie das noch in den 1980er-Jahren bei den damaligen Eingriffen des Internationalen Währungsfonds der Fall gewesen war. Dieses Mal wurden die Arbeitslosen - eine Million Menschen - von den Familien und der Zivilgesellschaft unterstützt. Dies geschah mal besser und mal schlechter, aber man muss berücksichtigen, dass die meisten der Unterstützer selbst keinerlei staatliche Hilfe erhalten haben. Auch die Unzufriedenheit, der Vertrauensverlust und die Betroffenheit der Menschen wurden nicht stark nach außen getragen, sondern man hat sie eher mit sich selbst ausgemacht oder im Familienkreis zum Ausdruck gebracht. Demonstrationen gewannen wenig Unterstützung und Streiks, die sowieso nur den öffentlichen Sektor und Staatsunternehmen betrafen, verloren an Gewicht.

Für die meisten Ausländer, die in den letzten drei Jahren nach Lissabon gekommen sind, war und ist die Krise daher mehr oder weniger unsichtbar - genau wie der Widerstand der Portugiesen gegen die harten Auflagen der Troika. Die Sparpolitik hat das Image Portugals im Ausland nicht beschädigt. Das Land wird - anders als Griechenland - nach wie vor als friedvoll, freundlich und Gästen zugewandt gesehen. Die schönen Strände und die Sonne ziehen die Besucher nach wie vor an. Der Tourismus ist auch eine der wenigen Oasen, die der Krise getrotzt haben und die zu dem Handelsbilanzüberschuss beitragen, der auch daraus entsteht, dass Portugal seine Exporte gesteigert und diversifiziert hat, während die Importe gleichzeitig durch das Sinken der Binnennachfrage reduziert wurden.

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Arbeitslosigkeit 2012 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Aber heute zieht sich eine Spur von Armut und Unsicherheit durch das Land, die über Jahre nicht verschwinden wird und die an die Situation nach der demokratischen Revolution im April 1974 erinnert. Die Mittelschicht, die es zu einem gewissen Wohlstand und einem angenehmen Lebensstandard gebracht hatte, sah ihre Perspektiven schon im ersten Jahr der Eingriffe der Troika zusammenbrechen.

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Die steigende Arbeitslosigkeit, Gehaltskürzungen im öffentlichen und privaten Bereich und drastische Steuererhöhungen im Jahr 2012 wurden in allen Lebensbereichen spürbar. Die Bevölkerung, die es durch leichtfertig vergebene und billige Kredite gewohnt war, über ihre Verhältnisse zu leben, geriet über Nacht in eine schwere Krise. Tausende von Häusern wechselten in den Besitz der Banken, Kinder mussten aus den Privatschulen genommen, das eigene Auto aufgegeben werden. In allen Bereichen, auch in solchen, die man für unantastbar hielt, mussten die Ausgaben gekürzt werden. Einer Studie der Vereinigung für Wirtschaftliche und Soziale Entwicklung (SEATS) zufolge sind im letzten Jahr Einschränkungen der Freizeitaktivitäten vorgenommen worden. 32 Prozent der Befragten gaben in diesem Zusammenhang an, auf Ausgaben für die Freizeit, einschließlich eines Urlaubs außerhalb der eigenen vier Wände, vollständig zu verzichten. Aber auch bei grundlegenden Konsumgütern wie Lebensmitteln, Wasser, Elektrizität und Gas wurde gespart. Dies geschah sogar bei den Gesundheitsausgaben, 22 Prozent der Befragten bekundeten, auf Arztbesuche und Medikamente zu verzichten, wenn sie nicht unbedingt nötig seien. Ein Großteil der Bevölkerung sah darüber hinaus für sich das Risiko, nicht mehr genügend Geld für Lebensmittel und andere wichtige Konsumgüter aufbringen zu können. Fünf Prozenten der Befragten schließlich bekannten, dass sie schon jetzt ihre Haushaltsausgaben und Kreditverpflichtungen nicht mehr decken können. Auf die Frage, ob sie in der Lage wären, im Jahr 2014 eine unvorhergesehene Ausgabe von 1.000 Euro zu tätigen, sagten die meisten Familien, dieses sei für sie sehr schwierig oder zumindest schwierig. Es sind die mit dieser Situation der verschämten Armut vertrauten Suppenküchen und private Wohlfahrtsorganisationen, die die Lücke zwischen der unteren und der mittleren Gesellschaftsschicht verkleinern.

Der Rückgang des verfügbaren Haushaltseinkommens geht einher mit der Angst, den Job zu verlieren. In fast einem Viertel der Haushalte gibt es mittlerweile mindestens einen Arbeitslosen. Auch diejenigen, die einen Job haben, spüren die Furcht, ihn zu verlieren, was als die größte von der Sparpolitik ausgehende Bedrohung angesehen wird. Die Arbeitslosenquote ist im dritten Quartal 2013 auf 15,6 Prozent gefallen. Das ist der niedrigste Anteil seit über einem Jahr, genauer gesagt seit dem zweiten Quartal 2012, und auch das erste Mal, dass die Arbeitslosenquote in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen gesunken ist. Aber es gibt jetzt in Portugal nicht nur 32.300 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr, die Zahl der Beschäftigten ist gleichzeitig um 102.700 Personen gesunken.

Dieses erstaunliche Phänomen lässt sich durch die Auswanderung aus Portugal erklären. Wir "exportieren" sowohl Beschäftigte als auch Arbeitslose ins Ausland und verringern so die Zahl der Erwerbspersonen im Land. Das erinnert an die massenhafte Auswanderung in Staaten wie Frankreich, die in den 1960er-Jahren zu Zeiten der Diktatur stattfand. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Während damals ganze Familien auswanderten, sind es heute die jungen studierten und qualifizierten Arbeitskräfte, die sich ein neues Leben außerhalb der Staatsgrenzen aufbauen wollen. Dadurch werden die Investitionen Portugals in die Ausbildung und Qualifizierung dieser Menschen entwertet.

Der Staatshaushalt 2014 wird zusätzliche Belastungen für eine Gruppe von Menschen bringen, die für den sozialen Frieden sehr wichtig ist: die Rentner. Diese haben seit 2011 eine wichtige Rolle gespielt, die Haushalte zusammenzuhalten. Das Rentensystem soll privatisiert werden und die ersten Einschnitte werden die Witwenrenten betreffen. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass das Verfassungsgericht diese Regelung verwirft, was die Regierung zwingen würde, andere Wege zu beschreiten, um die Ausgaben zu kürzen und so eine weitere Erhöhung der Mehrwertsteuer zu vermeiden.

Die wirtschaftlichen Konsequenzen der Rettungsmaßnahmen haben die Verhältnisse in den Familien auf den Kopf gestellt. Vor 50 Jahren wurden alte Menschen durch ihre Kinder betreut, vor 10 oder 15 Jahren gingen die Senioren ins Altersheim. Heute sind die Großeltern der Fixpunkt des familiären Zusammenhalts. Sie nehmen ihre erwachsenen arbeitslosen Kinder bei sich zu Hause auf und kümmern sich um die Enkel. Dieser Prozess, der die jungen Erwachsenen wieder in eine unnatürliche Abhängigkeit von ihren Eltern bringt und dessen Ende nicht in Sicht ist, traumatisiert die Gesellschaft.

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Im zweiten Quartal 2013 ist die Wirtschaft zum ersten Mal seit 2010 wieder gewachsen, aber das Bruttoinlandsprodukt wird dennoch schrumpfen. Die wirtschaftliche Stagnation und die Ausgabenkürzungen in den Bereichen des täglichen Lebens setzt die Portugiesen dem Armutsrisiko aus. Der Prozentsatz derer, die angaben, im letzten Jahr nicht über genug Geld für den Kauf von Lebensmitteln zu verfügen, hat sich seit 2011 verdoppelt und liegt in diesem Jahr bei 20 Prozent. Der Anteil derer, die sagten, dass sie manchmal ihre Wohnung nicht bezahlen konnten, hat sich im selben Zeitraum ebenfalls verdoppelt.

Die Sparpolitik brachte auch Ungereimtheiten an den Tag, die sich über Jahre angestaut hatten. Die Steuerzahler zahlen Autobahnen, die keiner nutzt, die Smogbelastung in den Städten nimmt wegen des Anteils alter Autos zu, Menschen, die keine Arbeit haben, müssen Steuern zahlen, der größte Teil des privaten Haushaltseinkommens geht für Kreditzahlungen an Banken sowie für Ausgaben an den Staat drauf, der sich gleichzeitig aus seinen Verpflichtungen zurückzieht und auch so die Belastungen für die Bürger erhöht. Aber es gibt auch eine positive Seite, nämlich eine gesteigerte soziale Empathie. Der Blick in den Spiegel wird ehrlicher und macht so manche bisherige Lebenslüge deutlich. Die Gesellschaft kommt in eine Phase, die weniger materialistisch ist, und die Chance, wirtschaftlich erfolgreich zu sein, wird abgelöst durch die Freiheit, so zu sein, wie man ist. Dieses Land wird nie wieder das sein, was es einmal war.

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Sollte Griechenland in der Eurozone bleiben - und falls ja, warum? Standpunkt Dimitrios Katsikas

Von Dimitris Katsikas 6.11.2013 Dr. Dimitris Katsikas ist Leiter des Bereichs Krisenbeobachtung in der Griechischen Stiftung für Europäische und Auswärtige Politik (ELIAMEP).

Griechenland sollte die Währungsunion nicht verlassen, sagt Dimitris Katsikas. Ein Austritt aus der Eurozone könnte zu schweren Krisen führen - auch über das Land hinaus: Die Schuldzinsen für andere Krisenländer würden steigen und so bestünde die Gefahr, dass auch Spanien oder Italien ihrer Schulden nicht mehr bedienen können. Der Austritt Griechenlands wäre daher, so Katsikas, deutlich teurer als seine Rettung.

Bereits seit Beginn der griechischen Krise Ende 2009 ist der Ruf zu vernehmen, Griechenland möge die Eurozone verlassen, also den sogenannten "Grexit" (von Greece und Exit) vollziehen. Diese Rufe wurden normalerweise dann lauter, wenn in Griechenland negative wirtschaftliche oder politische Entwicklungen eintraten, beispielsweise als die Troika aus Vertretern der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds im Herbst 2011 ergebnislos abreiste. Dies geschah damals als Reaktion auf die mangelnde Bereitschaft der griechischen Regierung, sich an die europäischen Vorgaben zur Reform des Staatshaushaltes zu halten. Ein anderes Ereignis war die politische Krise Ende 2011, die dadurch ausgelöst worden war, dass der damalige Premierminister ein Referendum über den Verbleib seines Landes in der Eurozone ankündigte.

Befürworter eines "Grexit" gibt es innerhalb und außerhalb Griechenlands viele, seien es Analysten, politische Parteien oder auch Spekulanten, die auf den Niedergang Griechenlands gewettet haben. Wenn man letztere einmal außer Acht lässt, kann man die Befürworter eines griechischen Ausstiegs in zwei Lager unterteilen: Da sind auf der einen Seite diejenigen, die denken, dass Griechenlands Probleme zu groß für die Eurozone seien, das heißt, dass die Rechnung für die anderen Euro- Teilnehmer zu hoch werde, und auf der anderen Seite die, die der Ansicht sind, die durchzuführenden Veränderungsprogramme seien schädlich für Griechenland. Damit ist gemeint, dass das Land besser dastünde, wenn es die Fesseln der extrem harten Auflagen abstreifen würde, die zu wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen geführt haben.

Um diesen Punkt zuerst aufzugreifen: Ginge es Griechenland besser, wenn es außerhalb der Eurozone stünde? Die Befürworter dieser Annahme stützen sich auf ein typisch wirtschaftliches Argument: Außerhalb der Eurozone hätte Griechenland seine eigene Währung, die es abwerten (http://www.bpb. de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/18542/abwertung) könnte. So wäre es Griechenland möglich, seine internationale Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen und schrittweise zu wirtschaftlichem Wachstum zurückzukehren. Hohe Wachstumsraten würden die Schuldenlast erträglich machen und mit dem voraussehbaren Anstieg der Steuereinnahmen könnte Griechenland ein Plus im Primärhaushalt erzielen - also vor der Zahlung von Schuldzinsen. Aber stimmt das wirklich?

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Binnenhandel der EU Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Wenn man über Wirtschaftspolitik spricht, sollte man immer die konkreten Daten des jeweiligen Landes beachten, von dem die Rede ist. Der Export hat in der griechischen Wirtschaft einen geringen Anteil. 2008, vor Beginn der Krise, lag der Anteil der Ausfuhren für Güter und Dienstleistungen bei 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und damit deutlich unter dem europäischen Durchschnitt (der 42 Prozent für die Eurozone und rund 41 Prozent für die EU insgesamt betrug). Ohne den Anteil der Dienstleistungen, die zum Teil mit dem Tourismus zu tun haben, wäre das Bild noch trüber. Der Export von Handelsgütern lag 2008 bei circa 9 Prozent des BIP. Im Jahr 2012, nach drei Jahren der Exportsteigerung im zweistelligen Bereich und bei gleichzeitiger Verkleinerung des BIP, betrug der Wert der exportierten Güter immer noch nur 13,5 Prozent. Wenn man diesen kleinen Anteil, den die Exporte im Verhältnis zum BIP ausmachen, in Rechnung stellt, wird klar, dass die mögliche positive Auswirkung einer Abwertung der griechischen Währung wesentlich geringer ausfallen würde als die Befürworter eines "Grexit" annehmen. Tatsächlich wäre der Nutzen wahrscheinlich sogar noch geringer, wenn man berücksichtigt, dass viele griechische Exportgüter zu ihrer Herstellung von importierten Vorprodukten und einzuführender Produktionsausrüstung abhängig sind. Eine Abwertung der griechischen Währung würde diese Komponenten verteuern und auf diese Weise einen Teil der Vorteile einer preislichen Wettbewerbsfähigkeit zunichte machen.

Auf der anderen Seite hätten der Austritt aus der Währungsunion und eine Abwertung der dann nationalen Währung einige wirtschaftlich negative Effekte, die nicht zu vernachlässigen sind. Es darf nicht vergessen werden, dass eine Abwertung einen dramatischen Anstieg der Preise von Importgütern zur Folge hätte, die nach wie vor den griechischen Markt dominieren. Die Folge wäre eine schnelle Verarmung der griechischen Bevölkerung, die nicht mehr in der Lage wäre, selbst die grundlegenden Dinge zu kaufen.

Diese Entwicklung träfe eine Gesellschaft, in der schon drei Jahre lang die Löhne und Betriebsgewinne verringert wurden und die eine hohe Arbeitslosigkeit (vor zurzeit rund 27 Prozent) aufweist. Bräche nun der Konsum zusammen, würde das große Teile des BIP vernichten, das seit Beginn der Krise sowieso schon um ungefähr 22 Prozent geschrumpft ist. Dies wiederum würde zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Die sozialen Unruhen, die einer solchen Entwicklung folgen würden, sind leicht auszumalen. Gleichzeitig würde die Abwertung der nationalen Währung die Schuldenlast

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 116 des Staates vervielfachen, wenn man davon ausgeht, dass die Schulden weiterhin in Euro bestehen. Um dann über die Runden zu kommen, wäre ein weitgehender Schuldenschnitt nötig, der Griechenland im Weiteren von jeder Möglichkeit abschneiden würde, Geld von den Finanzmärkten zu erhalten. Außerdem würde ein solcher "haircut" (Haarschnitt) die Beziehungen Griechenlands zu den europäischen Partnern negativ beeinflussen, die nämlich mittlerweile nach der Restrukturierung der griechischen Schulden und dem zweiten Hilfspaket der Eurostaaten den größten Teil der griechischen Schulden in ihren Büchern haben. Unter diesen Umständen bliebe der Regierung wohl nicht viel mehr übrig, als frisches Geld zu drucken. Um keine Inflationsspirale zu riskieren, müsste die Regierung eine solche Politik jedoch sehr stark beschränken. Dies wiederum würde bedeuten, dass die meisten Einschnitte und Sparmaßnahmen beibehalten werden müssten, da Griechenland nach wie vor kein Plus im Primärhaushalt aufweist.

Die genannten Probleme würden noch an Bedeutung gewinnen, wenn man die politischen Folgen eines möglichen "Grexit" bedenkt. Die Entscheidung, die Eurozone zu verlassen, würde mit ziemlicher Sicherheit mit Neuwahlen einhergehen, da jede Regierung für einen so weitgehenden Schritt ein Mandat der Bevölkerung benötigen würde. Allerdings ist das gegenwärtige politische Klima stark aufgeheizt und die Positionen sind sehr polarisiert. Im Zusammenhang mit einer Ausstiegsentscheidung würden diese Spannungen weiter zunehmen. So ist nicht damit zu rechnen, dass die Wahlen einen klaren Sieger hervorbringen würden - und Koalitionsregierungen, das ist bedauerlicherweise bereits klar geworden, funktionieren in Griechenland nicht gut. Die Regierung der Drei-Parteien-Koalition, die 2012 nach zwei Wahlrunden ins Amt kam, hat gerade einmal ein Jahr gehalten. Die neue Zwei-Parteien-Regierung verfügt nur über eine Mehrheit von fünf Sitzen im Parlament. Im Zusammenhang mit sozialen Unruhen, politischer Polarisierung und sich verschärfenden Konflikten sind die Konsequenzen für die politische Stabilität nicht überschaubar.

Das raue soziale und politische Klima, der Verlust der Glaubwürdigkeit, die durch die Währungspolitik der Europäischen Zentralbank gegeben ist, das Fehlen eines verlässlichen und regelnden politischen Rahmens, wie die Rahmenbedingungen der Wirtschaftspolitik der Eurostaaten sie darstellen, und dann eine einseitige Schuldenrestrukturierung würden zu einer Entfremdung Griechenlands von seinen europäischen Partnern und von den Märkten führen. Das Land bliebe schwach und isoliert zurück. Unter diesen Umständen würde Griechenland die tiefgehenden und weitreichenden Reformen, dies es benötigt, wohl kaum bewältigen können.

Griechenland kann sein Problem der geringen Wettbewerbsfähigkeit und daraus folgend seiner schwächelnden Wirtschaft nur lösen, wenn es sein selbstbezogenes und auf Konsum basierendes Wachstumsmodell aufgibt. Die Reform des griechischen Wachstumsmodells ist ein langwieriger Prozess und muss auf dem Boden weitreichender Reformen von Politik und Wirtschaft stehen. Die Verbesserung der Produktivität wird dabei einer der Schwerpunkte solcher Reformen sein. Ein Austritt aus der Währungsunion und eine Abwertung bringen das Land diesem Ziel nicht näher. Die Abwertung der Währung mag kurzfristig Erleichterung im Hinblick auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit bringen, aber sie kann die langfristigen und produktivitätsfördernden Strukturreformen nicht ersetzen, die die griechische Wirtschaft benötigt. Solange solche Reformen nicht durchgeführt worden sind, läge die wahrscheinlichste langfristige Folge eines Verlassens der Eurozone in einer Serie von Abwertungen und einem konstant hohen Inflationsniveau. Das ist eine Situation, die Griechenland in den 1980er- Jahren schon einmal durchlebt hat.

Wie steht es aber um die Annahme, dass die Kosten für die Griechenlandhilfe für die Eurozone zu hoch seien? Ein griechischer Ausstieg aus der Währungsunion, der mit einem einseitigen Schuldenmoratorium einher ginge, hätte Folgen für die öffentlichen Finanzen aller europäischen Staaten, die Griechenland Geld geliehen haben. Dies würde zu einem Zeitpunkt kommen, zu dem die europäische Wirtschaft wieder im Abschwung ist und die meisten europäischen Staaten bemüht sind, ihre Schulden, die im Nachgang der Krise 2007 bis 2009 einen Höchststand erreicht haben, zu senken. Aber die spiegelbildliche Folge einer griechischen Zahlungsunfähigkeit wäre nicht einmal das größte Problem. Die am weitesten reichende Konsequenz wäre das Überspringen der Krise auf andere Länder.

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Nach drei Jahren Erfahrungen mit dieser Krise muss man über das Ansteckungsrisiko eines "Grexit" nicht mehr lange reden. Immer wieder haben wir erlebt, wie die negative Entwicklung in einem Land zu Turbulenzen auf den Finanzmärkten quer durch Europa und oftmals sogar weltweit geführt hat. Wenn Griechenland in seinem Reformprogramm versagen würde und die Eurozone verließe, würde das Vertrauen, dass andere Länder fähig seien, ihre Probleme zu lösen, ebenfalls zerstört. Es ist nicht nur die Größe der Probleme der Länder an der Peripherie, die die Glaubwürdigkeit ihrer Anstrengungen unterminieren würde. Ein "Grexit" würde die Finanzmärkte davon überzeugen, dass ihr Verdacht, den sie wegen der planlosen, widersprüchlichen und schwachen Reaktion auf die Eurokrise von Anfang an hatten, richtig war: Die europäischen Führungspersönlichkeiten sind nicht bereit, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Eurozone zu retten.

Die Zinsen für Staatsanleihen würden in diesem Fall in die Höhe gehen. Portugal und Irland, deren Programme fast abgeschlossen sind, würden keinen Zugang zum Finanzmarkt erhalten und wären auf neue Kredite der Eurozone angewiesen. Spanien und Italien würden das Problem wesentlich verschärfen. Wenn diese Länder kein Geld von den Finanzmärkten mehr erhielten, könnte dies zum Zusammenbruch der gesamten Eurozone führen, denn was die Euroländer aufwenden müssten, um sie zu stützen, ist weit mehr als die Summe, über die die Stabilisierungsmechanismen der Eurozone verfügen. Falls es dann keine Eurobonds oder einen gemeinsamen Haushalt der Eurozone gäbe, bliebe Spanien und Italien nichts anderes übrig, als entweder einen Teil ihrer Schulden nicht mehr zu bedienen oder die Eurozone zu verlassen und Geld zu drucken. Sowohl das eine als auch das andere würde Schockwellen an die Finanzmärkte aussenden, was zu einem grenzüberschreitenden Anstieg der Zinsen führen würde. Europa und vielleicht sogar die übrige globale Wirtschaft könnten dadurch in eine neue Rezession abrutschen.

Bruttoinlandsprodukt (BIP) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Anders ausgedrückt: Die wirkliche Frage lautet nicht, ob die Griechenland-Hilfe die Eurozone überfordern würde. Griechenland ist ein Mitglied der Währungsunion, und es hat sich gezeigt, dass das Land selbst nicht in der Lage ist, die Krise zu meistern. Sollte die Rettung Griechenlands nicht gelingen, wären die Kosten hoch, nicht nur für Griechenland selbst, sondern für die Eurozone insgesamt.

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Tatsächlich geht es um Folgendes: Ist die Eurozone bereit, den Preis für die Rettung Griechenlands zu zahlen, auch wenn der hoch ausfällt, oder riskiert sie den "Grexit" mit vermutlich deutlich höheren Kosten? Natürlich muss es nicht so kommen, aber die Konsequenzen eines Ausscheidens Griechenlands aus der Währungsunion sind so verheerend, dass man es nicht als mögliche Option akzeptieren sollte - selbst wenn niemand genau weiß, was geschehen würde.

Zusammengefasst: Ich denke, Griechenland sollte in der Eurozone bleiben. Von einem Ausscheiden hat Griechenland wirtschaftlich wenig bis gar nichts zu gewinnen, es könnte im Gegenteil eine schwere wirtschaftliche, soziale und politische Krise auslösen. Darüber hinaus wäre Griechenland nicht der einzige Leidtragende. Ein "Grexit" könnte eine neue europäische und globale Wirtschaftskrise mit möglicherweise weitreichenden negativen Folgen für andere Länder, bis hin zum Zusammenbruch der Eurozone, auslösen.

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Lettland und die Eurozone: Auf der Suche nach Stabilität Standpunkt Pauls Raudseps

Von Pauls Raudseps 6.11.2013 Pauls Raudseps ist einer der führenden Journalisten Lettlands und arbeitet als Kommentator der Wochenzeitschrift Ir. Er schreibt über wirtschaftliche, politische und historische Fragen und beschäftigt sich mit den internationalen Beziehungen.

Ist es für ein Land derzeit überhaupt erstrebenswert, in die Eurozone aufgenommen zu werden? Ja, für Lettland sei der Beitritt zur Eurozone sinnvoll, sagt Paul Raudseps. Eine Entscheidung dagegen würde das Land in die Peripherie Europas verbannen. Auch wenn mit der Landeswährung Lats eines der nationalen Symbole aufgegeben werde, sei der Euro von den Letten schon jetzt als ein Garant für Stabilität akzeptiert.

Seit dem Beginn der griechischen Schuldenkrise Anfang 2010 wurde häufig diskutiert, ob ein Land die Eurozone verlassen oder aus ihr herausgedrängt werden sollte. Am 1. Januar 2014 wird nun die Zahl der Länder, deren Währung der Euro ist, allerdings nicht kleiner, sondern größer. An diesem Tag wird Lettland das 18. EU-Land, das seine nationale Währung - den Lats - zugunsten der gemeinsamen EU-Währung aufgibt.Verständlicherweise ruft diese Entscheidung eine Reihe von Reaktionen hervor, die von Kopfschütteln über Erstaunen bis hin zur Ironie reichen. Aber trotz der wohlbekannten und viel diskutierten Schwierigkeiten einiger Euroländer hat Lettland sehr gute Gründe für diesen Schritt.

Es liegt im starken Interesse jedes kleinen Landes, den Wechselkurs seiner Währung an den einer größeren Währung zu binden. Für eine kleine Volkswirtschaft ist es schlicht zu gefährlich, den Wechselkurs den Unwägbarkeiten des Marktes und möglicher Spekulationsattacken auszusetzen. Der Markt für Dollar oder Euro hingegen ist groß und ihr Wechselkurs ist relativ stabil, da er in erster Linie auf den wirtschaftlichen Grunddaten der Währungsgebiete beruht. Trotz aller Turbulenzen, die die Eurozone in den letzten Jahren erschüttert haben, und trotz einiger Schwankungen entspricht das Austauschverhältnis des Euro zum US-Dollar heute ziemlich genau dem am Anfang der Krise 2009. Im Gegensatz hierzu können die Wechselkurse kleiner Wirtschaftsgebiete starken Veränderungen und panischen Reaktionen ausgesetzt sein. Daher ist es nicht weiter erstaunlich, dass nicht nur Lettland, sondern auch die baltischen Nachbarstaaten Estland und Litauen unmittelbar nach dem Erlangen ihrer Unabhängigkeit und der Einführung einer eigenen Währung beschlossen, diese an andere Währungen zu koppeln. Mit ihrem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 stellten alle drei ein festes Austauschverhältnis zum Euro her und bekundeten darüber hinaus, dass sie ihn als Währung so schnell wie möglich übernehmen wollten.

Selbst dieser Schritt hat jedoch nicht ausgereicht, um die Finanzmärkte endgültig von der Stabilität des Wechselkurses zu überzeugen. So hatte Lettland trotz klarer und wiederholter Zusagen, das Verhältnis des Lats zum Euro stabil zu halten, zwei Angriffe auf seine Währung auszuhalten, und zwar 2007 und 2009. Beide waren nicht heftig genug, um das Land zur Abwertung zu zwingen, aber sie haben das Vertrauen in die Währung erschüttert und große Unsicherheit erzeugt. Das war schlecht für Wirtschaft und Investitionen und hat die Entwicklung des Landes in Mitleidenschaft gezogen. Diese Erfahrung hat sich ins Gedächtnis der lettischen Wirtschaftspolitiker eingebrannt. Den Beitritt zur Eurozone sehen sie als besten Weg, eine durch Abwertungsangst erzeugte Instabilität für immer hinter sich zu lassen.

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Öffentlicher Schuldenstand, 1997 - 2012 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Als Lettlands Immobilienblase im Jahr 2008 platzte und das Land gezwungen war, den Internationalen Währungsfonds und die Europäische Kommission um Hilfe zu bitten, wurde aus dem Wunsch, der Eurozone beizutreten, eine unabdingbare Notwendigkeit. Da die wirtschaftliche und finanzielle Lage so miserabel war, konnte nur die Mitgliedschaft in der Eurozone eine verlässliche Garantie dafür bieten, dass der Wert der Währung erhalten bleibt. Von daher war der Beitritt zur Währungsunion das klar benannte Fernziel und der mit den internationalen Geldgebern vereinbarte Ausweg Lettlands aus der Krise. Dabei darf nicht übersehen werden, dass der Euro auch von den anderen beiden baltischen Staaten als Rettungsanker gesehen wird. Estland ist bereits 2011 dem Euroraum beigetreten, Litauen plant diesen Schritt für 2015.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung und angesichts der seit 2008 häufig wiederholten Erklärungen der lettischen Regierung, dass sie den Eurobeitritt schnellstmöglich anstrebe, ist es nicht erstaunlich, dass Lettland seine Bewerbung um die Mitgliedschaft im Euroraum abgab, sobald die Maastricht- Kriterien im Jahr 2012 erfüllt waren. Jedes andere Verhalten hätte genau wieder die Unsicherheit und Instabilität erzeugt, die das Land verhindern wollte. Die führenden Wirtschaftsverbände Lettlands unterstützen den Beitritt zur Eurozone nachdrücklich, unter anderem weil die Wirtschaft so Transaktionskosten für Umtausch sparen und Währungsrisiken vermeiden kann. Ein wesentlicher Teil der Anleihen, der großen Kauftransaktionen sowie der Export- und Importgeschäfte werden bereits heute in Euro in Rechnung gestellt und gebucht. Dabei geht es

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 121 um viel Geld, die lettische Nationalbank hat errechnet, dass lokale Banken und Währungshändler durch das Geldwechseln innerhalb von fünf Jahren einen Gewinn von 600 Millionen Euro erzielt haben. Die lettische Exportwirtschaft geht darüber hinaus davon aus, dass die Mitgliedschaft in der Eurozone einen positiven psychologischen Effekt auf die Partner in anderen Ländern hat. In Asien hat keiner je vom Lats gehört, den Euro kennt jeder.

Einige fragen sich allerdings, ob diese Politik angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten von Ländern wie Griechenland, Portugal, Irland oder Spanien noch sinnvoll sei. Schließlich sind deren Probleme nach allgemeiner Auffassung durch die niedrigen Zinsen, die durch die Mitgliedschaft in der Eurozone jahrelang ermöglicht wurden, verschlimmert worden. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass Lettland die gleichen Schwierigkeiten hatte, ohne Mitglied der Eurozone zu sein. Außerdem hat das Land überzeugend seine Fähigkeit bewiesen, die Schwierigkeiten zu bewältigen, ohne den festen Wechselkurs aufzugeben. Nach dem weltweit schlimmsten Wirtschaftseinbruch in den Jahren 2008 und 2009 wächst die lettische Wirtschaftsleistung in den letzten beiden Jahren schneller als jede andere in der EU. Auch die Arbeitslosenquote ist deutlich gefallen, auch wenn sie noch nicht wieder den Stand vor der Krise erreicht hat. Darüber hinaus haben alle noch die Jahre der Spekulationsblase in so frischer Erinnerung, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Banken oder die Kreditnehmer denselben äußerst schmerzhaften Fehler ein zweites Mal in so kurzer Zeit machen. Viele Führungskräfte in Lettland gehen davon aus, dass die Eurozone auf längere Sicht das wirkliche Entscheidungszentrum der Europäischen Union werden wird. Die Entscheidung, draußen zu bleiben, würde das Land in die Peripherie des europäischen Projekts verbannen. Dadurch wird die Mitgliedschaft in der Eurozone zu einem wichtigen strategischen Ziel. Die Bedeutung desselben ist wegen Lettlands geopolitischer Lage umso größer. Der Nachbar Russland macht ja keinen Hehl daraus, dass er bemüht ist, seinen Einfluss auf die Länder des ehemaligen Sowjetimperiums zu vergrößern. Die maximale Integration in westliche Organisationen ist daher eine der Hauptstrategien Lettlands, um sich vor den geopolitischen Ansprüchen des Kremls zu schützen. So hört man in Lettland gelegentlich - vielleicht etwas übertrieben -, die wirkliche Wahl bestünde nicht zwischen Euro und Lats, sondern zwischen Euro und Rubel.

Trotz all dieser Argumente für einen Beitritt zur Eurozone bleibt die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin skeptisch, wie Meinungsumfragen zeigen. Den pragmatischen wirtschaftlichen Argumenten steht eine große emotionale Bindung an den Lats gegenüber, den die Menschen stark mit der nationalen Identität verbinden. Die Wiedereinführung des Lats war eines der deutlichsten Zeichen der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Anfang der 1990er-Jahre. Trotz gelegentlich aufwallender Angst vor Abwertungen ist der Lats für die Menschen eine Erfolgsgeschichte - obwohl viele praktisch denkende Menschen heute bereits den Euro zur stabilen Wertaufbewahrung nutzen. Ungefähr 80 Prozent aller privaten Anleihen sind in Euro, Grundstücke und andere große Wertgegenstände wechseln gegen Euro den Besitzer - und immer, wenn es Abwertungsgerüchte gibt, eilen die Menschen zur Bank, um ihre Lats in Euro zu tauschen. Zweifellos wird der Widerspruch zwischen den Herzen und den Köpfen der Menschen nicht schnell aufzulösen sein. Nichtsdestotrotz zeigen die Meinungsumfragen eine steigende Zustimmung für die Euromitgliedschaft, und vermutlich wird dieser Trend anhalten. Für Lettland ist der Beitritt zur Währungsunion eine rationale strategische Wahl und diese Einsicht wird sich gegen andere Überlegungen durchsetzen.

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Jugendarbeitslosigkeit in Spanien: Wahrheiten und Mythen Standpunkt Leire Salazar und Luis Garrido Medina

Von Leire Salazar, Luis Garrido Medina 6.11.2013 Dr. Leire Salazar ist Professorin am Fachbereich Gesellschaftsanalyse an der Nationalen Fernuniversität für Erziehungswissenschaften (Universidad Nacional de Educación a Distancia; UNED) in Madrid und Akademische Koordinatorin des Postgraduiertenprogramms Forschungsmethoden und Datenanalyse am Zentrum für Sozialforschung (Centro de Investigaciones Sociológicas; CIS).

Dr. Luis Garrido Medina ist Professor am Fachbereich Gesellschaftsanalyse an der Nationalen Fernuniversität für Erziehungswissenschaften (Universidad Nacional de Educación a Distancia; UNED) in Madrid und Dekan des Fachbereichs.

Laut Eurostat lag die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien 2012 bei 53,2 Prozent. Aber diese Daten und ihre Berechnungsgrundlagen sind irreführend und führen zu einer Überschätzung des Problems, meinen Leire Salazar und Luis Garrido Medina. Problematisch sei vor allem der blockierte Zugang zum Arbeitsmarkt für die 25- bis 39-Jährigen. Deren Möglichkeit, den eigenen Lebensentwurf zu realisieren, sei erheblich eingeschränkt.

Sowohl in den Medien als auch in der politischen Debatte hat die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien in den letzten Monaten große Aufmerksamkeit erfahren. In diesem Artikel wird gezeigt, dass die Zahlen, die in der Debatte benutzt werden, mit Vorsicht zu genießen sind. Außerdem werden andere neue Entwicklungen im Arbeitsmarkt für junge Menschen vorgestellt, die für das Verständnis der Situation wichtig sind.

Die Arbeitslosigkeit junger Menschen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren in Spanien ist verglichen mit anderen Ländern mit ähnlichem Wohlstandsniveau sicherlich ein Sonderfall. Im Verhältnis zur generellen Arbeitslosenquote und im Verhältnis zur Arbeitslosenquote der über 24-Jährigen verlieren die Zahlen allerdings ihre Einzigartigkeit.

Ohne Frage ist die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien sehr hoch, aber auch die generelle Arbeitslosigkeit ist hoch. In allen europäischen Staaten ist der Prozentsatz der arbeitslosen Jugendlichen doppelt so hoch wie der der älteren Bürger. Der Unterschied ist nicht zu vernachlässigen, aber in Ländern mit insgesamt geringer Arbeitslosigkeit in beiden Teilgruppen - wie Norwegen, Österreich, Deutschland oder Niederlande - regt das niemanden auf. In Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit wie beispielsweise Spanien gewinnt das Thema jedoch im Rahmen der Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik eine hohe Aufmerksamkeit. Das wirkliche Problem ist daher die Arbeitslosigkeit insgesamt, nicht speziell die Jugendarbeitslosigkeit.

Darüber hinaus sind die meistens herangezogenen Referenzdaten im Hinblick auf die Verankerung der jungen Leute im Arbeitsmarkt irreführend und führen zu einer Überschätzung ihres Arbeitslosenanteils. Die Daten zur Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, auf die sich die öffentliche Debatte im Allgemeinen stützt - 53,2 Prozent laut Statistischem Amt der Europäischen Union im Jahr 2012 - beziehen sich auf Personen, die entweder berufstätig sind oder aktiv eine Beschäftigung suchen. Das bedeutet, dass über die Hälfte der jungen Erwerbspersonen keinen Job finden kann. Wenn man aber alle Personen in dieser Altersgruppe in den Blick nimmt und dabei berücksichtigt, dass die meisten von ihnen immer noch in der Ausbildung sind, reduziert sich die Arbeitslosenquote auf 22,7 Prozent. Die niedrigste Altersgruppe zwischen 16 und 19 Jahren im heutigen Spanien ist in Wirklichkeit nicht länger zur Arbeitsbevölkerung zu rechnen. Der Bevölkerungsanteil dieser Gruppe betrug 17,5 Prozent

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 123 und weniger als 5 Prozent von ihnen waren tatsächlich berufstätig.

Natürlich ist die Tatsache, dass ein Fünftel aller jungen Menschen in Spanien keinen Job finden kann, beunruhigend, aber sie ist dennoch weniger dramatisch als es oft beschrieben wird. Größer ist das Problem für die jungen Erwachsenen. In den Gruppen der 25- bis 34-Jährigen sowie der zwischen 35- und 39-Jährigen ist die Arbeitslosenquote geringfügig höher als bei den Jüngeren. Für diese Altersgruppe ist der blockierte Zugang zum Arbeitsmarkt oder das höhere Risiko, den Job wieder zu verlieren, weitaus problematischer: Die erhebliche Einschränkung der Möglichkeit, das Elternhaus zu verlassen, den eigenen Lebensentwurf zu realisieren und eine Familie zu gründen hat in diesen Altersgruppen weiterreichende Konsequenzen.

Welche Rolle spielt die Bildung in diesem Zusammenhang? Die Bildungsexpansion, die in den letzten 30 Jahren durchgeführt wurde, hat mit Sicherheit zu größerer Chancengleichheit geführt, so dass Kinder jeder sozialen Herkunft in den Genuss einer weiterführenden Bildung kamen. Dies ist eindeutig eine Erfolgsgeschichte. Es sind jedoch drei Aspekte eben dieser Bildungsexpansion, die zu den Problemen junger Berufstätiger auf dem Arbeitsmarkt beigetragen haben: Geschwindigkeit und Größenordnung der Bildungsoffensive und deren Intensität auf universitärer Ebene.

Arbeitslosenquoten nach Bildungsstand Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Vor den 1980er-Jahren garantierte ein Hochschulabschluss beruflichen Erfolg - er bereitete auf die Anforderungen als Führungs - oder Fachkraft vor, versprach berufliche Sicherheit sowie ein gutes Gehalt und Karriereaussichten. Andere Bildungsabschlüsse waren ebenfalls eng mit den Anforderungen des Arbeitsmarkts verzahnt und aufeinander entsprechend abgestimmt. In den letzten 20 bis 30 Jahren hat sich das Verhältnis von Berufsabschluss und beruflichem Erfolg jedoch drastisch verändert. Im akademischen Jahr 1976/77 waren lediglich 11 Prozent aller 23-jährigen Frauen an einer Universität eingeschrieben oder verfügten schon über einen Hochschulabschluss. Nur 36 Jahre später, im akademischen Jahr 2012/13, hat sich dieser Anteil fast verfünffacht und beträgt jetzt 53 Prozent. Auch wenn sich die Zahlen für junge Männer nicht genauso drastisch verändert haben, sind sie ein deutlicher Indikator für die Ausweitung der Bildung, die sich seit dem demokratischen Umbruch (1976-1982) vor allem auf der höchsten Ebene vollzogen hat. Wenn man die Zahlen mit der Entwicklung

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 124 in anderen südeuropäischen Ländern oder gar mit denen von Mitteleuropa und Skandinavien vergleicht, stellt man fest, dass diese Ausweitung der Bildungschancen in Spanien später gekommen ist, aber deutlich schneller vollzogen wurde. Und dies hat die Anzahl der Hochschulabsolventen in Spanien erheblich erhöht.

Unterbeschäftigung Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Die Zahl der Arbeitsplätze für Hochschulabsolventen ist in dieser Zeit zwar auch gestiegen, aber nicht im selben Maße. Im Jahr 2012 gab es nur für 16 Prozent der Absolventen einen adäquaten Job. Wenn man die kaufmännischen und technischen Berufe hinzunimmt, erhöht sich die Zahl auf 28 Prozent. Diese Lücke zwischen der Zahl der Hochschulabsolventen einerseits und der der entsprechenden Stellenangebote andererseits ist im europäischen Maßstab außergewöhnlich groß. Man kann das als ein Problem von "Über-Ausbildung" oder als ein Problem von Unterbeschäftigung ansehen. Aber Tatsache ist, dass dieses Missverhältnis einen Schlüssel nicht nur zum Verständnis der Jugendarbeitslosigkeit, sondern auch der schwindenden Karrierechancen und der fraglich gewordenen Zukunftsperspektive derjenigen ist, die in Beschäftigung sind. Da gute Jobs selbst dann rar sind, wenn die Wirtschaft floriert, erwerben immer mehr Studierende weitere akademische Titel, weil sie (richtigerweise) annehmen, dass diese zusätzlichen Abschlüsse sie an die Spitze der Schlange derer katapultieren, die für einen Arbeitsplatz anstehen. In Zeiten, in denen die Wirtschaftsleistung wächst, werden andererseits frühe Schulabgänger in (vergleichsweise) gut bezahlten "Anlernjobs", zum Beispiel im Bausektor, aufgenommen. Wenn der wirtschaftliche Wind sich jedoch dreht, wird der Konkurrenzkampf für knapper werdende Jobs in diesem Bereich härter. Die Stellenbesetzungen finden nach dem gleichen Muster weiterhin statt, aber die letzten in der Reihe werden in diesem Wettkampf der Berufsabschlüsse vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Selbst in Zeiten, in denen sich die Wirtschaft wieder erholt, bleibt ein beachtlicher Teil von ihnen dauerhaft ohne Beschäftigung, wie empirische Studien zeigen.

Das generelle Missverhältnis zwischen Qualifikationen und den Anforderungen der angebotenen Arbeitsplätze sind kein spezifisches Merkmal der aktuellen Krise, auch wenn das manchmal behauptet wird. In allen Rezessionszeiten, für die belastbare Zahlen zur Verfügung stehen (1976 - 1985, 1991 - 1994 und 2007 - 2011), gilt das Gleiche: Diejenigen mit den schlechtesten Qualifikationen fallen aus

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 125 dem Arbeitsmarkt, und auch ein erneuter Aufschwung kann die Situation für sie nicht grundsätzlich verändern.

Arbeitslosigkeit 2012 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb)

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Bemerkenswert ist, dass dieser Ausschluss vom Arbeitsmarkt auf zunehmend höherer Qualifikationsebene stattfindet. Im Jahr 1985 waren 49 Prozent aller Erwerbspersonen ohne Schulabschluss arbeitslos. In den folgenden Krisen 1994 und 2011 stieg die Zahl auf 59 Prozent beziehungsweise 68 Prozent. Von denen, die immerhin über einen Schulabschluss verfügten, waren 1985 34 Prozent arbeitslos. In den folgenden beiden Krisen lagen die Zahlen bei 45 Prozent bzw. 50 Prozent. Diese Tendenz wiederholt sich entsprechend auf den höheren Bildungsebenen. Es gibt ein klares Muster: In dem Maße, in dem das Ausbildungsniveau der Bevölkerung steigt, werden diejenigen, die die jeweiligen Ansprüche nicht erfüllen, vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Auch wenn man das gelegentlich anders hört: Dieses Muster wiederholt sich für alle Altersgruppen und bleibt über lange Zeit stabil. Den jeweils am geringsten Qualifizierten bleibt der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt.

Universitätsabschlüsse gelten in Spanien als beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, aber fast die Hälfte der jungen Hochschulabgänger muss mit dem Missverhältnis zwischen ihrer Qualifikation und dem angebotenen Job umgehen. Sie sind oftmals mit zeitlich befristeten Verträgen und schlechten Aufstiegschancen konfrontiert. Auch die Prämie für ihre gute Ausbildung in Form eines hohen Gehalts ist im Verhältnis zu anderen europäischen Staaten spürbar geringer. Im Vergleich zu der sehr viel schwierigeren Situation, in der sich die Arbeitskräfte mit geringerer Qualifikation befinden, lässt sich jedoch sagen, dass die Jagd nach weiteren Bildungsabschlüssen eine rationale Strategie ist, die die Hochschulabsolventen befolgen sollten.

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Kaum Schulden und trotzdem arm - Kann das die Lösung sein? Standpunkt Yasen Georgiev

Von Yasen Georgiev 6.11.2013 Yasen Georgiev ist geschäftsführender Direktor des Wirtschaftspolitischen Instituts (Economic Policy Institute, EPI) in Sofia, Bulgarien. Das EPI ist eine politisch unabhängige, gemeinnützige Institution der Zivilgesellschaft, die ökonomische Forschungen durchführt und sich mit interdisziplinären Analysen der wirtschaftlichen und sozialökonomischen Entwicklungen in Bulgarien und Südosteuropa befasst.

Bulgarien macht finanzpolitisch alles richtig und gehört zu den Ländern mit den stabilsten Finanzen in der Europäischen Union, sagt Yasen Georgiev. Er kritisiert, die EU habe aus der Euro-Krise nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen: Sie enttäusche die Staaten, die sich einer strengen Fiskalpolitik unterwerfen und steigere so den Euroskeptizismus der Menschen, die unter dieser Politik leiden.

Einleitung

Bulgarien, das gemeinsam mit Rumänien im Jahr 2007 der Europäischen Union beigetreten ist, nimmt den letzten Platz ein, wenn es um das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung geht. Dabei sind die unterschiedlichen Kaufkraftstandards in aktuellen Preisen berücksichtigt. Trotz der Erfolge der letzten Jahre liegt Bulgarien 53 Prozent unter dem EU-Durchschnitt.

Genau wie andere Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa auch, verzeichnete Bulgarien in den ersten Jahren des Übergangs in den 1990er-Jahren hohe Inflationsraten. Die Preise wurden freigegeben und die Bulgarische Nationalbank fachte die Inflation zusätzlich an, indem sie dem Bankensystem Liquidität zur Verfügung stellte und das Defizit des Staates direkt finanzierte. Das schwindende Vertrauen in die Nationalwährung Lev und deren ständige Abwertung zwangen die Bulgaren dazu, ihr Einkommen in fremde Währungen umzutauschen, kaum hatten sie es erhalten. So stieg die Inflation jährlich an und betrug 1996 300 Prozent und 1997 sogar 500 Prozent. Diese Situation wirkte sich auf die Staatsverschuldung aus. Zu Beginn der Wirtschaftsreformen 1991 lag die Bruttostaatsverschuldung bei über 11 Mrd. US-Dollar, das entsprach 180 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Obwohl dieses im Laufe der Jahre nominal gestiegen ist, lag die Verschuldung 1996 bei 303 Prozent des BIP.

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Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, 2010. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (bpb) Diese wirtschaftlichen Probleme waren der Grund für die Fiskalpolitik (http://www.bpb.de/ nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19346/fiskalpolitik), die in den darauffolgenden Jahren entwickelt wurde, und erklären im Wesentlichen, warum die folgenden vier bulgarischen Regierungen zwischen 1997 und 2013 diesen Kurs verfolgt haben. Der Rahmen für eine neue Fiskalpolitik wurde durch eine 1997 in Kraft gesetzte nationale Währungsregel, den Currency Board, geschaffen. Der Internationale Währungsfonds hatte darauf bestanden - als Voraussetzung für finanzielle Hilfe, die Bulgarien benötigte, weil seine Fremdwährungsreserven zur Neige gingen und um ein neues Schuldenmoratorium (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20143/moratorium), wie es das 1990 schon einmal gegeben hatte, zu vermeiden. Die wohl wichtigste Festlegung des Currency Boards war die feste Bindung zwischen dem Lev und einer Ankerwährung, ursprünglich der D-Mark und später dem Euro. Durch die unbeschränkte Umtauschmöglichkeit zum festen Kurs wurde die wirtschaftliche Glaubwürdigkeit auf den Finanzmärkten gestärkt und eine Politik der Inflationsbekämpfung eingeleitet. Dies bedeutet allerdings, dass die Fremdwährungsreserven der Bulgarischen Nationalbank ausreichen müssen, um zumindest die gesamten Geldverbindlichkeiten im Land abdecken zu können.

Die Currency Board-Regelungen bergen also durch die begrenzte Rolle der Zentralbank einige Nachteile. Die Bank kann nicht als letzter Rettungsanker ("lender of last resort" heißt das im Englischen) für Geschäftsbanken auftreten und kann dem Staat kein Geld leihen. Hervorzuheben ist vor allem, dass der Staat keine eigene, an seinen Interessen orientierte Geldpolitik mehr machen und auch die Wechselkurse nicht mehr verändern kann, um die Exporte anzukurbeln und so die Volkswirtschaft auf Wachstumskurs zu bringen. Die bulgarische Regierung kann also gemäß den Currency Board- Festlegungen kein Geld drucken. Um ihre Ausgaben zu decken, kann sie nur Steuern erheben oder

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 129 sich Geld leihen.

Sein oder nicht Sein - die Aufweichung der strengen Fiskalpolitik

In den letzten zehn Jahren lag das durchschnittliche jährliche Haushaltsdefizit Bulgariens bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt zwischen 0,3 Prozent (2007) und 1,2 Prozent (2012). Dementsprechend belief sich die Gesamtverschuldung in dem Zehnjahreszeitraum auf 22,7 Prozent, in den letzten fünf Jahren auf 16 Prozent und 2012 auf 18,5 Prozent. Damit nimmt Bulgarien den zweiten Platz hinter Estland (10,1 Prozent) und vor Luxemburg (22,8 Prozent) ein. In puncto stabile Finanzen gehört das südosteuropäische Land damit zu den Spitzenreitern in der Europäischen Union. Diese strenge Fiskalpolitik wurde oft dafür kritisiert, dass sie die Wirtschaft eher behindere als befördere. Aus der Sicht großer sozialer Gruppen ist diese Kritik nachvollziehbar. Allerdings hat Bulgarien einige gute Gründe, die für diese Politik der letzten vier Regierungen sprechen:

• Erstens gab es anders als in anderen alten und neuen EU-Staaten in Bulgarien seit dem Ausbruch der Krise keine reinen Sparmaßnahmen. Die Sozialtransfers und die Gehälter im öffentlichen Dienst sind noch niedriger als in anderen EU-Staaten, die sehr schlecht dastehen, aber sie sind nicht durch Haushaltskürzungen beschränkt worden. Im Gegenteil: Trotz eines moderaten Anstiegs der Renten und Einkommen der Staatsbediensteten ist deren Kaufkraft zwischen 2008 und 2012 um 15 beziehungsweise 12 Prozent gestiegen. Hinzu kommt, dass Bulgarien zu Beginn der Krise anders als die anderen mittel- und südosteuropäischen Staaten keine Hilfe des Internationalen Währungsfonds in Anspruch nehmen konnte.

• Zweitens ist in Bulgarien zweifellos eine höhere Staatsverschuldung möglich, um mehr Ausgaben zu tätigen, ohne die Stabilität zu gefährden. Allerdings zeigt ein Rückblick auf die letzten 70 Jahre, dass die bulgarischen Regierungen sich als unfähig erwiesen haben, mit einer höheren Verschuldung zu arbeiten. Mit erhöhten Ausgaben kamen immer auch Finanzkrisen, eine hohe Inflationsrate und Schuldenmoratorien.

• Drittens ist Bulgarien mit seiner an den Euro gebundenen Währung fest mit der europäischen Währung verbunden. Dafür sorgen die Currency Board-Vorschriften, die in Kraft sein werden, bis das Land der Eurozone beitritt. Aber bis dahin kann Bulgarien an den Entscheidungen der Währungsunion nicht teilnehmen und auch nicht auf einen Rettungsplan der Euroländer zählen. Daher war und ist eine Nothilfe der Eurozone, auf die die Euroländer hoffen können, für Bulgarien keine Perspektive. Auch aus diesem Grund kann das Land nicht denselben Weg wie einige Eurostaaten gehen.

• Viertens muss man auch die Struktur der bulgarischen Wirtschaft in Betracht ziehen. Ausweislich des zweiten, 2012 erschienenen Wirtschaftsberichts der Bulgarischen Nationalbank ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine Zunahme der Staatsausgaben das Wachstum der bulgarischen Wirtschaft in einer Weise beeinflusst, die ein höheres Defizit und weitere Schulden rechtfertigen würden. Da die bulgarische Volkswirtschaft klein und offen ist, würde das Einkommen, das durch zusätzliche Staatsausgaben entstünde, vor allem für den Kauf von Importgütern verwendet statt die heimische Produktion zu stärken, Arbeitsplätze zu schaffen und zu höheren Löhnen zu führen. Die Wachstumsjahre zeigen das deutlich, da in dieser Zeit die Inlandsnachfrage erheblich zu einem Handelsbilanzdefizit und einer negativen Zahlungsbilanz beigetragen haben.

• Fünftens: Die Felder, in denen Bulgarien zu den EU-Standards und dem EU-Durchschnitt aufschließen muss, sind viel zahlreicher als die, in denen sich das Land als Vorbild für die Staaten profilieren kann, die ihre Staatsaufgaben im Hinblick auf eine langfristig nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft überdenken müssen. Es ist deshalb an der Zeit, dass Bulgarien seine EU-Partner auf den sozialen Preis hinweist, den es für die niedrige Verschuldung zu entrichten hat. Es ist daher völlig richtig, dass Bulgarien in den Jahren 2011 und 2012 die Frage aufgeworfen hat, ob

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die finanziell stabilen Staaten nicht einen Bonus bekommen sollten, der zum Beispiel in einer niedrigeren Kofinanzierungsrate bei EU-Projekten bestehen könnte. Dabei geht es nicht darum, die EU-Fördersumme insgesamt zu erhöhen, sondern nationale Mittel für andere Projekte im Land freizusetzen. Dies würde wiederum dazu beitragen, das Ziel des inneren Zusammenhalts zu erreichen und die Fähigkeit, europäische Projektmittel sinnvoll einzusetzen, zu vergrößern.

Allerdings sieht es bis jetzt nicht so aus, als hätte die EU die richtigen Schlussfolgerungen aus der Eurokrise gezogen. 2011 haben die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union akzeptiert, die EU-Kofinanzierungsrate in den Struktur- und Kohäsionsfonds für die Länder zu erhöhen, die in finanziellen Schwierigkeiten sind, nämlich Griechenland, Irland, Portugal, Rumänien, Lettland und Ungarn. Diese Länder müssen also weniger nationale Kofinanzierungsmittel aufbringen, da die EU-Quote bis auf 95 Prozent steigt. Das kann durchaus eine gute Maßnahme sein, um Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in den Krisenstaaten zu stärken, deren Staatshaushalte unter besonderem Druck stehen. Für die Staaten jedoch, die sich an die Stabilitätskriterien und die gemeinsamen Regeln halten, ist das eine herbe Enttäuschung. Solche Festlegungen schwächen bei Wahlen darüber hinaus sicherlich gerade die Regierungen, die finanzielle Disziplin wahren, und stärken den Euroskeptizimus der Wähler.

Zusammenfassung

Ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum oder - wie im Fall der neuen EU-Mitglieder - eine schnelle Angleichung an den Standard der anderen mit geliehenem Geld funktioniert bei Gesellschaften und Staaten, die mehr oder weniger die Kontrolle über ihre Ausgaben haben. Ein Haushaltsdefizit oder eine steigende Staatsverschuldung sind per se nicht unbedingt eine schlechte Fiskalpolitik, aber die Politik muss in diesem Fall auf langfristige Entwicklungen und strategische Ziele ausgerichtet sein, statt auf kurzfristige und manchmal rein populistische Forderungen zu reagieren. Bulgarien ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Gerade im Sommer 2013 hat eine heiße Debatte über eine Umstrukturierung des Haushalts und die Aufnahme neuer Schulden die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Fiskalpolitik gelenkt. Dadurch wurden viele Unzulänglichkeiten und die Vernachlässigung tiefgehender Reformen auf vielen Gebieten überdeckt, die in Wirklichkeit nicht mit höheren Staatsausgaben beseitigt werden können, aber angepackt werden müssen. Andernfalls stünde das Land vor dem gleichen Szenario, das im südlichen Teil Europas schon zu beobachten war.

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Faces of the Euro crisis

6.11.2013

Cause and effects of the euro crisis are manifold. And just as varied are the opinions of what Europe, the and the euro zone can learn fromthe crisis, what conclusions they should consider for the future. Are the reforms and austerity programs for highly indebted countries successful and a model for the future? Can the euro zone bring old and new members stable benefits? Experts from Ireland, Portugal, Greece, Latvia, Spain and Bulgaria with their positions on the complex "faces of the euro crisis".

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Reform Lessons from Ireland Position Karl Whelan

6.11.2013

Soon Ireland will be able to meet its financial needs through its own government bonds again. But is the country a model for the crisis countries in Southern Europe? Only partially, says Karl Whelan. Ireland has not come out of the crisis through reforms in the wake of the EU-IMF program and the total recovery of the Irish economy is currently difficult to imagine.

The turnaround in Ireland's economic fortunes in recent years is perhaps the most dramatic of any country in the euro area. As recently as 2007, Ireland was seen by many as top of the European class in its economic achievements. However, the subsequent crash - involving a housing market collapse, soaring unemployment and a full-scale banking crisis - proved too difficult for the Irish government to manage on its own and in 2010, they agreed to an adjustment program with the EU and IMF.

Today, Ireland is poised to exit the EU-IMF program and return to borrowing in sovereign debt markets. While economic conditions remain poor and unemployment is high, the country is again being cited regularly as an example for other countries in severe economic difficulties. In particular, European officials commonly argue that the relative success of Ireland's program shows that structural reforms can offset the negative effects of fiscal contraction. I believe this argument communicates the wrong message. While Ireland provides a good example of the benefits of flexible labour markets, the reality is that there have been few important structural reforms in recent years.

While commentators often lump all of the "peripheral" economies together when diagnosing their problems or recommending solutions, Ireland's crisis was quite different in nature the crises in Greece, Portugal or Italy. The crisis in Ireland stemmed from a housing bubble that was allowed to have a huge influence on every aspect of the economy. Here I will describe how the crisis came about and how the country has recovered to emerge from its EU-IMF program.

The Bubble

Like many housing bubbles, the big increases in house prices prior to Ireland's crisis had some basis in economic reality. With a fast-growing population and an economy that had grown strongly since the early 1990s, demand for housing was very strong. In addition, EMU allowed Irish financial institutions to provide access to mortgage finance at historically low rates. As a result, Irish houses quadrupled in price between 1996 and 2007, a pace of increase double that seen in the United States over a similar period. As the housing market became ever-more frenetic, it became increasingly clear that, when measured against various "fundamental" factors, Irish house prices had become increasingly over- valued in the years leading up to 2007.

The response to the increase in house prices was an extraordinary construction boom. With a relatively lax set of planning regulations, the total stock of dwellings exploded from 1.4 million homes in 2000 to 1.9 million homes in 2008. Much of this construction activity was speculative in nature fueled by money borrowed from Irish banks.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 133 The Crash

This situation was unsustainable and, sure enough, it was not sustained. In late 2007, Irish house prices began to fall. Demand for new houses collapsed with the attitude of potential buyers changing swiftly from being desperate to "get on the property ladder" to deciding to wait.

The "Celtic Tiger" boom had left the public finances in good shape. Ireland's ratio of gross government debt to GDP in 2007 was only 25 percent and there was sovereign wealth fund of about 20 percent of GDP. However, this apparently strong fiscal situation turned out to be heavily dependent on the health of its property sector.

The collapse in construction activity, and the corresponding jump in unemployment, resulted in a huge loss in income tax revenues and a big increase in social welfare payments. Furthermore, Ireland's tax base had been altered during the later periods of the boom to collect more and more tax revenue from construction activity. With domestic construction activity collapsing and the world economy entering a severe recession, Irish real GDP declined by ten percent over 2008 and 2009. Despite having had years of budget surpluses, Ireland was suddenly facing a yawning fiscal gap.

The scale of these potential deficits meant that, despite the low starting level of debt, the Irish government realized quickly there was no room for discretionary fiscal stimulus to ease the effects of the severe downturn. Instead, from late 2008 onwards, there has been a series of contractionary budgets. Public sector pay has been cut by significant amounts, income taxes and VAT rates have been raised, welfare rates have been cut, non-welfare current spending has been cut considerably and capital spending has been slashed. Taken together, these budgets have implemented discretionary tax increases and spending cuts equivalent to 18 percent of 2012's level of GDP.

In addition to a huge underlying fiscal problem, Ireland's banks collapsed due to losses on property loans. Unfortunately, the government chose to deal with this collapse by bailing out all bank creditors. This approach has ended up costing Irish taxpayers about 40 percent of GDP. Combined with large fiscal deficits, this sent the debt-GDP ratio upwards towards 120 percent of GDP and triggered an EU- IMF adjustment program as financial markets lost faith in Ireland's sovereign creditworthiness.

The Program

Ireland's EU-IMF program focused on stabilizing the banking sector and reducing the budget deficit and it has been successful in achieving these goals. Deposits in the banking sector have stabilized, though the banks remain under pressure to reduce in size and credit is extremely tight. The deficit is set to hit its target of about 7 percent of GDP this year and is projected to fall to 2 percent in 2015. Relative to other program countries, Ireland's economic performance hasn't been too bad. After years of contraction, Ireland's economy has been approximately flat over the past two years. Employment has begun to slowly increase and house prices have stopped falling. Given the negative effects of severe fiscal contraction, tight credit and serious balance sheet problems for households and firms, this has been an impressive performance.

This performance has largely been due to strong export sales. Ireland is a small and highly open economy that has a significant fraction of export-platform foreign direct investment operations, so traditionally it has run a large trade surplus. In the final years of the boom, cost competitiveness was eroded and net exports declined as a share of GDP. In recent years, however, Ireland has had the most significant improvement in unit labor costs of any of the crisis countries.

This improvement in competitiveness partly reflects the depressed state of the labor market but it also reflects the fact that the Irish economy is relatively flexible. For example, Ireland has a lower score on the OECD Employment Protection Index than any other euro area member state and the World Bank has consistently ranked Ireland highly in its Doing Business index: The 2013 report ranks Ireland the 15th best country in which to do business. (Germany ranks 20th.)

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Flexible Labour Markets

The relative success of Ireland in regaining competitiveness and sustaining export growth in difficult conditions in recent years can be considered an argument in favor of a theme regularly aired by European Commission officials and senior European politicians: That adjustment to fiscal contraction can be easier if labor and product markets are more flexible. However, Ireland does not provide evidence for a more commonly-aired version of this argument - that Ireland is an example of how structural reforms in product and labor markets can boost growth while an economy undergoes fiscal austerity. In reality, there have been very few structural reforms in Ireland during the EU-IMF program because, by European standards, Ireland began the program with markets that are relatively deregulated. Indeed, perhaps the most obvious labour market structural reform in the original EU-IMF program - cutting the minimum wage, which is high by European standards - was reversed when a new government renegotiated the program in Spring 2011.

A quick examination of a recent European Commission report on Ireland's progress reveals the modest nature of the structural reforms included in the program. A streamlining of the company examinership process, a water services bill and steps to improve competition enforcement are among the hardly earthshattering list of reforms discussed in the report. Rather than a complement to austerity likely to stimulate short-term growth, structural reforms in labor and product markets should probably be seen as measures to boost long-term growth and these measures are probably easier to implement during expansionary periods than during recessions. It is also important not to over-state Ireland's recent economic success. The current pace of economic growth is unlikely to be fast enough to allow the debt-GDP ratio to stabilize given the current projected pace of fiscal consolidation. It is hard to see a full-scale recovery taking hold in Ireland without a corresponding return to steady growth in the euro area and the UK.

Karl Whelan has been a Professor of Economics at University College Dublin since 2007. He obtained his PhD from MIT in 1997 and then worked for ten years in central banks, first at the Federal Reserve Board in Washington DC and then at the Central Bank of Ireland. Professor Whelan is currently a member of the Monetary Experts Panel that advises the European Parliament's Committee on Economic and Monetary Affairs and he is a regular commentator on European macroeconomic issues.

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Portugal: now there is no more 'fado', Fátima or 'futeboll' Position Margarida Bon de Sousa

6.11.2013

Austerity programs and euro crisis have left their mark in Portugal, writes Margarida Bon de Sousa. Although the unemployment rate drops again in the meantime, many families look to an uncertain future. The middle class was moved closer to the lower class and thousands of well-educated people have left the country.

After Ireland, Portugal will be the second euro zone country subjected to intervention by the troika to return to the financial markets, probably late in the first half of 2014. But, as the economy begins to show its first signs of recovery, the Portuguese people are instead still far from feeling any change in their day-to-day life. This is so despite the rescue package of 78 billion euros received since 2011 from the European Union and the International Monetary Fund. Since then, the country entered into its worst recession since the 1970s. And the people, whom the old regime of the Salazar dictatorship turned to 'fado', Fatima and football, a naive disposition of the harsh reality, are no longer the same.

The crisis during the last two years has plunged society into a state of shock very close to apathy and resignation, with thousands of families losing their homes, cars, work and / or the income they had before the troika intervention of European Commission, European Central Bank and IMF in 2011. Even so, major cities have remained virtually unscathed from an 'invasion' of beggars and homeless people, as happened in the 1980s, during IMF intervention, because this time, for better or worse, families and civil society organised themselves to support nearly one million unemployed, the overwhelming majority of whom in fact receives no funding from the state. Discontent, disbelief and dismay also remained in the dark, concealed within each dwelling, with public demonstrations successively losing supporters and strikes that affect practically only the public sector and state enterprises, having in each case less and less impact.

For most foreigners who arrived in in the last three years, the crisis was, and still is, virtually invisible, together with the resilience of Portuguese people to the harsh measures imposed by the troika. Austerity has not pinched the external image of Portugal, which continues to be seen as a peaceful, friendly and welcoming, with good beaches and sunshine that attract foreigners, in contrast to what happened in Greece. The tourism sector is also one of the few oases to withstand the crisis, contributing to a trade surplus, achieved at the expense of increasing and diversifying exports and a decrease in imports due to decline in domestic consumption.

But today there is a trail of poverty and uncertainty that will take years to dissipate, in line with what happened after the April revolution in 1974. The middle class , which as welfare, progress and economic standards of living increased, had acquired qualities in balance and enterprising, saw their expectations crumbling in the first year of troika intervention, unemployment, wage cuts in the public and private sectors and brutal tax increases in 2012 made themselves felt in all areas of the society . The population, used to living well beyond their means, thanks to facilitated access by the banks to too generous credit, had to undergo rapid and intense downgrading, which culminated in the surrender of thousands of houses to financial institutions, removal of children from private schools, loss of private cars, bank failures and reducing expenses in areas hitherto considered untouchable. A study by SEATS, the

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Association for Economic and Social Development, showed that last year (2012) cuts for families were evident in leisure activities (about 32 % of respondents admitted that they had been forced to do without these activities including holidays away from home), in essential consumer goods such as food, water, electricity and gas and even in health, with 22 % of households now confessing they avoid going to the doctor or buying non-essential medicines. A large part of the population confesses to still be at high risk of not having money to buy food and other basic consumer goods and a proportion of 5 % admit to having lost the ability to pay some or many of the household expenses or credit commitments they took on. Most families acknowledge also a great or moderate danger of not being able to cope with an unexpected expense of one thousand euros in 2014. Soup kitchens and private institutions of social solidarity are familiar with this new reality of shameful poverty, but it is a solidarity that has progressively reduced the gap between social classes B and C., the middle and the poor class.

A dramatic decline in household disposable income has been accompanied by the fear of unemployment. Almost a quarter of households now have at least one household member unemployed, while working people's fear or hypothesis of losing their job remains one of the greatest threats of austerity. The unemployment rate in the third quarter of 2013 fell to 15.6%, the lowest since the second quarter of 2012, in what had been the first annual decline and the first fall in two consecutive quarters in the last five years. But if there are now 32,300 fewer unemployed in Portugal than there were a year ago, there are also 102,700 fewer employees. High migration levels may explain this unusual phenomenon: we export unemployed and employed abroad, reducing, in practice, the work force in the country. The phenomenon of the 1960s, when during the old regime entire families were catapulted to countries such as France, has returned in force, with a substantial difference: now it is mostly young graduates and qualified professionals seeking a new way of life across borders, nullifying all the investment that the state put into training and qualifying them.

The state budget for 2014 will bring more rigours to a class that has been crucial to social peace: pensioners, who since 2011 have played a key role in sustaining households. The public pension system will be treated the same as private funds, and cuts will hit first widows and widowers on pensions. This applies, of course, if the Constitutional Court does not flunk rejecting this kind of action, i.e. then forcing the government to consider other ways to offset impacts on reducing spending, which can avoid a further VAT increase.

The economic reality after the rescue has revolutionised households. Fifty years ago, when parents grew old, they went home to their children who took care of them. Then, ten or fifteen years ago, they went to care homes. But today, grandparents are the basis of family support, welcoming in their homes their (adult) unemployed children who can no longer live alone and their grandchildren, in a process that is causing deep trauma in society by the apparently natural disruption of established premises, for which there is no end in sight.

In the second quarter of this year, the economy grew for the first time since 2010, but GDP is nevertheless expected to contract in 2013. Economic stagnation and cuts in areas related to day-to-day life of the Portuguese population makes them vulnerable to poverty. The percentage of people who said that last year they did not have enough money to buy necessary food, for themselves or their families, has doubled since 2011, reaching about one in five people in 2013. The percentage of those who admit that there were times when they did not have enough money for housing has also doubled in the same period.

Austerity has also revealed inconsistencies that have accumulated over decades: taxpayers pay for empty highways, increasingly, one senses more exhaust fumes in cities because people cannot up- grade their cars, taxes are required from those who do not have work, most of the household income is used to pay debts to banks and the state, in order to reduce state benefits and increase your own financial penalties. But there is a bright side: there has been an increase in the capacity for social empathy, a glimpse in the mirror, which showed the lack of truth in the collective subconscious, now

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 137 with entering at a less materialistic level, which ended the freedom of having to make a start with now having the freedom to be. This country will never be the same again.

Margarida Bon de Sousa, who studied Sciences Information at the Universidade Católica Portuguesa works with Jornal I (www.ionline. pt). Before she took over her present position she worked as journalist with Rádio Televisão Portuguesa and Diário de Noticias.

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Should Greece remain in the eurozone and, if so, why? Position Dimitris Katsikas

6.11.2013

Greece should not leave the monetary union, says Dimitris Katsikas. An exit from the euro zone could lead to serious crises - even beyond the country: The debt interest for other crisis countries would rise and there would be a risk that Spain or Italy can no longer service their debts. The Greek exit would be more expensive than its rescue.

Almost from the beginning of the Greek crisis in late 2009, there have been calls for Greece to leave the eurozone - the so-called 'Grexit'. These calls were usually intensified by adverse economic and political developments in Greece, such as the withdrawal of the Troika mission during the autumn of 2011, following the unwillingness of the Greek government to follow through the stipulations of the agreed adjustment programme, or the domestic political crisis triggered by the former prime minister's proposal for a referendum on Greece staying in the eurozone in late 2011. Grexit proponents can be found in a wide array of analysts, political parties and market participants, both within Greece and abroad. Leaving aside market players engaged in speculative bets against Greece and other self- serving agents, we can classify Grexit proponents into two major 'camps': those who think that Greece's problems are too big for the eurozone to tackle, that is, the bill is too big for the other eurozone countries to pay, and those who believe that the programme that is being implemented is detrimental for Greece; the country would be better off leaving the eurozone, thus breaking free from the shackles of an extremely harsh conditionality programme, which has caused economic and social devastation.

Let us first examine the latter point. Would Greece be better off out of the eurozone? The proponents of this proposal employ a typical economic argument: outside the eurozone Greece could have its own currency, which would be devalued, allowing Greece to restore its international competitiveness and gradually return to growth. High growth rates would help make the debt sustainable, while the anticipated increase in tax revenues would help Greece achieve a primary surplus. Is that the case?

When discussing economic policy, one should always take into account the specific characteristics of the country in question. Exports make up a small part of the Greek economy. In 2008, before the crisis had struck, exports of goods and services accounted for 24% of GDP. This was much lower than the European average (42% for the eurozone and approximately 41% for the European Union). It should also be noted that this poor performance would be even worse without the contribution of services (particularly tourism-related). Exports of traded goods in 2008 were approximately 9% of GDP; in 2012, following three years of two-digit increases in exports and at the same time, continuous decline in GDP, exports of traded goods still only accounted for 13.5% of GDP. Given the minor contribution of exports to Greek GDP, the potential impact of devaluation in a Greek currency on the growth potential of the country will be much lower than what is anticipated by Grexit proponents. Indeed, this positive impact would probably be even less, given that many of the goods that Greece exports are dependent for their production on imported intermediate products and production equipment. Devaluation of a Greek currency would increase the price of these inputs, thereby cancelling part of its benefit on price competitiveness.

On the other hand, exiting the eurozone and devaluation would have certain, not so negligible, negative

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 139 economic effects. First, one should keep in mind that devaluation would increase dramatically prices of imported goods which still dominate the Greek market. This would translate into instantaneous impoverishment of the Greek population who would be unable to purchase even basic goods. This development would come after three years of income reductions and profit deterioration for Greek employees and entrepreneurs respectively, and while a large part of the population (currently estimated at 27%) finds itself in unemployment. The collapse of consumption that would ensue would most likely wipe out a large part of Greek GDP, which has already been reduced by approximately 22% since the beginning of the crisis, leading to further increase in unemployment. It is not hard to imagine the social unrest that would follow in such a situation. At the same time, currency devaluation would increase the burden of the public debt manifold (given that the debt would still be denominated in euros). To become sustainable, a dramatic 'haircut' would have to be implemented. Such an action, beyond the extremely negative consequences for Greece's relations with its European partners (who, following last year's Greek debt restructuring and second bailout loan, now hold most of Greece's public debt), would also deprive Greece of any possibility to tap the financial markets. In these circumstances, the government would most likely resort to printing money. However, unless the government would be willing to risk an inflation spiral, such a policy would need to be strictly circumscribed. This in turn would mean that most of the austerity measures adopted thus far would have to be retained, given that Greece has still not achieved a primary surplus.

These problems would become even more serious if we take into account the political consequences of a potential Grexit. A decision to exit the eurozone would most likely be accompanied by a call for elections, since any government would need to have a popular mandate to proceed with such a dramatic course of action. Given the current distribution of electoral power, and the extremely negative and polarised political climate prevailing in Greece at the moment (certain to become even more so following a Grexit decision), elections are unlikely to produce a clear winner with a governing majority. Unfortunately, as has already become clear, coalition governments do not work very well in Greece. The tripartite government formed last year after two rounds of elections lasted only one year and the new two-party government has an extremely narrow majority of five in Parliament. In conditions of social unrest, political polarisation and conflict are bound to increase, with unpredictable consequences.

The volatile social and political climate, the loss of the European Central Bank's monetary policy credibility, the absence of a credible and constraining policy framework (such as the eurozone economic policy framework) and following its unilateral debt restructuring, alienation of Greece from both its European partners and the markets would leave the country weak and isolated. In such circumstances, it is highly unlikely that Greece will be able to proceed with the deep and wide-ranging structural reforms that it needs.

The remedy to Greece's low competitiveness and ultimately its declining economy is to reform its inward-looking, consumption-based growth model. This will not be remedied through exit and devaluation. The overhaul of Greece's growth model is a process that will take many years to accomplish and should be based on deep structural reforms in the Greek economy and state. Enhancing productivity should be one of the priorities of such reforms; currency devaluation may provide a temporary boost in price competitiveness, however it cannot substitute for the long-term, productivity-enhancing structural reforms that the Greek economy needs. Unless such reforms are implemented, the most probable long-term outcome following exit from the eurozone would be a series of devaluation steps and a permanently high level of inflation, a situation which Greece experienced during the 1980s.

What about the claim that the cost of bailing out Greece is too great for the eurozone to handle? Grexit, accompanied by unilateral default on part of its debt, would have an adverse effect on the public finances of all the European countries that have lent Greece money. This would come at a time when the European economy is once again in recession and most European governments are trying to bring down their fiscal deficits and public debt, which had reached record levels in the aftermath of the 2007-09 financial crisis. However, the adverse fiscal effects because of the Greek default would not be the most significant problem. The real problem would be the spread of the crisis to other countries.

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After three years of experiencing this crisis, it is hardly necessary to make the case for the risk of contagion resulting from Grexit. Time and again we have seen how negative developments in one country lead to turbulence in the financial markets across Europe and often the entire world. Once Greece failed to follow through its adjustment programme and exited the eurozone, confidence in the ability of other countries to overcome their problems would collapse. It is not only the magnitude of the problems in the countries in the periphery that would undermine the credibility of their efforts. Grexit would also convince the financial markets of what they have been suspecting all along, given the haphazard, ambivalent and weak response in the eurozone to the crisis thus far: European leaders are not ready to do whatever it takes to save the eurozone.

Sovereign interest rates would soar; Portugal and Ireland - whose programmes are near completion - would not be able to access the markets and would need new bailout loans. Spain and Italy would present an ever greater problem. The inability of these countries to borrow from the markets could bring about the breakdown of the eurozone itself. The funds needed to bail out these countries are far greater than what is currently available in the eurozone stability mechanisms. In the absence of eurobonds or a common budget large enough to accommodate their funding needs, these countries would be led either to default on part of their debt, or to leave the eurozone to print money. Either event would send shock waves through the financial markets, which would raise interest rates across the board, plunging Europe, and probably the rest of the global economy as well, into a new recession.

In other words, the real question is not whether the Greek bailout is too much for the Eurozone to handle. Greece is a member of a monetary union that has proven itself fragile and unprepared for such a crisis; if the bailout of Greece fails, the cost will be high, not only for Greece but also for the eurozone itself. The real question therefore is whether the eurozone will pay the price for bailing out Greece, even if this is relatively high, or whether it is willing to risk Grexit, the cost of which could be immeasurably higher. Having said that, this is just a probable scenario; it is not certain that it will come to pass. However, its consequences are so devastating that we should not be contemplating Grexit as an acceptable option, even if the outcome is uncertain.

In conclusion, I believe that Greece should remain in the eurozone. Grexit holds very little, if any, economic benefits for Greece; on the contrary, it has the potential to bring about a severe economic, social and political crisis. Moreover, Greece would not be the only one to suffer. Grexit could spark a new European and global economic crisis with potentially devastating effects for other countries that could even bring about the breakdown of the eurozone itself.

Dr. Dimitris Katsikas is Head of the Crisis Observatory in the Hellenic Foundation for European and Foreign Policy (ELIAMEP)

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Latvia and the eurozone: the search for stability Position Pauls Raudseps

24.1.2014

Is it currently desirable for a country to be included in the euro zone? Yes: Joining euro zone is useful for Latvia, says Paul Raudseps. A decision against the euro would banish the country in the periphery of Europe. Although the country's currency, the lats, is one of the national symbols the euro is already accepted by the Latvians as a guarantor of stability.

Since the Greek debt crisis erupted at the beginning of 2010, the question has often come up whether any country will decide to leave or be forced out of the eurozone. Yet on 1 January, 2014, the number of countries using the euro will not shrink but increase. On that day Latvia will become the eighteenth nation to switch from its national currency - the lats - to the common currency of the European Union.

Naturally, this elicits a range of reactions from outsiders, beginning with bemusement, proceeding to perplexity and sometimes ending with irony. Yet, in spite of the well-known and widely-discussed difficulties some eurozone countries are now experiencing, Latvia has a number of very good reasons to join.

It is very much in the interests of any small country to fix the exchange rate of its currency to some larger unit of exchange, because leaving its exchange rate exposed to the vagaries of the market and possible speculative attacks is simply too destabilising for a small economy. The market for dollars or euros is vast and their exchange rates are relatively stable, responding primarily to economic fundamentals. For all the trouble the eurozone has gone through in the last years, and in spite of some fluctuations, the value of the euro relative to the US dollar is roughly the same as it was at the beginning of 2009. In contrast, the exchange rates of small economic units can be subject to wild swings and panics. Therefore, it is hardly surprising that not only Latvia, but also its quite similar Baltic neighbours Estonia and Lithuania all chose to fix their exchange rates to other units of account as soon as they renewed their national currencies after regaining independence at the beginning of the nineties. They all switched the peg to the euro upon entering the European Union in 2004, and all declared that they would aim to introduce the common currency as soon as possible.

However, even this was not enough to completely convince the markets of the stability of these exchange rates. In spite of the strong and often repeated commitment of the Latvian authorities to maintaining the lats peg to the euro, the country has experienced two runs on the currency in the last years: one in 2007, the other in 2009. Neither was large enough to force devaluation, yet they both shook confidence and created a strong feeling of instability. It was bad for business, bad for investments, bad for development.

This experience has been burned into the consciousness of Latvia's economic policy makers, and they see entry into the eurozone as the best way of removing permanently the instability caused by fears of devaluation. When Latvia's real estate bubble collapsed and Latvia was forced to turn to the International Monetary Fund and the European Commission for help, the goal of joining the euro was transformed from something merely desirable into something absolutely necessary. Because the country's economic and fiscal situation was so dire, only euro membership could provide a credible assurance that the value of currency would be maintained. Consequently, joining the eurozone was explicitly designated

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 142 as the ultimate goal, the exit strategy for Latvia from the crisis, in the agreements signed with international lenders. It should be noted that the euro has been seen as a safe harbour by the other Baltic states as well: Estonia joined in 2011 and Lithuania aims to join in 2015.

In view of this history and the repeated affirmations by the Latvian government since 2008 that it plans to enter the eurozone as soon as possible, it is hardly surprising that, having successfully fulfilled the Maastricht criteria in 2012, Latvia should submit its application to join. In fact, any other course of action would result in precisely the uncertainty and instability that the country has been seeking to avoid.

The leading local business organisations are also strong supporters of euro entry. One reason is that since such a large proportion of loans, large purchases and export-import operations are already conducted in euros, businesses will save money on currency transactions. The sums involved are significant: the Bank of Latvia has calculated that local banks and currency traders have made profits of 600 million euros over the last five years on currency exchange. Latvian exporters also believe that being from a eurozone country will have a positive psychological effect on their partners in other countries. In Asia nobody has heard of the lats, but everyone understands what the euro is.

Some may still wonder if staying the course is wise in view of the economic travails of such countries as Greece, Portugal, Ireland and Spain. It is now generally recognised that their problems were exacerbated by the low interest rates that membership in the eurozone provided them for many years. Yet it is important to note that Latvia ran into much the same difficulties without being a member of the eurozone, and it has also convincingly demonstrated its ability to overcome its crisis while maintaining a fixed exchange rate. After experiencing the most severe economic downturn in the world in 2008 and 2009, in the last two years Latvia has had the fastest growing economy in the EU and its unemployment rate, while still not at pre-crisis levels, has fallen markedly. Moreover, the bubble years are still fresh in everyone's minds and it is extremely unlikely that either banks or borrowers could make the same, extremely painful mistakes twice in such a short time.

In the longer perspective, many decision makers in Latvia believe that the eurozone is increasingly becoming the real core of the European Union, and that to remain outside means to be consigned to the periphery of the European project. This makes joining the eurozone an important strategic goal. It is all the more important because of Latvia's geopolitical position bordering Russia, which makes no secret of its attempts to increase its influence in the territories of the former Soviet empire. Maximal integration into western organisations is one of Latvia's main strategies to protect itself from the Kremlin's geopolitical designs. As some people here like to put it, perhaps with a degree of exaggeration, the real choice is not between the euro and the lats, but rather between the euro and the rouble.

Despite all these arguments in favour of joining the eurozone, public opinion polls show that the majority of the population is still sceptical. Counterbalancing the pragmatic economic arguments is a strong emotional attachment to the lats, which Latvians strongly associate with national identity. The reintroduction of the lats was one of the main tangible symbols in re-establishing independence at the beginning of the nineties, and despite periodic panics about devaluation, people see it as a success story. Yet in their everyday, pragmatic existence, people already look to the euro as a stable store of value. Roughly 80% of all private lending is in euros, most real estate and other high-priced transactions take place in euros, and, whenever there is a rumour of devaluation, people run to the banks to change their lats into euros.

No doubt the tension between people's hearts and heads will not be resolved immediately. Nevertheless, the polls show that support for euro membership has been rising and there is good reason to believe that it will continue to do so. For Latvia, joining the eurozone is a rational, strategic choice, and in the end that should outweigh other considerations.

Pauls Raudseps, a commentator for the weekly magazine Ir, is one of Latvia's leading journalists. The topics of his writing include economics, politics, international relations and history.

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Truths and myths about youth unemployment in Spain Position Leire Salazar and Luis Garrido Medina

6.11.2013

According to Eurostat, the Spanish youth unemployment was 53.2 percent in 2012. But these data and their calculations are misleading and lead to an overestimation of the problem, say Leire Salazar and Luis Garrido Medina. The main problem is the blocked access to the labor market for the 25 - to 39-year-olds. Their ability to realize their own life plan is significantly restricted.

Both in the media and in political debate, the high rates of youth unemployment in Spain have captured significant amounts of attention in the last number of months. In this article, it is argued that some of the figures used in this debate are biased; recent developments in other indicators of conditions that young people experience in the labour market which are crucial for an appropriate understanding of this phenomenon are discussed.

Unemployment among young persons (16-24 years) in Spain is certainly an outlier when compared to countries with similar levels of wealth. However, the figure becomes less extraordinary if we interpret it relative to the total unemployment rate, or to the rate of unemployment of individuals aged 25 and more.

Youth unemployment is, indeed, very high in Spain, but so is total unemployment: in all European countries, young workers experience about two times as much unemployment as their older counterparts. This difference is not negligible, but it obviously does not necessarily constitute a matter for public concern in countries with very low rates in both subgroups, such as Norway, Austria, Germany or the Netherlands, but it can become a serious issue in terms of labour and social policies in countries with very high rates such as Spain. The problem is, therefore, a problem of unemployment in general, rather than of youth unemployment in particular.

In addition, the indicator most often chosen to show the weak attachment of young people to the labour market is deceptive and leads to some overestimation of the scale of the issue. The rate of youth unemployment in Spain which is usually referred to in public discourse, 53.2% in 2012 according to Eurostat, must apply to persons who actually work or are actively involved in job seeking. This means that more than half the young people in the active population cannot find a job. When attention is more broadly drawn to all individuals in this age group, and the fact that most of them are still enrolled in full-time education is accounted for, the figure of absolute unemployment is reduced to 22.7%. It can safely be argued that the lowest age group, 16 to 19 years, is actually no longer a working age in contemporary Spain; in 2012, the percentage of the active population in this age group was 17.5, and less than 5% were actually employed.

The fact that one fifth of all young individuals cannot find a job is actually a very worrying situation, but far less dramatic than usually portrayed. The problem is more acute among young adults (25-34 and 35-39), who are incidentally experiencing slightly higher rates of absolute unemployment than the youngest subsample. For this older group, blocked access to and/or more conceivable exit from the labour market when the economy contracts are more consequential in terms of their opportunities to leave the parental household, establish independent living arrangements and have children.

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What role does education play in this context? Most of the action in Spain regarding access to employment among young people is taking place at the extremes of the distribution of education, both at the bottom and at the top. The educational expansion that has taken place in the last 30 years has undoubtedly equalised opportunities for children from all social origins to attain higher levels of education, which can only be portrayed as a collective success. However, three characteristics of this expansion (speed, magnitude and intensity at university level) help to explain some of the problems that young workers face in the labour market. Before the eighties, a university degree guaranteed professional success, whether measured as a job adjusted to qualifications (in managerial or professional occupations), employment security, high wages and good career prospects. Other educational qualifications were also closely related to the amount and type of labour market outcomes that workers obtained, following a rather intuitive gradient. In the last twenty to thirty years, however, the association between having a tertiary degree and occupational success has weakened notably. In the 1976-77 academic year, only 11% of 23-year old women were enrolled in a university institution or had already finished their degree. Only 36 years later, in the 2012-13 academic year, this percentage had increased almost fivefold, up to 53%. Although amongst young men this rise has not been as steep, these figures are a good indicator of the marked educational expansion, particularly at the highest level, which has taken place since the democratic transition. Even when compared only with other southern European countries, not to mention central European and Scandinavian nations, this expansion has occurred later, but remarkably faster, and with very notable intensity at graduate and postgraduate levels.

Professional jobs have also increased over the period, but clearly not at the same pace. In 2012, all available jobs in this occupational category could only employ 16% of this group - 28% if we also include managerial and technical occupations. This gap between the proportion of young people holding a university degree and the amount of jobs that the labour market can accommodate, whether this is regarded as a problem of over-education or of underemployment, is exceptional in the European context and is a key to understanding not only youth unemployment, but also the dwindling career and, more generally, life prospects of those who are employed. In a context in which top jobs are scarce, and even in economic expansion, accumulation of additional levels of formal education (in the shape of postgraduate degrees, for instance) has become a standard practice among students, who (rightly) perceive that these extra credentials place them in the first positions in the so-called job queue. In periods in which the economy is growing, for their part, early school leavers are attracted by the wide availability of (relatively) well-paid unskilled labour, typically in the construction sector. When the business cycle changes, however, competition for (even scarcer) jobs becomes more intense. The mechanism matching jobs and individuals is unchanged, i.e. the amount of human capital accumulated, but in this context of 'credential inflation', the least qualified are excluded from employment. Even when the economy recovers, empirical evidence shows that a considerable proportion of this group becomes chronically unemployed.

Neither general mal-adjustment between qualifications and type of occupation, nor exclusion of people with low levels of education, are exclusive features of the current crisis, as is sometimes argued. In all the recessive periods for which appropriate data are available (1976-1985, 1991-1994 and 2007-2011), those with low levels of education are expelled from the labour market, and a recovery in the economy is not capable of reversing this situation. What is remarkable is that this displacement takes place at a progressively higher level of education over time. In 1985, 49% of those without any formal education were unemployed; in the following crisis, 1994 and 2011, these figures had climbed to 59% and 68% respectively. Among those with only primary education, 34% were unemployed in 1985; in the following two crises, the comparable rates were 45% and 50%. This trend replicates for the successively higher educational levels, in what appears to be a very consistent pattern: as mean educational qualifications in the population increase, those underachieving these levels are accordingly excluded from employment. However, far from leaving a particular cohort behind, as is sometimes argued, this pattern ends up generating total employment rates that are very similar over time, with only the least qualified in each cohort relative to the mean experiencing blocked access to the labour market.

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University degrees act in Spain as an insurance from risks of unemployment, but almost one half of young entrants tend to face severe mismatch between their qualifications and the type of occupation that they enter; high incidence of fixed-term contracts; limited opportunities for promotion, and a skill premium in terms of wages that is remarkably low in the European context. In the light of significantly more problematic situations that workers with lower amounts of human capital encounter, one should necessarily conclude that the race to accumulate further levels of education is actually a rational strategy to pursue.

Dr. Leire Salazar is Associate Professor at the Department of Social Stratification, Universidad Nacional de Educación a Distancia (UNED), and the Academic Coordinator of the Postgraduate Program in Research Methods and Data Analysis at the Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS).

Dr. Luis Garrido is a Full Professor at the Department of Social Stratification, Universidad Nacional de Educación a Distancia (UNED), where he is also the Head of the Department.

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Bulgaria: Very few debts and still poor - is this a solution? Position Yasen Georgiev

6.11.2013

Bulgaria makes fiscally everything right and is among the countries with the most stable finances in the European Union, says Yasen Georgiev. He criticizes that the EU has not drawn the right conclusions from the euro crisis: the EU disappointed the states with a strict fiscal policy and increases the euro-skepticism of people who suffer from this policy.

Introduction

Bulgaria, which joined the European Union in 2007 together with Romania, scores lowest in the EU when it comes to measuring GDP per capita in purchasing power standards at current prices - 53% below the EU average - even despite the progress registered in the last more than ten years.

Similarly to other economies in central and eastern Europe, Bulgaria witnessed high inflation rates during the first transition years after the break-up of the planned economy in the 1990s. Along with price liberalisation, inflation was additionally accelerated by the policy of the Bulgarian National Bank (BNB) in the mid-1990s to provide liquidity to the banking system and to finance the budget deficit directly. Faltering confidence in the national currency (Bulgarian lev) and its constant depreciation forced Bulgarians to exchange their salaries in foreign currencies as soon as they got them. Thus, on an annual basis, inflation increased to more than 300% in 1996 and soared to over 500% in 1997. What is more, the situation described above impacted additionally on the levels of public debt: at the outset of economic reforms in 1991, gross government debt amounted to more than 11 billion USD or 180% of the country's GDP, while, despite nominal decrease, later it accounted for 303% of GDP in 1996.

These economic woes laid the grounds for the fiscal policy to be implemented in the next years and explain to a great extent the direction followed by four Bulgarian governments in a row between 1997 and 2013, the framework for which is provided by the Currency Board regulations adopted in 1997. The International Monetary Fund (IMF) insisted on this adoption in return to the financial assistance requested by Bulgaria in order to prevent currency reserves from running critically low and to avoid a new debt moratorium (as was the case in 1990). Maybe the most obvious implication of the Currency Board is the fixed exchange rate between the country's currency and the 'anchor' currency, initially the deutschmark and afterwards the euro. What contributes to economic credibility in financial markets and an anti-inflationary policy is the automatic convertibility i.e. the foreign currency reserves of BNB must be sufficient to cover at least the entire monetary liabilities in the country. Currency Board provisions reveal also some drawbacks - a limited role of a central bank that cannot serve as a lender of last resort for commercial banks and does not lend to the government. Most important is the fact that the country no longer has the ability to maintain monetary policy according to its own considerations and thus adjust domestic interest or exchange rates in order to fix a country's terms of trade and in this way to stimulate the economy. Thus, according to Currency Board arrangements, Bulgarian governments cannot print money, they can only tax or borrow in order to meet their spending commitments.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 148 To be or not to be - loosening the grip of strict fiscal policy

In the last ten years (2003-2012), Bulgaria's average budget deficit was -0.3, between 2007 and 2012 -1.2% of GDP. Similarly, the general government gross debt totalled 22.7% over the observed ten-year period, 16% in the last five years, and 18.5% of the country's GDP in 2012, thus placing Bulgaria after Estonia (10.1%) and before Luxemburg (22.8%). Thus, this south-eastern European country succeeded to be among the front runners in the Union when it comes to stable government finances. This orthodox fiscal policy is often criticised for playing a constraining role rather than serving as a driver of the economy, which is to some extent understandable as seen mainly from the perspective of large social groups. Nevertheless, in the case of Bulgaria there are several facts that justify this policy of the country's last four governments.

Firstly, unlike other EU member states, whether old or new, no pure austerity measures have been applied in Bulgaria since the outbreak of the crisis. Social transfers and public sector salaries cannot in fact be compared even with those of the other worst-performing EU countries, but they haven't been reduced because of budgetary cuts. On the contrary, despite the moderate increase in pensions and in public sector salaries in the last few years, their purchasing power even increased, by 15% and 12% respectively, in 2012 in comparison to 2008. What is more, the starting position of Bulgaria during the outbreak of the crisis allowed the country not to request financial assistance from the IMF, as was the case in a number of CEE and SEE countries.

Secondly, there is beyond any doubt a safe level of government debt for Bulgaria higher than the present, that can allow extended government spending - but a quick historic overview of the last 70 years reveals the inability of Bulgarian governments to work under circumstances of higher indebtedness - financial crises, high inflation rates and debt moratoria have always accompanied periods of high public debt.

Thirdly, with a currency pegged to the euro in line with the provisions of the Currency Board, which will be in place until the country enters the eurozone, Bulgaria is in fact connected to the single European currency, but understandably enough could not participate in the decision making process in the euro zone, let alone count on any financial rescue plans. This is why, unlike countries in the euro zone, EU bail-out has never been an option for Bulgaria, and this also explains why the country could not afford to go the way of some euro countries.

In the fourth place, the structure of the Bulgarian economy has to be also taken into account. As the 2012 second edition of the Economic Review of the BNB states, it is very likely that an increase in government spending cannot accelerate the growth of the Bulgarian economy to the extent that a higher budget deficit and further debts are justified. Since the Bulgarian economy is small and open, any additional payments by the government will generate income that will be spent mainly on purchasing imported goods rather than stimulating domestic production, to create jobs and boost wages. The years of economic growth could be a good reference point in this regard, since at that time domestic demand generated considerable trade deficits and contributed significantly to the negative current account balance.

Fifthly, the fields in which Bulgaria has to catch up with EU standards and average performance are much greater than those where the country could present itself as an outstanding example, or why not as a trend-setter in a group of states that have to rethink the role of public spending for the long-term sustainability of their societies. Therefore, it is more than appropriate for Bulgaria to start capitalising on its achievements in the sphere of public finance also by highlighting the social price it pays for maintaining low levels of public indebtedness. In this regard, it is admirable that, in 2011 and 2012, Bulgaria raised the question that financially stable member states should enjoy certain benefits e.g. contribute less to projects that they currently co-finance with the European Union. This is not an increase in EU funding per se, but an opportunity for countries to relocate domestic funds planned for co- financing of EU projects to other fields. The latter will contribute to meeting cohesion goals and increasing absorption rates. However, it seems that the EU has not yet drawn the right conclusions

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 149 from the eurozone crisis - in 2011, the European Commission, the European Parliament and the Council agreed to measures for temporary increase in EU co-financing rates from structural funds and the Cohesion Fund for six member states in financial difficulties (Greece, Ireland, Portugal, Romania, Latvia and Hungary). In consequence, these countries will have to find less national match-funding, while EU contributions will be increased to a maximum of 95%. This could be a good measure for growth and competitiveness boosting for troubled economies whose domestic budgets are under considerable pressure, though it is per se anything but encouraging for countries observing the criteria for financial stability and playing according to the common rules. What is more, such approaches definitely do not support financially strict governments when election time comes, and could rather nurture euro-scepticism amongst voters.

Conclusion

Achieving sustainable economic growth or, in the case of the newest EU members, faster convergence on borrowed money proves to be working only for societies and countries that could, more or less, control their spending. Running a budget deficit and increasing government debt is in itself not a bad fiscal policy, but this has to be much more in line with medium or long-term goals and strategic investments, rather than with current and sometimes purely populist needs. Bulgaria is not an exception in that sense, particularly in the summer of 2013, when a heated debate over budget revision and absorption of new external debt attracted entire public attention to the role of fiscal policy, thus overshadowing many internal shortcomings and neglecting the necessity for deep reforms in many fields that could not be compensated by increased government spending. Otherwise, the country threatens to experience a scenario which has already been seen in the southern parts of Europe.

Yasen Georgiev is Executive Director at Economic Policy Institute (EPI), Sofia. EPI is a non- governmental, politically independent and not-for-profit organization providing economic research and interdisciplinary analyses of economic and socioeconomic trends in Bulgaria and South Eastern Europe.

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Wege aus der Euro-Krise

19.12.2011

Seit 2010 und nochmehr im Jahr 2011 steht der Euro unter Druck: Euro-Länder wie Griechenland, Portugal, Spanien oder Italien finden nur noch schwer Kreditgeber für die Finanzierung ihrer Haushaltsdefizite. Mit immer neuen Gipfeltreffen versuchen die Euro-Staaten und die Europäische Union auf Vertrauensverlust in die gemeinsame europäische Währung zu reagieren. Aber welche Konzepte sind sinnvoll? Mit welchen Mitteln kann die Euro-Zone die Krise überstehen?

Entscheidungsträger und Wissenschaftler diskutieren hier die verschiedenen Wege aus der Euro- Krise. Die Serie startet mit drei Beiträgen und wird fortgesetzt.

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Europa im Zeichen der Euro-Krise

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 19.12.2011

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Der Euroraum steht vor zwei Aufgaben: Er muss die Zahlungsfähigkeit der Eurostaaten gewährleisten und das verlorene Vertrauen wiederherstellen. Mit welchen Mitteln ist unklar: Europäische Währungsfonds, Eurobonds oder Austritt der Schuldenländer - für die Euro-Krise gibt es kein Lehrbuch.

Schon der Begriff ist umstritten: Haben wir wirklich eine Eurokrise? Oder nur eine Schuldenkrise? Dreht es sich in Wirklichkeit um einen Mangel an Wettbewerbsfähigkeit? Was ist eigentlich der Kern der Turbulenzen, die uns 2011 wie nichts anderes beschäftigt haben und uns wohl auch 2012 in Atem halten werden?

Alle Staaten der Europäischen Union, und nicht nur die, sind verschuldet, das heißt, sie haben bei ihren eigenen Bürgern (in Deutschland zum Beispiel über Bundesschatzbriefe), bei Banken oder institutionellen Geldanlegern (wie Lebensversicherungen oder Pensionsfonds) Geld aufgenommen, um damit einen Teil der Staatsausgaben zu finanzieren. Dies ist so lange unproblematisch, so lange damit Investitionen getätigt werden, die sich über einen längeren Zeitraum abschreiben und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes erhöhen. Dies ist vor allem der Fall, wenn Infrastrukturmaßnahmen wie Bahnverbindungen oder Energiesparmaßnahmen ermöglicht werden. Schwierig wird es mit der Staatsverschuldung, wenn sie für konsumtive Ausgaben ausgegeben wird, egal ob für Rentenerhöhungen, soziale Unterstützung oder staatliche Verwaltung. Allerdings ist hier der politische Druck erheblich: Die Forderung nach mehr Lehrern in der Schule, mehr Polizisten auf der Straße und einer stärkeren Unterstützung der Menschen am unteren Ende der Einkommensskala werden von den Wählern erhoben, was eine Regierung nicht gleichgültig lassen kann. Ökonomisch sinnvoll wäre, diesen Forderungen durch den Ausgleich mit entsprechenden Steuereinnahmen nachzukommen. Aber auch bei den Steuern wird starker politischer Druck entfacht, das Postulat der Steuersenkungen ist ein Wahlkampfschlager. Zudem verstehen es oftmals gerade diejenigen, denen eine höhere Steuerlast zuzumuten wäre, sich den Verpflichtungen zu entziehen - legal über Abschreibungen und Verlagerung des Steuersitzes ins Ausland, manchmal auch illegal durch Steuerhinterziehung. Es gibt wenige Staaten, in denen die Regierungen dem Druck der verschiedenen Seiten widerstehen, eine vermeintlich einfachere Lösung ist es da, den gegensätzlichen Forderungen durch eine Erhöhung der Kreditaufnahme nachzukommen. Dies wiederum führt dazu, dass die Staatskassen bereits leer sind, wenn sie beispielsweise durch Konjunkturprogramme in Anspruch genommen werden müssten - was zu einer weiteren Erhöhung der Verschuldung führt. In Deutschland ist die Staatsverschuldung in den letzten drei Jahren (von 2008 bis 2010) von 66,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 83,2 Prozent des BIP gestiegen.

Noch wichtiger als die Frage, welche Art von Problem wir haben, ist die, wie wir da wieder herauskommen. Aber die Lösung der Krise kommt ohne das Wissen um ihre Geschichte nicht aus.

Als 1999 die Währungsunion in Kraft und damit der Euro in unser Leben trat, war allen klar: Die 11 Staaten, die diese gemeinsame Projekt starteten, waren keineswegs das, was man einen "optimalen Währungsraum" nennt. Der Zusammenschluss der nationalen Währungen zum Euro erfolgte damals auch nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern vor allem aus politischen Gründen. Der Euro ist eine Antwort auf die Veränderungen von Europa, er sollte auch ein Mittel sein, das größer gewordene

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Deutschland stärker in die europäischen Strukturen einzubinden. Weil man aber wusste, dass die makroökonomischen Daten der einzelnen Teilnehmerländer sehr unterschiedlich waren, hat man parallel einen Stabilitäts- und Wachstumspakt geschlossen, in dem die Staaten sich verpflichteten, ihre Schulden zurückzufahren und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Um die Geschichte kurz zu erzählen: Genau das ist nicht geschehen, die meisten Euroländer haben sich um ihre eigenen Beschlüsse nicht geschert, Deutschland übrigens inklusive. Lange Zeit schien dies kein Problem zu sein: Der Euro war stabil, er hat nach anfänglichem Schwächeln eine starke Stellung gegenüber dem US-Dollar errungen, die Inflationsrate war (und ist) niedrig und die Zinsen für Staatsanleihen waren es auch. Da lag es für die Politiker in vielen Ländern nahe, das Geld, was man nicht hatte, aber gerne hätte, auf dem internationalen Finanzmarkt zu leihen. Die meisten Staaten führten ihre Schulden nicht zurück, sondern vergrößerten sie. Die Finanzmärkte, also Banken und andere institutionelle Anleger wie Versicherungen oder Pensionskassen kauften die Euro-Staatsanleihen gerne, weil sie darauf vertrauten, ihr Geld sicher angelegt zu haben und bei Fälligkeit auch wieder zu bekommen.

Was sich seit 2010 geändert hat, ist, dass dieses Vertrauen erschüttert ist. Nachdem die Überschuldung Griechenlands im Jahr 2010 offenbar wurde, nachdem darüber hinaus deutlich (und von der griechischen Regierung auch zugegeben) wurde, dass das Land jahrelang seine Zahlen gefälscht hatte, wurden die Märkte misstrauisch und ängstlich. Sie wollten Griechenland kein Geld mehr leihen, schon gar nicht zu niedrigen Zinsen. Vor allem aber hat das Misstrauen auf andere Euro-Länder übergegriffen: Wenn es mit Griechenland so schlecht steht, wie ist es eigentlich um Portugal bestellt, wie um Spanien oder Italien? Plötzlich sahen die Anleger ein größeres Risiko und wollten für ihre Anleihen höhere Zinsen haben. Wer bei uns ein Haus kauft und dafür einen Kredit aufnimmt, schließt diesen meistens für 20 oder 30 Jahre ab. Staaten verschulden sich viel kurzfristiger, für ein paar Monate, für ein Jahr, durchaus auch für einige Jahre. Sie müssen dann neue Kredite aufnehmen, um die alten zurückzuzahlen. Das bedeutet, dass die Staaten immer wieder nach neuen Darlehen suchen müssen, und wer 2012 keinen Kreditgeber findet, kann seine Anleihe von 2010 oder 2011 nicht bedienen. Dies macht die Länder sehr verletzlich, da ihnen für diesen Fall die Zahlungsunfähigkeit, also die Pleite, droht.

Solche Staatsbankrotte hat es immer wieder gegeben, in den Jahren 2001/2002 war dies beispielsweise bei Argentinien der Fall. Aber kann eine Währungsunion ein Mitgliedsland pleite gehen lassen? Diese Frage wurde und wird heftig diskutiert. Dafür spricht, dass ein Land in gewisser Weise neu anfangen kann, weil es sich von seinen Schulden zumindest zum Teil befreit. Allerdings gelingt dieser Schuldenschnitt nur um den Preis des Verlustes von Vertrauen. Wer leiht schon jemanden Geld, wenn er die vorherige Anleihe nicht zurück bekommen hat? Für einen Staatsbankrott spricht auch, dass die Bevölkerung drastisch vor Augen geführt bekommt, wie es um das Land steht und von daher eher bereit ist, auch Opfer für eine wirtschaftliche Gesundung zu bringen. Zwei gewichtige Gründe sprechen allerdings dagegen: Erstens, heißt ein Bankrott ja, dass ein Land seine Schulden nicht mehr zurückzahlt. Das trifft aber in erster Linie diejenigen, die diesem Land das Geld geliehen haben und es nun nicht mehr wiedersehen, also im Falle Griechenlands beispielsweise deutsche oder französische Banken, Lebensversicherungen oder auch die Europäische Zentralbank. Und zweitens besteht die Gefahr, dass das Misstrauen der Finanzanleger auch gegenüber anderen Eurostaaten so groß wird, dass sie diesen nichts mehr leihen, d. h. keine Staatsanleihen der betreffenden Länder mehr kaufen. Damit würde der Bankrott eines Landes gewissermaßen in weitere Staaten exportiert.

Politik und Finanzwirtschaft im Euroraum sind also mit zwei Aufgaben belastet. Zum einen muss die Zahlungsfähigkeit (und damit auch die Kreditfähigkeit) der Eurostaaten gewährleistet bleiben, zum anderen muss das verlorene Vertrauen wieder hergestellt werden. Letzteres ist eine langfristige Aufgabe. Es ist in Politik und Wirtschaft wie im privaten Leben: Vertrauen ist zwar schnell zerstört, wird aber langsam aufgebaut. Die Gewährleistung der Zahlungsfähigkeit ist andererseits eine Herausforderung, die sofort und ständig neu gemeistert werden muss. Die Staats- und Regierungschefs sehen die einzige Möglichkeit, die aktuelle Krise zu meistern, in einer deutlichen Rückführung der Staatsverschuldung. Während einer solchen Forderung im Grundsatz fast alle zustimmen, wird es problematisch, wenn man die Aufgaben konkret anpackt. Kurzfristig lassen sich

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 153 die Schulden nämlich nur durch Renten- und Gehaltskürzungen, durch Steuererhöhungen und Entlassungen von Staatsbediensteten verringern. Das trifft aber vor allem die Menschen, die man gemeinhin als die "kleinen Leute" bezeichnet. Abgesehen von dieser einseitigen Belastung von Teilen der Gesellschaft wird es durch die Budgetkürzungen noch schwieriger, die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes (durch eine bessere Infrastruktur, durch Investitionen in den Bildungsbereich, durch Erhaltung der Attraktivität eines Standorts oder auch einer Touristendestination) sowie den Wirtschaftsaufschwung durch Binnennachfrage zu gewährleisten. So ist es nicht verwunderlich, dass die geplanten oder durchgeführten Maßnahmen die Menschen in Griechenland, in Spanien oder Italien in großer Zahl zu Straßenprotesten und Streiks getrieben und bereits zur Ablösung mehrerer Regierungen durch Wahlen geführt haben. Lediglich in den EU-Staaten, denen es vorher schon nicht gut ging und die eine schwierige Transformation durchlebt haben, werden die Reformen ohne breiten Protest durchgeführt. Die lettische Bevölkerung beispielsweise hat die harten Einschnitte geduldig ertragen - allerdings mit dem Ergebnis, dass es mit dem Land, das von der Finanzkrise hart getroffen war, jetzt bergauf geht. Die Staatsverschuldung in Estland liegt bei gerade einmal 6,7 Prozent des BIP (2010).

Nimmt die Bevölkerung die verordneten Maßnahmen hin, bekommen die Käufer von Staatsanleihen ihr Geld zurück. Dies wird im politischen Raum oftmals als ungerecht kritisiert: Der "kleine Mann" blutet, die Banken verdienen. Allerdings muss eine Kritik an den Banken berücksichtigen, dass diese staatlicherseits angehalten waren, Staatsanleihen zu kaufen, weil man die Ansicht vertrat, das sei die beste Wertsicherung. Auch viele Lebensversicherungen haben das Geld ihrer Kunden zum Teil in - vermeintlich sicheren - Staatsanleihen angelegt. Wenn diese nicht zurückgezahlt werden, sind also mehr Menschen betroffen als einige Bankvorstände. Vieles ist daher nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag und oftmals die Schlagzeilen und Talkshows bestimmt.

Für eine solche Krise gibt es kein Lehrbuch und für eine Währungsunion wie den Euroraum auch keine Erfahrungen. Es erstaunt daher nicht, dass sowohl die Wirtschafts- und Finanzfachleute als auch die Politikerinnen und Politiker sehr unterschiedliche Vorschläge für richtig halten.

Um sicherzustellen, dass den Euro-Mitgliedsländern nicht das Geld ausgeht, wurde eine Institution geschaffen, die sich nach der englischen Abkürzung EFSF (European Financial Stability Facility) nennt und die in der öffentlichen Diskussion als "Rettungsschirm" bekannt ist. Der EFSF hilft in Not geratenen Euroländern, indem er auf dem internationalen Finanzmarkt die Kredite aufnimmt, die das jeweilige Land nicht mehr bekommt, und an das Land weiterleitet. Hinter dem EFSF stehen alle Eurostaaten, die mit einer Summe von 440 Mrd. Euro (und zusätzlich 250 Mrd. Euro vom Internationalen Währungsfonds) für die Anleihen bürgen. Hinzu kommen weitere 60 Mrd. Euro, die die Europäische Kommission befugt ist, auf dem Kreditmarkt aufzunehmen und dem Rettungsschirm zur Verfügung zu stellen, das ist der EFSM (European Financial Stabilisation Mechanism). Beide Institutionen, der EFSF und der EFSM sind nur vorübergehend etabliert und sollen 2013 durch eine neue abgelöst werden, nämlich den ESM, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (European Stability Mechanism). Der ESM ist eine Art Europäischer Währungsfonds. Im Dezember 2011 haben die Staats- und Regierungschefs der Eurozone sogar beschlossen, seine Einführung auf das Jahr 2012 vorzuverlegen.

Der Vertrag über den ESM muss in allen Euroländern ratifiziert werden. Bereits im Vorfeld der Bundestagsentscheidung ist darüber in Deutschland heftig diskutiert worden. Der FDP- Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler fordert, dem ESM nicht zuzustimmen. Er hat seine Argumente hier dargelegt. Ihm antwortet ein Fraktionskollege, der Abgeordnete Marco Buschmann. Frank Schäffler hatte sogar innerhalb der FDP eine Urabstimmung initiiert, konnte sich dort jedoch mit seiner Position nicht durchsetzen. Aber die Debatte ist damit nicht zu Ende, sie wird auch im Deutschen Bundestag geführt werden.

Kommt man aus der aktuellen Misere, in der einige Eurostaaten sich befinden heraus, indem man die Schulden vergemeinschaftet und gemeinsam dafür bürgt? Auch diese Diskussion beschäftigt die Öffentlichkeit, und zwar unter dem Namen "Eurobonds". Die Bundesregierung lehnt solche Eurobonds

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 154 bislang ab, der FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle bezeichnet sie als "Zinssozialismus", der den betroffenen Staaten den Druck, sich zu reformieren, nehmen würde.

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die die deutsche Filiale des European Council on Foreign Relations, einer europäischen "Denkfabrik" leitet, spricht sich hingegen in ihrem Beitrag für die Schaffung solcher Eurobonds aus.

Weitere Beiträge, die auch die Rolle der Europäischen Zentralbank und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zum Gegenstand haben, werden folgen. Europa bleibt ein spannendes Thema!

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ESM - der europäische Währungsfonds Standpunkt Marco Buschmann

Von Marco Buschmann 19.12.2011 Marco Buschmann ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und dort Mitglied des Rechtsausschusses. Er ist zudem Vorsitzender der Arbeitsgruppe Recht der FDP-Bundestagsfraktion und Experte für Wirtschaftsrecht. Von Beruf ist er Rechtsanwalt und auf Fragen der Finanzierung und Restrukturierung spezialisiert.

Der FDP-Abgeordnete Marco Buschmann ist sich sicher: Mit dem Europäischen Stabilitäts- Mechanismus verhindert die Euro-Zone eine Weltwirtschaftskrise. Buschmann argumentiert gegen die Bedenken und für eine koordienierte Währungspolitik der Euro-Staaten.

In den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts erlebte die Welt eine dramatische Krise: Das Vertrauen in die Währungen sank weltweit. Denn die Staaten betrieben eine unkoordinierte Währungspolitik. Niemand war sich mehr sicher, was ein bestimmter Betrag einer Währung noch wert war. Das Geld büßte immer mehr seine Funktion als Wertaufbewahrungs- und Zahlungsmittel ein. Die Folgen waren verheerend: Innerhalb von nur drei Jahren sanken die Güterpreise weltweit um 48 Prozent. Es kam also zur Deflation. Der Welthandel brach um 63 Prozent ein. Es kam zur großen Depression, also zu einer Weltwirtschaftskrise. Aus dieser Erfahrung heraus wurde der Internationale Währungsfonds (IWF) gegründet. Er dient dazu, die Währungspolitik zu koordinieren und Staaten, die in Schwierigkeiten stecken, Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten - sprich: Hilfskredite im Gegenzug für Anpassungsmaßnahmen, um sich aus diesen Schwierigkeiten zu befreien. Die Gründung des IWF hat zur Lösung zahlreicher internationaler Krisen beigetragen und ist eine Erfolgsgeschichte, die bis heute andauert.

Seit dem Frühjahr 2010 durchleben wir die europäische Staatsschuldenkrise, die uns vor strukturell ähnliche Probleme stellt: Das Vertrauen der Anleger in Euro-Staatsanleihen, also verbriefte Kredite an Euro-Staaten, sinkt weltweit. Denn eine Reihe von Euro-Staaten betrieb eine unkoordinierte Schuldenpolitik. Niemand ist sich mehr sicher, ob oder wie viel finanziell taumelnde Euro-Staaten von ihren verbrieften Krediten zurückzahlen können. Euro-Staatsanleihen büßen seitdem Vertrauen als werthaltige Anlageklasse und handelbares Wirtschaftsgut auf den globalisierten Finanzmärkten ein. Die Folgen sind verheerend. Denn wenn die Finanzmärkte beachtlichen Teilen der Euro-Staatsanleihen kein Vertrauen - sprich: stabilen Wert - mehr beimessen, dann droht ein gewaltiger Crash. Die Wirkungskette sieht in etwa wie folgt aus:

Euro-Staatsanleihen spielen in den Bilanzen von Banken eine gewichtige Rolle. Dazu hat maßgeblich eine falsche Finanzmarktregulierung nach dem Motto "Staat vor Privat" beigetragen. Sie ging von dem falschen Dogma aus, dass ein Staat nicht zahlungsunfähig werden könne. Daher wurde das vermeintlich sichere Kreditgeschäft mit Staaten rechtlich gegenüber dem Kreditgeschäft mit Privaten begünstigt. Der hohe Anteil an Staatsanleihen in den Bilanzen der Banken und deren dünne Eigenkapitaldecke können nun zu ähnlichen Effekten führen, wie sie für die große Depression ursächlich waren: Gilt eine Staatsanleihe nämlich als nicht mehr werthaltig, muss die Bank sie abschreiben. Dadurch sinkt ihre Eigenkapitalquote. Ist ihre Eigenkapitaldecke dünn (weltweit haben die Banken durchschnittlich nur eine Eigenkapitalquote von ca. 4 Prozent), so muss sie um ihre Existenz, jedenfalls aber um ihre Wettbewerbsfähigkeit fürchten. Denn wer würde schon Geschäfte mit einer Bank machen, die selber kein Geld mehr hat?

Die Bank wird also versuchen, ihre Bilanz "in Ordnung" zu bringen. Dazu kann sie beispielsweise

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Aktiva, die ihr gehören, verkaufen, um Schulden abzubauen. Eine solche sogenannte Bilanzverkürzung steigert die Eigenkapitalquote. Dabei gibt es jedoch ein mathematisches Problem: Wer eine Milliarde Verlust im Eigenkapital bei einer Eigenkapitalquote von vier Prozent durch Bilanzverkürzung ausgleichen möchte, muss für 24 Milliarden Aktiva verkaufen, also Aktien, Anleihen und sonstige Wertpapiere. Jede Milliarde Abschreibung im Eigenkapital einer Bank kann also dazu führen, dass sie 24 mal so viel Geld durch Verkauf von Wertpapieren versucht hereinzuholen. Wenn aber große Wertpapierhändler wie Banken keine Wertpapiere mehr kaufen, sondern nur in großem Umfang verkaufen, brechen weltweit die Börsen ein. Das hat schlimme Folgen:

Weil die Wertpapiere an den Börsen immer weniger wert sind, beginnt ein Teufelskreislauf aus Abschreibung und Preisverfall. Denn Banken und Versicherungen müssen ihre Wertpapiere unter Umständen nach "fair value" in der Bilanz bewerten, also nach Börsenpreisen. Unternehmen können sich an den Börsen nicht mehr erfolgreich durch den Verkauf von Aktien oder Anleihen finanzieren. Lebensversicherer verdienen kein Geld mehr und können etwa Produkte zur privaten Altersvorsorge nicht mehr bedienen. Es kommt zu Kreditklemmen, die die Realwirtschaft belasten. Darauf folgt Rezession, Arbeitsplätze gehen verloren, Unternehmen werden insolvent. Es kommt zu immer mehr Abschreibungsbedarf in den Bankbilanzen, weil die insolventen Unternehmen ihre Kredite nicht mehr bedienen können. Das sind die oft genannten Kettenreaktionen oder Domino-Effekte, wenn ein sehr großer Schuldner im Finanzsystem umfällt.

Dieser Gefahr begegnen die Euro-Staaten mit einem bewährten Konzept. Ebenso wie der IWF die unkoordinierte Währungspolitik beendet hat, soll der Europäische Stabilitäts-Mechanismus (kurz: ESM) quasi als europäischer Währungsfonds die unkoordinierte Schuldenpolitik der Euro-Staaten und die daraus resultierenden Probleme in den Griff bekommen:

Der ESM soll unkontrollierte Staatspleiten verhindern. Denn dadurch wird auch der Abschreibungsbedarf in den Bankbilanzen kontrolliert, der Ausgangspunkt für die gefährlichen Kettenreaktionen sein kann, die oben beschrieben sind. Im Gegenzug müssen die begünstigten Staaten ihre Haushalte in Ordnung bringen: Sie müssen zum einen die Einnahmeseite stärken - insbesondere auch dadurch, dass sie wettbewerbsfähiger werden. Sie müssen zum anderen ihre Ausgaben in den Griff bekommen und sparen.

Man mag sich fragen, warum der IWF selbst nicht diese Aufgabe übernimmt und mit dem ESM ein europäischer Währungsfonds zu gründen ist. Zum einen ist zu bedenken, dass dem IWF fast 190 Staaten weltweit angehören. Die meisten von ihnen sind finanziell und wirtschaftlich weit schwächer als jeder einzelne Euro-Staat. Viele IWF-Staaten haben daher die Erwartung, dass die Europäer selber in der Lage sein sollten, ihre Probleme zu lösen. Zum anderen gibt es mächtige IWF-Staaten, die eine gänzlich andere Lösungsstrategie verfolgen als die Europäer: Die USA beispielsweise wollen die Geldmenge drastisch erhöhen - sprich: In großem Umfang Geld drucken. Das aber steigert die Inflationsgefahr. In Europa hat sich vielmehr der Gedanke der Stabilitätsunion durchgesetzt - also dass die Staatsdefizite langfristig abgebaut werden müssen statt sie bloß "weg zu inflationieren".

Gegen den ESM werden immer wieder eine ganze Reihe grundsätzlicher Bedenken vorgetragen. Doch treffen diese Bedenken nicht wirklich zu: Gelegentlich wird behauptet, der ESM sei nicht rechtsstaatlich konstruiert. Der Vorwurf richtet sich gegen die diplomatische Immunität seiner Bediensteten und das Vollstreckungsverbot in sein Vermögen. Doch beide Regelungen sind bei internationalen Organisationen völlig üblich - so z. B. auch beim IWF. Die Immunität betrifft auch nur Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Organisation. Handlungen der Bediensteten sind folglich nur dann geschützt, wenn sie offizieller Natur sind. Die Immunität der Amtsträger und Bediensteten kann bei Bedarf aufgehoben werden. Sinn und Zweck ist es, die Unabhängigkeit und die Funktionsfähigkeit der Organisation zu gewährleisten. Zudem wird behauptet, der ESM sei nicht demokratisch kontrolliert. Jedenfalls Deutschland wird ein Veto-Recht besitzen und dieses Veto-Recht wird - ebenso wie derzeit schon bei der Vorgängerorganisation EFSF - durch den Deutschen Bundestag kontrolliert werden. Weiterhin wird gerne behauptet, der ESM sei der Weg hin zu mehr Brüsseler Zentralismus. Doch der

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ESM wird gar nicht durch die Europäische Union oder die EU-Kommission kontrolliert. Es ist ein Instrument der ESM-Mitgliedstaaten. Daher kann von mehr Brüsseler Zentralgewalt gar nicht die Rede sein.

In Krisen heißt es, kühlen Kopf zu bewahren! Daher haben sich die Euro-Staaten für ein Krisenbekämpfungsinstrument entschieden, das bewährten und bekannten Mustern entspricht. Ob dieses Instrument genau so funktioniert, wie wir es uns erhoffen, wird am Ende nur die Geschichte zeigen können. Denn niemand kann die Zukunft verlässlich vorhersagen. Aber der ESM bietet wenigstens die Chance, eine Weltwirtschaftskrise zu verhindern. Untätigkeit dagegen steuert uns gezielt in den Crash.

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Die Umverteilung europäischer Bonitätsreserven ist keine Lösung der Euro-Krise Standpunkt Frank Schäffler

Von Frank Schäffler 19.12.2011 Frank Schäffler ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages und gehört dort dem Finanzausschuss an. Nach seiner Ausbildung zum Betriebswirt war es bis 2010 als selbstständiger Finanzberater tätig.

Der Euro kann nur gerettet werden, wenn Griechenland oder andere Staaten austreten dürfen, meint Frank Schäffler. Der FDP-Abgeordnete hält Schuldenschirme für untauglich. Die Euro- Zone sei auf einem Weg, der nicht gut enden kann.

Ziel der Schuldenschirme ist die Ausnutzung der verbliebenen Kreditkapazitäten möglicher Geberländer. Sie sollen helfen, dass die hochverschuldeten Nehmerländer weitere Schulden aufnehmen können. Im Grunde bewirken sie die Umverteilung von Bonität von bonitätsstarken zu bonitätsschwachen Staaten der Euro-Zone. Bonität ist ein endliches Gut. Sie setzt der vergemeinschafteten Kreditaufnahmekapazität eine faktische Grenze. Diese Grenze rückt mit jedem Kredit an die Bonitäts-Empfänger näher. Sichtbar wird dies im Verfall der Ratings. Das Triple-A von Frankreich ist stets im Gerede und nach Meinung mancher bereits nur noch aus gutem Willen nicht entzogen worden. Österreichs Triple-A wackelt, da seine Banken umfangreiche Geschäfte mit dem Krisenland Ungarn gemacht haben. Sie erwarten Abschreibungen. Dann wird es in Österreich zu einer weiteren Episode der sich gegenseitig befruchtenden Bank- und Staatsschuldenkrise kommen. Nach der Bonitäts-Weggabe steht selbst die Top-Bonität Deutschlands auf wackligen Beinen.

Die Schuldenschirme sollen das Verschuldungsproblem lösen, indem durch die Umverteilung und Nutzung letzter Verschuldungsreserven weitere Verschuldung ermöglicht wird. Die noch verfügbare Kreditaufnahmekapazität der Euro-Zone wird so nach und nach aufgebraucht. Der Abbau von Schulden wird in eine fernere Zukunft verschoben. In der Zwischenzeit sollen die Bonitäts-Transferempfänger sich reformieren. Unter Anleitung sollen sie wirtschaftlicher werden und dadurch neue, eigene Verschuldungskapazitäten schaffen.

Dieser Weg muss zwingend vor einer Wand enden, wenn die verbleibenden Verschuldungskapazitäten schneller verbraucht werden als neue freigemacht werden. Verschuldungskapazitäten werden geschaffen, indem Wirtschaftswachstum generiert wird. Die Staaten des Weichwährungsblocks im Euro stehen gerade in dieser Hinsicht vor einer nahezu unmöglichen Aufgabe. Fast alle haben sie ein zweifaches Problem. Sie haben einerseits einen maroden Banksektor. Deswegen kommen weitere Ausgaben und somit Verschuldung auf sie zu. Andererseits haben sie eine negative Leistungsbilanz. Sie erbringen also weniger Leistungen an das Ausland als sie Leistungen aus dem Ausland beziehen. Oder anders ausgedrückt: Die in diesen Staaten hergestellten Produkte sind nicht wettbewerbsfähig.

Die Wettbewerbsfähigkeit der Nehmerstaaten lässt sich kurzfristig nicht herstellen. Denn die abverlangten Opfer wären zu groß. Plastisch zeigen sich die Wettbewerbsdefizite durch einen Blick auf die erforderliche Abwertung. Dieses Szenario ist inzwischen verbreitet. Mittlerweile haben fast alle Großunternehmen Strategien für einen Übergang in eine Post-Euro-Zeit entwickelt. Von mehreren Banken liegen Studien dazu vor. Beispielsweise hat das japanische Bankhaus Nomura jüngst berechnet, wie die Wechselkurse zum Dollar liegen könnten, wenn die Mitgliedsstaaten die Euro-Zone verließen. Danach würde Griechenland um rund 58 Prozent, Portugal um 47 Prozent, Spanien um 36

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Prozent, Italien um 27 Prozent und Irland um 28 Prozent gegenüber dem Dollar abwerten. Diese Zahlen sind ein guter Indikator dafür, wie hoch die interne Abwertung sein müsste, um wettbewerbsfähig zu werden. Denn interne Abwertung ist der einzige Weg in die Wettbewerbsfähigkeit, wenn der Austritt aus der Euro-Zone unmöglich gemacht wird. Das heißt, in den Exportindustrien dieser Länder müssten die Kosten um den gleichen Prozentsatz wie in der Nomura-Studie gekürzt werden. Ohne bedeutsame Einschnitte bei den Löhnen geht dies nicht.

Solche Einschnitte sind aus vier Gründen höchst problematisch. Erstens sind sie rechtlich schwierig, denn die Lohnfindung ist nicht Sache der Regierungen. Kürzungen in den allgemeinen Lebensstandard können zweitens nicht ohne soziale Verwerfungen vollzogen werden. Unruhen wie in Griechenland sind die verständliche Folge. Verstärkt wird der Unmut durch die exorbitante Jugendarbeitslosigkeit. Demokratische Regierungen können dies nur schwer verkraften. Als gewählte Regierungen können sie Opfer dieser Art von ihren Bevölkerungen nur eingeschränkt verlangen. Daher werden technokratische Regierungen eingesetzt, wie in Italien und Griechenland. Der Versuch, Wettbewerbsfähigkeit durch Anpassungsprogramme in Form einer verordneten internen Abwertung herzustellen, gefährdet daher - drittens - demokratische Traditionen. Viertens ist er ökonomisch zum Scheitern verurteilt. Denn der Transfer von Bonität zum Kaufen von Zeit für Reformen führt vor allem dazu, die Zinslasten der Empfänger zu senken. Niedrigere Zinsen beeinträchtigen jedoch den entscheidenden Reform-Anreiz. Denn nichts bewegt Politiker schneller zu Reformen als hohe Zinsen. Reformen dauern deshalb länger als sie ohne Hilfen dauern würden. So geht die durch Überbrückungskredite gekauft Zeit wieder verloren, ohne dass maßgebliche Reformen stattgefunden haben.

Die Ursache des Leids bleibt bestehen. Die Politik operiert ohne Betäubung des Patienten lediglich an seinem Symptom, der auswüchsigen Verschuldung. Die Mitgliedschaft in der Euro-Zone selbst hat diese Verschuldung erst möglich gemacht und ermöglicht sie weiter. Die Europäische Zentralbank verordnet allen Mitgliedsstaaten einen einheitlichen Zins. Mit einem verordneten, einheitlichen Zins ist es unmöglich, den Bedürfnissen der Euro-Südstaaten einerseits und etwa Deutschland oder den Niederlanden andererseits zu genügen. Wenn Deutschland floriert und Griechenlands Wirtschaft schrumpft, dann kann kein Zentralbank-Zins beiden Ländern gerecht werden. Griechenlands Zinsen sind zu hoch, Deutschlands zu niedrig. Anders als in den USA gibt es keinen Ausgleich durch individuelle Anpassungshandlungen der betroffenen Wirtschaftssubjekte. Das bedeutet, es gibt - obwohl rechtlich zulässig, faktisch - zu wenige europäische Bürger, die je nach Konjunkturlage etwa von Saloniki nach Amsterdam umziehen wollen, um einen neuen Arbeitsplatz anzutreten. Diese Situation lässt sich nur schwer zum Besseren wenden, wird im Gegenteil sogar verschärft. Denn die innereuropäischen Transfers sorgen für gegenläufige Anreize. Sie verhindern die Mobilität von Arbeitskräften und Kapital hin zu Regionen, wo sie gebraucht werden.

Ähnlich sieht es beim Außenwert des Euro aus. Griechenlands Exportunternehmen bräuchten gegenüber Nicht-Euro Ländern einen niedrigeren Außenwert des Euro, um wirtschaftliche Angebote machen zu können. Die griechischen Exportgüter sind für Abnehmer außerhalb der Euro-Zone daher zu teuer, die deutschen zu billig. Dabei steht die gesamte Euro-Zone in diesem Konflikt. An ihren äußeren Enden stehen Deutschland und Griechenland.

Im Ergebnis sind die Schuldenschirme daher untauglich, um die Krankheitsursache der Euro-Zone zu kurieren. Die restlichen Verschuldungskapazitäten werden sich nach und nach verbrauchen. Die Anpassungsprogramme können nicht genügend neue Kapazitäten freisetzen. Gleichzeitig bleiben die Ursachen der Verschuldung erhalten. Eher früher als später wird die Euro-Zone vor der gleichen Situation wie vor der Zeit der Schuldenschirme stehen. Die Regierungen werden erneut abwägen zwischen Staatsinsolvenzen, die die Schulden und korrespondierenden Forderungen auslöschen, und den Alternativen. Die einzige Alternative zu umfassenden Schuldenschnitten und Staatsinsolvenzen wird dann sein, dass die Zentralbank Staatsschulden aufkauft und dadurch die Geldmenge ausweitet.

Alle großen Inflationen haben so begonnen und diesmal wird es nicht anders sein. Stefan Zweig

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 160 schrieb: "Nichts hat das deutsche Volk - dies muss immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden - so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation." Die Deutschen tragen eine tiefliegende Aversion gegen Inflation in sich. Diese historisch bedingte Kollektiverfahrung wird von anderen Nationen nicht geteilt. Darin liegt eine große Gefahr. Denn so wie die griechische oder italienische Regierung ihren Bürgern keine drastischen Lohneinbußen verschreiben kann, kann eine deutsche Regierung den Deutschen keine Inflation verordnen, ohne sich selbst zu gefährden. Die öffentliche Meinung könnte ein Inflationsregime gar so stark ablehnen, dass Deutschlands Regierung gezwungen wäre, den Austritt aus dem Euro zu erklären. Das wäre das größtmögliche Desaster für die deutsche Europa-Politik.

Entweder wird jetzt ein Austrittsrecht aus dem Euro für schwache Länder geschaffen. Oder es muss am Ende Deutschland aus der Euro-Zone austreten. Die zweite Alternative ist unbedingt zu vermeiden. Es ist daher völlig klar, dass Europa und der Euro nur gerettet werden, wenn Griechenland oder andere Staaten austreten dürfen. Denn nur das bedeutet die Umkehr vom vorgezeichneten Weg, der nicht gut enden kann.

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Eurobonds - was sie sind und warum sie gut sein könnten Standpunkt Ulrike Guérot

Von Ulrike Guérot 19.12.2011 Dr. Ulrike Guérot ist Politikwissenschaftlerin und leitet seit seiner Gründung im Jahr 2007 das deutsche Büro des European Council on Foreign Relations. Dort arbeitet und forscht sie auf den Gebieten der europäischen Institutionen sowie der deutsch-französischen und der deutsch-amerikanischen Beziehungen.

Vielleicht ist es schon zu spät, gemeinsame Staatsanleihen der EU-Staaten einzuführen, gibt Ulrike Guérot zu bedenken. Mit diesen Eurobonds könnte die Euro-Zone sich jedoch vor der Willkür der Ratingagenturen schützen und die Schuldenspirale der Defizitländer stoppen.

1. Die Debatte

In den letzten Wochen und Monaten ist eine hitzige Diskussion um Eurobonds entbrannt. Vor- und Nachteile wurden umfassend in Zeitungen diskutiert. Das politische Lager ist zum Thema Eurobonds gespalten: die Bundesregierung aus CDU und FDP lehnen Eurobonds kategorisch ab, während die SPD und die Grünen dafür sind und beide Parteien dies auch in ihre Parteitagsbeschlüsse vom November 2011 aufgenommen haben. Allerdings sind neuerdings auch aus dem Regierungslager weniger kritische Stimmen zu hören. Bundeskanzlerin Merkel selbst hat in ihrer Bundestagsrede zu Europa am 2. Dezember 2011 gesagt, dass Eurobonds zurzeit noch keine Lösung seien, damit aber de facto angedeutet, dass sie vielleicht in Zukunft eine Option sein könnten. Auch einige andere Abgeordnete in der Union sagen inzwischen, dass man nie ‚nie' sagen sollte, um sich die politische Option für Eurobonds nicht zu verbauen.

2. Was sind Eurobonds?

Eurobonds sind gemeinsame europäische Staatsanleihen, die nach strengen Kriterien von einer europäischen Agentur oder Institution herausgegeben würden. Zurzeit liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch. Der am meisten diskutierte Vorschlag ist der sogenannte ‚blue bonds/ red bonds' Vorschlag des europäischen Forschungsinstituts BRUEGEL. Demnach würde sich jedes Land bis zu der Maastricht-Schulden-Grenze von 60 % im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP) mit Eurobonds versorgen dürfen. Darüber hinaus müssten nationale Anlagetitel herausgegeben werden, für die dann wahrscheinlich eine höhere Verzinsung notwendig wäre. Unterhalb dieser allgemeinen Idee gibt es inzwischen verschiedene Detailvorschläge mit einer unterschiedlichen Staffelung von gemeinsamen Haftungsgarantien, entweder durch die EU-Staaten oder durch die EU selber; oder aber Vorschläge, die zeitlich begrenzt sind (z. B. der Vorschlag eines Schuldentilgungsfonds vom deutschen Sachverständigenrat) oder Vorschläge, die zwischen dem Anleihebestand und zukünftigen Anleihen unterscheiden.

De facto wären die blue bonds extrem sichere Anleihen, da sie durch die gesamte Eurozone garantiert würden, während die red bonds sehr unsicher wären. Wahrscheinlich würden die Länder dafür auch gar nicht so einfach Käufer finden und allein dies wäre ein Anreiz für sie, einen Schuldenstand von nur 60 % anzustreben.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 162 3. Wofür Eurobonds gut sein könnten

Der entscheidendste Vorteil von Eurobonds wäre, dass damit akut das Problem einer negativen Schuldenspirale für die Defizitländer gelöst wäre. Der Markt könnte die europäischen Staaten nicht mehr mit unterschiedlichen Risikoaufschlägen auseinander dividieren. Momentan ist ja gerade das Problem, dass sich Länder wie Italien (mit einem Defizit von rund 5 % im letzten Jahr) oder Spanien, aber selbst Frankreich (8 % Defizit) am Markt nur noch zu sehr hohen Zinken refinanzieren können, derzeit etwa 8 % Zinsen - während sich z. B. Großbritannien, das auch ein Defizit von 10 % hat, sich derzeit zu rund 2 % am Markt refinanzieren kann. Dies zeigt sehr deutlich, dass viele der Finanzmarkteinschätzungen über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes durchaus erratisch oder zumindest politisch motiviert sind.

Eurobonds würden dazu dienen, sich dieser partiellen Willkür vor allem der Ratingagenturen zu entziehen und die Geldversorgung von Staaten in der Eurozone sicherzustellen. Passiert dies nicht, könnten die derzeitigen Zinsaufschläge tatsächlich dazu beitragen, dass der Euro zerbricht: Italien und Frankreich zum Beispiel müssen Anfang Januar 2012 mehrere hunderte Milliarden Anleihen aufnehmen und noch ist nicht sicher, wer diese Anleihen kaufen wird. Eurobonds könnten den Märkten wieder Vertrauen geben und dazu ein klares politisches Signal senden, dass die Eurozone geschlossen zusammen steht. Das wäre ökonomisch, politisch wie symbolisch ein Quantensprung in der derzeitigen Krisenstrategie. Die Risikoaufschläge der Defizitländer wären weg. Man könne sich auf das Wachstum der Defizitländer konzentrieren. Genau dies ist auch in deutschem Interesse, da Deutschland als Exportland nicht wollen kann, dass um Deutschland herum alle Länder in der Schuldenspirale versinken.

Denn die Zinsaufschläge fressen derzeit alle Erfolge von Sparmaßnahmen auf: Die Erfolge gehen direkt in den Zinsdienst. Alle Austeritätsmaßnahmen laufen damit ins Leere und Wachstum wird so nicht geschaffen, im Gegenteil: die Defizite und damit der Schuldenberg werden vergrößert. Das kann niemand wollen, auch Deutschland nicht.

4. Was dagegen spricht - und Antworten auf die Gegenargumente

Gegen Eurobonds gibt es eine Menge Einwände und die Bonds können natürlich nicht ‚einfach so' kommen. Zum einem gibt es rechtliche Gründe dagegen, wie sie letztens auch noch das Bundesverfassungsgericht geltend gemacht hat: De facto bedeuten Eurobonds nämlich einen intransparenten Fiskaltransfer und damit eine Aushöhlung nationaler Budgetrechte. Darum können Eurobonds auch nur kommen, wenn gleichzeitig die politische Union in der EU gestärkt und die Legitimation in der Eurozone anders verortet wird. In Deutschland müsste dazu wahrscheinlich das Grundgesetz geändert werden. Eine Haftungsgemeinschaft bedeutet letztlich, konsequent zu Ende gedacht, gemeinsame Entscheidungen über budgetrelevante Ausgaben. Dazu müsste das EP neu aufgestellt und wahrscheinlich eine zweite Kammer geschaffen werden, die aus Abgeordneten der nationalen Parlamente besteht.

Ferner wird gesagt, Eurobonds nähmen den Druck auf die Defizitländer weg, Strukturreformen durchzuführen. Dem könnte man aber mit scharfen Auflagen und Regulierungen entgegenwirken, wie diese unter anderem gerade auf dem EU-Gipfel vom Dezember 2011 beschlossen wurden, zum Beispiel durch die Einführung von Schuldenbremsen und strikter fiskalischer Kontrolle durch die EU- Kommission. Schließlich und endlich zwänge der ‚Blue bond/ red bond-Vorschlag' die Länder allein schon durch die Marktlogik dazu, ihren Schuldenstand auf 60 % zu reduzieren und dazu bedarf es eben Strukturreformen.

Auch wird gesagt, Eurobonds machten die Zinsen für Anleihen für Deutschland teurer, da der Zinsaufschlag für Eurobonds wahrscheinlich ein europäischer Mittelwert wäre. Das IFO-Institut rechnet mit Mehraufwendungen von circa 47 Mrd. Euro für Deutschland. Das mag stimmen, obgleich viele Ökonomen diese Berechnung anzweifeln, da gar nicht sicher ist, wo sich der ‚mittlere europäische Zins' genau einpendeln würde. Im Übrigen hatte sogar Deutschland letztens am Markt Schwierigkeiten,

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 163 sich zu refinanzieren, könnte also selbst bald an Eurobonds Interesse haben; und schließlich müsste man die Vorteile durch Eurobonds, zum Beispiel die größere Liquidität im Euroraum, gegenrechnen, und damit die politisch-strategischen Vorteile, die ein solcher Schritt hätte, auch wenn man diese nicht unmittelbar quantifizieren kann.

Bleibt also der politische Widerstand beziehungsweise das Unbehagen in der Bevölkerung, das man erst nehmen muss. Wenn eine politische Lösung von weiten Teilen des deutschen politischen und wirtschaftlichen Establishments abgelehnt wird, muss man sich natürlich fragen, wie tragfähig eine solche Lösung ist, die nicht auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruht.

Genau darum wäre es sehr, sehr wichtig, der deutschen Bevölkerung die Angst davor zu nehmen und konsequent die Vorteile von Eurobonds zu diskutieren: zum Beispiel die größere Liquidität der Eurozone; die Tatsache, dass u. a. die Chinesen signalisieren, sie würden in großem Umfang Geld in Eurobonds anlegen, um damit aus ihrer eigenen Dollar-Abhängigkeit herauszutreten - dies wäre ein großer politisch-strategischer Vorteil für die EU; ferner die Tatsache, dass die Finanzmärkte dann keinen Keil mehr zwischen die einzelnen EU-Staaten treiben könnten, vor allem nicht zwischen Deutschland und Frankreich. Ein Riss zwischen Deutschland und Frankreich würde definitiv ein Auseinanderbrechen des Euro - und damit wohl auch des Binnenmarktes in seiner jetzigen Form bedeuten.

Die EU wäre dann eine gleichsam ‚geschlossene Haftungsgemeinschaft' und der Euro würde seinen Ruf und seine Stellung als internationale Reservewährung sicherlich stärken können, was auch für das außenpolitische Gewicht der EU und ihren internationalen Auftritt sehr positiv wäre. In letzter Konsequenz geht es darum, ob die EU auch fiskalpolitisch einen geschlossenen Auftritt auf der Weltbühne haben will und daher den Schritt in eine richtiggehende Fiskalunion wagt.

Wem das zu weit geht, der möge sich fragen, was die Alternativen sind. Ein Aufbrechen der Eurozone hätte gerade für Deutschland einen sehr hohen wirtschaftlichen wie politischen Preis: eine Rezession, ein starker Rückgang der Exporte im Euroraum, weil die Defizitländer dann wohl stark abwerten würden, geschweige denn ihre Schulden nicht mehr in Euro zurückzahlen würden. Deutsche Banken würden stark leiden - und damit die Spareinlagen vieler Bundesbürger.

Deutschland muss sich von der Idee verabschieden, dass es die Vorteile von Europa für umsonst gibt. Eurobonds gibt es, wie alles im Leben, nicht umsonst: für Deutschland nicht und für die EU- Partnerstaaten auch nicht, denn letztere müssen sich selbstverständlich den strikten fiskalischen Garantien, die Deutschland auf dem EU-Gipfel im Dezember 2011 zu Recht eingefordert hat, beugen.

Die Frage von Eurobonds ist letztlich, ob wir in Europa investieren wollen - oder in die Abwicklung der Eurozone, die Deutschland zudem in die politische Isolation treiben würde. Europa hat seinen Preis. Aber Nicht-Europa hat auch einen!

Nachtrag: das wirkliche Argument gegen Eurobonds ist - leider - bei der derzeitigen Dynamik der Krisenentwicklung, dass es jetzt akut selbst dafür zu spät sein könnte. Sie können (auch rechtlich) nicht schnell genug einführt werden, um die unmittelbare Liquiditätskrise, vor der die EU im Januar 2012 stehen dürfte, zu überwinden; und sie würden aufgrund der politischen Komplexität vielleicht nicht schnell genug von den Marktakteuren akzeptiert; außerdem ist die Eurozone seit jüngstem ja in ihrer Gänze bedroht, so dass die EU auch mit Eurobonds herabgestuft werden könnte. Insofern dürfte man zunächst zu der sogenannten Bankenlösung oder EZB-Lösung greifen. Wenn diese gelingt und die Eurozone über die nächsten kritischen Monate trägt, dann könnten Eurobonds ein vernünftiges, mittelfristiges Fernziel sein, sofern sie politisch eingebettet werden.

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Eurobonds sind keine Lösung Standpunkt Michael Hüther

Von Michael Hüther 6.1.2012

Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln.

Eurobonds könnten nur eine kurzfristige Lösung der Probleme sein, meint Michael Hüther. Ihre Einführung würde aber zu lange dauern und hätte langfristig negative Folgen. Eurobonds zu fordern sei naiv und die Folge einer unzureichenden Problemanalyse.

Auch nach den letzten EU-Krisengipfeln des Jahres 2011 hätten viele Staaten der Eurozone gerne und schnell Eurobonds eingeführt. Das scheinbar endlose Krisenwerkeln hat Unruhe und Ungeduld befördert, und zwar in den Märkten, bei den Medien und schließlich in der Politik. Deshalb wird über Eurobonds geredet als sei ihre Einführung unvermeidlich, als wären sie die schnelle und ultimative Lösung aller Probleme. Zugegeben, wenn man sie kurzfristig umsetzen könnte, würden sie den Markt beruhigen; mittel- und langfristig aber gehen von Eurobonds völlig falsche Signale aus. Denn: Warum sollen hochverschuldete Staaten in Europa ihre Strukturreformen mit gleichem Nachdruck fortsetzen, wenn sie sich plötzlich über Eurobonds wieder günstig verschulden können? Und warum sollen solide Länder für die mangelnde Haushaltsdisziplin anderer Staaten haften? Michael Hüther. Lizenz: cc by-nd/3.0/de (Institut der deutschen Wirtschaft Große Erwartungen auf die Einführung von Eurobonds hatte EU- Köln e.V. ) Kommissions-Präsident Barroso genährt, als er Mitte November 2011 die Beschlüsse, die am 26. Oktober von den europäischen Staats- und Regierungschefs gefällt worden waren, als nicht ausreichend bewertete und stattdessen für Eurobonds plädierte. Damit wurde die Glaubwürdigkeit der Ratsbeschlüsse fundamental geschwächt. Wenn Politik sich selbst den Boden entzieht, reagieren die Finanzmärkte und bestrafen das unglaubwürdige Hin und Her. Die Finanzpolitik sieht das Urteil der Finanzmärkte über die aufgetürmten Staatsschulden natürlich als Zumutung. Die höheren Risikoprämien hält man für eine untragbare Überforderung. Auch wenn man den Finanzmärkten mangelnde zeitnahe Informationseffizienz, eine Neigung zur Panik sowie zur Übertreibung bescheinigen muss: Die in den Bewertungen der Märkte zum Ausdruck kommende Schuldenintoleranz legt endlich den Finger in die seit langem offene Wunde.

Die Märkte fordern eine finanzpolitische Zeitenwende: Eine Abkehr von der laufenden Verschuldung der öffentlichen Haushalte. Das hat unbequeme Folgen, denen die Politik gewiss entgehen will. So erklärt sich der Wunsch durch Eurobonds oder den systematischen Einsatz des Eurosystems am Sekundärmarkt für Regierungsanleihen oder am besten gleich durch beides die große und dauerhafte Entlastung zu organisieren. Doch statt Europa damit zu retten, dürfte das Gegenteil drohen. Eurobonds täuschen einen europäischen Einheitsstaat vor, den es so nicht gibt. Die Mitgliedsländer der Eurozone wollen sich durch die am 9. Dezember beschlossenen Vertragsänderungen zwar finanzpolitisch stärker verzahnen, der Ausbau zu einer umfassenden Haftungsgemeinschaft ist aber damit nicht angelegt.

Die Beschlüsse sind ausreichend, um für mehr Stabilität in der Währungsunion zu sorgen. Die Frage ist, ob die Politik Kurs hält und bei dem bleibt, was sie beschlossen hat. Denn die Entscheidungen über die künftigen Institutionen und Regeln müssen jetzt umgesetzt werden. Zweifeln die

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Verantwortlichen erneut an den Beschlüssen, so untergraben sie ihre eigene Handlungsfähigkeit und begründen neue Zweifel in den Finanzmärkten. Dass sich Beständigkeit der Politik auszahlt und an den Märkten Entlastung verschafft, hat die problemlose Platzierung italienischer und spanischer Regierungsanleihen zu wieder deutlich geringeren Zinssätzen Mitte Dezember 2011 gezeigt. Das Argument, Eurobonds seien für die Rettung dieser beiden Staaten unerlässlich, schwindet. Zwar würde der Rettungsfonds - die EFSF und ab Mitte 2012 der ESM - nicht ausreichen, auch diese Länder zu retten. Doch beide sind zahlungsfähig, ihre Wirtschaftskraft reicht zur Finanzierung der gebotenen Staatsaufgaben aus.

Befürworter von Eurobonds fragen, wie sich Italien und Spanien sanieren können, wenn sie so hohe Risikoaufschläge für ihre Anleihen zahlen müssen. Erstens sind diese Aufschläge nun deutlich zurückgekommen. Zweitens: Was ist so schlimm an den hohen Zinsen? Italien hat vor der Gründung der Währungsunion ähnlich hohe Zinsen bei einer ähnlichen Staatsverschuldung gezahlt. Natürlich müssen die Strukturen in den Defizitländern grundlegend verändert werden. Versäumtes ist jetzt nachzuholen, auch wenn es die Konfliktfähigkeit und Gestaltungskraft des demokratischen Gruppenstaats arg strapaziert. Aber es ist nicht einzusehen, warum andere für die Nachlässigkeit der jüngeren Vergangenheit bezahlen sollen. Verantwortung sollte angemessen zugeordnet werden. Dazu sind Märkte durchaus in der Lage, sie wollen jedoch klare und glaubwürdige Signale, dass an der Sanierung der Staatsfinanzen gearbeitet wird. Ankündigungen reichen nicht mehr.

Griechenland, Irland und Portugal haben zweifelsohne gewaltige Anstrengungen unternommen, um ihre Haushalte zu sanieren, wie die Ergebnisse für 2010 belegen. Weitere deutliche Fortschritte sind nun aber nur durch konsequente Anstrengungen zu erreichen. Da ist das Bild gemischt. Dass die Maßnahmen fruchten, sieht man in Irland, ansatzweise in Portugal. In Spanien ist einiges - wenn auch spät - auf den Weg gebracht worden, die neue Regierung unter Ministerpräsident Rajoy muss nun liefern. In Italien hat Ministerpräsident Monti ein überzeugendes Paket durch das Parlament gebracht. In Griechenland freilich ist die Aufgabe von anderer Qualität, weil es zugleich um die Herstellung effizienter staatlicher Verwaltung geht. Doch nur so erhalten die Finanzmärkte das notwendige Signal, dass die Sanierung den Weg für eine handlungsfähige Finanzpolitik ebnet.

Im Gegensatz dazu senden Eurobonds ein falsches Signal. Gegen Eurobonds spricht vor allem der negative Anreizeffekt. Sie verderben mittel- und langfristig die Haushaltsdisziplin. Außerdem passen sie nicht zur institutionellen Struktur der Europäischen Union. Sie stehen außerhalb des europäischen Regelwerks, wodurch ihre kurzfristige Umsetzung illusorisch ist. Eine gesamtschuldnerische Haftung - und nur die gibt Eurobonds die gewünschte Wirksamkeit - führt dazu, dass Defizitländer ihrer Verantwortung enthoben werden - ohne aber finanzpolitische Autonomie abzugeben. Der Vorteil solider Finanzpolitik wird durch solche Anleihen vergemeinschaftet, der Anreiz zur Disziplin aber ausgehöhlt. Es ist naiv zu glauben, man könne die völlige Aufgabe dieser Autonomie einfordern oder sogar vergleichbar schnell durchsetzen wie man Eurobonds einführen kann. Die Verträge und die politische Realität stehen dagegen. Eurobonds versprechen eine - zudem fatale - Haftungsgemeinschaft der Eurozone, die es so nicht geben kann.

Offensichtlich ist vergessen, wohin es führt, wenn die Zinsen für Anleihen verschiedener Länder zusammenlaufen und dadurch die Signalwirkung unterschiedlicher Finanzmarktpreise ausfällt: zu einer überzogenen Schuldenaufnahme der einzelnen Staaten. Die heutigen Defizitländer konnten angesichts zum Teil negativer Realzinsen von 2000 bis 2009 entweder ihre Verschuldung erhöhen, ohne dafür bestraft zu werden, oder aber sich aus dem laufenden Haushalt besser finanzieren. Das ist ein Einkommenszustrom für den sie nichts geleistet haben. Die Konvergenz der Zinsen hat die Fehlsteuerung in der Währungsunion in Gang gesetzt. Führt man Eurobonds ein, unterdrückt man die Signalfunktion der Kapitalmärkte erneut.

Auch die Einführung sogenannter Blue und Red Bonds hilft hier nicht weiter. Das Argument, die Begrenzung der Blue Bonds (Eurobonds) für Staatsschulden bis 60 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts würde die Solidität der Finanzpolitik erhöhen, überzeugt nicht. Anreize zu

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 167 stabilisieren schwinden, wenn für den größten Teil der Schulden das Zinsniveau abgesenkt wird. Abgesehen davon ist zu bezweifeln, dass sich die verschiedenen Bondarten so aneinander anpassen, dass es insgesamt zu einer Entlastung kommt. Denn die Red Bonds tragen dann ganz die Last unzureichender Bonität. Staaten mit deutlich höherer Verschuldung hätten zudem ständigen Ansporn auf eine höhere Grenze zwischen Eurobonds und nationalen Anleihen (Red Bonds) zu pochen.

Ferner wird argumentiert, dass Eurobonds eine geringere Liquiditätsprämie erzielen, weil der Markt größer und zahlungsfähiger ist. Das ist nicht bewiesen. Im Gegenteil, die Überforderung der wenigen AAA-Staaten infolge der gesamtschuldnerischen Haftung würde in einer höheren Risikoprämie resultieren. Sogar die höchste Bonität der Bundesrepublik wäre damit in Gefahr. Deutschlands Bonität müsste anders beurteilt werden, weil das Land in einem solchen Fall als der letztmögliche Kreditgeber für die Eurozone auftritt. Es kann nur spekuliert werden, wie viel es die verlässlichen Schuldnerländer kostet, wenn deren Bonität auf die hoch verschuldeten Länder übertragen wird.

Letztlich ist die Idee der Einführung von Eurobonds von der Illusion getragen, dass diese eine kurzfristige Lösung in der Eurozone sein können. Tatsächlich würde ihre politische Umsetzung viel zu lange dauern, juristische und nationalstaatliche Blockaden wären vorprogrammiert. Es geht hier nämlich nicht um ein Instrument, das schnell kommt und schnell wieder geht. Einmal eingeführt, kriegt man Eurobonds nicht mehr vom Tisch. Hier geht es vielmehr um eine substanzielle Veränderung nationaler Souveränitätsrechte. Die Anleihen würden die Finanzordnung der Eurozone schlicht auf den Kopf stellen. Das Resultat wäre ein zentralistisches Staatsgebilde in Europa und widerspräche dem Subsidiaritätsprinzip der EU. Damit haben Eurobonds eine völlig andere Qualität als oftmals dargestellt.

Wer Eurobonds will muss die Europäisierung der Finanzpolitik wollen. Um das umzusetzen, ist eine ganz andere demokratische Legitimation in Europa nötig. Denn nur durch die Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte wären Eurobonds überhaupt systematisch denkbar. In Deutschland steht beispielsweise das Verfassungsgericht dagegen. Denn eine Eurobondlösung würde bedeuten, dass Deutschland eine zeitlich unbegrenzte und in der Höhe unbestimmte Verpflichtung eingeht. Das widerspricht der haushaltspolitischen Hoheit des Bundestages. Nicht nur die nationalen Verfassungen, sondern auch die Regeln des europäischen Vertragssystems sehen die finanzpolitische Eigenständigkeit der Nationalstaaten vor.

Die Forderung nach Eurobonds lebt also von unzureichender Problemanalyse und einer naiven Umsetzungserwartung. Zudem verneint sie die bisherigen Beschlüsse der Euro-Zone und missbilligt die Anstrengungen der Schuldenstaaten. Die Bereitschaft in Ländern mit soliden Staatsfinanzen, sich für Europa einzusetzen, dürfte schwinden. Der notwendige europäische Konsens droht dann zu zerbrechen. Das wäre das genaue Gegenteil des Gewünschten. Vertrauen entsteht nur dadurch neu, dass der Vertrauensbruch an der Ursache korrigiert wird. Das fordert zunächst die Defizitländer, die dann aber - wie schon jetzt - auf solidarische Hilfe der anderen Staaten rechnen können. Das erst ist ein fairer Deal.

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Sündenfall der EZB? Eine kritische Betrachtung der Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank Standpunkt Ansgar Belke und Florian Verheyen

Von Ansgar Belke, Florian Verheyen 27.2.2012 Prof. Dr. Ansgar Belke ist Inhaber des Lehrstuhls für Makroökonomie an der Universität Duisburg-Essen, Direktor des Instituts für Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft und Forschungsdirektor für Internationale Makroökonomie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin. Weiterhin ist er Mitglied der „Adjunct Faculty Ruhr Graduate School of Economics“ und Gastprofessor am Europa-Institut der Universität des Saarlandes sowie an der Hertie School of Governance, Berlin.

Florian Verheyen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Makroökonomik der Universität Duisburg-Essen.

Seit 2010 kauft die Europäische Zentralbank verstärkt Staatsanleihen angeschlagender Länder auf. Sie ist damit zu einer "Bad Bank" verkommen, kritisieren Ansgar Belke und Florian Verheyen. Die EZB riskiere so ihre politische Unabhängigkeit und nehme hohe Risiken in Kauf.

Im Zuge der dramatischen Rettungspakete für die Eurozone hat sich die Europäische Zentralbank (EZB) im Mai 2010 unter anderem dazu entschlossen, Staatsanleihen angeschlagener Eurozonenländer aufzukaufen. Dieses Vorgehen, als Securities Markets Programme (SMP) bezeichnet, dient laut EZB der Aufrechterhaltung des geldpolitischen Transmissionsprozesses - der Wirkung von Geldpolitik auf die Wirtschaft - und wäre damit mit dem Mandat der EZB vereinbar, der Gewährleistung von Preisstabilität. Dies zu betonen wird die EZB auch nicht müde. Kritiker sehen in diesem Vorgehen mindestens ein Erreichen einer rechtlichen Grauzone, wenn nicht sogar einen Verstoß gegen geltende Verträge. Nachdem das SMP seit Sommer 2010 nahezu stillgelegt war, kam es im Sommer 2011 zu einer Reaktivierung und hat mittlerweile (23.01.2012) ein Volumen von 219 Mrd. € erreicht.

Grundsätzlich spricht nach Ansicht einiger Kommentatoren der Artikel 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union nicht gegen diese Politik, da dort nur der "unmittelbare", also direkte Erwerb von Staatsanleihen verboten ist. Gleichsam erlaube diese Qualifizierung aber den mittelbaren Erwerb, also aus der Hand von Banken oder anderen Investoren auf dem Wertpapiermarkt, wie es die EZB aktuell tut. Man könnte sogar argumentieren, dass eine solche Politik im Rahmen des Mandates der EZB liegt, "für Preisstabilität" zu sorgen. Die EZB-Käufe würden schließlich dem Risiko eines Auseinanderbrechens der Euro-Zone entgegen wirken, welches massive Wechselkursveränderungen mit Deflation in einigen Euro-Ländern und heftiger Inflation in anderen Euro-Ländern zur Folge hätte. Befürworter der Käufe von Staatsanleihen betonen vor allem, die EZB könnte durch massive Ankäufe von Staatsanleihen die Kurse stabilisieren, möglicherweise kombiniert mit der Zusage, über einen gewissen Zeitraum die Anleihekurse nicht unter ein gewisses Niveau (und damit die Zinsen nicht über ein gewisses Niveau) steigen zu lassen. Damit würden die Refinanzierungskosten der angeschlagenen Eurostaaten verringert.

Da die EZB unbegrenzt Euro schöpfen und gegen Staatsanleihen eintauschen könne, sei sie, anders als die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), nicht dem Verdacht ausgesetzt, dass die zur Verfügung stehenden Mittel nicht reichen könnten. Aus diesem Grund wäre eine Spekulation gegen das Versprechen der EZB sinnlos. Dies alleine könne schon die Märkte beruhigen und die Kurse stabilisieren, sodass die EZB bei einem solchen Versprechen möglicherweise noch nicht einmal große

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Mengen an Anleihen aufkaufen müsste. Insofern, da die Käufe sich auf den Wertpapiermarkt beschränken, verstoßen sie wohl auch nicht gegen die Nichtbeistands-Klausel des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, nach der EU-Mitgliedstaaten nicht für einander haften dürfen. Nichtsdestotrotz haben sie den faden Beigeschmack des Gelddruckens zur Unterstützung verschuldeter Staaten, also einer monetären Staatsfinanzierung, was wohl nicht vertragsgemäß ist.

Ein Hauptproblem der Staatsanleihekäufe ist darin zu sehen, dass die EZB damit ihr wichtigstes Gut, die politische Unabhängigkeit, mit Füßen tritt. Ein stetig steigendes Volumen der Staatsanleihenkäufe könnte dazu führen, dass die EZB zunehmend von der Fiskalpolitik dominiert wird. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass nicht nur durch das SMP Risiken auf die EZB übertragen werden, sondern dass auch über Offenmarktoperationen, also die üblichen Transkationen, um die Wirtschaft mit Geld zu versorgen, Staatsanleihen kriselnder Euroländer in die EZB-Bilanz aufgenommen werden. Dies gilt insbesondere im Rahmen der längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte mit einer Laufzeit von mittlerweile bis zu 36 Monaten. Und was in drei Jahren mit Griechenland oder Portugal sein wird und welchen Wert dann noch vorhandene Anleihen dieser Länder haben, steht in den Sternen.

Zahlen über den Umfang und Bestand der Staatsanleihenkäufe veröffentlicht die EZB jeweils ein Mal wöchentlich. Über die genaue Verteilung auf die (Krisen-)Staaten lassen sich allerdings nur Spekulationen anstellen, da diese nicht von der EZB bekannt gegeben wird. Insofern ist das Vorgehen der EZB intransparent und inkonsequent. Hierdurch wird ein weiteres Pfand, die Glaubwürdigkeit der EZB, verringert. Mögliche Gründe für diese "reservierte" Informationspolitik der EZB könnten darin gesehen werden, dass eine genaue Bekanntgabe der Verteilung auf die einzelnen Staaten möglicherweise Begehrlichkeiten bei Ländern wecken würden, deren Anleihen weniger stark gekauft werden. Auch hierdurch könnte die EZB wieder durch fiskalpolitische Begehrlichkeiten getrieben werden.

Darüber hinaus könnte eine explizite Bekanntgabe der Summen nach Ländern vielleicht auch als "stärkerer" Verstoß gegen die No Bail-Out-Klausel gesehen werden - schließlich ließe sich dann erkennen, welche Staaten explizit über den Sekundärmarkt finanziert würden. Berichte über eine Höchstgrenze für die wöchentlichen Anleihekäufe der EZB stoßen unter Ökonomen auf heftige Kritik. Eine Limitierung könne die Effektivität der Anleihekäufe durch die EZB untergraben. Die theoretische Unbegrenztheit ihrer Mittel ist die stärkste Waffe der EZB. Wenn berechenbar ist, wie viele Anleihen die EZB kaufe, können sich Spekulanten darauf einstellen. Im EZB-Rat wächst inzwischen die Skepsis gegenüber den Anleihekäufen. Diese zunehmenden Zweifel haben wohl dazu geführt, dass die schon seit Beginn des Programms existierende Obergrenze auf 20 Mrd. € herabgesetzt wurde. Über eine weitere Absenkung wird dem Vernehmen nach verhandelt, so zuletzt bei der Tagung des EZB-Rates Anfang Januar 2012. Das Ergebnis sei aber noch nicht bekannt. Schon allein die Existenz dieser Grenze wird in Notenbankkreisen als Geheimnis behandelt.

Für die EZB und die 17 nationalen Notenbanken des Eurosystems ist das Bekanntwerden der wöchentlichen Obergrenze ein Handicap. Denn Interventionen sind aussichtsreicher, wenn die Märkte im Unklaren über das Ausmaß und potentiell unbegrenzte Summen denkbar sind. Deshalb wünschen sich viele Banken und Investoren, dass die EZB sich ohne Limit zu den Anleihekäufen bekennt und sie auch stark ausweitet.

Ökonomisch ist ein unbegrenzter Ankauf von Staatsanleihen wegen des damit verbundenen moralischen Risikos eines stabilitätswidrigen Verhaltens jedoch abzulehnen. Es verändert die Verschuldungsbereitschaft negativ und führt in das Samariter-Dilemma: Die Hilfsbereitschaft der Helfenden wird ausgenutzt.

Doch die finanziellen Risiken der EZB sind noch höher als bisher dargestellt. Über die Finanzierung von Banken hat die EZB den Staaten noch deutlich mehr Geld zukommen lassen, lässt sich nicht nur unter Berufung auf mehrere nicht namentlich genannte Notenbanker aus den Daten schließen. Banken

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 170 in Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und Irland haben nämlich staatsgarantierte Anleihen im Wert von 209 Mrd. Euro aufgelegt. Einen Gutteil davon dürfte die EZB aufgekauft haben.

Die Banken dürften diese Darlehen auch zum Kauf von Staatsanleihen verwendet haben. Damit könnte die EZB noch mehr Staatsanleihen-Risiko tragen als bisher angenommen. Denn sollte eines der Krisenländer pleitegehen, wären die Ausfälle für die Notenbank entsprechend höher. Das Volumen der Bankanleihen, das die EZB kauft, wird nicht veröffentlicht. Dadurch wird die Intransparenz erhöht und die Glaubwürdigkeit leidet weiter.

Ursprünglich waren die staatlichen Garantien dazu gedacht, den Banken zu ermöglichen, sich bei privaten Gläubigern (etwa anderen Banken) zu verschulden. Doch seit der Interbankenmarkt schwächelt, benutzen sie die Garantien als Sicherheit bei der EZB. Vor allem Italiens Banken haben das Mittel der staatlich garantierten Anleihen kürzlich verstärkt angewendet: Seit dem 20. Dezember 2011 haben sie solche Anleihen im Wert von fast 50 Mrd. Euro ausgestellt.

Staatsanleihen sind also nur ein Risiko der EZB. Überraschenderweise wird erst jetzt in der nötigen Intensität über die Frage diskutiert, wer letztendlich für die Risiken haftet, wenn ein angeschlagenes Land seine Schulden nicht zurückzahlen kann. Ebenfalls große Gefahren lauern in den Sicherheiten, die die EZB als Pfand annimmt. Die EZB und damit ihre Eigentümer, letztendlich also zu großen Teilen Deutschland und andere besser bewertete Euroländer, sitzen also so oder so in der Falle. Sie müssen gemäß ihren Kapitalanteilen am Grundkapital der EZB haften und bei Bedarf sogar Kapital in die EZB nachschießen, was deren finanzielle Abhängigkeit von den Regierungen erhöht. Eine häufig im Zusammenhang mit den Anleihekäufen der EZB genannte Befürchtung ist, dass einzelne Länder wie Italien angesichts angekündigter Anleihekäufe der EZB von Konsolidierungsbemühungen absehen und künftig mehr Schulden machen könnten. Weil der Staatsbankrott Italiens für die Partner und das Bankensystem der Euro-Zone dramatische wirtschaftliche Folgen hätte, könne die EZB nicht mehr glaubhaft mit einem Ende der Anleihekäufe drohen. Ein einzelnes Land könne sich dann quasi unbegrenzte Staatsdefizite leisten, weil die EZB eben einfach alle Anleihen aufkaufen müsste, die das Land auflegt. Die Disziplinierungsfunktion der Anleihezinsen würde dadurch ausgeschaltet und die Haushaltsdisziplin nähme ab. Die EZB würde also letztendlich Fiskalpolitik betreiben, was in keinem Fall Aufgabe einer Notenbank sein sollte. Irgendwann dürfte dann auch die EZB nicht mehr in der Lage sein, die expansiven Maßnahmen zu sterilisieren, d.h. die Geldmenge stabil zu halten. Denn sobald die Wirtschaft wieder anzieht, müssten den Geschäftsbanken die unbefristeten Geldanlagen bei der EZB durch immer höhere Zinsen schmackhaft gemacht werden, sodass die Steuerungsfähigkeit der Leitzinsen durch die EZB immer schwerer fällt. Wird das durch Anleihekäufe in Umlauf gebrachte Geld nicht wieder automatisch eingezogen, käme es zu Inflation. Die EZB-Bilanzsumme vom 06.01.2012 beträgt 2.687 Mrd. €. Davon entfallen 619 Mrd. € auf Wertpapiere in Euro von Ansässigen im Euro-Währungsgebiet. Beschränkt man sich wie im Lehrbuch theoretisch auf den Verkauf von Wertpapieren als Mittel zur Sterilisierung, wird hieraus eine Obergrenze für die Sterilisierung deutlich. Sofern die Anleihekäufe erfolgreich sterilisiert werden, ergibt sich ein neutraler Effekt auf die Inflation. Darüber hinaus zeigen sich die Geschäftsbanken aktuell sehr risikoscheu und parken jede Menge Liquidität bei der EZB. Auch von diesem Gesichtspunkt erscheinen die Inflationsgefahren aktuell gering. Sollte es allerdings zu einem Aufschwung mit anziehender Kreditvergabe der Geschäftsbanken kommen, muss die EZB wachsam sein und überschüssige Liquidität einsammeln. Weiterhin haben von der vorübergehenden Stabilisierung der Anleihekurse durch das SMP Investoren profitiert, die die Staatsanleihen der Krisenländer zuvor günstig von jenen Anlegern übernommen haben, die sie beispielsweise aufgrund der Herabstufung ihrer Ratings aus regulatorischen Gründen verkaufen mussten.

Um die Dauer des SMP so kurz wie möglich zu halten, wäre eine institutionelle Einrichtung zur Abwicklung von Staatsinsolvenzen im Euroraum wünschenswert. Dies könnte durch die Errichtung eines Europäischen Währungsfonds geschehen. Ebenso sollte sich die EZB verstärkt auf die unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen zur Liquiditätsversorgung des Bankensystems

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 171 konzentrieren und weniger auf italienische oder griechische Renditen für Staatsanleihen schielen.

All dies zeigt, dass die EZB zunehmend zu einer "Bad Bank" verkommt, bei der alle risikobehafteten Papiere hinterlegt werden können. Aufgrund der wenig transparenten Informationspolitik lassen sich die tatsächlichen Risiken in der EZB-Bilanz nur schätzen. Dass hier bewusst Risiken verschleiert werden, kann wenigstens vermutet werden. Die EZB mausert sich darüber hinaus zu einer quasi- fiskalischen Institution, wodurch ihre Reputation und Glaubwürdigkeit enormen Schaden nehmen kann. Inwieweit dies für die Zukunft negative Konsequenzen in Bezug auf ihr Ziel, die Wahrung von Preisstabilität, hat, kann heute kaum seriös beurteilt werden.

Literatur

• BELKE, ANSGAR (2010): Chronik einer angekündigten Pleite - Die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank gefährden nicht nur ihre politische, sondern auch ihre finanzielle Unabhängigkeit, in: Financial Times Deutschland, 19.05.2010, S. 26.

• BELKE, ANSGAR (2010): Driven by the Markets? ECB Sovereign Bond Purchases and the Securities Markets Programme, in: Intereconomics - Review of International Trade and Development, Vol. 45/6, S. 357-363.

• BELKE, ANSGAR, POLLEIT, THORSTEN (2010): How Much Fiscal Backing Must the ECB Have? The Euro Area Is Not the Philippines, in: Économie Internationale, Vol. 124, S. 5-30.

• BELKE, ANSGAR, SCHNABL, GUNTHER (2010): Europäischer geldpolitischer Exit im Zeichen von QE2 und Staatsanleihekäufen der EZB, in: DIW-Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, Vol. 79/4, S. 147-161.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/)

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Die Werteordnung der EU und ihre Grundlage

20.1.2010

Liegen die Wurzeln Europas in der griechischen Philosophie, dem römischen Recht und dem Christentum? Muss ein neues Werteverständnis her, in dem Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit eine Rolle spielen, genauso wie die soziale Marktwirtschaft? Und wie sinnvoll ist die Debatte über die europäische Werteordnung?

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Die Werteordnung der EU und ihre Grundlage: Eine klare Sache? Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 20.1.2010

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

"Die EU ist eine Wertegemeinschaft." Oft hört man diesen Satz, ohne dass allerdings klar ist, um welche Werte es sich eigentlich handelt. Gibt es einen europäischen Wertekanon?

Einer der ersten Sätze, die man in Vorträgen und Präsentationen über die Europäische Union hört lautet: "Die EU ist eine Wertegemeinschaft." Meist wird dieser Hinweis gegeben, um dem Vorurteil, die Europäische Union sei nur ein kalter Wirtschaftsverbund, entgegenzutreten.

In der Tat ist die EU Anfang der 1950er Jahre (damals als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS) nicht in erster Linie gegründet worden, um den wirtschaftlichen Fortschritt voranzubringen, sondern um den wichtigsten Wert überhaupt zu sichern: den Frieden. Fünf Jahre nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg begannen die Verhandlungen, die 1951 zum Vertrag über diese erste Europäische Gemeinschaft führten. Der Krieg mit weit über 50 Mio. Toten war jedem präsent, alle die am Verhandlungstisch saßen, hatten ihn erlebt und durchlitten.

Für die Gründer der EGKS war dabei immer klar, dass dieser Zusammenschluss auf demokratischer Grundlage erfolgen sollte. Als 1957 durch die Römischen Verträge die monosektorale Integration im Kohle- und Stahlbereich auf die gesamte Wirtschaft ausgedehnt und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde, nahmen die vertragschließenden Parteien die Freiheit ausdrücklich als Ziel des Zusammenschlusses mit auf. Im Vertrag von Maastricht, mit dem 1992 offiziell die Europäische Union gegründet wurde, buchstabierte der EU-Vertrag die Grundsätze der Union dann in Artikel 6 aus: "Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemein."

Der letzte Satz bedeutet in der Umkehrung: ein Staat, der sich diesen Grundsätzen nicht verpflichtet fühlt, hat in der EU nichts zu suchen. Nur ein europäisches Land, das sich zu Werten der EU bekennt, kann seine Mitgliedschaft in ihr beantragen. Artikel 49 des EU-Vertrages bekräftigt dieses ausdrücklich.

Im Jahr 2000 wurde schließlich die Europäische Grundrechtecharta feierlich proklamiert, die mittlerweile durch den Lissabonner Vertrag Teil des sogenannten Primärrechts ist, also unmittelbar geltendes Recht in der Europäischen Union. Zwar bindet die Grundrechtecharta nur die europäischen Institutionen, aber sie macht deutlich, zu welchen Grundwerten sich die Europäische Union bekennt. Sie beginnt mit demselben Satz wie das deutsche Grundgesetz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Viel Streit wird man mit der Feststellung, bei der EU handele es sich um eine Wertegemeinschaft, also nicht auslösen. Kontroverser wird die Debatte allerdings, wenn man versucht festzulegen, um welche

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 174

Werte es sich eigentlich handelt und welche Bedeutung sie für den Zusammenhalt der Europäischen Union haben.

Für den christsozialen Europaabgeordneten Bernd Posselt ist diese Frage klar zu beantworten. Er zitiert den früheren Bundespräsidenten Theodor Heuß mit der Aussage, Europa sei auf der griechischen Philosophie, dem römischen Recht und dem Christentum aufgebaut. Gerade dem Christentum komme eine besondere Bedeutung zu, es sei "die lebensspendendste unter den Wurzeln Europas", wie Posselt schreibt. Daraus leitet der Parlamentarier auch die Forderung ab, Straßburg zur Europahauptstadt zu machen: "Straßburg ist keine nationale Metropole wie Brüssel oder Luxemburg und steht außerdem für Versöhnung, für Menschenrechte und für über ein halbes Jahrhundert europäischer Demokratie, die aus alten Wurzeln gewachsen ist, die das Straßburger Münster symbolisiert."

Da hat die in der Türkei geborene Emine Demirbüken-Wegner einen anderen Ansatz. Für sie sind die Motive der Französischen Revolution, also Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, das System der parlamentarischen Demokratie, die soziale Marktwirtschaft und außerdem die Verantwortung des Menschen für seinen Nächsten und die Umwelt die Grundlagen der europäischen Werteordnung. Die Postulate der Zehn Gebote des Christentums sind ihr aus ihrer türkischen Heimat als "heimisch- traditionelle" Werte bekannt. Die Autorin, die für die CDU Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses ist, macht deutlich, dass sie sich auch von den wirtschaftlichen Werten der EU angezogen fühlt und nennt hier unter anderem die Sicherung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts, die finanzielle Stabilität sowie den freien Personen-, Dienstleistungs-, Kapital- und Warenverkehr. Daher eigne sich die EU auch außerordentlich gut als "Blaupause zum Durchsetzen von demokratischen und sozialen Reformen".

Von diesem Enthusiasmus fühlten sich, auch die Ungarn angezogen, so der Schriftsteller György Dalos, der allerdings mittlerweile in seinem Land eine große Ernüchterung feststellt. Es sei den Ungarn ein wenig gegangen wie Christoph Columbus, "der nach Indien wollte und in Amerika landete". Man sei zwar angekommen, aber nicht dort, wo man es erwartet habe. Dalos beschreibt die Folgen dieses Prozesses für sein Land: Die Enttäuschung darüber führe zu einer Verstärkung des Nationalismus und sogar des Rechtsextremismus und eine "Ära der inneren Provinzialisierung" sei nicht auszuschließen. Während man vor zwanzig Jahren das Wort "Europa" zu viel in den Mund genommen habe, sei es jetzt, so schließt Dalos, angebracht, sich seiner wieder öfter zu erinnern.

Der Wissenschaftler Klaus Buchenau hat große Zweifel, ob die Betonung gemeinsamer Werte für Europa überhaupt zielführend ist. Man spreche zwar gerne von den europäischen Werten, aber: "Welches diese Werte sind, bleibt meist im Dunkeln." Buchenau stellt dann die Entwicklung in Westeuropa der im östlichen Teil des Kontinents gegenüber. Bei genauerem Hinsehen merke man, dass es "keinen allgemein akzeptierten Katalog europäischer Werte" gebe. Man solle, so Klaus Buchenau weiter, sich daher lieber auf Tugenden konzentrieren, die das Zusammenleben angenehmer machen, als sich in theoretischen Diskussionen über Werte zu verzetteln.

Die verschiedenen Diskussionsbeiträge zeigen zweierlei: Erstens: Es ist offensichtlich, dass die EU auf mehr basiert als auf wirtschaftlichen Regeln zum ungehinderten Handel. Und zweitens: Darüber, was eigentlich die Wertebasis der EU - und in gewisser Weise Europas insgesamt - ist, besteht keineswegs Einigkeit.

Zu der Frage, welche Werte denn für die Europäische Union von Bedeutung seien, gesellt sich noch eine zweite: In welcher Hierarchie stehen diese Werte zueinander? Es ist ja keineswegs so, dass die Werte unverbunden und voneinander unberührt nebeneinander existieren. Eine große Rolle spielt in der Diskussion in Deutschland die Frage, wie Freiheit und Gleichheit sich zueinander verhalten sollen. Bezieht Gleichheit sich nur auf die gleichen Chancen, aus denen jeder machen kann, was er will (und was er kann), oder soll der Staat beispielsweise durch höhere Steuern für Menschen mit größerem Einkommen auch zur Gleichheit der Lebensverhältnisse der Bürger beitragen? Die FDP, Regierungspartei unter dem Vorsitz von Außenminister Westerwelle, sagt von sich selbst: "Als einzige

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 175 politische Kraft steht die FDP konsequent für Freiheit vor Gleichheit." Die Oppositionspartei Die Linke sagt hingegen: "Wir streben ... eine soziale Umverteilung von oben nach unten an. Gerechte, ausgeglichene Verteilungsverhältnisse sind auch wichtig zur Stärkung der Demokratie, weil die Verfügung über große finanzielle Mittel auch politische Macht verleiht."

Der Wert der Freiheit ist auch mit einem anderen Wert im Konflikt: mit dem Recht auf körperliche Unversehrheit. Wie viel Kontrolle, durch die Freiheit begrenzt wird, ist nötig, um die Sicherheit der Bürger zu garantieren? Wie viele Einschränkungen im Internet darf es geben, um Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen, indem man Menschen das Handwerk legt, die mit Kinderpornografie handeln.

Viel diskutiert wird auch die Religionsfreiheit, die ein Grundrecht darstellt. Was bedeutet das jedoch in der Praxis, wenn Eltern ihren Kindern aus religiösen Gründen eine Operation oder Bluttransfusion verweigern? Wie geht man damit um, wenn Eltern ihre Kinder aus religiösen Gründen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen lassen wollen oder wenn Menschen darauf bestehen, aus religiösen Gründen nur Fleisch von geschächteten Tieren zu essen?. "Wie viel Qualen dürfen wir in Deutschland einem Tier zumuten, wenn es um die Religionsfreiheit geht?" fragte die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" , die nicht zu reißerischen Titeln neigt, in diesem Zusammenhang. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2002 einem türkischen Metzger eine Ausnahmegenehmigung zum Schächten zugesprochen.

Das sind keine einfachen Fragen und die Themen werden fast täglich neu diskutiert. Die Beispiele zeigen, dass es nicht ausreicht, sich zu den Grundwerten zu bekennen, sondern dass man in der Gesellschaft immer wieder um Auslegungen der Grundfreiheiten ringen muss, um allen Ansprüchen gerecht zu werden bzw. um Kompromisse zu finden, die den verschiedenen Ansprüchen gerecht werden.

Auch hier gibt es - wie so oft in der Politik und im sonstigen Leben - nicht "richtig" oder "falsch", sondern verschiedene Auffassungen, die nebeneinander existieren müssen und das auch gut können. Die Diskussion um die Wertegemeinschaft Europa wird dadurch noch komplizierter, denn es geht nicht nur darum, ob man für oder gegen einen Wert ist, sondern in den meisten Fällen vor allem um die Frage, wie man die Werte interpretiert und in welchen Zusammenhang man sie stellt.

Was bedeutet das für eine durch Werte geschaffene europäische Identität? Der Schriftsteller Peter Prange gibt folgende Antwort: "Europa bedeutet größte Vielfalt auf engstem Raum. Diese Erfahrung bestätigt uns nicht nur jede Urlaubsreise, sondern auch ein Blick in unsere Seelen: Alles, was uns verbindet, sind unsere Gegensätze. Sie machen unsere Einmaligkeit aus, die uns von andern Kulturen unterscheidet."

Er fährt fort mit der Beschreibung der Widersprüchlichkeit der Europäer in Handeln und Denken, um dann zu sagen: "Überall ist der europäische Geist längst in uns am Werke. Seine Werte prägen uns und unser Verhalten wie die Gene unseres biologischen Erbguts." "Europas Seele ist die Toleranz", sagte die Bundeskanzlerin anlässlich der deutschen EU- Präsidentschaft 2007 vor dem Europäischen Parlament. Die Toleranz, ein Wert für sich, macht es möglich, mit der Vielfalt der Meinungen zu leben.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 176 Literatur

Richard COUDENHOVE-KALERGI: Ausgewählte Schriften zu Europa, Wien/Graz 2006

Moritz CSÁKY, Johannes FEICHTINGER (Hrsg.): Europa - geeint durch Werte? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld 2007

Helmut HEIT (Hrsg.): Die Werte Europas. Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU?, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2006

Hans JOAS/Klaus WIEGANDT (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 2005

Peter PRANGE: Werte - Von Plato bis Pop. Alles, was uns verbindet, München 2006

Michael TOSS/Christina WEISS (Hrsg.): Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa, München 2009

Internet

Die CHARTA DER GRUNDRECHTE der Europäischen Union (http://www.europarl.europa.eu/charter/ pdf/text_de.pdf)

Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EUROPÄISCHE MENSCHENRECHTSKONVENTION) des Europarates sowie die dazu gehörenden Protokolle (http:// conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeTraites.asp?MA=3&CM=7&CL=GER)

Angela MERKEL: Die Seele Europas ist die Toleranz, Rede vor dem Europäischen Parlament am 17. Januar 2007 (http://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/01/2007-01-17-bkin- rede-ep.html)

Dossier Europäische Union der bpb (http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/) europa.eu (Server der Europäischen Union mit vielen Informationen in allen Amtssprachen) (http:// europa.eu) europarl.de (Server der Vertretung des Europäischen Parlaments in Deutschland) (http://www.europarl. de)

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 177

Griechische Philosophie, römisches Recht und Christentum Standpunkt Bernd Posselt

Von Bernd Posselt 20.1.2010

MdEP, ist außenpolitischer Sprecher der CSU im Europäischen Parlament und Präsident der Paneuropa-Union Deutschland.

Bernd Posselt sieht wie Theodor Heuss griechische Philosophie, römisches Recht und besonders das Christentum als die tragenden Säulen Europas. Das Christentum sei die lebensspendenste unter den Wurzeln Europas.

Basiert die Europäische Union auf jahrtausendelang gewachsenen Strukturen und Ideen, oder ist sie ein künstliches Gebilde, das man beliebig verändern und ausdehnen kann? Die Gründerväter der europäischen Einigung nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg sprachen stets davon, dass Europa keine Neuerfindung, sondern eine Wiederentdeckung sei. Im Klartext: Nach dem jahrhundertelangen Irrweg der Nationalstaatlichkeit, der in die Katastrophe der beiden Weltkriege, in denen sich Europa selbst zerfleischte, gemündet war, galt es, die viel älteren Gemeinsamkeiten wieder aus dem Schutt des Nationalismus auszugraben.

Auch heute, in einem krisenhaften Moment der europäischen Entwicklung, sind es nicht nur Sonntagsredner, die sich mit der europäischen Identität befassen. Es ist das bleibende Verdienst des früheren österreichischen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel, dass er nach der Ablehnung des Verfassungsvertrages durch Referenden in Frankreich und in den Niederlanden sowie den irreführenden Vorschlägen einer britischen Ratspräsidentschaft, die mit Tony Blair an der Spitze eine Art verschönerte Freihandelszone anstrebte, die EU wieder auf den richtigen Kurs brachte, indem er die Frage nach dem Sinn und den geistigen Grundlagen der Integration aufwarf.

Dabei nahm Schüssel in fast jeder seiner Reden als EU-Ratspräsident Bezug auf den Paneuropa- Gründer Richard Graf Coudenhove-Kalergi. Für diesen - halb Japaner, halb Europäer - war Europa stets eine gewachsene kulturelle und geistige Einheit, die nur noch eines politischen Überbaues bedurfte. Klassisch ist die Formel, die der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss - kein konservativer Katholik, sondern ein liberaler Protestant - wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gern verwendete: Europa sei auf drei Hügeln gebaut, nämlich der Akropolis für die griechische Philosophie, dem Kapitol für das römische Recht und Golgotha für das Christentum.

Dies hat noch heute seine Richtigkeit, und umso desintegrierender wirkt auf Europa die nahezu hysterische Furcht, mit der die meisten Staats- und Regierungschefs der EU oder auch die bisherige Identitätsbeauftragte der EU-Kommission, Margot Wallström mit ihrem reichhaltigen Werbeetat, sich weigern, diese Tatsachen auch nur zu erwähnen. Stattdessen flüchten sich viele Machthaber in Formeln wie "Europa ist Vielfalt" oder "Europa ist Toleranz". Doch Asien und Afrika sind wesentlich vielfältiger, will sagen kulturell zerrissener, während Europa als Halbinsel Eurasiens nur dadurch zum Kontinent wurde, dass es gemeinsame geistige Grundlagen entwickelte. Europa besteht anders als seine Nachbarkontinente nicht aus mehreren Kulturen, sondern aus den bunten nationalen und regionalen Facetten der europäischen Kultur. Und was soll Toleranz sein, wenn man keinen eigenen Standpunkt kennt? Wirklich tolerant kann nur sein, wer auf dem Boden der eigenen Vorstellungen den anderen

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 178 akzeptiert.

Der Toleranzgedanke ist daher wichtig, ja eine Überlebensfrage, kann aber die eigene Substanz keinesfalls ersetzen. Im schwedischen Stockholm wie im mazedonischen Ohrid, im portugiesischen Coimbra wie im ukrainischen Kiew ist mit Händen zu greifen, dass die lebensspendendste unter den Wurzeln Europas stets das Christentum war, auch wenn es keine exklusiv europäische Religion ist und man Europäer sein kann, ohne Christ zu sein. Ohne Christentum gäbe es auch keinen Liberalismus, Sozialismus oder Laizismus, die Europa ebenfalls geprägt haben. Europas Kultur wurde jahrhundertelang über die Grenzen unseres Erdteiles hinweg exportiert - etwa in die beiden Amerikas, nach Australien und Neuseeland oder in den asiatischen Teil Russlands. Dennoch gibt es nach wie vor spezifisch Europäisches. Dazu zählt die seit der Völkerwanderung entwickelte politische und kulturelle Balance zwischen Germanen, Romanen und Slawen, die gemeinsam mit kleineren Völkerschaften wie Ungarn, Finnen, Albanern oder Basken die europäische "Nation der Nationen" bilden. Ihre Identität wurde geformt wie die Identitäten fast aller Gemeinschaften: Durch gemeinsame Wurzeln, Erfahrungen und Erlebnisse, durch gemeinsame Aufgaben in der Gegenwart, aber auch durch gemeinsame Überzeugungen und Zukunftsvisionen.

Zum gemeinsamen Gedächtnis tragen vor allem Kultur und Geschichtsschreibung bei. Seit die Spätantike griechisch-römisches Erbe und Christentum verschmolz und seit Merowinger, Karolinger, benediktinisches Mönchtum und Kirche diese Traditionen auf den ganzen Kontinent übertrugen, haben die meisten Europäer, wenn auch in unterschiedlicher Dichte und unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, dieselben geistesgeschichtlichen Strömungen durchlaufen. Dasselbe gilt für Musik- und Architekturepochen. Freilich gibt es Ausnahmen, etwa auf dem Balkan, den die Türkenherrschaft jahrhundertelang zumindest teilweise vom restlichen Europa isolierte, oder Ausdünnungen an den Peripherien.

Zum kollektiven Gedächtnis der Europäer gehören auch die Katastrophen und Kriege: Der Vorstoß der Araber bis Tours und Poitiers, den erst Karl Martell, der Großvater Karls des Großen, zurückschlug, was die Europäer sich erstmals als Gemeinschaft empfinden ließ; der selbstmörderische Dreißigjährige Krieg und der Spanische Erbfolgekrieg, in die fast alle Europäer verwickelt waren; die Bedrohung durch die Türkenkriege, die europaweite Auseinandersetzung mit den bonapartistischen Truppen oder der Erste und der Zweite Weltkrieg. Am Beispiel der angeblichen deutsch-französischen Erbfeindschaft und ihrer Überwindung durch Versöhnung wird deutlich, dass gerade auch Kriege, die Europäer gegeneinander geführt haben, in der Erinnerung der Heutigen zusammenführen, weil die Beseitigung der Konflikte von gestern zum entscheidenden Kitt für heute und morgen geworden ist.

Deshalb sind Versöhnung und Völkerverständigung, die manche, zumindest was die europäische Einigung betrifft, vorschnell als Begriffe von gestern abstempeln wollen, in Wirklichkeit der unverzichtbare Gründungsmythos des heutigen und auch des zukünftigen Europa. Was zwischen Deutschland und Frankreich gelungen ist, muss zum Beispiel zwischen Deutschen und Tschechen, Deutschen und Polen, Ungarn und Slowaken, Serben und Albanern, Griechen und Mazedoniern, um nur diese Beispiele herauszugreifen, noch verwirklicht werden. Doch auch der Zusammenhalt zwischen West- und Ostfranken, wie Charles de Gaulle in Anlehnung an den gemeinsamen Herrscher Karl den Großen Franzosen und Deutsche nannte, bedarf ständig der Pflege und Erneuerung.

Die ehemalige österreichische Außenministerin Ursula Plassnik hat mit Recht darauf verwiesen, dass für unsere Zeit die Integration Südosteuropas genauso eine gewaltige Herausforderung bilde wie seinerzeit die deutsch-französische Versöhnung für Konrad Adenauer und Robert Schuman, an denen wir uns heute orientieren könnten. Papst Johannes Paul II. hat darüber hinaus durch sein Lebenswerk deutlich gemacht, dass das, was im Inneren Europas mit der Versöhnung seiner Völker geschieht, im Weltmaßstab als Verständigung zwischen den Kulturen und Religionen betrieben werden muss um den sogenannten Clash of Civilizations zu vermeiden.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 179

Doch gerade diese Aufgabenstellung ist nicht zu meistern, wenn Europa nur Träger gemeinsamer Traditionen ist, die langsam verblassen, und nicht immer wieder erneuert wird von einer lebendigen Kultur und einem lebendigen Glauben. Die Frage nach den geistigen Grundlagen europäischer Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung wird in den europäischen Institutionen vielfach mit der Floskel von der "Wertegemeinschaft" beantwortet. Je öfter man sie wiederholt, desto mehr droht sie zur Mogelpackung zu verkommen, denn so gut wie niemals wird geklärt, um welche Werte es sich eigentlich handelt. Genügen hier ein libertärer Freiheitsbegriff oder die ideologisch vor allem von Sozialisten aller Schattierungen instrumentalisierten Worte "Nichtdiskriminierung" und "Antifaschismus"?

Europa muss sich positiv definieren, wenn es Zukunft haben will. Sein entscheidender Wert ist der Personalismus, d.h. die unantastbare Würde des Menschen, wie sie an der Spitze sowohl des deutschen Grundgesetzes als auch der EU-Grundrechtecharta steht. Personalismus unterscheidet sich vom Individualismus, weil er nicht nur den Einzelnen sieht, sondern auch den Menschen als Gemeinschaftswesen. Als Geschöpf Gottes ist er nicht nur mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet, sondern besitzt auch Pflichten - gegenüber Gott, gegenüber dem Nächsten und gegenüber den natürlichen Gemeinschaften wie Familie etc.. Sowohl schrankenloser Individualismus als auch freiheitsfeindlicher Kollektivismus drohen heute, wie schon im 20. Jahrhundert, den personalistischen Kern des Europäertums, der allein auf Dauer Freiheit garantieren kann, zu zerstören.

Der Gedanke eines übernationalen Rechts, das für alle Bürger und Völker gleichermaßen gilt, hält Europa in besonderer Weise zusammen. Deshalb war es ein entscheidender Schritt vom Staatenbund zu einer echten supranationalen Gemeinschaft, dass die EU unmittelbar Recht setzt, das doppelt legitimiert wird: durch eine Staatenkammer namens Rat, in der die Regierungen der Mitgliedstaaten sitzen, und durch das direkt gewählte Europäische Parlament. Letzteres ist beim Mitentscheidungsverfahren mit dem Rat gleichberechtigt und hat sogar das letzte Wort, weshalb zu den wichtigsten Punkten des ursprünglichen Verfassungs- und jetzigen Lissabonner Vertrages gehört, dass künftig nicht nur wie bisher 60 Prozent der EU-Gesetzgebung diesem Verfahren unterliegen sollen, sondern 90 Prozent.

Zu den Fehlern des jetzigen EU-Reformvertrages - der ansonsten für die EU nicht nur gut, sondern überlebensnotwendig ist - gehört die Tatsache, dass darin, anders als zuvor im Verfassungsvertrag, die europäischen Symbole nicht mehr verankert sind. Sie existieren zwar weiter, doch es wurde durch diesen Streichungsvorgang der Staats- und Regierungschefs deutlich, dass sie die emotionale Seite der europäischen Einigung sträflich unterschätzen. Dabei kann Europa stolz sein auf seine Fahne, seine Hymne, seinen Feiertag, aber auch auf seine potentielle Hauptstadt. Die Fahne mit den zwölf Sternen auf blauem Grund ist nicht nur schön, sondern in der Sprache der Antike und auch der Bibel Sinnbild der Vollkommenheit. Das Jahr hat zwölf Monate, der Tag zweimal zwölf Stunden, das Volk Israel bestand dem Alten Testament zufolge aus zwölf Stämmen, das himmlische Jerusalem hatte zwölf Tore und die Muttergottes zwölf Sterne um ihr Haupt.

Die Hymne, Beethovens Vertonung der "Ode an die Freude", hatte nie eine blutrünstige Bedeutung wie die meisten Nationalhymnen. Coudenhove-Kalergi, der sie schon beim ersten Paneuropa- Kongress 1926 vorschlug, begründete dies damit, dass die Musik dieses großen Komponisten Sprachgrenzen überwinde und Völker verbinde. Hinzu kommt der noch nicht zur offiziellen Hymne gehörende, aber menschen- und völkerversöhnende Text Schillers. Der neunte Mai als Europa- Feiertag erinnert wiederum an die berühmte Erklärung Robert Schumans, der die Kohle- und Stahlgemeinschaft schuf, mit der Rohstoffkriege in Europa endlich unmöglich gemacht werden sollten. Sollte es außerdem noch gelingen, den Sitz und wichtigsten Arbeitsort des Europäischen Parlamentes, Straßburg, eines Tages zur Europahauptstadt zu machen, könnte auch dies wesentlich zum Zusammenhalt der EU beitragen. Straßburg ist keine nationale Metropole wie Brüssel oder Luxemburg und steht außerdem für Versöhnung, für Menschenrechte und für über ein halbes Jahrhundert europäischer Demokratie, die aus alten Wurzeln gewachsen ist, die das Straßburger Münster symbolisiert.

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Das heutige Europa gründet auf vielem Standpunkt Emine Demirbüken-Wegner

Von Emine Demirbüken-Wegner 20.1.2010 Die in der Türkei geborene Emine Demirbüken-Wegner ist Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und gehört dort der CDU- Fraktion an.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, eine parlamentarische Demokratie, die soziale Marktwirtschaft und außerdem die Verantwortung des Menschen für seinen Nächsten und die Umwelt: Für die in der Türkei geborene Emine Demirbüken-Wegner sind sie die Grundlagen der europäischen Werteordnung.

Meine erste Begegnung mit Europa fand mit meinem ersten Atemzug statt. Ich bin in Europa geboren. Diesen Umstand verdanke ich dem Zufall. Meine Eltern stammen aus dem Teil der Türkei, der an Syrien grenzt. In diesem Sinne entspricht meine Herkunft dem allgemeinen (Vor)Urteil über das Gastarbeiterkind aus der tiefsten anatolischen "Ecke" der Türkei. Meine Eltern waren Teil der modernen europäischen Völkerwanderung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Mensch folgt dem Angebot an Arbeit. Das hieß für meinen Papa: Auf nach Istanbul! Er nahm später eine Wohnung im westlichen, europäischen Teil. Meine Mutter zog nach. Meine Geburt fand in einem in der Nähe befindlichen Krankenhaus statt. Also: Ich bin geborene Europäerin!

Meine zweite Begegnung mit Europa folgte knappe sieben Jahre später. Mein Vater beschloss, dem Arbeitsangebot in Deutschland zu folgen. Zunächst Stuttgart, dann Berlin. Dort etabliert holte er die Familie nach. Wir waren damals zu viert: mein Vater, meine Mutter, mein fünf Jahre jüngerer Bruder und ich. Wir zogen in ein schon damals vorhandenes "Ghetto". Zwar gab es noch nicht den tollen Begriff der "Parallelgesellschaft". Aber der Aufgang unseres Miethauses war bereits rein türkisch, die sonstige Nachbarschaft auch. Europa, oder soll ich besser sagen: Deutschland präsentierte sich mir als Schocksituation. Der Schulpflicht folgend landete ich in einer Grundschulklasse, in der ich das einzige Gastarbeiterkind war. Ein Segen für meine Sprachstandsentwicklung. Ein Schock für eine 7- Jährige. Ich verstand nichts, lernte dann aber doch schnell.

Die dritte Begegnung mit Europa folgte ziemlich schnell, und sie wiederholte sich etliche Mal. Es war die Begegnung mit der allseits vorhandenen, vielfach verfluchten und doch wohl unumgänglichen Bürokratie. Behördengänge meiner Eltern und der Bekannten hatte ich zu begleiten. Schließlich brauchten sie einen Dolmetscher. So lernte ich schon im einstelligen Lebensalter solch kindgerechte Vokabeln wie Wartenummer, Formular, Antrag, Vorgang, Bescheid, Widerspruch und, und, und. Das war nun wirklich Europa, wie ich rückblickend aus fast 20 Jahren Verwendung im öffentlichen Dienst des Landes Berlin zu bestätigen weiß. Warum ich das erzähle? Meine sicherlich nicht einzigartige Einwanderungsgeschichte zeigt, dass das heutige Europa bzw. die heutige EU in den Köpfen vieler ihrer Bewohner auf vielem gründet. Allerdings nicht auf einem Motiv, das allein "Werteordnung" nach traditionellen Verständnis heißt. Deshalb will ich im Folgenden - mich betreffend - das oben genannte Thema auf drei Aspekte konzentrieren

• Ethische Werte

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• Wirtschaftsraum

• Grenzen einer EU

Ethische Werte

Der Wanderungsgeschichte meiner Familie zum Trotz wurden doch viele heimisch-traditionelle, ethische Werte uns Kindern durch die Eltern und andere Anverwandte mitgegeben: Die Familie ist uns heilig. Du sollst Vater und Mutter ehren. Du sollst nicht lügen. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht reden wider Deinen Nächsten... . Das finde ich auch in Europa vor. Es ist die Entstehungsgeschichte, es sind die Hintergründe und die Motive der Römischen Verträge von 1957. Dazu gehören der Kalte Krieg, die Ost-West-Konfrontation in Europa, die ersten Versuche zur Liberalisierung des Waren-, Wirtschafts- und Zahlungsverkehrs in Westeuropa. All dies geschah vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Die damals politisch Verantwortlichen waren darin motiviert, dass es kein zweites Mal die Möglichkeit geben sollte, dass gemeinhin als zivilisiert eingestufte, zudem mit überwiegend der gleichen ethischen Grundüberzeugung ausgestattete Völker sich in eine Konfrontation der damals jüngst erlebten Art begeben dürften. Und so verwundert es nicht, wenn bis in die jüngste Vertragsvergangenheit hinein sich in den jeweiligen Präambeln der Bezug auf diese Werte wieder findet, nach denen auch ich erzogen worden bin.

Neben diesen Werterahmen verbindet sich Europa für mich mit einigen politisch-ethischen Werten, deren Erreichen und Erhalten das Leben vieler Menschen gekostet hat. Zu den Grundlagen der europäischen Werteordnung zählen für mich heute

• die Motive der Französischen Revolution: Freiheit – Gleichheit - Brüderlichkeit

• das System einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie: die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative

• die Wirtschaftsordnung einer sozialen Marktwirtschaft

• die Verantwortung des Menschen für seinen Nächsten und seine Umwelt.

Wirtschaftsraum

Mit dem Inkrafttreten des "Gemeinsamen Marktes" 1958 war auch das unmittelbare Ende der Verhandlungen über eine große Freihandelszone in Europa verbunden. Die Außen-Gebliebenen gründeten ihre eigenen "Klubs". Im Westen die europäische Freihandelszone EFTA, im Osten den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe RGW. Die Betrachtung des RGW kann man aus Gründen des Ost- West-Konfliktes und der daraus resultierenden Blockstaaterei vernachlässigen.Das Schicksal der EFTA zeigt aber, dass selbst die mit "nur" sechs Mitgliedern betriebene Europäische Wirtschaftsunion EWG das wirtschaftliche Machtzentrum in Europa bildete. Und dies spiegelt sich beispielsweise auch in der Zuwanderungsgeschichte aus meiner türkischen Heimat wider. Neben Deutschland wanderten die Gastarbeiter nach Frankreich und in die Benelux-Staaten aus. Der Wirtschaftsraum der EWG, später der EG, galt den Gastarbeitern als Wohlstandsbringer in Frieden und Freiheit. Mit zunehmender Wohlstandsmehrung setzte allerdings auch die gesellschaftliche Individualisierung ein.

Eine Deformierung traditioneller Werterahmen und mitunter auch die Entwurzelung Einzelner von diesen Werten waren und sind die Folge. Teilweise erfolgt dies in einer unterschwelligen, schleichenden Form, ohne dass die Menschen dies bemerken. Man vergleiche hier nur die sehr unterschiedlichen

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Umgangsformen mit älteren Menschen von Jugendlichen, die in Europa sozialisiert worden sind mit denen, die weiterhin in der Türkei leben und lernen.Die EWG formulierte einige Grundsätze, die ich mit nur wenigen Einschränkungen als "Wertebegriffe" für Menschen, die in Europa wirtschaftlich tätig sind, zulassen würde. Dazu zählen Begriffe wie

• Sicherung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts,

• Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen,

• Wahrung von Frieden und Freiheit

• Innere und äußere finanzielle Stabilität

• Freier Personen-, Dienstleistungs-, Kapital- und Warenverkehr.

Grenzen einer EU

Seit 1963 will die Türkei Mitglied in der Europäischen Union werden. Es vergeht kein Wahlkampf in Europa, in dem dieser Wunsch und seine bisherige Entwicklung nicht thematisiert werden. Neben einer reinen Sachdiskussion wird dabei - der Einwanderung der letzten 50 Jahre sei Dank - das Thema auch gerne benutzt! Diese Benutzung dient der Mobilisierung von Wählerschichten. Gespickt mit großen Verheißungen werden die heimischen Wähler mit Einwanderungsgeschichte geködert. Verbunden mit dem Bedienen klassisch fremdenfeindlicher Klischees werden andere Wähler in Angst und Schrecken versetzt. Daran will ich mich hier nicht beteiligen. Vielmehr möchte ich dem Thema "Werteordnung" folgend nur einige wenige Schlaglichter auf den Beispielscharakter werfen, den die EU auf Beitrittswillige haben kann.

Die EU ist aller teils berechtigten Kritik zum Trotz eine außerordentlich gut zu gebrauchende Blaupause zum Durchsetzen von demokratischen und sozialen Reformen. In vielen Ländern der EU ist der allgemeine soziale Standard, das Gesundheitswesen, die Altenversorgung, das Bildungswesen und vieles mehr auf einem hohen Niveau. Dies ist das Produkt der politisch-gesellschaftlichen Ordnung der Mitgliedsländer. Will man also in anderen, nicht derartig entwickelten Staaten solche Reformen, kann die Perspektive eines EU-Beitritts ein erfolgreiches Mittel sein.

In den Staaten der EU stellt wie in keiner anderen Region der Welt die Wahrung der Menschenrechte ein hohes Gut dar. Mit der Aussicht auf einen EU-Beitritt wird ein Staat auf seinem Weg zu einem demokratischen, die Menschenrechte achtenden Staat bestärkt. Beispiele wie Irland oder Portugal zeigen, dass in Verbindung mit einem EU-Beitritt Handel und Wandel schnell zu Prosperität und einem Abbau von Transferleistungen führen. Diese Entwicklungen sind nachhaltig und sie sind zudem für die Exportwirtschaft der EU-Mitgliedsstaaten von belebender Wirkung. Die Staaten der EU sind streng laizistisch konstituiert. Eine Perspektive auf einen EU-Beitritt hätte zwangsläufig zur Folge, dass Staat und Religion dauerhaft getrennt werden müssen.

Zurück zu "meinem" Europa: Mein Mann ist Deutscher, auch in seinen Wurzeln. Meine beste Freundin in Deutschland exportiert für ihren Arbeitgeber verarbeitete Fleischwaren nach Frankreich, Belgien, die Niederlande und Polen. Meine beste Freundin in der Türkei ist mit einem Schweizer verheiratet. Und meine Töchter? Die sind gute blonde Europäerinnen...!

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Europäische Vision und ungarische Wirklichkeit Standpunkt György Dalos

Von György Dalos 20.1.2010

Der Ungar György Dalos lebt als freier Schriftsteller in Berlin.

2004 wurde Ungarn Mitglied der EU. Mittlerweile herrsche Ernüchterung, meint György Dalos, weil sich viele Erwartungen nicht erfüllt hätten. Die Folge: Nationalismus und Rechtsextrememismus, eine "Ära der inneren Provinzialisierung". Dalos fordert dazu auf, sich wieder an die Vision Europa zu erinnern.

In den Flitterwochen Ungarns mit der jungen Demokratie war Europa ein Schlüsselbegriff. Die Erwähnung des Kontinents in den Medien erreichte einen Ausmaß, das den Autor Peter Esterházy auf die Idee brachte: Jeder, der das Wort "Europa" in den Mund nimmt, sollte automatisch einen Forint in die Staatskasse einzahlen (was angesichts des Schuldenberges und der beginnenden Rezession keine wirkliche Sanierung ergeben hätte). Die Erwartungen an Europa waren wohlgemeint, doch naiv. Von der Übernahme der europäischen Normen von Politik und Moral erwartete man einen durchschlagenden ökonomischen und sozialen Aufstieg - eine Demokratie mit allen Vorteilen, aber ohne Nachteile der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Selbstverständlich verlief die Entwicklung viel schwieriger. Allein das Klopfen am Tor der EU dauerte fünfzehn Jahre lang an.

Dabei waren die Träume der Andersdenkenden recht ehrgeizig. György Konrád wagte sich in seiner "Antipolitik" bereits1983 mit der Vision weit voran: "Ich halte nicht nur Budapest, Pressburg, Prag, Krakau, Warschau und Berlin für Europa. Doch wenn ich schon Leningrad und sogar Moskau zu Europa rechne, warum eigentlich sollte ich dann bei Wladiwostok stehen bleiben? Es handelt sich um Eurasien. Dazwischen gibt es keine Staatsgrenze. Man kann auch im Maßstab Eurasiens denken. Das ist eine Perspektive, die besser passt zur zweiten Jahrtausendwende als die Perspektive des kleinen Westeuropa. Ich möchte mich für den Sohn eines utopischen Europa halten, der mit seinen Armen den Stillen Ozean sowohl bei San Francisco als auch bei Wladiwostok erreicht und das Umarmte in Frieden hält."

Es soll keineswegs als Festverderben missverstanden werden, wenn wir in den Jubiläumstagen des Mauerfalls und des dominoartigen Zusammenbruchs der sowjetisch dominierten Diktaturen auf die Kluft hinweisen, die sich zwischen den frohen Utopien der achtziger Jahre und der jetzigen Wirklichkeit auftut. Selbst die Ost- und Süderweiterung der EU vermochte den betreffenden Völkern nicht das Gefühl vermitteln, dass sie nun ihren Weg nach Europa restlos hinter sich gebracht haben. Vielmehr entstand angesichts der Schwierigkeiten ein gewisser Zweifel darüber, ob wir auf dem Kontinent tatsächlich angekommen sind. Dabei handelt es sich keineswegs um die ausgehandelten Kriterien der Zugehörigkeit, sondern ausschließlich um die Aura in unseren Gesellschaften.

Menschenrechtlern der Vorwendezeit erging es ähnlich wie den Normalbürgern, ungefähr so wie dem Christoph Columbus, der nach Indien wollte und in Amerika landete. Vor allem mit drei Sachen konnte am Anfang nicht gerechnet werden: Mit den enormen sozialen Kosten des Übergangs zu Marktverhältnissen, mit der bereits erwähnten langen Inkubationszeit der Integration und dem aufkeimenden neuen Nationalismus. Während auf ökonomischem Gebiet ein wahrer Durchbruch gelang, schuf dieses kleine Wirtschaftswunder, anders als sein deutsches oder skandinavisches Vorbild

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 185 keine innere Stabilität, geschweige denn ein soziales System, welches imstande wäre, Konflikte zwischen Reichtum und Armut mit ausgleichender Kraft zu mildern. Hinzu kam noch die Gebrechlichkeit der neu entstandenen Strukturen, welche besonders durch die Finanzkrise der letzten zwei Jahren sichtbar wurde. Diese Situation stellte vor allem jene europäischen Werte in Frage, welche als eigentliche Werte des Systemwechsels galten: Den friedlichen Verhandlungscharakter des Reformprozesses, die Toleranz im öffentlichen Leben und die Einschränkung des Spielraums für extreme politische Kräfte. Stattdessen wütet in Ungarn seit Jahren etwas, was ein maßgebender Politiker als "kalter Bürgerkrieg" bezeichnete und womit die demokratischen Institutionen zunächst nicht fertig werden können.

Als der Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány kurz nach dem Urnengang von 2006 vor einem vertrauten Kreis zugab, den knappen Sieg über seinen Erzrivalen Viktor Orbán nicht zuletzt dank ungedeckter Wahlversprechungen errungen zu haben, und die Tätigkeit der eigenen Partei mit drastischen Worten als "verschissen" charakterisierte, war durch das Öffentlichwerden dieser Geheimrede die Hölle los. Es brachen Straßenkrawallen aus, welche die Polizei mal völlig unprofessionell behandelte, mal nur mit unangemessener Gewalt unter Kontrolle bringen konnte. Sicher verdiente die sozialliberale Koalition jede Kritik wegen ihres Verhaltens inklusive einer korrekten Aufforderung, aus der Affäre personelle Konsequenzen zu ziehen. Was aber geschah, war völlig anders: Die Opposition stellte erpresserische Ultimaten zum Rücktritt der Regierung innerhalb 72 Stunden, sie inszenierte eine "revolutionäre Situation" und startete eine Rufmordkampagne gegen den von Orbán als "pathologischen Lügner" bezeichneten Sozialistenführer Gyurcsány. Der junge, dynamische aber eigensinnige und zur Improvisation neigende Regierungschef, in dem seine Anhänger ursprünglich einen politischen Wundertäter, eine Art linken Orbán sahen, verwandelte sich allmählich zur Belastung für die eigene Partei und dankte im Frühjahr 2009 von seinen beiden Posten ab. Der geballte Hass jedoch, den er mehr als zwei Jahre lang auf sich fokussieren ließ, überlebte ihn und erwies sich als selbständiger atmosphärischer Faktor des ungarischen Lebens.

Eigentlich als Nebenprodukt des heißen Herbstes 2006 sind die Verstärkung des Rechtsradikalismus sowie dessen erhöhte Medienpräsenz in Ungarn anzusehen. Diese teilweise vernetzten, teilweise auch untereinander zerstrittenen Strömungen richten die Schärfe ihrer Angriffe vor allem gegen Minderheiten und Randgruppen wie die Roma, Juden, Homosexuellen, aber auch gegen die EU, die USA, das Weltkapital - gewissermaßen gegen den Rest der Welt. Sie huldigen einem "postumen Antikommunismus", indem sie in Ermangelung von real existierenden kommunistischen Kräften die jeweiligen Gegner zu Bolschewisten abstempeln. Sie sind auch spontan antiintellektuell, wie dies ihre brutale Kampagne gegen im Lande und in Europa bekannten Autoren wie György Spíró, Péter Nádas, Péter Esterházy und - fast selbstverständlich - gegen den Nobelpreisträger Imre Kertész bewies.

All diese herausragenden Repräsentanten der Kultur ihrer Heimat werden von den rechtsradikalen Medien als "unungarisch" verdammt - insbesondere, wenn sie ihre Besorgnisse aufgrund negativer Entwicklungstendenzen bei sich zu Hause an ausländischen Zeitungen "verraten". Sie gelten allesamt als Nestbeschmutzer - keine Neuerfindung: Autoritäre Kräfte von links und rechts spielten schon lange mit dem historisch begründeten ungarischen Nationalkomplex, um jede Kritik an ihrer Praxis außerhalb der Grenzen im Keim zu ersticken. Neu ist lediglich die Tatsache, dass sie diesen Standpunkt in einem Land vertreten, welches seit fünf Jahren außer seiner 93 Tausend Quadratkilometer auch einem größeren "Nest" angehört.

Diese Rhetorik ist zweifelsohne laut und furchterregend, allerdings lässt sich die zahlenmäßige Größe ihrer Anhänger daraus schwer ableiten. Als am meisten ernstzunehmende Kraft unter ihnen erscheint die Partei "Jobbik" (Bewegung für ein besseres Ungarn) unter der Führung des 1978 geborenen Historikers Gábor Vona. "Jobbik" versteht sich als eine "christliche und nationale Ordnungspartei", mit Forderungen wir Wiederherstellung der berüchtigten Gendarmerie der Vorkriegszeit, und zwar zum Kampf gegen die so genannte "Zigeunerkriminalität". Trotz ihrer strikter Ablehnung "einer EU- Mitgliedschaft, welche die ungarische Unabhängigkeit verstümmelt", nahmen sie an den EU-Wahlen vom Mai 2009 teil und erhielten dort 15 Prozent der Stimmen - allerdings bei einer Beteiligung von 35

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Prozent. Manche Meinungsforscher schließen ihren Durchbruch in die große Politik bei den Parlamentswahlen nicht mehr aus. Trotzdem sollte die eigentliche Frage nicht so heißen, wie gefährlich die radikale Rechte, sondern wie stark die Demokratie sei. Ob sie imstande sein würde autoritären und populistischen Alpträumen das Projekt eines Sozialstaates entgegenzustellen.

Diese Frage stellt sich keineswegs nur für Ungarn, sondern für all die ehemals sozialistische Staaten, welche in den letzten Jahren Sprung in die EU geschafft, deren Integration jedoch noch weitgehend unabgeschlossen blieb. Eindrucksvolles ökonomisches Wachstum allein hilft hier nicht. Beispielsweise milderte der Boom in Rumänien sowohl das zentralistische Gehabe und Korruption des Staates als auch die nationalistischen Tendenzen im Geistesleben nur wenig. Ebenso wenig hinderten die relativ stabilen sozialen Verhältnisse und sogar der Beitritt in die Eurozone die slowakische Politik daran, die Rechtsradikalen um Jan Slota in die Regierung einzubeziehen und ein äußerst restriktives Sprachgesetz anzunehmen, welches die Minderheiten, Ungarn, Ukrainer und Ruthenen eindeutig diskriminiert. Dementsprechend braucht die Demokratie, um der autoritären Herausforderung gerecht zu werden, mehr eigene Überzeugungskraft, Vision, Phantasie und Glauben an sich selbst. Es wäre schade, wenn auf die schwere Erringung der EU-Mitgliedschaft eine Ära der inneren Provinzialisierung folgen würde. Daher ist es heute anders als vor zwanzig Jahren eher angebracht, das Wort "Europa" etwas häufiger in den Mund zu nehmen.

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Den europäischen Wertekatalog gibt es nicht! Standpunkt Klaus Buchenau

Von Dr. Klaus Buchenau 20.1.2010 ist Osteuropahistoriker und arbeitet zur Zeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München an einem Projekt über religiöse Konversionen in der Tschechoslowakei.

Ist die Betonung gemeinsamer Werte für Europa überhaupt sinnvoll? Anstatt sich in theoretischen Diskussionen über Werte zu verzetteln, sollte man sich lieber auf Tugenden konzentrieren, die das Zusammenleben angenehmer machen, sagt Klaus Buchenau.

Was hält die Europäische Union zusammen? Diese Frage wird umso häufiger gestellt, je mehr die EU wächst. Dahinter steht die Angst, dass hier Gesellschaften zusammengefügt werden, die zu unterschiedlich sind, um sich auf gemeinsame Ziele festzulegen. Und natürlich auch die Befürchtung, dass ein nur oberflächlich geeintes Europa zur Chimäre verkommt, die weder außen- noch innenpolitisch handlungsfähig wäre.

Hier kommen die Werte ins Spiel. Während es in der Praxis der EU-Erweiterung häufig um trockene Paragraphen, zum Beispiel um die Übernahme des mittlerweile sehr umfangreichen EU-Rechts durch die Bewerberstaaten geht, besinnen sich Politiker immer wieder auf europäische Werte, die uns verbinden und zusammenhalten sollen. Welches diese Werte sind, bleibt dabei meist im Dunkeln, versteckt in Andeutungen und Stichworten.

Der Wunsch nach sozialem Zusammenhalt ist verständlich und zutiefst menschlich. Die Frage ist aber, ob wir Europäer wirklich einen Zusammenhalt herstellen können, indem wir gemeinsame Werte postulieren. Um das zu bejahen, müssten wir diese Werte benennen können. Einigkeit müsste auch in der Frage herrschen, was Werte überhaupt sind. Aber schon hier gibt es ein Problem. Selbst Werteforscher, die sich als Wissenschaftler um klare Definitionen bemühen müssen, sind sich nicht einig: Steigt eine Vorstellung vom Wünschenswerten erst dann zum Wert auf, wenn sie verbindlich wird und unser reales Handeln beeinflusst?Können Werte auch in völligem Gegensatz zu unserem realen Handeln stehen? Im ersten Fall hätten wir es mit einem "Geltungswert", im zweiten mit einem moralischen Postulat zu tun.

Unklar ist auch, ob Werte in einem engen Sinne konkrete, gemeinschaftlich geteilte Vorstellungen vom Guten wie zum Beispiel Nächstenliebe oder Solidarität sind, oder ob damit auch Verfahrensregeln gemeint sein können, die uns einen systemischen Rahmen vorgeben, ohne per se emotional besetzt zu sein (wie etwa Demokratie und Menschenrechte). Hinter diesem Gegensatz steht weitaus mehr als ein Gedankenspiel, denn beide Wertverständnisse haben ihre historisch-geographischen Hochburgen in Europa. Im orthodox geprägten Osteuropa hat das Rechtssystem keine zentrale Stellung erlangen können wie im lateinisch geprägten Raum. Traditionell wurde hier als wahr empfunden, was alle sagen, und nicht das, was mit rationalen Methoden beweisbar ist. Dieser grundlegende Unterschied hat Spuren im Werteverständnis hinterlassen:In orthodoxen Gesellschaften waren gemeinschaftlich geteilte, religiös grundierte Werte bis zum 18./19. Jahrhundert der entscheidende Kitt. Weiter westlich setzte sich dagegen seit der Spätantike schrittweise ein Rechtssystem durch, das nach abstrakten Kriterien zwischen richtig und falsch unterschied.

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Dieses System ermöglichte es dem Einzelnen, sich unter Umständen auch gegen das Kollektiv durchzusetzen. Tendenziell förderte es Individualismus und Pluralismus, Werte im Sinne gemeinschaftlicher Vorstellungen vom Guten traten dagegen zurück. Zu praktisch jedem Wert entstand ein Gegenwert - gegen die Pflicht wendete sich die Neigung, gegen die Bindung die Freiheit, gegen den Konservatismus die Progressivität. Blockade und Chaos konnten vermieden werden, weil das Recht zum Schiedsrichter zwischen unterschiedlichen Interessen aufstieg. Werte im engeren Sinne zogen sich in soziale Milieus zurück, gesamtgesellschaftlich wurden sie dagegen von Werten im weiteren Sinne verdrängt. Heute sagen wir zum Beispiel, dass Menschenrechte, eine demokratische Verfassung und eine tolerante Streitkultur zu den Grundwerten gehören, und erheben damit die Verfahrensregeln des Pluralismus in den Rang von Werten.

Auch in Osteuropa ist der religiöse Wertekonsens natürlich längst erschüttert, wenn nicht gar beseitigt. Aber der Übergang auf das westliche Paradigma ist bis heute nicht wirklich vollzogen worden. Aushandlungs- und Schiedsrichterinstitutionen wie Parlamente, moderne Gerichte und so weiter wurden zwar aus dem Westen importiert, diese funktionieren aber oft nicht so wie vorgesehen. Staatliche Behörden sind häufig keine effektiven Regulierer, sondern Bastionen bestimmter politischer und sonstiger Gruppen, die sich hier mit verschiedenen Ressourcen versorgen. Die Folgen sind unterschiedlich. Mal gibt es eine tiefe Sehnsucht nach einem geregelten Gemeinwesen, mal abgrundtiefe Politikverdrossenheit und Distanz zu allen "da oben". Diese Phänomene existieren auch in West- und Mitteleuropa, aber nicht in derselben Häufung.

Schwierig sind auch Wertekataloge, die heute von verschiedenen Seiten als Kitt für Europa vorgeschlagen werden. Hier lässt sich eine transnationale Lagerbildung unter den Eliten beobachten. Auf der einen Seite stehen säkularistische Intellektuelle, die Europa zur letzten Bastion der Trennung von Religion und Staat erheben und lediglich einen Minimalbestand an prozeduralen Grundwerten gesichert sehen wollen wie zum Beispiel Meinungsfreiheit oder Rechtsstaatlichkeit. Sie fürchten sich vor einer Überfrachtung der modernen Gesellschaft mit Werten im primären Sinne, weil sie glauben, dass ein solcher Wertekonsens ohnehin nicht mehr möglich sei und nur die bestehenden Konflikte verschärfen würde. Das andere Ende markieren konservative Gläubige und Kleriker - darunter auch Muslime. Sie würden die europäische Gemeinsamkeit am liebsten aus religiösen Primärwerten ableiten, verfolgen dabei aber jeweils eigene konfessionell geprägte Schwerpunkte. Trotz einiger Denker, die zwischen diesen Extremen liegen, ist ein Konsens nicht absehbar.

Weit gediehen sind die Überlegungen des Erfurter Soziologen Hans Joas, der in Zusammenarbeit mit anderen Geistes- und Sozialwissenschaftlern so etwas wie einen Katalog der kulturellen Werte Europas aufgestellt hat. Er umfasst "Freiheit", den "praktischen Rationalismus der Weltbeherrschung" und "ertragene Differenz" als Basiswerte, dazu noch "Innerlichkeit", die "Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens" sowie "Selbstverwirklichung".

Die ersten beiden Werte erscheinen am ehesten europaweit zustimmungsfähig. Der praktische Rationalismus der Weltbeherrschung, das Streben also, sich die Welt mit rationalen Mitteln untertan zu machen, liegt sowohl den entwickelten Marktwirtschaften wie auch den postsozialistischen Ökonomien zugrunde, wenn auch in unterschiedlichen Varianten. Dieser Wert hat viel mit technischer Innovation zu tun, dem erfolgreichsten Exportschlager des Westens.

Ebenso würde heute wohl niemand in Europa sagen, er sei gegen die Freiheit. Die Frage ist allerdings, was man darunter versteht. Das östliche Europa bringt hier ein besonderes Erbe ein, zum einen ein kollektives, auf die Nation bezogenes Verständnis von Freiheit, zum anderen eine Wertschätzung von Freiheit als Gegensatz zur Diktatur.

Bei der ertragenen Differenz, also einem Wert noch unterhalb von Toleranz, ist gut denkbar, dass sie mit der eingangs erwähnten westlichen Rechtskultur zusammenhängt. Allerdings nährt die kriegerische und imperialistische Geschichte der großen europäischen Staaten vor 1945 Zweifel, ob dieser Wert bei uns tatsächlich eine besondere Tradition hat. Ähnlich zwiespältig ist der Befund für Osteuropa.

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Einerseits verträgt sich die orthodoxe Betonung gemeinschaftlich zu befolgender Werte nicht unbedingt mit kultureller Vielfalt. Andererseits legen viele multiethnische und -religiöse Regionen Osteuropas wie etwa Siebenbürgen, die Bukowina, der Wolgaraum, Bosnien oder die Vojvodina Zeugnis über jahrhundertelang ertragene Differenzen ab. Jüngere Spannungen und Gewaltexzesse gehen nicht zuletzt auf den Versuch zurück, homogene Nationalstaaten nach westlichem Muster zu schaffen.

Die Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens, d.h. die Bejahung von Dingen wie beruflichem Erfolg, materiellem Wohlstand usw. ist auf jeden Fall ein ganz realer Geltungswert, und das weltweit. Die Frage ist aber, ob dieser Wert auch überall ein moralisches Postulat ist. Im östlichen Christentum gelten asketische Mönche und Nonnen noch immer als großes Vorbild. Sie rufen zu Armut und Selbstentsagung auf - Dinge, die im westlichen Protestantismus schon länger auf dem Rückzug sind.

Ähnlich ist es mit der Selbstverwirklichung, die sich im Westen erst seit den 1960er-Jahren breiter durchgesetzt hat und mittlerweile Anhänger in der ganzen Welt anzieht. Sie wird im östlichen Europa häufiger durch nationalistische und religiöse Strömungen negiert, die den Wert des Einzelnen über das Kollektiv definieren und ausgiebige Selbstfindung als schädlich für die Gemeinschaft ansehen. Gleichzeitig gibt es Versuche, sich diesen Wert anzueignen und so umzuformulieren, dass er als kompatibel mit der eigenen Tradition empfunden wird. Insgesamt spielt die Selbstverwirklichung eine wachsende Rolle, vor allem dort, wo Menschen ihre materiellen Elementarbedürfnisse abgesichert haben und nach neuen Dimensionen von Lebensqualität streben.

"Innerlichkeit" ist ein problematischer Begriff. Gemeint ist damit ein In-sich-Gehen, das Streben nach Ruhe zur intimen Reflexion. In Joas´ Wertekatalog bildet die Innerlichkeit ein Gegengewicht zur Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens und zum praktischen Rationalismus der Weltbeherrschung. Die Frage ist allerdings, ob die Innerlichkeit wirklich so fest in der westeuropäischen Geschichte verankert ist, dass man sie zu den zentralen kulturellen Werten zählen müsste. Schließlich war schon das westliche Mönchtum des Mittelalters eher auf praktische Wirkung als auf Introspektion angelegt, und in der Moderne scheint sich die Innerlichkeit in die Subkulturen der Aussteiger und Esotheriker zurückgezogen zu haben. Nicht ganz zu Unrecht beanspruchen orthodoxe Christen die Innerlichkeit für sich und hoffen, diesen Wert auch in einem vereinten Europa verankern zu können.

Wie dieser Überblick gezeigt hat, gibt es keinen allgemein akzeptierten Katalog europäischer Werte. Trotz mancher Konvergenzen ist nicht abzusehen, ob und wann wir Europa über Werte definieren können. Das heißt aber nicht, dass ein Dialog darüber unnütz ist. Er kann durchaus ein Weg sein, mit Unterschieden produktiv umzugehen - solange dabei der Wert der "ertragenen Differenz" gilt.

Noch wichtiger als die Verständigung über Abstraktes - und genau das sind Wertediskussionen - sind aber die Tugenden des Alltags wie Rücksichtnahme, Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft. Diese Eigenschaften erscheinen vielleicht als zu banal, um sie in die Wertediskussion mit aufzunehmen - menschliche Gesellschaften aber leben seit Jahrhunderten davon, mehr noch als von Recht und Gerichten.

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Europäische Werte und Identität Eine Auswahl von eurotopics.net

4.2.2010

Ist das Europa von heute eine Reliquie der Vergangenheit? Konzentrieren sich die Europäer zu sehr darauf, wer sie sind, anstatt darauf, was sie mit anderen zusammen erreichen wollen? Und wie vielfältig ist die europäische Gesellschaft heute? Stimmen aus der europäischen Presse.

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Guy Verhofstadt über die Anbetung der nationalen Identität De Standaard - Belgien; Mittwoch, 24. Februar 2010

Mit einem kritischen Beitrag zur Identitätsdebatte in Frankreich hat Guy Verhofstadt heftige Reaktionen ausgelöst. Der liberale Politiker, Mitglied des Europäischen Parlaments und ehemaliger belgischer Ministerpräsident, hält an seiner Ablehnung der französischen Debatte fest und schreibt in der Tageszeitung De Standaard: "'Identität' ist ein Begriff, auf dem unmöglich eine friedliebende und wohlhabende Gesellschaft aufgebaut werden kann. Allgemeiner gesagt, ist 'Identität' ein Symptom unserer Unfähigkeit, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist. Die Zukunft von Europa liegt keineswegs in einer Suche nach nationaler Identität. Und sicherlich liegt sie nicht in der Summe nationaler Identitäten. Das Europa von heute, 'l'Europe des Nations', ist eine Reliquie der Vergangenheit. Es ist ein Europa, das unfähig ist, Probleme zu lösen. Und es ist ein Europa, das kaum noch eine bedeutende Rolle in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts spielen wird. Kurz: Die Zukunft von Europa und der Europäischen Union wird postnational sein, oder sie wird nicht sein." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE66146- Guy-Verhofstadt-ueber-die-Anbetung-der-nationalen-Identitaet)

Dominique Moïsi über die Angst Europas vor dem Anderen Heti Világgazdaság - Ungarn; Donnerstag, 4. Februar 2010

Über das Wechselspiel von Angst und Identität schreibt Dominique Moïsi, Professor für Politikwissenschaften an der Harvard University, in der linksliberalen Wochenzeitung Heti Világgazdaság: "Mehr denn je wird Angst zur beherrschenden Kraft in der europäischen Politik der vergangenen Jahrzehnte. Und es handelt sich nicht um eine abstrakte, undefinierte Angst. Es geht vor allem um die Angst vor den nichteuropäischen 'Anderen', die von einer wachsenden Zahl 'weißer' Europäer als Bedrohung ihrer Identität und Lebensart, ja sogar ihrer Sicherheit und ihrer Arbeitsplätze wahrgenommen werden. Im Zentrum dieser Debatten steht das Thema Islam und Einwanderung. ... Die Globalisierung und die mit ihr einhergehende Orientierungslosigkeit löst in vielen Menschen eine nervöse Suche nach ihrem Selbstwert aus. Je weniger die Menschen von ihrer Zukunft überzeugt sind, desto stärker tendieren sie dazu, sich in negativer, defensiver Weise auf ihre Identität zu konzentrieren. Wenn jemandem das Vertrauen in die eigene Fähigkeit fehlt, die Herausforderungen der Moderne zu meistern, zieht er sich in sich selbst zurück und konzentriert sich darauf, wer er ist, anstatt darauf, was er mit anderen zusammen erreichen will."

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 191 zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65152- Dominique-Moisi-ueber-die-Angst-Europas-vor-dem-Anderen)

Ferenc Mádl über den moralischen Verfall in der Konsumgesellschaft Nagyítás - Ungarn; Donnerstag, 17. Dezember 2009

Angesichts der globalen Krise fordert der ehemalige ungarische Präsident Ferenc Mádl in der konservativ-intellektuellen Wochenzeitung Nagyítás die Besinnung auf die christlichen Werte: "In den vergangenen Jahrzehnten konnten wir die langsame Erosion der traditionellen europäischen Werte beobachten. ... Nährboden des moralischen Niedergangs ist die Konsumgesellschaft, oder mit anderen Worten: die Wohlstandsgesellschaft - wo die Moral leider nur eine bescheidene Rolle inne hat. Die westliche Zivilisation als Ganzes ist in die Krise geraten, wobei weniger die wirtschaftliche Misere Sorgen bereitet, sondern vielmehr der Umstand, dass innerhalb kurzer Zeit ein Gesellschaftssystem entstanden ist, das nicht aufrechtzuerhalten ist. ... Die allgemeine Verlotterung erfasst nicht nur die einzelnen Menschen und Gemeinschaften, sondern auch Politik, Kultur und Wirtschaft. ... Es ist höchste Zeit für Veränderungen. Ich bin der Meinung, dass die Revitalisierung jener christlichen Grundsätze, die zweitausend Jahre lang gut funktioniert haben, eine Lösung für unsere zivilisatorischen Probleme wäre. ... Das Gedankengut in den Zehn Geboten und den überkommenen moralischen Werten Europas wäre dazu geeignet, unsere Welt wieder aufzurichten." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE62873- Ferenc-Madl-ueber-den-moralischen-Verfall-in-der-Konsumgesellschaft)

Imre Kertész über ein starkes und offenes Europa Litera - Ungarn; Montag, 9. November 2009

Europa trägt schwer an seiner Geschichte, schreibt der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész auf dem Kulturportal Litera. Doch das Europa der Zukunft werde stark sein, selbstbewusst und offen: "In einem höheren Sinn ist das Glück des Menschen jenseits seiner geschichtlichen Existenz zu suchen. Gleichwohl dürfen wir die historischen Erfahrungen nicht umgehen. Im Gegenteil: Die Erfahrungen der Vergangenheit müssen neu durchlebt und einverleibt werden. Nennen wir das eine tragische Identifizierung mit der Geschichte. Den Menschen kann allein das Wissen über die Geschichte hinausheben. ... Jene Zivilisation, die ihre Werte nicht klar und deutlich definiert, oder die ihre Werte gar im Stich lässt, ist dem Untergang geweiht. ... Wir sind allein geblieben, bar jeglicher himmlischer oder irdischer Richtschnur. Wir müssen unsere Werte Tag für Tag neu schaffen ... und zum Fundament einer neuen europäischen Kultur erheben. Wenn ich an das zukünftige Europa denke, sehe ich ein starkes, selbstbewusstes Europa, das stets für Verhandlungen offen ist, das aber nie faule Kompromisse eingeht. Vergessen wir nicht, dass Europa durch einen heroischen Entschluss entstanden ist: Athen hatte sich entschlossen, den Persern die Stirn zu bieten." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE60772- Imre-Kertesz-ueber-ein-starkes-und-offenes-Europa)

Marc Schlammes über das heutige Europa Luxemburger Wort - Luxemburg; Dienstag, 18. August 2009

Zwanzig Jahre nach der politischen Wende blickt Marc Schlammes in der Tageszeitung Luxemburger Wort auf das heutige Europa: "Nun prägen Schnelllebigkeit und Selbstverständlichkeit das Alltagsgeschehen. Das bekommt auch die jüngste europäische Entwicklung zu spüren. Vom Wind des Wandels, der den Kontintent so wohltuend umwehte, ist nichts mehr zu spüren, und eine EU mit 27 Mitgliedsländern eine Selbstverständlichkeit. Normalität. Wer ist sich heute noch des Kraftaktes bewusst, der den Menschen in Mittel- und Osteuropa innerhalb kürzester Zeit zugemutet wurde, damit sie Prinzipien und Praktiken der sozialen Marktwirtschaft und des Rechtsstaates verinnerlichten? Freiheit und Frieden statt Kommunismus und Krieg. Wachstum und Wohlstand statt Planwirtschaft

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 192 und Produktknappheit. ... Mit einem neu gewählten Europaparlament und einer neu zu besetzenden Europäischen Kommission bietet sich nun die Chance, der EU als Schicksalsgemeinschaft neues Leben einzuhauchen. Damit sich die Bürger zwischen den Balearen und dem Baltikum wieder den ur- europäischen Werten verbunden fühlen. Eine Verbundenheit, die die Politik vorleben muss. Ohne Brüssel als Bühne oder als Basar für Eigeninszenierungen bzw. Eigeninteressen zu missbrauchen. Die Europäische Union muss als Ideal neu wahrgenommen werden. Ein Ideal, die schon 1989 Millionen von Menschen beflügelte." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE56074- Marc-Schlammes-ueber-das-heutige-Europa)

Olivier Landini über die europäische Identität Le Quotidien - Luxemburg; Freitag, 5. Juni 2009

Olivier Landini setzt sich in der Tageszeitung Le Quotidien mit der Identität Europas, ihren möglichen Ursprüngen und Grundlagen auseinander: "Ist sie [die Grundlage der europäischen Identität] eine Religion, wie ein guter Teil der Gegner zum EU-Beitritt der Türkei es behauptet? Die christlichen Wurzeln beinahe aller europäischen Länder sind tatsächlich unbestreitbar. Aber sind diese Wurzeln und die darauf bezogenen Werte heutzutage noch wirklich fruchtbar? Sind sie noch für alle akzeptabel? Können die 500 Millionen Europäer von heute darin noch ein Einheitsprinzip erkennen? Ja, werden die Kirchgänger im Chor antworten. Aber was soll man mit den anderen machen? Den Millionen von Laizisten, Atheisten, aber auch Muslimen, Juden, Buddhisten und anderen Gläubigen aller Art? Kann man sagen, dass sie nicht da waren? ... Ja, Europa verfügt über ein christliches Erbe, aber die europäische Gesellschaft ist heute vielfältig. Die Invasionen, Bewegungen, Migration, Einflüsse, die der alte Kontinent erlebte, sind zahlreich. Und die Geschichte Europas ist davon geprägt." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE51708- Olivier-Landini-ueber-die-europaeische-Identitaet)

Land ohne europäische Werte? Revista 22 - Rumänien; Mittwoch, 24. September 2008

Die Wochenzeitung Revista 22 vermisst europäische Kultur und Werte in Rumänien. "Vielleicht haben sich einige der Illusion hingegeben, dass nach unserer EU-Integration auf dem Papier am 1. Januar 2007 Rumänien wie durch ein Wunder zu einem authentischen europäischen Land würde, dass vom europäischen Geist und europäischen Werten berauscht ist. Das Wunder hat sich nicht erfüllt: Selbst heute fühlen wir uns nicht so, als lebten wir in einem Land europäischer Kultur. ... In Frankreich, Deutschland, Großbritannien ... werden Kulturereignisse in das Gesellschaftsleben integriert, für das Theater findet man nur schwerlich Eintrittskarten und für die großen Ausstellungen muss man im Voraus buchen. ... Jeder, der europäische Museen besucht, kann Schüler sehen, die von ihren Lehrern begleitet werden, die ihnen beibringen, wie man Kunstwerke verstehen und wertschätzen kann. In Rumänien sind diese Fertigkeiten und Kulturinitiativen isoliert, oder werden mit europäischen Mitteln finanziert. ... Weder im Fernsehen, nicht einmal in Kultursendungen, erst recht nicht in Zeitungen werden Werte und kulturelle Ereignisse dem großen Publikum vermittelt. Auch ermutigen sie zu keiner europäischen Reflexion, welche Richtung Rumänien eigentlich einschlägt. Im Einklang mit den Massenmedien fördern die rumänischen Parlamentarier die Verachtung der europäischen Werte." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE36491- Land-ohne-europaeische-Werte)

Jean-François Mattéi über die Überlegenheit europäischer Kultur Le Point - Frankreich; Donnerstag, 10. April 2008

Der französische Philosoph Jean-François Mattéi hat sich mit Elisabeth Lévy über die europäische

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Identität und Geschichte unterhalten: "Jede Gesellschaft definiert sich durch den Blick auf die Welt. Aber Azteken und Indianer betrachteten die Welt anders als Europäer. Die europäische Zivilisation bevorzugt den Blick, auf griechisch: 'theoria'. Durch seinen theoretischen Blick hat Europa die Welt erobern können, und aus diesem Blick sind die Werke hervorgegangen, die Europas Vormachtstellung gesichert haben... Der europäische Blick hat immer das Ideale angestrebt: eine wissenschaftliche Idealität mit seiner Idee des Wahren, eine ethische und praktische Idealität mit seiner Idee des Guten, ein ästhetisches ideal mit seiner Idee des Schönen... Für mich macht das nicht nur eine Besonderheit, sondern die Überlegenheit der europäischen Kultur aus. Die anderen Kulturen haben Zeichen, Bilder, Wörter, aber die Europäer die Idee." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE36491- Land-ohne-europaeische-Werte)

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Erweiterung der EU

3.2.2010

Soll die EU von Lappland bis an den Irak reichen? Oder am Bosporus enden? Und was ist mit den östlichen Nachbarn der EU, mit Weißrussland oder der Ukraine: Sollen sie auf kurz oder lang beitreten können? Fünf Stimmen antworten unterschiedlich auf die Frage nach dem quo vadis, Europa.

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Die Erweiterung der Europäischen Union Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 3.2.2010

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Allein zwischen 1995 und 2007 hat die EU 15 neue Staaten aufgenommen – eine gewaltige Integrationsleistung. Kann die EU dieses Tempo beibehalten? Will sie sich überhaupt noch erweitern? Und wenn ja: Wen soll sie aufnehmen?

Die Europäische Union, früher die Europäischen Gemeinschaften, war immer auf das ganze Europa angelegt. Schon Art. 98 des Vertrags, mit dem 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet wurde, legte fest, dass "jeder europäische Staat" einen Antrag auf Beitritt stellen könne. Der nächste große Vertrag, mit dem 1957 in Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) entstand, forderte in seiner Präambel sogar "die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen" ausdrücklich auf, "sich diesen Bestrebungen anzuschließen".

Paradoxerweise war die Europäische Gemeinschaft mit dem Anspruch der Offenheit nur so lange im Einklang, wie er nicht zu realisieren war. Die Bewerber, die sich an einer Mitgliedschaft in der Union interessiert zeigten, konnten in mehreren Schritten (1973: Großbritannien, Irland, Dänemark; 1981: Griechenland; 1986: Spanien, Portugal) aufgenommen werden. Zwar haben auch diese Beitritte interne Debatten und Befürchtungen ausgelöst, aber die neuen Mitglieder (und ihre Agrarproduktion) konnten doch gut integriert werden. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs änderte sich das Bild. Jetzt war der Weg frei für die bislang neutralen Staaten (Österreich, Schweden, Finnland) und auch für die Länder, die bislang im von der Sowjetunion dominierten "Ostblock" keine Chance gehabt hatten, sich der Europäischen Gemeinschaft anzuschließen. Zudem entstanden durch den Zerfall der Sowjetunion 1991, die Trennung Tschechiens von der Slowakei 1993 und die schrittweise Auflösung Jugoslawiens im Verlauf der 1990er Jahre in Europa 19 neue Staaten, die alle den "Weg nach Europa" einschlugen, wie der frühere tschechische Präsident Vaclav Havel die Rückbesinnung auf die europäischen Freiheitswerte und den Wunsch nach europäischer Integration nannte.

Die Europäische Union, von der wir seit dem Vertrag von Maastricht 1993 sprechen, stand zu ihren Versprechungen und nahm innerhalb von 12 Jahren, nämlich zwischen 1995 und 2007, 15 neue Staaten auf - eine gewaltige Integrationsleistung, die zwar insgesamt erfolgreich, aber keineswegs völlig reibungslos verlief. Wie aber geht es von hier aus weiter? Keiner glaubt, dass die EU dieses Tempo der Erweiterung beibehalten könnte, ohne selbst Schaden zu nehmen. Einige Standpunkte kommen in den hier dokumentierten Texten zu Wort.

Der Historiker Arnulf Baring, Professor und Publizist, mahnt zur Vorsicht und zur Selbstbeschränkung. Die EU dürfe sich nicht über den europäischen Kontinent hinaus ausdehnen, was aus seiner Sicht auch gegen eine Mitgliedschaft der Türkei spricht. Bedauerlicherweise führe dies auch dazu, dass Armenien und Georgien mit ihrer alten christlichen Tradition und Kultur der Weg in die Union ebenfalls versperrt sei. Anders sieht Baring die Situation der Ukraine und von Belarus, denen gegenüber man Aufgeschlossenheit signalisieren sollte.

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"Europa endet nicht am Bug" sagt auch die Politikwissenschaftlerin Heike Dörrenbächer, die in Kiew für eine Stiftung arbeitet. Sie plädiert dafür, auf jeden Fall eine Beitrittsperspektive für die Ukraine zu entwickeln, wenngleich klar sei, dass das Land heute und auch morgen noch die Beitrittsreife fehle. Aber einen Silberstreif am Horizont zu sehen, unterstütze den internen Reformprozess, der dringend nötig sei. Zudem lege Artikel 49 des EU-Vertrages fest, dass jedes europäische Land die Mitgliedschaft in der Union beantragen könne.

Dieses Argument verwendet auch die Politologin Andrea Despot für die Länder des westlichen Balkan. Die Staaten des ehemaligen Jugoslawien sowie Albanien seien eindeutig europäisches Interessengebiet und die EU würde sich selbst schaden, wenn sie diese Region vernachlässige. Andrea Despot plädiert dafür, nicht nur die Kosten ins Auge zu fassen, die bei einer Mitgliedschaft der Balkan- Staaten entstünden, sondern auch die, die anfallen würden, wenn die Staaten in Chaos und Stagnation fielen.

Einerseits den Erweiterungsprozess nicht aufgeben, andererseits ihn aber mit Vorsicht weiterführen und dabei die Integrationsfähigkeit der Europäischen Union nicht überfordern: Das ist auch die Linie des Europäischen Parlaments, das über die künftige Erweiterungspolitik sagt, sie solle "ein Gleichgewicht darstellen ... zwischen den geostrategischen Interessen der Union, den Folgen der politischen Entwicklungen außerhalb ihrer Grenzen und der Integrationsfähigkeit der Union, die auch ihre Fähigkeit mit einschließt, zukünftige interne und externe Herausforderungen zu bewältigen und ihr Vorhaben der politischen Integration zu verwirklichen" (Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Juli 2008) Damit ist gemeint, dass nicht nur die klaren Vorteile einer EU- Mitgliedschaftsperspektive für die Partnerländer und deren Stabilisierung berücksichtigt werden sollen, sondern auch die Begrenzungen der Aufnahmefähigkeit, so dass die EU nicht funktionsunfähig wird. Was offiziell nicht so laut gesagt wird, aber dennoch eine Rolle spielt, ist die Enttäuschung über den Beitrittsprozess von Bulgarien und Rumänien, die nach allgemeiner Auffassung die Kriterien zum Zeitpunkt ihres Beitritts nicht erfüllt haben und sich auch jetzt noch schwer tun, die in diesem Zusammenhang gegebenen Zusagen einzuhalten. Hierbei geht es vor allem um die Bekämpfung von Korruption und Organisierter Kriminalität, die Umgestaltung des Justizwesens sowie um eine geordnete Verwaltung. Einen Beitritt auf der Basis von Versprechungen wird es in der Europäischen Union nicht mehr geben, man könnte sagen, dass die Westbalkanstaaten jetzt die Zeche für die Bulgaren und Rumänen zahlen.

Eine neue Qualität haben die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. War bisher jeweils bei Beginn der Gespräche klar, dass am Ende die Mitgliedschaft stehen wird, heißt es bei der Türkei, die Verhandlungen würden "ergebnisoffen" geführt. Der Unterschied ist deutlich: Mit den Polen beispielsweise wurde darüber verhandelt, wie der Beitritt erfolgt, bei den Türken geht es um die Frage, ob er überhaupt stattfinden wird.

Der Türkei-Besuch der deutschen Bundeskanzlerin im März 2010 hat die bei vielen in der EU vorhandene Skepsis noch einmal deutlich gemacht. Angela Merkel verhehlt nicht, dass sie einem Beitritt der Türkei eine "privilegierte Partnerschaft" mit ihr vorzieht. Während dieser Begriff nicht nur von der Kanzlerin, sondern auch von den konservativen Parteien in Europa, die in der Europäischen Volkspartei zusammengeschlossen sind, immer wieder ins Spiel gebracht wird, lehnen die türkischen Verhandlungsführer ihn strikt ab. Damit machen beide Seiten sich nicht die Mühe, wirklich einmal zu definieren, was eine solche privilegierte Partnerschaft über die schon zwischen der Türkei und der EU bestehenden Bindungen hinaus bedeuten könnte.

Nüchtern analysiert der Ökonom Bahri Yilmaz, der an der privaten Sabanci-Universität in Istanbul lehrt, die Perspektiven der Türkei als mögliches EU-Mitglied. Er empfiehlt seinem Heimatland eine "Doppelstrategie": Einerseits solle die Türkei eine Vollmitgliedschaft in der EU nicht aus dem Auge verlieren, andererseits solle sie sich vor allem auf die wirtschaftliche Integration, und zwar einschließlich der Währungsunion, konzentrieren. Für die weitere Entwicklung des Verhandlungsprozesses entwirft

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Yilmaz drei verschiedene Szenarien - nur eines davon geht von einer Vollmitgliedschaft aus.

"Die EU-Erweiterung ist ein Auslaufmodell." Mit diesem Satz beginnt der Beitrag der Politologin Barbara Lippert, die als Forschungsdirektorin der Stiftung Wissenschaft und Politik tätig ist. Die Autorin zieht aus ihrem Einleitungssatz die Konsequenz, sich neue Formen der Annäherung zwischen der EU und ihren Partnerstaaten zu überlegen. Sie setzt dabei vor allem auf die Assoziierungsabkommen, die die EU schon geschlossen hat oder noch vereinbaren will. In deren Zentrum sollen konkrete Angebote stehen, die - an klare Bedingungen gebunden - den Reformprozess in den Partnerstaaten unterstützen. Ob ein solches enges Verhältnis schlussendlich in einer EU-Mitgliedschaft münde, entscheide sich später. In jedem Fall seien allerdings Optionen unterhalb der Mitgliedschaft sowohl für die EU als auch für ihre Partner interessant.

Im Augenblick ist die Lage in Bezug auf die Erweiterung durchaus unübersichtlich. Es gibt Kandidaten auf die Mitgliedschaft, mit denen verhandelt wird. Das sind Kroatien, von dem man ausgeht, dass es seinen Vertrag bald abschließen kann, sowie die Türkei mit den schon skizzierten Schwierigkeiten. Dann gibt es mit Mazedonien einen offiziellen Kandidaten, mit dem allerdings noch nicht verhandelt wird. Dies hat vor allem mit einer Blockade durch Griechenland zu tun, das von Mazedonien verlangt, seinen Staatsnamen ("Republik Mazedonien") zu ändern. Neben den Kandidaten gibt es "potenzielle Kandidaten", das sind die Länder des westlichen Balkan, die noch keinen Kandidatenstatus haben (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Serbien). Hierzu gehört der Systematik nach auch Kosovo. Allerdings haben fünf der 27 EU-Mitglieder dieses Land nicht diplomatisch anerkannt, so dass ein Beitrittsprozess noch nicht eingeleitet werden kann. Schließlich gibt es die "europäischen Nachbarn", also Länder wie die Ukraine, Belarus, die Republik Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan, die eine "europäische Perspektive", aber keine Beitrittszusage haben. Allerdings sehen vor allem die Ukraine, Moldau und Georgien diese als Priorität ihrer Politik an, während die anderen Staaten zurückhaltend oder ablehnend sind.

Und dann gibt es noch Island. Der Kleinstaat im Europäischen Nordmeer, der im Jahr 2009 knapp am Staatsbankrott vorbeigeschrammt ist, hat - wohl vor allem als Folge der Wirtschaftskrise - ebenfalls die Mitgliedschaft beantragt. Allerdings wird Island, wenn seine Bürger den Beitrittswunsch aufrecht erhalten, als unproblematisch angesehen. Nicht nur, dass das Land über eine geringe Bevölkerungszahl (rund 300.000 Menschen) verfügt, es ist auch eine stabile Demokratie und außerdem gehört es als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums ökonomisch schon weitgehend zur EU. Der größte Streitpunkt zwischen Reijkjavik und Brüssel dürfte die Fischereipolitik sein, da Island seine Fischgründe nicht für die Fangflotten aus anderen EU-Staaten öffnen möchte.

Es wird also auch in den nächsten Jahren Erweiterungen der Europäischen Union geben, allerdings nicht in dem Tempo, in dem die EU sich zwischen 1995 und 2007 vergrößert hat. In jedem Einzelfall wird dabei auch eine Diskussion geführt werden, ob die Mitgliedschaft des jeweiligen Partnerstaates die EU stärkt.

Das Thema Erweiterung wird auf der Tagesordnung der öffentlichen Diskussion bleiben.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 198 Literatur

Gerhard BRUNN: Die europäische Einigung von 1945 bis heute, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006

Eckart D. STRATENSCHULTE: Europas Politik nach Osten - Grundlagen, Erwartungen, Strategien, Hamburg 2007

Internet

Barbara LIPPERT: EU-Erweiterungspolitik: Wege aus der Sackgasse, SWP-Aktuell 46/ August 2009 (http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=6231)

Barbara LIPPERT: Assoziierung plus gesamteuropäische Aufgabenkonföderation: Plädoyer für eine selbstbewusste EU-Nachbarschaftspolitik, in: Integration Nr. 2/2006, S. 149 - 157 (http://www.iep- berlin.de/fileadmin/website/09_Publikationen/integration_2006/Lippert.pdf)

Die Türkei in Europa: Den Teufelskreis durchbrechen, Zweiter Bericht der Unabhängigen Türkei- Kommission, 2009 (http://www.independentcommissiononturkey.org/pdfs/2009_german.pdf)

Kai-Olaf LANG, Daniela SCHWARZER: Die Diskussion über die Aufnahmefähigkeit der EU. Nötiger Zwischenschritt oder Ende der Erweiterung? SWP-Studie Nr. 31, Dezember 2007 (http://www. swpberlin.org/common/get_document.php?asset_id=4558)

Ognian N. HISHOW: Ökonomische Auswirkungen der EU-Osterweiterung. Höheres Wachstum in den Beitrittsökonomien bei anhaltendem Wohlstandsgefälle, SWP-Studie Nr. 26, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2004 (http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=1465)

INSTITUT FÜR EUROPÄISCHE POLITIK (Hrsg.), EU-27 revisited: discourses and debates on European integration after the convention and big bang enlargement, Berlin 2009 (http://www.iepberlin. de/fileadmin/website/09_Publikationen/EU_Watch/EU-27_Watch_summary_paper_online.pdf)

KOMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN: Erweiterungsstrategie und wichtigste Herausforderungen 2009 - 2010, KOM (2009) 533, Brüssel 2009 (http://ec.europa.eu/enlargement/ pdf/key_documents/2009/strategy_paper_2009_de.pdf)

Dossier Europäische Union der bpb (http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/) europa.eu (Internetseite der EU zum Thema Erweiterung) (http://europa.eu/pol/enlarg/index_de.htm) ec.europa.eu (Internetseite der Europäischen Kommission zum Thema Europäische Nachbarschaftspolitik) (http://ec.europa.eu/world/enp/documents_de.htm)

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Die künftigen Erweiterungen der EU Standpunkt Arnulf Baring

Von Prof. Dr. Arnulf Baring 3.2.2010

ist emeritierter Professor für Zeitgeschichte und internationale Beziehungen und arbeitet in Berlin als Publizist.

Die Türkei als Ganzes ist ein Teil Asiens, sagt Arnulf Baring. Sie könne kein Mitglied der EU werden. Auch für die Ukraine sieht er momentan keine Möglichkeit des Beitritts, wohl aber auf lange Sicht, da sie ohne Zweifel ein europäisches Land sei.

Lange Zeit hat man in der Bundesrepublik darüber gestritten, ob die Erweiterung der Europäischen Union mit ihrer gleichzeitigen Vertiefung einhergehen könne, ja müsse, und - falls nicht -, ob die Erweiterung oder die Vertiefung wichtiger sei. Diese Kontroverse hat sich von selbst erledigt. Man hat die Union zügig ausgedehnt und daher jetzt Mühe, den gewaltig erweiterten Verband halbwegs zu stabilisieren. Die regionalen Unterschiede sind beträchtlich.

Die ursprüngliche Gemeinschaft der Sechs ist immer noch der wirtschaftlich, sozial und politisch stabile Kern. In Osteuropa fällt Polen die wichtigste Rolle zu, obwohl die geografische Ausdehnung des Landes, die der Deutschlands nahe kommt, leicht darüber hinweg täuscht, dass die polnische Wirtschaftskraft ungleich schwächer ist als die der Deutschen. Die drei baltischen Staaten haben sich, aufs Ganze gesehen, erstaunlich schnell emporgearbeitet, während das Karpatenbecken krisenanfällig bleibt, und der Balkan dahinter erst recht. Blickt man auf unseren Kontinent insgesamt, ist offensichtlich: Bei einer Union aus 27 so unterschiedlichen Mitgliedern ist eine gemeinsame Vertiefung, also die allmähliche Herausbildung eines europäischen Bundesstaates, auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen. Europa und die Welt sehen von Helsinki eben einfach anders aus als von Lissabon, und in Dublin hat man andere Probleme als in Bukarest.

Es wird schwierig genug sein, den gemeinsamen Markt unter so vielen Mitgliedsstaaten, die sich wirtschaftlich und sozial in sehr unterschiedlichen Situationen befinden, bei schweren Krisen beisammen zu halten. Schon bei den letzten Erweiterungen in Südosteuropa sind Länder aufgenommen worden, die im Grunde dafür noch nicht reif waren. Die mit der voreiligen Mitgliedschaft verbundene Hoffnung, sie werde als Ermutigung verstanden werden, den Angleichungsprozess zu beschleunigen, hat sich bisher nur teilweise bestätigt, wenn überhaupt. Die Union wird, gerade auf dem Balkan, noch geraume Zeit brauchen, bis sie als ein zumindest wirtschaftlich und sozial stabiles Gebilde gelten kann.

Diesen hier nur ganz skizzenhaft angedeuteten Befund vorausgeschickt, ist offenkundig, dass alle künftigen Erweiterungen sehr sorgfältig bedacht werden müssen. Ein selbstverständlicher Ausgangspunkt aller Erwägungen muss die Geografie sein. Es handelt sich nun mal um eine europäische Union, nicht um ein Gebilde, das man in andere Kontinente beliebig erweitern könnte, ohne sich im Uferlosen zu verlieren und damit aufzugeben. Frankreich und auch Spanien mögen noch so gute Gründe haben, weshalb Marokko, Algerien und Tunesien als künftige Partner wünschenswert wären – sie liegen eindeutig in Afrika, mögen sie auch im Kolonialzeitalter starken europäischen Einflüssen ausgesetzt gewesen sein.

Die Türkei liegt zwar, wenn auch nur mit einem kleinen Bruchstück, auf dem europäischen Kontinent.

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Aber als Ganzes ist sie unbestreitbar ein Teil Asiens. Wenn man sie aufnähme – und ein israelischer Außenminister hat das schon vor Jahren fordernd angedeutet - , würden die Israelis sofort ihrerseits beantragen, Mitglied der EU zu werden, und zwar mit der Begründung, sie seien, um nur ein Argument zu nennen, als religiöses Fundament Europas dazu viel eher berufen zu sein als die muslimischen Türken. In der Tat ist der Islam einer der Faktoren, die die Türkei von Europa fernhalten. Längst sind die Zeiten vorbei, in denen Atatürk sein Land laizistisch prägte, den Islam kulturell und politisch beiseite schob. Damit hatte er nur vorübergehend Erfolg. Fast ein Jahrhundert später muss man konstatieren, dass der Islam in der Türkei mehr und mehr an Einfluss gewinnt, während die laizistischen Kräfte an Boden verlieren. Nun sind nicht alle Türken fanatische Moslems.

Aber auch der starke türkische Nationalismus hält das Land von Europa fern. Denn Ankara gibt in Europa, zumal in Deutschland lebende Landeskinder nicht frei, erlaubt ihnen also nicht, mental, kulturell, sozial und dann auch politisch in die Gastländer hineinzuwachsen, sich zu integrieren. Als Ministerpräsident Erdogan vor einiger Zeit bei einer Großkundgebung in Köln die "Assimilation" als ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnete, haben das viele in Deutschland verständlicherweise als Kampfansage, ja als Kriegserklärung empfunden. Denn was soll werden, wenn zahlreiche türkische Zuwanderer offen erkennen lassen, dass sie, auch längerfristig, nicht Europäer, nicht Deutsche werden wollen? Die Entstehung, das Wachsen einer abgeschotteten Parallelgesellschaft muss man mit Beklemmung konstatieren. Das gilt umso mehr, wenn türkische Stimmen offen ankündigen, nach dem EU-Beitritt sei mit weiteren zwanzig Millionen türkischer Zuwanderer zu rechnen. Sie werden sich vermutlich wohl vorwiegend in Deutschland einrichten wollen. Damit ist klar, dass jedenfalls aus heutiger deutscher Sicht die Türkei kein Mitglied werden kann.

Türken erinnern gern daran, dass das Osmanische Reich in der Phase seines gewaltsamen Vordringens in die Mitte Europas eine Großmacht gewesen sei. Das ist die türkische Republik immer noch. Mit ihrer rasch wachsenden Bevölkerung wird die Türkei, wenn sie denn Mitglied würde, in absehbarer Zeit das bei weitem bevölkerungsreichste Land Europas sein. Durch ihren Beitritt würde ihr deshalb ganz von selbst eine Führungsrolle zufallen. Wie die Dinge liegen, müsste diese Dominanz die Europäische Union zerreißen.

Die CSU stand, wie Meinungsumfragen zeigen, in Deutschland keineswegs allein, als sie kürzlich mehr Ehrlichkeit gegenüber der Türkei verlangte. Da Ankara, wie es seitens der Bayern wörtlich hieß, "meilenweit von den notwendigen politischen und wirtschaftlichen Grundvoraussetzungen" einer Mitgliedschaft entfernt sei, solle man die quälenden Beitrittsverhandlungen abbrechen, die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft ein für allemal verbauen. Stattdessen sei eine Privilegierte Partnerschaft der EU mit der Türkei angebracht und anzustreben.

Nach meinem Eindruck entwickeln sich jenseits des Bosporus die Einschätzungen ohnehin in diese Richtung. Auch in Ankara hat vor einiger Zeit ein Umdenken begonnen. Man fragt sich dort mehr und mehr, ob es wirklich im Interesse des Landes liegt, die umfangreichen europäischen Auflagen zu erfüllen und die Beschränkungen der eigenen Handlungsfähigkeit in der Union hinzunehmen. Bei näherem Zusehen ist die EU in vielen türkischen Augen nicht die beste – und schon gar nicht die einzige - Perspektive des Landes. Sind nicht andere Orientierungen, andere Partnerschaften vorstellbar, ja vorzuziehen?

Wichtige Rollen der Türkei außerhalb Europas sind im Kaukasus, im Nahen Osten und in Zentralasien denkbar. Eine Führungsposition unter den turksprachigen Völkern, immerhin 130 bis 150 Millionen Menschen, kommt mindestens in Betracht. In dem Maße, in dem die Türkei in ihrer eigenen Region aktiv wird, sinkt die Attraktivität der EU in ihrer Außenpolitik, schrieben kürzlich erschreckt deutsche Zeitungen. Ankara entdecke jetzt mehrere Optionen. Eine erstarkende Regionalmacht Türkei werde wenig Lust verspüren, hieß es, "ihre Außenpolitik mit einer europäischen Linie – so es denn eine geben sollte – harmonisch abzustimmen", bemerkte der Tagesspiegel. Das neue Selbstgefühl Ankaras hat in Europa und den USA bereits jetzt "eine besorgte Diskussion darüber ausgelöst, ob sich die Türkei

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 201 vom Westen abwendet".

Wenn die Türkei draußen bleibt, wird allerdings nichts aus einer EU-Mitgliedschaft Georgiens und gegebenenfalls Armeniens werden können. Natürlich wäre ein zuverlässiger europäischer Rückhalt für die mental mit Europa verbundenen altchristlichen kleinen Völker dort wünschenswert. Aber die kriegerischen Konflikte, die Tiflis im Sommer 2008 in eine Existenzkrise stürzten, haben deutlich gemacht, dass ein politisch engagierter, auch militärisch effizienter Beistand der EU im südlichen Kaukasus jenseits unserer Möglichkeiten liegt. Wir Deutschen, aber auch die gesamte EU, sind dazu viel zu schwach.

Während eine EU-Mitgliedschaft des südlichen Kaukasus uns keinen militärischen oder wirtschaftlichen Vorteil verspräche, ist das mit der Ukraine ganz anders. In der deutschen politischen Öffentlichkeit wird viel zu selten gesehen, dass die Unabhängigkeit der Ukraine im Interesse ganz Europas liegt. Anders als die Türkei ist die Ukraine zweifellos ein europäisches Land. Zumal im christlich geprägten Westteil ist sie eng mit Mitteleuropa verbunden. Aber auch der Ostteil hat sich schon in der Sowjetzeit nach Kräften bemüht, Moskauer Bevormundungen auszuweichen. Diese Bestrebungen haben seither kräftig an Gewicht gewonnen, wie bei der orangen Revolution deutlich wurde. Die Bevölkerung der Ukraine schätzt von Jahr zu Jahr mehr in allen politischen Lagern die Unabhängigkeit des eigenen Landes. Freilich ist ebenfalls klar geworden, dass bisher von stabilen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen keine Rede sein kann. Insofern kommt momentan weder eine Mitgliedschaft in der EU noch in der Nato in Frage. Aber wir sollten diese Perspektive nie aus den Augen verlieren. Wir müssen uns immer der Tatsache bewusst bleiben, dass eine unabhängige, westorientierte Ukraine im Interesse der Menschen dort wie des ganzen vereinten Europas ist.

Für Weißrussland gilt das Gleiche, wenn auch wegen des geringeren Gewichts dieses Landes in entsprechend kleinerem Maße. Auf jeden Fall muss uns daran liegen, Minsk unsere erwartungsvolle Aufgeschlossenheit zu signalisieren. Die langjährige Quarantäne, in der man Weißrussland hielt, war nie eine Erfolg versprechende europäische Option.

Bleibt Russland: Zweifellos ist es ein großes, wichtiges europäisches Land. Aber es ist eben nur bis zum Ural ein Teil Europas. Dahinter erstreckt es sich über die unendlichen Weiten Sibiriens, über unvorstellbare elf Zeitzonen, bis in die Nähe Japans und Kanadas, noch hinter China. Es liegt auf der Hand, dass ein Staat dieser gewaltigen Ausdehnung, dieses Gewichts, die EU aus den Angeln heben würde.

Vermutlich wird das russische Riesenreich allerdings irgendwann in der Zukunft auseinander fallen oder von außen aufgerollt werden, wobei die EU bei diesen dramatischen Veränderungen keine maßgebliche Rolle spielen wird. Insofern ist es müßig, schon heute unsererseits über solche Perspektiven nachzudenken. Sollte eines Tages der Moskauer Staat auf seine europäischen Bestandteile reduziert sein, könnte eine EU-Mitgliedschaft Russlands in Frage kommen.

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Europa endet nicht am Bug* Standpunkt Heike Dörrenbacher

Von Dr. Heike Dörrenbacher 3.2.2010

Leiterin des Projekts Ukraine und Belarus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Kiew.

Europa braucht die Ukraine, weil sie das einzige Land im postsowjetischen Raum ist, das demokratisch regiert wird, meint Heike Dörrenbacher. Und genau deshalb müsse es für das Land eine konkrete Beitrittsperspektive geben.

Europa ist mehr als die Europäische Union, aber immer mehr Europa wird zur Europäischen Union. Das ist der größte Beitrag, den die EU zur Sicherung von Frieden, Stabilität und Wohlstand leisten kann. Die Erweiterungen der Europäischen Union sind – trotz aller berechtigten Kritik im Einzelnen – ein großer Erfolg und haben zur friedlichen Transition des Kontinents wesentlich beigetragen. Eines der größten europäischen Länder, nämlich die Ukraine mit fast 50 Millionen Bürgern, von diesem Prozess auszuschließen, wäre töricht. Die Ukraine braucht Europa.

Die vergangenen fünf Jahre nach der orangen Revolution haben gezeigt, dass es dem Land nicht aus eigener Kraft gelingt, die notwendigen Reformen in Wirtschaft und Politik durchzuführen. Lippenbekenntnisse, wie sie der bisherige Präsident Viktor Juschtschenko, abgegeben hat, sind wohlfeil. (Für ihn galt das besonders, da er als Präsident gar nicht die Kompetenzen hatte, seine Reden in konkrete Politik umzusetzen.) Der konkrete Umbau von Staat und Gesellschaft ist schwierig und stößt bei verschiedenen Interessengruppen auf harten Widerstand. So erklärt sich, dass auch die diversen, unterschiedlich zusammengesetzten Regierungen der Juschtschenko-Zeit wenig zustande gebracht haben. Das aber spricht nicht gegen ein Engagement der EU, sondern für dessen Verstärkung. Denn nur durch Anreize und Perspektiven kann die politische Klasse der Ukraine motiviert werden, ihr Land an Europa heranzuführen.

Zu den Anreizen gehört allerdings auch eine strenge Konditionierung, durch die nur tatsächliche Fortschritte "belohnt" werden. Vor allem aber wollen die Ukrainer wissen, wohin der Weg sie führt. Und hier muss die Antwort lauten: Wenn ihr das möchtet, ist der Pfad der Reformen der Weg in die Europäische Union.

Die Ukrainer sprachen sich in den vergangenen Jahren zu mehr als 50 Prozent für den Beitritt zur Europäischen Union aus. Für den 2010 aus dem Amt geschiedenen Präsident Juschtschenko war der schnelle Beitritt zur EU eines der wichtigsten, wenn auch leider unrealistischen Ziele seiner Präsidentschaft, was seine Gegner nicht müde werden zu betonen. Was es bedeutet, Mitglied der Europäischen Union zu sein, ist vielen Ukrainern nicht ganz klar. Sie verbinden damit eine diffuse Vorstellung von "besser leben". Ein Zeichen hierfür ist die sogenannte "Euroremont", die Renovierung von Wohnungen und Hotels nach einem Standard, den man in der Ukraine für europäisch hält, der aber nicht immer den Anforderungen einer deutschen Bauaufsicht genügen würde.

Europäische Standards sind das Versprechen für eine bessere "europäische" Zukunft. Die Sehnsucht danach ist nur allzu verständlich. Es ist die Aufgabe der westlichen Partner - der politischen Stiftungen, der Universitäten und der Verwaltungen, die Experten entsenden - in Seminaren, Konferenzen und

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Trainings zu verdeutlichen: Die Mitgliedschaft in der EU lässt keine ukrainischen Schutzzölle zu, der junge ukrainische Staat müssteSouveränität abgeben, nicht nur beim Außenhandel, sondern auch in der Außen- und Sicherheitspolitik oder in Innen- und Justizangelegenheiten. Dazu gehört auch das Werben für europäische Werte wie Freiheit, Menschenrechte, politische Kompromisse, das Einhalten von verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Normen und der Kampf gegen die Korruption. All dies benötigt die Ukraine auf ihrem Weg zu einer stabilen Marktwirtschaft und Demokratie.

Die Ukraine braucht also Europa, aber warum braucht Europa die Ukraine? Die Antwort ist einfach: Weil die Ukraine das einzige Land im postsowjetischen Raum ist, das demokratisch regiert wird. Die Ukraine ist ein Beispiel dafür, dass auch in der GUS der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft möglich, wenn auch steinig ist. Dafür braucht das Land die volle Unterstützung der europäischen Partner. Die Ukraine will nicht wieder in den politischen Einflussbereich Russlands geraten, was ja gleichzeitige gute Beziehungen zu Russland, die der Ukraine in jedem Fall nutzen, nicht ausschließt. Wenn die EU aber keine Signale sendet, dass sie an einer engen und dauerhaften Verbindung mit der Ukraine interessiert ist, dann schlägt die Sympathie der Ukrainer um in eine Stimmung "Die EU will uns ja nicht haben". So geschah es im Wahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2010. 16 der 18 Präsidentschaftskandidaten sprachen sich für "gute Beziehungen zu allen Nachbarländern" aus. Lediglich der frühere Präsident Juschtschenko und die Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko erklärten die Mitgliedschaft in der EU zum politischen Ziel.

Die Ukrainer verstehen nicht, warum es nicht möglich sein soll, eine Politik der "offenen Tür" gegenüber der Ukraine zu betreiben. Damit ist gemeint, der Ukraine tatsächlich die 2005 vom Europäischen Parlament versprochene Aussicht auf Mitgliedschaft zu eröffnen. Nur eine deutsche Partei, die FDP, hat in ihren Wahlprogrammen gefordert, der Ukraine langfristig eine EU-Beitrittsperspektive zu geben.

Natürlich reden wir dabei nicht über heute oder morgen. Es geht auch nicht darum, jetzt schon konkrete Zeitpläne aufzustellen. Diese sind vor allem abhängig vom politischen Willen der ukrainischen Regierung, die notwendigen wirtschaftlichen Reformen als Voraussetzung für einen Beitritt zur EU durchzuführen.

Es besteht kein Zweifel, dass die Ukraine heute weder wirtschaftlich noch politisch in der Lage ist, in absehbarer Zeit der Europäischen Union beizutreten. Was aber spricht dagegen, dem Land zu einem späteren Zeitpunkt Beitrittsverhandlungen in Aussicht zu stellen? Das sollte vor allem dann der Fall sein, wenn es gelingt, durch das geplante Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, das im Rahmen der Östlichen Partnerschaft geplant ist, nennenswerte Fortschritte zu erzielen. Vielleicht wird man umgekehrt gerade dann das neue Abkommen positiv nutzen können, wenn die Ukraine eine Perspektive sieht. Für die Ukraine gilt, was in Artikel 49 des alten EU-Vertrages stand und auch nach dem Lissabonner Vertrag an gleicher Stelle festgelegt ist: Jedes europäische Land hat die Möglichkeit, einen Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen.

Dieses Recht kategorisch auszuschließen, ist kontraproduktiv und spielt den anti-europäischen Kräften in der Ukraine in die Hände: "Seht doch, der Westen zeigt uns die kalte Schulter!", skandieren sie populistisch und fordern damit eine Hinwendung nach Russland. Wenn wir eine stabile und demokratische Ukraine wollen, dann sollte die EU das Signal setzen: Die Ukraine braucht die EU – und die EU braucht die Ukraine. Europa endet nicht am Bug – und das wäre auch nicht in unserem Interesse.

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Der Balkan ist Teil des europäischen Projekts Standpunkt Andrea Despot

Von Dr. Andrea Despot 3.2.2010

ist stellvertretende Leiterin der Europäischen Akademie Berlin.

Brüssel muss den Westbalkan stärker ins Visier nehmen, fordert Andrea Despot. Kroatien, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Kosovo und Albanien: Sie alle müssten in die EU integriert werden. Dies sei eine historische Aufgabe ohne Alternative.

Die Brüsseler Erweiterungsszenarios müssen die Westbalkanstaaten stärker ins Visier nehmen, will das europäische Projekt nicht zum Stillstand kommen. Der heutige "Westlicher Balkan" wie dieser europäische Kulturraum im Brüsseler Jargon firmiert, ist abgesehen vom Ist-Mitglied Slowenien deckungsgleich mit dem einstigen jugoslawischen Bundesstaat - er umfasst Kroatien, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Kosovo - und schließt Albanien mit ein. Ebendiese Staaten in die Europäische Union zu integrieren, ist eine historische Aufgabe und ein politisches Desiderat, zu dem es keine Alternative gibt. Kroatien ist geradlinig auf dem Wege zur Vollmitgliedschaft und darf auf eine baldige Aufnahme hoffen, ehe sich die Tür für die Anderen aus der Region auf unbestimmte Dauer wieder schließt. Für Belgrad, Skopje, Sarajewo, Podgorica, Prishtina und Tirana sollte aber das Fenster der Gelegenheit offen bleiben.

Für jede weitere Erweiterungsrunde müssen im Wesentlichen drei Bedingungen erfüllt sein: Wollen Staaten zu Vollmitgliedern der EU werden, braucht es zunächst die Einsicht, dass sie konstitutiver Bestandteil Europas sind; es ist dann eine Verständigung der europäischen Staaten vonnöten, die Aufnahme als gemeinsames vitales Interesse zu betrachten und sie auf die politische Agenda zu setzen. Schließlich ist die Erweiterungsreife der Anwärter notwendig. Wenn wir auf die Staaten des Westlichen Balkans zu sprechen kommen, gibt es in nahezu jedem Punkt veritable Bedenken, dennoch sind die ersten beiden Bedingungen erfüllt; die letztgenannte Aufgabe ließe sich durch eine konkrete Beitrittsoption sogar zügiger erledigen.

Betrachten wir also zunächst die Frage der Zugehörigkeit der Westbalkanstaaten zu Europa. Sie werden in der Peripherie verortet und tragen allerlei Ballast: Dreht es sich um den Balkan, ist immer wieder vom ethnonationalen Minenfeld oder dem politischen Pulverfass die Rede, das in regelmäßigen Abständen explodiert und brutale Bruderkriege nach sich zieht. Seit dem 19. Jahrhundert wird er immer wieder als jener andere Teil des europäischen Kontinents verstanden, der unzivilisiert und rückständig ist. Der Balkan wurde so zu einem "Ort" geronnener Stereotype. Tatsache ist aber, dass er oft genug zum geopolitischen Schachbrett degradiert wurde, auf dem die großen Mächte ihre Kräfte hin- und herschoben und ihre Interessen austarierten. Die Diskussion über die geografischen und kulturellen Grenzen Europas würde sich erübrigen, übersähe man nicht, dass diese Länder schon seit osmanischer und habsburgischer Zeit in den europäischen Kulturkreis gehören.

Auch in der jüngeren Zeitgeschichte beschwor man die balkanischen Geister herauf, als sie angeblich während der jugoslawischen Erbfolgekriege 1991-1995 ihr Unwesen trieben und das einstige multikulturelle Musterland auseinanderrissen. Die Welt hielt den Atem an, und der gefahrenvolle "Hinterhof Europas" erlebte in Gestalt derartiger verzerrter Zuschreibungen eine Renaissance. Die Europäische Gemeinschaft biss sich allerdings die Zähne aus bei den praktisch-politischen Versuchen,

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 205 den System-, Macht- und Territorialkonflikt zu regulieren, der von ethnonationaler Rhetorik überlagert ist.

Gemeinsame strategische Interessen

Hinter der Zugehörigkeitsfrage stecken also durchaus nachvollziehbare Sicherheitsbedenken. Die Einverleibung einer ehemaligen Kriegs- und Krisenregion könnte der Happen werden, so die Befürchtung, den die Europäische Union nicht verdauen kann. Die Absorptionsfähigkeit der EU- Institutionen und die Erweiterungsmüdigkeit werden auch schon unabhängig vom Westlichen Balkan diskutiert. Handelt es sich dann noch um vergleichsweise schwache Nationalstaaten, die mit organisierter Kriminalität, Korruption und offenen Souveränitäts- und Statusfragen zu kämpfen haben, verdüstert sich das Integrationsszenario für die Staaten des Westbalkans.

Die Südosterweiterung liegt jedoch im gemeinsamen Interesse der europäischen Staaten. Europa trägt nach den aufreibenden Konflikten Mitverantwortung für die Stabilisierung dieser innereuropäischen Region. Entsprechend war es die Europäische Union selbst, die die Beitrittsperspektive eröffnet und diesen Ländern mehrmalig eine Vollmitgliedschaft in Aussicht gestellt hat. Die Wahrung des guten alten Prinzips "pacta sunt servanda" würde von der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union zeugen und ist schon allein deshalb weit mehr als eine Floskel oder Geste. Angesichts des gescheiterten Krisenmanagements in den frühen 1990er-Jahren reflektiert und bündelt das Integrationsangebot vielmehr eine ganze Reihe von Politikzielen, die eng mit Frieden, Sicherheit und der Wohlfahrt Gesamteuropas verknüpft sind.

In der Nachkriegszeit war Friedenssicherung Anspruch und Antrieb der europäischen Integration. In der Retrospektive waren Einbindung und Supranationalität überaus wirksame Vehikel, um diesen Anspruch bis heute aufrecht erhalten zu können. Dieser Mechanismus, der sich in einer Vielzahl von Instrumenten und Verfahren der Europäischen Union verdichtet hat, verliert auch bei den südosteuropäischen Bewerbern nicht seine Logik. Wie es schon bei den mittel- und osteuropäischen Ländern der Fall war, wird ein absehbarer Vollbeitritt auch im Südosten Europas Konfliktpotenziale regulieren helfen, die institutionellen und politischen Umbauarbeiten befördern und rechtsstaatliche Strukturen stärken. Die nachbarlichen Beziehungen haben sich noch nicht vollends normalisiert und die Zusammenarbeit knirscht mancherorts noch. Gerade deshalb stellt eine glaubwürdige und auch zeitlich überschaubare Mitgliedschaftsperspektive ein Instrument dar, das politisch vermittelbar ist und im Laufe der Zeit jene Defizite ausmerzt, die gemeinhin als Beitrittsbarrieren gelten.

Wenn also die Erben von Staatszerfall und Eroberungskriegen an die Tür der Europäischen Union klopfen, sollte man sich bei aller Spezifik der Region diese Erfolgsgeschichten ins Gedächtnis rufen und die Konfliktbearbeitung ins Zentrum gemeinsamen Handelns rücken. Indem sie in supranationale Strukturen eingebunden und materiell wie zivilgesellschaftlich (mit)aufgebaut werden, wird die Beitrittsperspektive zu einem mächtigen Transformationsanreiz für Reformen.

Die Südosterweiterung hat auch eine strategische Dimension: Nach der Nord-, West- und Osterweiterung sind die Staaten Südosteuropas die nächsten "natürlichen" Neuzugänge der Union. Ferner sei auf eine Kontinuitätslinie hingewiesen: Auf dem Balkan kreuzen sich auch gegenwärtig geopolitische Interessen Europas mit jenen anderer Staaten. Russland ist auf den Balkan zurückgekehrt. Moskau hat die Verzahnung mit der Energiewirtschaft in den Ländern des Westbalkans vorangetrieben; es hält seine schützende Hand über Serbien. Seine politische und wirtschaftliche Durchdringung der Region folgt nicht nur einer langen Tradition, sondern hat auch Implikationen für die Erweiterungspolitik der EU. Die starke politische Präsenz der USA weist auf deren eigene Interessenlage hin. Dabei sorgt nicht nur die causa Kosovo für Konfliktstoff zwischen den beiden Konkurrenten - der Balkanraum selbst könnte zum Ort ihres Kräftemessens werden. Will Brüssel nicht zum bloßen Zaungast in dieser Arena werden, muss es eine aktive Gestaltungsmacht auf dem Balkan bleiben und diesen Raum in seinen direkten Einflussbereich betten.

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Erwartungsdruck und Erweiterungsreife

Die "Belohnung" mit einem EU-Beitritt würde vor allem auch in den Augen großer Bevölkerungsteile der Bewerberländer die hohen Transaktionskosten, die Europäisierung (im Sinne des flächendeckenden Transfers des EU-Regelwerks) verursacht, übersteigen und ihre gesamtgesellschaftlichen Anstrengungen ausgleichen. Sie können sich dem Sog, der von Integration, Fortschritt und Perspektive ausgeht, kaum entziehen. Europapolitische Vorstellungen in der Region verfestigen sich und Europa genießt das Vertrauen der Menschen. Bei Volksbefragungen votierten 70 Prozent für einen Beitritt zur EU. Das Vertrauen, das sie EU-Institutionen entgegenbringen, ist zum Teil größer als das in ihre jeweiligen Landesregierungen. Die Überzeugung, dass sich die ökonomische Situation ihrer Länder zum Besseren verändern wird, teilt ebenfalls eine klare Mehrheit der Bevölkerungen.

Aus balkanischer Binnenperspektive sind politische Stabilität, Beschäftigung, Freizügigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit am ehesten durch die Anbindung an die EU zu erreichen. Die Aussicht, Teil eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, übt ganz allgemein eine große Anziehungskraft auf die Kandidatenstaaten des Westbalkans aus. Angesichts dieser Popularität hat Brüssel ein mächtiges Instrument in der Hand und verfügt über beachtliche (sog. weiche, also zivile) Machtressourcen. Gleichzeitig wirkt das System aus Anreizen und Standards auf die Staaten des Westbalkans zurück - sowohl was ihre Binnenstruktur angeht, als auch die regionale Entwicklung insgesamt.

Die Europäische Union fungiert schließlich als Katalysator für Wachstum und Entwicklung, so auch im Wirtschaftsraum Südosteuropa. Allen ökonomischen Hindernissen zum Trotz wird er in lang- und mittelfristiger Perspektive zum Niveau seiner Nachbarn aufschließen und prosperieren. Die europäische Integration belebt diesen Aufhol- und Adaptionsprozess und erzeugt eine zusätzliche Wachstumsdynamik - etwa durch wachsende Zuflüsse ausländischer Investitionen. Der symbolische wie tatsächliche Wert, der im Status einer Vollmitgliedschaft liegt, wirkt sich wohlfahrtsteigernd auf die Länder aus. Intraregionale Kooperationen werden noch stärker begünstigt und helfen dabei, Misstrauen abzubauen. Denn durch die Integration entstehen funktionale Verflechtungen, die andere politische Gräben begrenzen oder gar überbrücken können. Eine wirtschafts- und handelspolitische Einbindung relativiert wiederum die sicherheitspolitischen Bedenken.

Die Attraktivität einer Mitgliedschaft verleiht der Europäischen Union die oben erwähnte Gestaltungsmacht - sie kann friedlich Macht ausüben, um die gewünschten Transformationsergebnisse zu erzielen, ohne die Region unter Kontrolle bringen zu müssen. Brüssel kann diese Länder durch seine Konditionalisierungspolitik - dem Arsenal von institutionalisierten Anreizen und Belohnungen - leichter beeinflussen, wenn es das ersehnte Ziel in greifbare Nähe rückt. Den Verlust an Souveränität, für die die Westbalkanstaaten lange gekämpft haben, sehen sie durch den EU-Beitritt aufgewogen - ein Indiz dafür, dass ein Aufnahmeszenario die Konflikte besser regulieren könnte, als ein draußen- vor-der Tür-Ansatz dazu imstande wäre. Der bevorstehende Beitritt wäre also Reformmotor, Stabilitätsanker und Einflusssicherungsinstrument zugleich.

Es bleibt unbestritten, dass die Beitritte der südosteuropäischen Staaten kein leichtes Unterfangen sein werden, obgleich sie zu Europa gehören und vitale europäische Interessen in diesem Raum berührt sind. Die Mitgliedschaftsreife haben sie noch nicht erlangt - und gerade hier setzt das Integrationsangebot an. Das Angebot erhöht die Europa-Nachfrage und produziert Reformergebnisse. Betrachtet man hingegen die Alternative, die unterlassene oder außer Reichweite geschobene Erweiterung, summieren sich die Kosten auf eine unkalkulierbare Höhe. Dies hätte gravierende Folgen für Macht und Moral - die EU würde einen Bedeutungsverlust erleiden und müsste die außen- und sicherheitspolitische Debatte unter anderen Vorzeichen führen. Der Reformwille der Kandidaten würde gebremst; möglicherweise würden sie in eine unerwünschte Richtung gelenkt werden oder gar in eine andere politische Obhut bugsiert. Um das Integrationsvakuum zu füllen, stehen andere schon bereit. Wenn die Integration dieser Länder umsichtig, einer "Integrationsregatta" gleich nach Leistung

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 207 vonstatten geht, wird die Integrationsdividende hoch ausfallen.

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Hinwendung, Abwendung oder Doppelstrategie? Die Debatte um die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union Standpunkt Bahri Yilmaz

Von Prof. Dr. Bahri Yilmaz 3.2.2010

ist Inhaber des Jean Monnet Chair an der Sabanci Universität in Istanbul.

Die Türkei soll ihr Ziel einer Vollmitgliedschaft nicht aus den Augen verlieren, so Bahri Yilmaz. Der Wirtschaftswissenschaftler empfiehlt aber eine Doppelstrategie: Unabhängig von der Vollmitgliedschaft müsse die Türkei die wirtschaftliche Integration von der Zollunion über den Binnenmarkt zur Wirtschaftsunion vervollständigen, einschließlich der Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion.

Am 3. Oktober 2005 wurde auf einem Sondergipfel der EU-Außenminister in Luxemburg endgültig beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Aus dem Schlusskommunique des Gipfeltreffens kann man die folgenden Schlussfolgerungen ziehen:

• Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen führt nicht automatisch zu einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU.

• Es besteht weder ein rechtlicher Anspruch auf einen Beitritt, noch eine Verpflichtung dazu, und zwar auch im Fall eines erfolgreichen Abschlusses der Verhandlungen mit der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten. Darüber hinaus machen einige Mitgliedsstaaten den Beitritt der Türkei zur EU von einer Volksabstimmung abhängig.

• Die Beitrittsverhandlungen werden von der Geschwindigkeit der türkischen Reformbestrebungen abhängig sein.

• Der Rat der Europäischen Union kann bei einer "schwerwiegenden und dauerhaften" Verletzung der grundlegenden Werte der Union auf Empfehlung der EU-Kommission die Verhandlungen bis auf Weiteres vertagen.

• Die EU kann lange Übergangszeiten, Sonderregelungen und in einigen Bereichen z.B. bei der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, in der Landwirtschaft oder in der Regional- und Strukturpolitik sogar unbefristete Schutzklauseln einführen.

• Die Beitrittsverhandlungen werden dann abgeschlossen, wenn die Union ihren Finanzrahmen für die Zeit nach 2014 verabschiedet hat.

• Die Türkei ist dazu verpflichtet, das Assoziierungsabkommen EU -Türkei auf alle neuen Mitglieder des Beitrittsjahrs 2004 auszudehnen.

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• Beitrittsverhandlungen sollten nach Artikel 49 des EU-Vertrages mit der Türkei beginnen.

Das Hauptziel der pro-westlich orientierten Kräfte in der Türkei liegt nach wie vor in der Vollendung der bereits seit 1839 betriebenen und mit den kemalistischen Reformen in Gang gesetzten "Westernisierung" durch politischen Liberalismus mit einer offenen Gesellschaft nach westlich geprägten Wertemustern. Die Stärkung der Demokratie und die Verwirklichung einer sozialen Marktwirtschaft nach westlichem Muster können nur durch eine politische und wirtschaftliche Liberalisierung der türkischen Gesellschaft erreicht werden. Vor diesem Hintergrund ist das Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union von sehr großer Bedeutung. Wie die Erfahrungen der Erweiterungsrunde nach Mittel- und Osteuropa ebenso eindringlich wie jene aus der ersten Runde der Süderweiterung in den Achtzigerjahren bestätigen, spielen politische Hoffnungen auf demokratische Reformen für die Verwirklichung der Vollmitgliedschaft eine entscheidende Rolle.

Inzwischen wissen wir alle, dass wir einen langen Weg vor uns haben. Dieser Weg ist voll von Überraschungen, politischen und wirtschaftlichen Hürden sowie kräftigen Turbulenzen. Deswegen scheint es mir langfristig gesehen ein vernünftiger Weg seitens der Türkei zu sein, eine "Doppelstrategie" zu verfolgen. Einerseits sollte die Türkei die Vollmitgliedschaft in der EU nicht aus den Augen verlieren und zielbewusst und nachhaltig dieses Ziel anstreben. Anderseits sollte sie aber gleichzeitig vor allem die wirtschaftliche Integration von der Zollunion über den Binnenmarkt zur Wirtschaftsunion, einschließlich der Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion vervollständigen.

Übersehen wird dabei immer, dass die politische Integration der Türkei in die EU eine solide und gesunde wirtschaftliche Entwicklung voraussetzt - eben im Sinne des Konzept von Jean Monnet, welches besagt, dass über wirtschaftliche Entwicklung politische Integration zu erreichen ist. Die Türkei ist bis zum jetzigen Zeitpunkt das einzige Land, das der Zollunion beigetreten ist, ohne Vollmitglied der EU zu werden. Die beachtlichen Kosten des Beitritts in die Zollunion wurden mit eigener Kraft und ohne wesentliche finanzielle Hilfen aus Brüssel getragen. Darüber hinaus hat die Türkei die im Zollunionsvertrag festgeschriebenen Reformmaßnahmen nahezu vollständig im Parlament verabschiedet.

Die vollendete Integration der Türkei in die EU hängt von drei Grundvoraussetzungen ab

Erstens müssen ein stärkerer politischer Wille und eine gemeinsame Entschlossenheit seitens der EU-Mitglieder vorhanden sein, um der Türkei einen endgültigen Zeitplan über die weiteren Stationen für die Vollmitgliedschaft zu geben. Wenn die EU sich weiterhin zögerlich und unentschlossen verhält und auf Zeit spielt, besteht die Gefahr, dass die Führung der türkischen Regierungspartei AKP ihr Glück woanders suchen wird. Dies würde die totale Abkopplung der Türkei von Europa bedeuten.

Zweitens sollten Sonderfinanzhilfen für die Türkei ohne Vorbehalte zur Verfügung gestellt werden, um die vorgesehene wirtschaftliche Integration in die EU zu forcieren. Ankara sollte zumindest an den Entscheidungen bezüglich der Zollunion teilnehmen dürfen, die die Türkei direkt betreffen.

Drittens muss die türkische Regierung zuerst ihr eigenes Haus in Ordnung bringen und wirtschaftliche und politische Reformen ungebremst fortsetzen. Es steht unstreitbar fest, dass der Weg bis zur Vollmitgliedschaft für die Türkei sehr lang und sehr mühsam sein wird. Der Beitrittserfolg wird in erster Linie davon abhängen, ob die Türkei und die EU bereit sind, diesen langwierigen Prozess gemeinsam zu gehen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 210 Künftige Entwicklung der türkischen Außenpolitik

Für den weiteren Gang der Ereignisse kann man vier Szenarien entwerfen:

Szenario I: Vollmitgliedschaft Nach diesem Szenario wird die Türkei Mitglied der EU mit allen Rechten und Pflichten.

Szenario II: Keine Vollmitgliedschaft In diesem Szenario gibt es wiederum mehrere Optionen:

• Option 1: Privilegierte Partnerschaft Die Türkei ist Mitglied der EU ohne Beteiligung an den europäischen Institutionen. (Die CDU/CSU vertritt diese Meinung.)

• Option 2: Die Türkei wird durch die Union für das Mittelmeer an die Europäische Union angebunden. (Diesen Vorschlag vertritt der französische Präsident Sarkozy.)

• Option 3: Beitrittskandidat auf Ewigkeit (candidate forever)

Szenario III: No Europe Die Türkei kommt den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens näher und festigt eine strategische Partnerschaft mit der USA.

Szenario IV: Völlige Abkopplung Völlige Abkopplung von Europa und politische und wirtschaftliche Integration in den Mittleren Osten

Schlussfolgerung

Keiner weiß heute, ob die Türkei in absehbarer Zeit Mitglied der EU werden wird oder nicht. Wohin wird die Reise eigentlich gehen? Wir wissen nicht, wie die EU in den nächsten Jahrzehnten, wenn die Türkei beitreten würde, eigentlich aussieht.

Es wird stark vermutet, dass die Türkei weiterhin im westlichen Sicherheitsbündnis (NATO) bleiben wird. Wirtschaftlich gesehen wird die türkische Wirtschaft in die Europäische Wirtschaftsunion integriert werden. Aber gleichzeitig wird sie ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen in der eigenen Region entfalten.

In dem Fall einer Nicht-Mitgliedschaft in der EU wird sie ihre eigene und von Europa unabhängige Außenpolitik betreiben.

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Im Angebot: Alternativen zur EU-Mitgliedschaft Standpunkt Barbara Lippert

Von Dr. Barbara Lippert 3.2.2010

ist Forschungsdirektorin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Die EU-Erweiterung ist ein Auslaufmodell, glaubt Barbara Lippert. Deshalb habe die EU das Erweiterungstempo bereits erheblich gedrosselt. Um zu Stabilität und Wohlstand beispielsweise in den östlichen Nachbarländern beizutragen, solle die EU klären, welche anderen Optionen es unterhalb der Mitgleidschaft gibt.

Die EU-Erweiterung ist ein Auslaufmodell. Zwar wird die EU auch in den nächsten Jahren neue Mitglieder aufnehmen, zunächst wohl Kroatien und Island. Das südosteuropäische Land kann vielleicht Ende 2010 die technischen Verhandlungen abschließen. Island, ein Opfer der globalen Finanzkrise, will in kürzester Frist unter den Schutzschirm der EU schlüpfen. Und so mag es in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren mit anderen Ländern weitergehen, die in der EU einen sicheren Hafen suchen. So hat die EU die Beitrittsperspektive für Albanien, Montenegro, Mazedonien, Serbien und Bosnien- Herzegowina (sowie später Kosovo) seit dem Gipfel in Thessaloniki 2003 immer wieder bekräftigt.

Erweiterung - kein EU-Großprojekt

Dennoch addieren sich die sechs bis zehn Länder des Westbalkans und der EFTA nicht zu einem neuen Großprojekt Erweiterung, vergleichbar dem der Osterweiterung von 2004/2007. Die EU hat sich vielmehr auf die drei K - Konsolidierung der Beitrittsversprechen (also keine neuen politischen Verpflichtungen), strikte Erfüllung der Konditionen für den Beitritt und Kommunikation mit den und über die potentiellen Bewerberländer - zurückgezogen und drosselt das Erweiterungstempo. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP lautet die entsprechende Formel "Erweiterung mit Augenmaß", schon die Große Koalition versprach eine "umsichtige Erweiterung". Eurobarometer- Umfragen attestieren seit langem eine Erweiterungsmüdigkeit in der Bevölkerung der alten EU-15, von der gegenwärtig 52 Prozent gegen eine Fortsetzung der Erweiterung sind.

Es wäre aber nicht klug, diese erweiterungsskeptische Grundstimmung eins zu eins in praktische Politik zu übersetzen. Es geht für die EU nicht darum, nun an ihren Grenzen im Osten und Süden Stoppschilder aufzustellen und ihre Ambition aufzugeben, die wirtschaftliche Entwicklung und politische Ordnung in der Nachbarschaft der EU zu gestalten. Ganz im Gegenteil: Die Neuordnung Europas ist noch nicht abgeschlossen, und die EU bleibt das stärkste politische und wirtschaftliche Kraftfeld. Von dieser Erfolgsgemeinschaft wollen weitere Länder profitieren, gerade in Osteuropa. Sie behaupten allerdings, die EU-Beitrittsperspektive sei der ausschließliche Reform- und Modernisierungshebel, und insistieren wie etwa die Ukraine darauf, dass die EU ihnen den "Status" des potenziellen Mitglieds zuspricht.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 212 Optionen unterhalb der Mitgliedschaft

Für die EU stellt sich jedoch mit Blick auf die Ukraine, Moldova, Belarus und die Südkaukasus-Staaten nicht die Beitrittsfrage, sondern die Frage, wie sie wirkungsvoll zu Stabilität, Wohlstand und verantwortungsvoller Regierungsführung in diesen Ländern der Östlichen Partnerschaft (ÖP) beitragen kann. Dass dies nur gelingen könne, wenn sie sich heute politisch darauf festlege, irgendwann in ferner Zukunft die Ukraine oder Moldova aufzunehmen, verneint die EU, ohne jedoch die Tür für die Mitgliedschaft jetzt zuzuschlagen. In diesem Sinne stellt sie mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) und der ÖP andere Optionen ins Zentrum der bilateralen Beziehungen.

Damit knüpft die EU an die Vielfalt von Arrangements mit europäischen Drittstaaten an, die unterhalb der Mitgliedschaft liegen und eine funktionale Kooperation und Integration in ausgewählte Politikfelder der EU ermöglichen. Dafür kommt in erster Linie der Rechtsrahmen der Assoziierung in Betracht, der in zahlreichen Varianten ausgeformt worden ist und in der Kooperationsbreite und -intensität auf individuelle Interessenlagen der Vertragsseiten zugeschnitten werden kann. Demnach reichen Assoziierungen von bloßen Freihandelsabkommen bis hin zur Teilhabe am Binnenmarkt mit allen vier Grundfreiheiten (wie im EWR) und weiteren Beteiligungsformen an zentralen Politiken der EU, wie im Falle der Schweiz und Norwegens (Schengen, Umwelt u.a.). Die Türkei ist seit 1963 mit der EG/EU assoziiert und seit 1996 zudem in einer Zollunion verbunden, was Ankara in eine exzeptionelle Stellung bringt.

Zu den allen Assoziierungsabkommen gemeinsamen Elementen zählen: die politische Substanz, die Dauerhaftigkeit der Beziehungen, die Bilateralität und Parität bei gegenseitigen Rechten und Pflichten sowie bei den gemeinsamen Assoziierungsinstitutionen, das gemeinsame Vorgehen und die besonderen Verfahren. Die Integrationsgrenze ist jedoch scharf gezogen bei der Beteiligung an Entscheidungen und der Vertretung in den EU-Organen. Beides ist ausgeschlossen, möglich ist hingegen eine konsultative Beteiligung in der Vorbereitung und Implementierung von EU- Entscheidungen. Zum klassischen Programm der Assoziierung zählen: die Herstellung von Freizügigkeitsrechten vor allem für Güter, die Übernahme oder gegenseitige Anerkennung von Standards, die Einbindung von Assoziierten in Programme und Agenturen der EU sowie in gemeinschaftliche Politiken und andere Formen des Zusammenwirkens wie den politischen Dialog zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik und die finanzielle und technische Unterstützung. Zu den Varianten gehörten die Europaabkommen, die mit den unterdessen beigetretenen Staaten Mittel- und Osteuropas in den 1990er-Jahren abgeschlossen worden waren und keine Selbstverpflichtung der EU zur Aufnahme der Länder enthielten. Für diese Länder war jedoch der Gipfel von Kopenhagen 1993 der Startschuss für die Vorbereitung auf den Beitritt. Auch die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA), die die EU inzwischen mit sechs Ländern des Westbalkans abgeschlossen hat, liegen auf dieser Linie.

Die Assoziierungsabkommen mit Ländern der ÖP sollen einen neuen Typus von Assoziierungsabkommen schaffen, der sich aus diesem Angebot bedienen wird. Im Zentrum werden die umfassende und vertiefte Freihandelszone, der politische Dialog, die Fragen der Mobilität und die Energie-Zusammenarbeit stehen. Die Verhandlungen mit der Ukraine sollen 2010 abgeschlossen werden, und diesem Vorbild dürften bald Moldova und dann Georgien folgen. Diese bilateralen Vereinbarungen bilden auch das Rückgrat der ÖP, die zusätzlich Initiativen zur themenbezogenen multilateralen Zusammenarbeit der sechs osteuropäischen Staaten unter Mitwirkung der EU bietet.

Mit Ausnahme der EFTA-Länder handelt es sich bei den Nachbarn der EU um dysfunktionale, allenfalls teildemokratisierte Staaten mit Konfliktbeziehungen im Innern und/oder zu Nachbarn, die sie häufig nur mit Hilfe von externen Akteuren regeln können. Sie benötigen noch viele Jahre, um sich den politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Standards der EU zu nähern. Dafür erwarten sie von der EU eine Art Korsett aus Anforderungen und Belohnungen, wie es die EU schon mit der Heranführungsstrategie zur Unterstützung der mittelosteuropäischen Staaten entwickelt hat, damit diese die Beitrittskriterien von Kopenhagen erfüllen konnten. Die EU nutzt deren zentrale Elemente auch für die ÖP-Länder, um den Transfer von Regeln (Rechtsnormen,

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 213 technische Normen und Standards etc.), die Verbreitung von Modellen (transnationale und regionale Kooperation, sektorale Kooperation) und die Sozialisierung von Eliten (in Politik, Verwaltung, Rechtswesen etc.) voranzubringen. Dazu zählen: das länderspezifische, schrittweise Vorgehen (Gradualismus), das an die Erfüllung von politischen und anderen Kriterien (Konditionalität) geknüpft ist und die jeweiligen Fortschritte im Lichte präziser Vorgaben (benchmarks) misst. Wie bei den Ländern des Westbalkans wird die EU Probleme haben, die positive Konditionalität durchzusetzen. Nur wenn die osteuropäischen Eliten ihre nationalen Reformprogramme mit den Angeboten und Gestaltungsmöglichkeiten für spezielle Beziehungen zur EU verknüpfen, sind die gewünschten Effekte zu erwarten.

Lehren aus dem Sonderfall Türkei

Aus dem Sonderfall Türkei lassen sich einige Lehren für beitrittssuchende Staaten ableiten: Es ist nicht sinnvoll, dass die EU mit einem Land über den Beitritt verhandelt, bei dem die EU für sich die Frage des Ob nicht eindeutig geklärt hat. Also: eine Beitrittsperspektive muss glaubwürdig sein.

Die Entscheidung darüber, ob ein Land eine Lösung unterhalb der Mitgliedschaft als Endstufe akzeptiert oder weiter auf den Beitritt drängt, hängt allein von ihm ab. Es wird der EU auch auf die phantasievollste Weise nicht gelingen, eine Alternative zurechtzuzimmern, die den Rechten und Pflichten der Mitgliedschaft gleichkäme.

Aber es gibt keinen Rechtsanspruch von europäischen Staaten auf Mitgliedschaft. Weil die EU nein sagen kann und weil Kandidaten abwägen, ob sie ihre Interessen und Potentiale am besten als Mitglied der EU oder aber außerhalb in einer special relationship entfalten können, sind Optionen unterhalb der Mitgliedschaft für beide Seiten interessant. Selbst in der Türkei wird nun offener über die eigenen Handlungsspielräume und Interessen diskutiert, die nicht notwendigerweise an die EU-Mitgliedschaft geknüpft sind. Staatspräsident Gül sprach im Herbst 2009 davon, die Türkei könne den "Norwegischen Weg" einschlagen. Das wollte er wohl als Warnung verstanden wissen, dass am Ende die Türkei, wie Norwegen 1972 und 1994, den Beitrittsvertrag nicht ratifizieren und die EU so düpieren könnte. Legt man den Akzent beim Fall "Norwegen-EU" aber nicht auf das Nein, sondern auf die maßgeschneiderte sektorale Integration ohne Mitgliedschaft als Alternative, könnte dieser Perspektivwechsel neuen Schwung in die festgefahrene Erweiterungsdebatte bringen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 214

Erweiterung der EU Eine Auswahl von eurotopics.net

8.3.2010

Welche Grenzen wird die EU in Zukunft haben? Wann wird sie neue Staaten integrieren? Sind Erweiterungen um die Türkei oder Kroatien nicht längst überfällig? Ist Europa gar "erweiterungsmüde"? Stimmen aus der europäischen Presse.

Hier können Sie die eurotopics-Presseschau abonnieren.

Türkische Reformen wichtiger als EU-Beitritt Frankfurter Allgemeine Zeitung - Deutschland; Montag, 19. April 2010

Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül hat einem Bericht der türkischen Zeitung Hürriyet zu Folge die Bedeutung eines EU-Beitritts seines Landes relativiert und den Demokratisierungsprozess im Land im Zweifelsfall als wichtiger bezeicnet. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung lobt Güls Aussagen: "Es sind klare und wahre Worte. Aus den Äußerungen vieler türkischer Politiker und Repräsentanten konnte man in der Vergangenheit bisweilen schließen, die angestrebte Verwirklichung von Reformen diene nur dem Ziel der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Doch nun hat Gül dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass die europäischen Werte, denen man nacheifern will, in erster Linie um ihrer selbst willen und zum Nutzen des Landes anzustreben sind. Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte sind für alle Menschen wertvoll, unabhängig davon, ob man Mitglied in irgendeinem politischen Zusammenschluss oder einem sonstigen Bündnis ist. Es gibt demokratische Musterländer, etwa Norwegen, die nicht der EU angehören. Güls Worte sollten um der Türkei willen beherzigt werden, nicht wegen Brüssel." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE68674- Tuerkische-Reformen-wichtiger-als-EU-Beitritt)

Europa ist erweiterungsmüde Postimees - Estland; Dienstag, 23. Februar 2010

Seit dem 1. Dezember 2009 ist der Lissabon-Vertrag in Kraft. Obwohl der Vertrag auch die Grundlage für eine Debatte über die künftigen Grenzen der EU schaffen sollte, redet im Moment niemand mehr von einer EU-Erweiterung, bemerkt die Tageszeitung Postimees: "Der Stern des Themas EU- Erweiterung begann aber schon früher zu sinken, und wirklich populär war das Thema in Westeuropa schon 2005 nicht mehr - das war auch einer der Gründe für das Scheitern der Verfassung bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. Die folgende interne Krise der EU hat die Sache nicht besser gemacht, und darum ist seit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien im Wesentlichen nur noch von Kroatien als künftigem Mitglied die Rede. Im letzten Jahr wurde zwar auch Island auf die Liste gesetzt, aber das spielt in einer ganz anderen Liga. Die übrigen Kandidatenländer auf dem Balkan und die Türkei sind jedoch in Vergessenheit geraten, und das wird sich im kommenden Jahrzehnt kaum ändern." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE66080- Europa-ist-erweiterungsmuede)

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Timothy Garton Ash über die EU-Perspektiven der Ukraine Respekt - Tschechien; Mittwoch, 17. Februar 2010

Auch unter einem künftigen Präsidenten Viktor Janukowitsch ist die Ukraine nach Überzeugung von Timothy Garton Ash nicht verloren für Europa. In einem Gastbeitrag für die liberale Wochenzeitung Respekt plädiert der britische Politologe und Historiker deshalb dafür, Kiew eine europäische Perspektive anzubieten: "Diese Aufgabe kommt Catherine Ashton zu, der Außenbeauftragten der EU. Europa muss jetzt Klartext reden: 'Wir wollen Euch als Mitglied in der EU, wenn ihr die Bedingungen dafür erfüllt. Das ist in unser beider Interesse.' Es wird den Führern der EU nicht leicht fallen, so etwas zu sagen, aber Frau Ashton sollte dafür den Weg ebnen. ... Für die gewöhnlichen Ukrainer gibt es eine Sache, die ihnen das Leben bedeutend erleichtern würde - die Befreiung von den EU-Visa- Restriktionen. Jeder, der den psychologischen Nutzen der Einführung visafreier Beziehungen zwischen der EU und Serbien im vergangenen Dezember gesehen hat, weiß, wovon die Rede ist. Ja, das scheinen alles langweilige, uninteressante Aktivitäten zu sein. Aber gerade in denen ist die EU wirklich gut. Auch eine Schildkröte kann in manchen Fällen den russischen Hasen überholen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65771- Timothy-Garton-Ash-ueber-die-EU-Perspektiven-der-Ukraine)

Kroatien kann bald EU beitreten Neue Zürcher Zeitung - Schweiz, Dienstag, 12. Januar 2010

In Kroatien treten zwei proeuropäische Politiker ab, der ehemalige Premier Ivo Sanader und der bisherige Präsident Stjepan Mesić. Aber die Aussichten auf einen baldigen EU-Beitritt des Landes bleiben gut, schreibt die Neue Zürcher Zeitung: "Kroatien ist das einzige Land auf dem westlichen Balkan, das die Chance hat, innert zwei Jahren in die EU aufgenommen zu werden. Im Endspurt bleibt allerdings viel zu tun, vor allem im Bereich der Justizreform und der Korruptionsbekämpfung. Auch sind unpopuläre Massnahmen zur Sanierung der Wirtschaft unerlässlich. Ähnlich wie Rumänien und Bulgarien, die auf der Zielgeraden unter intensiver Beobachtung standen, wird auch der Druck der EU auf Kroatien zunehmen. Im Falle Rumäniens und Bulgariens hat sich deutlich gezeigt, dass die Einflussmöglichkeiten Brüssels nach dem Beitritt beschränkt sind. Die Ansicht, die beiden Länder seien zu früh aufgenommen worden, ist weit verbreitet. Die Chancen, dass Kroatien sein grosses Ziel erreichen wird, stehen dennoch gut." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE63843- Kroatien-kann-bald-EU-beitreten)

Dominique Moïsi kritisiert europäische Türkei-Politik Les Echos - Frankreich; Montag, 11. Januar 2010

Die Türkei hat auch für ihre Bürger Reisefreiheit gefordert, nachdem die EU die Visapflicht für Serbien, Mazedonien und Montenegro im Dezember aufgehoben hatte. Dominique Moïsi, Berater des Instituts für internationale Beziehungen (IFRI), warnt in der Tageszeitung Les Echos vor einer Vernachlässigung der Türkei: "'Wir werden das Deutschland haben, das wir verdienen'. So äußerte sich 1945 der visionäre [französische Historiker] und KZ-Überlebende Joseph Rovan. Er beschrieb damit die Herausforderung vor der Frankreich, Europa und die gesamte internationale Gemeinde standen. Darf der Ausdruck von Joseph Rovan heute für die Türkei verwendet werden, oder bedeutet er eine künstliche und sogar gefährliche Annäherung, eine historische Vereinfachung? Obwohl die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei heute nicht mehr so spektakulär im Rampenlicht steht wie gestern, quält sie die verantwortlichen Geister noch immer. Es ist kein Thema, das mit Verachtung behandelt werden kann, indem man hofft, dass es von selbst verschwinden wird. ... Die Türkei von 2010 ist nicht mehr die von 2000. Ihre regionalen Ambitionen nehmen nach und nach zu und die Hoffnungen, eines Tages der Union beizutreten, verschwinden."

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zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE63798- Dominique-Moisi-kritisiert-europaeische-Tuerkei-Politik)

Serbien ist willkommen Dagens Nyheter - Schweden; Dienstag, 22. Dezember 2009

Serbien und andere Balkanländer könnten der EU als neue Mitglieder Vorteile bringen, schreibt die Tageszeitung Dagens Nyheter, doch sie müssen noch viel tun: "Die Balkanländer sind europäisch und gehören der Gemeinschaft auf natürliche Weise an. Wenn sie nicht in die EU aufgenommen werden, besteht die Gefahr, dass ihr Gefühl der Isolation wächst. Das übrige Europa kann durch eine Beschleunigung des Prozesses viel gewinnen. So wird es leichter, Rauschgifthändlern auf die Spur zu kommen, wenn der westliche Balkan an der EU-weiten Verbrechensbekämpfung teilnehmen kann. ... Gleichzeitig ist die nächste Erweiterung ein neues und komplizierteres Vorhaben. Mehr arme Mitgliedsländer werden die Gemeinschaft und die Solidarität innerhalb der Union auf die Probe stellen. Bei einigen der Länder handelt es sich zudem um schwache Staaten. Bevor die EU sie als Mitglieder aufnehmen kann, müssen sie aufgebaut werden. ... An Serbien und an alle eventuell werdenden Mitglieder müssen harte Forderungen gestellt werden. Aber der Besuch von Präsident Tadić ist willkommen und belegt die weiterhin starke Anziehungskraft der Union." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE63123- Serbien-ist-willkommen)

Pekka Sitari über alternative EU-Mitgliedschaften Karjalainen - Finnland; Dienstag, 20. Oktober 2009

Pekka Sitari bezieht sich in der Tageszeitung Karjalainen auf eine in der gleichen Zeitung erschienene Kolumne der Europaparlamentarierin Riikka Manner der finnischen Zentrumspartei, die ihre Befürchtung gegenüber einer zu schnellen Erweiterung der EU äußerte, die die EU unkontrollierbar machen würde. Pekka Sitari schreibt dazu - am Beispiel der Türkei -, dass künftige Mitgliedsländer nicht nur als Vollmitglieder in die EU integriert werden sollten: "Die EU ... stellt sich positiv zu einer möglichen Mitgliedschaft der Türkei ... . Das Schlimmste, was passieren könnte wäre, dass die Türkei ihre Rechtsvorschriften und auch ihre Gesellschaft EU-konform macht, aber dass das Projekt langfristig bei ein paar alten Mitgliedsländern auf Widerstand stößt. Er [der EU-Beitritt der Türkei] wird in jedem Fall auch kräftig an den Beziehungen der Nato sowohl zur europäischen wie auch zur islamischen Welt rütteln. Eine Möglichkeit [der Einbindung möglicher künftiger EU-Mitglieder] könnte sein, dass die EU eine Art Gruppe von Kandidaten-Ländern schafft, die keine Vollmitgliedschaft besitzen. Diese Länder machen klar deutlich, dass sie an der Entwicklung der westeuropäischen Gemeinschaft teilnehmen und können so ihre Gesellschaft und Wirtschaft zielgerichtet entwickeln." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE59592- Pekka-Sitari-ueber-alternative-EU-Mitgliedschaften)

Enn Soosaar über die Zukunft Europas Postimees - Estland; Freitag, 5. Juni 2009

Der Kolumnist Enn Soosaar überlegt in der Tageszeitung Postimees, ob es nach einer Annahme des Lissabon-Vertrags eher zu einer Erweiterung oder einer Vertiefung der EU kommen würde: "Wir müssen begreifen, dass es nicht möglich ist, beide positiven Ziele gleichzeitig zu erreichen. Aber es lässt sich in jedem Fall nachweisen, dass die Ausdehnung der demokratischen Gesellschaftsordnung und des gemeinsamen Marktes nach Osten ein Gewinn für Europa war - sowohl für die alten als auch für die neuen Mitgliedstaaten. Freilich gibt es dabei auch Verluste zu beklagen, und vor diesen dürfen wir Europäer nicht die Augen verschließen. Je mehr Meinungen, Interessen und Bedürfnisse es in den Staaten gibt, je vielfältiger der kulturelle Hintergrund der Entscheidungsträger ist und je mehr

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 217 unterschiedliche Wurzeln ihre Werte haben, desto schwieriger wird es, zu einem Kompromiss zu gelangen. Die Erfahrungen der letzten Jahre sollten Anlass zum Nachdenken geben: Meinungsverschiedenheiten und divergierende Vorstellungen können am Ende die Handlungsfähigkeit der EU in Frage stellen. Gleichzeitig sollten wir aber auch nicht übersehen, dass Meinungsvielfalt und unterschiedliche kulturelle Perspektiven in mancher Hinsicht auch belebend sein können." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE51747- Enn-Soosaar-ueber-die-Zukunft-Europas)

Olli Rehn über die erfolgreiche Erweiterungspolitik der EU Delo - Slowenien; Montag, 20. April 2009

Fünf Jahre nach der größten EU-Erweiterung zieht der zuständige EU-Kommissar Olli Rehn in seinem Gastkommentar in der Tageszeitung Delo eine positive Bilanz und blickt hoffnungsvoll in die Zukunft: "Zugleich haben wir mit unserer EU-Erweiterungsperspektive die erfolgreiche Stabilisierungspolitik in Südosteuropa fortgesetzt. Wir dürfen unsere Bemühungen um den Frieden und die gesellschaftliche Entwicklung in dieser Region nicht unterbrechen. Denn es handelt sich um Bemühungen, die im Interesse Europas und der Europäer stehen. Die Völker der Region sind historisch, kulturell und wirtschaftlich bereits mit Europa verbunden. Die EU hilft ihnen dabei, ihre demokratisch legitimen Träume zu verwirklichen. Auch das schnellste Beitrittsszenario für das nächste neue Mitgliedsland, das wahrscheinlich Kroatien sein wird, ist langsamer als das am vorsichtigsten geplante Szenario der Ratifikation des Lissaboner Vertrags. Die Zeit ist auf unserer Seite: Wir können mit der gleichzeitigen Vertiefung und Erweiterung der Integration fortfahren. Das war schon immer und wird auch immer das beste Rezept für den Bau eines starken und vereinten Europa sein." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE48921- Olli-Rehn-ueber-die-erfolgreiche-Erweiterungspolitik-der-EU)

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Binnenmarkt

22.4.2010

Der EU-Binnenmarkt ist eine der größten Errungenschaften der europäischen Gemeinschaft. So einfach sein Prinzip auch ist, so kompliziert und umstritten ist seine Umsetzung. Welche Regeln sind nötig? Und wie viel Freiheit verträgt der Markt?

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Der Europäische Binnenmarkt – Erfolgsmodell mit sozialer Schieflage?

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 22.4.2009

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Das Prinzip des EU-Binnenmarktes ist schnell erklärt: Jeder kann da einkaufen, investieren und arbeiten, wo er will. Doch der Binnenmarkt stellt die Mitgliedsländer und die Bürger Europas auch vor neue Herausforderungen.

Der Binnenmarkt der Europäischen Union ist sicherlich eine der großen Errungenschaften der europäischen Integration. Er ist schnell erklärt: Jede und jeder kann da einkaufen, investieren und arbeiten, wo er oder sie will. So einfach allerdings das Prinzip ist, so kompliziert und umstritten ist seine Umsetzung. Das hat im Wesentlichen mit zwei Faktoren zu tun: Zum einen geht es um das Ausmaß der Regelungen, die zu treffen sind, damit ein solcher Binnenmarkt funktioniert, zum anderen wird die Frage kontrovers diskutiert, wie viel sozialer Schutz im Binnenmarkt angemessen ist.

In jedem Land regelt eine Vielzahl von Gesetzen und Vorschriften den Warenverkehr, dabei handelt es sich um Sicherheitsstandards, um Umweltauflagen und um Vorschriften des Verbraucherschutzes. Wenn nun verschiedene Länder ihren Markt zusammenlegen, und das ist im Grunde genommen das, was durch den Binnenmarktes geschehen ist, muss man sich auf gemeinsame Standards einigen. Eine Wurst aus Polen darf anders schmecken als eine aus Deutschland, aber sie soll dieselben gesundheitlichen und hygienischen Normen erfüllen, um die Verbraucher zu schützen. Das Ergebnis ist eine neue Vielzahl von Regelungen auf EU-Ebene, die den Binnenmarkt charaktisieren.

Edmund Stoiber, früherer bayerischer Ministerpräsident und jetzt Vorsitzender der vom EU- Kommissionspräsidenten eingesetzten Hochrangigen Gruppe zum Bürokratieabbau in Europa, sagt in seinem Beitrag: "Tausende Parlamentarier und Beamte in ganz Europa sind ständig damit beschäftigt, das Leben der Menschen mit immer neuen Regelungen zu verbessern. Und die Ziele, die sie damit verfolgen, sind ja in aller Regel auch richtig und ehrenwert."

In der Tat wird auf jedes Unglück oder auf jede Krankheit mit neuen Vorschriften reagiert, um zu verhindern, dass dasselbe noch einmal geschieht. So wächst der Berg der Vorschriften ständig an. "Bananenbürokratie" nennt das der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und ruft den Bürgern in einem Vortrag und einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vom 3. Februar 2010) zu: "Wehrt Euch!" Enzensberger konstatiert einen "Regelungswahn der Brüsseler Behörden", den er darauf zurückführt, dass die Beamten der Kommission damit ihre eigenen Stellen sichern wollen. Ziel der Europäischen Kommission sei es, die Bürger der EU umzuerziehen, die sie für unmündig halte: "Wir rauchen, wir essen zu viel Fett und Zucker, wir hängen Kruzifixe in Schulzimmern auf, wir hamstern illegal Glühbirnen, wir trocknen unsere Wäsche im Freien, wo sie nicht hingehört. Wir bilden uns ein, wir können selbst entscheiden, wem wir unsere Wohnung vermieten. Wir protestieren, wenn man uns verbietet, den Apfelwein Apfelwein zu nennen. Wir benutzen Kondome, die mehr als zwei Millimeter von der normalen Weite abweichen, und wir lassen uns den gefährlichen Rohmilchkäse schmecken."

Eine solche – zumal sprachlich gut vorgetragene - Kritik findet Beifall, auch bei vielen, die nicht wissen, worauf Enzensberger im Einzelnen anspielt. Da ist zum Beispiel die Geschichte mit dem Apfelwein, die gut die Tücken des Binnenmarkts illustriert. Für Waren, also auch für Getränke, muss es klare

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Definitionen geben. Jeder Supermarktkunde weiß, wenn auf einem Obstsaft "Saft" steht, besteht er zu 100 Prozent aus Fruchtsaft, ohne den Zusatz von Wasser und Zucker. Ob der Saft aus Spanien oder aus Deutschland kommt, ist egal. In gleicher Weise hat man auch festgelegt, dass Wein aus Trauben hergestellt sein muss. Das ist der Apfelwein natürlich nicht, er ist also kein Wein. Jedem deutschen Verbraucher ist das selbstverständlich klar, aber was ist mit einem Kunden in Großbritannien, der die Flasche sieht und "...wein" liest? Deshalb wollte die Europäische Kommission im Interesse der Verbraucherinformation untersagen, den Apfelwein so zu nennen – ein Vorhaben, das nach Protesten aus Deutschland übrigens zu den Akten gelegt wurde.

Enzensberger hat daher auf seinen Beitrag auch harsche Kritik geerntet. Der Jura-Professor Norbert Reich wies den Schriftsteller in einem Leserbrief (in der FAZ vom 5. Februar 2010) darauf hin, dass es den EU-Binnenmarkt gebe und fuhr fort: "Dann müssen eben auch die Hygienestandards für überall in der EU verkaufte Kondome angeglichen sein, und wenn man auf energieintensive Glühlampen verzichten will, muss dies schon EU-einheitlich geschehen".

Edmund Stoiber nennt ein anderes Beispiel, nämlich das drohende Verbot von Duschköpfen mit hohem Wasserverbrauch. Er spricht sich nicht dagegen aus, weist aber darauf hin, dass die Diskussion letztlich um die zentralen Kategorien Freiheit und Sicherheit geführt werde und plädiert für eine gesellschaftspolitische Diskussion dieses Spannungsverhältnisses. Dass man bürokratische Regelungen auch wieder abschaffen kann, macht er an den Empfehlungen seiner Arbeitsgruppe deutlich, die bereits zu Einsparungen bei Unternehmen in der Höhe von 25 Milliarden Euro geführt hätten.

Auch der FDP-Europa-Abgeordnete Jürgen Creutzmann warnt vor einer Überregulierung des Binnenmarktes. Dabei denkt er allerdings nicht nur an Vorschriften zur Dokumentation und komplizierte Antragsverfahren, sondern auch an soziale Regelungen: "Wenn wir die soziale Marktwirtschaft auf dem EU-Binnenmarkt mit zu viel Bürokratie, zu hohen Steuern und Abgaben und zu hoch angesetzten Standards zu sehr belasten, kann es passieren, dass wir nicht das Wachstum erreichen, das wir zur Sicherung unserer sozialen Systeme brauchen." Bei sozialen Regelungen müsse berücksichtigt werden, dass zu weit gehende soziale Rechte dazu führen würden, dass Europa seine Wettbewerbsfähigkeit verliere.

Ganz im Gegensatz dazu fordert die Gewerkschafterin Annelie Buntenbach ein "Europa des sozialen Fortschritts" und warnt davor, durch die "Überbewertung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten massiv in die nationalen Tarifsysteme" einzugreifen.

Der Hintergrund dieser Warnung bezieht sich auf die großen Unterschiede im Wohlstand und im Arbeitseinkommen, die es innerhalb der Europäischen Union gibt. Niedrigere Lohnkosten in der Slowakei führen dazu, dass ein Produkt dort kostengünstiger hergestellt werden kann als in Dänemark. Beim Warenhandel ist dies allgemein akzeptiert und führt bei uns allen dazu, dass wir oft ausländischen Produkten (aus EU-Ländern oder auch aus anderen Staaten) den Vorzug vor heimischen Produkten geben – wenn diese überhaupt noch hergestellt werden. Schwieriger wird es, wenn Arbeitskräfte aus dem Ausland ihre Arbeitsleistung bei uns gegen einen niedrigeren Lohn anbieten. Sie schädigen sich damit zwar einerseits selbst, weil sie ja weniger verdienen, haben aber andererseits durch diesen Wettbewerbsvorteil die Chance, überhaupt einen Job zu bekommen.

Was für den einzelnen Arbeitnehmer gilt, trifft in ähnlicher Weise auch auf EU-ausländische Unternehmen zu, also beispielsweise ein polnisches Handwerksunternehmen, das seine Dienste in Deutschland anbietet. Viele befürchten, dass dadurch ein Wettlauf nach unten in Gang gesetzt wird, dass also die Arbeitnehmer des Landes, in dem die kostengünstigeren Arbeitskräfte oder Unternehmen ihre Leistung anbieten, auch bald mit ihren Lohn- und Sozialschutzforderungen heruntergehen müssen, weil sie sonst keinen Job mehr bekommen.

Die Auseinandersetzungen, die über diese Fragen geführt werden, beschäftigen auch regelmäßig den

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Europäischen Gerichtshof (EuGH), der entscheiden muss, ob eine Schutzregelung oder eine dem Sozialschutz dienende Arbeitskampfmaßnahme rechtens und mit dem Binnenmarkt vereinbar ist oder nicht. Mit seinen Urteilen, von denen einige im Beitrag von Annelie Buntenbach erwähnt sind, ist der EuGH in den vergangenen Jahren oft auf heftige Kritik gestoßen. Die Bundestagsfraktion "Die Linke" nennt diese Urteile in einer Stellungnahme (vom Mai 2008) einen "Generalangriff auf Tarifautonomie und Arbeitnehmerrechte" und Annelie Buntenbach stellt die Frage, ob wir wirklich wollen, dass "auch in Zukunft Wettbewerb vorrangig über Sozial- und Steuerdumping ausgetragen" wird.

Ursula Polzer, bei einem Automobilunternehmen für die Industriebeziehungen in Europa zuständig, weist kritisch darauf hin, dass durch die Binnenmarktregeln gewachsene nationale Strukturen, auch im Bereich des sozialen Schutzes, zerstört werden und geht dabei mit dem EuGH ins Gericht. Dieser, so der Vorwurf, versuche nicht, die Grundrechte wie Tarifautonomie und Streikrecht mit den Vier Freiheiten des Binnenmarktes (Freiheit von Kapital, Arbeit, Waren und Dienstleistungen) in Einklang zu bringen, "sondern ordnet die Grundrechte den Marktfreiheiten unter". Den früheren Bundespräsidenten und ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog führt das zu dem Ausruf "Stoppt den Europäischen Gerichtshof!" (FAZ vom 8.9.2008).

Anlass der harschen Kritik des früheren deutschen Staatsoberhaupts war eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Verbot der Altersdiskriminierung in Deutschland. Der Europarechtler Franz C. Mayer akzeptiert eine solche Kritik am Europäischen Gerichtshof nicht und kommt zu der Feststellung: "Der EuGH hat bisher durch seine Rechtsprechung zur Entwicklung zusätzlicher sozialer Elemente in der Union beigetragen." (Der EuGH und das soziale Europa, S. 7)

Ursula Polzer weist darauf hin, dass die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen eine nationale Zuständigkeit sei, während der Binnenmarkt in die europäische Kompetenz falle. Sie fordert daher eine "Verstärkung der sozialen Dimension in der EU und eine Europäisierung der Sozialpolitik".

Wie viele Regeln braucht der Binnenmarkt und wie viel Regulierung verträgt er? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten und die Überlegungen unterscheiden sich je nach politischer und sozialer Stellung sehr stark voneinander. Tatsächlich werden Freiheit und soziale Sicherheit immer wieder neu in der Diskussion und auch im Streit bestimmt werden müssen. Ein einfaches Richtig oder Falsch gibt es nicht.

Literatur

Alexandra BAUM-CEISIG, Klaus BUSCH, Claudia NOSPICKEL: Die Europäische Union. Eine Einführung in die politischen, ökonomischen und sozialen Probleme des erweiterten Europa, Baden- Baden 2007

Berthold BUSCH: Der EU-Binnenmarkt. Anspruch und Wirklichkeit, Köln 2009

EUROPÄISCHE KOMMISSION: Binnenmarktanzeiger (= Bericht zum Stand der Umsetzung der Binnenmarktregeln in den Mitgliedstaaten), Brüssel 2010 (PDF-Version, englisch (http://ec.europa.eu/ internal_market/score/docs/score20_en.pdf))

FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG (Hrsg.): Der EuGH und das soziale Europa, Internationale Politikanalyse, Mai 2009 (PDF-Version (http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/06391.pdf))

Martin HÖPNER: Usurpation statt Delegation: wie der EuGH die Binnenmarktintegration radikalisiert und warum er politischer Kontrolle bedarf., Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Discussion Paper 08/12, Köln 2008 (PDF-Version (http://www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp08-12.pdf))

Hans-Herbert VON ARNIM: Das Europa-Komplott: Wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln, Wien 2006

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Internet

Dossier Europäische Union der bpb (http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/) europa.eu (Internetseite der Europäischen Kommission zum Binnenmarkt) (http://ec.europa.eu/ internal_market/strategy/index_de.htm) europarl.de (Internetseite der Vertretung des Europäischen Parlaments in Deutschland) (http://www. europarl.de) auswaertiges-amt.de (Europa-Seite des Auswärtigen Amtes) (http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/ de/Europa/Uebersicht.html) cafebabel.de (mehrsprachige kostenlose Internetzeitschrift, die sich speziell an ein jüngeres Publikum richtet) (http://www.cafebabel.de) euractiv.de (unabhängiger kostenloser Informationsdienst über die Entwicklungen in der Europäischen Union) (http://www.euractiv.de)

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EU-Bürokratieabbau im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit Standpunkt Edmund Stoiber

Von Dr. Edmund Stoiber 22.4.2010 Dr. Edmund Stoiber war von 1993 bis 2007 Ministerpräsident des Freistaates Bayern. Er ist Vorsitzender der Hochrangigen Gruppe zum Bürokratieabbau in Europa (HLG), die den Präsidenten der Europäischen Kommission berät.

Die "Regulierungswut" der EU verdunkelt oft das Bild von Europa und dem europäischen Binnenmarkt. Daher fordert Edmund Stoiber, dass Entscheidungen, die in den Lebensalltag der Menschen eingreifen, intensiver mit den Bürgern diskutiert werden.

Bei der Rechtsetzung der EU standen lange Zeit die politischen Ziele einer Regelung im Vordergrund, während die bürokratischen Lasten, die sich als "Kollateralschäden" ergaben, vernachlässigt wurden. Die "Regulierungswut" der EU verdunkelt zunehmend das positive Bild von Europa. Fragt man heute Bürgerinnen und Bürger, was sie in erster Linie mit der EU verbinden, so sind dies nicht die unbestreitbaren Erfolge wie Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand, sondern Fehlentwicklungen wie mangelnde Transparenz und übermäßige Bürokratie.

Laut einer aktuellen offiziellen Umfrage im Auftrag der EU-Kommission, dem "Eurobarometer", sind dies in Deutschland, Österreich, den Benelux-Staaten, Großbritannien und Skandinavien mehr als ein Drittel der Befragten - in Deutschland sind es 38 Prozent. Konkrete Beispiele gibt es zur Genüge: seien es komplizierte Vorgaben zur Beantragung von Fördermitteln, umfangreiche statistische Anforderungen auch für kleine Unternehmen oder ähnliches mehr. Die EU wird von vielen als bürokratisches Monster, als Moloch angesehen, mit undurchschaubaren Strukturen und Verfahren. Diese Einstellung untergräbt auf Dauer das Fundament der europäischen Einigung. Diese Entwicklung dürfen wir nicht einfach hinnehmen.

Allerdings ist das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen widersprüchlich: Auf der einen Seite wird zwar die Bürokratie beklagt: Auf der anderen Seite werden neue Regelungen zur Verbesserung des Lebens gerade zu eingefordert. Tausende Parlamentarier und Beamte in ganz Europa sind ständig damit beschäftigt, das Leben der Menschen mit immer neuen Regelungen zu verbessern. Und die Ziele, die sie damit verfolgen, sind ja in aller Regel auch richtig und ehrenwert. Letztlich ist die eigentlich große Frage bei der Bürokratie das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit. Zwar wird die Bürokratie beklagt, aber die Sicherheit hat hohe Konjunktur.

Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion um Duschköpfe. Nach dem Glühbirnen-Verbot will die EU jetzt auch Duschköpfe aus dem Verkehr ziehen. Eine neue EU-Richtlinie besagt, dass künftig auch für Produkte, die den Energieverbrauch beeinflussen, strenge Standards gelten sollen. Damit droht Duschköpfen mit hohem Wasserbrauch oder schlecht isolierten Fenstern das Aus. Die Hersteller müssen detailliert dokumentieren, wie viel Energie Herstellung, Verpackung, Installation, Nutzung und Entsorgung des Produkts verbrauchen. Bei Verstößen sollen "abschreckende" Strafen drohen. Auch wenn Energiesparen ein guter Zweck ist, müssen solche Entscheidungen, die ja in den Lebensalltag eingreifen, intensiver als bisher mit den Bürgerinnen und Bürgern Europas diskutiert werden und die Vorgaben für Unternehmen möglichst wenig belastend sein.

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Meine Erfahrung zeigt, dass sehr häufig Fachpolitiker, also Experten für einen ganz bestimmten Politikbereich, in bester Absicht immer neue Regelungen erarbeiten. Aber die Nebenwirkungen spielen bei einer solchen fachzielorientierten Politik oft keine wesentliche Rolle. Und wenn in der allgemeinen Debatte das Kostenargument angewandt wird, dann hat der Fachpolitiker oft das vermeintlich bessere Argument für sich. Dann geht es oft sehr schnell um so hohe Schutzgüter wie Leben, Gesundheit, eine saubere Umwelt oder den Schutz des Verbrauchers! Das ist die tiefere Ursache des bekannten Phänomens, dass in Sonntagsreden im Grunde alle für weniger Bürokratie eintreten. Ab Montag dann, also bei der Umsetzung, gibt es aber immer viele, viele Gründe, weshalb bestimmte Vorschriften fachlich unbedingt notwendig sind.

Deshalb plädiere ich auch dafür, wesentliche politische Fragen wieder von den Fachausschüssen mehr ins Plenum, also in die allgemeine politische Debatte zu verlagern. Sonst wird Bürokratieabbau auch in Zukunft in vielen Fällen ein Lippenbekenntnis bleiben. Hier brauchen wir eine gesellschaftspolitische Diskussion für ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Sicherheit auf der einen Seite und Freiheit auf der anderen Seite. Dafür brauchen wir ein neues Denken in Europa, dafür brauchen wir auch ein Stück Mut zur Lücke.

Die von mir geleitete Expertengruppe zum Bürokratieabbau berät die EU-Kommission ehrenamtlich bei der Überprüfung bürokratischer Belastungen für Unternehmen aufgrund des bestehenden europäischen Rechts. Ziel der EU-Kommission ist es, die dreiundzwanzig Millionen Unternehmen in der EU von überflüssiger Bürokratie zu entlasten, indem bis 2012 25 Prozent der durch Informationspflichten verursachten Kosten abgebaut werden. Damit soll ein zusätzliches Wachstum von 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU mobilisiert werden.

Die Gruppe hat in gut eineinhalb Jahren die dreizehn wichtigsten Politikbereiche der EU durchforstet und über 160 Vereinfachungsvorschläge vom europäischen Gesellschaftsrecht bis zum Fischereiwesen gemacht. Das Einsparvolumen der verabschiedeten Vorschläge beträgt rund 41 Milliarden Euro. Ich will drei wichtige Vorschläge beispielhaft erläutern: Heute verlangen die Bilanzierungsvorschriften der EU von jedem noch so kleinen Unternehmen eine EU-Handelsbilanz und eine Rechnungsprüfung. Wir haben vorgeschlagen, dies für Unternehmen mit bis zu 10 Mitarbeitern und einem Umsatz von weniger als 1 Million Euro sowie einer Bilanzsumme von weniger als 500.000 Euro abzuschaffen. Denn diese Betriebe sind zum ganz überwiegenden Teil nicht grenzüberschreitend tätig. Dadurch würde jeder Betrieb im Durchschnitt 1.200 Euro jährlich einsparen, insgesamt würden die Kleinstunternehmen um mehr als 6 Milliarden Euro entlastet werden.

Ein weiterer Vorschlag: Wenn die elektronische Rechnung bei der Erhebung der Mehrwertsteuer vom Finanzamt genauso wie eine Rechnung in Papierform anerkannt würde, könnten die Betriebe beim Ausstellen der rund 40 Milliarden Rechnungen im Jahr europaweit 18 Milliarden Euro einsparen, da der Aufwand deutlich verringert würde. Ein letztes Beispiel, das insbesondere für deutsche Handwerker wichtig ist: Derzeit müssen Handwerkbetriebe bei Fahrten mit Fahrzeugen über 3,5 Tonnen, die über einem Radius von 50 Kilometer hinaus tätig sind, einen digitalen Tachographen benutzen, um die Einhaltung der Lenk- und Ruhezeiten nachweisen zu können.

Auf unser Drängen hat die Kommission jetzt eine Ausweitung der Ausnahmeregelung auf 100 Kilometerangekündigt. Damit würden rund 70 Prozent der betroffenen Handwerksbetriebe nicht unter die Tachographenpflicht fallen. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings sollte die Ausnahme mindestens einen Radius von 150 Kilometern umfassen, wie dies vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) vorgeschlagen worden war. Dieser Vorschlag wurde am 13. Mai 2009 in Prag mit dem 1. Preis des von der Hochrangigen Gruppe zum Bürokratieabbau in Europa (HLG) initiierten europaweiten Wettbewerbs zum EU-Bürokratieabbau ausgezeichnet.

Die EU-Kommission hat bereits Maßnahmen im Umfang von mehr als 25 Milliarden Euro übernommen und beschlossen. Darüber hinaus hat die Gruppe zahlreiche Vorschläge von Bürgern, Unternehmern und Verbänden erhalten. Auch aus diesen Eingaben wurden bisher über 100 Maßnahmen auf den

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Weg gebracht. Damit diese Entlastungen möglichst rasch in Kraft treten können, sind nun das Europäische Parlament und der Rat, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind, gefordert, diesen Vorschlägen zuzustimmen. Denn gerade in Zeiten der Krise müssen wir alles tun, um unsere Wirtschaft anzukurbeln. Jede Maßnahme dazu begegnet sofort der Frage nach der Finanzierung. Einzig und allein beim Bürokratieabbau ist das anders: Die Entlastung der Unternehmen von überflüssiger Bürokratie kostet den Staat keinen Cent.

Präsident Barroso und der damalige Vizepräsident Verheugen haben dieses Potential erkannt und als erste den Bürokratieabbau ganz oben auf die Tagesordnung der Europäischen Kommission gesetzt. Und ich stelle fest, dass sich in Brüssel bereits eine neue Denkkultur durchsetzt nach dem Motto "weniger ist mehr". Die EU-Kommission geht hier mit gutem Beispiel voran. Ich fordere angesichts der ökonomischen und politischen Bedeutung dieses Themas auch die Mitgliedstaaten dazu auf, überflüssige Bürokratie abzubauen und damit ein zusätzliches, kostenloses Konjunkturprogramm zu starten. Die Entlastung kleiner und mittlerer Betriebe muss die Basis sein für einen neuen Aufschwung nach der Überwindung dieser Wirtschaftskrise.

Die Ergebnisse unserer Arbeit habe ich im Herbst 2009 Präsident Barroso übergeben. Aus den Erfahrungen der vergangenen eineinhalb Jahre habe ich Präsident Barroso einen unabhängigen "Bürokratie-Check" vorgeschlagen, der auch neues Recht auf Bürokratiekosten prüft. Denn es kann nicht allein darum gehen, dass wir bürokratische Lasten abbauen, während gleichzeitig eine Vielzahl neuer Regelungen entsteht. Dafür haben Bürger, Unternehmen und Verwaltungen zu Recht kein Verständnis.

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Für ein Europa des sozialen Fortschritts! Standpunkt Annelie Buntenbach

Von Annelie Buntenbach 22.4.2010 Annelie Buntenbach ist Mitglied im Geschäftsführenden Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), außerdem Ko-Vorsitzende des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit sowie Ko-Vorsitzende des Bundesvorstands der Deutschen Rentenversicherung Bund.

Während der Binnenmarkt zunehmend an Konturen gewinnt, sei die soziale Dimension ins Stocken geraten, warnt Annelie Buntenbach. Unternehmerfreiheiten dürften daher nicht länger über den Freiheiten der Arbeitnehmer stehen.

Die Gewerkschaften in Deutschland und in der Europäischen Union haben sich immer zur europäischen Integration bekannt. Doch der Prozess der europäischen Integration zeigt eine immer stärkere Schieflage: Wirtschaftliche und soziale Integration schreiten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten voran. Während der Binnenmarkt zunehmend an Konturen gewinnt, ist die soziale Dimension ins Stocken geraten.

Die europäische Politik der vergangenen Jahre scheint an der Verbesserung sozialer Standards kein Interesse zu haben. Zu einem großen Vertrauensverlust von Gewerkschaften und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hat zudem seit Ende 2007 eine Serie von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) beigetragen, in denen es um die Frage ging, welche Rechte Gewerkschaften und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem freien Binnenmarkt haben. Mit den Entscheidungen Viking, Laval, Rüffert und Kommission gegen Luxemburg hat der Europäische Gerichtshof die Balance zwischen wirtschaftlichen Grundfreiheiten (insbesondere Dienst- und Niederlassungsfreiheit) und den sozialen (Grund-)Rechten in der Europäischen Union weiter zuungunsten der Arbeitnehmerrechte verschoben. Der EuGH hat in diesen Urteilen außerdem zahlreiche nationale Schutzvorschriften für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für europarechtswidrig erklärt, indem er die in der EU-Entsenderichtlinie festgelegten Mindest-Schutzrechte in Maximalstandards umgedeutet hat.

Kurz gesagt ging es dabei um Folgendes:

• LAVAL: Die lettische Firma Laval erhielt von der schwedischen Gemeinde Laxholm den Auftrag, eine Schule zu renovieren, weigerte sich aber, den schwedischen Flächentarif einzuhalten. Daraufhin wurde die Baustelle von schwedischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern blockiert. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) bekräftigte in seinem Urteil vom 18. Dezember 2007 zwar das Streikrecht, erklärte aber die Aktionen gegen Laval als unvereinbar mit der EU- Entsenderichtlinie und der Dienstleistungsfreiheit (Aktenzeichen C-341/05).

• RÜFFERT: Am 3. April 2008 entschied der EuGH, dass das Land Niedersachsen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge keine Tariflöhne vorschreiben kann, wenn sie nicht für allgemeinverbindlich erklärt wurden (Az: C-346/06).

• VIKING: Die finnische Reederei Viking Line plante, eines ihrer Fährschiffe auf Estland umzuflaggen und die Besatzung durch estnische, niedriger entlohnte Seeleute zu ersetzen. Das versuchten die finnische Seeleutegewerkschaft und die Internationale Transportarbeiter-Föderation zu

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verhindern. Zwar erkannte der EuGH am 11. Dezember 2007 an, dass das Streikrecht auch die Niederlassungsfreiheit eines Unternehmens im Binnenmarkt einschränken darf, setzte aber strenge Kriterien für die Rechtmäßigkeit grenzüberschreitender kollektiver Aktionen (Az: C-438/05).

• LUXEMBURG: Die EU-Kommission hatte gegen Luxemburg geklagt, weil nach Meinung der Kommission nationale Gesetze des Großherzogtums mit ihren arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften für entsandte Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer gegen die Entsenderichtlinie verstießen. Bisher mussten in Luxemburg beispielsweise auch ausländische Unternehmen die landesüblichen Tarifverträge einhalten. Das ginge über die Vorschriften der Entsenderichtlinie hinaus, urteilte der EuGH am 19. Juni 2008 (Az: C-319/06). Warum haben diese Urteile eine so breite Debatte und Empörung bei den Gewerkschaften in der Europäischen Union ausgelöst?

Eingriff in historisch gewachsene Tarifsysteme

Die Europäische Union zeichnet sich aus durch eine Vielfalt an verschiedenen industriellen Systemen, die historisch begründet sind und lange Traditionen haben. In den Europäischen Verträgen ist daher verankert, dass die Europäische Union keine Kompetenzen in den Bereichen "Arbeitsentgelt, Koalitionsrecht, Streikrecht und Aussperrungsrecht" hat, um die verschiedenen Traditionen zu bewahren. Mit den Urteilen wird jedoch durch die Überbewertung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten massiv in die nationalen Tarifsysteme eingegriffen und die Handlungsfähigkeit von Gewerkschaften beschränkt.

Unterschiedliche Schutzniveaus für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa Durch die Entscheidungen werden in mehrfacher Hinsicht unterschiedliche Schutzniveaus für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen. Zum einen wird zwischen entsandten Arbeitnehmern und den in einem Mitgliedstaat dauerhaft beschäftigten Arbeitnehmern ein Unterschied gemacht. Zum anderen wird paradoxerweise dahingehend unterschieden, ob ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin im Rahmen von Dienstleistungsaufträgen oder auf dem Wege der Arbeitnehmerfreizügigkeit in einen anderen Mitgliedstaat kommt. Im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit wird der Grundsatz der Gleichbehandlung gewährleistet, wohingegen bei Dienstleistungsaufträgen enge Grenzen gesetzt werden. Diese Ungleichbehandlung ist aus gewerkschaftlicher Sicht nicht hinnehmbar.

Als Konsequenz aus den Urteilen fordern DGB und Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB) eine Soziale Fortschrittsklausel in den Europäischen Verträgen und eine Revision der Entsenderichtlinie. Zwar hat sich die EU auch bisher schon auf dem Papier zu sozialem Fortschritt verpflichtet und diese Verpflichtung auch im Vertrag von Lissabon festgehalten. Die Soziale Fortschrittsklausel aber würde den Begriff des sozialen Fortschritts unmittelbar in den Verträgen präziser definieren und verbindlich festlegen, dass die sozialen Grundrechte im Konfliktfall Vorrang vor den wirtschaftlichen Grundfreiheiten haben müssen. Die Revision der Entsenderichtlinie ist notwendig, damit sie wieder das wird, was der Gesetzgeber gewollt hat: ein europäischer Mindeststandard.

Letztlich müssen wir uns die Grundfrage stellen, welches Europa wir wollen. Wollen wir ein Europa, das sich in Richtung sozialer Fortschritt weiterentwickelt, oder soll auch in Zukunft Wettbewerb vorrangig über Sozial- und Steuerdumping ausgetragen werden? Wenn es darum geht, die Bürgerinnen und Bürger in Europa wieder für das europäische Projekt zu gewinnen, dürfen nicht die Unternehmerfreiheiten über die sozialen und demokratischen Freiheiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestellt werden. Dann muss sich das Europa der Märkte wieder zu einem Europa der Menschen entwickeln, denn – um es mit den Worten von Jacques Delors zu sagen: "Niemand verliebt sich in den Binnenmarkt!"

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Überregulierung gefährdet den Erfolg des Binnenmarktes Standpunkt Jürgen Creutzmann

Von Jürgen Creutzmann 22.4.2010 Jürgen Creutzmann, FDP, ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments und gehört dort dem Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz an. Von 1998 bis 2009 war er Mitglied des Landtages von Rheinland-Pfalz.

Der Binnenmarkt könne nicht hoch genug eingeschätzt werden, so Jürgen Creutzmann. Gerade jetzt sei es notwendig, ihn zu beleben und zu vollenden - aber auch die Menschen von seinen Vorzügen zu überzeugen und die gefühlte Angst zu nehmen.

Als Mitglied des Europäischen Parlaments mit langer Erfahrung aus Kommunal- und Landespolitik und aus meiner Tätigkeit als Leitender Angestellter in einem weltweit tätigen Industrieunternehmen weiß ich, dass man die Rolle des Binnenmarktes für die Bürger und Verbraucher aber auch für die Unternehmen in der Europäischen Union (EU) nicht hoch genug einschätzen kann. Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes, die Warenverkehrsfreiheit, die Personenfreizügigkeit, die Dienstleistungsfreiheit sowie der freie Kapital- und Zahlungsverkehr, die heute die Grundlage des Binnenmarktes und damit auch der EU bilden, finden sich bereits in den Römischen Verträgen von 1957.

Zu dieser Zeit bestanden in Europa nur nationale, mehr oder weniger abgeschottete Märkte mit zahlreichen Hindernissen für den grenzüberschreitenden Warenverkehr. Ein gemeinsamer europäischer Markt erschien vielen als ein fernes, fast utopisches Ziel. In der Tat dauerte es lange, bis ein Durchbruch erzielt wurde. Die Mitgliedstaaten weigerten sich vielfach, ihre nationalen Regelungen und bürokratischen Sonderbestimmungen aufzugeben. Oft mangelte es an gegenseitigem Vertrauen, in anderen Fällen wurde Bürokratie aber auch dazu missbraucht, die heimische Wirtschaft vor unliebsamer ausländischer Konkurrenz zu schützen. Wie so oft war es der Europäische Gerichtshof, der mit seinen Entscheidungen hier für eine Entbürokratisierung sorgte, indem er die gegenseitige Anerkennung von in anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Produkten vorschrieb. Endlich war es beispielsweise möglich, in Dreiecksform verpackte Butter oder den berühmten Cassis de Dijon auch in Deutschland zu verkaufen.

1993 wurde mit den neuen europäischen Verträgen ein weiterer Fortschritt in Richtung Binnenmarkt erzielt. Die genannten vier Grundfreiheiten, die den Binnenmarkt beeinflussen, wurden als Prinzipien in den EU-Verträgen festgelegt und geben den Bürgern der EU weitgehende Rechte. Die legislativen Organe auf nationaler wie auf EU-Ebene, also sowohl die Europäische Kommission, der Rat der Europäischen Union und natürlich das Europäische Parlament sind den vier Grundfreiheiten verpflichtet und angehalten, diese weiter durchzusetzen. Gemeinsames Ziel der vier Grundfreiheiten ist die Schaffung eines einzigen Binnenmarktes (single market) als Raum der Freiheit für die Bürger und der Unternehmen in der EU. Die FDP in Deutschland, die liberalen Partnerparteien in den anderen Mitgliedstaaten, die in einigen Ländern die größte Partei sind und die Regierungschefs stellen, und natürlich auch die Liberalen und Demokraten auf europäischer Ebene haben dieses Ziel stets unterstützt. Viele der treibenden Kräfte des Binnenmarktes waren Liberale, so etwa der ehemalige deutsche EU-Kommissar Martin Bangemann und der Niederländer Frits Bolkestein, der die Dienstleistungsrichtlinie maßgeblich geprägt hat.

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Diese Richtlinie, auch Bolkestein-Richtlinie genannt, ist einer der größten Erfolge in der Vollendung des Binnenmarktes in den letzten Jahren. Sie legt fest, dass grundsätzlich jeder Dienstleister aus einem Mitgliedstaat seine Dienstleistungen auch in jedem anderen Mitgliedstaat erbringen darf. Das Land, in dem die Dienstleistungen erbracht werden sollen, darf keine bürokratischen Hürden errichten. So müssen etwa Genehmigungen, Gesundheitszeugnisse oder Berufsbefähigungsnachweise grenzüberschreitend anerkannt oder schnell und einfach erlangt werden können. Dies eröffnet ein erhebliches Potenzial für mehr Effizienz und Wachstum innerhalb Europas, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen.

Trotzdem wird von manchen Seiten der Dienstleistungsrichtlinie mit großem Vorbehalt begegnet. Niemand bestreitet, dass die Menschen vor unseriösen Anbietern von Dienstleistungen geschützt werden müssen. Abzocker und Betrüger lauern jedoch sowohl im In- als auch im Ausland. Insofern bieten Hindernisse gegenüber ausländischen Dienstleitern gegen sie keinen größeren Schutz. Die Liberalen achten daher sehr genau darauf, dass nicht unter dem Deckmantel des vermeintlichen Verbraucherschutzes neue Hindernisse für den Binnenmarkt eingeführt werden.

Die Mobilität von Menschen, Arbeit und Kapital konnte durch den Europäischen Binnenmarkt wesentlich erhöht werden. Allerdings gibt es auch noch Handlungsbedarf, da einige Märkte bislang nur unzureichend als "single market" bezeichnet werden können. Ein Beispiel hierfür ist der grenzüberschreitende Zahlungsverkehr innerhalb der EU. Dass man mit einer deutschen oder französischen EC-Karte im Ausland zum Teil gar nicht oder nur mit hohen Gebühren bezahlen kann, ist mit der Idee eines gemeinsamen Marktes nicht zu vereinbaren. Hier sind die Marktteilnehmer, also vor allen Dingen die Banken, gefordert, die politischen Vorgaben eines einheitlichen Zahlungsraumes endlich umzusetzen und Lösungen zu finden, die es den Bürgern ermöglichen, die Chancen des Binnenmarktes auf einfache Art und Weise zu nutzen.

Das Vertrauen der Bürger in den Binnenmarkt hat durch die Finanzkrise stark gelitten. Daher ist es gerade jetzt notwendig, den Binnenmarkt zu beleben und zu vollenden, damit die Bürger häufiger als bisher auch konkret fühlen können, dass der Europäische Binnenmarkt ihnen auch im Alltag nutzt, etwa über niedrige Gebühren beim Geldabheben, durch deutlich gesenkte Preise bei der Nutzung von Mobiltelefonen im Ausland, oder auch durch eine größere Produktvielfalt.

Zu oft wird noch fälschlicherweise der Eindruck erweckt, dass der Binnenmarkt nur den Unternehmen nutze, der Bürger und Verbraucher jedoch darunter zu leiden habe. Die Erfolge des Binnenmarkes werden ausgeblendet oder von der nationalen Politik vereinnahmt. Vielen fällt erst dann auf, dass es den Binnenmarkt gibt, wenn er einmal nicht funktioniert, da viele seiner Errungenschaften mittlerweile zum Alltag gehören. Wir brauchen einen Binnenmarkt mit Regeln, aber keine Überregulierung. Wenn wir Käufern und Verkäufern, Bürgern und Unternehmen, einen Markt mit guten Regelungen (better regulation) schaffen, hat der einzelne Bürger in der EU die besten Voraussetzungen, seine eigenen Ziele und Wünsche zu erreichen.

Deshalb muss es das Ziel der EU sein, verlorenes Vertrauen in die Institutionen der EU (Kommission, Parlament und Rat) wiederherzustellen. Am besten dazu geeignet wäre eine Informationsoffensive der EU auf lokaler Ebene. Regionalzeitungen und andere lokal ausgerichtete Medien könnten über Entscheidungen der EU und ihre Auswirkungen für die Menschen regelmäßig berichten und somit Europa ein Gesicht geben. Dadurch wäre es möglich, die Menschen von den Vorzügen des Binnenmarktes zu überzeugen und ihnen die gefühlte Angst zu nehmen.

Im Internet kommen Verbraucher besonders häufig mit dem Binnenmarkt in Kontakt, da geografische Grenzen hier kaum eine Rolle spielen. Mittlerweile kann man sehr oft bequem und ohne es wirklich zu bemerken aus dem eigenen Wohnzimmer ein Produkt aus einem anderen Mitgliedstaat kaufen. Dabei kommt dem Verbraucherschutz eine herausragende Bedeutung zu. Die erworbenen Produkte müssen einerseits sicher sein, andererseits muss der Verbraucher sich darauf verlassen können, dass er seine Rechte, wie zum Beispiel die Gewährleistung bei einem mangelhaften Produkt, auch

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 231 gegenüber ausländischen Verkäufern durchsetzten kann. Schließlich bietet das Internet für die Einwohner von kleinen Ländern die Chance, endlich Produkte zu kaufen, die bisher in ihrem eigenen Land kaum oder gar nicht erhältlich sind - häufig ein großes Problem in der Mehrzahl der EU- Mitgliedstaaten. Ziel der EU sollte es hier sein, über gut durchdachte und einheitliche Mindeststandards bei der Produktqualität die Verbraucher vor schädlichen Stoffen und Produkten zu schützen.

Allerdings sollte es nicht die Aufgabe der Behörden auf EU- oder nationaler Ebene sein, unter dem Deckmantel des Verbraucherschutzes die Freiheit des Warenverkehrs zu beschneiden und den Bürgern vorzuschreiben, welche Produkte sie zu kaufen oder zu konsumieren haben. Ein gut durchdachter Verbraucherschutz hilft dabei, den Binnenmarkt effizient zu gestalten, indem er Vertrauen schafft. Die Bürger werden den Binnenmarkt und die sich bietenden Möglichkeiten nur annehmen, wenn sie sicher sein können, dass die Produkte, die auf dem Markt angeboten werden, keine Gefahr für sie darstellen und auch möglichst risikolos erworben werden können.

Der Binnenmarkt ist der gemeinsame Markt der EU-Staaten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man den Binnenmarkt losgelöst vom internationalen Wirtschaftsgeschehen betrachten darf. Unsere Produkte müssen nicht nur innerhalb Europas wettbewerbsfähig sein, sie müssen auch auf dem Weltmarkt durch Qualität und Preis bestehen können. Durch Importe und Exporte sowie die internationalen Finanzmärkte sind wir in Europa mit der Weltwirtschaft eng verknüpft. Unsere Unternehmen und Betriebe konkurrieren mit anderen Unternehmen auf der ganzen Welt. Dementsprechend müssen wir unseren Markt so gestalten, dass Herstellungskosten innerhalb Europas nicht zu Verkaufspreisen führen, die international nicht mehr wettbewerbsfähig sind, was in der Diskussion über den Binnenmarkt leider allzu oft vergessen wird.

In den geführten Debatten über Markregulierung oder über die Schaffung und Angleichung von Mindeststandards beispielsweise im Bereich der Arbeitsrechte, der sozialen Rechte und auch der Umweltstandards muss dieser Fakt berücksichtigt werden. Das heißt nicht, dass wir "Dumping" in jedweden Bereichen zulassen dürfen. Denn ein Binnenmarkt, der nach den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft gestaltet werden sollte, braucht klare und faire Regeln, deren Einhaltung die EU auch sicher stellen muss.

Allerdings brauchen wir einen effizienten Markt, um den kommenden Herausforderungen wie der demographischen Entwicklung gewachsen zu sein. Wenn wir die soziale Marktwirtschaft auf dem EU- Binnenmarkt mit zu viel Bürokratie, zu hohen Steuern und Abgaben und zu hoch angesetzten Standards zu sehr belasten, kann es passieren, dass wir nicht das Wachstum erreichen, das wir zur Sicherung unserer sozialen Systeme brauchen. Die EU-Staaten sind jedoch auf das Wachstum ihrer olkswirtschaften angewiesen, um ihre Wohlfahrtsprogramme überhaupt finanzieren zu können. Eine effiziente Schaffung des Binnenmarktes ist im Interesse aller Bürger der EU, auch derer, die selbst gar nicht bewusst auf dem Binnenmarkt aktiv sind. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie nach der Finanz- und Wirtschaftskrise scheint es für die Nationalstaaten erstrebenswert, ihren nationalen Markt "abzuschotten", um dadurch vermeintlich ihre Unternehmen und ihre Bürger vor den angeblichen Gefahren eines Binnenmarktes zu "schützen". Regelungen, die auf Protektionismus abzielen, sind aber keine Lösung zur Behebung einer Wirtschaftskrise. Sie schaden langfristig allen Beteiligten. Nur ein nachhaltig geschaffener, einheitlicher Binnenmarkt ermöglicht mehr Arbeitsplätze in Europa und schafft damit dauerhaften Wohlstand und sozialen Frieden. Daran gilt es mit ganzer Kraft täglich zu arbeiten.

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Die soziale Dimension Europas: Binnenmarkt und faire Arbeitsbedingungen – ein Gegensatz? Standpunkt: Ursula Polzer

Von Ursula Polzer 22.4.2010 Dr. Ursula Polzer, ist "Director European Industrial Relations" bei der Audi AG. Der Beitrag gibt ihre persönliche Auffassung wieder und beruht auf dem Aufsatz: Erdmenger, Katharina; Gran, Stefan; Kowalsky, Wolfgang; Polzer, Ursula: Die soziale Dimension der EU. Binnenmarkt und faire Arbeitsbedingungen – ein Gegensatz? FES Internationale Politikanalyse, Juli 2009.

Die Vorstellung, Binnenmarkt und nationalstaatliche Sozialschutzsysteme seien zwei getrennte Sphären, ist eine Illusion, sagt Ursula Polzer. Zudem wisse die EU immer weniger, inwieweit sie soziale Errungenschaften schützen und ausbauen soll.

Die Europäische Union (EU) besitzt einen klar definierten Zuständigkeits- und Gestaltungsrahmen für eine europäische Sozialpolitik. Beides wurde seit den Römischen Verträgen bis zum Vertrag von Lissabon ausgebaut. Der Ausbau der europäischen Sozialpolitik hing entscheidend von den politischen Konstellationen und dem ökonomischen Integrationsstand ab und befand sich stets und von Anfang an im Widerstreit divergierender Europavorstellungen: reine marktökonomische Verflechtung versus umfassenderes politisch-soziales Integrationsmodell.

Die Vertiefung der Integration durch ökonomische Verflechtung bedeutete lange Jahre nicht, dass dies nach neoliberalen Prämissen erfolgte: Kommissionspräsident Delors verfolgte das Konzept, den Binnenmarkt zu vollenden und gleichzeitig sozial zu gestalten. So richtete er neben den ausgebauten Gesetzgebungsmaterien und -kompetenzen den Sozialdialog ein, also eine zweite Möglichkeit, zu rechtswirksamen europäischen sozialen Normen zu kommen. Als Probleme im Zusammenhang mit der Süderweiterung auftraten, setzte ein Nachdenken über adäquate Instrumente ein und die Kommission legte 1991 einen Vorschlag für eine Entsenderichtlinie vor, um unterschiedliche Sozialkonditionen auszubalancieren.

Erst mit dem Umschwenken auf einen neoliberalen politischen Mainstream in vielen nationalen Regierungen und den europäischen Institutionen bedeutete ökonomische Integration fortan in erster Linie monetäre Integration, Liberalisierung, ungehinderte Märkte und Deregulierung – gerade auch europäischer finanzpolitischer Grundlagen und Instrumente, ohne soziale Abfederung.

Waren die früheren Erweiterungen nicht mit Entscheidungen für die "Modellfrage " verknüpft, so war dies bei der Osterweiterung erstmals der Fall. Schon von vornherein protegierten marktliberale Regierungen der alten Mitgliedstaaten - wie z.B. die britische - Erweiterung vor Vertiefung, weil sie darin die Chance für die Verstetigung einer rein marktbezogenen Integration sahen. Mit der mehrheitlichen Wahl neoliberal-konservativer Regierungen in Mittel- und Osteuropa trat noch mehr in den Hintergrund, was schon bisher unter den Mitgliedstaaten der EU fehlte, ein gemeinsames Verständnis davon, inwieweit die EU soziale Errungenschaften schützen und ausbauen soll.

Anstatt – wie im Falle der Süderweiterung – adäquate Instrumente zur Überbrückung der enorm vertieften sozialen Kluft bereitzustellen, vollzog die Kommission im Zuge der Osterweiterung im Gegenteil einen weitreichenden Paradigmenwechsel: Insbesondere die Entsenderichtlinie geriet mehr und mehr in ihre Schusslinie. Sie ist die einzige Richtlinie, die Mindestkonditionen für einen fairen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Sozialniveaus der Mitgliedstaaten festzuschreiben sucht.

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Die Kommission versuchte u.a. mit zahlreichen Vertragsverletzungsverfahren diese Normen aufzuweichen, so z.B. im Verfahren gegen Luxemburg. Vom EuGH wurde dieser Trend in den Urteilen Viking, Laval, Rüffert und Luxemburg aufgegriffen und bestätigt.

In den Einzelfällen, die diesen Urteilen zu Grunde liegen, ging es jeweils im Wesentlichen um die Frage, welche Arbeitsbedingungen für entsandte Arbeitnehmer gelten, die im Rahmen von Dienstleistungsaufträgen (kurzfristig) in einem anderen Mitgliedstaat der EU arbeiten. Mit den Urteilen entsteht eine Reihe von grundsätzlichen Problemen, die letztlich die Frage aufwerfen, welche Sozialverfassung sich die EU geben will:

1.Regelung der Arbeitsbedingungen im Binnenmarkt: Seit den Römischen Verträgen sollte die Regelung von Arbeitsbedingungen (Löhne, Urlaubsansprüche, Arbeitszeiten usw.) Sache der Mitgliedstaaten sein. Entscheidend war insbesondere der Grundsatz, dass selbst bei europäischen Mindestharmonisierungen, die aus Gründen der Angleichung von Wettbewerbsbedingungen auch im sozialen Bereich stattfanden, es den Mitgliedstaaten frei stand, auf ihrem Territorium jeweils günstigere Bedingungen vorzusehen. Diesen Grundsatz kehrt der EuGH in den Urteilen um: Die Mitgliedstaaten dürfen nur noch den Mindeststandard gewähren, aber keine darüber hinausgehenden weiteren oder günstigeren Bedingungen (z.B. Tariflöhne). Der EuGH schränkt damit das Recht der Mitgliedstaaten empfindlich ein, die Arbeitsbedingungen in ihrem Staat eigenständig zu regeln.

2. Legimitation von Lohnkonkurrenz: Das Verbot des EuGH, günstigere Bedingungen auf dem eigenen Territorium vorzusehen, erlaubt als Folge ausdrücklich unmittelbare Lohnkonkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel insofern, als bislang ein Konsens darüber bestand, dass materielle Absicherungen bzw. Wohlstand für die EU-Bürger im nationalen Rahmen zu gewährleisten und Ziel des gemeinsamen Wirtschaftsraums die Angleichung der Lebensstandards nach oben sein sollten. Nunmehr soll Integration nicht mehr über soziale Kohäsion, sondern über Nutzung der jeweiligen "Wettbewerbsvorteile" hergestellt werden, also durch Konkurrenz der Lohn- und wesentlichen Arbeitsbedingungen.

3. Sozialordnungen der Mitgliedstaaten: Somit stellt sich die Frage, inwieweit die Mitgliedstaaten noch frei sind, ihre Sozialordnungen nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Im Verfahren gegen Luxemburg hatte der Staat Luxemburg die Gewährung von günstigeren Arbeitsbedingungen für entsandte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen als Gebot des "Ordre publique", – also mit seiner Idee öffentlicher Ordnung und Aufrechterhaltung sozialen Friedens – zu definieren versucht. Der EuGH bestritt, dass die Mitgliedstaaten autonom definieren dürften, was sie unter "Ordre publique" verstehen. Auch dieses Konzept sei daran zu messen, ob es die vier Marktfreiheiten beeinträchtige. Mithin stellt der EuGH die vier Marktfreiheiten über die Sozialordnung der Mitgliedstaaten. In diesem Zusammenhang wird der Schutz nationaler Sozialordnungen umdefiniert und umdeklariert zu bloßem Protektionismus, den es zu bekämpfen gilt.

4. Grundrechte versus Binnenmarkt: Entsprechend wirft der EuGH die Frage nach dem Stellenwert sozialer und gewerkschaftlicher Rechte im Binnenmarkt auf. Er versucht in den genannten Fällen nicht, Grundrechte wie Tarifautonomie und Streikrecht im Wege der "Praktischen Konkordanz" mit den "Vier Freiheiten" in Einklang zu bringen, sondern ordnet die Grundrechte den Marktfreiheiten unter. Grundrechtsausübung sieht er nur dann als zulässig an, wenn sie "verhältnismäßig" sei, d.h. insbesondere den freien Dienstleistungsverkehr nicht behindere. Damit macht er diese Grundrechte de facto wirkungslos. Ziel und Zweck kollektiver Maßnahmen ist gerade, im Sinne des Arbeitnehmerschutzes Grenzen für die Marktmechanismen zu ziehen.

Dieser Paradigmenwechsel setzt also wesentliche Parameter für ein soziales Europa bzw. dessen Behinderung.

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Es wundert deshalb nicht, dass um die Bewertung dieser Urteile und ihrer Konsequenzen eine europaweite kritische Diskussion auch unter Wissenschaftlern entstanden ist. In Deutschland kam es zu einer eigenständigen heftigen Kontroverse, deren Pole Franz Mayer einerseits, Martin Höpner und Fritz W. Scharpf andererseits sind. Basis ist zum einen eine unterschiedliche Sicht des EuGH selbst - ist er ein politischer Interpret und Akteur oder nur ein wertneutraler Interpret? -, zum anderen eine unterschiedliche Bewertung von Konkurrenz im Binnenmarkt – legitime Wettbewerbsvorteile oder Sozialdumping?

Mayer lehnt jedes Hinterfragen des EuGH scharf ab, der nur so gut Recht sprechen könne wie der Gesetzeskanon, der ihm vorliegt. Er sieht den zugrundeliegenden Kernkonflikt im Wahrnehmen von Konkurrenzvorteilen im Binnenmarkt, verschärft durch die immensen Unterschiede zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten. Der Gerichtshof habe sich, so Mayer, tendenziell "auf die Seite der schwächeren Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten gestellt und protektionistischen Strategien eine Absage erteilt ". Er befürwortet also, dass die Konkurrenz auf dem Binnenmarkt als Konkurrenz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen aus verschiedenen Mitgliedstaaten über die sozialen Konditionen ausgetragen wird.

Anders Höpner und Scharpf: Durch seine eigenständige Rechtsfortbildung mit fortschreitender Kompetenzausweitung der EU verändere der EuGH die nationalen Arbeits- und Sozialverfassungen, wofür er keine Legitimation durch den Gesetzgeber habe. Mit Viking bis Luxemburg beziehe der EuGH nun die im Vertrag ausgenommenen Politikfelder Arbeitsentgelt, Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrecht ein und ebne "marktkorrigierende Regelungen der Mitgliedstaaten bis auf ein Minimum ein", was die Binnenmarktintegration radikalisiere. Scharpf hebt noch mehr auf die Auswirkungen ab: Der EuGH bewirke eine Untergrabung der demokratischen Legitimität der Mitgliedstaaten und eine Aushöhlung ihrer Fähigkeit, die Regeln für industrielle Beziehungen festzulegen. Die Hierarchie zwischen europäischer und nationaler Gesetzgebung mutiere zu einer hierarchischen Beziehung zwischen Marktbürgern und Marktbürgerinnen sowie Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen. Mit der Demontage nationaler Lösungen reduziere sich die generelle Problemlösungskapazität, denn die nationalen sozialen Systeme seien Ergebnisse langer Austarierungsprozesse, in deren fragile Gerechtigkeitsbalance nun von außen eingegriffen werde.

Bilanz

Somit zeigt sich: Der EuGH ist sowohl Symptom als auch Mitverursacher des Paradigmenwechsels. Trotz der gravierenden Implikationen der vier EuGH-Entscheidungen könnte, nachdem nun der Lissabon-Vertrag in Kraft ist, auf eine Änderung und Korrektur in weiterer Rechtsprechung vertraut werden. Die Grundrechtecharta des Lissabon-Vertrages wird gemeinhin als wesentliche Erweiterung und Fundierung der sozialen Rechte in Europa angesehen. Zweifel sind jedoch angebracht: Durch die politischen "Korrekturen ", die aus dem Entwurf für eine Europäische Verfassung den Vertrag von Lissabon machten, wurde die Konkordanz zum bestehenden Gemeinschaftsrecht verankert. Der EuGH hat diese Interpretation in seiner Rechtsprechung zu diesen Fällen übernommen. Damit bliebe als Remedur nur eine (erneute) Änderung des Primärrechts. Diese Änderung müsste die Wertigkeit der neuen (Lissabon-) Zielbestimmung "Soziale Marktwirtschaft " für die Europäische Union eindeutig verankern.

Die bisherige Zurückhaltung bei der Schaffung europäischer Sozialnormen hat wesentlich dazu beigetragen, dass auf dem sozialen Feld relativ wenig entwickelt wurde, während andere Politikbereiche längst eine hohe Intensität an Vergemeinschaftung aufweisen, ja sogar gestaltend auf den sozialen Bereich übergreifen und ihm nun sogar prägend übergeordnet werden (Marktfreiheiten vor Grundrechten). Denn die ursprüngliche Vorstellung von zwei getrennten Sphären – einerseits nationalstaatliche Sozialschutzsysteme, andererseits komplementär europäischer Binnenmarkt – hat sich mit dem stetigen Ausgreifen des Binnenmarktes als Illusion entpuppt. Die Binnenmarktregeln erweisen sich zunehmend als irruptiv und zerstörerisch für die gewachsenen nationalen Strukturen.

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Ein Ansatz, der eindimensional auf Subsidiarität abhebt, greift daher zu kurz. Der sozialen Dimension der EU einen neuen und höheren Stellenwert zu geben, geht nur mit einer Europäisierung der Sozialpolitik.

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Binnenmarkt Eine Auswahl von eurotopics.net

22.3.2010

Wie beeinflusst der Binnenmarkt die Gewerkschaften? Soll die EU die Preise regulieren? Und was bedeutet der Binnenmarkt für die Arbeitsplätze? Stimmen aus der europäischen Presse.

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EU unterdrückt Gewerkschaften Dala-Demokraten - Schweden; Donnerstag, 3. Dezember 2009

Schwedische Gewerkschaften müssen dem lettischen Bauunternehmen Laval Schadenersatz zahlen, urteilte das schwedische Arbeitsgericht, weil sie das Unternehmen daran gehindert haben, einen Auftrag in Schweden auszuführen. Dabei berief es sich auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Für die Tageszeitung Dala-Damokraten ist das ein Schlag ins Gesicht der Kämpfer gegen Dumpinglöhne: "Die Gewerkschaften werden zurückgedrängt. Zu diesem Schluss muss man kommen. Der EU-Beitritt bedeutet genau das, was Kritiker befürchtet haben. Der Binnenmarkt hat Vorrang vor allen sozialen Gesichtspunkten. Hätten wir schwedische Politiker mit Mumm, dann hätten sie eine Ausnahme für schwedische Tarifabkommen im Lissabon-Vertrag gefordert. Doch da gab es niemanden mit Mumm sondern nur mit EU-Herz. Jetzt stehen wir da. In einem Europa, das eiskalt ist gegenüber Arbeitnehmern." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE62182- EU-unterdrueckt-Gewerkschaften)

Stefano Micossi über notwendige Veränderungen in der europäischen Wirtschaft Il Sole 24 Ore - Italien; Dienstag, 25. August 2009

Angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit müsse sich die EU vor dem Herbst etwas einfallen lassen, schreibt Stefano Micossi in der Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore: "In Europa wird das Problem durch die mangelnde Flexibilität der wirtschaftlichen Strukturen erschwert. In einer Phase, in der strukturelle Veränderung erforderlich ist, tendiert man dahin, sie zu bremsen und so Investitionen zu entmutigen. ... Eine anhaltende Stagnationsphase gefährdet nicht nur den Binnenmarkt, sondern auch die europäische Währung. ... Die Spielräume für aggressivere nationale Politikansätze zur Stützung der Nachfrage sind durch das Wachstum des öffentlichen Defizits begrenzt. Außerdem besteht die Gefahr, dass sie protektionistische Formen annehmen, die den Markt einengen, statt ihm zu helfen. Folglich ist auf europäischer Ebene eine starke Beschleunigung geförderter Investitionen nötig. ... Für den Herbst zeichnet sich die Tendenz einer wachsenden Arbeitslosigkeit ab, auch wenn der Sturz des Bruttoinlandsprodukts aufgefangen ist. Ohne eine gemeinsame europäische Antwort sind wir dazu verdammt, mit einem niedrigen Wachstum, einer hohen Arbeitslosigkeit und immer größer werdenden Armutszonen zu leben. Die europäischen Regierungen müssen eine ernsthafte Diskussion darüber eröffnen, was sie gemeinsam tun können, um uns eine bessere Perspektive zu bieten." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE56426- Stefano-Micossi-ueber-notwendige-Veraenderungen-in-der-europaeischen-Wirtschaft)

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Europäische Milchwirtschaft ist überreguliert Les Echos - Frankreich; Dienstag, 19. Mai 2009

Die Tageszeitung Les Echos kommentiert die Proteste der Milchbauern gegen den Preisverfall ihrer Produkte: "Alle Länder mit viel Rinderzucht sind mit einem Phänomen konfrontiert, das ihre Kräfte übersteigt: dem starken und dauerhaften Rückgang der weltweiten Kurse, jener der Milch wie auch der anderen Primärerzeugnisse aus ihrer Verarbeitung, der Butter und dem Milchpulver. Die Milchpreise sind nicht plötzlich ... aufgrund des einzig gültigen Gesetzes der obskuren Gewinnmargen von Supermarktketten gesunken, sondern weil die Milchwirtschaft seit Jahren am langen Arm gehalten wird. Sie leidet nicht an zu wenig, sondern an zu viel Regulierung. Mit seinen Produktionsquoten, seinen öffentlichen Einkaufsverfahren und seinen Exporthilfen hat Europa mit Unterstützung Frankreichs eine so perfekte Einkommenspolitik gefördert, dass es die Züchter zu Angestellten ihrer Kunden gemacht hat. Doch da diese Politik nicht von den notwendigen sozialen Veränderungen begleitet wurde, hat es ein böses Erwachen gegeben, weil die Blase des weißen Goldes nun geplatzt ist." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE50683- Europaeische-Milchwirtschaft-ist-ueberreguliert)

Gegen Preisregulierung in der EU Sydsvenska Dagbladet - Schweden; Donnerstag, 17. Juli 2008

Nach der Senkung der Roaming-Preise für Mobiltelefonie hat die EU-Kommission mitgeteilt, die Preise für SMS-Nachrichten europaweit zu regulieren. "Es ist in Ordnung, dass die EU-Kommission Verbraucherinformation und Preistransparenz fordert, aber es kann nicht ihre Rolle sein, Preise in einem Binnenmarkt zu regulieren", meint die Tageszeitung Sydsvenska Dagbladet. "Auch wenn es auf den ersten Blick positiv erscheint, dass Preise gesenkt werden sollen, kranken diese Preisregulierungen, woran alle Preiseingriffe kranken: Preise werden nicht von der Politik, sondern vom Markt diktiert. Die Rolle der EU ist es, sich nicht in Preispolitik einzumischen. Sonst könnte sie ja auch Preise für Taxis, Friseure und anderes festlegen. Das wäre ein planwirtschaftlicher Eingriff, der das Zusammenspiel von Investitionen, Wettbewerb und Innovation außer Kraft setzen würde. Daher 'Ja' zu den Spielregeln für den Binnenmarkt und 'Nein, Danke' zur Preisregulierung." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE31887- Gegen-Preisregulierung-in-der-EU)

Deutschland schottet seinen Arbeitsmarkt bis 2011 ab Top-Thema; Montag, 28. April 2008

Die große Koalition in Deutschland will Arbeitnehmern aus osteuropäischen EU-Staaten erst 2011 Freizügigkeit in Deutschland gewähren. Die Restriktionen beim Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt sollen noch einmal um zwei Jahre verlängert werden. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER26586- Deutschland-schottet-seinen-Arbeitsmarkt-bis-2011-ab)

Nokia schließt Werk in Deutschland Top-Thema; Freitag, 18. Januar 2008

Der finnische Mobiltelefonhersteller Nokia hat angekündigt, sein Werk in Bochum zu schließen. Die Arbeitsplätze sollen nach Rumänien und Ungarn verlagert werden. Dieser Schritt sorgt für Kritik, zumal der Konzern für die Ansiedlung in Nordrhein-Westfalen 88 Millionen Euro Subventionen erhalten hatte.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 238 zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER23903- Nokia-schliesst-Werk-in-Deutschland)

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Migration

22.4.2010

Einwanderung ist für die wirtschaftliche und demografische Zukunft der Europäischen Union unverzichtbar. Aber wie soll die EU mit Migration umgehen? Wie kann Europa von der Zuwanderung profitieren und gleichzeitig die Menschenrechte achten? Welche Migranten braucht Europa? Und wie kann die EU Migration aus armen Ländern reduzieren? In vier Beiträgen geben Experten unterschiedliche Antworten auf diese Fragen.

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Einwanderungspolitik in der Europäischen Union – eine schwierige Debatte Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 22.4.2009

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Migration in die Europäische Union kann viele Hintergründe haben. Auch die Perspektive derer, die in die EU einreisen wollen, müssen betrachtet werden. Weshalb zieht es sie in die Union? Und wie geht Europa mit den Migranten um?

Ein Thema, das die Europäische Union, ihre Mitgliedstaaten, aber auch ihre Bürger seit Jahren in hohem Maße beschäftigt, ist die Einwanderung von Menschen aus so genannten Drittstaaten, also aus Ländern, die nicht zur EU gehören. Dabei werden in der öffentlichen Diskussion oftmals viele Dinge in einen Topf geworfen, die jedoch sehr unterschiedlich zu behandeln sind: Asylsuche von Menschen aus Diktaturen, Flucht und illegale Einreise von Personen, die zu Hause dem Elend entfliehen wollen und bei uns oft abschätzig "Wirtschaftsflüchtlinge" genannt werden, der Nachzug von Ausländern, deren Familien bei uns legal leben sowie die forcierte Einreise von Fachkräften. Zudem scheint sich das Thema besonders für politische Polemiken zu eignen, denen dann auch die bereits bei uns lebenden Menschen mit ausländischen Wurzeln, die man jetzt "Migrationshintergrund" nennt, unterworfen werden. So hat die rechtsextremistische Partei NPD im letzten Bundestagswahlkampf eine perfide Kampagne inszeniert, in der den hier lebenden Ausländern eine "gute Heimreise" gewünscht wurde.

Wenn man sich dem Thema Einwanderung sachlich nähern will, muss man die verschiedenen Komplexe auseinander halten. Es bietet sich an, die Frage aus zwei Perspektiven zu betrachten: aus dem Blickwinkel der Staaten, die die Migration steuern wollen, und aus der Sicht derjenigen, die in die EU einreisen oder einzureisen versuchen.

Anerkannte Flüchtlinge und Asylberechtigte

Da sind zu allererst die Menschen in den Blick zu nehmen, die ihre Heimat verlassen müssen, weil sie dort aus vielerlei Gründen verfolgt und an Leib und Leben bedroht werden. Leider gibt es nach wie vor viele Staaten auf der Welt, in denen man sein Leben und seine Gesundheit riskiert, wenn man die Regierung kritisiert oder sich für Menschenrechte einsetzt. "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." bestimmt Art. 16 a des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Die Europäische Grundrechte-Charta, die seit dem 1. Dezember 2009, als der Lissabonner Vertrag in Kraft trat, Teil des Primärrechts der EU ist, sagt in Art. 18 ebenfalls, dass das Recht auf Asyl gewährleistet wird. Bei den Asylverfahren arbeiten die EU-Mitgliedstaaten seit einigen Jahren zusammen. So muss beispielsweise ein Schutzsuchender seinen Antrag in dem EU-Land stellen, das er zuerst erreicht. Eine Fingerabdruck- Datenbank (Eurodac) verhindert, dass Asylbewerber in mehreren EU-Staaten Anträge stellen können.

Im Jahr 2009 wurden in der EU nach Angaben der Europäischen Statistikbehörde Eurostat fast 261.000 Asylbewerber registriert. Die meisten Bewerber waren Staatsangehörige folgender Länder: Afghanistan (20.400 oder 8 % aller Bewerber), Russland (20.100 oder 8 %), Somalia (19.100 oder 7 %), Irak (18.700 oder 7 %) und Kosovo (14.200 oder 5 %). In Deutschland beantragten 31.800

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Menschen politisches Asyl. Wer das tut, muss nachweisen, dass er tatsächlich politisch verfolgt war und dass es ihm deshalb unmöglich war, weiter in seinem Herkunftsland zu leben.

Im Jahr 2009 wurden in der Europäischen Union über 229.500 Asylanträge in erster Instanz entschieden. Dabei wurden 166.900 Anträge abgelehnt (73 % der Entscheidungen), 27.600 Bewerbern (12 %) wurde ein Flüchtlingsstatus zugesprochen, 26.200 Bewerber (11 %) erhielten subsidiären Schutz und 8.900 (4 %) eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen. Subsidiärer Schutz heißt, dass die Menschen nach Auffassung der überprüfenden Behörden zwar nicht politisch verfolgt waren, dass ihnen dennoch bei Rückkehr in ihr Heimatland (zum Beispiel wegen Bürgerkriegs) Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht und sie demzufolge durch die Möglichkeit, bei uns zu bleiben, geschützt werden. Humanitäre Gründe spielen beispielsweise bei dem Bleiberecht für Kinder und Jugendliche oder für schwer Kranke eine Rolle.

Bei Asylbewerbern wird ausschließlich nach der Schutzbedürftigkeit gefragt. Ob sie jung oder alt, gut ausgebildet oder Analphabeten sind, spielt keine Rolle.

In Deutschland wurde 2009 insgesamt 8.115 Personen (28,2 %t der Antragsteller) die Rechtsstellung eines Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt. Darunter waren 452 Personen (1,6 %), die als Asylberechtigte nach Art. 16a des Grundgesetzes anerkannt wurden, sowie 7.663 Personen (26,6 %), die Flüchtlingsschutz erhielten. Darüber hinaus wurden bei 1.611 Personen (5,6 %) Abschiebungsverbote (sogenannter subsidiärer Schutz) festgestellt. Dieses Abschiebeverbot wird regelmäßig überprüft. Der überwiegende Teil der Asylanträge wird abgelehnt. Im Jahr 2009 waren das 19.090 Anträge, das entspricht 66 Prozent.

Die geringe Anerkennungsquote bietet Anlass für heftige öffentliche Kontroversen. Während sie den einen Beweis dafür ist, dass viele Menschen sich zu Unrecht auf das Asylrecht berufen, kritisieren andere, dass die große Zahl der Ablehnungen durch eine immer restriktivere Handhabung des Asylrechts zustande komme. Zudem sei jemand, dessen Leben in seiner Heimat durch den Hungertod bedroht sei, genau so schutzbedürftig wie jemand, dem ein diktatorisches Regime mit dem Tode droht.

Irregulär Zuwandernde

In der Tat streben viele Menschen ein Leben in der EU an, weil sie zu Hause keine Existenzperspektive für sich und ihre Familie sehen. Oftmals sparen ganze Familien- oder Dorfverbände, um einem der ihren die Ausreise (oftmals über kriminelle Schlepperbanden) zu ermöglichen - in der Hoffnung, dass er durch eine Berufstätigkeit in der EU die Daheimgebliebenen unterstützen kann. Immer wieder sind im Fernsehen Bilder von überladenen Flüchtlingsbooten im Mittelmeer zu sehen, die entweder zu sinken drohen oder von Grenzpolizeien aufgegriffen werden. Der größere Teil der Flüchtlinge kommt jedoch unspektakulär auf dem Landweg über Ost- oder Südosteuropa. Da die Menschen sich durch die Einreise schon strafbar machen, sind sie verständlicherweise auch nicht registriert. Ihre Zahl kann man deshalb nur schätzen. Der Chef der EU-Grenzschutzbehörde Frontex nannte für das Jahr 2008 die Zahl von ca. 200.000 Personen, die beim Versuch, das Gebiet der EU illegal zu betreten, aufgegriffen worden seien. Er schätzte die Zahl der illegal in der EU lebenden Menschen auf ca. 500.000. Allerdings sind die meisten Menschen, die illegal, also ohne Aufenthaltserlaubnis in der EU leben, legal eingereist. Die meisten kommen mit einem Touristen- oder Geschäftsvisum oder als Studenten und bleiben über die Dauer ihrer Aufenthaltsgenehmigung hinaus in der EU. Man nennt sie auch "overstayers".

In den EU-Staaten verläuft die Diskussion um den Umgang mit den irregulären Migranten sehr unterschiedlich. So gibt es beispielsweise in Spanien und Frankreich immer wieder Maßnahmen, um den Aufenthalt dieser Migrantengruppe zu legalisieren. So werde, argumentiert man, der Schwarzarbeit und der Kriminalität ein Riegel vorgeschoben. Solange die Menschen keinen legalen Aufenthalt hätten, seien sie ja vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen und würden in der Regel auch keine Steuern zahlen. In anderen Ländern, darunter auch Deutschland, richtet man das Augenmerk eher darauf, die Menschen aufzuspüren und in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Darüber hinaus versucht die EU

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 242 durch Vereinbarungen mit den Herkunfts- oder Transitländern zu verhindern, dass die Menschen sich überhaupt auf den Weg machen. Dabei richten sich die Aktivitäten allerdings nur im kleineren Maße auf eine Verbesserung der Lebensumstände in den Herkunftsländern, um so eine Flucht aus wirtschaftlichen Gründen überflüssig zu machen. Der größere Anteil der Bemühungen zielt darauf, die (oftmals korrupten und nicht demokratischen) Regierungen der Herkunfts- und Transitländer in eine Strategie der Fluchtverhinderung einzubinden. So sind diesbezüglich in den letzten Jahren die politischen Kontakte zum libyischen Diktator Gaddafi wesentlich intensiviert worden. Menschenrechtsorganisationen kritisieren dieses Herangehen an die Problematik als menschenverachtend und gegen die Grundrechte der EU gerichtet.

Hoch Qualifizierte und Familiennachzug

Bei den legal einreisenden Migranten gibt es wiederum zwei unterschiedliche Gruppen: Diejenigen, die mit dem Ziel der Arbeitsaufnahme in ein EU-Land kommen und oftmals sogar angeworben werden, und diejenigen, die aus familiären Gründen in die EU übersiedeln wollen.

Mittlerweile gehört zum politischen Allgemeingut die Erkenntnis, dass die Länder der Europäischen Union in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf eine gezielte Immigration von gut und hoch Qualifizierten angewiesen sein werden. Der Rat der Europäischen Union hat daher einen privilegierten Aufenthalt für Hochqualifizierte und deren Familienangehörige beschlossen, die sogenannte Blue Card - in Anlehnung an die Green Card, die in den USA einen langfristigen Aufenthalt gestattet. Jedem Mitgliedstaat bleibt es aber unbenommen, selbst die Zahl derer festzulegen, die mit einer Blue Card in dem jeweiligen Land für einige Jahre arbeiten dürfen. Um sicherzustellen, dass nur Personen kommen, die einen guten Arbeitsplatz besetzen werden, ist die Blue Card in den Mitgliedstaaten daran gebunden, dass der Antragsteller an dem Arbeitsplatz in der EU ein bestimmtes Mindestgehalt erzielen wird. Wiederum ein anderes Thema ist der Familiennachzug. In Deutschland lebende Deutsche und sich legal in Deutschland aufhaltende Ausländer können ja eine Person aus einem Drittstaat heiraten. Da das Grundgesetz die Familie ausdrücklich schützt, ist den Familienangehörigen die Einreise ebenfalls zu gestatten - unabhängig von der Qualifikation. Der Familiennachzug kann aber gegebenenfalls an gewisse Bedingungen geknüpft werden, wie einem vorherigen Sprachkurs.

Die Kontroversen

Es ist also nicht so einfach, wenn davon die Rede ist, man müsse die Migration steuern. Unterschiedliche Überlegungen hierzu finden sich in den verschiedenen Beiträgen. Der Präsident des High-Tech Verbandes BITKOM, Prof. August-Wilhelm Scheer, plädiert dafür, aktiv um Hochqualifizierte aus Drittstaaten zu werben und die Auswahl rational durch ein Punktesystem zu gestalten. Er weist darauf hin, dass der Informationstechnologie-Branche jetzt schon gut ausgebildete Mitarbeiter fehlten und dass dieser Zustand sich durch die demografische Entwicklung in Deutschland noch wesentlich verschärfen werde. Deutschland sei ein Zuwanderungsland und müsse diese Eigenschaft aktiv vertreten, fordert der Industrie-Repräsentant.

"Steuern und Begrenzen", lautet hingegen die Forderung des Bundestagsabgeordneten Stephan Mayer, der rechts- und innenpolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe im deutschen Parlament ist. Er fürchtet Konkurrenz für die in Deutschland tätigen Arbeitnehmer und weist auf die hohe Arbeitslosen- und Kurzarbeiterquote hin: "In einer derartigen Situation einen bedingungs- und grenzenlosen Zuzug zu forcieren, wäre sicher fahrlässig und würde der Situation nicht gerecht." Der Abgeordnete fürchtet auch eine Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme, die es zu verhindern gelte.

Einen ganz anderen Blick auf die Migrationsproblematik hat der Vertreter des Jesuiten- Flüchtlingsdienstes Europa in Brüssel, Stefan Keßler. Er weist darauf hin, dass Europa ohne Einwanderung nicht denkbar sei und sich durch die Einwanderer erst zu dem entwickelt habe, was es heute darstellt. Im Weiteren fordert er, dass die Einwanderungsregelungen der EU-Staaten die Menschenrechte beachten müssen, und betont: "Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz".

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Schließlich plädiert Keßler für mehr bürgerschaftliches Engagement beim Schutz der Rechte von Flüchtlingen und Migranten.

Die Politologin Dr. Mechthild Baumann, Leiterin des Instituts für Migrations- und Sicherheitsstudien (imss) in Berlin fordert, Migrationspolitik als Interessenpolitik zu verstehen. Bei der Politikgestaltung müsse berücksichtigt werden, dass in der Migrationsfrage unterschiedliche Interessen aufeinander stießen. Sie nimmt dabei auch die Interessen der Herkunfts- und Transitländer in den Blick und nicht zuletzt die der irregulären Migranten selbst. Lediglich durch einen Interessenausgleich, der von allen Seiten auch Zugeständnisse erfordere, könnten dauerhaft Erfolge erzielt werden. Nur ein integrierter Ansatz werde langfristig den gewünschten Effekt bringen.

Eine Besonderheit der Migrationsentwicklung findet in der Öffentlichkeit übrigens bislang kaum Niederschlag, nämlich die Auswanderung aus den EU-Ländern. In Deutschland haben 2009 mehr Menschen das Land verlassen als zugezogen sind. Während ca. 721.000 Personen nach Deutschland gekommen sind, haben rund 734.000 das Land verlassen, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Differenziert man die Zu- und Wegzüge nach Staatsangehörigkeit, wird deutlich: Es sind die Deutschen, die dem Land den Rücken kehren - und darunter sind sehr viele gut Qualifizierte.

Vielleicht muss Deutschland, das gerade lernt, sich als Einwanderungsland zu sehen, sich auch bald mit der Perspektive beschäftigen, ein Auswanderungsland zu sein.

Literatur

Steffen Angenendt, Roderick Parkes: EU-Migrationspolitik nach Lissabon und Stockholm. SWP-Aktuell 71, Dezember 2009, online verfügbar. (http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php? asset_id=6676)

Steffen Angenendt: Zirkuläre Migration. Ein tagfähiges politisches Konzept. SWP-Aktuell 27, April 2007, online verfügbar. (http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=3911)

Klaus J. Bade (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Paderborn 2008.

Mechthild Baumann: Migration und Sicherheit, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert- Stiftung, 2009, online verfügbar. (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/06691.pdf)

Sara Borella: Migrationspolitik in Deutschland und der Europäischen Union. eine konstitutionenökonomische Analyse der Wanderung von Arbeitskräften Tübingen 2008.

Dossier "EU-Asyl-, Migrations- und Justizpolitik" der Stiftung Wissenschaft und Politik, online verfügbar. (http://www.swp-berlin.org/brennpunkte/dossier.php?id=5435&PHPSESSID=044148c0c79a0653025ef06456cd1b80)

Michael Knipper, Yasar Bilgin, Norbert Arnold: Migration und Gesundheit (Hrsg.: Konrad-Adenauer- Stiftung e.V. Türkisch Deutsche Gesundheitsstiftung e. V.), 2009, online verfügbar (http://www.kas.de/ wf/de/33.16451/)

Werner Nell, Stephanie-Aline Yeshurun: Arbeitsmarkt, Integration, Migration in Europa. Schwalbach 2008.

Die Politik der Europäischen Union in der Schwarzmeerregion: Anstrengungen gegen die illegale Migration, Policy Paper 13 der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2009, online verfügbar (http://www.kas.de/ proj/home/pub/47/1/year-2009/dokument_id-17420/index.html)

Paul Scheffer: Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt, Einzelpublikation der

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Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2010

Thomas Straubhaar: Einwanderungsland Deutschland. Eine liberale Perspektive für eine strategische Migrationspolitik, Friedrich-Naumann-Stiftung 2008, online verfügbar. (http://medienbibliothek.fnst.de/ uploads/medienbibliothek/PL-Straubhaar-Einwanderung.pdf)

Rita Süssmuth: Migration und Integration: Testfall für unsere Gesellschaft, München 2006.

Annette Treibel: Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht, 4. Aufl. Weinheim 2008.

Internet bpb.de (Server der Bundeszentrale für politische Bildung mit umfangreichen Informationen, Folien, Unterrichtseinheiten und Publikationsangeboten über Europa) (http://www.bpb.de) ec.europa.eu (Internetseite der Europäischen Kommission zum Thema Einwanderung) (http://europa. eu/justice_home/doc_centre/immigration/doc_immigration_intro_de.htm) europarl.de (Server der Vertretung des Europäischen Parlaments in Deutschland) (http://www.europarl. de) auswaertiges-amt.de (Europa-Seite des Auswärtigen Amtes (http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/ de/Europa/Uebersicht.html) fes.de (Digitale Bibliothek der Friedrich Ebert-Stiftung zu Migration und Integration) (http://www.fes. de/wiso/sets/s_migr_publ.htm) migration-boell.de (Internetportal der Heinrich Böll-Stiftung zu Einwanderung und Integration) (http:// www.migration-boell.de) cafebabel.de (mehrsprachige kostenlose Internetzeitschrift, die sich speziell an ein jüngeres Publikum richtet) (http://www.cafebabel.de) euractiv.de (unabhängiger kostenloser Informationsdienst über die Entwicklungen in der Europäischen Union) (http://www.euractiv.de) migration-info.de (Projekt des Netzwerks Migration in Europa, der Bundeszentrale für politische Bildung und des Hamburgischen WeltWirtschaftInstituts) (http://www.migration-info.de) migration-online.de (Bereichs Migration & Qualifizierung des DGB Bildungswerk mit Informationen, Fakten und Daten rund um das Thema Migration und Arbeitswelt) (http://www.migration-online.de)

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Zuwanderung: Ein strategischer Baustein für mehr Innovationskraft! Standpunkt August-Wilhelm Scheer

Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer 22.4.2010 Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer ist Präsident des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) sowie Gründer der IDS Scheer AG, Gründer und Vorsitzender des Aufsichtsrates IMC AG.

Zuwanderung ist für Deutschland eine noch ungenutzte Chance, sagt August-Wilhelm Scheer. Für zukünftige Innovationen muss die Politik Zuwanderungs-Hemmmnisse für Hochqualifizierte abbauen und aktiv für Deutschland als Einwanderungsland werben.

Seit Jahren ist bekannt: Deutschland steuert unwiderruflich in demografisch bedingte Engpässe am Arbeitsmarkt. Mit verheerenden Folgen für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gerade in Hightech- Bereichen.

Seit Jahren werden die Zeichen der Zeit nicht erkannt: Deutschland leistet sich ein Einwanderungsrecht, dessen Hauptfunktion es noch immer zu sein scheint, Migration als Ausnahmetatbestand möglichst eng zu reglementieren.

Die Informations- und Telekommunikationsbranche plädiert seit langem für eine Öffnung des Arbeitsmarktes. Wie passt das in das derzeitige politische und konjunkturelle Umfeld?

Deutschland erholt sich zurzeit von einem konjunkturellen Einbruch, der fast präzedenzlos in der Geschichte der Bundesrepublik war. Die Stützung des Finanzsektors sowie die Abwehr sozialer Folgen der Krise haben die öffentlichen Haushalte an die Grenze ihrer Belastbarkeit geführt. Ein sprunghafter Anstieg der Arbeitslosigkeit konnte nur durch die beispiellose Ausweitung der Kurzarbeit verhindert werden. Ein Arbeitsmarkt mit unausgelasteten Potentialen scheint mit dem Ruf nach mehr Zuwanderung jedoch kaum vereinbar zu sein.

Stabiler Arbeitsmarkt auch in der Krise

Eine detaillierte Analyse zeigt: Wichtige Branchen-Arbeitsmärkte sind mittelfristig, zum Teil jedoch bereits in der Krise, keineswegs so entspannt wie das allgemeine Bild suggeriert. Beispiel Informations- und Telekommunikationstechnologie (ITK): Vor dem Ausbruch der Krise im Herbst 2008 wurden rund 45.000 offene Stellen für IT-Spezialisten gezählt. Ein Jahr später, auf dem Höhepunkt der Krise, waren es immer noch 20.000. Die Beschäftigtenzahl in der Hightech-Branche ITK ist im Jahresvergleich 2008/2009 mit rund 830.000 Personen konstant geblieben. Selbst unter schwierigsten konjunkturellen Bedingungen werden in der Branche Fachkräfte gesucht. "Strukturell" bedingter Fachkräftemangel ist das Stichwort.

Besonders hoch ist der Bedarf an Hochschulabsolventen und berufserfahrenen Professionals. Studien zeigen, dass insbesondere in den Bereichen IT-Beratung, Softwareentwicklung und IT- Projektmanagement schon in wenigen Jahren eklatante Lücken zu verzeichnen sein werden. Die inländischen Personalressourcen reichen nicht aus, um die Entwicklung und den Einsatz von IT hierzulande optimal zu gestalten.

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Die demografische Entwicklung verschärft die Lage. Jahr für Jahr treten maximal 16.000 bis 18.000 Informatiker und Informatikerinnen in den Arbeitsmarkt ein. Benötigt werden je nach konjunkturellem Umfeld 20.000 bis 25.0000. Die Informatik ist eine junge Disziplin, die sich erst in den 1970er-Jahren an den Hochschulen etablierte. Erst allmählich scheiden altersbedingt Informatiker in nennenswerter Anzahl aus. Der Ersatzbedarf steigt. Schon bald wird die ITK-Branche vor der Situation stehen, die in den Ingenieurwissenschaften schon heute Realität ist: dass der Nachwuchs von den Hochschulen nicht mehr ausreicht, um den Ersatzbedarf zu decken - geschweige denn eine Expansion in neue Technologiefelder personell absichern zu können.

Zuwanderung unterstützt Technologietransfer

Zuwanderung ist ein sinnvolles Instrument, um Engpässe am Arbeitsmarkt abfedern zu können. Es geht aber auch um qualitative Ziele. Hightech-Branchen, für die internationale Technologietrends entscheidende Bedeutung haben, benötigen ausländische Experten für den Ideen- und Know-how- Transfer.

Zuwanderung ist eine noch weitgehend ungenutzte Chance gerade für Deutschland, das 2008 erstmals einen negativen Wanderungssaldo ausweisen musste. Deutschland, so muss nüchtern Bilanz gezogen werden, ist bestenfalls "zweite Wahl" gegenüber den USA und anderen englischsprachigen Ländern.

Gerade einmal knapp 4.000 IT-Spezialisten sind 2008 nach Deutschland gekommen - fast ausnahmslos auf der Basis einer befristeten Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Damit wurde endlich das Niveau wieder erreicht, das im Rahmen der sogenannten Green-Card-Regelung der Jahre 2001 bis 2004 bereits zu beobachten war. Mit dem Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes waren die Zahlen zunächst auf 2.500 pro Jahr erheblich zurückgegangen. Erst die Bereitschaft der Bundesregierung, sukzessive Hürden für die Einwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte zu reduzieren, trug zu diesem immer noch bescheidenen Ergebnis bei.

Agenda für eine aktive Zuwanderungspolitik

Was muss getan werden, um Zuwanderung gezielt fördern und von dem Know-how hervorragend qualifizierter Migranten profitieren zu können?

1. Hemmnisse abbauen Die Große Koalition hat einige Änderungen am Zuwanderungsgesetz auf den Weg gebracht, die gerade für Professionals der Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) Erleichterungen gebracht haben. Dies betrifft vor allem niedrigere Einkommensschwellen für Hochqualifizierte. Dieser Weg sollte konsequent fortgesetzt werden. In einigen Bereichen, die einem strukturell bedingten Fachkräftemangel unterliegen, kann man generell auf Vorrangprüfungen verzichten. Einkommensschwellen sollten generell nicht das Niveau überschreiten, das attraktiven Einstiegsgehältern für hiesige Absolventen entspricht: also nicht, wie seit einem Jahr gültig, 65.000 Euro Jahreseinkommen, sondern ca. 40.000 Euro.

2. Effiziente Steuerung erleichtern Ein wichtiges Instrument zur systematischen Steuerung der Zuwanderung, die bisher zu einem viel zu geringen Teil aus dem Zuzug von Hochqualifizierten besteht, ist ein Punktesystem. Es erlaubt eine Auswahl von Einwanderungswilligen nach rationalen Kriterien, die kontinuierlich weiter entwickelt werden können. Der Koalitionsvertrag sieht die Erarbeitung eines entsprechenden Instruments grundsätzlich vor. Ein Punktesystem ist nach Auffassung des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) kein Automatismus. Es ist ein Instrument, das nicht nur angebotsseitig ausgerichtet ist. Das Erreichen eines bestimmten Punktwerts konstituiert also kein autonom geltendes Recht auf Zuwanderung. Wie viele Zuwanderer gebraucht werden, bestimmt das

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 247 aufnehmende Land. Nur die Auswahl wird über das Punktesystem rational geregelt.

3. Sachverstand der Industrie nutzen Ein Punktesystem muss in Zusammenhang mit einer konkreten Bedarfsdefinition stehen. Diese sollte nach einem klar strukturierten Verfahren erarbeitet werden, an dem die Wirtschaft angemessen beteiligt ist. Heute bereits bestehende Gremien wie etwa die "Allianz zur Deckung des Fachkräftebedarfs" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales haben nur beratenden Charakter. Wir brauchen ein von Politik und Verwaltung einerseits und Wirtschaft als dem Bedarfsträger für ausländische Spezialisten andererseits paritätisch besetztes Gremium, das zudem auf die Expertise von Wissenschaftlern zurückgreifen kann. Wir sind überzeugt, dass die Wirtschaft an vielen Stellen auch aktuellere Bedarfszahlen ermitteln kann als die amtliche Statistik. Beide Seiten würden von einem entsprechenden Verfahren daher profitieren.

4. Deutschland als Zuwanderungsland bewerben Marketing-Anstrengungen für Deutschland als Einwanderungsland wurden bisher praktisch nicht betrieben. Graduelle Erleichterungen für Immigranten auf dem bisher beschrittenen Weg werden im Ausland jedoch kaum wahrgenommen. Die Bundesrepublik wird Wohlstandsgewinne durch qualifizierte Zuwanderung nur dann realisieren können, wenn eine aktive Werbung für das Migrationsland Deutschland betrieben wird. Daran müssen sich Wirtschaft, Hochschulen, Auslandshandels-Kammern, Konsulate und Botschaften gleichermaßen beteiligen.

Deutschland braucht eine zentrale Informationsplattform, die rechtliche und praktische Informationen für Einwanderungswillige zusammenfasst und damit eine einfache Orientierung ermöglicht. Hier sollten auch erfolgreiche Fallbeispiele aufgezeigt werden und ein intensiver Kontakt zu besonders wichtigen Zielländern etabliert werden. Der BITKOM schlägt dafür ein Portal z.B. unter dem Namen "Work in Germany.info" vor.

Sämtliche Maßnahmen können nur dann greifen und die gewünschten Erfolge erzielen, wenn Politik und Gesellschaft erkennen, dass eine intelligent gesteuerte Zuwanderung eine große Chance darstellt. Diese Überzeugung muss auch das Leitbild der Gesetzgebung wie der administrativen Umsetzung sein. Politik und Wirtschaft müssen eine Allianz für eine aktiv betriebene Zuwanderungspolitik eingehen.

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Steuern und Begrenzen: Keine Migration ohne Integration Standpunkt Stephan Mayer

Von Stephan Mayer 22.4.2010 Stephan Mayer ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Er ist der rechts- und innenpolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe in der CDU/CSU-Fraktion.

Stephan Mayer warnt sowohl vor grenzenlosem Zuzug als auch vor Ängsten und Vorurteilen gegenüber sinnvoller Migration. Zuwanderung in die Sozialsysteme will er verhindern und den Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben, die Chance zur vollständigen Integration bieten.

Politische Parteien, Stiftungen und Interessenverbände sowie die Wissenschaft begleiten seit Jahren die Diskussion um Migration und äußern sich regelmäßig zu einzelnen Aspekten dieses Themas. Die in der Debatte vertretenen Postionen reichen von einer grundlegenden Skepsis gegenüber allen Zuwanderungstendenzen bis hin zur kompletten Offenheit, Zuwanderung ohne etwaige Einschränkungen zuzulassen oder gar zusätzliche Anreize für Zuwanderer zu schaffen. Wie häufig in der politischen Auseinandersetzung können die Extrempositionen die Realitäten und Notwendigkeiten nur ungenügend abbilden. In meiner Funktion als innen- und rechtspolitischer Sprecher der CSU- Landesgruppe im Deutschen Bundestag verfolge ich die Diskussion seit geraumer Zeit sehr aufmerksam und nutze hier gerne die Gelegenheit, mich mit einem kurzen Beitrag zu einigen Aspekten dieses sehr facettenreichen Themas an der Debatte zu beteiligen.

Mit Blick auf die beiden Extreme der Diskussion, lässt sich der Handlungsbereich und die möglichen Alternativen gut beschreiben und eingrenzen. Diejenigen, die in der Diskussion nur Ängste und Vorurteile schüren, verkennen die Chancen, die eine sinnvolle Integration mit sich bringen kann. Sich gänzlich gegen Migration auszusprechen, bedeutet auch wichtiger, vielleicht gar teilweise notwendiger Expertise den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu versperren. Ich erinnere mich sehr gut an die Diskussion vor der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, wo gerade auf bundespolitischer Ebene unter dem Schlagwort "Fachkräftemangel" diskutiert wurde, wie gut ausgebildete Facharbeiter für deutsche Arbeitgeber gewonnen werden können. Noch im August 2008 wurde die Bundesforschungsministerin Anette Schavan mit den Worten zitiert: "Ohne die Talente aus aller Welt kommen wir in Zukunft nicht aus" (Berliner Zeitung vom 28. August 2008).

Die Krise führt uns nun allerdings eindrucksvoll die andere Seite der Medaille vor Augen. Die Aufträge für die deutsche Wirtschaft sind massiv eingebrochen, vielerorts müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Kurzarbeit auskommen und die Zahl der Arbeitslosen steigt wieder leicht an. Die enormen Anstrengungen, die die Bundesregierung unternehmen musste, um die Auswirkungen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise abzufedern, werden zu einer erheblichen Belastung des kommenden Bundeshaushaltes führen. In einer derartigen Situation einen bedingungs- und grenzenlosen Zuzug zu forcieren, wäre sicher fahrlässig und würde der Situation nicht gerecht. Sowohl die freiwerdenden Fachkräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt, als auch die daraus resultierenden zusätzlichen Belastungen der sozialen Sicherungssysteme, müssen berücksichtigt werden.

Deutschland wird von vielen Migranten als eines der möglichen Ziele bevorzugt ausgewählt. Es ist ein zentrales Anliegen der unionsgeführten Bundesregierung, die Integration von Zuwanderern und deren

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Familien zu befördern.

Die Menschen, die das Recht erworben haben, dauerhaft hier zu leben, sollen die Chance auf eine vollständige Integration in unsere Gesellschaft verwirklichen können. Seit der Übernahme der Regierungsverantwortung im Jahr 2005 hat die CDU/CSU mit den Änderungen beim Familiennachzug, dem Ausbau der Integrationskurse, der Einführung der Deutschen Islamkonferenz und dem Einbürgerungstest eine realitätsbezogene Integrationspolitik auf den Weg gebracht. Damit Integration gelingt, bedarf es einer Politik des Förderns und des Forderns. Es liegt auf der Hand, dass hier beiderseitige Anstrengungen vonnöten sind. Einerseits haben die Zuwanderer Anspruch auf Unterstützung ihrer Bildungs- und Integrationsanstrengungen, andererseits sind von ihnen auch hinreichende eigene Anstrengungen zu erwarten. Eine gelungene Integration möglichst vieler ist unabdingbar für den Zusammenhalt in unserer offenen pluralen Gesellschaft und Basis zur Aktivierung bisher ungenutzter Potenziale. In diesem Zusammenhang ist auch die derzeitige Initiative der Bundesregierung zur Anerkennung im Ausland erworbener Bildungsabschlüsse zu sehen. Gerade unter den Aussiedlern und Spätaussiedlern gibt es besonders viele qualifizierte potenzielle Arbeitnehmer, für die eine vereinfachte Anerkennung und einheitliche Maßstäbe vor allem wirtschaftlich wichtige Perspektiven eröffnen. Aussiedler, die im Grunde genommen eher nach Deutschland zurückkehren, als in ein fremdes Land auszuwandern, sind selbstverständlich eine besonders zu betrachtende Gruppe, zeigen sich doch gerade in diesem Bereich eindrucksvolle und nachhaltige Integrationserfolge.

Für mich als innen- und rechtspolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag ist vor allem das ausgewogene Verhältnis zwischen Fördern und Fordern außerordentlich wichtig. Dies darf sich allerdings meines Erachtens nicht auf den Nachweis von Grundkenntnissen der deutschen Sprache oder den Nachweis bestimmter Kenntnisse über Staat, Geschichte und Kultur Deutschlands beschränken, wie sie im Einbürgerungstest überprüft werden.

So wie bei der Erteilung eines dauerhaften Aufenthaltsstatus die Überprüfung voraus gehen muss, ob mehrheitlich ohne finanzielle Hilfe das eigene Auskommen gesichert werden kann, halte ich auch für hochqualifizierte Migranten eine reales Arbeitsplatzangebot für eine entscheidende Voraussetzung. Es gilt grundsätzlich, mit aller Kraft eine Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme zu verhindern. Selbst der Zuzug eines bestens ausgebildeten Akademikers kann nur schwer als Chance für denselben oder Deutschland begriffen werden, wenn perspektivisch eine langfristigen Absicherung durch Sozialhilfe oder vergleichbare Instrumente vonnöten sein wird.

Die Betrachtung der hier kurz angerissenen Aspekte dieser sehr umfangreichen Diskussion lassen meines Erachtens nur einen sinnvollen Schluss zu: Sowohl die Probleme als auch die Chancen, die Migration mit sich bringt, brauchen eine vernünftige Steuerung und Begrenzung. Nur so kann die Aufnahmekapazität des Landes berücksichtigt und den Zuwanderern die entsprechenden Vorgaben gemacht werden, um die Integration weitestgehend zu erleichtern und gleichzeitig eine Überforderung des Aufnahmelandes zu verhindern. Für diese Ausgewogenheit im Umgang mit Migration werde ich mich im Rahmen meiner politischen Tätigkeit weiterhin nachdrücklich einsetzen.

Abschließend möchte ich kurz auf einen weiteren Teilaspekt dieser Thematik eingehen. Neben den hier bereits angesprochenen Aspekten spielt leider auch die illegale Migration eine große Rolle. Durch geeignete nationale Maßnahmen, aber vor allem eine verbesserte Kooperation zwischen den Nachbarstaaten bzw. zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten muss Phänomenen wie Menschenhandel oder -schmuggel wirksam begegnet werden. Auch hier ist die Abstimmung der Grenz- und Sicherheitsbehörden benachbarter Staaten in den letzten Jahren deutlich gesteigert worden. In diesem Zusammenhang muss natürlich sehr genau darauf geachtet werden, dass für Kriminelle durch veränderte Zuwanderungsregelungen keine Anreize oder vereinfachter Zugang geschaffen werden. So sehr Deutschland prinzipiell bestimme Migrationsformen begrüßt und fördert, so genau und sorgfältig müssen sämtliche Instrumente geprüft und abgestimmt sein, um Missbrauch zu verhindern. Es bleibt dabei: Das Motto, das den vernünftigsten Umgang mit dem Phänomen Migration beschreibt,

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 250 ist: Steuern und Begrenzen, um illegale Migration und Zuwanderung in die Sicherungssysteme zu verhindern.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 251

Vier Thesen zur Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik in Europa Standpunkt Stefan Keßler

Von Stefan Keßler 22.4.2010

Stefan Keßler ist Senior Policy and Advocacy Officer beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst Europa in Brüssel

Das europäische Schutzsystem für Flüchtlinge und Migranten steht unter Beschuss, meint Stefan Keßler. Da aber Europa ohne Einwanderung nicht denkbar ist, fordert er bürgerschaftliches Engagement für Menschenrechte und Flüchtlingsschutz.

Über Einwanderungspolitik sind inzwischen ganze Bibliotheken vollgeschrieben worden. Ein Debattenbeitrag sollte gar nicht erst versuchen, das Thema ähnlich umfassend zu behandeln. Stattdessen werden im Folgenden einige Thesen vorgestellt und kurz begründet, um die Diskussion anzuregen.

Erste These: Europa ist ohne Einwanderung nicht denkbar.

Europa ist seit Beginn seiner Geschichte von Einwanderung geprägt. Carl Zuckmayer hat diese Tatsache in seinem Stück »Des Teufels General« eindringlich dem Rassenwahn der Nationalsozialisten gegenübergestellt: Deutschland und Europa, das ist der Rhein, an dem sich immer die Kulturen gemischt haben. Schon die Namensgeberin unseres Kontinents war eine Immigrantin: Die westasiatische Prinzessin Europa soll durch den Göttervater Zeus in Gestalt eines Stiers nach Kreta gebracht worden sein (ob Zeus damit nach heutiger Terminologie als "Schlepper" zu bezeichnen wäre, soll dahingestellt bleiben).

Der Mythos spiegelt die geschichtliche Erfahrung wieder, dass europäische Kulturen außereuropäische Ursprünge haben und nur durch den Austausch mit der "Außenwelt" bestehen können. Dies schlägt sich heute in ganz alltäglichen Dingen nieder: Die Araber brachten nach Europa den Kaffee (aus dem arabischen "qahwa"), aus Lateinamerika kam die Schokolade (vom Nahuatl-Wort: "xocolatl"), aus Persien das Schachspiel (benannt nach dem Farsi-Begriff für König: Shah) und die in den Niederlanden massenweise gezüchteten Tulpen ursprünglich aus der Türkei. Persische und chinesische Poeten haben europäische Dichter wie Goethe nachhaltig beeinflusst, afrikanische Kunst inspirierte Pablo Picasso oder den belgischen Maler Corneille.

Dass heute - im vielzitierten "globalen Dorf" - die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verknüpfungen weltweit sogar noch enger geworden sind, ist eine Binsenweisheit, ebenso wie die Tatsache, dass sich diese Verknüpfungen nicht nur im Geld- oder Warenverkehr zeigen, sondern auch und gerade im Migrationsgeschehen. Europa kann sich, will es sich nicht selbst den allergrößten Schaden zufügen, hiervon nicht abkapseln.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 252 Zweite These: Einwanderungsregelungen müssen Menschenrechte beachten.

Daraus muss nicht unbedingt folgen, dass Einwanderung ungesteuert zuzulassen sei. Es ist traditionelles Recht der Staaten, sie bestimmten Regeln zu unterwerfen. Ob es ein Menschenrecht auf Einwanderung gibt, ist noch eine offene Frage; die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 (gleichsam die "Mutter" moderner Menschenrechtsabkommen) kennt nur ein Recht auf Auswanderung aus dem eigenen Land, nicht aber einen expliziten Anspruch auf Zulassung der Einwanderung in ein anderes Land.

Gleichwohl ist die Freiheit der Staaten, Einwanderung zu regeln, nicht unbeschränkt. Sie sind an die Menschenrechte gebunden, auf die sich auch Einwanderinnen und Einwanderer berufen können. So dürfen Flüchtlinge nicht abgewiesen werden (siehe dazu die nächste These); die Aufnahmestaaten müssen die Rechte von Migrantinnen und Migranten unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status achten und verwirklichen, etwa was den Zugang zur Gesundheitsversorgung, zum Bildungssystem und zu Wohnraum oder die Meinungsfreiheit und den Schutz vor Folter betrifft.

Diese in Europa unter anderem durch die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Europäische Grundrechtecharta verbürgten Rechte werden jedoch im Alltag immer wieder verletzt. Vor allem Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus werden in vielen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union systematisch aus dem sozialrechtlichen Schutz gedrängt. In Deutschland ist noch immer der Schulbesuch "illegaler" Kinder nicht eindeutig geregelt und auch bei der Gesundheitsversorgung werden viele Ausländerinnen und Ausländer ausgegrenzt. In Italien kann sich sogar jemand strafbar machen, wenn er nur ein Zimmer an einen Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus vermietet. In Schweden stehen abgelehnte Asylsuchende buchstäblich auf der Straße, weil sie nicht mehr in den staatlichen Unterbringungseinrichtungen wohnen dürfen, auch wenn sie faktisch nicht abgeschoben werden können. Das "Europa der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" ist für die Opfer einer solchen Politik allenfalls eine Fata Morgana.

Dritte These: Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz - Das gilt auch für den Schutz von Verfolgten.

Vor dem Hintergrund, dass während des Dritten Reiches Verfolgte in anderen Ländern keinen Schutz fanden, sondern eher abgewiesen wurden und dann in die deutschen Konzentrationslager kamen, wurde 1951 ein völkerrechtliches Abkommen verabschiedet, das Flüchtlingen ein Minimum an Rechten im Zufluchtstaat verleihen soll. Dieses "Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge" (Genfer Flüchtlingskonvention) enthält eindeutige Schutzgarantien - vor allem das Verbot, Schutzsuchende in den Verfolgerstaat ab- oder zurückzuschieben.

Das hierauf aufbauende Schutzsystem für Flüchtlinge ist unter schweren Beschuss geraten. An den Außengrenzen Europas werden Schutzsuchende pauschal abgewiesen, ohne dass sie Zugang zu einem fairen Verfahren hätten. Und in den - nordafrikanischen oder osteuropäischen - Transitstaaten finden sie alles andere als menschenwürdigen Schutz. Die Politik auf der Ebene der Europäischen Union ist geprägt von Initiativen, die die Genfer Flüchtlingskonvention entweder ganz abschaffen oder doch faktisch aushöhlen wollen.

Auch die deutsche Regierung beteiligt sich hieran und verweigert ihre Zustimmung zu jeder kleinsten Verbesserung. Im Mainstream (Mahlstrom?) der Entsolidarisierung und der Aushöhlung des Völkerrechts droht die zivilisatorische Errungenschaft, die das mit der Flüchtlingskonvention errichtete Schutzsystem für Schutzlose darstellt, unterzugehen.

Interessant ist dabei der Wandel, den die deutsche Bundesregierung in ihrer Argumentation vollzogen hat. 1993 war die "Asylrechtsreform" mit der Änderung des Grundgesetzes angeblich dringend nötig, um Deutschland den europäischen Standards anzupassen. Den Gegnern der Reform wurde

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 253 vorgehalten, sie ständen der europäischen Einigung entgegen, träten für einen "deutschen Sonderweg" ein. Heute ist es genau umgekehrt. Die vielen deutschen Regelungen, die einen faktischen Ausschluss von Schutzsuchenden aus dem Asylverfahren bewirken, werden beschworen, als seien sie die letzte Bastion des christlichen Abendlandes vor dem andrängenden Beelzebub. Der deutsche Sonderweg soll jetzt zur europäischen Einbahnstraße werden.

Vierte - und letzte - These: Einwanderungspolitik in Europa braucht bürgerschaftliches Engagement.

Europa lebt vom Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger. Europäische Politik - besonders wenn Einwanderung und Flüchtlingsschutz betroffen sind - darf man nicht den ministerialen Experten überlassen. Das Eintreten für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten ist konservativ und progressiv zugleich: Konservativ, weil wir damit die letzten Reste von Mitmenschlichkeit und Solidarität bewahren wollen. Und progressiv, weil wir eine Gesellschaft anstreben, in der alle Menschen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit die gleichen Rechte genießen. In der der Pass nicht mehr "der edelste Teil des Menschen" (Brecht) ist. Und in der Verfolgte Schutz genießen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 254

Migrationspolitik als Interessenpolitik verstehen Standpunkt Mechthild Baumann

Von Dr. Mechthild Baumann 22.4.2010 Dr. Mechthild Baumann ist Leiterin des Instituts für Migrations- und Sicherheitsstudien in Berlin und Lehrbeauftragte an der Hertie School of Governance, der Universität Potsdam sowie der Ecole Nationale d´Administration (ENA).

Migration aus armen Ländern, sagt Mechthild Baumann, kann die EU nur gegen den Willen der Herkunfts- und Transitstaaten reduzieren - oder durch eine Einigung mit ihnen. Dafür müssen aber die Interessen aller Partner berücksichtigt und Zugeständnisse gemacht werden.

Politik heißt: Interessen wahrnehmen und dementsprechend die Wirklichkeit gestalten. Meistens widerstreben sich die Interessen. Wenn es gelingt, alle Interessen bei der Lösung eines Problems zu berücksichtigen, also einen Kompromiss zu erzielen, bei dem alle ein wenig vorwärts kommen, aber alle auch Abstriche machen, dann hat diese Lösung die größte Chance auf Nachhaltigkeit. Zwängt eine Partei einer anderen ihren Willen auf, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie diese Lösung auf Dauer trägt.

Die Einwanderungspolitik der EU verfolgt einen einseitigen Ansatz der Interessenspolitik. Sie versucht, Einwanderung zu steuern. Das heißt, sie will bestimmen, wie viele Menschen aus welchen Staaten unter welchen Bedingungen in die EU einreisen dürfen. Die Umsetzung dieser Politik erweist sich als schwierig. Diejenigen Einwanderer, die die EU gerne hätte (zum Beispiel hochqualifizierte Computeringenieure) kommen nicht im gewünschten Ausmaß, sie gehen lieber in die USA. Diejenigen, die die EU nicht aufnehmen möchte (vor allem unqualifizierte Personen aus armen und Schwellenländern), versuchen mit allen Mitteln, in die EU einzureisen - legal und illegal.

Die Ursache für diese Differenz zwischen erklärtem politischem Willen und Ergebnis liegt in einem hegemonialen Selbstverständnis der EU und in der Weigerung, die Interessen der Herkunftsstaaten in der Konzeption ihrer Einwanderungspolitik zu berücksichtigen. Die Europäische Nachbarschaftspolitik, die Politik zur "Steuerung der Migrationsströme" und viele andere Instrumente aus anderen Politikfeldern, wie zum Beispiel der Arbeitsmarktpolitik oder Entwicklungszusammenarbeit zielen darauf ab, Herkunfts- und Transitstaaten irregulärer Migration dazu zu bringen, die Ziele der EU durch eigene Maßnahmen zu unterstützen. Sie sollen ihre Staatsangehörigen an einer Ausreise bzw. Flucht in die EU hindern; in derselben Weise sollen Transitstaaten den Flüchtigen die Durchquerung ihres Staatsgebiets in Richtung EU verwehren. Mit ihrer Politik erwarten die EU-Staaten, dass sowohl Regierungen als auch Bürger aus Herkunfts- und Transitstaaten gegen ihre eigenen Interessen handeln und sich dem Willen der EU-Staaten beugen.

Das Ziel, Migration aus armen Ländern zu reduzieren, können die EU-Staaten meines Erachtens nur über zwei Wege erreichen:

Theoretisch könnte die EU versuchen, ihre Ziele gegen den Willen der Herkunfts- und Transitstaaten irregulärer Migration durchzusetzen. Das wäre das Mittel des physischen Zwangs bzw. der Gewalt. Auf dem Territorium der EU-Mitgliedstaaten bedient sich die EU bereits dieses Mittels, etwa wenn Flüchtlinge nach Prüfung ihrer Einreiseberechtigung abgeschoben oder direkt nach ihrer Ankunft auf dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgeschoben werden. Gewaltanwendung auf dem Territorium der Herkunfts- und Transitstaaten ist nicht rechtens, wäre aber - theoretisch betrachtet -

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 255 die logische Fortführung des derzeit praktizierten Ansatzes.

Die harmonischste Variante wäre zweifelsohne eine einvernehmliche Einigung aller Beteiligten. Und an dieser Stelle kann man wieder den Bogen zur legalen Einreise schlagen, denn auch für die Anwerbung Hochqualifizierter gilt: Eine Politik, die die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt, hat die größte Aussicht auf Erfolg. Nein, damit ist nicht gemeint, die gesamte nicht-europäische Menschheit in die EU aufzunehmen. Das will sie auch gar nicht. Dauerhaft können "Migrationsströme" nur gesteuert werden, wenn die Migranten ihrer Steuerung in ihren Grundzügen zustimmen. Denn - und hier stößt die Allegorie des Migrationsstroms an ihre Grenzen - anders als Wasser oder andere strömende Elemente, sind Migranten Individuen mit eigenen Interessen - und dem Willen, diesen gegen den Widerstand anderer durchzusetzen. Für erfolgreiche und langfristig tragende Lösungen müssen die Interessen aller Partner berücksichtigt werden. Für den konkreten Fall bedeutet dies:

1. Die EU muss zunächst einmal die Herkunftsstaaten der Migranten als gleichberechtigte Partner akzeptieren. Dazu gehört, sie von Beginn an in die Konzeption gemeinsamer Ansätze einzubinden und ihnen nicht, wie bislang, fertige Maßnahmen mit klaren Handlungsanweisungen vorzusetzen, die sie dann umsetzen sollen.

2. Die Ziele und Interessen beider Partner müssen deutlich formuliert werden. Im Prinzip ist natürlich jeder über die grundsätzlichen Ziele des jeweils anderen im Bilde. Doch insbesondere bei konkreten Maßnahmen wäre allen geholfen, wenn die Teilziele und Partikularinteressen präzise festgelegt würden. So könnten Missverständnisse vermieden und falsche gegenseitige Erwartungen verhindert werden.

3. Alle Verhandlungspartner müssen neben ihren Forderungen auch Zugeständnisse machen.

Dies gilt insbesondere für die EU. Der derzeitige praktizierte Utilitarismus der EU stößt an seine Grenzen. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass wir uns nicht immer die Rosinen aus dem Kuchen picken können. Es sollen nur diejenigen Drittstaatsangehörigen in die EU einreisen, von denen die EU in wirtschaftlicher Hinsicht profitiert. Alle anderen sollen in ihren Heimatländern bleiben. Wenn wir jedoch von den Herkunft- und Transitstaaten erwarten, dass sie diese Politik mittragen, müssen auch sie auf ihre Kosten kommen. Sonst lassen sie sich auf keine Geschäfte ein.

Die Zugeständnisse sind der Hebel, an dem die EU ansetzen kann. Die EU hat zwar auch schon Zugeständnisse an die Drittstaaten gemacht, diese waren jedoch meist finanzieller Natur. In wessen Kassen und Taschen diese Leistungen schließlich flossen, ist nicht immer nachvollziehbar.

Statt reiner Geldflüsse könnten diese Zugeständnisse auch wirtschaftlicher Natur sein. Den armen Herkunftsstaaten irregulärer Migration wäre weitaus mehr geholfen, wenn die Einfuhrzölle in die EU geringer wären und die Produkte von EU-Bauern auf dem Weltmarkt durch Subventionen nicht künstlich niedrig gehalten würden. Beides wären Zugeständnisse, die den Herkunftsstaaten strukturell helfen würden, wirtschaftlich auf eigene Füße zu kommen, ihre Armut und somit auch die Notwendigkeit zur Emigration ihrer Bürger zu reduzieren. Leider sind solche Vorschläge innerhalb der EU ein rotes Tuch, weil sie bei vielen EU-Bürgern zu teils schmerzhaften finanziellen Einbußen führen würden.

4. Die Maßnahmen der Verhandlungspartner, insbesondere der EU, müssen kohärent sein. Es bringt nichts, die Grenzen für irreguläre Einwanderer dicht zu machen, wenn es gleichzeitig einen großen Bedarf an billigen Schwarzmarktarbeitern gibt. Es bringt nichts, mit Entwicklungshilfegeld Staudämme zu bauen, wenn kein Fachpersonal vor Ort ist, das diese Bauten dauerhaft instandhalten kann. Es bringt nichts, Regierungen von Transitstaaten für die Verhinderung irregulärer Migration zu bezahlen, wenn diese die Flüchtlinge wenige Kilometer vor der eigenen Staatsgrenze absetzen und bei deren Wiedereinreise die Statistik der "unerlaubten Einreise" (und damit die Kopfprämie) erhöhen.

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Es bringt nichts, wenige erlesene Arbeitskräfte aus den Herkunftsstaaten befristet auf den europäischen Arbeitsmarkt zu lassen, wenn diese Anwerbung nicht abgestimmt ist mit deren eigener wirtschaftlichen Verfassung und der irregulären Migration.

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Migration Eine Auswahl von eurotopics.net

22.3.2010

Wie steht die finnische Bevölkerung zu Einwanderung? Wie nimmt die EU Flüchtlinge auf? Und welche Rolle spielt die Migrations-Diskussion in der französischen Innenpolitik? Stimmen aus der europäischen Presse.

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Estland muss Debatte über Immigration führen Postimees - Estland; Freitag, 18. Juni 2010

Der estnischen Gesellschaft fehlt eine echte Debatte über Fragen der Immigration, konstatiert die Tageszeitung Postimees. Man könne aber aus den Erfahrungen des Westens lernen und beispielsweise in der Asylpolitik eigene Akzente setzen: "Eine Art der Annäherung wäre es, ausdrücklich politische Flüchtlinge aufzunehmen, die unterdrückt werden und die es leider weiterhin auf der Welt gibt - wie auch repressive Regime. Politische Flüchtlinge sind allgemein gebildeter, passen sich besser an und sind gegenüber einer demokratischen Gesellschaftsordnung positiver eingestellt als sogenannte humanitäre Flüchtlinge. Gleichzeitig hätten wir die Möglichkeit, sowohl den Hilfsbedürftigen als auch der Weltgemeinschaft ein Signal zu geben, dass man sich hierzulande um Menschenrechte und politische Freiheiten sorgt. Denn der Unwille des Westens, Flüchtlinge aus ... autoritären Regimen aufzunehmen, spiegelt allzu häufig den Unwillen wider, zu erwähnen, dass dort Menschenrechte verletzt werden." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/dienste/medienindex/media_articles/ archiv_article/ARTICLE71668-Estland-muss-Debatte-ueber-Immigration-fuehren)

Finnen fürchten Einwanderer Helsingin Sanomat - Finnland; Dienstag, 16. März 2010

Bei einer von der Tageszeitung Helsingin Sanomat in Auftrag gegebenen Umfrage sprachen sich fast 60 Prozent der Finnen gegen eine weitere Aufnahme von Einwanderern aus. Vor drei Jahren waren es noch unter 50 Prozent. Die Zeitung findet, statt Türen zu schließen "ist es sinnvoll, die Lücken in der Asylpolitik zu schließen und in der EU zu einem gemeinsamen Vorgehen in Asylfragen zu gelangen. ... Von den Finnen erfordert das die Einsicht, dass Asylbewerber nicht einfach eine große Gruppe sind, sondern Menschen mit unterschiedlichen Anschauungen. Die Finnen ihrerseits haben das Recht zu erwarten, dass Einwanderer die Regeln und Traditionen in diesem Land respektieren. Es muss zudem hinterfragt werden, was diese wachsende Ablehnung der Einwanderung eigentlich besagt. Sie zeigt auch Angst vor Veränderungen. Wenn die Welt sich ändert, müssen wir unsere eigenen Einstellungen ändern, egal ob Ausländer herkommen oder nicht. Für die Politiker ist eine Herausforderung, den Menschen, die in dieser sich verändernden Welt leben, dauerhafte Werte zu vermitteln." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE67145- Finnen-fuerchten-Einwanderer)

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 258

Auch Frankreich muss Asylrecht achten die tageszeitung - Deutschland; Dienstag, 26. Januar 2010

Zum ersten Mal haben Bootsflüchtlinge aus Syrien es bis an die französische Küste geschafft und wurden auf Korsika umgehend in Abschiebehaft genommen. Doch die Abschreckung hat nicht funktioniert, meint die linke die tageszeitung: "Die unter Druck gesetzten Behörden improvisierten und missachteten in ihrem überstürzten Vorgehen die elementarsten Rechte der 124 Flüchtlinge. Für diese Menschenrechtsverletzung kassiert [der französische Immigrationsminister Eric] Besson nun dankenswerterweise eine gehörige (politische) Ohrfeige. Ein Exempel wurde tatsächlich statuiert, aber nicht im Sinne der repressiven Politik der Regierung. Gewonnen haben vorerst die Hilfsorganisationen. Sie haben den Beweis erbracht, dass die 'Heimat der Menschenrechte' das Asylrecht nicht als 'vernachlässigbare Größe' behandeln darf, nur weil die Staatsräson verlangt, die Mauern der Festung Europa gegen den so beängstigenden Ansturm von Elenden und Verfolgten aus den Hinterhöfen der Welt noch dicker und höher zu bauen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE64586- Auch-Frankreich-muss-Asylrecht-achten)

Italien versagt bei Integration Top-Thema; Mittwoch, 13. Januar 2010

Die Zusammenstöße zwischen afrikanischen Erntehelfern und Einheimischen in der süditalienischen Stadt Rosarno haben eine Debatte über den Umgang mit Migranten ausgelöst. Italien hat sich zu wenig um die Integration seiner Einwanderer gekümmert, bemängeln die Kommentatoren. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER63914- Italien-versagt-bei-Integration)

Tote Flüchtlinge sind Opfer der Politik Avgi - Griechenland; Donnerstag, 29. Oktober 2009

Am vergangenen Dienstag sind acht afghanische Flüchtlinge bei einem Bootsunglück vor der griechischen Insel Lesbos ums Leben gekommen. Für die linke Tageszeitung Avgi sind die Flüchtlinge Leidtragende sowohl der griechischen als auch der türkischen Politik: "Es handelt sich um einen unbenannten Krieg, der die Folge echter Kriege ist. Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak, das heißt aus zwei Ländern, in denen die westlichen Staaten Kriege führen, ... suchen hier eine sichere Zuflucht und berühren das Wohlfahrtsparadies aber nur für ein paar Sekunden. ... An der ägäischen Front, zwischen den Wellen der andauernden griechisch-türkischen Auseinandersetzung [um die Seegrenzen], ertrinken jährlich Hunderte von Migranten. Es sind dies die Opfer der türkischen Politik, die diese wie Geiseln benutzt, um ihre Forderungen [in der EU und im Streit um die Seegrenzen] durchzusetzen. Es sind aber auch Opfer der Taktik unseres Landes, das sein schlechtes Gewissen für die oft barbarische Haltung gegenüber den Migranten dadurch beruhigt, indem es sich auf den 'feindlichen Nachbarn' [Türkei] beruft." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE60278- Tote-Fluechtlinge-sind-Opfer-der-Politik)

Einwanderer als Opfer von Wahlkampfpropaganda La Dépêche du Midi - Frankreich; Donnerstag, 22. Oktober 2009

Einen Monat nach der Räumung des Flüchtlingslagers in Calais hat Frankreich am vergangenen Mittwoch drei illegal eingereiste Einwanderer aus Afghanistan in ihr Heimatland zurückgeschickt. Die regionale Tageszeitung La Dépêche kritisiert, dass der französische Einwanderungsminister, Eric

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Besson, diese Maßnahme allein zur Rückeroberung rechter Wähler ergriffen habe: "Ihr Unglück besteht darin, Opfer von ad-hoc-Maßnahmen zu sein, die auf innenpolitische Ziele in Frankreich abzielen. Offiziell soll diese ... Operation eine abschreckende Nachricht für afghanische Immigrations- Kandidaten sein. In Wahrheit ist sie ein Signal, das sich an das rechte Wahllager richtet. ... Die Ausweisung dieser drei Afghanen löst keineswegs das Problem der illegalen Einwanderung, sondern sie erlaubt Besson, sich gefühllos als guter kleiner Soldat im Dienste des Sarkozysmus zu beweisen. ... Was bedeutet schon das Schicksal einiger Einwanderer, die wieder in das Elend ihres Heimatlandes gespuckt werden! Frankreich hat oft ein glorreicheres Bild von sich abgegeben." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE59853- Einwanderer-als-Opfer-von-Wahlkampfpropaganda)

Einwanderung ist gut für Schweden Dagens Nyheter - Schweden; Freitag, 16. Oktober 2009

Laut eines im Auftrag der Regierung verfassten Berichts von Jan Ekberg, Professor für Volkswirtschaft am Zentrum für arbeitsmarktpolitische Forschung in Växjö, würden die öffentlichen Finanzen Schwedens nicht von einer starken Einwanderung profitieren. Die Tageszeitung Dagens Nyheter ist anderer Meinung: "Die Regierung hält immer noch an den Kündigungsregeln fest, obwohl diese die Beweglichkeit auf dem Arbeitsmarkt einschränken und viele Arbeitgeber davon abschrecken, Personal einzustellen. ... Die hohen Einstiegslöhne auf dem schwedischen Arbeitsmarkt haben einen ähnlichen Effekt. Anstelle einer Arbeit mit geringerem Lohn und der Möglichkeit, sich nach oben zu arbeiten, werden viele - und nicht zuletzt die neu angekommenen Schweden - zur Arbeitslosigkeit gezwungen. Es handelt sich um einen Systemfehler. Eine Studie der Universität Lund hat gezeigt, dass doppelt so viele somalische Einwandere in den USA einen Job bekommen haben wie in Schweden. ... Auf die Einwanderung folgen eine Reihe dynamischer Effekte, die Wohlstand für eine ganze Nation schaffen können - Effekte, die auch höhere Steuereinnahmen bringen können." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE59452- Einwanderung-ist-gut-fuer-Schweden)

Flüchtlinge protestieren auf Lampedusa Top-Thema; Montag, 26. Januar 2009

Hunderte Migranten sind am Wochenende aus dem Flüchtlingslager auf Lampedusa ausgebrochen, um gegen ihre Lebensbedingungen zu demonstrieren. Jetzt will die italienische Regierung ein zweites Lager zur Identifizierung und Abschiebung der Migranten errichten. Die europäische Presse kommentiert die geplanten Maßnahmen. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER43943- Fluechtlinge-protestieren-auf-Lampedusak)

Funktioniert Integration in Europa? Top-Thema; Freitag, 19. Dezember 2008

Die Integration ausländischer Mitbürger in Europa wird immer wichtiger. Doch viele Länder tun sich noch schwer mit der zunehmenden geografischen Mobilität. Die europäische Presse diskutiert die Probleme und mögliche Lösungsvorschläge. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER42015- Funktioniert-Integration-in-Europa)

EU-Einwanderungspakt unterzeichnet Top-Thema; Dienstag, 8. Juli 2008

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Auf einem informellen Treffen in Cannes haben die europäischen Innenminister einen "Pakt zu Einwanderung und Asyl" über eine gemeinsame Immigrationspolitik verabschiedet. Das Dokument, das erste große Projekt der französischen Ratspräsidentschaft, wurde erst nach heftigen Diskussionen und mehreren Änderungen angenommen. Wie bewertet Europas Presse das Ergebnis? zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER31315- EU-Einwanderungspakt-unterzeichnet)

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Außen- und Sicherheitspolitik

29.6.2010

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union wurde mit dem Vertrag von Lissabon durch neue Institutionen und Posten aufgewertet. Aber noch handeln die Mitgliedsstaaten nicht immer gemeinsam. Vier Experten suchen nach Antworten: Wie kann die EU eine weltpolitische "Auszeit" verhindern? Wie soll sie mit den neuen Herausforderungen umgehen? Und wie schafft es die EU, als Akteur in der internationalen Politik beachtet zu werden?

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Großmacht Europa? - Die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 29.6.2010

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Außen- und Sicherheitspolitik ist noch ein junges Politikfeld in der Europäischen Union: Erst seit 1992 ist die EU zuständig. Die Bürger der EU befürworten das gemeinsame Engagement für Frieden und Demokratie in der Welt, die Umsetzung ist aber oft schwierig.

Nirgendwo in der europäischen Politik stehen Wunsch und Wirklichkeit in einem stärkeren Spannungsverhältnis zueinander als in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Der klassische Konflikt in der EU scheint ja oftmals zu sein, dass die Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsländern es ausgesprochen kritisch sehen, wenn "Brüssel" Kompetenzen übernimmt. Im Bereich des auswärtigen Handels ist das anders: Über 80 Prozent der Europäer möchten gemäß der regelmäßig durchgeführten Eurobarometer-Umfrage mehr europäischen Einfluss, um Frieden und Demokratie in der Welt zu sichern und den Terrorismus zu bekämpfen.

Als die Europäische Union als Europäische Gemeinschaft - zuerst für Kohle und Stahl 1952 und dann als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1958 - gegründet wurde, hatte sie eine gemeinsame Außenpolitik nicht im Gepäck. Das blieb eine Domäne der Mitgliedstaaten, die sich im Laufe der Zeit lediglich darauf verständigten, im Rahmen einer Europäischen Politischen Zusammenarbeit Standpunkte und Erfahrungen auszutauschen.

Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und den weitgehenden Veränderungen in Europa beschloss die Europäische Union mit dem Vertrag von Maastricht eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Das Ende der außenpolitischen Dichotomie, die von Moskau und Washington bestimmt wurde, ließ erstmals Raum für ein eigenes europäisches Auftreten der EU-Staaten. Die hehren Grundsätze und Absichten schlossen allerdings ein weitgehendes Versagen der EU-Außen- und Sicherheitspolitik im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren nicht aus. Die EU-Staaten mussten ihre Machtlosigkeit erkennen und die USA zu Hilfe rufen - die allerdings immer weniger Lust verspürten, für die Europäer vor deren eigener Haustür die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Die Amerikaner sahen nicht länger ein, warum sie ihre Ressourcen aufwenden sollten, um die Europäer vor sich selbst zu schützen, und wandten sich anderen Konfliktschauplätzen zu. Dabei erwarteten sie die gleiche Solidarität ihrer europäischen Partner, die sie diesen während des gesamten Kalten Krieges erwiesen hatten. Über die Frage, ob man die Administration des unbeliebten und außenpolitisch auch ungeschickten US-Präsidenten George W. Bush unterstützen sollte, zerstritten sich die EU-Mitglieder heftig. Das Ergebnis war eindeutig: Weder die Nein-Fraktion, angeführt von Deutschland und Frankreich, noch die Gruppe der Unterstützer, geleitet von Großbritannien und Spanien, aber auch den mittelosteuropäischen Staaten, erlangte irgendwelchen Einfluss auf die Entscheidungen der USA. Die Lehre war für beide Lager dieselbe: Wenn wir nicht einheitlich auftreten, werden wir keinen Einfluss haben. Es ist deshalb kein Zufall, dass die größten Veränderungen durch den Lissabonner Vertrag, der nach langem Hin und Her Ende 2009 in Kraft getreten ist, die Außenpolitik betreffen.

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Die Position eines Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik gab es schon vor dem Lissabonner Vertrag. Sie wurde von dem früheren NATO-Generalsekretär Javier Solana professionell ausgefüllt. Aber Solana war nur der Vertreter des Rates, also der Mitgliedstaaten. Sein Auftraggeber war der Rat der europäischen Außenminister, dessen Vorsitz und damit auch Prioritäten im halbjährlichen Rhythmus wechselten. Solana stand in der Europäischen Kommission, die gewissermaßen die Verwaltung der Europäischen Union ist, ein Kommissionsmitglied gegenüber, das ebenfalls für EU-Außenpolitik zuständig war. Zudem gab und gibt es noch andere Ressorts in der Kommission, in denen Außenpolitik gemacht wird, nämlich die, die für die Beziehungen zu den Nachbarn (Europäische Nachbarschaftspolitik), für Entwicklungspolitik und für Humanitäre Hilfe Verantwortung tragen. Etwas vereinfacht könnte man sagen: Der Hohe Vertreter hatte den Segen der Mitgliedstaaten, die für sich die Zuständigkeit in der Außenpolitik weiterhin reserviert haben, aber ihm fehlten ein Apparat und wesentliche finanzielle Mittel. Die Kommissare hingegen hatten das Geld und die Bürokratie, aber nicht das Mandat. Eine solche Konstruktion kann funktionieren, wenn die handelnden Personen sich gut verstehen. Dies war allerdings bei Javier Solana und seiner Kommissionskollegin Benita Ferrero-Waldner nicht der Fall. Spötter witzelten daher, der größte Graben, der Europa teile, sei die Rue de la Loi in Brüssel. Auf der einen Seite dieser Straße hat die Kommission ihren Sitz, gegenüber der Rat.

Die Position des Hohen Vertreters im Lissabonner Vertrag unterscheidet sich von der gleichnamigen Funktion von vorher zwar nicht im Namen, aber in der Funktion. Deshalb wollten die Autorinnen und Autoren des schließlich gescheiterten Verfassungsvertrages die Position auch "Europäischer Außenminister" nennen, was am Widerstand einiger Mitgliedstaaten gescheitert ist. Der neue Hohe Vertreter, tatsächlich handelt es sich um eine Hohe Vertreterin, da als erste die Britin Catherine Ashton in dieses Amt berufen wurde, vereint nämlich die bisher getrennten Funktionen in seiner Person. Die Hohe Vertreterin ist die Repräsentantin des Rates, führt aber zugleich im Außenministerrat auch dauerhaft den Vorsitz und ist zudem als Vizepräsidentin der Europäischen Kommission auch dort für die Außenpolitik zuständig. Die Frau, die sich nicht Außenministerin nennen darf, bekommt allerdings ein Außenministerium, das Europäischer Auswärtiger Dienst heißt und das aus Mitarbeitern des Rates, der Kommission sowie der nationalen diplomatischen Dienste bestehen soll. Der Hohen Vertreterin und ihrem Auswärtigen Dienst unterstehen auch die Vertretungen in Drittländern, also die Botschaften der EU in anderen Ländern.

Die Kontroversen

Aber eine neue institutionelle Struktur ist noch keine Garantie für Erfolg. Das unterstreichen auch die Beiträge der Autorinnen und Autoren.

Elfriede Regelsberger, stellvertretende Direktorin des Instituts für europäische Politik, einer europäisch orientierten Forschungseinrichtung, fragt kritisch, ob die Mitgliedstaaten eigentlich bereit seien, das zu verwirklichen, was sie im Vertrag von Lissabon selbst beschlossen haben. Was Elfriede Regelsberger nur vornehm andeutet, wenn sie sagt, die Hohe Vertreterin müsse ihren Platz noch finden, hat andernorts für harsche Kritik gesorgt. Die Staats- und Regierungschefs hätten mit Catherine Ashton - genau wie mit Herman Van Rompuy als Präsidenten des Europäischen Rates - eine Person nominiert, die weitgehend ein unbeschriebenes Blatt sei. Das zeige, so die Kritik, dass die Mitgliedstaaten im Grunde genommen überhaupt nicht bereit seien, Macht und Einfluss an die europäischen Institutionen abzugeben.

Europa werde, so der Politikwissenschaftler Ulrich Schneckener, "derzeit von Mister No, Monsieur Non und Frau Nein regiert, die ihre Einigkeit vor allem in wechselseitigen Blockaden dokumentieren". Er spielt damit auf den britischen Premierminister, den französischen Präsidenten und die deutsche Bundeskanzlerin an. Und der Professor warnt, dass ein Europa, das von seinen eigenen Protagonisten nicht ernst genommen werde und sich selbst wenig zutraue, in der Welt an Gewicht und Einfluss verlieren werde. Zudem werde die Zukunft des "Modells Europa" wesentlich davon abhängen, ob es

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 264 der EU gelinge, einen Beitrag zur Lösung der globalen Probleme zu leisten.

Ein wichtiger Partner und zugleich Antipode der europäischen Außenpolitik sei China. Hierauf weist die Leiterin des Alfred-Oppenheim-Zentrums für europäische Zukunftsfragen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Almut Möller, hin. China fordere die EU politisch und wirtschaftlich heraus und tue dies auch in Bezug auf die eigene Identität. Die "strategische Partnerschaft", die die EU angeblich mit China betreibe, erweise sich bei näherem Hinsehen als leere Worthülse. Aber das Spiel, so die Wissenschaftlerin weiter, sei noch nicht verloren, Europa habe dem chinesischen Machtstreben durchaus etwas entgegenzusetzen. Optimistisch schließt sie ihren Beitrag: "Konkurrenz belebt das Geschäft."

Bei diesen Geschäft, nämlich der Außenpolitik, sind und bleiben die USA der wichtigste Partner. Hierauf weist der deutsche Diplomat Valentin Gescher hin, der sich in der Europäischen Kommission mit transatlantischen Fragen beschäftigt. Er macht darauf aufmerksam, dass sich unter Präsident Barack Obama eine Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik vollzogen habe. Diesen Ball müsse Europa aufnehmen. Einen selbstverständlichen Logenplatz im amerikanischen Strategiedenken hätten die Europäer nicht mehr. Im Gegenteil: In den zahlreichen Grundsatzreden des US-Präsidenten spiele Europa keine Schlüsselrolle. Das bedeute, dass die Europäer selbst die Initiative ergreifen müssten, wenn sie Aufmerksamkeit finden wollten. "Für die EU heißt das, dass es auf Beharrlichkeit und Verlässlichkeit ankommt. Vor allem aber müssen wir erfolgreich bleiben. Wir müssen nicht nur die Krise meistern, sondern uns neue Wachstumsquellen erschließen. Nur dann werden wir gehört - in der Welt wie auch von den USA."

Gemeinsam ist allen Beiträgen der Appell, dass man nur durch Gemeinsamkeit außenpolitisch etwas erreichen könne. In der Tat: Zwar ist die EU stolz, dass sie mit 500 Mio. Bürgern mehr Menschen repräsentiere als die USA und Russland zusammen, aber richtig bleibt auch, dass diese halbe Milliarde mittlerweile nur noch 7,8 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht.

Die EU hat sich mit dem Lissabonner Vertrag ehrgeizige Ziele für ihr auswärtiges Handeln gesetzt: Sie will Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Grundsätze des Völkerrechts festigen und fördern, den Frieden erhalten, Konflikte verhüten und die internationale Sicherheit stärken, die nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in den Entwicklungsländern fördern und die Armut zu beseitigen, sie will Handelshemmnisse abbauen und die Umwelt erhalten und zudem noch den Opfern von Naturkatastrophen helfen und die multilaterale Zusammenarbeit der Völker der Welt stärken. Als Spaziergang darf man sich ein solches Unterfangen nicht vorstellen, höchstens als gemeinsamen Marathon. Darüber, ob die EU hierfür hinreichend gerüstet und auch ausreichend bereit ist, geht die Diskussion um europäische Außenpolitik im Grundsatz.

Literatur

Franco Algieri: Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Wien 2010 (erscheint im Juli 2010)

José Manuel Durão Barroso, President of the European Commission: A Letter from Brussels to the Next President of the United States of America, Paul-Henri Spaak Lecture, Harvard University, 24 September 2008, online verfügbar (http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference= SPEECH/08/455&guiLanguage=en)

Mathias Jopp/Peter Schlotter (Hrsg.): Kollektive Außenpolitik - Die Europäische Union als internationaler Akteur, Baden-Baden 2007

Christos Katsioulis: Europäische Außenpolitik auf dem Prüfstand. Auf halber Strecke zum globalen Akteur?, Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2008, online verfügbar (http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/05811.pdf)

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Eberhard Sandschneider: Globale Rivalen - Chinas unheimlicher Aufstieg und die Ohnmacht des Westens, München 2007

Ulrich Schneckener: Die Zivilmacht Europa und die prä-westfälische Herausforderung. Vortrag anlässlich der Verleihung des Peter-Becker-Preises für Friedens- und Konfliktforschung der Philipps- Universität Marburg, Marburg 2005, online verfügbar (http://web.uni-marburg.de/konfliktforschung/pdf/ schneckener.pdf)

Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert: Informationen zur politischen Bildung, Heft 291, Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn 2006, online verfügbar

Eckart D. Stratenschulte (Hrsg.): Europas Außenpolitik. Die EU als globaler Akteur, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2006

Internet bpb.de (Server der Bundeszentrale für politische Bildung mit umfangreichen Informationen, Folien, Unterrichtseinheiten und Publikationsangeboten über Europa) (http://www.bpb.de) consilium.europa.eu (Internetseite der Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik) (http://www.consilium.europa.eu/showPage.aspx?id=1847&lang=de) europarl.de (Server der Vertretung des Europäischen Parlaments in Deutschland) (http://www.europarl. de) auswaertiges-amt.de (Europa-Seite des Auswärtigen Amtes (http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/ de/Europa/Uebersicht.html) dgap.org (Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik) (http://www.dgap.org) iep-berlin.de (Internetseite des Instituts für europäische Politik) (http://www.iep-berlin.de) iss.europa.eu (Internetseite des EU-Instituts für Sicherheitsstudien in Paris "Institute for Security Studies", dessen Publikationen allerdings nur auf Englisch und/oder Französisch erscheinen) (http:// www.iss.europa.eu) cafebabel.de (mehrsprachige kostenlose Internetzeitschrift, die sich speziell an ein jüngeres Publikum richtet) (http://www.cafebabel.de)

euractiv.de(unabhängiger kostenloser Informationsdienst) (http://euractiv.de)

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Europa muss sich selbst ernst nehmen Standpunkt Elfriede Regelsberger

Von Dr. Elfriede Regelsberger 29.6.2010

Dr. Elfriede Regelsberger ist stellvertretende Direktorin des Instituts für europäische Politik in Berlin.

Europa versteht sich nach der Auffassung von Elfriede Regelsberger als globaler Akteur. Um als gewichtige Stimme in der internationalen Politik Gehör zu finden, bedürfe es aber gemeinsamen Handelns und die EU dürfe sich nicht nur mit sich selbst beschäftigen.

Motive und Interessen

Sprach man in den Siebzigerjahren noch selbstverständlich von Europa als einem (außen)politischen Zwerg, der sich nach eigenem Bekunden der europäischen Staats- und Regierungschefs zu Beginn des neuen Jahrtausends auf dem Weg zu einer globalen "Macht" befand, so wird das internationale Auftreten der EU-27 heute zutreffender und vorsichtiger mit dem Begriff des "globalen Akteurs" umschrieben. Es fußt zum einen maßgeblich auf der Erkenntnis, dass jeder einzelne Mitgliedstaat seinen Stand auf der internationalen Bühne am ehesten erhalten und dort Einfluss nehmen kann, wenn er gemeinsam mit den anderen Partnern und nicht mehr im Alleingang agiert (Selbstbehauptungswille).

Zum anderen verstehen sich die Europäer mittlerweile selbst als eine eigene "Triebkraft", das internationale Geschehen mit ihren Wertvorstellungen und Interessen aktiv zu beeinflussen (Gestaltungsanspruch). Sie lassen sich dabei maßgeblich vom Erfolg ihres eigenen Integrationsmodells leiten, das auf einen friedlichen Interessensausgleich, die Förderung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie auf den Schutz der Menschenrechte setzt. Dabei kann es in der Praxis im Kreis der EU-27 durchaus zu Meinungsverschiedenheiten über die Prioritätensetzung und den Mitteleinsatz kommen, wobei die Europäer heute nicht mehr vor dem Einsatz militärischer Mittel zurückschrecken. Ihr Versagen auf dem westlichen Balkan Mitte der 1990er-Jahre gab - neben einer Kehrtwende in der britischen Politik ab 1998 - den Anstoß zu einem qualitativ bedeutsamen Ausbau des Instrumentariums der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) in Form der zivilen und militärischen Krisenmanagement-Operationen.

Schließlich wird die GASP als wichtiger Teil des gesamten Prozesses einer sich immer mehr verfestigenden Europäischen Union verstanden (Integrationsmotiv). Aus den Reformdebatten von "Maastricht" bis "Lissabon" und auch bereits aus jenen der Achtzigerjahre ist allerdings abzulesen, dass diese Antriebsfeder für die GASP und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nicht in allen Mitgliedstaaten gleich stark ausgeprägt ist. Gleichwohl hat keine der beteiligten Regierungen bisher ihre Mitgliedschaft in der GASP, die im Übrigen an die gleichzeitige Mitgliedschaft in der EU gebunden ist - d. h. Teilmitgliedschaften, wie sie etwa einmal für die Türkei angedacht worden sind, sind nicht möglich - aufgekündigt. Ob groß oder klein, jedes EU-Land weiß um die Vorteile eines Verstärkers der eigenen (Einzel)Stimme und schätzt zugleich die Möglichkeiten, die das Verbundsystem bietet, für eigene außenpolitische Anliegen die Unterstützung der EU-Partner einzufordern. Bereits der Erdölboykott der arabischen Staaten zu Beginn der Siebzigerjahre führte den Europäern ihre wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von Entwicklungen in anderen Teilen der Welt drastisch vor Augen und zwang sie zu ersten abgestimmten Schritten einer europäischen Nahostpolitik.

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Vergleichsweise neue Bedrohungen wie der internationale Terrorismus seit dem 11. September 2001, die Politik von "Schurkenstaaten" oder die durch das Ende des Ost-West-Konflikts in den Neunzigerjahren entfachten Krisenherde in der europäischen Nachbarschaft und insbesondere auf dem westlichen Balkan untermauerten die Notwendigkeit eines konzertierten europäischen Vorgehens, allerdings ohne automatische Erfolgsgarantie!

Erfolg und Misserfolg einer gemeinsamen "europäischen Stimme" in der internationalen Politik werden durch mehrere Faktoren bestimmt. Ihr wichtigster ist sicherlich der politische Wille der an der GASP beteiligten Regierungen, die kollektiven Interessen nationalen Belangen im Einzelfall voranzustellen und entsprechend zu handeln. Zweitens bedarf es geeigneter Institutionen, Entscheidungsverfahren und Instrumente für eine kohärente und effiziente europäische Außenpolitik. Drittens ist jede noch so geschlossene Anstrengung der EU-27 zum Scheitern verurteilt, wenn die Adressaten der GASP das europäische Anliegen als unerwünscht oder nicht angemessen zurückweisen. Europäische Kritik an der Menschenrechtslage in Staaten des Nahen Ostens, in China oder in Zentralasien ist hierfür ebenso ein Beleg wie die häufig ablehnende Haltung Israels zu europäischen Vermittlungsbemühungen im Nahost-Friedensprozess. Schließlich bedarf es im Zeitalter der Globalisierung konzertierter Schritte und einer Bündelung der politischen, wirtschaftlichen und im Extremfall auch der militärischen Ressourcen mit anderen wichtigen "Einflussgrößen" wie den Vereinigten Staaten oder Russland sowie im multilateralen Rahmen der Vereinten Nationen. Dies gilt für die Problematik iranischer Atomwaffen ebenso wie für die Befriedung Afghanistans, um nur zwei zentrale Themen der GASP zu nennen.

Organisationsgrundlagen

Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist und bleibt die Domäne der nationalen Regierungen. Auch wenn die EU-Mitgliedstaaten im Verbundsystem der GASP gemeinsam, aber nicht gemeinschaftlich, agieren, wollen sie "das Sagen" haben. Sie bestimmen die "Spielregeln", sie kontrollieren sich selbst und achten auf die Einhaltung des Vereinbarten, der Europäische Gerichtshof bleibt dort hingegen außen vor. Entsprechend weitreichend sind die Rechte der teilnehmenden Regierungen während sich das Europäische Parlament gewisse Informations- und Anhörungsrechte über Jahre erkämpfen musste und die Europäische Kommission häufig in einer Beobachterrolle verharren musste, aber wohl auch wollte. Wie die GASP heute im Einzelnen verfasst ist, ergibt sich aus dem Vertrag über die Europäische Union in der Fassung von Lissabon von 2007 und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, d. h. den "alten" und mit Lissabon umbenannten EG-Verträgen. Maßgeblich für das Wohl und Wehe der GASP ist die Fähigkeit der EU-27, in einer dem Thema angemessenen Zeit zu einer Meinungsbildung zu kommen und die so definierte Politik konkret und nach außen sichtbar umzusetzen. Dieser Prozess unterliegt der Einstimmigkeit, auch wenn der Vertrag in Einzelfällen die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen eröffnet. Diese Gemeinschaftmethode gilt in GASP-Kreisen als nach wie vor unangemessen für tatsächlich oder vermeintlich "sensible" Themen der Außen- und Sicherheitspolitik und "fremd" in einem an Konsens, und gegenseitigem Verständnis orientierten "Club" miteinander vertrauter Teilnehmer.

Gemessen an der ständig gewachsenen Zahl von Mitgliedern könnte man mutmaßen, dass in einem Kreis von 27 die Meinungsbildung heute weniger schnell und konfliktträchtiger von statten geht als früher. Doch ein Blick auf das, was die GASP täglich "produziert", stützt diese Vermutung nicht. Warum? Weil der quasi permanente Austausch von Informationen und Meinungen der an der GASP beteiligten nationalen Beamten der Außenministerien und ihrer politischen Spitzen dort Sozialisationseffekte und einen "Konzertierungsreflex" erzeugt, der vorrangig ergebnisorientiert ist und die eigene Positionsbestimmung auch und gerade an der Orientierung der Partner festmacht. Wenn allerdings bereits im Vorfeld der Beratungen Festlegungen auf nationaler Ebene erfolgt sind und/oder, wenn es um die Kernfrage von Krieg und Frieden wie im Falle des Irak 2003 geht, stößt das GASP-System an seine Grenzen. Dies gilt auch dann, wenn - wie immer wieder einmal etwa von französischer Seite geschehen - Staats- oder Regierungschefs den EU-Rahmen als Zwangsjacke empfinden und ihnen Alleingänge aus innen- oder außenpolitischen Gründen attraktiver erscheinen. Gleiches gilt für Fälle

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 268 in denen einige - in der Regel die großen - Mitgliedstaaten in kleineren Zirkeln Vorabsprachen treffen und diese dann den Übrigen als gemeinsame Position "aufgezwungen" werden oder dies von den Nichtteilnehmern solcher "Direktorien" zumindest so empfunden wird. Dies traf zuweilen für die europäische Politik auf dem westlichen Balkan und gegenüber dem Iran zu, wobei die Vorreiterrolle der EU-3 (Frankreich, Großbritannien, Deutschland) im letztgenannten Fall mittlerweile anerkannte Praxis ist.

Instrumente/ Ressourcen

Wie die klassische Außenpolitik, bedient sich auch die GASP der bekannten diplomatischen Instrumente. Mit einer regen Reisediplomatie in Krisengebiete und entsprechenden Vermittlungsbemühungen zwischen den Konfliktparteien versucht die EU über die Präsidentschaft, den Hohen Vertreter und ihre derzeit zwölf Sonderbeauftragten Einfluss auf das Geschehen zu nehmen. Als eine der prominentesten und erfolgreichsten Aktionen kann sicherlich das Krisenmanagement unter französischer Präsidentschaft im Georgienkrieg 2008 gelten. Die von der breiten Öffentlichkeit bewusst "verborgene" Demarchenpolitik, d. h. die diplomatische Einflussnahme auf das Verhalten einer fremden Regierung mit dem Ziel, in einem konkreten Fall eine Veränderung herbeizuführen, ist ein täglich intensiv genutztes Instrument in der GASP, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen. Die Bedeutung dieser Art diplomatischer Kontaktpflege wird von Kritikern der GASP gerne ignoriert ebenso wie der Stellenwert der europäischen Deklarationspolitik. Die öffentliche Verurteilung oder das Gutheißen der politischen Lage in Zimbabwe oder Belarus mag für den Bürger in der EU nur bedingt von Belang sein. Für die Adressaten der GASP hat die Frage, ob sich die EU mit ihrem Anliegen solidarisiert oder dagegen ausspricht, dagegen ein ganz anderes Gewicht. Zu Recht verweisen kritische Stimmen darauf, dass Worte allein nicht immer ausreichen, sondern umso wirkungsvoller sind, wenn sie mit konkreten "Taten" untermauert werden. Die EU bevorzugt hierbei eine positive Angebots- und Hilfspolitik, wobei diese durchaus an bestimmte Bedingungen geknüpft sein kann (Konditionalität), während eine negative Sanktionspolitik (Handelsbeschränkungen, Einreiseverbote usw.) als weniger erfolgversprechend gilt. Ein anderes Beispiel einer aktiv- gestaltenden europäischen Außenpolitik ist die seit den Neunzigerjahren beständig ausgebaute und bereits in vierzig Fällen praktizierte EU-Wahlbeobachtung - sei es in Südafrika, Russland, in den Palästinensischen Autonomiegebieten oder in Afghanistan.

Als die sicherlich anspruchsvollste Variante einer sichtbaren und konkreten GASP-Politik "vor Ort" ist schließlich auf das zivile und militärische Krisenmanagement der EU zu verweisen. In insgesamt etwa zwei Dutzend Operationen, vorrangig auf dem westlichen Balkan und in Afrika (u. a. Kongo, Horn von Afrika/Somalia, Tschad, Guinea-Bissau), aber auch in Afghanistan oder Indonesien und in der europäischen Nachbarschaft (Georgien, Moldawien/ Ukraine), haben sich die EU-Länder gemeinsam zur Befriedung der Lage engagiert. Nicht immer waren diese ESVP-Missionen uneingeschränkt erfolgreich. So zeigten sich Mängel in der EU-internen Koordination in Brüssel, bei der Bereitstellung und dem Einsatz der notwendigen zivilen oder militärischen Fähigkeiten durch die Mitgliedstaaten oder der Frage der finanziellen Lastenteilung und verfügbarer Ressourcen auf europäischer und nationaler Ebene. Doch insgesamt betrachtet wird man dem Urteil des früheren Hohen Vertreters für die GASP, Javier Solana, beipflichten können, der den rasanten Ausbau der ESVP ab 1999 bzw. der ESVP- Einsätze ab 2003 mit dem Begriff der Lichtgeschwindigkeit umschrieb.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 269 Sprecher/ "Gesichter" der GASP

Profil und Glaubwürdigkeit einer Außenpolitik lassen sich sowohl an Inhalten wie an den handelnden Personen festmachen. Der oft und gern bemühte Ruf des früheren amerikanischen Außenministers, Henry Kissinger, nach der (nicht vorhandenen) Telefonnummer seines europäischen Kollegen für das fehlende "Gesicht" der europäischen Außenpolitik ist spätestens seit 1999 Legende. Denn damals wurde der frühere Nato-Generalsekretär und spanische Außenminister, Javier Solana, zum ersten Hohen Vertreter für die GASP ernannt, um fortan der europäischen "Stimme" ein dauerhafteres "Gesicht" zu verleihen.

Javier Solana gelang es mit der ihm eigenen "persönlichen" Diplomatie GASP-intern wie gegenüber Dritten und der europäischen Öffentlichkeit, Vertrauen zu schaffen und maßgeblich das Profil der GASP - etwa bei der Befriedung Mazedoniens, in Bosnien-Herzegowina, im Nahost-Quartett oder bei der Definition einer Europäischen Sicherheitsstrategie (2003) - zu schärfen. Er konnte dies allerdings nicht im Alleingang, sondern in Absprache mit den Verantwortlichen des jeweiligen Vorsitzes, denn die EU-Länder hatten den Hohen Vertreter nur als "Zuarbeiter" für die Präsidentschaft konzipiert. Erst mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum 1. Dezember 2009 wurde das Akteursgefüge einem grundlegenden Wandel unterworfen.

Dieser wird am sichtbarsten in der neuen Funktion des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik: Zunächst hatte er als europäischer Außenminister Eingang in den Verfassungsvertrag von 2004 gefunden, wegen der gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden - und neuer Bedenken bei einigen EU-Ländern im Nachgang hierzu über die Reichweite der EU-Reform - einen anderen, d. h. bescheideneren Namen bekommen. Seine Befugnisse wurden jedoch nicht geschmälert. Diese zweifellos sehr anspruchsvolle Position ist deshalb von einer anderen Qualität als die des bisherigen Hohen Vertreters, weil er anstelle der rotierenden Präsidentschaft jetzt alleiniger Sprecher für die GASP ist, und zugleich in Form eines "Doppelhutes" die Funktionen des bisherigen Außenkommissars mit übernimmt. Mit seiner Verankerung als Vizepräsident der Europäischen Kommission eröffnet sich dem neuen Hohen Vertreter erstmals ein direkter Zugriff auf die Expertise der für die auswärtigen Beziehungen der EU relevanten Kommissionsbeamten und - vielleicht noch wichtiger - auf dort vorhandene finanzielle Ressourcen (z. B. Programme zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten in Nicht-EU-Ländern, Mittel im Rahmen der Stabilitäts- und Partnerschaftsabkommen für den westlichen Balkan oder der Nachbarschaftspolitik für die Nachbarstaaten im Süden und Osten der EU).

Wie die aktuelle Diskussion zeigt, bedürfen die neuen Bestimmungen des Lissabon-Vertrags noch weiterer Präzisierung und lassen eine Menge Interpretationsspielraum. Dies gilt insbesondere für den Europäischen Auswärtigen Dienst, der den Hohen Vertreter umfassend zu unterstützen hat, über dessen Größe und Zusammensetzung, Aufgabenspektrum und Finanzierung zwischen den Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament, die alle in verschiedener Funktion an seiner Ausgestaltung mitzuwirken haben, noch sehr kontrovers gestritten wird.

Doch auch die zum 1. Dezember 2009 von den Staats- und Regierungschefs als erste Hohe Vertreterin der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik ernannte Baroness Ashton muss ihren "Platz" sowohl EU-intern wie international erst noch finden. In Brüssel steht sie in unmittelbarer Konkurrenz zu dem ebenfalls neu installierten Präsidenten des Europäischen Rates (Van Rompuy), der "auf seiner Ebene" ebenfalls GASP-Außenkontakte wahrnimmt. In der Kommission hat sich Frau Ashton gegenüber einem außenpolitisch ebenfalls interessierten und seine eigene Machtposition stärkenden Kommissionspräsidenten zu behaupten und im Rat für Auswärtige Beziehungen, dem sie vorsitzt, nehmen die Außen- und informell auch die Verteidigungsminister ihr Tun kritisch unter die Lupe.

Nach den ersten Monaten mit "Lissabon" gewinnt man als Beobachter fast den Eindruck, dass etlichen Beteiligten das, was sie jahrelang während der Reformdebatte als zwingend notwendig für eine Stärkung der GASP erachtet hatten, nun, da es sich konkretisiert, zu weit geht, weil es ihrem Einfluss

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 270 entzogen werden könnte. Mit Stagnation, einem Mit-sich-selbst-beschäftigen oder einem Rückfall in alte Verfahrensmuster kann die EU-27 die von ihren Verantwortlichen selbst reklamierte, von den europäischen Bürgern erwartete und von der internationalen Gemeinschaft eingeforderte Rolle als globaler Akteur jedoch nicht erfüllen!

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Die EU als globaler Akteur in Zeiten der Krise Standpunkt Ulrich Schneckener

Von Prof. Dr. Ulrich Schneckener 29.6.2010 Prof. Dr. Ulrich Schneckener ist Professor für internationale Beziehungen & Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Osnabrück.

Nicht nur in "Sonntagsreden" muss Europa einig sein, meint Ulrich Schneckener. Denn wechselseitige Blockaden würden verhindern, dass die EU ihren Beitrag zur Lösung globaler Probleme leiste. Aus der Finanzkrise könne Europa daher Lehren ziehen.

Vielleicht wird man eines Tages den Hedgefonds und anderen Finanzakteuren noch einmal dankbar sein: Was über Jahre politisch nicht möglich gewesen war, haben sie in wenigen Wochen mit ihrer Spekulation gegen den Euro erzwungen. Die Eurozone kommt nicht mehr ohne eine politische Governance-Struktur aus, inklusive der Schaffung von Gemeinschaftsinstrumenten, um den in Schwierigkeiten geratenen Mitgliedern - wie Griechenland - aus der Klemme zu helfen. Die EU- Mitgliedstaaten müssen künftig ihre Wirtschafts-, Steuer- und Haushaltspolitik wesentlich stärker koordinieren und sich regelmäßigen Kontrollen unterziehen, etwa durch die EU-Kommission und gegebenenfalls auch durch das EU-Parlament. Die Krise besitzt insofern das Potenzial, eine Vertiefung der Integration herbeizuführen, zu der die politischen Entscheidungsträger bis dato nicht bereit waren. Letzteres gilt insbesondere für die deutsche Politik, die stets allen Vorschlägen entgegentrat, die zu einer "europäischen Wirtschaftsregierung" führen könnten, um dann buchstäblich über Nacht eine dramatische Kehrtwende zu vollziehen. Die bittere Lektion, die die globalen Finanzmärkte Merkel & Co erteilt haben, war offenbar notwendig.

No, Non und Nein

Ob jedoch aus der aktuellen Krise die richtigen Lehren gezogen werden, bleibt abzuwarten. Denn die EU wird von einer Generation von Politikern und Politikerinnen regiert, bei der - von den üblichen Sonntagsreden abgesehen - der Sinn für den europäischen Einigungsprozess nicht sonderlich ausgeprägt ist. Stattdessen dominieren Nullsummenmentalität, taktische Spielchen, nationale Egoismen und damit verbunden Versuche, die europäischen Institutionen systematisch zu schwächen. Symptomatischdafür war die Auswahl des Personals für die neuen Spitzenjobs (EU-Präsident und EU-Außenbeauftragte), die immerhin die EU in der Welt vertreten sollen. Der Umgang mit der Eurokrise ist ein Ausdruck für einen tiefsitzenden Mangel an Gemeinsinn, Solidarität und historischem Bewusstsein bei den verantwortlichen Akteuren. Plakativ formuliert: Europa wird derzeit von Mister No, Monsieur Non und Frau Nein regiert, die ihre Einigkeit vor allem in wechselseitigen Blockaden dokumentieren. Vor diesem Hintergrund ist es absehbar, dass die konkrete Umsetzung des beschlossenen Rettungspakets zu erheblichen Richtungs- und Verteilungskämpfen innerhalb der EU führen wird. Dabei zeichnen sich vier Konfliktlinien ab: zwischen Frankreich und Deutschland mit ihren jeweils unterschiedlichen Ansätzen zur Geld- und Wirtschaftspolitik; zwischen dem Finanzplatz Großbritannien und denjenigen, die die Finanzmärkte stärker regulieren wollen; zwischen den Netto- Zahlern und den verschuldeten Südländern sowie zwischen Euroländern und Nicht-Euroländern, da letztere direkt und indirekt mit in die Haftung genommen werden.

Die Binnenkrise der EU dürfte daher noch länger anhalten, möglicherweise wird sie sich politisch weiter zuspitzen. Dies hängt nicht nur mit den aktuellen Problemen zusammen, sondern seit den

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Vertragsverhandlungen von Nizza (2000) hat sich zwischen den EU-Mitgliedstaaten erheblicher Konfliktstoff angesammelt, der nur mäßig durch Formelkompromisse bemäntelt werden konnte. Nun handelt es sich hierbei keineswegs um ein Novum in der Geschichte der europäischen Integration: Stets war diese von Krisen und Rückschlägen gekennzeichnet, selbst als die Zahl der Mitglieder noch weitaus geringer war. Allerdings hat sich die Welt um Europa in dramatischer Weise verändert - und damit auch die Rolle, die die EU in dieser veränderten Welt wahrzunehmen hat. Im Unterschied zu den früheren Krisen sind die Erwartungen an das europäische Projekt deutlich gestiegen - und zwar sowohl innerhalb Europas als auch im internationalen Umfeld. Umso prekärer ist es, dass sich die EU ihre anhaltende Binnenkrise und die damit verbundene Selbstbezogenheit zu einem Zeitpunkt leistet, in dem das internationale System selbst in einem tiefgreifenden Wandel begriffen ist und vor einer Reihe von Herausforderungen steht, die das erreichte Maß an globalen, multilateralen Regieren (Global Governance) akut gefährden.

Die Krise des Multilateralismus

Es sind vor allem drei Prozesse, die im vergangenen Jahrzehnt zu einer strukturellen Krise des Multilateralismus geführt haben: Der erste ist mit dem Problem fragiler beziehungsweise versagender Staatlichkeit verbunden. Denn internationales Regieren ist konstitutiv auf die doppelte Ordnungsfunktion von Staaten angewiesen, die zum einen nach innen eine öffentliche Ordnung gewährleisten sollen, zum anderen gemeinsam das internationale Staatensystem bilden. Fragile Staaten sind nun weder in der Lage, grundlegende Funktionen gegenüber ihren Bürgern zu erbringen, noch ihren internationalen Verpflichtungen gerecht zu werden. Diese Problematik ist zwar nicht neu, sie ist aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus zwei Gründen stärker in das Blickfeld geraten: Zum einen führt fragile Staatlichkeit zur Verschärfung bestimmter grenzüberschreitender Problemlagen, seien sie sicherheitspolitischer, sozio-ökonomischer oder ökologischer Art, auch weil diese Länder von Globalisierungsprozessen zum Teil besonders negativ betroffen sind; zum anderen wird die Lösung von solchen, transnationalen Problemlagen auf regionaler oder globaler Ebene erschwert. Mit anderen Worten: Fragile Staatlichkeit macht globales Regieren erforderlich, verhindert aber gleichzeitig die Wirksamkeit internationaler Abkommen oder Regime. Je stärker Politikprozesse auf die internationale Ebene verlagert werden, desto wichtiger wird die Frage, ob Staaten oder Staatenbünde handlungsfähig und in der Lage sind, internationale Regelungen zu implementieren.

Der zweite Prozess bezieht sich auf den politischen und ökonomischen Aufstieg sogenannter "neuer" Mächte, zu nennen hier in erster Linie China, Indien und Brasilien, die in ihrer Sicherheits-, Wirtschafts- und Ressourcenpolitik klassisch nationalstaatlich und weniger multilateral ausgerichtet agieren. Mit Abstrichen gilt dies auch für andere, potenzielle Führungs- oder Regionalmächte. Sie stellen mehr oder minder artikuliert, teilweise mit guten Gründen, eingefahrene Spielregeln in internationalen Organisationen und Institutionen in Frage. Je nach Lage fordern sie mehr Teilhabe (siehe Reform des Internationalen Währungsfonds oder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen) oder sie entziehen sich globalen Regelungen, die jedoch ohne ihre Mitwirkung kaum zum Erfolg führen können (siehe Klima- oder Handelsregime ohne China oder Indien, globale Energiepolitik ohne China, Proliferationsregime ohne Indien, Pakistan oder Iran). Verstärkt wurde diese Tendenz durch die US- Politik, die nach dem 11. September dezidiert eine Abkehr von etablierten multilateralen Foren vollzog und sich stattdessen für ein unilaterales Vorgehen oder für ein instrumentelles und selektives Verhältnis zum Multilateralismus entschied.

Der dritte Prozess betrifft die gravierenden, internen Probleme des institutionalisierten Multilateralismus, vor allem des Systems der Vereinten Nationen sowie politikfeldspezifischen Regimen und Foren, innerhalb derer sich Staaten in multilaterale Entscheidungsprozesse einbinden lassen, um gemeinsam Probleme bewältigen zu können, nationale Politiken zu koordinieren bzw. sich auf gemeinsame Normen und Standards zu verständigen. Die Probleme bestehen zum einen in einer strukturellen Reformunfähigkeit internationaler Organisationen, wie sie bei den Vereinten Nationen (VN), der Welthandelsorganisation (WTO) oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF) deutlich wird. Zum anderen wird häufig eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners betrieben, die aber

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 273 den Herausforderungen kaum angemessen ist. Hinzu kommen mangelnde Transparenz und Legitimität von Verfahren und Entscheidungsprozessen, die ungenügende Effektivität bei der Umsetzung von Beschlüssen, der Mangel an Koordination und Kohärenz sowie hochspezialisierte, technokratische Regime, die allerdings als Problemlösung nur wenig tauglich sind (siehe das Beispiel des Kyoto- Regimes in der Klimapolitik). Im Ergebnis lässt sich daher mehr und mehr ein Ausweichen globaler Politiksteuerung in informelle Strukturen beobachten, etwa die Bildung von Netzwerken, "Clubs" und "Koalitionen der Willigen", in denen sich primär "Gleichgesinnte" treffen, aber nicht zwingend jene, die zur Lösung von Problemen in der Lage wären.

Im Unterschied dazu hat sich die EU in ihrer Sicherheitsstrategie von 2003 zum Anwalt des "effektiven Multilateralismus" erklärt, womit zwar einerseits die Reformbedürftigkeit des multilateralen Systems betont, andererseits aber die Stärkung und Weiterentwicklung desselben angestrebt wird. Wer sich aber diesem Ziel verschrieben hat, der muss Antworten auf die drei Prozesse finden und sich um die nachhaltige Stärkung von Staatlichkeit, die verlässliche Einbindung aufstrebender Mächte und der USA in das multilaterale System sowie die Lösung der Binnenkrise etablierter Institutionen und Regime bemühen.

Zivilmacht gesucht

Angesichts der beschriebenen "Baustellen" von Global Governance wird die EU als global und multilateral agierende "Zivilmacht" mehr denn je benötigt. Die Zukunft des Modells Europa, gerade auch wenn es weiterhin als "Vorbild" für andere Weltregionen dienen will, dürfte nicht zu einem geringen Teil davon abhängen, ob und inwieweit es der EU gelingt, einen Beitrag zur Lösung von globalen Problemen zu leisten. Mit dieser Frage dürfte mehr und mehr die Legitimation des europäischen Einigungs- und Integrationsprozesses verbunden zu sein. Eine weltpolitische "Auszeit", wie sie zurzeit aufgrund der hausgemachten Probleme droht, wäre daher fatal, weil die globalen Herausforderungen und auch andere Akteure nicht darauf warten, bis sich die EU intern sortiert hat. Wer die Fähigkeit und Bereitschaft zur Gestaltung weltpolitischer Fragen verliert oder nicht aufbringt, der wird zunehmend den Vorstellungen und Entscheidungen Anderer ausgeliefert sein - die Eurokrise liefert hier einen Vorgeschmack. Kurz: Ein Europa, das von seinen eigenen Protagonisten nicht ernst genommen wird, sich selbst wenig zutraut, sich aufgrund nationaler Egoismen unentschieden und uneinig präsentiert, wird in der Welt an Gewicht und Einfluss verlieren und schlicht anderen die Gestaltung der globalen Ordnung überlassen.

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Konkurrenz belebt das Geschäft: Wie China Europa voranbringt Standpunkt Almut Möller

Von Almut Möller 29.6.2010 Almut Möller ist die Leiterin des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen an der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. 2006 war sie Gastwissenschaftlerin an der Renmin University of China in Peking.

Mit China wächst der Europäischen Union ein neuer Konkurrent, meint Almut Möller. Europa müsse mit einer Stimme sprechen, um in dieser Herausforderung zu bestehen. Chinas Druck zeige bereits Wirkung in der EU, denn "Konkurrenz belebt das Geschäft".

Fast Leid tun kann er einem, der kleinflächige Patchwork-Kontinent Europa. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht von allen Seiten bedrängt, geschmäht und ausgelacht wird. Jahrzehnte lang war Europa der Ort, an dem Weltpolitik stattfand. In der Zeit des Kalten Krieges standen sich Ost und West auf dem europäischen Kontinent direkt gegenüber. Die Aufmerksamkeit der Weltmächte war Europa damit sicher und es richtete sich komfortabel ein in dem Glauben, der Nabel der Welt zu sein.

Heute ist dieser Glauben erschüttert. Der Kalte Krieg hat seine Prägekraft verloren und die Globalisierung der Weltwirtschaft hat neue Machtzentren entstehen lassen. Heute kann sich Europa nicht mehr auf seinen Erfolg und auf die Aufmerksamkeit der Welt verlassen. Es muss sich diese erarbeiten, gegen eine wachsende Konkurrenz von Staaten und Gesellschaften wie Indien und China. Und weil die Europäische Union bisher offensichtlich damit kämpft, sich im neuen globalen Rennen zu behaupten, ist Europa-Kritik "in".

Denn an die neue Lage gewöhnt sich, so scheint es, der alte Kontinent Europa nur langsam. Zwar wird von Analysten schon seit vielen Jahren das Schreckgespenst einer "Marginalisierung Europas" an die Wand gemalt. Und die zentrale Erklärung der europäischen Regierungen, wozu die Europäische Integration eigentlich heute noch wichtig sei, jetzt, wo seit 1945 weitgehend Frieden in Europa herrsche, ist schon seit einigen Jahren immer wieder der Verweis auf die größere Handlungsfähigkeit in der globalisierten Welt. Deshalb habe die Europäische Union den Vertrag von Lissabon erarbeitet, der das EU-Mehrebenensystem effektiver machen soll. Deshalb habe sie ihren Binnenmarkt erweitert und sich ein Reformprogramm ("Lissabon-Strategie", beziehungsweise künftig "Europa 2020") verordnet. Aber diese Regierungserklärungen klangen oft abstrakt und plakativ.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 275 Europa und Chinas neue Machtpolitik

Inzwischen hat jedoch das Schreckgespenst spürbar Gestalt angenommen. Bestes Beispiel sind die Klimaverhandlungen in Kopenhagen im Dezember 2009. Hier zeigte die chinesische Delegation Europa und der Welt, wie neue Machtpolitik à la Peking funktioniert. Anstatt dies nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, schlichen die Europäer kleinlaut, vielleicht auch geschockt, von dannen. Es gab keine kraftvolle gemeinsame Erklärung im Nachgang zu Kopenhagen, in der die EU-Mitglieder noch einmal ihr Klimakonzept deutlich machten und einen abgestimmten und überzeugenden Fahrplan vorlegten, wie sie dieses verwirklichen wollen. Es schien, als hätten sich die Europäer damit abgefunden, dass sich das Gleichgewicht in ihren Beziehungen mit China nun endgültig in Richtung Osten verschoben hat.

Offiziell gehen die Beziehungen zurück auf das Jahr 1975, in dem zum ersten Mal ein Kommissar der Europäischen Gemeinschaft nach China reiste. 1978 schloss die Europäische Gemeinschaft ein erstes Handelsabkommen mit China ab. Die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen wurden weiter vertieft und 1988 eröffnete die Europäische Kommission eine Vertretung in Peking. Die Menschrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 führten zu einer deutlichen Abkühlung der Beziehungen und die Europäische Gemeinschaft verhängte Sanktionen gegen China, unter anderem für Waffenlieferungen. Knapp zehn Jahre später, im Jahr 1998, legte die EU-Kommission dann den Plan für eine "umfassende Partnerschaft" ("comprehensive partnership") mit China vor. Im selben Jahr fand der erste hochrangige EU-China-Gipfel in London statt. Ende 2009 trafen sich die EU und China in diesem Format zum insgesamt 12. Mal. Inzwischen hat sich die EU gar das Ziel einer "strategischen Partnerschaft" mit China vorgenommen, die allerdings bis jetzt nicht mit Inhalten gefüllt wurde und so zur leeren Worthülse verkommen ist.

Europas Strategie?

Insgesamt ist das Strategieverständnis der europäischen Außenpolitik nicht überzeugend. Das gilt nicht nur für die Beziehungen zu China, sondern ist eine Schwachstelle der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als solcher. Aktuelles Beispiel dafür ist der Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD), "Europas Diplomaten", unter der neuen EU-Außenbeaufragten Catherine Ashton. Mit dem EAD, der die nationalen diplomatischen Dienste nicht ersetzen, sondern ergänzen soll, besteht die seltene Gelegenheit, ein modernes außenpolitisches Konzept auf dem Reißbrett zu entwerfen. Eigentlich müsste sich der Aufbau des EAD an den strategischen außenpolitischen Interessen und den daraus abgeleiteten Prioritäten der Europäischen Union orientieren. Welche Regionen sind besonders wichtig? Welches sind die zentralen Interessen, die gegenüber Peking, Delhi, Moskau oder Washington vertreten werden müssen? Wie können die Botschaften dazu am besten personell und finanziell ausgestattet werden? In der Realität sind die aktuellen Verhandlungen jedoch ein bürokratischer und kein strategischer Prozess. Wie es momentan aussieht, lassen die EU und ihre Mitglieder eine Chance verstreichen, ihre außenpolitische Interessenpolitik von Grund auf zu erneuern und auf ein starkes Fundament zu stellen - im Falle Chinas etwa im Bereich der Klima-Außenpolitik ("green diplomacy").

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 276 China und die EU heute

Anhand der Beziehungen zwischen der EU und China lassen sich eine ganze Reihe von Problemen und Dilemmata ablesen, die sich für die Europäische Union und ihre inzwischen 27 Mitgliedstaaten heute stellen. China fordert die EU-Länder wirtschaftlich, politisch und identitär heraus.

Wirtschaftlich sind beide aufeinander angewiesen. China ist heute der zweitwichtigste Handelspartner der Europäischen Union und umgekehrt ist die EU für China der größte Handelspartner. Die Europäische Union hat sich aber neben wirtschaftlichen Interessen auch einer wertegebundene Außenpolitik verschrieben: "In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen (...). Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, (...) und zum Schutz der Menschenrechte.", so heißt es in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung von Lissabon. In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die mit dem Vertrag von Lissabon rechtsverbindlich wurde, werden die Werte, auf die sich die Union gründet und die sie auch nach außen vertreten will, ausdifferenziert.

Wie will die Union aber wirtschaftlich kooperieren und gleichzeitig eine wertegebundene Außenpolitik mit einem Land wie China betreiben, in dem regelmäßig Menschenrechtsverletzungen stattfinden? Dass die Europäische Union und ihre Mitglieder hier keine konsequente Politik betreiben und sich deutlich von ihren wirtschaftlichen Interessen leiten lassen, wird auch in China wahrgenommen. Dies schwächt die Glaubwürdigkeit der Union und stellt ihre Identität in Frage. Schwächen wie diese weiß China gezielt auszuspielen - eine Tatsache, auf die etwa Franco Algieri, Forschungsdirektor am Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES), in seinen Arbeiten immer wieder hinweist.

Wie sollte die Europäische Union mit der Herausforderung China umgehen? Sicher nicht, indem sie sich weiter dem diffusen Begriff einer strategischen Partnerschaft ohne Substanz verschreibt. Selbst wenn es gelänge, europäische Interessen gegenüber China nüchtern zu identifizieren und diese in eine gemeinsame europäische Strategie zu gießen, bliebe immer noch die Frage offen, wie Chinas Interessen gegenüber einer solchen Partnerschaft gelagert werden. Kurzum: Mit dem Ziel einer strategischen Partnerschaft wird die Europäische Union bis auf Weiteres nicht weiter kommen.

Die Arbeit muss für die Europäer vielmehr zu Hause anfangen. China wird die Europäer nur dann (wieder) ernst nehmen, wenn sie machtvoll sind - wie etwa im Bereich der Handelspolitik, wo die EU tatsächlich mit einer Stimme spricht. Catherine Ashton, die neue Außenbeauftragte der Europäischen Union, die eine Zeit lang den Posten der EU-Handelskommissarin ausgefüllt hat und China aus dieser Zeit kennt, hat in diesem Zusammenhang kürzlich in einem Interview mit der Zeitung "Die Welt" etwas Interessantes gesagt: "Nun, bei den WTO-Verhandlungen der Doha-Runde war China sehr hilfreich. Meine jüngsten Erfahrungen als Handelskommissarin waren also positiv."

China gewinnt an Macht, aber die Europäische Union hat dem durchaus etwas entgegenzusetzen. Einige Neuerungen des Vertrags von Lissabon haben schon ihre Wirkung gezeigt: Zum Beispiel hat sich der neue Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, entgegen aller Unkenrufe schon jetzt zu einem zentralen Spieler entwickelt, der dem Europäischen Rat - wie mit dem neuen Vertrag beabsichtigt - mehr Kohärenz und Sichtbarkeit verleiht. Es gilt abzuwarten, wie sich der EAD entwickeln wird, wenn die geplanten 8.000 Mitarbeiter ihre Posten angetreten haben. Europa bewegt sich, und China ist nicht unschuldig daran. In diesem Sinne: Konkurrenz belebt das Geschäft.

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Und wenn Europa plötzlich doch mit einer Stimme spräche? Standpunkt Valentin Gescher

Von Valentin Gescher 29.6.2010 Valentin Gescher ist als Beamter des Auswärtigen Amtes an die Europäische Kommission abgeordnet. Er arbeitet innerhalb der Generaldirektion für auswärtige Beziehungen an den Beziehungen der Europäischen Union zu den USA und Kanada. Die Einschätzungen in diesem Artikel geben seine persönliche Meinung wieder.

Nur wenn Europa mit einer Stimme spricht, hat es eine Chance, in Washington gehört zu werden, sagt Valentin Gescher. Seiner Meinung nach muss die EU aber vor allem ein verlässlicher und beharrlicher Partner sein, um in der Welt beachtet zu werden.

Schaurig das Nachrichtenbild dieser Tage beidseits des Atlantik: Finanzkrise, Rekordschulden der öffentlichen Haushalte, massiv anschwellende Protestbewegungen in Europa und den USA. Dazu eine zähe internationale Agenda: Ob Klimaschutz, Afghanistan-Einsatz, Iran, der Frieden im Nahen Osten oder die Lage der ärmsten Milliarde von Erdenbürgern - Fortschritte bemessen sich allenfalls in Trippelschrittchen.

Dabei hat Europa den USA viel zu verdanken. Uns ist die amerikanische Gestaltungsmacht seit Ende des Zweiten Weltkrieges gut bekommen. Ob aus NATO-Perspektive oder aus der Perspektive der EU, gemeinsam haben wir ein bis dato unerhörtes Maß an Freiheit und Sicherheit erreicht. Wir haben Wohlstand nicht nur für uns selber, sondern im globalen Maßstab geschaffen. Jetzt aber feixen nicht nur Untergangspropheten. Ist das euro-amerikanische Gesellschaftsmodell angezählt? Ist es Zeit, sich von transatlantischen Illusionen zu verabschieden und sich neuen Horizonten zuzuwenden? Oder ist im Gegenteil der Moment gekommen, uns aus vitalem Interesse in einem westlichen Zusammenschluss unterzuhaken?

Ein neuer Ton

Natürlich weder noch. Ein Rückzug in ein wie immer geartetes Schneckenhaus wäre nicht nur ein Irrweg. Er wäre vor allem aussichtslos. Krisenbewältigung in unserer verflochtenen Welt sieht anders aus. Kein europäischer Nationalstaat kann die aktuellen Herausforderungen auf sich gestellt meistern. Erinnern wir uns an den belgischen Europapolitiker Paul Henri Spaak: "Es gibt nur kleine europäische Staaten" hat er gesagt, und hinzugefügt: "Manche haben es nur noch nicht gemerkt."

Das gilt auch im Verhältnis zu den USA, mit dem es während der Präsidentschaft von George W. Bush nicht zum Besten stand. Der Tonfall hat sich inzwischen jedoch grundlegend gewandelt. Das wird besonders an den Nationalen Sicherheitsstrategien der USA deutlich, die der Präsident alle vier Jahre dem Kongress vorlegen muss. Obamas Strategiepapier, am 27. Mai 2010 der Öffentlichkeit vorgestellt, liest sich über weite Strecken als Widerruf der Bush-Doktrin. Die Terrorismusbekämpfung sieht Obama als die zweitwichtigste sicherheitspolitische Priorität der USA. An die oberste Stelle rückt er ein Bekenntnis zur Nicht-Verbreitungspolitik von Atomwaffen. Gleichzeitig erklärt die US-Regierung die Wirtschaftskraft und die Innovationsfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft zu den wichtigsten Grundlagen der Zukunftssicherung.

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Europäer sollten aufmerken. Mit diesem Strategiepapier schließt Obama die Kurskorrektur in der US- Außenpolitik ab. Er hat von dem unipolaren Denken seines Amtsvorgängers Abschied genommen und die US-Außenpolitik konsequent an den Realitäten des multipolaren 21. Jahrhunderts ausgerichtet. Er ist sogar weiter gegangen.

Trotz der tiefsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression, trotz enorm Kräfte zehrender innenpolitischer Gegensätze im politischen Washington hat er sich die Zeit für mehr als ein Dutzend Grundsatzreden genommen. Für manche ist er eigens um die halbe Welt gereist. Er wandte sich damit direkt an die Weltöffentlichkeit. Aber eben an die Weltöffentlichkeit, nicht an eine vornehmlich europäische. Warum auch? Barack Hussein Obama ist zweifelsohne der kosmopolitischste Präsident der US-Geschichte. Er ist jedoch auch der erste, dem das Verhältnis zwischen der Alten und der Neuen Welt nicht mit in die Wiege gelegt wurde.

Das Ansehen der USA in der Welt konnte er auf diese Weise schon verbessern, das Verhältnis der USA zu Russland wohl auch. Dennoch bleiben viele Versprechen Obamas unerfüllt. Osama Bin Laden ist nicht gefasst. Guantánamo ist auch nach mehr als einem Jahr nach dem Amtsantritt Obamas noch nicht geschlossen. Es lässt sich darüber streiten, wie viel bisher in Afghanistan, für den Friedensprozess im Nahen Osten oder in Bezug auf Irans oder Nordkoreas Nuklearpolitik erreicht wurde, und inwieweit der demnächst auf sich gestellte Irak seinen inneren Frieden finden wird.

Der EU können Rückschläge für die US-Diplomatie nicht gleichgültig sein. Auswirkungen auf den Friedensprozess im Nahen Osten wie auch die EU-Beziehungen zu den Mittelmeeranrainerstaaten liegen auf der Hand. Außerdem werden wir von der Weltöffentlichkeit als Teil des Westens insgesamt wahrgenommen, Enttäuschungen somit zumindest teilweise auch uns zugerechnet. Das legt Nüchternheit nahe. Allerdings ist noch nicht einmal die erste Hälfte der ersten Amtszeit Obamas vorbei. Seine Reden als Ankündigungspolitik abzutun wäre ein Fehler. Es sind Eröffnungszüge einer umfassend angelegten Strategie. Umso auffälliger ist, dass grundsätzliche Ausführungen des Präsidenten über das Verhältnis zu Europa, dem nach Washingtoner Bekunden nach wie vor wichtigsten Partner der USA, fehlen. Die Lücke wird durch die Verschiebung des ursprünglich für Mai 2010 vorgesehenen EU-USA-Gipfels noch offenbarer.

Ambivalenzen

Zwar hat die US-Administration das Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages am 1. Dezember 2009 ausdrücklich begrüßt. Gleichzeitig haben sich die USA aber vorbehalten, je nach Interessenlage auch auf der bilateralen Ebene im Benehmen mit einzelnen Mitgliedstaaten zu handeln. Diese operative Indifferenz oder Gleichgültigkeit der US-Diplomatie Europa gegenüber ist nicht neu und wohl auf absehbare Zeit unabänderlich. Zumindest vorübergehend geschmälert ist damit aber auch die Rolle der USA als Vordenker in den EU-USA-Beziehungen. Heißt das, dass die Initiative auf Brüssel übergegangen ist? Könnte dies die Stunde der Europäischen Union sein? Was folgt daraus für den Präsidenten des Europäischen Rates und für die Hohe Repräsentantin, die seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages für die Außendarstellung der EU verantwortlich zeichnen?

Kommissionspräsident Barroso hat bereits 2008 eine Erneuerung des Verhältnisses angemahnt und dazu eine Agenda vorgeschlagen. In zwei weiteren Reden 2009 und 2010 hat er dem Verhältnis der EU zu den USA eine Schlüsselrolle bei der Mobilisierung der Kräfte der Europäischen Union im globalen Wettbewerb zugewiesen. Die Erneuerung der Beziehungen zu den USA hat er zu einem der zentralen Anliegen seiner zweiten Amtszeit erklärt. Die Hohe Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Catherine Ashton, hat ihrerseits gegenüber dem Europäischen Parlament die Stärkung der zentralen Partnerschaften der EU zu einer von insgesamt drei Prioritäten ihrer Außenpolitik erklärt. Unter diesen Partnerschaften sind die Beziehungen zu den USA die wichtigsten. Mit keinem außenpolitischen Partner hat sich Lady Ashton in den ersten Monaten ihrer Amtsführung so oft getroffen wie mit Hillary Clinton. Die Tagesordnung, die bei derartigen Treffen zur Sprache kommt, reicht unter anderem von der

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Katastrophenhilfe für Haiti über Afghanistan und den Nahen und Mittleren Osten, Iran und Nordkorea, der Neukalibrierung des Verhältnisses zu Russland oder China, bis zu Luftverkehrsabkommen, Handelsfragen, der Regulierung der internationalen Finanzmärkte, Terrorismusbekämpfung und Datenschutz. Solch eine Agenda lässt nicht auf schnelle Lösungen hoffen. So ist nun einmal Außenpolitik.

"Europe, please surprise us"

Gleichwohl kritisieren Experten, dass die EU-USA-Beziehungen bislang die Dynamik früherer Zeiten nicht zurückerlangt haben. Beißend - und oft berechtigt - ihr Vorwurf an die Adresse der EU, sich mit tagespolitischen Kompromissen zu bescheiden und eine gründliche, selbstkritische Bestandsaufnahme vor sich her zu schieben.

Die Kritik zielt auch auf die seit zehn Jahren bestehende Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. In dieser Zeit sind die Verteidigungshaushalte der EU-Mitgliedstaaten, ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau, kontinuierlich gefallen. Die gegenwärtige Not der öffentlichen Haushalte wird weitere Einschnitte erzwingen. Vor allem angelsächsische Autoren finden deftige Worte und brandmarken einen ungesunden Mix von Eigenüberschätzung, Selbstgenügsamkeit und Anbiederung von europäischer Seite.

Was dabei übersehen wird: Von der Wortwahl einmal abgesehen ist der Befund unstrittig. Über die Neudefinition des NATO-Mandates und die Lastenverteilung im Bündnis, die Gestaltung der zukünftigen Beziehung zu Russland wie auch das Verhältnis der EU zur NATO wird mit Blick auf den NATO-Gipfel in Lissabon im November 2010 wohl noch eine Auseinandersetzung geführt werden. Aber die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den USA den neuen, in Teilen völlig veränderten Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anzupassen, ist unbestritten.

Rücken wir Europäer damit dem Ziel näher, Washington gegenüber mit einer Stimme zu sprechen? Schön wäre es, denn nur, wenn wir mit einer Stimme sprechen, haben wir eine Chance, in Washington (oder anderswo) gehört zu werden. Bis dahin ist es jedoch ein weiter Weg.

Fast alle EU-Mitgliedstaaten erachten ihre Beziehungen zu den USA als die wichtigsten in ihrem bilateralen Portfolio. Kaum ein Mitgliedstaat, der nicht meint, über ein besonderes Verhältnis zu den USA zu verfügen. Die Situation erinnert an die Elternabende, bei denen alle Eltern meinen, dass ihre Kinder in der Klasse überdurchschnittlich gut abschneiden. Arithmetisch betrachtet ein Unding. Andererseits, wer würde an Stelle der Eltern anders empfinden? So fällt es den Mitgliedstaaten gerade in Hinblick auf die Beziehungen zwischen der EU und den USA schwer, gemeinsame Standpunkte zu finden.

Andererseits sollte aus dem "Sprechen mit einer Stimme" kein Fetisch gemacht werden. Das meint auch Henry Kissinger, dem die Frage nach einer Telefonnummer für Europa zugeschrieben wird. Er selbst übrigens streitet ab, sie je gestellt zu haben, mit gutem Grund. Wo in der Welt gibt es diesen einen "Einheitsanschluss"? Jedenfalls nicht in entwickelten Demokratien, auch nicht in Amerika. Obama kann nicht im luftleeren Raum schalten und walten. Er muss auf den Kongress, die amerikanische Öffentlichkeit, auf Wahltermine und eine Vielzahl unterschiedlich autonomer politischer und aufsichtsrechtlicher Instanzen (etwa im Banken- und Börsenwesen) Rücksicht nehmen. Sie alle haben bei der Gestaltung der Beziehungen über den Atlantik hinweg in Washington ein Wörtchen mitzureden. Diesbezüglich unterscheiden sich die EU und die USA weniger als es den Anschein hat.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 280 Wenn doch, was dann?

Aber nehmen wir einmal an, dass wir in der EU mit einer Stimme sprächen. Was dann? Wie weit würde der Einfluss der 500 Millionen EU Bürger in der Welt reichen, die über einen zwar schrumpfenden, aber nach wie vor erheblichen Anteil am Weltbruttosozialprodukt verfügen? Für die Europäische Union ist es illusorisch, ja nicht einmal erstrebenswert, sich wie ein klassischer Akteur auf der internationalen Bühne zu positionieren. Unsere Machtmittel, unsere Stärken und Schwächen, sind andere als die der Nationalstaaten. Völlig ausgeschlossen ist der Aufbau einer Militärmacht amerikanischen Zuschnitts, ganz abgesehen davon, dass selbst für die USA Schwierigkeiten unübersehbar sind, sich trotz ihrer militärischen Überlegenheit durchzusetzen - sowohl gegenüber dem Iran und dem völlig abgewirtschafteten Nordkorea als auch gegenüber dem engen Bündnisgenossen Israel, wie sich gerade erst zeigte.

Für die EU heißt das, dass es auf Beharrlichkeit und Verlässlichkeit ankommt. Vor allem aber müssen wir erfolgreich bleiben. Wir müssen nicht nur die Krise meistern, sondern uns neue Wachstumsquellen erschließen. Nur dann werden wir gehört - in der Welt wie auch von den USA.

Wie Wolfgang Clement und Friedrich Merz in einem gemeinsamen Buch festhalten, ist es das westliche Finanzsystem, das die gegenwärtige Krise verursachte, die längst die ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Krise und ihre Folgen müssen deshalb auch in Europa und den USA bewältigt werden. Die Wertverluste seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 an den Börsen von New York, London, Paris und Frankfurt sind beispiellos, die Wertvernichtung in der globalen Wirtschaft ist es auch. Die Gegenmaßnahmen der Zentralbanken, die Rettungspakete bei uns wie auch in Amerika und in anderen Teilen der Welt, Verstaatlichungen und Konjunkturprogramme sind es ebenfalls. Das, was wir heute erleben, wird noch für Generationen Gegenstand der Erzählungen in den Familien wie auch der Forschung sein.

Dieses ist derzeit die euro-atlantische Bewährungsprobe. Dabei müssen wir über den eigenen Tellerrand hinaus sehen. Erinnern wir uns: Bei der Asienkrise haben wir von den betroffenen Ländern drei Schritte verlangt: Banken in Schieflage in den Bankrott fallen zu lassen, Haushaltsdefizite strikt zurück zu fahren, und Zinsen anzuheben. Nur auf diese Weise, so das damalige Credo, könnten die notwendigen Strukturanpassungen Erfolg haben. In der eigenen Krise hat sich der Westen eine genau entgegen gesetzte Rezeptur verschrieben. Woher nehmen wir diese Freiheit? Lösen wir so unsere Strukturprobleme? Wenn zutrifft, dass eine wesentliche Ursache der Krise in den USA wie auch in den meisten Teilen Europas darin begründet ist, dass wir über unsere Verhältnisse leben, ist dann dies der Weg zurück auf den Pfad der Tugend? Vielleicht noch nicht heute, aber in naher Zukunft werden wir uns hierzu gegenüber der Welt erklären müssen. Scheitern wir, werden sich nur noch wenige um uns scheren. Hat unser aktuelles Vorgehen Erfolg, muss trotzdem das Regelbuch der Weltwirtschaft und der internationalen Finanz zumindest teilweise neu geschrieben werden. Alleine können wir das nicht, weil uns im weltweiten Maßstab dazu das Gewicht und - noch wichtiger - die Legitimation fehlen. Bei dieser Aufgabe müssen Europa und die USA mitwirken und sich gegenseitig berücksichtigen, wie auch die G20-Partner.

Schaffen wir das? Die Rettung ganzer Bankensysteme und Industriezweige, der größte Konkurs in der Wirtschaftsgeschichte (Lehman Brothers), Rekord-Rettungsschirme zum Erhalt der Kreditwürdigkeit öffentlicher Haushalte sowie serienweise verabschiedete Konjunkturprogramme beidseits des Atlantik und anderswo sind in völlig neue Größenordnungen vorgestoßen. Hinzu kommt das Bündel massiver geldpolitischer Maßnahmen, das in Frankfurt, London oder von der Federal Reserve über die vergangenen zwei Jahre ergriffen wurde. Man könnte verzagen. Demgegenüber nimmt sich die Marshall-Hilfe für Europa, das damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, in Ruinen lag, eine ganze Größenordnung bescheidener aus: Inflationsbereinigt auf aktuelle Verhältnisse hochgerechnet 75 Milliarden Euro, also etwa einem Zehntel des Rettungsschirmes, den die EU, ihre Mitgliedstaaten und der IWF im Gefolge der Griechenlandkrise aufgespannt haben.

Das sollte unsere Zuversicht stärken. An Mitteln fehlt es nicht. Die bisherige Krisenbewältigung stellt

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 281 aber noch keine Lösung dar. Sie erkauft uns nur Zeit. Immerhin: Die schnelle, entschiedene und koordinierte Reaktion von Regierungen und Zentralbanken seit Ausbruch der Krise 2008 konnte den Wirtschaftskollaps abwenden. Sind jedoch auch die europäischen und die amerikanischen Perspektiven für den über kurz oder lang angestrebten Ausstieg aus den Notmaßnahmepaketen untereinander kompatibel? Das wird unsere nächste Bewährungsprobe werden.

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Außen- und Sicherheitspolitik Eine Auswahl von eurotopics.net

22.3.2010

Ist Catherine Ashton auf Augehöhe mit der US-Außenministerin? Muss sich die EU stärker in der Welt engagieren? Welche Rolle spielte Javier Solana in der EU-Außenpolitik? Stimmen aus der europäischen Presse.

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Ashton reformiert EU-Entwicklungspolitik Dagens Nyheter - Schweden; Samstag, 27. März 2010

Die Bildung neuer außenpolitischer Strukturen der EU unter der neuen Außenbeauftragten Catherine Ashton führt nach Meinung von Dagens Nyheter zu spürbaren Veränderungen in der europäischen Entwicklungspolitik: "Die neue Ordnung bedeutet, dass die Macht der Kommission abnimmt und die Mitgliedsstaaten größere Möglichkeiten haben, die Entwicklungspolitik zu beeinflussen. Es ist zu begrüßen, dass die Entwicklungspolitik ein besser integrierter Teil der EU-Außenpolitik wird. Gleichzeitig ist es jedoch wichtig, dass die Mitgliedsländer keine Politik in geheimen diplomatischen Verhandlungen machen. Der Einfluss der Kommission hat einen gewissen Einblick garantiert und das Europaparlament konnte kontrollieren, wie die Gelder verwendet wurden. Offenheit sollte das neue Außenressort prägen und es muss möglich sein, Verantwortung einzufordern." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE67759)

Eigenes Flugzeug macht Ashton nicht bedeutender Sme - Slowakei; Freitag, 12. März 2010

Die neue Chefdiplomatin der EU, Catherine Ashton, hat ein Flugzeug beantragt, um ihr Amt besser ausführen zu können. Schützenhilfe bekam sie von einem spanischen Diplomaten, der Ashton mit US- Außenministerin Hillary Clinton auf eine Stufe stellte. Diesem Vergleich hält Ashton nach Meinung der liberalen Tageszeitung Sme aber nicht stand: "Clinton wurde zur Chefin der US-amerikanischen Diplomatie, weil sie eine fähige und einflussreiche Frau ist, die von Präsident Obama angestellt werden musste. Ashton dagegen wurde für ihren Posten gerade deshalb ausgewählt, weil sie schwach ist. Und sie soll schwach bleiben und sich nicht in die Arbeit der Politiker einmischen, die sie ausgewählt haben. Sie vertritt eine Institution, die im Ausland keinerlei Respekt genießt. Es ist deshalb völlig egal, ob sie mehr durch die Welt reist oder zuhause bleibt. Auf ihre Meinung ist - im Gegensatz zu der von Clinton - niemand neugierig." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE67008)

Ashton enttäuscht auf ganzer Linie El País - Spanien; Dienstag, 2. März 2010

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 283

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hat am Montag ein Papier vorgelegt, in dem sie die Ausgestaltung des europäischen auswärtigen Diensts skizziert. Die linksliberale Tageszeitung El País kritisiert, dass Ashton ihrem Amt nicht gerecht wird: "In Krisenzeiten wie der jetzigen, kommt die Eignung der politischen Führungskräfte nicht nur gelegen, sondern ist eine unbedingte Notwendigkeit. Deshalb brauchen wir im Fall der neuen Posten in der Europäischen Union nicht die traditionellen 100 Tage abzuwarten, in denen man sich mit Bewertungen zurückhält: Es gibt bereits ausreichend Anhaltspunkte, um ein Alarmsignal zu senden und die Fähigkeiten des einen oder anderen Inhabers eines hohen Amtes anzuzweifeln. So sind die ersten Schritte von Catherine Ashton als Hohe Vertreterin für die Außenpolitik der EU ... mehr als enttäuschend. ... Wenn die Einstellung und das Niveau in dieser Schlüsselposition so bleiben, wie sie seit dem Amtsantritt sind, wäre es besser, wenn der Europäische Rat die Besetzung überdenkt und/oder das Parlament ihr Handeln genauestens kontrolliert." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE66419)

US-Präsident düpiert Europa Top-Thema; Mittwoch, 3. Februar 2010

US-Präsident Barack Obama kommt nicht zum EU-USA-Gipfel, der für Mai geplant ist. Die offizielle Erklärung lautet, er wolle sich innenpolitischen Problemen widmen. Die europäische Presse vermutet hingegen, er möchte keine Zeit in Europa verschwenden, das noch immer nicht mit einer Stimme spricht. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER65056)

Zwei Kapitäne für die EU Top-Thema; Dienstag, 5. Januar 2010

Spaniens Premier José Luis Rodríguez Zapatero ist für ein halbes Jahr Präsident des Rats der Europäischen Union und muss nun mit Herman Van Rompuy zusammenarbeiten, dem ständigen Präsidenten des Europäischen Rats. Die beiden Politiker loben ihre Kooperation im Voraus, die Presse betont ihre Gegensätze und sieht darin eine Gefahr für die EU. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER63439)

Europa hadert mit US-Strategie Top-Thema; Donnerstag, 3. Dezember 2009

Die Forderung der USA an ihre Bündnispartner, mehr Tuppen nach Afghanistan zu schicken, hat bei einigen Nato-Staaten bislang kaum Gehör gefunden. Die Presse allerdings hält ein stärkeres Engagement Europas für nötig. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER62145)

Ashton hat es leichter als Solana Gazeta Wyborcza - Polen; Mittwoch, 2. Dezember 2009

Der EU-Außenbeauftragte Javier Solana ist gestern nach zehn Jahren aus seinem Amt verabschiedet worden. Die liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza findet, dass der Amtsantritt für Solana schwieriger war als der seiner Nachfolgerin Catherine Ashton, der Hohen Vertreterin der EU für Außenbeziehungen: "Gestern ist Javier Solana ... ohne Fanfaren gegangen. Die Aufmerksamkeit der Kameras und der Zeitungsschlagzeilen hat die neue Chefin für Außenpolitik Catherine Ashton auf sich gezogen. Im

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Gegensatz zu ihr war er schon bekannt, als er die Funktion im Jahr 1999 übernommen hatte (Karriere in der spanischen Regierung, fünf Jahre an der Spitze der Nato). Allerdings hat er kein starkes Amt erhalten. Er musste sich seine Anerkennung weltweit und in den europäischen Verhandlungszimmern erstreiten. Ashton beginnt hingegen als ein Niemand, auf den schon alles wartet: ein starkes Amt und - kraft des Lissabon-Vertrags - die Position des stellvertretenden Chefs der Europäischen Kommission." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE62008)

Seltsames Paar lenkt EU Corriere della Sera - Italien; Dienstag, 29. Dezember 2009

Das Schiff EU könnte es schwer haben mit zwei so unterschiedlichen Politikern wie Herman Van Rompuy und José Luis Rodríguez Zapatero am Steuer, meint die liberal-konservative Tageszeitung Corriere della Sera: "Herman Van Rompuy ist erzkatholisch, Chef der Christdemokraten, zieht sich ein oder zwei mal im Jahr in ein belgisches Kloster zurück, und als Ministerpräsident hat er an der Seite seines Königs Albert II. öffentlich gebetet. José Luis Rodríguez Zapatero ist erzlaizistisch, Chef der Sozialisten, spanischer Premier und Protagonist verschiedener Duelle mit den Bischöfen seines Landes. Ein Kloster betritt er nur als Tourist und niemals hat man ihn an der Seite seines Königs Juan Carlos beten sehen. ... Sie werden sich in guter Gesellschaft befinden, denn der Kommandosaal dürfte eher überfüllt sein. Er muss auch den Portugiesen und Vertreter der konservativen Volksparteien, José Manuel Barroso, beherbergen, den Präsidenten der EU-Kommission, und die britische Labour- Baronin Catherine Ashton als EU-Außenministerin. In Brüssel fragt man sich, wie man mit so vielen ein so großes Schiff lenken soll, und das über so stürmische Meere hinweg." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE63438)

Neue EU-Spitze weckt Erwartungen Top-Thema; Montag, 23. November 2009

Die Doppelspitze der Europäischen Union hat ihre Arbeit noch nicht aufgenommen, auch weil das EU-Parlament die neue Außenministerin blockiert. Doch die Herausforderungen der neuen Führung beschreibt die europäische Presse bereits genau. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER61511)

Neues Führungsduo in Europa Top-Thema; Freitag, 20. November 2009

Die EU-Regierungschefs haben sich auf ihrem Sondergipfel gestern in Brüssel geeinigt: Der belgische Premier Herman Van Rompuy wird erster ständiger EU-Ratspräsident und die britische Handelskommissarin Catherine Ashton die neue "EU-Außenministerin". Beide Politiker sind aber nur Kompromisskandidaten, meint Europas Presse. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER61433)

Mehr Namen als EU-Posten Top-Thema; Donnerstag, 19. November 2009

Die Staats- und Regierungschefs der EU wollen heute in Brüssel den Präsidenten des Europäischen Rats und den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik wählen. Trotz monatelanger

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 285

Verhandlungen ist es den Politikern nicht gelungen, sich auf zwei Kandidaten für die neu geschaffenen Ämter zu einigen. Die Wahl ist offen. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER61357)

Juncker will Blair verhindern Top-Thema; Mittwoch, 28. Oktober 2009

Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker hat sich bereit erklärt, für den Posten des EU-Präsidenten zu kandidieren. Damit will der Europa-Experte offensichtlich den Briten Tony Blair verhindern, der in dieser Funktion zu mächtig werden könnte. Doch vielleicht wählt die EU am Ende keinen der beiden Politiker mit Format, sondern einen Langweiler. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER60141)

Solana gab der europäischen Außenpolitik ein Gesicht Trouw - Niederlande; Donnerstag, 9. Juli 2009

Der Hohe Vertreter der EU für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), Javier Solana, hat für diesen Herbst seinen Rückzug angekündigt. Zehn Jahre seien genug, sagte er in einem Interview. Die Entscheidung sei bedauerlich, schreibt die Tageszeitung Trouw: "Als er ... als Auslandschef bei der Europäischen Union anfing, musste er sich sofort mit den Folgen der Bombardierungen und den Nachwehen des Krieges im früheren Jugoslawien befassen. Der Friede auf dem Balkan wird als einer der Erfolge der europäischen Außenpolitik gesehen. ... Er machte die neue Funktion unter den europäischen Politikern glaubwürdig. Und Staatschefs in und außerhalb der Europäischen Union vertrauten ihm. ... Der bekannte Witz des US-amerikanischen Diplomaten Henry Kissinger aus den 1970er Jahren, dass er nicht wisse, wen er anrufen müsse, wenn er etwas mit Europa zu besprechen habe, machte lange die Runde. Doch das war vor Solana, der für viele Minister und Staatsoberhäupter zum Maßstab wurde." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE53786)

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Klima- und Umweltschutz

12.7.2010

Sind die klimapolitischen Ziele der Europäischen Union zu wenig ambitioniert? Dient Klimapolitik ohnehin nur der Legitimation von Politik? Welche Konflikte entspringen aus Umweltproblemen und Klimawandel? Experten diskutieren die wichtigsten klima- und umweltpolitischen Fragen.

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Klima- und Umweltschutz in Europa Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 12.7.2010

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Mit "3 x 20 Prozent" möchte die EU bis 2020 ihren Ausstoß an Treibhausgasen und ihren Energieverbrauch senken, sowie den Anteil der erneuerbaren Energien steigern. Klima- und Umweltpolitik wird intensiv diskutiert, ebenso die Rolle der EU in diesem Politikfeld.

Der Winter 2009/2010 war lang und kalt. "Wo bleibt die globale Erwärmung?", fragten sich viele halb spöttisch, halb kritisch. Ist die Erhaltung des Klimas die wichtigste Herausforderung, wie die EU-Staats- und Regierungschefs das im Jahr 2007 gesehen haben, als sie beschlossen: "Die Problematik des Klimawandels muss dringend wirksam angegangen werden."? Damals hat die EU sich selbst zum Vorkämpfer gegen den Klimawandel ernannt und als Ziel festgelegt, dafür Sorge zu tragen, dass die Erdtemperatur bis 2050 um nicht mehr als zwei Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter ansteigt. Der Europäische Rat, also die Versammlung der EU-Staats- und Regierungschefs, fasste daraufhin den "3 x 20"-Beschluss: Bis zum Jahr 2020 soll der Ausstoß von Treibhausgasen um 20 Prozent (gegenüber 1990) gesenkt werden, der Energieverbrauch um 20 Prozent gedrosselt sein und die erneuerbaren Energien sollen einen Anteil von 20 Prozent am EU-Energiemix ausmachen. Wenn andere Staaten, die bedeutende Umweltverschmutzer sind, ebenfalls entsprechende Maßnahmen ergreifen, will die EU die Treibhausgase sogar um 30 Prozent reduzieren.

Mittlerweile ist viel Zeit vergangen, aber wenig geschehen. Der EU-Beschluss hatte zwar festgelegt, was die EU als Ganze durchführen will, aber nicht, welcher Anteil auf welches Land entfällt. Darüber wurde und wird heftig gestritten. Seit 2008 hat die Finanz- und Wirtschaftskrise ökologische Fragen in den Hintergrund gedrängt, das Credo lautet vielmehr "Wachstum, Wachstum, Wachstum!".

Das kann aber, sagt die Geschäftsführerin von Greenpeace, Brigitte Behrens in ihrem Beitrag, nicht funktionieren, weil wir jetzt schon von unserem ökologischen Konto mehr abheben als darauf eingeht. Sie bezieht sich dabei auf das Konzept des "ökologischen Fußabdrucks", der den Natur- Ressourcenverbrauch mit der Neuentstehung von Natur vergleicht und zu dem Ergebnis kommt, dass wir mittlerweile bereits im September eines Jahres verbraucht haben, was für das ganze Jahr reichen müsste. Klimaschutz ist daher eine Überlebungsnotwendigkeit, denn auf die Dauer kann man von keinem Konto - auch dem der Natur - nicht mehr abheben als drauf kommt. Mit der EU setzt Brigitte Behrens sich kritisch auseinander: "Merkwürdig ist, dass die Europäische Union klimapolitisch die Rolle des Weltmeisters beansprucht. Stolz verweisen die Regierungschefs auf die Vorreiterrolle der Union bei den Klimazielen und erneuerbaren Energien. Dabei sind die Ziele mickrig." Sie fordert, die Emissionen bis 2050 um 80 Prozent zu senken und verweist auf einen Plan ihrer Organisation, der den Weg dazu weist.

Dieser Einschätzung der EU widerspricht die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Dagmar Roth-Behrendt auf ihrer Internetseite in Teilen. Sie sieht die EU durchaus als Vorreiter gefordert und verweist auf die Verantwortung der anderen Staaten dieser Erde: "Die Klimakonferenz von Kopenhagen im Dezember 2009 hat gezeigt, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer bei der Bekämpfung der globalen Erwärmung eine immer wichtigere Rolle spielen. Aber auch andere große Industriestaaten wie die Vereinigten Staaten, Japan, Australien, China und

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Russland müssen sich ernsthaft mit Klima- und Umweltschutz auseinandersetzen, damit die Lebensgrundlagen für inzwischen über 6 Milliarden Menschen erhalten werden können. Die Europäische Union wird dabei auch in Zukunft eine Vorreiterrolle spielen wollen und es wird sich zeigen, ob die 27 Mitgliedsstaaten diesem Anspruch gerecht werden können."

Der Klimawandel wird bei uns oft mit dem möglichen Aussterben des Eisbären ins Bild gesetzt. Dabei wird geschickt mit dem Image des Eisbären als kuscheligem Tier gespielt. Tatsächlich ist er das gefährlichste Raubtier der Welt und 99,9 Prozent der Weltbevölkerung haben - außer vielleicht als Zoobesucher - keinen Kontakt zu Eisbären. Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn die Temperatur ansteigt, selbst wenn der Eisbär den Weg vieler Tier- und Pflanzenarten vor ihm gehen und aussterben sollte?

Auf diese Frage geht der Klimaforscher Prof. Wolfgang Sachs in seinem Beitrag ein. Er stellt den Zusammenhang zwischen Naturkrisen und Sozialkrisen her und weist darauf hin, dass ökologische Grenzen lange, bevor sie überschritten werden, ihre sozio-ökonomischen Schatten voraus werfen. Die Klimaveränderungen schaffen nämlich auch einen anderen, für viele einen schlechteren Zugang zu natürlichen Ressourcen wie zum Beispiel Wasser. Die Auflösung des Permafrosts, das Abschmelzen der Gletscher, Stürme, Überschwemmungen und Missernten haben große soziale Folgen. Sie treffen vor allem die Armen: die armen Länder genauso wie die Armen in den Ländern, vor allem die Armen in den armen Ländern. "So wird der Klimawandel nicht selten zur unsichtbaren Hand hinter wirtschaftlichem Niedergang, sozialer Erosion und Vertreibung werden.", schreibt der Professor aus Wuppertal. Und er fährt fort: "Damit stellt der Klimawandel einen Angriff auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte großer Bevölkerungsgruppen dar." Dass damit diejenigen am meisten von den Folgen des Klimawandels betroffen werden, die am wenigsten oder gar nichts dazu beigetragen haben, ist eine böse Ironie.

Die Auseinandersetzungen um die knapper werdenden Ressourcen, vor allem das Öl, das Treibstoff nicht nur für unsere Autos, sondern für unsere gesamte Wirtschaft ist, entwickeln sich auch zum Sicherheitsrisiko. Wo Ressourcen knapp sind, sind Konflikte um ihre Verteilung stark. Ressourcenschonung ist daher auch Sicherheitspolitik.

Hierauf weist auch der Sozialpsychologe Harald Welzer in seinem Buch hin, das den alarmierenden Titel trägt: "Klimakriege - Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird". Welzer ist kein Untergangsprophet, sondern er analysiert, was bislang geschehen ist: "Es wird allzu leicht übersehen, dass die argumentative Basis der Klimaforscher in der Regel eine historische ist. Sie rechnen nämlich Veränderungsprozesse hoch, die bereits nachweisbar stattgefunden haben, etwa wenn sie Kohlendioxidkonzentrationen in der Luft oder im Wasser in Eis- oder Gesteinsschichten messen, deren Alter man exakt bestimmen kann." (S. 16) Da diese Veränderungen weitgehende Auswirkungen auf die Lebenswelt vieler Menschen haben und Gewalt zudem immer eine Option im menschlichen Handeln sei, liege es "auf der Hand, dass dies zu Gewaltkonflikten zwischen denen führt, die sich von ein- und demselben Stück Land ernähren oder aus derselben verrinnenden Wasserquelle trinken wollen, und genauso liegt es auf der Hand, dass man in absehbarer Zeit Umwelt- und Kriegsflüchtlinge nicht mehr sinnvoll voneinander unterscheiden können wird, weil neue Kriege umweltbedingt entstehen und Menschen vor der Gewalt fliehen." (S. 14)

Welzer befürchtet im Schlusswort seines Buches, dass der Klimawandel die Verhältnisse des Zusammenlebens weitgehend verändern und das Ende der Aufklärung und ihrer Vorstellung von Freiheit herbeiführen werde. "Aber", sagt der Autor, "es gibt Bücher, die schreibt man in der Hoffnung, dass man Unrecht hat." (S. 17)

Die Welt steht also vor erheblichen Umbrüchen und Bedrohungen - oder ist das ein großes Märchen? Diese Vermutung äußert der Wissenschaftsjournalist Dirk Maxeiner in seinem Beitrag: "Die Klimarettung wird als die große Erzählung des beginnenden 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen." Der Verfasser bestreitet den Klimawandel nicht, er wehrt sich allerdings gegen vermeintliche

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Gewissheiten. Der Satz "Ich weiß es nicht" sei schwer auszusprechen, aber oftmals angebracht. Das Klima verändere sich fortlaufend und habe das immer getan. Wie groß der Anteil des Menschen daran sei, sei umstritten. Dabei verweist Dirk Maxeiner auf die Diskussionen und Skandale, die es im Zusammenhang mit der Datensammlung und -interpretation des "Weltklimarates" IPCC (Intergovernemental Panel on Climate Change) gab. Diese Institution, gegründet vom UN-Programm für Umwelt (United Nations Environment Programm - UNEP) und dem Weltverband der Meteorologie (World Meteorological Organization - WMO), war 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Sie ist ins Gerede gekommen nach der Veröffentlichung interner Emails zwischen Forschern, die darüber nachgedacht hatten, wie Statistiken zu manipulieren seien, um den behaupteten Klimawandel zu beweisen.

Die Rettung des Klimas sei, so Maxeiner weiter, zu einem "Überzeugungs- und Glaubenssystem (geworden), das gesellschaftlichen Sinn stiften soll". In diese Argumentation könnte passen, wenn Politikerinnen und Politiker oder Organisationen ihr Handeln und ihre Führungsfunktion mit der Klimarettung legitimieren (Angela Merkel - die Klimakanzlerin, EU - der Vorreiter in der Klimapolitik). Andererseits weist Dirk Maxeiner darauf hin, dass die Klimarettung selbst längst zum Geschäft geworden sei, auch international: "Der neue Wirtschaftsblock um China und Indien hat erkannt, dass sich mit dem schlechten Gewissen der alten Industrieländer hervorragend Kasse machen lässt."

Ist also die ganze Aufregung umsonst? Vor dieser Schlussfolgerung sei gewarnt. 1977 gab der US- Präsident Jimmy Carter eine Studie über die Veränderungen der Umwelt bis zum Jahr 2000 in Auftrag, die daraufhin von Wissenschaftlern erstellt und auch auf Deutsch unter dem Titel "Global 2000" im Jahr 1980 veröffentlicht wurde. Die Analytiker kamen damals zu dem Ergebnis: "Die Konzentration von Kohlendioxid und ozonabbauenden Chemikalien in der Atmosphäre wird voraussichtlich in einem solchen Maße zunehmen, dass sich das Klima auf der Erde und die obere Atmosphäre bis zum Jahr 2050 entscheidend verändert." (S. 28) In der Folge nannten die Wissenschaftler sauren Regen durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe mit den negativen Auswirkungen auf Seen, Böden und Ernten. Schon einige Jahre früher hatte der Club of Rome, eine Vereinigung unabhängiger Experten verschiedener Fachrichtungen, auf die "Grenzen des Wachstums" (so der Titel der 1972 erschienen Studie) hingewiesen. In der Öffentlichkeit fanden diese Publikationen ein geteiltes Echo. Viele hielten die Studien für Schwarzmalerei und Umweltschutz für eine Marotte Sandalen tragender Müsli-Esser. Dass die Studien jedoch im Wesentlichen recht behalten haben, sollte uns zu denken geben. Damals wurde gesagt: "Wer weiß, ob das wirklich kommt." Heute ist die Entwicklung eingetreten, auch wenn wir darüber streiten können, wie hoch der menschliche Anteil am Klimawandel ist. Allerdings wäre es misslich, wenn wir wiederum 20 bis 30 Jahre verlieren würden, bevor wir uns mit den Konsequenzen beschäftigen. Dirk Maxeiner erwähnt in seinem Beitrag, dass die Regierung der Malediven eine Sitzung im Taucheranzug unter Wasser abgehalten hat. Was wie ein Scherz aussah, hat einen ernsten Hintergrund, auf den die Politiker aufmerksam machen wollten: Der Inselgruppe droht das völlige Verschwinden im Meer.

Welche Rolle dabei die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten spielen können und müssen, wird die Debatte in den nächsten Jahren sehr stark beschäftigen. Insofern wird diese Diskussion uns auch weiterhin begleiten. Sich mit den zentralen Fragen zu befassen, lohnt sich in jedem Fall.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 290 Literatur

Tobias Debiel, Dirk Messner, Franz Nuscheler, Michele Roth, Cornelia Ulbert: Globale Trends 2010, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe Bd. 598) 2008.

Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten, hrsg. vom Council on Environmental Quality und dem US-Außenministerium, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1980.

Aglaia Hajkova, Susanne Jacoby, Julia Nicksch (Hrsg.):Game Over. Neustart! Das Buch zum vierten Kongress von Attac, BUND, Evangelischer Entwicklungsdienst, Greenpeace, Heinrich Böll Stiftung in Kooperation mit dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, Hamburg: VSA-Verlag 2009.

Dennis Meadows: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, München: Deutsche Verlagsanstalt 1972 (auch: Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1983).

Donella Meadows, Jorgen Randers, Dennis Meadows: Grenzen des Wachstums. Das 30-Jahre- Update, 3. Aufl. Stuttgart: Hirzel Verlag 2008.

Dietrich Jörn Weder: Umwelt. Bedrohung und Bewahrung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung (Zeitbilder) 2003.

Harald Welzer: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe Bd. 703) 2008 (auch: Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 2010). Hier gelangen Sie zum Shop

Internet bpb.de (Server der Bundeszentrale für politische Bildung mit umfangreichen Informationen, Folien, Unterrichtseinheiten und Publikationsangeboten über Europa) (http://www.bpb.de) bpb.de/themen/YK5ZLW (Gloassar im Dossier Klimawandel der Bundeszentrale für politische Bildung) (http://www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/klimawandel/38618/glossar) europa.eu/pol/env (Internetseite der Europäischen Kommission zu den Themen Umwelt- und Klimaschutz) (http://europa.eu/pol/env/index_de.htm) europarl.de (Server der Vertretung des Europäischen Parlaments in Deutschland) (http://www.europarl. de) auswaertiges-amt.de (Europa-Seite des Auswärtigen Amtes (http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/ de/Europa/Uebersicht.html) ipcc.ch (Internetseite des "Weltklimarates" Intergovernemental Panel on Climate Change, Informationen auf Englisch, Französisch, Spanisch und Russisch, nicht jedoch auf Deutsch) (http:// www.ipcc.ch) pik-potsdam.de (Internetseite des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung) (http://www.pik- potsdam.de/index-html?set_language=de) wupperinst.org (Internetseite des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie GmbH) (http://www. wupperinst.org/) cafebabel.de (mehrsprachige kostenlose Internetzeitschrift, die sich speziell an ein jüngeres Publikum richtet) (http://www.cafebabel.de)

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 291 euractiv.de (unabhängiger kostenloser Informationsdienst über die Entwicklungen in der Europäischen Union) (http://www.euractiv.de)

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Wir haben unser ökologisches Konto überzogen - und Europa schaut zu Standpunkt Brigitte Behrens

Von Brigitte Behrens 12.7.2010

Brigitte Behrens ist Geschäftsführerin der Umweltorganisation "Greenpeace" e.V. mit Sitz in Hamburg.

Europa ist in der Klimapolitik zerstritten, sagt Brigitte Behrens. Zwar beanspruche die EU eine Vorreiterrolle für sich, ihre Ziele seien jedoch mickrig. Das 20-Prozent-Ziel müsse durch ein 40- Prozent-Ziel ersetzt werden, erst dann würde die EU ihrem Anspruch gerecht.

"Du hast nur eine Erde!" - 2007 erinnerte Greenpeace mit diesem Motto an die Begrenzung unserer Lebensgrundlagen. Wir druckten es auf Banner, entwarfen Aufkleber und unter allen Emails, die Greenpeace-Kolleginnen und -Kollegen nach draußen schicken, steht "Du hast nur eine Erde!" Es gibt sicherlich originellere Sprüche. Aber Greenpeace kommt es nicht auf den Unterhaltungswert an. "Du hast nur eine Erde!" trifft den Nagel auf den Kopf: Weltweit leben die Menschen inzwischen so, als hätten sie 1,4 Erden - mit steigender Tendenz.

Die Berechnung unserer Gier nach immer mehr wurde 1994 von Mathias Wackernagel und William E. Rees vorgestellt. 2003 gründete Wackernagel das Global Footprint Network. Dieses Netzwerk berechnet jedes Jahr den "ökologischen Fußabdruck" der Menschheit, ein Wert, der sich aus dem Bedarf an Acker- und Weideland, Wald, Fischereigewässern und CO2-Senken ermitteln lässt. Vergleichen wir diesen Fußabdruck mit der weltweit vorhandenen Biokapazität, also der Fähigkeit der Ökosysteme, Ressourcen zu erneuern und Abfälle aufzunehmen, ergibt sich das Datum des Earth Overshoot Day, also des Tages im Jahr, an dem das ökologische Konto leer geräumt ist.

Mit stetigem Anwachsen des Weltverbrauches rutscht dieser Tag im Kalender jedes Jahr weiter nach vorne. Laut Global Footprint Network war 1987 das erste Jahr, in dem die Menschheit weltweit über ihre Verhältnisse lebte. Tag der ökologischen Überschuldung war damals der 19. Dezember. Nur zehn Jahre später verbrauchte die Menschheit 15 Prozent mehr Ressourcen, der Tag der Ökologischen Überschuldung wanderte in den November. 2006 lag er im Oktober, 2008 fiel er schon auf den 23. September. Kurzum: Jedes Jahr verbrauchen wir mehr als das, was uns unsere Erde bietet. 2009 war der ökologische Schuldentag am 25. September. Das lag allein an der Wirtschaftskrise. Unternehmen überall melden Pleiten, es wurde weniger Energie verbraucht. Und trotzdem waren wir nur zwei Tage "sparsamer" als im Jahr zuvor. Unser Lebensstil entsprach auch 2009 dem Verbrauch von rund 1,4 Erden pro Jahr. Oder um es ein wenig kleiner als in Erden auszudrücken: Jede Person beansprucht für ihre Lebensweise 2,2 Hektar Land, nur 1,8 Hektar stehen jedoch zur Verfügung. Die Chinesen nutzen 1,6 Hektar, die Inder 0,7, die Europäer dagegen 4,7. Mit dem Ökologischen Fußabdruck und Schuldentag geht also auch eine große Ungerechtigkeit einher - die USA sind mit 9,7 Hektar die Spitzenreiter der Ressourcen-Verschwendung.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 293 Wir verbrauchen zu viel - und viele haben zu wenig

Unser Kollege Wolfgang Pekny, der als Zukunftsstratege für Greenpeace Österreich arbeitet, hat die Plattform Footprint Österreich gegründet. Sie ist eine von weltweit 75 Partnern des Global Footprint Networks. Pekny betont die Bedeutung des Footprint-Konzepts: "Heute beanspruchen wir in neun Monaten, was die Erde in einem Jahr regenerieren kann, eine Übernutzung um 25 %, die sich zu einer dramatischen Verschuldung summiert." Trotzdem leben drei Viertel der Menschheit noch in äußerst bescheidenen, oft menschenunwürdigen Verhältnissen. Diese Milliarden brauchen dringend mehr Ressourcen. Umgekehrt müssen die wohlhabenden Länder in Zukunft mit deutlich weniger auskommen. "Notwendig ist ein globaler Paradigmenwechsel. Wirtschaftskonzepte, die unbegrenzte Ressourcen voraussetzen, werden einer begrenzten Welt längst nicht mehr gerecht. Es braucht das Konzept einer fairen, der Kleinheit des Planeten angepassten Global-Ökonomie an Stelle der Summe einzelner, auf Wachstum ausgerichteter Volkswirtschaften", so Pekny.

Der Raubbau an unserer Natur ist längst sichtbar: Pflanzen sterben aus, Fischbestände kollabieren. Der Treibhauseffekt schreitet voran, weil wir mehr Treibhausgase ausstoßen als Wälder und Meere aufnehmen können. An den Folgen des Klimawandels leiden vor allen Dingen die armen Länder. Sie sind am ehesten betroffen und haben gleichzeitig geringe Chancen, geeignete Schutzmaßnahmen zu treffen. Bangladesch wird durch die vom Klimawandel bedingten Überschwemmungen große Teile seines Landes verlieren. Andere Länder wie die Malediven verschwinden vollständig: Der weltweite CO2-Ausstoß, der sogenannte Carbon Footprint, hat mit 50 Prozent den größten Anteil an der ökologischen Überschuldung. Deshalb ist der weltweite Klimawandel zur schwierigsten Herausforderung für die Menschheit geworden und das sicherste Anzeichen, dass wir uns im globalen Overshoot befinden. Entscheidend für das Ende der Übernutzung unserer Erde ist daher die Reduktion des CO2-Ausstoßes. Greenpeace kämpft seit Jahren gegen den Klimawandel - mit Kampagnen, Szenarien, Lösungen und mit Lobby-Arbeit. Wir wissen, dass die USA pro Kopf die größten CO2- Sünder sind, aber auch Europa darf sich im Kampf um den Klimawandel nicht zurücklehnen.

Die EU muss anspruchsvollere Ziele verfolgen

Merkwürdig ist, dass die Europäische Union klimapolitisch die Rolle des Weltmeisters beansprucht. Stolz verweisen die Regierungschefs auf die Vorreiterrolle der Union bei Klimazielen und erneuerbaren Energien. Dabei sind die Ziele mickrig. Und weitergehende Ziele will sich die EU nur stecken, wenn andere Staaten wie die USA mitziehen. Diese Zögerlichkeit disqualifiziert Europa: Ein Vorreiter sollte vorangehen, unabhängig ob andere mitziehen - weil er erkannt hat, dass vor allem die Verursacherstaaten wie Deutschland oder Großbritannien alles tun müssen, um die CO2-Emissionen zu senken und eine Klimakatastrophe abzuwenden. Beim Klimagipfel in Kopenhagen war davon nichts zu sehen: USA, China, Indien und einige andere Staaten bestimmten das Geschehen, die EU stand abseits. Kein Wunder, denn die EU war nicht bereit, voranzugehen. 20 Prozent weniger Treibhausgase bis 2020 im Vergleich zu 1990, das war schon seit Monaten ihr beschlossenes Ziel. Auf 30 Prozent wollte und will sie nur erhöhen, wenn die USA vergleichbar reduzieren und die Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien auch etwas tun. Sonst eben nicht - so sieht die Vorreiterrolle der EU aus.

Ein wesentlicher Grund für das schwache Bild, das die Europäer derzeit in der Klimapolitik abgeben, ist ihre Zerstrittenheit: Insbesondere Polen mit seiner fast ausschließlich auf alten Kohlekraftwerken basierenden Stromversorgung weigert sich beharrlich, ehrgeizigeren Zielen zuzustimmen oder Finanztransfers für Klimaschutz in Entwicklungsländern zu akzeptieren. Die EU könne gerne voran gehen, aber nur mit Ausnahmeregelungen für Polen, so das polnische Credo. Andere östliche EU- Staaten, Italien und Spanien verstecken sich gerne hinter dem Dauerstreit mit Polen. Klimapolitisch ist die EU gelähmt.

Davon einmal abgesehen: Das 20 Prozent-Reduktionsziel bis 2020 gegenüber 1990 ist alles andere als ehrgeizig. Die EU wird es ohne größere Anstrengungen erreichen. Zu Hilfe kommt ihr dabei erstens immer noch der gewaltige Emissionsrückgang durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch der

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 294 ehemaligen Ostblock-Staaten, zweitens die Wirtschaftskrise mit ihren drastischen Einbrüchen bei den CO2-Emissionen. Eine Erhöhung des Reduktionsziels auf 30 Prozent klingt ambitioniert, ist es aber auch nicht. Im Gegenteil: Selbst wenn die EU ihren Carbon Footprint um 30 Prozent reduzieren würde, wäre das real nur eine Reduktion um 10 Prozent: Aus dem bisherigen EU-Emissionshandel sind riesige Mengen "heißer Luft", also Zertifikate, die keinen realen Reduktionen entsprechen, angehäuft worden, die die EU weiter verwenden will. Hinzu kommt das sogenannte "Offsetting", bei dem Unternehmen ihre eigentlich zu Hause nötigen Emissionseinsparungen durch Klimaschutz-Investitionen in Entwicklungsländern ersetzen dürfen.

Erst ein Klimaziel von 40 Prozent Reduktion bis 2020, das 30 Prozent der Reduktionen zu Hause und maximal 10 Prozent im Ausland festlegt, würde die Rede von der Vorreiterrolle der EU rechtfertigen. Vor allem im Verkehrsbereich, wo LKW- und Flugverkehr in sprichwörtlich rasendem Tempo wachsen, aber auch beim Thema Kohlekraftwerke, bei der Wärmeversorgung und bei den Klima-Emissionen der Landwirtschaft besteht in der EU massiver Nachholbedarf an Klimaschutz-Maßnahmen. Effizienzgewinne werden regelmäßig durch Wachstum "aufgefressen", so dass die CO2-Emissionen unter dem Strich in diesen Bereichen trotzdem steigen. Und solange klimafreundliche Techniken fossile Energieträger in der EU nicht ersetzen, sondern nur ergänzen, ist für das Klima nichts gewonnen.

Energy[R]evolution

In unserem Energiekonzept Plan B zeigen wir von Greenpeace auf, wie wir in Deutschland das Klima schützen können - mit mehr Effizienz, mit Energieeinsparungen und mit erneuerbaren Energien. Unser Energy[R]evolution Szenario erklärt dies für die ganze Welt. Ehrgeizige Reduktionsziele bis 2020 wären auch für Europa ein erster Schritt, die ökologischen Schulden abzubauen. Für den Verbrauch von nur einer Erde reicht das aber nicht aus: Wir müssen die Emissionen ab 2015 real und absolut senken. 2050 müssen wir sie um rund 80 Prozent reduziert haben. Diese Ziele hat sich Greenpeace auf Basis wissenschaftlicher Untersuchungen und Berechnungen gesteckt. Für diese Ziele kämpfen wir - aber alleine werden wir es nicht schaffen.

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Trotz allem: Vorbild Europa Standpunkt Dagmar Roth-Behrendt

Von Dagmar-Roth-Behrendt 7.10.2010 Die Juristin Dagmar-Roth-Behrendt ist seit 1989 Mitglied und seit 2009 zum zweiten Mal Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Sie hat sich im Parlament auf Fragen des Umwelt- und des Verbraucherschutzes spezialisiert.

Europa geht beim Klimaschutz mit gutem Beispiel voran, meint Dagmar Roth-Behrendt. Auch wenn die EU ihre Ziele noch erhöhen könnte, sei die Liste der europäischen Klimaschutz- Aktivitäten lang, die Ziele richtig und ambitioniert.

Wie viele andere Menschen habe ich die Berichterstattung über den Klimagipfel in Kopenhagen 2009 in den Medien verfolgt und gesehen, wie die Chancen auf einen Erfolg der Konferenz von Tagesschau zu Tagesschau kleiner und die Statements zurückhaltender wurden. Auch Vertreterinnen und Vertreter des Europäischen Parlaments waren - allerdings mit gedämpften Erwartungen - im Dezember 2009 vor Ort und haben bis zuletzt um eine Einigung gerungen. Ich habe mich auch dieses Mal - wie bereits bei Rio de Janeiro, Kyoto und anderen "Klimagipfeln" - dafür entschieden, nicht an der Konferenz teilzunehmen. Mein Frustpotenzial ist nicht groß genug, um mit Teilnehmern aus über 140 Staaten über Tage hinweg zu ringen und dann nicht zu klaren Vereinbarungen und zur Festlegung verpflichtender Ziele zu kommen.

Die Konferenzen entfalten aber dennoch einen "psychologischen" Druck auf manche Staaten und rücken die wichtige Aufgabe der Bekämpfung des Klimawandels in den Mittelpunkt. Sicherlich haben die Klimakonferenzen einen Anteil daran, dass inzwischen auch Regierungschefs "CO2" flüssig aussprechen können, die das vor einigen Jahren noch für eine seltene Krankheit gehalten haben.

Diese Sensibilisierung brauchen wir, um die Erderwärmung und die damit verbundenen Folgen zu stoppen. Eben diese Folgen wurden von verschiedenen Delegierten auch in Kopenhagen benannt. So hat der Vertreter Tuvalus, eines 26 Quadratkilometer kleinen Inselstaats im Pazifik, mit belegter Stimme geschildert, dass eine Erderwärmung um 2 Grad Celsius für sein Land "den Tod" bedeuten würde, weil die Insel im Meer versinken würde.

Diese Geschichte zeigt zwei Dinge: Zum einen die Gefahren, die von der Erderwärmung ausgehen und von manchen "hier im Westen" als "naja, so schlimm ist es ja nun auch nicht, die 2 Grad" abgetan werden.

Zum anderen zeigt es aber, dass ein Scheitern der Verhandlungen schon dadurch eingeläutet wird, dass mit den Obamas, Merkels, Zapateros und Wen Jiabaos nur die Industrie- und Verschmutzerstaaten dieser Welt am Verhandlungstisch sitzen, während die Entwicklungsländer, um deren Zukunft es geht, wie beim Kindergeburtstag daneben am Katzentisch sitzen und später erfahren, was die Großen besprochen haben und planen. Genau so scheinen sich die Entwicklungs- und Schwellenländer zu fühlen, denn anders ist es nicht zu erklären, dass sie sich - zum wiederholen Male - gegen den vorgeschlagenen "Kompromiss" gestellt haben.

Die berühmten "fünf Minuten vor zwölf" sind längst vorbei, es ist eine Minute vor zwölf. Wir können hoffen, dass die Uhr noch einmal angehalten werden kann, um uns allen die Chance zu geben, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Lebensgrundlagen der nächsten Generationen erhalten

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 296 werden. Jeder, der den Prozess verfolgt hat und bei Verstand ist, muss realisieren, dass die Europäische Union das einzige Gebilde ist, das diesen Prozess jetzt vorantreiben und moderieren kann. Sie ist zwar nicht der größte und mächtigste Akteur der Welt, aber sicher der am besten koordinierte und - zumindest immer noch - homogenste. Denn die Interessenlagen innerhalb der USA, Chinas, Indiens und anderer Staaten sind noch unterschiedlicher als das bei uns der Fall ist.

Auch deshalb spielt die Europäische Union eine besondere Rolle in der Welt, und sie geht mit gutem Beispiel voran.

Beim Umweltschutz ist diese führende Rolle beweisbar und wird in der Welt wahrgenommen. Viele Maßnahmen, die hier in den letzten Jahren ergriffen wurden, waren mit großen Anstrengungen und Umstrukturierungen verbunden: Austausch von Trinkwasserleitungen für sauberes Trinkwasser, Austausch ganzer Müllverbrennungs- oder Produktionsanlagen, um niedrige Grenzwerte für eine saubere Luft einzuhalten sowie der Einbau von Rußpartikelfiltern in Autos und LKWs, um Feinstaub aus den Innenstädten zu bringen, sind nur einige Beispiele.

Auch die Reduzierung der CO2-Emissionen ist eines der Hauptziele weltweiter Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel. Die Europäische Union hat dafür 2005 ein Emissionshandelssystem eingeführt, das die Verschmutzer an den von ihnen verursachten Kosten beteiligt. Das System wies bisher beträchtliche Mängel auf, wird aber in seiner dritten Phase ab 2013 reformiert und erfüllt dann hoffentlich den Zweck, den es erfüllen soll. Während viele dieser Verschmutzungserlaubnisse (Zertifikate) bisher kostenlos vergeben wurden, müssen die Unternehmen künftig tiefer in die Tasche greifen, wenn sie ihre Emissionen nicht reduzieren. Die frei vergebenen Zertifikate werden deutlich reduziert, und der Richtwert errechnet sich aus den führenden "Verschmutzern" einer Branche. Damit soll ein Rückgang der EU-weiten CO2-Emissionen um 21 % bis 2020 (im Vergleich zu 2005) erreicht werden.

CO2-Reduzierung ist auch Teil der so genannten 20/20/20-Ziele der Europäischen Union: Bis 2020 möchte die EU die CO2-Emissionen um 20 Prozent senken (im Vergleich zu 1995), den Anteil der erneuerbaren Energien auf 20 Prozent erhöhen und die Energieeffizienz um 20 Prozent steigern. Sicher: Es geht immer noch mehr und es lässt sich leicht mehr fordern. Ich hätte es für sinnvoll erachtet, mit einem Reduktionsziel von 30 Prozent in die Verhandlungen von Kopenhagen zu gehen und dies nicht an die Bereitschaft anderer Staaten zu koppeln. Damit hätte der Druck noch einmal erhöht und die Vorreiterrolle der EU noch mehr unter Beweis gestellt werden können. Trotzdem: Die Ziele sind ambitioniert und richtig!

Diese Liste der europäischen Aktivitäten ließe sich beliebig verlängern. Aber natürlich sind diese Maßnahmen oft auch mühsam und belastend und nicht alle schreien vor lauter Begeisterung: "Ja hier, wir machen´s gerne!". Deshalb dauern diese Prozesse unterschiedlich lange. Bei 12, 15, 25 und zwischen sogar 27 Mitgliedsstaaten mit sehr unterschiedlichen Startbedingungen gibt es immer einige, die gezogen werden und andere, die ziehen und der Meinung sind, dass die Gezerrten dem Anspruch der Europäischen Union nicht gerecht werden. Die Gezerrten wiederum finden, dass ihnen (und ihren nationalen Haushalten) zu viel abverlangt wird. Trotz aller Mäkelei und Unzufriedenheit dürfen wir nicht vergessen, dass die EU beim Klima- und Umweltschutz immer noch um Längen besser ist als alle anderen Staaten dieser Welt. Auf diesen Lorbeeren dürfen wir uns aber nicht ausruhen, denn von Vorreitern und Vorbildern wird - zu Recht - immer mehr erwartet, und es wird eine andere Messlatte angelegt, als bei anderen. Deshalb muss die EU ihre ehrgeizigen Ziele weiter verfolgen und den Worten Taten beim Klimaschutz folgen lassen.

Allerdings gilt dieser hohe Anspruch nicht nur für die Institutionen und die Mitgliedsstaaten der EU. Die Anstrengungen werden den nationalen Regierungen leichter fallen, wenn auch die Bürgerinnen und Bürger ihrer Verantwortung gerecht werden.

Diese Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger wird auf zwei Ebenen sichtbar: Bürgerinnen und

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Bürger müssen damit einverstanden sein, dass Klimaschutzmaßnahmen aus "ihren" Steuergeldern mitfinanziert werden. Das sind Investitionen in unsere gemeinsame Zukunft und die der nächsten Generationen.

Im Idealfall sollten sie das von der Politik sogar einfordern und bei ihren Wahlentscheidungen die Haltung der Parteien zum Klimaschutz berücksichtigen.

Außerdem kann natürlich Jede und Jeder im privaten Bereich einen kleinen Beitrag zum Klima- und Umweltschutz leisten. Es ist nämlich immer einfach, über andere zu reden und von anderen etwas zu verlangen, obwohl man bei sich anfangen und nach Möglichkeiten suchen sollte, Strom zu sparen oder Emissionen zu reduzieren. Ich fliege z. B. als Europaabgeordnete mehr durch Europa als ich es möchte, kann es aber nicht wirklich vermeiden. Als "Wiedergutmachung" für die durch meine Flüge verursachten Verschmutzungen spende ich einem Verein Geld, der es dann in Maßnahmen zur Verbesserung des Klimas investiert. Und auch ich hab mich schweren Herzens von den Glühbirnen getrennt und bin auf Energiesparlampen umgestiegen. Gerade das letzte Beispiel zeigt aber, wie schwierig es ist, Umstrukturierungen vorzunehmen, Traditionen aufzubrechen und sich von Gewohntem zu verabschieden. Hier - nur in Deutschland! - konnte man den Eindruck haben, das Abendland geht unter, nachdem entschieden wurde, die alten energiefressenden Glühbirnen nach und nach aus dem Verkehr zu ziehen. Es braucht eben manchmal solche Maßnahmen, um neue Techniken und Innovationen voranzutreiben und zu perfektionieren.

Natürlich müssen Bürgerinnen und Bürger "im Privaten" und Europäische Union und Mitgliedsstaaten "im Großen" gemeinsam diese große Aufgabe des Klimaschutzes bewältigen. Die Europäische Union muss ihrer Verantwortung weiterhin gerecht werden und muss das auch dann tun, wenn andere Verschmutzer nicht mitmachen. Aber sie muss als globaler starker Akteur vorangehen und Staaten wie die USA, China oder Indien unter Druck setzen, sich angemessen am Klimaschutz und den Kosten zu beteiligen. Ich erwarte außerdem von der Industrie, dass sie die Chancen einer innovativen und klimaschützenden Produktion erkennt und nicht immer nur laut jammert und ihre Rolle in der globalisierten Welt fürchtet. Wer heute im Klimabereich forscht und investiert, wird morgen die Vorreiterrolle inne haben.

Ich bin überzeugt davon, dass dies der Europäischen Union und den Europäerinnen und Europäern gelingen wird!

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Ressourcenkonflikte. Kleine Topografie der Entzündlichkeit der Welt Standpunkt Wolfgang Sachs

Von Prof. Dr. Wolfgang Sachs 12.7.2010 Prof. Dr. Wolfgang Sachs ist Wissenschaftler am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie und lehrt an der Universität Kassel.

Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels des Autors in: Günter Altner u.a., Jahrbuch Ökologie 2010, Stuttgart 2009.

Laut Wolfgang Sachs verstärken Umwelt-Konflikte die vorhandenen Ungerechtigkeiten. Klimawandel und Ressourcenknappheit träfen vor allem die Armen in den armen Ländern: als unsichtbare Hand hinter wirtschaftlichem Niedergang, sozialer Erosion und Vertreibung.

Die Ressourcen- und Umweltkonflikte des 21. Jahrhunderts lassen eine spezifische Signatur erkennen: Sie sind geprägt vom Gegensatz zwischen unbegrenzter Nachfrage nach Naturgütern einerseits und endlichem globalen Umweltraum andererseits. Gewiss, seit urdenklichen Zeiten treiben Ressourcenkonflikte die Menschen um – etwa der Streit zwischen Anrainern eines Wasserlaufs im Mittelalter oder das Gerangel europäischer Nationen um die Bodenschätze Afrikas zu Bismarcks Zeiten. Doch mit der Universalisierung von Entwicklungserwartungen auf der eine Seite und der global sichtbaren Begrenztheit der Biosphäre auf der anderen nehmen sie einen neuartigen Charakter an: Sie verweisen auf den Grundkonflikt zwischen ökonomischer Expansion und ökologischer Begrenzung.

Dieser Konflikt äußert sich beileibe nicht nur in Naturkrisen, sondern auch in Sozialkrisen. Denn zwischen Begehr und Knappheit tritt die Rivalität. Noch immer stimmt die Daumenregel, dass 25 % der Weltbevölkerung 75 % der Weltressourcen verbrauchen. Die wahre Frage ist nicht mehr, ob es genügend Ressourcen geben wird oder nicht, sondern an wen und wofür sie verteilt werden, wenn sie knapp sind. Wem gehören die Ölvorräte, die Flüsse, die Wälder, die Atmosphäre? Wer hat welches Recht auf die lebensdienlichen Leistungen der Biosphäre? Das sind die Fragen, welche hinter vielen Ressourcen- und Umweltkonflikten stehen.

Dabei lauert in allen solchen Konflikten die Gefahr, dass überkommene Ungerechtigkeiten potenziert werden. Denn Rivalitäten unter Bedingungen der Endlichkeit sind ganz besonders dazu angetan, in weiterer sozialer Polarisierung zu enden. Es greifen sich die Mächtigen, was an Naturressourcen übrig sind, und die Machtlosen haben das Nachsehen. An der Zapfsäule wird für den Pendler das Benzin teurer, Wasserquellen versiegen in Trockengebieten, die Preise für Getreideimporte schnellen in die Höhe, Fischer kehren mit leeren Netzen zurück. Je mehr die Grenzen der Tragefähigkeit von Ökosystemen erreicht werden, umso eher sind die Schwächeren unter Druck: Ökologische Grenzen, lange bevor sie endgültig überschritten sind, werfen ihre sozio-ökonomischen Schatten voraus. Sei es auf internationaler oder subnationaler Ebene, in jedem Fall tragen, wenn legitime Formen der Konfliktregelung fehlen, Ressourcenkonflikte zur sozialen Destabilisierung bei. Es wachsen vielerorts Konfliktpotentiale heran, welche die Welt entzündlicher machen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 299 Verteilungskonflikte

Erdöl ist der Lebenssaft der Industriegesellschaft. Industrie und Arbeitsplätze basieren in weiten Teilen auf der Nutzung oder Verarbeitung von Rohöl; Verkehr und Mobilität sind auf raffinierte Ölprodukte angewiesen; und ebenso sind es Plastik, Medikamente, Dünger, Baustoffe, Farben, Textilien und vieles mehr. Öl prägt wie kein anderer Stoff die Lebensstile in aller Welt. Die Aneignung und Verteilung von Ressourcen wie Öl zwischen den Nationen ist deshalb ein Konfliktfeld ersten Ranges.

Denn der Zugang zu Öl und Gas war aus geologischen Gründen immer schon knapp: Konzentrierte Vorkommen gibt es nur an relativ wenigen Stellen der Erdkruste. Davon wird die Geopolitik besonders der USA seit dem frühen 20. Jahrhundert bis zum Irakkrieg unserer Tage geprägt. Aber neuerdings tritt zur geografischen die geologische Knappheit: Die Endlichkeit der Ressource ist absehbar. Die jährliche Förderung ist inzwischen bedeutend größer als die Menge der Neufunde. Für jedes neu entdeckte Barrel Rohöl werden etwa vier Barrel entnommen. Viel spricht dafür, dass der Punkt der maximalen Ölfördermenge im Zeitraum zwischen 2008 und 2015 erreicht werden wird. Damit ist nicht das Ende des Öls, aber das Ende des leichten und billigen Zugangs erreicht.

Obendrein schwillt seit einiger Zeit die Nachfrage nach Öl besonders in den neuen Verbraucherländern an, allen voran in China, Indien und Brasilien. Besonders die Schwellenländer Asiens, wo insgesamt nur relativ geringe Gas- und Ölvorkommen liegen, sind dabei, in die Konkurrenz ums Öl einzusteigen. China hat gegenwärtig bereits die Position des weltweit zweitgrößten Importeurs an Öl erreicht, und selbst Länder wie Malaysia, Vietnam oder Indonesien, die heute noch Exporteure sind, werden sich binnen eines Jahrzehnts zu Netto-Importeuren wandeln. Die aufsteigenden Länder pochen auf ihre Ansprüche, die Altnutzer wollen nicht lassen, und gleichzeitig schwinden die Vorkommen: ein Bilderbuchszenario für die Rivalitätskämpfe der nächsten Jahrzehnte.

Das Nachsehen werden jene Länder haben, die weder über Öl noch über Geld verfügen. Nirgends bewahrheitet sich die afrikanische Spruchweisheit, dass, wo Elefanten kämpfen, zuerst das Gras zertrampelt wird, so wie beim Kampf um Öl. Schon heute müssen importabhängige arme Staaten einen größeren Anteil ihrer Devisen ausgeben, um sich Öl für vitale Bedürfnisse zu beschaffen. Stromabschaltungen, höhere Preise für Transport, Kochgas, Nahrung sind die Folge, und die Armen die unmittelbar Leidtragenden. Die Verluste müssen Länder wie Mali, oder Zambia, Bangladesch oder Kambodscha tragen, den Gewinn aber können neben den Ölfirmen die Öl exportierenden Länder einstreichen, also der Nahe Osten, Venezuela und Russland. Die nationale Rivalität um knappe Ressourcen sendet Wellen der Verarmung durch die Welt.

Verlagerungskonflikte

Die armen Länder geraten nicht nur unter Druck, weil sie bei der Konkurrenz um fossile Ressourcen nicht mehr mithalten können, sondern auch weil sie von den Schadenswirkungen der Verbrennung von Öl besonders in Mitleidenschaft gezogen werden. Es werden erstens die Länder des Südens und zweitens die Armen in diesen Ländern die destabilisierenden Folgen der Erderwärmung wesentlich schroffer zu spüren bekommen als Industrieländer und Stadtbevölkerungen. Denn wenn die Erdatmosphäre sich erwärmt, wird die Natur instabil. Unversehens ist kein Verlass mehr auf Regen, Grundwasserspiegel, Temperatur, Wind oder Jahreszeiten, alles Faktoren, welche seit urdenklichen Zeiten für die Gastlichkeit der Lebensräume von Menschen und anderen Lebewesen gesorgt haben. So liegt auf der Hand, dass ein ansteigender Meeresspiegel, ganze Küstenstriche zum Beispiel in Nigeria, Ägypten, Bangladesch oder Vietnam unbewohnbar macht; Massenmigrationen ins Inland und über Grenzen sind vorauszusehen. Weniger offen liegt zutage, dass Veränderungen in Niederschlag, Luftfeuchtigkeit und Temperatur sich auf Vegetation, Artenvielfalt, Bodenfruchtbarkeit und Wasserläufe auswirken wird. Wasserhaushalt und Nahrungsproduktion werden gerade in trockenen und halbtrockenen Gebieten in Mitleidenschaft gezogen. Zudem ist zu erwarten, dass die Umwelt ungesunder wird; Ernten werden eher von Ungeziefer befallen, Menschen werden an Malaria und Denguefieber erkranken oder sich mit Infekten anstecken.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 300

So wird der Klimawandel nicht selten zur unsichtbaren Hand hinter wirtschaftlichem Niedergang, sozialer Erosion und Vertreibung werden. Bereits heute sind zum Beispiel die Inuit (Eskimo) aufgrund des Klimawandels in ihrer wirtschaftlichen Sicherheit und in ihrer Kultur gefährdet. Jäger verschwinden auf der Jagd, da die herkömmlichen Routen über das Eis nicht mehr tragfähig sind; Vorräte verderben, weil der Permafrost-Boden aufbricht; Iglus verlieren ihre isolierende Eigenschaft, wenn der Schnee taut und dann wieder gefriert. Die Inuit in der Arktis - ebenso wie die Reisbauern im Mekong-Delta oder die Viehhüter in Zentralchina sind doppelt verwundbar: einerseits sind sie fragilen Naturbedingungen ausgesetzt, andererseits sind sie wirtschaftlich so darbend, dass sie kaum in der Lage sind, sich an die neuen Risiken anzupassen. Klimatischer und wirtschaftlicher Stress können sich so unheilvoll verbinden, dass über Obdachlosigkeit und Nahrungsmangel sogar die körperliche Unversehrtheit auf dem Spiel steht. Damit stellt der Klimawandel einen Angriff auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte großer Bevölkerungsgruppen dar.

Ökologie ist Sicherheit ist Gerechtigkeit

Ressourcenkonflikte sind Treibstoff für kleine und große Zusammenstöße; sie setzen Dörfer und ganze Länder in Flammen. Wie sehr die jüngere Geschichte des Nahen Ostens, der Krisenregion schlechthin, mit Erdöl durchtränkt ist, davon war hier die Rede. Wie oft religiöse und ethnische Konflikte von Land- oder Wasserknappheit angetrieben werden, erschließt sich schnell für den genauen Betrachter. Und wie stark bevölkerungsreiche Länder wie China und bald auch Indien nach Öl und Kupfer, nach Soja und Holz jenseits ihrer Grenzen drängen, davon berichten die aktuellen Wirtschaftsnachrichten. Kurz gesagt: Ressourcenhunger macht die Welt friedlos. Ohne einen schonenden Umgang mit Naturgütern wird sich keine globale Sicherheitsordnung errichten lassen. Wenn legitime Formen der Konfliktregelung fehlen, tragen Ressourcenkonflikte zur sozialen Destabilisierung bei. Künftig konvergiert die Sicherheits- und Friedens-Agenda mit der Umwelt-Agenda.

Allerdings wäre es verfehlt, Ressourcenkonflikte nur als Sicherheitsfrage zu thematisieren. Letztendlich geht es um Recht oder Unrecht, Macht und Ohnmacht, also: um Gerechtigkeit im transnationalen Raum. Dass es gegenwärtig im Trend liegt, Umwelt- und Sicherheitsfragen zusammenzubringen, ist gefährlich. Denn wer nur von Sicherheit spricht, denkt gewöhnlich an die eigene und nicht an jene der anderen. Es ist angemessener, die Konfliktlagen auf dem Globus nicht nur als Sicherheitsproblem, sondern auch als Ergebnis von Ungerechtigkeit zu begreifen. Nicht umsonst gehört der Spruch "Friede ist das Werk der Gerechtigkeit" von alters her zur Überlieferung politischer Weisheit.

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Klimaschutz als Sinnstiftung Standpunkt Dirk Maxeiner

Von Dirk Maxeiner 12.7.2010

Dirk Maxeiner schreibt als freier Publizist Sachbücher und Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften im In- und Ausland.

Klima-Politik hat sich längst vom Klima gelöst, meint Dirk Maxeiner. Vielmehr diene die Klimakatastrophe der Sinnstiftung für die westliche Politik. Ob die Prognosen auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament stehen, rücke dabei in der Hintergrund.

Die Klimarettung wird als die große Erzählung des beginnenden 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen.

Ich weiß es nicht. Dieser Satz fällt mir schwer, seit er in der Schule meine Versetzung gefährdete. Und doch möchte ich ihn gleich zu Anfang aussprechen. Wie wird das Klima auf der Erde in einhundert oder zweihundert Jahren sein? ICH WEISS ES NICHT. Ich glaube auch nicht, dass ich es wissen kann. Und ganz wichtig: Ich glaube nicht, dass es überhaupt jemand wissen kann. Das ist eine Menge Unglauben auf einmal. Ich weiß. Aber keine Angst, es kommt jetzt keine flott behauptete Abrechnung à la "Die Klimalüge" oder "Der Klimaschwindel." Das wäre ebenfalls eine falsche Gewissheit, nur spiegelverkehrt zum gängigen Katastrophenglauben.

Eine Zivilisation mit 6,6 Milliarden Menschen beeinflusst das Klima auf vielfache Art. Die natürlichen Einflüsse, die in der Vergangenheit oft abrupte Klima-Umschwünge einleiteten, haben jedoch nicht einfach aufgehört zu existieren, nur weil das Flugzeug oder das Auto erfunden wurden. Und doch erliegen viele diesem Trugschluss: Das Klima wird mittlerweile als ein System wahrgenommen, das durch die Ausschaltung anthropogener Einflüsse in einen sanften Ruhezustand versetzt werden könnte. Das ist natürlich barer Unsinn. Das Klima wird sich so oder so weiterhin verändern - aus welchen Gründen auch immer.

Klimakatastrophe als Sinnstiftung

Eine Politik, die nicht einmal die Krankenkassen-Beiträge stabil halten kann, hat derweil die Klima- Stabilisierung zur neuen Utopie erkoren. Der Soziologe Ulrich Beck bezeichnet die Klimapolitik treffend als eine "Sinnressource für die delegitimierte und von Vertrauensverlust gezeichnete Politik." Die drohende Klimakatastrophe wird so zu einem Überzeugungs- und Glaubensystem, das gesellschaftlichen Sinn stiften soll.

Im Sommer 2009 litt Indien unter einem schwachen Monsun. Wie immer wenn eine Dürre das Land heimsucht ist dies die Stunde der Priester und Gottbegnadeten. Im Tempel Sankara Mattham von Mumbai versammelten sich zehn heilige Männer. Sie setzten sich vier Stunden lang bis zum Hals in wassergefüllte Öltonnen, beteten und sangen Mantras, um den Regengott zu erweichen. Und jeder Regentropfen der fortan vom Himmel fiel, stellte die Wirksamkeit des aufopferungsvollen Rituals unter Beweis. Im Vergleich zu den Klimagipfeln der UN-Bürokratie ist die indische Herangehensweise von großer Bescheidenheit. Auf Klimakonferenzen wie der in Kopenhagen im Winter 2009 versammelten sich nicht zehn, sondern fünfzigtausend Teilnehmer, um das Klima zu retten. Sie sprachen nicht vier Stunden, sondern zwölf Tage lang ihre Mantras. Statt in wassergefüllten Öltonnen hielt das Kabinett

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 302 der Malediven schon im Vorfeld eine Kabinettssitzung im Tauchanzug unter Wasser ab. Ganz nah bei den Göttern war auch eine Gruppe von Bergsteigern, die Klima-Fürbitten an den Wänden des Mount- Everest anbrachten.

In Großbritannien geriet kürzlich der Umweltbeauftragte einer Immobilienfirma mit seinem Chef wegen dessen exzessiver Flugtätigkeit aneinander und wurde gefeuert. Richter Michael Burton gestand ihm zu, nach dem Anti-Diskriminierungs-Paragraphen dagegen zu klagen. Angestellte mit ausgeprägtem Umweltbewusstsein werden durch die Entscheidung rechtlich mit Christen, Juden oder Muslimen gleichgesetzt. Die Klimagemeinde entwickelt sogar anderen Religionen vergleichbare Ess-Tabus. "Für mich gibt es drei Signale, die wir sofort senden sollten", sagt die Chefin der Öko-Internet-Plattform "Utopia": "Weniger Rindfleisch essen, kein Wasser mehr aus Plastikflaschen trinken und keinen Zuchtfisch kaufen".

Mehr und mehr wird der Kohlendioxidausstoß zur moralischen Leitgröße und zum Ordnungsprinzip bis tief hinein in das Privatleben. Chaosforscher und Fußballfans kennen das Phänomen gut. In einem System, in dem scheinbar alles durcheinander geht, bildet sich plötzlich eine Ordnung heraus. Wie von Geisterhand entstehen Strömungen, die sich selbst verstärken und schließlich alles dominieren. Beispielsweise wenn sich gerade noch wild durcheinander gestikulierende Stadioninsassen auf eine innere Stimme hin zu einer koordinierten La-Ola-Welle erheben. Auch in der Politik und den Medien entstehen auf diese mysteriöse Weise Strömungen, die einem ungeheuren Sog entwickeln. Die Klimawelle ist ein gutes Beispiel dafür.

Klimarettung als neue Utopie

Die Idee der Klimarettung wird als eine große Erzählung des beginnenden 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen. Spätestens seit dem Fall der Mauer mangelt es der Politik des Westens an einer mitreißenden Idee, gleichsam einer neuen Utopie. Und in diese Lücke stößt das moderne Klimamärchen (im metaphorischen Sinne) mit seinen Priestern, Helden und Schurken. Der negativen Utopie der Klimakatastrophe soll mit einer gemeinsamen Anstrengung, nämlich dem Projekt der Weltrettung begegnet werden.

Und die Klima-Politik hat sich längst von ihrem eigentlichen Gegenstand, dem Klima gelöst. Bei den internationalen Klimaverhandlungen geht es im wesentlichen um ökonomische Verteilungskämpfe: innerhalb Europas, zwischen Europa und USA, zwischen den westlichen Industrieländern und den aufstrebenden Schwellenländern wie China und Indien. Eine Kausalkette zwischen dem, was da verhandelt wird, und der Welttemperatur ist vielfach nicht mehr nachvollziehbar. So wurde Russland im Rahmen des Kyoto-Protokolls für den Zusammenbruch seiner Industrie mit vielen Milliarden Tonnen von Kohlendioxid-Emissionsgutschriften belohnt. Die will es nun an europäische Länder verkaufen, die ihre Einsparverpflichtungen nur so einhalten können. Die Russen verkaufen den Europäern also nicht nur ihr Gas, sondern auch die Erlaubnis es zu verbrennen. Faktisch wird nicht weniger Kohlendioxid produziert, aber auf dem Papier stimmt die Rechnung. Der neue Wirtschaftsblock um China und Indien hat erkannt, dass sich mit dem schlechten Gewissen der alten Industrieländer hervorragend Kasse machen lässt. Europa und Amerika sollen jetzt unter dem Banner des Klimaschutzes die Modernisierung ihrer schärfsten Weltmarkt-Konkurrenten finanzieren.

Ob das alles überhaupt auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament steht, interessiert im Prinzip niemanden mehr. Lediglich die Wissenschaft beginnt sich Sorgen um ihre Reputation zu machen. Eine alte Meteorologen-Weisheit lautet: "Kaum glaubst du einen Trend festmachen zu können, dreht er sich um." Möglicherweise wird das auch diesmal so sein. Die Welttemperatur steigt nun seit fast zehn Jahren nicht mehr an und weigert sich den Prognosen zu folgen. Die Fachleute sprechen euphemistisch von einer "Seitwärtsbewegung". Selbst die für ihre engagierte Klimaschutz-Berichterstattung bekannte BBC fragte unlängst verunsichert: "What happened to global warming?".

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 303 Zweifel der Wissenschaft

Der bekannte deutsche Klimaforscher Mojib Latif, Mitautor der Berichte des Weltklimarates IPCC, baut schon mal eine Rückfall-Position auf: Latif sprach von einer möglicherweise bevorstehenden vorübergehenden Abkühlung, die durchaus weitere zehn Jahre anhalten könne. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fanden sich die Leiter dreier großer deutscher Forschungsinstitute (Alfred Wegner-Institut für Polar- und Meeresforschung, Senkenberg-Forschungsinstitut, Geoforschungszentrum Potsdam) in einem Interview zusammen, das überschrieben war: "Ein Limit von zwei Grad Erwärmung ist faktisch Unsinn." Darin bemerkenswerte Sätze wie dieser: "Wir haben das nicht deutlich genug gesagt, dass man das Klima nur als Teilsystem des ständig variierenden Systems Erde verstehen kann, das zudem noch durch extraterrestrische Größen wie solare Strahlung und Orbit beeinflusst wird."

In den USA und Großbritannien sendet seit Ende 2009 ein Vorgang Namens "Climategate" Schockwellen durch die Wissenschafts-Gemeinde. Durch einen Hacker oder Insider wurden tausende interne Mails der britischen "Climate Research Unit" (CRU) bekannt. Dieses Institut ist eine der zentralen Schaltstellen bei der Erstellung des Berichtes des "Weltklimarates" IPCC. In den Mails der Forscher ist unter anderem von "Tricks" die Rede, um einen "Temperaturrückgang" zu verschleiern. Phil Jones, einflussreicher Chef des CRU, legte inzwischen seine Ämter bis zum Abschluss einer unabhängigen Untersuchung nieder. "Wenn Phil Jones dazu aufforderte, Enttarnendes aus dem Computer zu löschen, so verteidigt er kriminelle Methoden", urteilt einer der bekanntesten Köpfe der britischen Umweltszene George Monibot. Und der bekannte deutsche Klimaforscher Hans von Storch vom GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht resümiert: "Die CRU-Mails belegen vor allem die Gründung eines Kartells zur Durchsetzung der Sicht und Wahrnehmung seiner Mitglieder, das dafür sorgen soll, dass abweichende Meinungen im wissenschaftlichen Review-Prozess scheitern, und wenn nicht, dann zumindest im IPCC-Prozess keine Rolle spielen". Ob die Prämissen der gegenwärtigen Klimapolitik überhaupt stimmen, spielt aber jenseits der wissenschaftlichen Diskussion keine Rolle mehr. Die große Klimaerzählung funktioniert längst unabhängig von der real messbaren Entwicklung - und wird dies auch weiter tun. Selbst in der Wirtschaft herrscht die Meinung vor: "Bloß nicht daran rühren". Der Klimaschutz ist in den westlichen Ländern das größte öffentliche Umverteilungs- und Investitionsprogramm seit vielen Jahrzehnten. Mehr als 100 Milliarden Euro werden jährlich von Regierungen und Konsumenten für die Subventionierung entsprechender Technologien und Maßnahmen aufgewendet. Ähnlich wie in der Landwirtschaft kommt das Gros der Subventionen nicht bei den kleinen Betrieben, sondern bei großen Konzernen an. Von ABB bis Siemens, von Eon bis Vattenfall sind die Claims weitgehend abgesteckt. Alle wollen ein Stück vom Klimakuchen, Banken und Kapitalgesellschaften dürsten nach dem Emissionshandel und entwickeln eifrig kreative Papiere. Selbst gescholtene Branchen wie die Automobilindustrie wollen eigentlich nur noch eines: Planungssicherheit. Man hat Milliarden in klimafreundliche Technologien investiert und keinerlei Interesse daran, diese Geschäftsgrundlage in Frage zu stellen. In einigen Jahren fahren die ersten Elektroautos, egal ob die Welttemperatur nun steigt oder fällt.

Im kleinen Kreis sagen viele Wirtschaftsführer, dass sie nicht an die Hypothese einer katastrophischen Klimaerwärmung glauben. Und auch beim einfachen Bürger wächst die Skepsis, das zeigen Meinungs- Umfragen der letzten Zeit. Doch auch dies wird den großen Klimazug kaum aufhalten. Der britische Autor und bekennende Atheist Richard Dawkins hat einmal festgestellt, dass viele Amerikaner im privaten Gespräch zugeben, nicht an Gott zu glauben. Öffentlich würden sie dies aber niemals zugeben, weil es viel einfacher sei, als bekennender Christ durchs Leben zu gehen.

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Klima- und Umweltschutz Eine Auswahl von eurotopics.net

12.7.2010

Ist der Weltklimarat glaubwürdig? Wurde der Klimagipfel in Kopenhagen den Erwartungen gerecht? Und was kann die EU mit ihren Klimaschutzzielen bewirken? Stimmen aus der europäischen Presse.

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Schweden braucht Elektroautos Expressen - Schweden; Montag, 5. Juli 2010

Schweden hat eine günstige CO2-Bilanz im europäischen Vergleich, doch es geht noch besser, findet die Boulevardzeitung Expressen: "Das liegt zum Teil am geografischen Glück, denn wir haben viele Flüsse, deren Wasserkraft genutzt werden kann. Teils liegt es an der politischen Klugheit, dass wir uns entschieden haben Kernkraftwerke zu bauen und deren Erneuerung zu erlauben. Aber besser kann es immer werden. Jetzt geht es darum, den CO2-Ausstoß des Verkehrs zu vermindern. Damit das gelingt, müssen wir auf elektrische Fahrzeuge setzen, vor allem auf Autos. ... Viele der großen Fahrzeugunternehmen bieten Elektroautos an, die eine große Reichweite haben und hohe Geschwindigkeiten erreichen. Die Entwicklung beruht auf der steigenden Nachfrage wegen der Klimaerwärmung. Viele Staaten bieten ihren Bürgern einen finanziellen Kaufanreiz für E-Autos. Dem sollte Schweden folgen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE72418)

Janne Hukkinen fordert ein niedrigeres Wirtschaftswachstum Helsingin Sanomat - Finnland; Mittwoch, 26. Mai 2010

Wirtschaftswachstum wird häufig als zwangsläufige Voraussetzung für die Rettung der Wohlfahrtsgesellschaft angesehen. Janne Hukkinen, Professor für Umweltpolitik, widerspricht dem in seinem Gastbeitrag in der Tageszeitung Helsingin Sanomat: "Laut zahlreichen Studien gehen Wohlergehen und Lebensqualität der Menschen schon lange nicht mehr Hand in Hand mit dem Wirtschaftswachstum. Wirtschaftswachstum garantiert in der postindustriellen Gesellschaft nicht mehr die Sicherung eines hohen Lebensstandards. Stattdessen bedroht es die Lebensfähigkeit der Ökosysteme der Erde. ... Man muss die Wirtschaft nicht wachsen lassen, sondern sie beschneiden. Das bedeutet nicht Knappheit und Elend, sondern Angemessenheit und Wohlstand. Die kulturelle Forschung hat gezeigt, dass Kulturen ihre materiellen Bedürfnisse und die zur Befriedigung dieser erforderlichen Ressourcen zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschieden definieren. Die vom Wirtschaftswachstum verursachte Umweltbelastung muss schneller verringert werden, als die Weltbevölkerung wächst und bevor das globale Ökosystem bis zur Mitte des Jahrhunderts seine absoluten Grenzen erreicht hat." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE70540)

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 305

Erdöl ist Droge der USA Libération - Frankreich; Freitag, 30. April 2010

Ein Grund für die Katastrophe im Golf von Mexiko ist die Abhängigkeit der USA vom Erdöl, meint die linksliberale Tageszeitung Libération: "Man muss zugeben, dass die USA nach der Droge Erdöl süchtig sind. In dem Land, in dem König Auto regiert und der Lastwagen triumphiert, sind Fahrzeuge ein Sinnbild der Freiheit. Und wie jede Drogensucht bringt auch die Abhängigkeit vom Erdöl Nebenwirkungen mit sich und die Gefahr einer Überdosis. Die internationalen Großkonzerne, die den Kreislauf der Droge Erdöl speisen, neigen selbstverständlich dazu, die Ausgaben für Sicherheitsmaßnahmen im Namen des Profits zu begrenzen. Die einen haben sich an das Erdöl gewöhnt, die anderen sind vom Wahn der Rendite besessen: Darum ist euer Golf verschmutzt." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE69329)

Weltklimarat ist glaubwürdig The Times - Großbritannien; Montag, 15. März 2010

Die Vereinten Nationen haben ein Aufsichtsgremium eingesetzt, das die Arbeit des Weltklimarats IPCC überprüfen soll. Damit reagieren sie auf die Kritik, die Thesen des Rats zum Klimawandel seien generell überzogen. Doch die Gefahren durch die Klimaerwärmung sind real, meint die Tageszeitung The Times: "Der IPCC ist keine selbstgewählte Gruppe von Wissenschaftlern mit politischen Hintergedanken. Sie wurde 1988 vom Welt-Meterologenverband und dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen gegründet mit dem Auftrag, akkurate und ausgewogene Gutachten über den vom Menschen verursachten Klimawandel zu erstellen. ...Vielleicht gibt es einen Vorwurf, den man den IPCC- Wissenschaftlern machen kann: Sie haben ihre Integrität nicht schnell genug öffentlich verteidigt. Sie waren nicht gewillt, sich mit ihrem Anliegen an Radiostationen und Zeitungen zu wenden. Aber Wissenschaftler stehen heute mächtigen Organisationen gegenüber, die daran arbeiten, die Forschungen hinter dem Klimawandel zu verfälschen und in Verruf zu bringen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE67068)

UN-Klimachef geht überraschend Il Sole 24 Ore - Italien; Freitag, 19. Februar 2010

Der oberste Klimaschützer der Vereinten Nationen, Yvo de Boer, hat am Donnerstag völlig überraschend seinen Rücktritt angekündigt. Darin sieht die Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore eine Chance, die Rolle des Uno-Klimasekretariats zu überdenken: "Derzeit hat niemand mehr mit einer solchen Entscheidung gerechnet, die noch vor zwei Monaten [nach dem Scheitern der Klimakonferenz von Kopenhagen] verständlich gewesen wäre. ... Yvo de Boer hat bei seinem Abgang nicht die Türen zugeschlagen, aber aus seinen Abschiedsworten spricht eindeutig Frustration. Am Tag nach dem dänischen Gipfel, auf dem die Interessen der reichen Welt und die der armen Welt aufeinandergeprallt sind, hatten viele von der Notwendigkeit gesprochen, die UN-Klimakonvention selbst, ihre Rolle und ihre Mechanismen, zu überdenken. Dies könnte nun geschehen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65936)

Besser erneuerbare Energien fördern Der Standard - Österreich; Donnerstag, 18. Februar 2010

So klimafreundlich ist Atomstrom gar nicht, meint die österreichische Tageszeitung Der Standard, und

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 306 fordert, dass das AKW-freie Österreich sich konsequenter für Alternativen einsetzt: "Da redet man lieber davon, dass in einem AKW kein Kohlenstoff verbrannt wird und die Atomenergie daher klimafreundlich wäre - was sich unter Einrechnung des sonstigen Energieaufwands relativieren würde. Aber so genau wird eben nicht gerne gerechnet. Sonst käme man zu dem Ergebnis, dass man mit dem Aufwand für die Atomindustrie viel sinnvollere Projekte angehen könnte - etwa im Bereich erneuerbarer Energieträger. Oder im Bereich der Wärmedämmung, in der wesentlich mehr Potenzial steckt als in der Umrüstung auf Energiesparlampen, die die EU forciert. Zur EU gehört eben auch Euratom, wo Österreich weiter fleißig mitzahlt. Und damit eine Politik fördert, die in Sonntagsreden von allen Politikern abgelehnt wird. In Glaubensfragen sollte man mehr Festigkeit erwarten." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65811)

Düstere Aussichten für Klimaabkommen in Mexiko Süddeutsche Zeitung - Deutschland; Mittwoch, 3. Februar 2010

Über 50 Staaten haben beim UN-Klimasekretariat ihre nationalen Ziele im Kampf gegen die Erderwärmung eingereicht, wie sie es bei der Klimakonferenz in Kopenhagen vereinbart hatten. Doch die selbstgesteckten Ziele sind ein Konvolut des kollektiven Scheiterns, meint die linksliberale Süddeutsche Zeitung: "Alle Bekenntnisse zum Klimaschutz sind ausgetauscht. Seine Folgen sind für manche Länder schon jetzt spürbar und werden es für alle anderen in absehbarer Zeit sein. Technologien, die ein Wachstum auch ohne Verbrennung endlicher Rohstoffe erlauben, sind bekannt und erprobt. ... Sollten nicht Länder wie Japan und die EU-Staaten noch einmal eine Initiative ergreifen, sollte Barack Obama mit seinem Klimagesetz scheitern, wird es auch in Mexiko kein Abkommen geben. Doch Japan plagt derzeit die Wirtschaftskrise mehr als das Klima, die Europäische Union hat - wie übrigens auch die deutsche Bundesregierung - jede Führungsrolle im Klimaschutz aufgegeben, die Aussichten für ein Klimagesetz in den USA haben sich verdüstert. Dass Mexiko, der nächste Gastgeber, als einziges großes Schwellenland bisher zu seinen Klimazielen schweigt, spricht Bände." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65026)

Vor den Gletschern schmilzt das Vertrauen Die Presse - Österreich; Mittwoch, 27. Januar 2010

Der UN-Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) hat eingeräumt, mehrere falsche Prognosen zum Klimawandel gestellt zu haben. Die Tageszeitung Die Presse kritisiert, dass der IPCC seinen Ruf ruiniere: "Das begann im Herbst, als bekannt wurde, dass in den letzten zehn Jahren die Temperaturen global nicht um ein hundertstel Grad gestiegen sind. Der Befund kam von der eigenen Zunft, Klimatologen, aber er kam bei Klimabesorgten im IPCC schlecht an. ... Kommen zusammen: (a) Fehler, (b) eine Struktur, die sie ermöglicht, wenn nicht provoziert, (c) eine Person an der Spitze, die sich in Verdacht bringt, beim Akquirieren von Forschungsgeld mit dem Fehler operiert zu haben. (a) Fehler kommen natürlich vor, (b) das strukturelle Problem will das IPCC beheben. - Bleibt der Mann an der Spitze [IPCC-Chef, Rajendra Pachauri]. Er denkt nicht an Rücktritt, offenbar wird er ihm vom eigenen Gremium auch nicht nahegelegt. Anders wird sich allerdings das rapide Schmelzen des Vertrauens, auch in die Wissenschaft ganz generell, nicht aufhalten lassen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE64624)

Verschwörungstheorien erwachsen aus Misstrauen NRC Handelsblad - Niederlande; Mittwoch, 23. Dezember 2009

Der Klimawandel ist eine Erfindung von Umweltaktivisten und hinter der Schweinegrippe steckt die

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 307

Pharmaindustrie: Verschwörungstheorien sind im 21. Jahrhundert populär. Kein Wunder, meint der Philosoph Rob Wijnberg in der Tageszeitung nrc.next: "Die Kluft zwischen Bürgern und Politik spielt dabei auch eine Rolle. Viele Menschen hegen derzeit ein tiefes Misstrauen gegen Machthaber und Regierungen. Dadurch klingen Theorien, die beschreiben, wie die Welt hinter ihrem Rücken durch eine allmächtige Elite gelenkt werden soll, umso plausibler. Komplotte gedeihen gut in Zeiten des Misstrauens. Im 21. Jahrhundert gibt es außerdem genug Anlass zu Spekulationen. So wurde gelogen über Massenvernichtungswaffen im Irak, um einen Krieg zu rechtfertigen; so hat eine kleine Gruppe Banker eine weltweite ökonomische Krise verursacht und sammeln Obrigkeiten immer mehr sensible Privatinformationen. Dann kann man als Staat auch nur wenig Vertrauen erwarten." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE63224)

Frust nach Kopenhagen Top-Thema; Montag, 21. Dezember 2009

Die Staatenlenker der Welt haben die Kopenhagen-Übereinkunft zur Begrenzung der Treibhausgase zur Kenntnis genommen, ihr aber nicht zugestimmt. Die Presse ist tief enttäuscht. Sie hofft nun auf das Nachtreffen in Bonn und denkt über eine Klimaregierung nach, die selbstständig entscheiden kann. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER63092)

Schwellenländer fühlen sich als Klimaopfer Dagens Nyheter - Schweden; Donnerstag, 17. Dezember 2009

Das reflexhafte Verhalten vor allem der Schwellenländer als Hilfsempfänger und Opfer behindert einen Erfolg des Klimagipfels in Kopenhagen enorm, meint die Tageszeitung Dagens Nyheter: "Die alte Aufteilung der Welt in Entwicklungs- und Industrieländer stimmt nicht länger. In welche Kategorie gehört Indien? Oder China? ... Zu den beim Umweltgipfel genannten Entwicklungsländern gehört die G77- Gruppe. Ein Netzwerk, das 1964 innerhalb der UN gegründet wurde und ursprünglich auch aus 77 Ländern bestand. Obwohl die Welt seitdem besser geworden ist und wir eine neue und tragfähige Mittelklasse unter den früher armen Ländern haben, ist die Gruppe auf 130 Länder angewachsen. Darunter Staaten wie Indien, Brasilien und China und das ölreiche Kuwait. ... Es zeigt sich, das diese Länder eher das Selbstbild von einem Objekt haben, das Kompensation braucht, denn das Bild eines Subjekts, das für die Zukunft selbst handeln kann. Das hilft dem Klima nicht." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE62881)

Michail Gorbatschow über Politik und Klimawandel Komment - Ungarn; Montag, 14. Dezember 2009

Anlässlich des UN-Klimagipfels in Kopenhagen kritisiert der ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow auf dem Online-Portal Komment.hu den laschen Umgang der Politik mit dem Klimawandel: "Jeder Vorwand, der dazu dient die Beantwortung der brennenden Umweltfragen hinauszuzögern, ist heutzutage unglaubwürdig. Auch jenes Argument, wonach es andere, wichtigere Probleme gebe. Wenn wir in dieser Frage scheitern, scheitern wir in allem anderen auch. ... Die neuesten wissenschaftlichen Daten zur Klimaveränderung sind alarmierend: Wir befinden uns in einer Notlage. Dennoch weitet sich die Kluft zwischen Wissenschaft und Politik immer mehr. ... Die Gründe für das halbherzige politische Vorgehen gegen den Klimawandel sind vielfältig. Erstens: Das derzeitige Wirtschaftsmodell gründet auf Megaprofiten und einem entfesselten Konsum. Zweitens: Die Lenker von Politik und Wirtschaft sind außerstande, langfristig zu denken. Drittens: Es wird befürchtet, dass die Senkung der Kohlendioxid-Emissionen negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 308 haben könnte." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE62707)

Zwei Wochen Klima retten Top-Thema; Montag, 7. Dezember 2009

Jede zweite Spezies könnte aussterben, Millionen Menschen heimatlos werden, ganze Länder im Meer versinken. Um das zu verhindern, treffen sich seit Montag 192 Staaten zum Klimagipfel in Kopenhagen. Die Erwartungen sind groß, bis hin zu einer neuen Weltordnung für mehr Klimagerechtigkeit. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER62303)

Seltsame Sorge um die Umwelt Polska - Polen; Donnerstag, 3. Dezember 2009

Umweltbewusstsein ist in Polen sowohl bei Konsumenten als auch bei Unternehmen kaum ausgeprägt. Igor Zalewski von der Tageszeitung Polska witzelt über die ersten Versuche von Firmen, mit Hilfe elektronischer Rechnungen Papier zu sparen: "Ökologie ist heutzutage fast so in Mode, wie Witze über die Kaczynski-Brüder [Politiker Lech und Jaroslaw Kaczynski] zu machen. ... Einige Beispiele der Wertschätzung für die Natur gibt es ja schon. Da versuchen einige Unternehmen ihre Kunden dazu zu bringen, auf Rechnungen in Papierform zu verzichten und Abrechnungen auf dem elektronischen Wege anzunehmen. Das Sparen von Holz soll künftigen Generationen zugute kommen. ... Da gibt es aber noch dieses Kabelfernsehen, es heißt UPC, das auch keine Rechnungen in Papierform mehr schicken und einem die elektronischen Rechnungen aufdrücken will. Doch macht es das auf eine interessante Art: Es schickt den Kunden die Ankündigung, Holz zu sparen, per Brief in Papierform." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE62099)

EU formuliert Klimaziele Top-Thema; Donnerstag, 22. Oktober 2009

Als Vorbereitung auf die Klimakonferenz in Kopenhagen haben die europäischen Umweltminister am Mittwoch ihre Klimaschutzziele für 2050 vereinbart. Die USA und Australien diskutieren noch ihre Vorschläge, China und Indien könnten sich verweigern. Die Presse fürchtet, dass die Ziele Europa teuer zu stehen kommen und der Welt wenig nutzen. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER59816)

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Sprachenvielfalt

13.9.2010

Zum Umgang mit den Sprachen Europas gibt es viele Meinungen. Ist Vielfalt gut und Mehrsprachigkeit eine Bereicherung? Oder wäre die Europäische Union mit einer einheitlichen Amtssprache wirtschaftlich konkurrenzfähiger? Haben die vielen Sprachen gar eine zerstörende Wirkung auf die Einheit der Union? Worin zeigt sich die kulturelle Identität Europas? Fünf Experten geben ihre unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen.

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Sprachenvielfalt in Europa Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 13.9.2010

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Wie kann man mit der europäischen Vielsprachigkeit umgehen? Schon im 19. Jahrhundert haben sich Menschen darüber Gedanken gemacht. Soll die EU auf eine einheitliche Sprache setzen, oder weiterhin deren Vielfalt propagieren?

Europa ist ein recht kleiner Kontinent, wenn man ein paar Stunden fährt, ist man in einem anderen Land. Das merkt man in aller Regel auch daran, dass dort eine andere Sprache gesprochen wird. Deutschland hat neun direkte Anrainerstaaten und wer sich in allen Nachbarländern unmittelbar verständigen können will, muss schon ein ziemliches Genie sein und so unterschiedliche Sprachen wie Polnisch, Tschechisch, Französisch und Dänisch beherrschen. Wer hingegen von der Nordspitze Kanadas bis nach Feuerland im Süden Lateinamerikas reist, muss lediglich Englisch und Spanisch sprechen (dabei allerdings einen Bogen um Brasilien machen, in dem Portugiesisch geredet wird). Da die meisten Menschen bei uns keine bis zwei Fremdsprachen sprechen, ist man in Europa oft darauf angewiesen, sich "mit Händen und Füßen" zu verständigen. Diese Körpersprache gibt es auch und in verschiedenen Situationen, vom Flirt bis zur Suche nach einem Hotel, kann sie sehr nützlich sein - aber für komplexe Situationen ist sie nicht ausreichend.

Schon im 19. Jahrhundert haben sich Menschen darüber Gedanken gemacht, wie man mit der Vielsprachigkeit in Europa umgehen könne. Durch die Unabhängigkeitsbewegungen, die zu neuen Nationalstaaten mit neuen - identitätsbildenden - Nationalsprachen führten, wurde die sprachliche Vielfalt ja deutlich größer. Zwar gab es die Sprachen, die nun den neuen Staaten als Kommunikationsmittel und ideologischer Kristallisationspunkt galten, bereits vorher, aber ihre Bedeutung nahm zu und die der "linguae francae", also der Universalsprachen, reduzierte sich entsprechend. Der polnische Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof entwickelte eine Kunstsprache, die er 1887 in einer Publikation vorstellte: das Esperanto. Die Idee war, eine Sprache zu schaffen, die einfach aufgebaut war und eine große Regelmäßigkeit aufwies. Obwohl die Idee bis heute Anhänger hat und es in vielen Ländern Esperanto-Clubs gibt (in Deutschland: Deutscher Esperanto-Bund), hat sich ein solches Konzept einer konstruierten Sprache nicht durchgesetzt. Zwar würde eine neue Sprache keine der bisher genutzten Idiome bevorzugen oder benachteiligen und so zu einem gleichberechtigten Kontakt zwischen den Völkern beitragen, woraus die Esperanto-Vertreter auch den humanistischen Anspruch ihres Vorhabens ableiten, aber Sprache ist offensichtlich mehr als die Verbalisierung von Piktogrammen.

Auf die Bedeutung der Sprache als Ausdruck der Verschiedenheit des Denkens weist, Wilhelm von Humboldt zitierend, Jutta Limbach hin. Die Jura-Professorin war nach ihrer politischen Karriere (als Justizsenatorin in Berlin) und der Übernahme des höchsten Richteramtes als Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts sechs Jahre lang die Präsidentin des Goethe-Instituts, dessen Aufgabe es ist, die deutsche Sprache und Kultur ins Ausland zu tragen. Mehrsprachigkeit, davon ist Limbach überzeugt, bringt intellektuellen Gewinn, fördert "die Lust, sich auf die Welt einzulassen" sowie die Offenheit für andere Geisteswelten.

Auch Krista Segermann, emeritierte Romanistik-Professorin aus Jena betont, dass die Sprachenvielfalt

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 311 sich positiv auf das interkulturelle Verstehen und die Verständigungsbereitschaft der Menschen auswirkt. Jede Sprache drücke eine bestimmte Kultur aus, weshalb eine Einheitssprache die "sprachlich-kulturelle Verstehensfunktion" nicht erfüllen könne. Krista Segermann plädiert daher für eine aktive Umsetzung der europäischen Mehrsprachigkeit, die nur erreicht werden könne, wenn man sich von bisherigen Mustern des Sprachenlernens in der Schule verabschiede.

Was bedeutet das für die Europäische Union? Diese funktioniert zurzeit in 23 Amtssprachen. Darin sieht auch Jutta Limbach ein Problem, weswegen sie sich für ein "institutionelles Sprachenregime" ausspricht. Damit ist gemeint, dass die Europäischen Union sich einigen müsse, einige wenige Sprachen - aber mehr als eine - zur Grundlage ihrer Arbeit zu machen. Dass eine solche Übereinkunft nicht leicht wird zu erzielen sein, deutet Jutta Limbach an. Die Sprache, die mehr als alle anderen als Muttersprache in der Europäischen Union benutzt wird, ist Deutsch; die Sprache, die die meisten in der EU mehr oder weniger gut beherrschen, ist sicherlich Englisch. Spanien und Frankreich können für sich in Anspruch nehmen, dass ihre Sprachen in erheblichen Teilen der Welt als Mutter- oder Amtssprache fungieren. Damit hätte man schon vier Sprachen, für die es gute Gründe gäbe, sie in ein institutionelles Sprachenregime einzubeziehen.

Der Schriftsteller und Journalist Florian Rötzer geht an die Frage der Praktikabilität radikal heran, indem er sagt, dass die Vielsprachigkeit in Europa rückwärts gewandt sei und die europäische Integration behindere. Er sieht die einzige Möglichkeit darin, Englisch zur alleinigen Verkehrs- und Amtssprache in der EU zu machen. Damit sollen die Nationalsprachen natürlich nicht aufgehoben werden, in Karlsruhe und Chemnitz wird man auch nach Rötzers Vorstellung seine Brötchen weiterhin auf Deutsch kaufen. Für das Miteinander in der Europäischen Union soll allerdings nur noch eine Sprache, eben das Englische, von Bedeutung sein. Die gegenwärtige Polyphonie behindere auch die wirtschaftliche Entwicklung. Florian Rötzer stellt die These auf: Je weniger Sprachen in einem Land gesprochen werden, desto entwickelter ist das Land und desto höher ist sein Pro-Kopf-Einkommen.

Auch Peter J. Weber, Professor für Internationale Wirtschaftskommunikation in München, sieht die Europäische Union vor dem sprachlichen Kollaps. Er weist, ähnlich wie Florian Rötzer, darauf hin, dass die europäische Vielsprachigkeit sich ja nicht in den 23 Amtssprachen erschöpfe, sondern es viele weitere Sprache in Europa gebe. Für einige von ihnen würden nun Ansprüche auf Gleichwertigkeit in der Benutzung erhoben. In diesem Zusammenhang deutet Weber auf die Entwicklung des Katalanischen. Man könnte noch andere Beispiele der sprachlichen Differenzierung nennen, beispielsweise die Auseinanderentwicklung des Serbischen, Kroatischen und Bosnischen im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren. Diese europäische Kleinstaaterei, daran besteht für Peter J. Weber kein Zweifel, führe Europa in die Sackgasse und sei gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten unpassend.

Sprache dient auch dem Zusammenhalt, sie ist in den meisten Staaten ein wichtiges Identifikationssymbol: Wir sind Deutsche, weil wir Deutsch sprechen - das ist eine unserer Gemeinsamkeiten.

Wie aber ist es dann um die europäische Identität bestellt? Hier wird oftmals genau gegenteilig argumentiert: Während wir im nationalen Rahmen sagen, dass (auch) die Sprache uns zusammenhält, hört man im europäischen Kontext den Slogan "Einheit in Vielfalt". Verbunden wird dieses Motto mit der Erklärung, unser europäischer Reichtum läge nicht zuletzt in der sprachlichen und kulturellen Vielfalt. Ist also Vielsprachigkeit genauso ein identitätsstiftendes Merkmal wie die Einsprachigkeit in den meisten Nationalstaaten?

In diesem Zusammenhang weist der Publizist Günter Buchstab, der bis 2009 die Wissenschaftlichen Dienste der Konrad-Adenauer-Stiftung geleitet hat, auf die Bedeutung von Symbolen hin. Sie sind eine Art non-verbaler Sprache und können von daher - als Flagge oder als Hymne oder auch als Währung - die nationalen Grenzen leicht überwinden und Menschen zusammenführen. Europäische Symbole können nach Buchstabs Auffassung den europäischen Einigungsprozess unterstützen, allerdings den

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Willen zur Einigung nicht ersetzen.

Die Europäische Union bekennt sich zur großen Zahl ihrer Amtssprachen und will auch weiterhin das Prinzip beibehalten, jedem Land freizustellen, "seine" Sprache mit in die EU zu bringen. Bislang haben lediglich Österreich, Zypern, Belgien und Luxemburg darauf verzichtet, eigene Sprachen zu Amtsprachen zu machen. Während in Österreich Deutsch, in der Republik Zypern Griechisch und in Belgien Niederländisch und Französisch gesprochen wird, gibt es in Luxemburg durchaus eine eigene Sprache, das Luxemburgisch. Allerdings haben die Luxemburger, die Französisch und Deutsch sprechen, darauf verzichtet, ihre Regional- zur europäischen Amtssprache zu machen. Auch die Iren bestanden bei ihrem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1973 nicht auf dem Gälischen, das im Land selbst nur von einer kleinen Minderheit für die tägliche Kommunikation genutzt wird. Erst als 2004 die Malteser ihre Sprache unbedingt repräsentiert sehen wollten, obwohl auf der Mittelmeerinsel das Englische gleichberechtigte Amtssprache und weithin Verkehrssprache ist, setzten auch die Iren ihre Ansprüche durch. Das "Ende der Fahnenstange" ist damit noch nicht erreicht. Sollten Kroatien und Island in absehbarer Zukunft beitreten, wird die EU in 25 Amtssprachen abfahren - und wenn die Beitrittszusagen für die restlichen Balkanstaaten sich erfüllen (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro, Serbien), wären wir bei 30 Sprachen, in die jedes Dokument übersetzt werden müsste. Allein die drei großen europäischen Institutionen, die Kommission, der Rat und das Europäische Parlament, beschäftigen rund 5.000 Personen im Übersetzungs- und Dolmetschdienst. Die Kosten für dieses Sprachenregime liegen bei rund einer Milliarde Euro pro Jahr. Das ist viel Geld, aber andererseits sind es auch nur zwei Euro pro Bürger.

Dass die Kosten nicht deutlich höher liegen, hat damit zu tun, dass tatsächlich keineswegs mehr alle Dokumente und Publikationen in alle Sprachen übersetzt werden. Viele Schriftstücke und Internetpublikationen gibt es nur auf Englisch und Französisch. Selbst Deutsch, offiziell die dritte Arbeitssprache der Europäischen Institutionen, ist nicht annähernd gleichberechtigt vertreten.

Daran, dass es gelingen könnte, sich innerhalb der EU auf zwei oder drei Amtssprachen zu einigen, darf gezweifelt werden. Ein Votum für die Arbeitssprachen, also Englisch, Französisch und Deutsch, dürfte am Widerstand der Italiener, Spanier und sicherlich auch Polen scheitern - und jeder anderen Konstellation ginge es ähnlich. So ist das Wahrscheinlichste, dass die EU sich weiterhin zur Vielsprachigkeit bekennt - und durch die Hintertür das Englische immer stärker die dominante Sprache werden wird.

Unabhängig von der Regelung der europäischen Administration bleibt allerdings die Frage, wie wir uns zur Vielsprachigkeit in Europa verhalten. Sowohl Jutta Limbach als auch Krista Segermann plädieren sehr stark dafür, sich beim Spracherwerb nicht auf eine Fremdsprache - das wäre ja dann wohl das Englische - zu beschränken, sondern durch die Fähigkeit zur Kommunikation auch die Türen zu anderen Kulturen aufzustoßen. Zwei Sprachen neben seiner Muttersprache sollten eine gebildete Europäerin und ein gebildeter Europäer schon beherrschen. Diese Forderung ist nicht neu und auch nicht immer einfach zu realisieren. Gerade unsere Nachbarn aus Luxemburg oder den Niederlanden zeigen jedoch durch ihr eigenes Beispiel, dass eine solche Sprachbeherrschung keineswegs unmöglich ist.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 313 Literatur

Ulrich Ammon: Sprechen Sie Europäisch?, in: Kulturreport - Fortschritt Europa, hrsg. vom Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart 2007, S. 178-184.

Georg Bossong: Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie in der Romania - von den Anfängen bis August Wilhelm Schlegel, Tübingen 1990.

Europäische Kommission: Eine lohnende Herausforderung - Wie die Mehrsprachigkeit zur Konsolidierung Europas beitragen kann, Vorschläge der von der Europäischen Kommission eingerichteten Intellektuellengruppe für den interkulturellen Dialog, Brüssel 2008.

Markus Göldner: Politische Symbole der europäischen Integration: Fahne, Hymne, Hauptstadt, Pass, Briefmarke, Auszeichnungen, Frankfurt a.M. 1988.

Goethe-Institut, Sprache ohne Grenzen, München 2010.

François Grin et. al.: The Economics of the Multilingual Workplace. New York 2010.

Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, Reclam, Stuttgart 1973, insbes. S. 21 ff.

Peter A. Kraus, Europäische Öffentlichkeit und Sprachpolitik, Frankfurt/Main 2004.

Jutta Limbach, Hat Deutsch eine Zukunft? Unsere Sprache in der globalisierten Welt, München 2008.

Robert Robertson: Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Ulrich Beck: Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt am Main 1998

Robert Schuman: Mémoires. Paris 1986.

Peter J. Weber: Die multilinguale und multikulturelle Gesellschaft: eine Utopie? Aspekte einer empirischen Komponentenanalyse zur sprachlichen Identität in Belgien, Bonn 1996.

Peter J. Weber: Kampf der Sprachen. Die Europäische Union vor der sprachlichen Zerreißprobe, Hamburg 2009.

Internet bpb.de (Server der Bundeszentrale für politische Bildung mit umfangreichen Informationen, Folien, Unterrichtseinheiten und Publikationsangeboten über Europa) (http://www.bpb.de) europa.eu (Server der Europäischen Union mit vielen Informationen in allen Amtssprachen) (http:// europa.eu) europarl.de (Server der Vertretung des Europäischen Parlaments in Deutschland) (http://www.europarl. de) auswaertiges-amt.de (Europa-Seite des Auswärtigen Amtes) (http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/ de/Europa/Uebersicht.html) cafebabel.de (mehrsprachige kostenlose Internetzeitschrift, die sich speziell an ein jüngeres Publikum richtet) (http://www.cafebabel.de) euractiv.de (unabhängiger kostenloser Informationsdienst über die Entwicklungen in der Europäischen Union) (http://www.euractiv.de)

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 314 deutscheakademie.de (Internetseite der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung) (http://www. deutscheakademie.de/) esperanto.de (Internetseite des Deutschen Esperanto-Bundes) (http://www.esperanto.de)

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Sprachenvielfalt in Europa Standpunkt Jutta Limbach

Von Prof. Dr. Jutta Limbach 13.9.2010 Prof. Dr. Jutta Limbach war von 2002 bis 2008 Präsidentin des Goethe-Instituts. Von 1989 bis 1994 war sie Senatorin für Justiz in Berlin, anschließend bis 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Sie ist Vorsitzende des Medienrats der Medienanstalt Berlin-Brandenburg.

Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel sondern auch das vielfältige kulturelle Erbe der Menschheit, meint Jutta Limbach. Europa solle kein Schmelztiegel sein und den Reichtum seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt bewahren.

Europa ist ein sprachenfreudiger Kontinent. Zu den Werten Europas gehören seit jeher die Vielfalt seiner Kulturen und die Vielzahl seiner Sprachen. Die Sprachen dienen nicht nur als Kommunikationsmittel. In Schrift gekleidet bezeugen sie das kulturelle Erbe der Menschheit. Die Vielfalt der europäischen Kulturen spiegelt sich in den Sprachen wider. Diese geben Auskunft darüber, was die jeweilige Sprachgemeinschaft gesellschaftlich, politisch und kulturell bewegt. Viele Städte Europas verdienen die Auszeichnung als Weltliteraturstadt, die jüngst die Stadt Dublin erhalten hat, weil sie neben James Joyce noch viele große Autoren zu ihren Söhnen zählt. Die zehn Finger reichen nicht, wenn es gilt, diese Liste um andere europäische Städte fortzuschreiben.

Die Sprache ist ein Politikum. Das veranschaulicht nicht nur der Sprachenstreit in einigen Staaten Europas, wie in Belgien und Spanien. In der Europäischen Union hofft man einen solchen Konflikt zu vermeiden. Im Prozess der europäischen Integration ist die Sprachenvielfalt Europas stets hoch gehalten worden. Bis in den jüngsten, den Vertrag von Lissabon hinein sind die Mitgliedstaaten dem Versprechen treu geblieben, dass die Europäischen Gemeinschaften und nunmehr die Europäische Union den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt zu wahren hat. Die Europäische Union soll kein Schmelztiegel sein. Mehr und mehr setzt sich die Einsicht durch, dass kulturelle Vielfalt die Entwicklung der Menschheit fördert. Die europäische Integration sollte ein beispielhaftes Projekt sein, mit dem unter Beweis gestellt wird, dass sich wirtschaftspolitische Einheit und kulturelle Vielfalt klug harmonisieren lassen.

Bis zum heutigen Tag sind alle offiziellen Sprachen der Mitgliedstaaten gleichberechtigt. Aber nur im Europäischen Parlament sind tatsächlich alle Sprachen zugelassen. Im Gerichtshof der Europäischen Union wird Französisch gesprochen. Die Europäische Kommission hat die englische, französische und deutsche Sprache als interne Arbeitssprachen gewählt. Die deutsche Sprache spielt allerdings im Brüsseler Alltag kaum eine Rolle. Das erklärt nicht nur die Tatsache, dass diese erst seit 1993 dieses Privileg genießt. Hier hat es die deutsche Politik und das deutschsprachige Brüsseler Personal an Eifer und Einfallsreichtum fehlen lassen. Ob durch den jüngst erwachten Eifer Boden wettgemacht werden kann, wird die Zukunft lehren.

Die auf die Integration der verschiedenen Kulturen bedachte Europäische Union muss Strategien entwickeln, die deren friedliches Zusammenwirken fördern, ohne die kulturellen Eigenarten der Mitgliedstaaten und Regionen einzuebnen. Die Union hat sich dem Bildungsziel der Mehrsprachigkeit verschrieben. Manchem erscheint dieses Postulat als ein störendes nationalistisches Relikt. Auf Einfachheit, Schnelligkeit und Sparsamkeit bedacht, plädieren sie für den Gebrauch des Englischen als Verkehrssprache. Wer wollte den Wert dieser Lingua franca leugnen. Ob auf Reisen oder auf

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 316 internationalen Konferenzen kommt uns zustatten, dass wir in der englischen eine weltweit gesprochene Sprache besitzen, die uns allerorten eine Verständigung ermöglicht. Gleichwohl gilt es, eine sprachliche Monokultur abzuwehren. Bringt sie doch allzu leicht Einfältigkeit mit sich. Wenn in der Europäischen Union nur noch Englisch gesprochen würde, verkämen alle übrigen Sprachen zu Freizeitsprachen, die mangels einer fortgeschriebenen wirtschaftspolitischen Terminologie modernen Ansprüchen nicht mehr gerecht würde. Dagegen verspricht Mehrsprachigkeit intellektuellen Reichtum, weil sie mit anderen, fremden Ideen vertraut macht.

Die Sprache ist, so hat es Wilhelm von Humboldt gesagt, auch Ausdruck der Verschiedenheit des Denkens. Vermutlich, so meint er, ist "der eigentliche Grund der Vielheit der Sprachen das innere Bedürfnis des menschlichen Geistes, eine Mannigfaltigkeit intellektueller Formen hervorzubringen ...". In mehreren Zungen reden zu können, bereichert die Ansicht von Welt und Wirklichkeit. Fremde Wörter sind gleichsam Fenster in eine andere Welt. Zudem regt das Erlernen fremder Sprachen den Menschen an, über die Eigenheiten der eigenen Sprache nachzudenken. Wie hat es schon Goethe so treffend gesagt, wer fremde Sprachen nicht lernt, kennt seine eigene nicht. Mit der Kenntnis fremder Sprachen wachsen die Lust, sich auf die Welt einzulassen, und die Offenheit für andere Geisteswelten.

Kulturelle und sprachliche Vielfalt bringen nicht nur intellektuellen Gewinn. Sie erzeugen auch Spannungen, wie uns ein Blick in die Nachbarschaft zeigt. Diese Einsicht verlangt ein intensives Nachdenken darüber, wie die positive Wirksamkeit von Mehrsprachigkeit bestärkt werden kann. Dabei sollten wir uns von der Zuversicht leiten lassen, dass eine bewusst gelebte kulturelle Vielfalt als ein mächtiges Gegengift gegen nationalistische Überheblichkeit wirken kann, die wiederholt zu zerstörerischen Kriegen geführt hat. Die von dem damaligen Kommissar für Mehrsprachigkeit einberufene Intellektuellengruppe hat - dieser Hoffnung folgend - vorgeschlagen, dass jeder Europäer und jede Europäerin neben der Verkehrssprache Englisch eine Fremdsprache mit großem Ehrgeiz und Arbeitsfreude erlernen sollten. Die Wahl einer persönlichen Adoptivsprache sollte von persönlichen Beweggründen geleitet werden: von der Familiengeschichte oder der geografischen Nachbarschaft, von beruflichen Interessen oder intellektueller Neugier.

Das Erlernen der Adoptivsprache soll mit der Kultur, der Literatur, der Geschichte, der Gesellschaft und den politischen Institutionen des Landes vertraut machen, in dem die jeweilige Sprache gesprochen wird. Wohl wird sich eine große Zahl der Europäer für eine der großen symbolträchtigen Sprachen entscheiden, deren Sprachgemeinschaft eine wichtige Rolle in der Geschichte gespielt hat. Auch der Wunsch, europäische Werke der Weltliteratur in der Originalsprache zu lesen, dürfte die Wahl beeinflussen. Doch jede Sprache - und sei die sie sprechende Sprachgemeinschaft noch so klein - ist Trägerin eines kulturellen Gedächtnisses und einer besonderen Ausdrucksfähigkeit. Darum ist keine verzichtbar. Jede sollte mit Hilfe zweiseitiger Bande bewahrt werden. Ein phantasievoller Umgang mit der Sprachenvielfalt kann, so das Fazit der Intellektuellengruppe, das Selbstverständnis als europäischer Bürger fördern und einen Beitrag zu einem harmonischen Zusammenleben der Kulturen leisten. Der vertiefte Spracherwerb zielt auf die Bildung der Persönlichkeit. Die Bereitschaft und Fähigkeit sollen auf diese Weise entwickelt werden, sich in anderen Regionen und Geisteswelten zurechtzufinden. Hinter dem Konzept der persönlichen Adoptivsprache steht letztlich ein neues Menschenbild. Gemeint ist das Ideal eines weltoffenen Unionsbürgers und einer aufgeschlossenen Unionsbürgerin, die Brücken zwischen der Kultur ihres Herkunftslandes und fremden Kulturen zu bauen wissen.

Das Hohe Lied auf die Mehrsprachigkeit darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Vielzahl der Sprachen in der Arbeit der Europäischen Union als beschwerlich erweist. Bedenkt man, dass gegenwärtig 506 Sprachkombinationen abzudecken sind, so wird die Frage nach einem institutionellen Sprachenregime alsbald auf der Tagesordnung stehen. In dieser hoch emotionalen Frage ein kluges Übereinkommen zu erzielen, dürfte die europäische Politik auf das Äußerste herausfordern. Das Bekenntnis der Union zur kulturellen und sprachlichen Vielfalt schließt ein Sprachenregime aus, das die Einsprachigkeit zur Regel macht. Die Sprachenwahl und deren Zahl werden nur in einem offenen

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Diskussionsprozess entschieden werden können. Bei der Abwehr einer sprachlichen Monokultur kommt Deutschland, Frankreich und auch Spanien eine besondere Rolle zu. Sie sind nicht nur wegen der Bedeutung ihrer Sprachen für die Sprachenvielfalt in Europa, sondern vor allem für den Erhalt der Sprachen kleinerer Staaten verantwortlich. Wie die Sprachen lebendig bleiben, die nicht in den Genuss kommen, Arbeitssprache der Europäischen Union zu sein, wird die Kardinalfrage eines künftigen Sprachenregimes sein. Denn würden diese künftig auf das Gesellige beschränkt werden, ereignete sich ein Kulturverlust, der zu den Zielen der Europäischen Union in einem krassen Widerspruch stünde.

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Mehrsprachigkeit - Chance und Notwendigkeit für Europa. Vier Thesen zur Diskussion Standpunkt Krista Segermann

Von Prof. Dr. Krista Segermann 13.9.2010

Prof. Dr. Krista Segermann ist emeritierte Professorin für Romanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Krista Segermann sieht das Bewusstsein der europäischen Vielfalt als Bereicherung und Friedenschance für Europa. Für ein besseres kulturelles Verständnis fordert Sie Mehrsprachigkeit und skizziert einen Maßnahmenkatalog für den Sprachunterricht.

1. Das Bewusstsein einer politischen und kulturellen Einheit in der Vielfalt stellt die friedenssichernde Überlebenschance für Europa dar.

Trotz seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt stellt sich Europa den Touristen von anderen Kontinenten überwiegend als einheitlicher Kulturraum dar, der in einer Zwei-Wochen-Europatour zu 'bewältigen' ist. In der Innensicht der einzelnen europäischen Länder überwiegt demgegenüber das Fremde, Andersartige: Unterschiede in der Lebensart, in Wertvorstellungen und wirtschaftlichen Verhältnissen erzeugen Ressentiments, Angst (etwa vor finanzieller Ausbeutung) oder Bedrohung (z. B. durch die Bevormundung durch den wirtschaftlich Stärkeren). Unsere globalisierte Welt erlaubt jedoch keine mentale 'Kleinstaaterei' mehr. Europa muss nicht nur eine gemeinsame politische, sondern auch eine gemeinsame kulturelle Identität entwickeln oder zutreffender formuliert: wieder entdecken, denn vor der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten gab es - unbeschadet aller kriegerischen Auseinandersetzungen - durchaus das Bewusstsein einer gemeinsamen europäischen bzw. abendländischen Kultur mit herausragenden Europäern in Wissenschaft, Kunst und Technik. Die 'Renaissance' dieses Bewusstseins darf allerdings nicht zulasten einer Abschottung gegenüber den Nicht-Europäern gehen. Ein gesundes Selbstbewusstsein braucht keine 'Festung'. Es basiert auf der Wertschätzung des eigenen kulturellen Erbes und wird gerade dadurch offen für alles Fremde, hier alles Außereuropäische, dessen Kennenlernen als Bereicherung empfunden wird.

2. Sprachenvielfalt kann sich positiv auf das interkulturelle Verstehen und die Verständigungsbereitschaft auswirken.

Die wichtigste Grundlage der Verständigung ist eine gemeinsame Sprache. Dieses Privileg haben das britische Empire und die Vereinigten Staaten von Amerika den Europäern voraus. Doch diesen 'Nachteil' gilt es in Vorteil zu verwandeln. Das Vorhandensein unterschiedlicher Sprachen birgt die Chance, sich seiner eigenen, maßgeblich von der Sprache geprägten Sozialisierung allererst bewusst zu werden, und zwar durch den Vergleich mit anderen, sprachlich vermittelten Wahrnehmungs- und Beurteilungsmustern, anderen Erfahrungen und Verhaltensnormen, und so die vermeintlich absolute Gültigkeit der eigenen Wertungen zu relativieren. Dadurch wächst die Bereitschaft, sich in seiner eigenen kulturellen Gebundenheit und damit Begrenztheit anzuerkennen und die Begegnung mit dem 'Fremden' als Chance zur Horizonterweiterung wahrzunehmen.

Die Beherrschung einer gemeinsamen lingua franca (wie z.B. des Englischen) kann diese sprachlichkulturelle Verstehensfunktion gerade deshalb nicht erfüllen, weil ihr die Kulturspezifik fehlt.

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Auch der Kommunikation mittels Übersetzung bzw. Dolmetschen mangelt es an der Verwobenheit von sprachlichem Ausdruck und kulturell bedingten Mentalitätsstrukturen. Sie ist nur ein schwaches Abbild, nicht die lebendige Wirklichkeit, und sie birgt die Gefahr in sich, das Fremde eher zu verschleiern (mit dem Schleier des Eigenen) als es offenbar zu machen. Angelesenes landeskundliches Faktenwissen bleibt ebenfalls tot, solange es nicht mit persönlicher Erfahrung durchtränkt wird. Diese Erfahrung aber lässt sich nur gewinnen, wenn man der Sprache des 'Anderen' mächtig ist - nicht unbedingt perfekt, aber doch so, dass sie in ihrer 'Unmittelbarkeit' wirken und ihr entgrenzendes Potential entfalten kann. Denn dann kann der 'Andere' auch als erlebtes Individuum und nicht nur als Repräsentant oder gar Prototyp der fremden Kultur in den Blick kommen, und man begegnet ihm mit kritischer Offenheit statt festen (Vor-)Urteilen.

3. Die Umsetzung der europäischen Mehrsprachigkeit setzt ein Umdenken im Fremdsprachenunterricht voraus.

Die in der europäischen Sprachenvielfalt liegende Chance kann vertan werden, solange 'Mehrsprachigkeit' und 'Interkulturalität' nur volltönende Lockrufe für Profilierungswünsche im Bildungswesen sind, und die praktische Umsetzung allzu oft im bürokratischen Dschungel stecken bleibt. Das größte Hindernis stellt jedoch eine überalterte Auffassung vom Erlernen einer Fremdsprache dar, die in unserem Bildungssystem immer noch dominiert. Diese Auffassung orientiert sich nach wie vor weitgehend an der schriftlichen Kommunikation und entwickelt nur unzureichende Methoden, um die Lernenden zur sprachlichen Verständigung in realen Begegnungssituationen zu befähigen, wo sie herausbekommen müssen, was der Andere sagt und meint bzw. sich selbst mitteilen müssen, um den eigenen Denk-, Gefühls- und Erfahrungshorizont begreiflich zu machen.

An diesem unbefriedigenden Zustand des schulischen Fremdsprachenunterrichts hat auch die Einführung des "Europäischen Portfolio der Sprachen" (seit 2001) leider bis jetzt nicht viel geändert. Die Kompetenzbeschreibungen der insgesamt sechs Niveaustufen bescheinigen den Lernenden erst auf den letzten drei Stufen (B2, C1, C2), dass sie einer fremdsprachlichen Verständigung in der tatsächlichen Sprachwirklichkeit gewachsen sind. Wenn man bedenkt, dass das B2-Niveau normalerweise erst im Abitur angepeilt wird, die Lernanstrengungen, die darunter liegen, jedoch kaum etwas mit realitätsnaher Kommunikation zu tun haben, so wird klar, dass solch bescheidene Zielsetzungen sich eher an den (bescheidenen) Ergebnissen des durchgängigen Fremdsprachenunterrichts orientieren als an den Erfordernissen einer europäischen Mehrsprachigkeit.

Solange in unserem Schulunterricht die Lehrmeinung vorherrscht, dass man eine Fremdsprache lernt, indem man Vokabeln nach den Regeln der Grammatik zu Sätzen zusammensetzt, solange werden zwar schriftliche Lektionstexte verstanden und schriftlich reproduziert werden können, ein spontaner, an kreative Improvisation und schnelles Reagieren auf unvorhersehbare Sprechsituationen gewöhnter mündlicher Austausch von Gedanken und Gefühlen jedoch muss illusorisch bleiben. Eine bewusste Beschränkung auf das verlangsamte Tempo des schriftlichen Mediums aber würde das Ziel der europäischen Verständigung um seine wichtigste, nämlich emotionale Dimension bringen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 320 4. Wichtigste organisatorische Maßnahme für ein Gelingen der Mehrsprachigkeit ist die Anpassung des Fremdsprachenunterrichts an die europäische Aufgabe.

Dazu werden folgende unterrichtliche Maßnahmen vorgeschlagen:

1. Abschlussprofile, Lehrgangsdauer und Stundentafeln sind zu diversifizieren und von der einseitigen Ausrichtung am Abitur zu befreien.

2. Die Kompetenzbereiche müssen sich auf jeder Stufe an der kommunikativen Wirklichkeit orientieren und dürfen nur in ihrem quantitativen Umfang variieren.

3. Die Unterrichtsverfahren sind konsequent an den kommunikativen Zielsetzungen auszurichten. Statt formaler Trockenübungen zu Aussprache, Orthographie, Wortschatz und Grammatik ist das inhaltsbezogene, kreative Sprechen und Schreiben sowie das Verstehen unbekannter schriftlicher und mündlicher Texte kontinuierlich zu üben. Dazu sind Unterrichtskonzepte nötig, die bei der Entwicklung der kommunikativen Fähigkeiten von den Äußerungs- und Lese- bzw. Hörwünschen der Schüler ausgehen und gleichzeitig eine Systematisierung der Formenvielfalt ermöglichen (wie z.B. das Jenaer Bausteinkonzept).

4. Das Unterrichtsmaterial kann im Multimedia-Zeitalter nicht mehr von einem Buch mit gedruckter Information dominiert werden. Statt eines Lehrbuchs zur Einführung von Wortschatz und Grammatik sollte den Lernenden ein Pool von inhaltlich anspruchsvollen Bild-, Ton- und Printmaterialien zur Auswahl gegeben werden, der sie zu kommunikativer Eigentätigkeit herausfordert.

5. Das traditionelle Rollenverständnis von Lehrer und Schüler ist zu überdenken. Der Lehrende ist nicht mehr Vermittler vorgegebener Wissensinhalte, sondern er liefert und strukturiert die Formen, die der Lernende zur Versprachlichung seiner eigenen Ausdrucksbedürfnisse braucht. Der Lernende ist nicht mehr empfangendes Objekt, sondern handelndes Subjekt in einem Prozess zur Entwicklung eigener, die ganze Person betreffender Fähigkeiten.

6. Das Lernen ist in seinen psychologischen Dimensionen ernst zu nehmen. Niemand kann gegen seinen Willen lernen, und niemand lernt, wenn das Lernen selbst mit negativen Gefühlen besetzt ist. Subjektiv empfundene Freude beim Lernen schließen Ernsthaftigkeit, eifriges Bemühen und Leistung nicht nur nicht aus, sondern sind im Gegenteil Vorbedingung für jedes erfolgreiche, d. h. dauerhafte Lernen.

7. Der auf Eigeninitiative, Selbsttätigkeit, Individualisierung und handelndem Lernen beruhende Fremdsprachenunterricht darf eine gewisse Klassenstärke nicht überschreiten. Mit mehr als 20 Schülern ist ein sinnvoller und effektiver Unterricht nicht mehr möglich. Mit der Überschreitung dieser Zahl potenziert sich der Nervenverschleiß der Lehrer und der auf die gesamte Schuleinstellung ausstrahlende Motivationsverlust der Schüler so sehr, dass Einsparungsmaßnahmen hier gerade volkswirtschaftlich unverantwortlich erscheinen.

8. Die Vorbereitung der Fremdsprachenlehrer aller Schultypen (einschließlich der Grundschule) auf die europäische Aufgabe verlangt ein Konzept aufeinander bezogener Ausbildungsgänge und organisatorisch gesicherter Auslandskontakte. In jedem größeren Kollegium sollte ein muttersprachlicher Kollege zu finden sein, so wie umgekehrt jeder deutsche Fremdsprachenlehrer eine gewisse Zeit in einer ausländischen Schule als Deutschlehrer tätig sein sollte. Auf diese Weise ließe sich der Fremdsprachenunterricht in den Ländern Europas wenn nicht vereinheitlichen (was vielleicht gar nicht wünschenswert ist), so doch durch gegenseitige Anregungen befruchten.

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Warum die EU eine einzige gemeinsame Sprache benötigt Standpunkt Florian Rötzer

Von Florian Rötzer 13.9.2010

Florian Rötzer ist Schriftsteller und Journalist. Er ist zudem Redakteur des Online-Magazins "Telepolis".

Mit der Bewahrung der Vielsprachigkeit verfolgt Europa ein falsches, rückwärtsgewandtes Konzept, sagt Florian Rötzer. Es sei aus kurzfristigen politischen Gründen durchgesetzt, und erschwere die europäische Integration.

Mit dem offiziellen Konzept der Bewahrung der Vielsprachigkeit verfolgt Europa ein falsches Konzept, das rückwärts gewandt ist, die Integration erschwert und aus kurzfristigen politischen Gründen durchgesetzt wurde.

Die Europäische Union hat sich entschlossen, zur Kompensation einer größeren politischen, wirtschaftlichen, finanziellen und justiziellen Vereinheitlichung des Binnenraums die Vielfalt der Kulturen und Sprachen nicht nur zu fördern, sondern sie auch zu einem wichtigen Aspekt der kulturellen Identität zu erheben. Das ist zu einem großen Teil der Ängstlichkeit der nationalen politischen pro- europäischen Klassen zu verdanken, die durch die Einrichtung von Sprachreservaten auf EU-Ebene hoffen, das Zusammenwachsen Europas besser verkaufen zu können, weil damit die nationalen und regionalen Identitäten erhalten und geschützt sowie die Ängste vor einem supranationalem System gemildert werden sollen. Auch wenn Europas Zukunft trotz des Vertrags von Lissabon keineswegs vorgezeichnet oder gar gesichert ist, sondern sich Erosionstendenzen entlang überkommener Stereotypen und Nationalismen schnell durchsetzen können, wie die grassierende Europamüdigkeit und gerade wieder die Eurokrise gezeigt haben, so setzen sich auch unabhängig vom europäischen Prozess der Vereinigung und entgegen den Versuchen der Einigelung mit dem Englischen eine globale Sprache und auch eine globale Kultur durch. Die Dominanz des Englischen verdankt sich zwar auch dem britischen Kolonialismus und dem Einfluss der Supermacht USA, vor allem aber auch dem Umstand, dass die Sprache alternativlos über die globalisierten Wirtschafts- und Finanzsektoren zur kommunikativen Grundlage der Wissenschafts- und Mediengesellschaft geworden ist. Das Internet hat diesen Prozess noch erheblich beschleunigt und vertieft. Zu Beginn der Industrialisierung war auch die englische Technik überlegen gewesen. Dabei geht es nicht nur um die Kultur und Kommunikation der globalisierten Elite, sondern auch um den alltäglichen Lebensstil vor allem in den wissensbasierten Gesellschaften, die sich zudem wie die europäischen Länder schnell durch Zuwanderung zu multikulturellen Gesellschaften mit schwindenden Leitkulturen und -sprachen verändern.

Die Beherrschung des Englischen ist in der globalen Wissens- und Informationsgesellschaft zur Voraussetzung für den Zugang zu Märkten, Karrieren, Wohlstand und Wissen oder Information geworden. Die Träume von einer künstlichen Universalsprache, die kein Produkt der historischen Evolution ist und als rational optimiertes Produkt den Vorteil haben könnte, neutraler als Englisch gegenüber allen anderen Sprachen zu sein, müssen wohl nach den jahrhundertelangen Anstrengungen zumindest vorerst als gescheitert gelten. Heute herrscht wie immer in der Noosphäre der auch für andere Märkte geltende evolutionäre Druck der natürlichen Selektion, der in voraussehbarer Zukunft Englisch als "natürliche" Sprache weltweite Geltung verschafft und viele andere dem Untergang oder einer regionalen Bedeutungslosigkeit preisgibt. Was manchen als riskante Ausbreitung einer

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 323 sprachlichen Monokultur erscheinen mag, ist in Wirklichkeit aber ein schon lange herrschender Prozess, in dem das britische "Englisch" Veränderungen durch den Gebrauch vor allem von Menschen unterworfen wird, die keine Primärsprecher sind. Zwar werden sich dank der engen Verzahnung der Kulturen und der Auflösung der geografischen Barrieren keine eigenständigen Sprachen mehr aus dem Englischen entwickeln, wohl aber zahlreiche Dialekte und Fachsprachen, die eine interne Vielfalt garantieren.

Die invasive Macht des Englischen verdankt sich nicht der Quantität der Primärsprecher, die weltweit sinkt, sondern der wachsenden Zahl derjenigen, die es in und außerhalb der Schulen als Zweitsprache erlernen. Englisch wird jeder einigermaßen beherrschen müssen, der in der globalen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur erfolgreich sein will. Das trifft für alle Menschen zu, auch für die Europäer. Und diese stellen sich jenseits der offiziellen EU-Politik auch darauf ein, dass Englisch de facto zwar keine europäische Nationalsprache sein kann, wohl aber zur offiziellen EU-weiten Verkehrs- und Amtssprache werden könnte, die neben der europaweiten Verständigung gleichzeitig den Anschluss an die Weltsprache garantiert. Nach einer Eurostat-Umfrage aus dem Jahr 2005 gibt es in der EU so zwar ein wenig mehr deutsche und französische Primärsprecher als englische, insgesamt aber sprechen mit 51 Prozent deutlich mehr Europäer Englisch als Deutsch (32 %) oder Französisch (28 %). Englisch ist demnach auch die meistgesprochene Fremdsprache. Italienisch, Spanisch oder Polnisch fallen mit 16 Prozent und weniger Sprechern noch einmal stark ab, die restlichen der insgesamt 23 Amtssprachen repräsentieren höchstens noch 3 Prozent und weniger Sprecher. Die neue Amtssprache Gälisch wird nur von 2 Prozent der Iren als Muttersprache angegeben, Maltesisch, ebenfalls Amtssprache, wird maximal von 400.000 Menschen gesprochen, dagegen nennen 26 Prozent der Esten Russisch oder 8 Prozent der Bulgaren Türkisch als ihre Muttersprache - die EU hat knapp 500 Millionen Einwohner.

Vor diesem Hintergrund wirkt der Versuch, Europa in der Welt als Bollwerk zur Verteidigung der Vielfalt und hier vor allem der Sprachenvielfalt nach außen zu profilieren und nach innen zu beruhigen, nicht nur als rückwärtsgewandte Image- und Beruhigungsstrategie, sondern als verfehlte Nostalgie, die langfristig Europa schaden wird. Dabei wird aber Vielfalt nur nach einer Seite hin propagiert, während man eine sprachliche Homogenität zementiert und damit letztlich versucht, die historische Entwicklung festzuschreiben und gegen eine weitere Evolution zu schützen. Dieses Projekt stammt aus dem 19. Jahrhundert und kann aus vielerlei Gründen kein Vorbild mehr sein, es sei denn für ein verändertes Projekt einer gemeinsamen europäischen Sprache - und gerade nicht für die Vielsprachigkeit.

Das von der EU verfolgte Ideal einer Gemeinschaft mit einer Vielfalt von Kulturen und Sprachen wird bekanntlich auch institutionell umgesetzt. So ist nicht nur die Europäische Union eine vielsprachige Institution, in der mit hohem personellem und finanziellem Aufwand 23 Amtssprachen anerkannt werden, sondern es wurde zwischenzeitlich gar ein eigenes Kommissariat geschaffen, das von 2007 bis 2010 ausschließlich für den Erhalt der Sprachenvielfalt bzw. der Mehrsprachigkeit zuständig war. Langfristiges Ziel der EU ist es, auch bei neuen Erweiterungen die Mehrsprachigkeit zu garantieren, während gleichzeitig die Motivation der Europäer zum Sprachenlernen gestärkt werden soll, um dahin zu kommen, dass, so die Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit (2005), irgendwann in der Zukunft alle EU-Bürger neben ihrer Muttersprache zusätzlich zwei weitere Sprachen fließend sprechen sollen. Da man nicht von großer Motivation der Menschen für eine falsche und durchsichtige Entscheidung ausgehen kann, wurde von der Kommission gut bürokratisch 2006 etwa eine High Level Group on Multilingualism (HLGM) eingesetzt, die nicht das angestrebte Ziel diskutiert, sondern nur - wenn auch sichtlich skeptisch - Empfehlungen ausspricht, wie sich die europäische Dreisprachigkeit erreichen ließe. Erkennbares Ziel dabei ist, die Durchsetzung einer lingua franca zu verhindern, obgleich der Erwerb nur einer Fremdsprache, die zudem als Verkehrssprache in ganz Europa und letztlich mehr und mehr auch in der Welt dient, sehr viel einfacher zu realisieren und überdies schlicht realistischer wäre. Nach der Eurostat-Umfrage sprechen 44 Prozent der Europäer noch gar keine Fremdsprache. Dazu tragen neben Großbritannien und Irland, wo sich die Menschen und Regierungen auf die faktische Dominanz des Englischen verlassen, vor allem Italien, Ungarn, Portugal und Spanien bei. Die Motivation, Fremdsprachen zu lernen, sei gering, hält die Studie fest, obgleich mehr als vier Fünftel

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 324 der Meinung sind, dass Fremdsprachenkenntnisse nützlich sind.

Weil vermieden werden soll, langfristig eine Verkehrssprache explizit und aus einem pragmatischen Geist heraus anzustreben, während sich im Hintergrund selbst institutionell natürlich das Englische als lingua franca durchsetzt, was erst im März 2010 die deutsche Europaministerkonferenz heftig kritisierte, verhindert oder verlangsamt die Politik der Mehrsprachigkeit aber das weitere Zusammenwachsen Europas und sichert aus langfristig fragwürdigen Gründen faktisch im Wesentlichen nur die Anschlussfähigkeit einiger auserkorener Sprachen an das Englische. Das hat mit einem Geburtsfehler der EU zu tun, weil 1958 noch aus verständlichen Gründen, man wollte schließlich offiziell erst eine Wirtschaftsunion gründen, die ersten sechs Mitgliedsstaaten die Gleichberechtigung der vier Amtssprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Niederländisch verankert haben. Anstatt sich aber vor der weiteren Aufnahme von neuen Mitgliedsstaaten auf eine europäische Verkehrssprache zu einigen, wurden mit der Aufnahme von neuen Ländern immer neue Amtssprachen anerkannt, was mittlerweile zu einer schwer zu bewältigenden Sprachenkomplexität geführt hat. Die EU gibt jährlich für die Übersetzung von Dokumenten und vor allem von Parlamentsdebatten in die 23 Amtssprachen mehr als eine Milliarde Euro aus, ein Prozent des Gesamthaushalts. Allein die Übersetzung eines Sitzungstags des Europäischen Parlaments kostet um die 120.000 Euro, wenn 20 Sprachen ineinander simultan übersetzt werden müssen, wofür Hunderte von Übersetzern beschäftigt werden müssen. Eine Garantie für besseres Verständnis gibt es dadurch keineswegs, da die Übersetzungen weder von den Sprechern noch von den Hörern kontrolliert werden können.

Aber die Kosten und die Übersetzungsbürokratie sind keineswegs das wirkliche Problem, obwohl die Ansprüche und Kosten weiter steigen werden. Wer 23 Amtssprachen, teils nach seltsamen, geschichtlich höchst fragwürdigen nationalen Kriterien, anerkannt hat, darunter auch wirkliche Minderheitssprachen wie Gälisch oder Maltesisch, wird nicht vermeiden können, dass nicht nur von neuen Mitgliedsstaaten, sondern auch von weiteren Sprachgruppen Ansprüche erhoben werden, die man begründet kaum abweisen kann. Gerade dort, wo solche Sprachgemeinschaften nach mehr Autonomie streben, was wie einst bei der Ausbildung der so genannten Nationalstaaten im 19. Jahrhundert zur Veränderung der staatlichen Landschaft führen kann, wird die gemeinsame europäische Kultur weiter kompliziert und gefährdet. So wurden Katalanisch, Baskisch und Galizisch als Regionalsprachen mit Amtsstatus anerkannt. Damit wird der Schutz der sprachlichen Vielfalt aus politischen Gründen nicht enden, weitere historisch gewachsene Sprachgemeinschaften werden anstreben, ihre Sprache zur Amtssprache zu erheben, beispielsweise russische Muttersprachler in den baltischen Ländern. Zu erwarten wird auch sein, dass große Migrantengruppen in europäischen Ländern, beispielsweise Türken in Deutschland oder Österreich, die schon mehrere Generationen hier leben, ebenfalls einen Anspruch geltend machen könnten. Der kann sich nur durch den Verweis auf eine historische Tradition zurückweisen lassen, die allerdings selbst aus der Vermischung, Überlagerung und Verdrängung von Ethnien, Kulturen und Sprachen hervorgegangen ist. Nicht einmal die meisten europäischen Nationalstaaten waren zu Beginn Gesellschaften, in denen sich die meisten in einer zur Nationalsprache erklärten Sprache verständigen konnten. Selbst im damals schon gefestigten französischen Nationalstaat beherrschte noch 1790 nach einer offiziellen Untersuchung die Mehrheit der Bevölkerung nicht Französisch. Man sprach Keltisch, Deutsch, Okzitanisch, Katalanisch, Italienisch oder Flämisch. Noch 1893 sprach immerhin ein Achtel der Schulkinder zwischen 7 und 14 Jahren kein Französisch. Auch innerhalb der "Nationalstaaten" vollzog sich die durch normierte Massenalphabetisierung realisierte sprachliche Integration, die als kommunikative Infrastruktur soziale Kohäsion bewirken sollte, langsam, die daraus entstehenden Konflikte bestehen trotz der großen Vorteile für die gesamtgesellschaftliche Kommunikation teilweise wie in Belgien oder Spanien bis heute.

Wie auch immer, die langfristig zu organisierende Einführung von Englisch als der einzigen Verkehrs- und Amtssprache in der EU wird nicht nur durch deren sowieso erfolgenden Ausbreitung begünstigt, sondern auch durch die Erfahrung der nationalen Vereinheitlichung bekräftigt. Die Durchschlagskraft der sprachlichen Monokulturen lässt sich noch heute an der Vielfalt der Sprachen in einem Land

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 325 ablesen. Je weniger heterogene Sprachen es in einem Land gibt, desto reicher wird es bzw. desto höher wird das Pro-Kopf-Einkommen der Einwohner sein: ein Indiz für die negativen Folgen der Aufrechterhaltung von Sprachbarrieren. Selbst in einem kleinem Land wie Papua-Neuguinea werden noch über 800 lokale Sprachen gesprochen, im Tschad 117, in Äthiopien 120, im Sudan 135, während in reichen Ländern wie in Japan 5, in Frankreich 10, in Deutschland 7 oder in den Niederlanden 5 gesprochen werden, wobei meist eine Sprache gänzlich dominant ist und die anderen vorwiegend in der privaten Kommunikation verwendet werden. Sprachliche Homogenität ist offenbar Voraussetzung für wirtschaftliche und politische Einheit und Effizienz, gleich ob diese auf demokratischen oder totalitären Strukturen beruht. Und das wird in der EU desto wichtiger, da nicht nur der transeuropäische Handel, die Mobilität der Werktätigen, der transnationale Tourismus und die weltweite und europäische Verzahnung von Bildung und Wissenschaft voranschreiten, sondern auch jedes europäische Land zu einem Einwanderungsland geworden ist. Daher werden neben den 23 Amtssprachen und den 60 europäischen Regionalsprachen insgesamt mindestens 438 Sprachen in den 20 EU-Mitgliedsstaaten gesprochen, die im Rahmen des VALEUR-Projekts 2007 (Valuing All Languages in Europe) untersucht wurden.

Leonard Orban, der frühere Europäische Kommissar für Mehrsprachigkeit, musste kraft seines Amtes die sprachliche Ausrichtung der EU-Politik gegen vernünftige Einwände rechtfertigen und versicherte Ende Dezember 2009 in einer Rede über die Zukunft der Sprachenvielfalt in Europa: "Ich bin kein Träumer. Ich weiß, dass auf globaler Ebene internationale Verkehrssprachen nützlich und auch notwendig sind. Die Rolle der englischen Sprache und ihre Bedeutung bestreite ich nicht. Doch bin ich der Meinung, dass ein einsprachiges Europa kulturell wie sozial nicht akzeptabel ist - und selbstverständlich auch politisch unvorstellbar." Englisch als europäische Verkehrssprache einzuführen, hieße natürlich nicht, wie dies Orban suggeriert, ein einsprachiges Europa durchzusetzen, sondern eine europaweite Amtssprache durchzusetzen. Die National-, Regional- und Minderheitensprachen würden deswegen weiterhin gesprochen, die nationalen Amtssprachen beibehalten werden, aber deren Bedeutung würde sich durch den Entzug des Reservats auf EU-Ebene natürlich verringern. Richtig ist vermutlich, dass die Einführung von Englisch - eine Alternative gibt es nicht, zumal Englisch als Fremd- und Muttersprache durchschnittlich schon von mehr als der Hälfte der Europäer gesprochen wird, in manchen Ländern sprechen und verstehen Englisch schon bis zu 80 Prozent - derzeit politisch nicht durchsetzbar erscheint. Dagegen sträuben sich in erster Linie Deutsche und Franzosen, ungünstig ist freilich auch, dass ausgerechnet die Briten besonders europaskeptisch sind.

Europa hat teilweise eine gemeinsame Währung eingeführt, also warum nicht auch eine gemeinsame Sprache? Die Widerstände gegen den Euro sind und waren aus nahezu denselben Gründen motiviert wie die Bewahrung der jeweils eigenen Sprache: Standortsicherung und regionale Identität. Währungen sind miteinander ebenso kompatibel wie Sprachen, und ihr Austausch kostet Geld, gibt aber auch den Währungsspekulanten oder Übersetzern Macht und Eingriffsmöglichkeiten. Ähnlich wie manche, besonders in Krisenzeiten, einer alten Währung nachtrauern, die emotional mit einer erfolgreichen nationalen Identität verknüpft wird, ist dies auch mit Sprachen. Deren identitätsstiftende Bedeutung wird aber gerne weit übertrieben. Stellen wir uns beispielsweise einmal vor, man würde auf der Basis des digitalen Universalcodes gute, selbst lernende und sich jederzeit auf dem aktuellen Sprachentwicklungsstand befindliche Übersetzungsprogramme und die entsprechende Hardware entwickeln haben, um jede Sprache in jede andere sofort und billig zu übertragen, was würde dann mit den einzelnen Sprachen geschehen? Unmittelbare globale Kommunikation mit jedermann wäre möglich, Informationen jeder Art wären für jeden unmittelbar, jederzeit und an jedem Ort, zugänglich. Und man könnte auch ein Universalrecht einräumen, dass nicht nur bestimmte Sprachen, sondern auch jede Regional- und Minderheitensprache weiterhin gesprochen und geschrieben werden kann, da sie nun dank der wundersamen und preisgünstigen Pfingst- oder Heiligen-Geist-Technik von allen verstanden wird. Wäre dann die Vielfalt der Sprachen noch notwendig? Hätte sie irgendeine Funktion? Würde nur sie die dahinterstehende Kultur bewahren können? Wohl nichts von alledem. Hinter dem Rücken des Schutzes der Vielsprachigkeit wird die damit verbundene Förderung von Sprach- und Übersetzungstechnologien - hier versteht sich nach Orban die EU-Kommission als treibende Kraft und

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 326 wichtige Anwenderin - langfristig den gegenteiligen Effekt haben und zur Monokultur der Übersetzungssprache führen.

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Die EU vor dem sprachlichen Abgrund Standpunkt Peter J. Weber

Von Prof. Dr. Peter J. Weber 13.9.2010 Prof. Dr. Peter J. Weber ist Professor für Internationale Wirtschaftskommunikation an der Hochschule für Angewandte Sprachen in München.

Nach Peter J. Weber deutet die immer stärker werdende Hervorhebung sprachlicher Besonderheiten in der EU auf tiefer gehende Verschiedenheiten hin. Ein wirtschaftlicher Kollaps wäre untrennbar mit einem sprachlichen Kollaps verbunden.

Seitdem die Finanzkrise zu einer weltweiten Wirtschaftskrise geworden ist, werden auch diejenigen Stimmen lauter, die von einem wirtschaftlichen Kollaps der Europäischen Union sprechen. Denn es hat sich gezeigt, dass eine reine Währungsunion ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik die in ihren Wirtschaftsstrukturen so ungleiche Europäische Union nicht nachhaltig verbinden kann. Und so mehren sich selbst in seriösen Berichterstattungen verkürzende Aussagen, dass Südeuropa wirtschaftlich eben anders funktioniert als Nordeuropa und die letzteren eher stabilitäts- und die anderen eher inflationsorientiert handeln (vgl. Wirtschaftswoche Nr. 20, 17.5.2010).

Dies ist nichts anderes als die Bestätigung des berühmten Europakonstrukteurs Robert Schuman, der betonte, dass er mit der Kultur beginnen würde, wenn er Europa nochmals aufzubauen hätte (Schumann 1986). Wenn also nicht einmal ein Konsens in dem von Zweckorientiertheit geprägten ökonomischem Feld zu finden ist, dann deuten die Hervorhebungen sprachlich-kultureller Besonderheiten in der Diskussion um Euro, Stabilitätspakt usw. auf tiefer gehende Verschiedenheiten in der EU hin, die durch wirtschaftlichen Aufschwung und das gemeinsame Projekt EU in Nichtkrisenzeiten der vergangenen 50 Jahre stärker kaschiert wurden als bisher angenommen.

Der europäische Sprachenpluralismus ergibt sich nicht nur aus 23 offiziellen Amts- und Arbeitssprachen, sondern auch aus ungefähr 90 Regional- oder Minderheitensprachen, die durch die Charta der Regional- oder Minderheitensprachen vom 5.11.1992 von der EU anerkannt sind (vgl. http:// conventions.coe.int). Die These dieses Beitrages lautet, dass ein drohender wirtschaftlicher Kollaps untrennbar mit dem sprachlichen Kollaps der Europäischen Union verbunden ist, in der Sprachen und Kulturen immer mehr zu Symbolen von wirtschaftlichen und politischen Konflikten gemacht werden und damit letztlich nicht nur die Wirtschafts- und Währungsunion nach Art. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), sondern auch das gesamte, einmalige Projekt eines supranationalen Europas der Bürger (vgl. Art. 20 AEUV zur Unionsbürgerschaft) gefährdet.

Programmatisch hat nun diese EU mit dem Motto "In Vielfalt geeint" zu leben, das sich in der historischen und aktuellen Realität nur dann leben lässt, wenn eben diese sprachliche und kulturelle Vielfalt auch im Hinblick auf die Einheit gestaltet wird. Die historische und aktuelle sprachliche Situation in Europa wird in diesem Zusammenhang oftmals mit dem Bild des "Turms zu Babel" in Verbindung gebracht, um auf die Vielfalt der Sprachen und Kulturen hinzuweisen. Das Bild kann in zweierlei Hinsicht gedeutet werden: Einerseits kann Vielfalt in positiver Auslegung für die Bereicherung durch die sprachliche Vielfalt stehen, andererseits wird es in negativer Auslegung nach der mythisch-biblischen Erzählung im Buch Genesis 11,1-9, als Ausdruck der sprachlichen Verwirrung gesehen, nach der der Mensch von Gott für seinen Machbarkeitswahn gestraft wurde, sich ein Zeichen zu setzen und die Völker zu vereinen.

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Die (sprachliche) Geschichte (nicht nur) Europas pendelt denn zwischen Vereinheitlichung und Zersplitterung. Die Römer schufen das erste Weltreich Europas, nicht nur wegen der militärischen und administrativen Überlegenheit, sondern auch weil ihr Latein alle Funktionen eines Europa umfassenden Kommunikationsmittels hatte. Mit dem Zerfall Roms und der Vermischung der Völker entstand ein vielfältiges Sprachengemisch der einfachen Völker, deren Sprachen auch Volkssprachen genannt werden. Diese Sprachen hatten im Mittelalter eine nur regionale Reichweite, weswegen es auch so viele Regionalsprachen im Gegensatz zu der Verkehrssprache (Lingua Franca) Latein gab (Weber 2009).

Der Durchbruch für das gemeine Volk und seine Sprachen kam mit der Erfindung des Buchdrucks in Mainz. Nun wurde die Vervielfältigung von Texten auch in den Volkssprachen möglich. Im Prolog der im Jahre 1492 erschienenen Grammatik zur lateinischen und spanischen Sprache, der ersten Grammatik dieser Art, steht unmissverständlich, dass die Sprache vom Reich, also einem umrissenen Territorium begleitet wurde (vgl. Bossong 1990). Und so kam es, dass unsere heutigen Staatssprachen erst durch die Nationalstaaten zu allgemeingültigen Sprachen wurden und umgekehrt die Nationalstaaten durch die Standardisierung von Sprachen - insbesondere durch die Schulen - zu einheitlichen Gebilden. Erst so wurde die Französische Revolution von 1789 sprachlich möglich, auf deren Grundlage sich ein Nationalstaatsmodell entwickelte, das sich zunächst im alten Europa und dann weltweit verbreiten konnte.

Die Kriege der Neuzeit brachten erneut einen Wechsel in der Bedeutung von Sprachen. Mit dem Ende des alten vielsprachigen Europas mit dem Ersten und dann mit dem Zweiten Weltkrieg schwang sich Englisch zur Weltsprache auf, die auch auf dem europäischen Kontinent Französisch und Deutsch verdrängt, obgleich Deutsch von den relativ meisten Menschen in der EU als Muttersprache gesprochen wird. Unzweifelhaft ist mit dem Englischen eine Dominanz der englischsprachigen (anglophonen) Kulturen verbunden. Offensichtlich ist damit auch ein volkswirtschaftlicher Vorteil verknüpft, wenn Staat und Menschen sich kostspielige Fremdsprachenausbildungen ersparen können, da alle Menschen irgendeine Variante des Englischen erlernen und sprechen (vgl. Grin et al. 2010).

Doch mit der Globalisierung und der Entwicklung von weltweiten Kommunikationssprachen wie dem Englischen, dem Spanischen oder dem Chinesischen wächst der Wunsch nach sprachlicher und kultureller Identifikation in den Regionen - ein Phänomen, das als Glokalisierung (Robertson 1998) bezeichnet wird . Das Volk entdeckt seine Regionalsprachen wieder - und dies wird in Osteuropa beispielsweise möglich, da nach dem Ende der totalitären Systeme des Ostens die Demokratisierung auch den Ausdruck in den Regionalsprachen wieder möglich macht. Dieser Prozess ist aber schmerzhaft und erinnert an die wachsende sprachliche Vielfalt, an ein Europa vor und zwischen den Weltkriegen. Dieses regionale Erstarken fordert den Nationalstaat in seiner künstlich erzeugten sprachlichen Homogenität heraus.

Im Zusammenleben dieser Sprachen geht es um Macht und die Abgrenzung der regionalen Kulturen gegenüber den nationalen. Denn wurden die heutigen Nationalsprachen blutig auf Kosten der Regionalsprachen mit der Gründung der Nationalstaaten durchgesetzt, so setzt heute die Revanche der Regionalsprachen in Europa ein, indem sie das nationale einsprachige Staatsterritorium zu einem sprachlichen Flickenteppich machen und die Gefahr eines sprachlichen Kollapses erhöhen. Wie sonst ließe sich eine so starke Region wie Katalonien erklären, deren Erfolg nicht nur wirtschaftlich, sondern auch durch eine dezidierte Sprach- und Bildungspolitik für das Katalanische bedingt ist? Und diese Nationalsprachen und -kulturen wie Deutsch oder Französisch, aber auch das Spanische in Spanien (Kastilisch) werden zugleich auf globaler Ebene in den Konkurrenzkampf mit den Weltsprachen Englisch, Spanisch und vielleicht zukünftig Chinesisch gesetzt. Sie werden auf dieser Ebene zu "Regionalsprachen" herabgestuft - und sind somit in Zukunft vom Status nicht mehr als die traditionellen Regionalsprachen.

Sprachlich und kulturell entstehen unter dem Zwangsmantel der wirtschaftlichen Einigung Konflikte,

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 329 da in einer wirtschaftlich stromlinienförmigen Gesellschaft sprachliche und kulturelle Marker außerhalb des Wirtschaftslebens eine bedeutende Rolle erhalten und ausgelebt werden müssen. Das beste Beispiel sind die immer aktuellen, d.h. immer wiederkehrenden Diskussionen in Belgien um die Trennung des 1830 gegründeten Staates. Ausgezeichnet hat sich das Zusammenleben schon immer durch den berühmten Sprachkonflikt zwischen Flamen und Wallonen, dem die 100.000 Deutschsprachigen der deutschsprachigen Gemeinschaft eher gelassen von außen zusehen (vgl. Weber 1996). Vor der Europäischen Union wäre es keine Frage gewesen, dass Flamen und Wallonen zusammen bleiben, aber mit der Europäischen Union bilden sich immer deutlicher Regionen mit nationalstaatlichen Zügen wie z.B. Katalonien heraus, die auf ihre eigene Sprache und Kultur pochen: Kleinstaaterei als Mode - und dies in Zeiten der Weltwirtschaftskrise?

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Symbole der Europäischen Union Standpunkt Günter Buchstab

Von Dr. Günter Buchstab 13.9.2010 Dr. Günter Buchstab ist als freier Publizist tätig. Bis 2009 war er Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste der Konrad- Adenauer-Stiftung.

"In Vielfalt geeint" lautet das Motto der EU. Darin kommt die Unterschiedlichkeit der Sprachen und Kulturen der 27 Mitgliedsstaaten zum Ausdruck. Für Günter Buchstab zeigt die Union in ihren Symbolen ihre Identität: etwa in der Flagge oder der gemeinsamen Währung.

In Symbolen als Medium visueller und akustischer Kommunikation verdichten sich individuelle und kollektive Gemeinsamkeiten, Verhaltensmuster, Glaubensinhalte, Sinnzusammenhänge, Weltbilder und Wertvorstellungen. Ihre Wirksamkeit hängt von der Bereitschaft der Menschen ab, sich mit ihrer Botschaft zu identifizieren. Dies gilt auch für nationale Symbole, die nicht nur Zeichen staatlicher Souveränität und Autorität sind, sondern in ihrer ideellen Bedeutung auch Nationalbewusstsein und den Willen zur Zusammengehörigkeit ausdrücken. Welche Gefühlsreaktionen sie auslösen, hat sich jüngst wieder bei der Fußballweltmeisterschaft gezeigt.

So wie jedes Land mit seinen historisch gewachsenen nationalen Symbolen Gemeinschaft und Eigenständigkeit demonstriert, sollten nach den Vorstellungen der Anhänger der Europaidee auch für das "europäische Haus" (Konrad Adenauer 1961) Selbstverständnis und Identität symbolisch zum Ausdruck kommen. Schon unmittelbar nach seiner Gründung im Jahr 1949 setzten im Europarat, der ältesten politischen Organisation Europas, Überlegungen ein, mit welchen Symbolen der "europäische Traum" den Bürgern nahegebracht und vermittelt werden könnte. Nachdem das Europäische Parlament sich 1985 dessen Vorstellungen zu Flagge, Hymne und Europatag zu Eigen gemacht hatte, setzte der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs sie 1986 in Kraft. Heute - 60 Jahre nach Beginn der trotz mancher Rückschläge doch erstaunlich erfolgreichen europäischen Integration - gelten aufgrund des am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten, aber gescheiterten Verfassungsvertrags als offizielle Symbole der Union:

• "Die Flagge der Union stellt einen Kreis von zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund dar.

• Die Hymne der Union entstammt der Ode an die Freude aus der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven.

• Die Devise der Union lautet: 'In Vielfalt geeint'.

• Die Währung der Union ist der Euro.

• Der Europatag wird in der gesamten Union am 9. Mai gefeiert."

Am Anfang der Entwicklung stand die Konzeption einer Flagge. Nach langwierigen Diskussionen, in denen unter anderem die Flagge der Paneuropäischen Bewegung des Grafen Richard Nikolaus von

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Coudenhove-Kalergi von 1927, die eine goldene Sonne mit rotem Kreuz auf blauem Grund zeigt, aufgrund des heftigen Widerstands der Türkei gegen das Symbol des christlichen Kreuzes verworfen wurde, einigte sich der Europarat auf eine Fahne mit zwölf Sternen als einem rein symbolischen Zeichen. Sie wurde am 13. Dezember 1955 in Paris erstmals als "Europafahne" gehisst und wie folgt begründet: "Gegen den blauen Himmel der westlichen Welt stellen die Sterne die Völker Europas in einem Kreis, dem Zeichen der Einheit, dar. Die Zahl der Sterne ist unveränderlich auf zwölf festgesetzt; diese Zahl versinnbildlicht die Vollkommenheit und die Vollständigkeit ... Wie die zwölf Zeichen des Tierkreises das gesamte Universum verkörpern, so stellen die zwölf Sterne alle Völker Europas dar, auch diejenigen, welche an dem Aufbau Europas in Einheit und Frieden noch nicht teilnehmen können." Die Anzahl der Sterne entspricht also nicht - wie vielfach gemeint - der Zahl der Mitgliedstaaten wie etwa in der Flagge der USA. Da jedoch auch nach dieser Entscheidung eine Vielzahl von europäischen Fahnen in Gebrauch blieb, konnte sich die erhoffte psychologische Wirkung eines einheitlichen Emblems erst nach dem Beschluss des Europäischen Rats entfalten.

Auch der Durchsetzung der Hymne Beethovens "Freude schöner Götterfunken" als Europahymne ging vor 1986 eine lange Auseinandersetzung voraus. Coudenhove-Kalergi hatte sie schon 1926 mit der Begründung vorgeschlagen, diese Musik überwinde Sprachgrenzen und verbinde die Völker. Doch erst, nachdem Rundfunk und Fernsehen eine Melodie des Franzosen Marc-Antoine Charpentier (1634-1704) mit großem Erfolg zur Erkennungsmelodie der Eurovisionssendungen gemacht hatten, ergriff wiederum der Europarat 1971 die Initiative, Beethovens Hymne mit dem menschen- und völkerversöhnenden Text Schillers "Ode an die Freude" als Europamelodie einzuführen.

Die Devise "In Vielfalt geeint" wurde 2000 nach einem Schülerwettbewerb in 15 europäischen Staaten als Europamotto ausgewählt. Sie soll zum Ausdruck bringen, "dass sich die Europäer über die EU geeint für Frieden und Wohlstand einsetzen und dass verschiedene Kulturen, Traditionen und Sprachen in Europa eine Bereicherung für den Kontinent darstellen". Die Union versteht sich unter diesem Leitspruch nicht nur als eine politische und wirtschaftliche institutionelle Zweckgemeinschaft, sondern auch und vor allem als eine Wertegemeinschaft. Tatsächlich vermag das Motto nicht nur die Einheit der 27 Mitgliedsstaaten mit ihren 23 Sprachen in ihrer Unterschiedlichkeit, sondern auch die vielfältigen Ausprägungen des europäischen Kulturraums mit seiner über 2000-jährigen Geschichte auszudrücken.

1964 hatte der Europarat beschlossen, den 5. Mai, den Tag seiner Gründung 1949, als Europatag zu feiern und dabei mit Veranstaltungen für den Europagedanken zu werben. Allerdings hat dieser Tag in der europäischen Öffentlichkeit kaum Resonanz gefunden. Dies gilt auch für den 9. Mai, den die Mitarbeiter der Europäischen Institutionen in Brüssel als arbeitsfreien Feiertag begehen - in Erinnerung an den Vorschlag des französischen Außenministers Robert Schuman von 1950 für die Gründung der "Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl" (Montanunion).

Aus naheliegenden Gründen ist die Wahrnehmung des Symbols "Euro" das greifbarste Symbol europäischer Identität geworden, liegen doch seine Vorteile dafür im wahrsten Sinn täglich auf der Hand: die Manifestation intensiverer Zusammenarbeit der europäischen Staaten, d. h. vertiefte wirtschaftliche Zusammenarbeit und Vollendung des Binnenmarkts in der Eurozone, größere Wettbewerbsfähigkeit Europas im Weltmaßstab, wichtigste Weltwährung neben dem US-Dollar, und nicht zuletzt Vorteile für Reisende. Seine Einführung war aber heftig umstritten. Ein in Deutschland kaum auszurottendes Vorurteil ist nach wie vor, dass die Aufgabe der geliebten D-Mark der Preis für die deutsche Einheit gewesen sei. Dabei hatte schon 1970 der luxemburgische Ministerpräsident Pierre Werner eine einheitliche Währung vorgeschlagen. Aber erst nach dem Delors-Bericht von 1988 wurde ihre Realisierung in Angriff genommen. Über verschiedene Zwischenschritte vom 1. Juli 1990 und 1. Januar 1994 kam es schließlich am 1. Januar 2002 zur Einführung des Euro als Münz- und Papiergeld, das heute in 22 Staaten, von denen 16 der EU angehören, in Geltung ist und auf überwiegend positive Resonanz stößt. Die Turbulenzen, die die Griechenland-Krise ausgelöst hat, sowie mangelnde Haushaltsdisziplin in anderen Staaten haben zwar den Euroskeptikern wieder Auftrieb verschafft, und ohne Zweifel steht die mittlerweile zweitwichtigste Währung der Welt vor einer

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 332 existentiellen Bewährungsprobe. Ein Scheitern dieses Symbols wäre aber der Anfang des Zerfalls der europäischen Einigung mit unabsehbaren Folgen.

Sicher war es ein Fehler, dass die europäischen Symbole im Lissabonner Vertrag von 2007 nicht kodifiziert worden sind. Da sie aber weiterhin in Gebrauch und zumindest Flagge, Hymne und Euro im Bewusstsein der Bürger präsent sind, dürfte die mit der Europasymbolik verbundene Hoffnung, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern und einen Beitrag zur europäischen Identität zu leisten, trotz der derzeitigen Krisenerscheinungen keinen Schaden nehmen. Den politischen Willen zur europäischen Einigung können sie allerdings nicht ersetzen; sie können ihn aber unterstützen. Insofern sollte ihre Bedeutung nicht gering geschätzt werden. Um die erhoffte Wirkung aber voll entfalten zu können, bedarf es ihrer kontinuierlichen Pflege. Es bleibt abzuwarten, ob sie dann langfristig gesehen ähnliche Gefühlsreaktionen bei den "in Vielfalt geeinten" Europäern auslösen werden wie die traditionellen nationalen Symbole in den einzelnen Staaten.

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Sprachenvielfalt Eine Auswahl von eurotopics.net

12.7.2010

Sollen die Briten Fremdsprachen lernen? Ist Schwedisch in Finnland überflüssig? Verdrängt Russisch das Deutsche? Und wie kann Kino zur Mehrsprachigkeit beitragen? Stimmen aus der europäischen Presse.

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Esten lernen eifrig Englisch Eesti Päevaleht - Estland; Dienstag, 28. September 2010

Bei einer Untersuchung der europäischen Statistikbehörde Eurostat haben rund 28 Prozent der befragten Esten angegeben, sie verfügten über gute Englischkenntnisse. Für die Tageszeitung Eesti Päevaleht ist das Anlass zum Stolz: "Estland gehört damit zu den Klassenbesten in Europa. Natürlich sind die Zahlen beispielsweise in Schweden noch besser, und die für ihr gutes Englisch bekannten Dänen und Niederländer wurden gar nicht erst in die Untersuchung einbezogen, was eine allzu große Euphorie natürlich dämpft. Aber gute Englischkenntnisse genießen in Estland tatsächlich ein hohes Maß an Wertschätzung, und die Ergebnisse bei den staatlichen Prüfungen sind durchaus beachtlich. Aber es darf auch nicht vergessen werden, dass das Niveau in den Schulen durchaus unterschiedlich ist: So sind beispielsweise die Resultate der Schüler in den russischsprachigen Schulen besser als die Ergebnisse in den Schulen mit Estnisch als Unterrichtssprache." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE76645- Esten-lernen-eifrig-Englisch)

Englisch ist nicht Maß aller Dinge Lidové noviny - Tschechien; Dienstag, 17. August 2010

Die neue tschechische Regierung will ungeachtet eines Mangels an qualifizierten Lehrern Englisch zur Pflicht-Fremdsprache an den Schulen erklären, was Deutsch ins Hintertreffen brächte. Die konservative Tageszeitung Lidové noviny hält das für keine gute Idee: "Die Mehrheit unserer Investoren kommt aus Deutschland. Derjenige, der mit ihnen in ihrer Muttersprache kommunizieren kann, ist im Vorteil. Ein im Ausland Arbeit suchender Handwerker geht nach Deutschland. ... Für praktisch Veranlagte mit einem regionalen Lebenshorizont ist Deutsch erste Wahl. Schulen sollten daher ab der 3. Klasse Deutschunterricht und erst ab der 6. Klasse zusätzlich Englischunterricht anbieten. Kinder, die in die angelsächsische Welt aufbrechen wollen, könnten bei einem qualifizierten Unterricht ihre Verspätung wett machen. Es wäre zum Beispiel hilfreich, wenn das Fernsehen endlich Filme in ihrer Originalsprache ausstrahlen würde." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE74517- Englisch-ist-nicht-Mass-aller-Dinge)

Scheu vor Fremdsprachen schadet Großbritannien The Observer - Großbritannien; Montag, 16. August 2010

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Seit dem Erlass der Labour-Regierung 2004, nach dem Fremdsprachen an britischen Schulen nicht länger Pflichtfach sind, ist Schulbehörden zu Folge, die Bereitschaft der Briten zurückgegangen, eine zweite Sprache zu lernen. Das wird Großbritannien schaden, meint der deutschstämmige Dichter und Übersetzer Michael Hofmann in der linksliberalen Sonntagszeitung The Observer: "Die so genannte 'Weltsprache' Englisch ist die Muttersprache von gerade mal 7 Prozent der Weltbevölkerung; 75 Prozent sprechen überhaupt kein Englisch. Sprachen sind eine der ältesten, tiefgründigsten, verblüffendsten und durchdachtesten Erfindungen der Menschheit. Eine Verachtung für, oder Desinteresse an allen anderen [Sprachen] scheint mir kein zivilisierter oder auch nur akzeptabler Tatbestand. Ausländer werden trotz allem weiterhin Englisch lernen. Die Briten haben, so scheint mir, die Verpflichtung, das zu erwidern. Man kann es nennen, wie man will: Gegenseitigkeit, Höflichkeit, einen fairen Austausch, gute Sitten. Es nicht zu tun, ist in jedem Sinne gehässig. ... Es ist ein Austritt aus dem internationalen Gemeinwesen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE74422- Scheu-vor-Fremdsprachen-schadet-Grossbritannien)

Finnische Schüler meiden fremde Sprachwelten Etelä-Saimaa - Finnland; Dienstag, 3. August 2010

Studien zu Folge ist Englisch zunehmend die einzige Fremdsprache, die finnische Schüler lernen. Die Tageszeitung Etelä Saimaa kritisiert das: "Die übermächtige Position der englischen Sprache in der Sprachwahl der Schüler schafft ein trostloses Zukunftsbild. ... Diejenigen, die neu in das Arbeitsleben kommen, kennen nicht einmal Sprache, Sitten, Geschichte und Gegenwart der wichtigsten Export- und Import-Länder. ... Schon Schweden oder Deutschland sind für viele junge Finnen völlig fremde Welten, geschweige denn Russland, Frankreich und Spanien. Die Unkenntnis von Sprache und Kultur errichtet seltsame Mauern, die viele noch dadurch stärken, dass sie vorgefasste Modelle aus Medien- und Unterhaltung in ihr Weltbild einfließen lassen. So können selbst Exportkanonen nicht viele Verträge an Land ziehen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE73819- Finnische-Schueler-meiden-fremde-Sprachwelten)

Russisch auf dem Vormarsch Latvijas Avize - Lettland; Donnerstag, 15. Juli 2010

An Lettlands Schulen wird als zweite Fremdsprache immer häufiger Russisch statt Deutsch gewählt. Die Tageszeitung Latvijas Avize sieht dies kritisch: "In den ersten Jahren der Unabhängigkeit entschieden sich viele gegen Russisch, weil man glaubte, auf dem Weg nach Europa ohne diese Sprache auskommen zu können. Darum wollte man lieber Englisch und andere EU-Sprachen lernen, außerdem glaubte man, früher oder später werde jeder in Lettland auch Lettisch sprechen. Das aber hat sich als Illusion erwiesen: Gut ausgebildete junge Leute tun sich schwer, ohne Russischkenntnisse einen Arbeitsplatz zu finden, und darum glauben viele, man komme in Lettland nicht ohne Russisch aus. So denken auch Menschen, die für ein europäisches und nicht für ein postsowjetisches Lettland sind. ... Aber dabei wird uns der Eindruck aufgezwungen, Lettlands wirtschaftliche Zukunft liege in Russland oder anderswo im Osten, während die Zahlen das Gegenteil belegen: Die aktivere Zusammenarbeit haben wir mit der EU." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE72944- Russisch-auf-dem-Vormarsch)

EU braucht Einigkeit und Vielfalt Dagens Nyheter - Schweden; Sonntag, 13. Juni 2010

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In einer neuen Grenze wegen unterschiedlicher Sprachen und Kulturen sieht die Tageszeitung Dagens Nyheter den Anfang vom Ende Europas. Mehr Toleranz ist die Lösung: "Europa besteht aus einem bunten Gemisch aus Sprachen und Regionen, die sich oft ungerecht behandelt fühlen. Belgien zu zerstückeln und mitten in Europa eine neue, klare Grenze entlang zweier Sprachen zu bilden, könnte der Beginn eines europäischen Zerfalls sein. Stattdessen sollte den Regionen in der EU genügend Selbstbestimmung im Rahmen der gegenwärtig existierenden Staaten garantiert werden. Alle Bürger sollten darüber hinaus ermuntert werden, mehrere europäische Sprachen verstehen und sprechen zu lernen, statt nur für ihre eigene zu kämpfen. Europa braucht nicht mehr Zersplitterung, sondern mehr Vielfalt bei gleichzeitig größerer politischer Einigkeit." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE71415- EU-braucht-Einigkeit-und-Vielfalt)

Im Kino fremde Sprachen lernen El Periódico de Catalunya - Spanien; Mittwoch, 17. Februar 2010

Die spanische autonome Region Katalonien streitet darüber, ob man den Anteil der in Katalan gezeigten Kinofilme gesetzlich festlegen soll. In diesem Zusammenhang plädiert die Tageszeitung El Periódico de Catalunya dafür, weniger zu synchronisieren und mehr Untertitel zu benutzen, um die Zuschauer an Fremdsprachen zu gewöhnen: "Alles in allem finden wir es lobenswert, den Gebrauch von Katalan im öffentlichen Raum und im Kino zu fördern. Außerdem halten wir dies für eine gute Gelegenheit, endlich unser Englisch zu verbessen (das, ob wir es wollen oder nicht, eine Universalsprache ist). Angesichts der Tatsache, dass die Sendungen im Originalton mit Untertitel im öffentlichen Fernsehen keinen großen Erfolg haben, könnten die Untertitel im Kino dazu führen, die Bevölkerung relativ schnell zu mehreren Sprachen zu erziehen. Es ist sogar möglich, dass sich die Beliebtheit der Kinderserien wie Inuyasha und Detektiv Konan positiv auswirkt und mehr katalanische Kinder japanisch sprechen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65757- Im-Kino-fremde-Sprachen-lernen)

Mehr Schwedisch in Finnland Savon Sanomat - Finnland; Mittwoch, 17. Februar 2010

Schwedisch-Unterricht ist in finnischen Schulen Pflicht, weil das Land laut Verfassung zweisprachig ist. Doch viele Finnen halten ihn für überflüssig. Diese Haltung kann ein Vorschlag der Bildungsministerin Henna Virkkunen aufweichen, schreibt die Tageszeitung Savon Sanomat: "Ihrer Meinung nach könnte mit dem Schwedisch-Unterricht früher begonnen werden, in den letzten beiden Klassen der Unterstufe [5. und 6. Klasse], wenn die Kinder noch Kinder sind. Zu dieser Zeit haben sie noch nicht die Meinung von Eltern oder älteren Mitschülern angenommen und sind auch sonst aufnahmefähiger. Virkkunens Idee ist interessant und bringt in jedem Fall Bewegung in die Diskussion. Von sturen finnischen Männern und Frauen wird die Idee verworfen, aber man sollte sie dennoch prüfen und möglicherweise testen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65769- Mehr-Schwedisch-in-Finnland)

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Freiheit oder Sicherheit

22.11.2010

Vorratsdatenspeicherung, Ganzkörper-Scanner, Übermittlung von Flugpassagier-Daten und die Online-Durchsuchung: Die Reaktionen auf die Bedrohung durch Terrorismus sind vielfältig - auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Aber wie stark muss die Freiheit eingeschränkt werden, um Sicherheit zu gewährleisten? Welche Maßnahmen sind verhältnismäßig, welche überzogen?

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Freiheit oder Sicherheit - Dilemma oder falscher Gegensatz? Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 22.11.2010

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Seit dem 11. September 2001 wurden viele Gesetze verändert, um zukünftige Terrorakte zu verhindern. In Deutschland steht unter anderem die Speicherung von Kommunikationsdaten auf Vorrat in der Diskussion: Was muss der Staat über seine Bürger wissen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten?

Freiheit oder Sicherheit? Was ist uns wichtiger? Diese Frage wird täglich gestellt, aber ist das eigentlich die richtige Frage? Können wir in Freiheit leben, wenn wir nicht sicher sind? Dies lässt sich wohl verneinen. Auf der ganz grundsätzlichen Ebene sind sich alle einig: Freiheit braucht Sicherheit, aber Sicherheit muss Freiheit schützen und nicht aufheben. Der Streit, der unsere - und nicht nur unsere - Gesellschaft seit Jahren beschäftigt, geht daher nicht eigentlich um die Frage, ob wir Freiheit oder Sicherheit wünschen, sondern wie wir beides miteinander in Einklang bringen können.

Da haben jeweils verschiedene Auffassungen Konjunktur. Nach den Anschlägen des 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, die fast 3.000 Menschen das Leben gekostet und durch Zerstörungen sowie eine Aktientalfahrt Milliardenschäden ausgelöst haben, wurde schnell deutlich: Dies war nicht die Tat von 19 jungen Männern, die das mal bei einem Tee besprochen haben. Der Terroranschlag war vielmehr langfristig und über mehrere Länder hinweg geplant. Menschen wurden - zum Teil mit falschen Papieren - in andere Länder geschickt, Gelder überwiesen, Absprachen per E-Mail und Telefon getroffen und so weiter. Hätte man das alles vorher gesehen und zusammengeführt, hätte der Anschlag vielleicht verhindert werden können. Daraus entsprang die Forderung, künftig die Daten rechtzeitig zu erheben und auszuwerten. Am stärksten griffen diese Maßnahmen in den USA, aber auch bei uns kam es zu Gesetzes- und Verhaltensänderungen.

Ein potenzieller Flugzeugentführer wird nicht in der letzten Reihe der Flugzeugkabine am Fenster sitzen, weil er von dort schlecht in den Hauptteil des Flugzeugs gelangt, der Terror der Al-Quaida wird vor allem von Muslimen begangen, die kein Schweinefleisch essen und zudem arabische Namen tragen. Warum also nicht diese Erkenntnisse zusammenführen und eine Gefährdungsanalyse daraus entwickeln: Verdächtig sind diejenigen, die auf leicht zugänglichen Plätzen sitzen, einen arabischen Namen tragen und zudem angeben, dass sie kein Schweinefleisch essen möchten. All diese Daten müssen z. B. von europäischen Fluggesellschaften, die in die USA fliegen, vorher an die Vereinigten Staaten übermittelt werden. So sinnvoll dies klingt, so gefährlich ist es auch. Jeder Vegetarier, der gerne bequem sitzt, gerät unter Terrorismusverdacht. In der Mehrzahl der Fälle wird der zu Unrecht Verdächtigte das gar nicht erfahren, in Einzelfällen kann ein solcher Verdacht jedoch tödlich sein: Im Juli 2005, zwei Wochen nach zwei verheerenden Terroranschlägen auf öffentliche Verkehrsmittel in London, erschoss die britische Polizei einen Brasilianer, weil sie ihn versehentlich für einen Terroristen hielt. Obwohl er bereits von vier Polizisten zu Boden gedrückt wurde, wurde er durch elf Schüsse gezielt getötet, da die Beamten Angst hätten, es handele sich um einen Selbstmordattentäter, der eine

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Bombe im Rucksack trage.

In Deutschland ist die Diskussion um die sogenannte Vorratsdatenspeicherung wieder aufgeflammt. Die Telefongesellschaften speichern die Daten ihrer Kunden, um die Abrechnung zu erstellen, und heben diese Daten auch noch einige Zeit auf, falls es zu Reklamationen kommt. Durch ein Gesetz wurden die Telekommunikationsanbieter in Deutschland 2007 verpflichtet, diese Daten für sechs Monate aufzubewahren und unter bestimmten Bedingungen der Polizei zugänglich zu machen. Dabei ging es ausschließlich um die Verbindungsdaten, denen man entnehmen konnte, wer wen wann angerufen hat, allerdings nicht, was gesagt wurde. Die Abstimmung über dieses Gesetz im Deutschen Bundestag war bemerkenswert: Eine Reihe von SPD-Abgeordneten gaben zu Protokoll, sie hätten "schwerwiegende politische und verfassungsrechtliche Bedenken", würden dem Gesetzesentwurf aber dennoch zustimmen, weil sie akzeptierten "dass die insbesondere durch den internationalen Terrorismus und dessen Folgeerscheinungen entstandene labile Sicherheitslage auch in Deutschland neue Antworten benötigt". Außerdem, so die Abgeordneten, gingen sie sowieso davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht "möglicherweise verfassungswidrige Bestandteile für unwirksam erklären wird." So sollten von vielen Bürgerinnen und Bürgern, gegen die keinerlei Verdacht besteht und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nie vorliegen wird, Daten gespeichert werden, die Aufschluss über ihr soziales Netz und ihre Lebensweise geben können. Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz im Jahr 2010 für verfassungswidrig und damit unwirksam erklärt. Zwar haben die Richter in Karlsruhe sich nicht gegen eine Vorratsdatenspeicherung generell geäußert, aber sie waren der Ansicht, dass die Anforderungen zu unpräzise formuliert waren. Die Telekommunikationsunternehmen mussten die gespeicherten Daten darauf hin löschen, was sie sicherlich gern taten, da die Speicherung bei ihnen Kosten verursacht hatte.

Der Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, bedauert dies in seinem Beitrag und weist darauf hin, dass die Ermittlungserfolge bei "Delikten in der virtuellen Welt" sich um 60 Prozent reduziert hätten. Ziercke steht mit seiner Kritik nicht allein. Nachdem Deutschland im November 2010 durch Terrorwarnung verunsichert wurde, wurden und werden auch im Deutschen Bundestag Überlegungen angestellt, wie man zumindest eine abgeschwächte Form der Vorratsdatenspeicherung umsetzen kann, um die Daten und den Zugriff darauf für einige Tage zu sichern.

In den letzten Jahren wurde in Deutschland auch das Instrument der Online-Durchsuchung stark diskutiert. Jeder Zuschauer von Fernsehkrimis kennt Folgendes: Eine Person wird verdächtigt, eine Straftat begangen zu haben oder begehen zu wollen, die Polizei kommt mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss und führt eine Haussuchung durch. Die Beteiligten schauen zu und die Polizei nimmt - von Akten bis zum Computer - alles mit, was sie vor Ort nicht auswerten kann. Eine Online-Durchsuchung ist gewissermaßen eine Hausdurchsuchung im Computer eines Verdächtigten, allerdings über das Internet und ohne das Wissen des Betroffenen. Die Ermittlungsbehörde schickt per E-Mail einen "Trojaner" an den Computer des Verdächtigten und erhält so Zugriff auf seine Computerdateien und seinen E-Mail-Verkehr.

Das Bundesverfassungsgericht hat die nordrhein-westfälische Regelung zur Genehmigung von Online-Durchsuchungen 2008 verworfen, sich aber nicht generell gegen dieses Instrument ausgesprochen, wenn "tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut" bestehen. In seinen Urteilsleitsätzen sagt das Gericht dazu: "Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt." (BVerfG, 1 BvR 370/07 vom 27.2.2008) Das bedeutet: Bei dem Verdacht einer terroristischen Verschwörung ist die Online-Durchsuchung statthaft, bei dem Verdacht auf organisierten Kraftfahrzeugdiebstahl nicht.

Der Präsident des Bundeskriminalamtes spricht sich für die Nutzung von Online-Durchsuchungen aus - natürlich in dem von den Verfassungsrichtern vorgegebenen Rahmen. Man tue damit nichts anderes, so Ziercke in seinem Beitrag, als mit den Straftätern gleichzuziehen, die längst die technischen Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation nutzten.

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Der Gedanke von Jörg Ziercke, dass es keine Freiheit ohne Sicherheit geben könne, ist auch die Grundmelodie des Artikels des früheren bayerischen Ministerpräsidenten und langjährigen Landesinnenministers Günther Beckstein. Er zitiert Wilhelm von Humboldt mit dem Satz "Ohne Sicherheit ist keine Freiheit." und weist darauf hin, dass der Gegensatz zwischen Sicherheit und Freiheit ein großer Irrtum sei. "Die Sicherheit ist nachgerade die Voraussetzung für die Freiheit. Ohne Sicherheit ist alle Freiheit nicht, weil sie ein Leben in Angst bedeuten würde." Allerdings, so Beckstein weiter, könne man es mit der Sicherheit auch übertreiben, man müsse einen vernünftigen Ausgleich suchen: "Als Faustregel muss gelten: so wenig Sicherheitsmaßnahmen wie möglich und so viel wie nötig." Grundfalsch sei es, diese Fragen zu emotionalisieren und zu ideologisieren, nur eine Versachlichung der Debatte würde den Blick auf die Fakten öffnen.

Den kritischen Blick fordert auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Peter Schaar. Er ist ebenfalls der Ansicht, dass nur die Sicherheit die Freiheit schütze, meint damit aber auch die Sicherheit der eigenen Daten vor dem Zugriff Fremder - sei es des Staates, sei es von Unternehmen. Man benötige daher einen zeitgemäßen Datenschutz, der auch die neuen Möglichkeiten des Datentransfers, -zugriffs und -missbrauchs berücksichtige. Eine solche Regelung könne nicht nur auf nationaler Ebene beschlossen werden, sondern müsse auch auf europäischer und internationaler Ebene erfolgen. Die Europäische Union hat bereits 1995 eine Richtlinie zum Datenschutz beschlossen, die Datenmissbrauch verhindern soll. Richtlinien sind Rahmengesetze, die in den Mitgliedstaaten konkretisiert und umgesetzt werden müssen. Im März 2010 hat der Europäische Gerichtshof die Bundesrepublik Deutschland gerügt, dass sie dieses nicht richtig getan habe, weil sie den Datenschutz insgesamt nicht einer unabhängigen Kontrolle unterstellte (EuGH- Rechtssache C 424/07). Allerdings sei der Einzelne auch selbst für seinen Datenschutz zuständig. Wer freigebig seine Daten ins Internet stelle - zum Beispiel in sozialen Netzwerken wie SchülerVZ, wer-kennt-wen oder Facebook - dürfe sich nicht wundern, wenn andere in den Besitz dieser Daten gelangten.

Das Grundproblem aller Abwehrmaßnahmen besteht darin, dass sie immer auf die Vergangenheit reagieren. Nachdem ein Terrorist versucht hat, ein Flugzeug mittels einer im Schuh versteckten Bombe zur Explosion zu bringen (was glücklicherweise gescheitert ist), werden bei Flugpassagieren die Schuhe untersucht. Während dies geschieht, überlegen Terroristen in aller Welt, wie sie eine neue Bedrohung schaffen können. So gab es Ende 2010 zum ersten Mal nach langer Zeit wieder Anschlagversuche mittels in der Luftfracht versteckter Bomben. Bereits 1988 sind bei einem Paketbombenanschlag in einem Flugzeug über der schottischen Ortschaft Lockerbie 270 Menschen ums Leben gekommen. In Folge der neuen Attentatsversuche wird jetzt die Luftfracht stärker untersucht.

Die Technologien entwickeln sich ständig weiter - und damit auch die Möglichkeiten, sie für terroristische oder kriminelle Zwecke zu missbrauchen. Diese Gefahren zu erkennen, bevor sie eintreten, ist die Aufgabe eines europäischen Projekts mit der Abkürzung FESTOS. Hier werden technologische Bedrohungslagen erforscht, die noch nicht eingetreten sind, wie Hans-Liudger Dienel, der deutsche Vertreter in diesem Projekt, in seinem Beitrag beschreibt. Dabei gehen die Wissenschaftler aus Deutschland, Polen, Finnland, Großbritannien und auch Israel nicht nur der Frage nach, welche Bedrohungen wahrscheinlich eintreten werden, sondern auch, welche Gefährdungen unwahrscheinlich, aber dennoch nicht unmöglich sind. Schwäne sind in Europa weiß. Die Chance, einen schwarzen Schwan zu treffen, geht also gegen Null. Und dennoch gibt es schwarze Schwäne. "Schwarzer Schwan" ist als Metapher für unvorhersehbare Ereignisse in die politische Diskussion eingegangen. Das Projekt FESTOS, das Dienel in seinem Beitrag beschreibt, ist auf der Suche nach diesen Unwahrscheinlichkeiten, um sie in Risikoanalysen und Abwehrstrategien einzubeziehen. Dabei fordern die europäischen Wissenschaftler keineswegs den totalen Kontrollstaat, sondern den "abgewogenen Kompromiss zwischen sicherheitspolitischen Anforderungen auf der einen und gesellschaftspolitischen Forderungen nach Freiheit, Selbstbestimmung und einem Minimum an einschränkender Kontrolle auf der anderen Seite."

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Aus allen Beiträgen wird jedoch eines deutlich: Sowohl die Gewährleistung von Sicherheit als auch die der Freiheit sprengen die nationalen Grenzen und können nur im europäischen Rahmen geschaffen werden. Die Zeit für rein nationalstaatliche Lösung ist längst vorbei.

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Freiheit und Sicherheit im digitalen Zeitalter Standpunkt Jörg Ziercke

Von Jörg Ziercke 22.11.2010

Der ausgebildete Polizeibeamte Jörg Ziercke ist seit 2004 Präsident des Bundeskriminalamtes.

In der Strafverfolgung werde es immer schwieriger mit der technischen Entwicklung Krimineller zu konkurrieren. Der Zugriff auf Kommunikationsdaten sei daher für die Polizei dringend erforderlich, so Jörg Ziercke. Das Internet dürfe kein verfolgungsfreier Raum sein.

Kriminalität und neue Medien

Die rasante Entwicklung der neuen Medien - des Internets im Besonderen - hat einen tiefgreifenden Strukturwandel der globalen Kommunikation und Interaktion bewirkt und damit auch die Kriminalität im 21. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst. Tat- und Tätertypologien verändern sich kontinuierlich. Inzwischen gibt es kaum noch einen Bereich, in dem sich die Täter nicht der modernsten Technik bedienen und das Internet als Tatmittel nutzen: Betrugsdelikte, die Verbreitung von Kinderpornografie, Organisierte Kriminalität, Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsspionage bis hin zur Planung terroristischer Anschläge. Was bedeutet dies für die Arbeit der Kriminalpolizei? Inwiefern stoßen unsere klassischen Bekämpfungsinstrumentarien im digitalen Zeitalter an ihre Grenzen? Was muss getan werden, um auch in Zukunft eine wirkungsvolle Strafverfolgung zu gewährleisten?

Ermittlungspraxis im digitalen Zeitalter

Die neuen technischen Möglichkeiten, die den Tätern im digitalen Zeitalter zur Verfügung stehen, haben auch die Ermittlungspraxis erheblich verändert: Durchsuchten Polizei und Staatsanwaltschaft bisher die Wohnung eines Beschuldigten, ging es neben den klassischen Tatmitteln vor allem darum, schriftliche Unterlagen sicherzustellen. Die Verschlüsselung von Nachrichten spielte nur in ausgewählten Phänomenbereichen wie dem Linksextremismus und -terrorismus eine Rolle. Täter kommunizierten über Festnetzanschlüsse oder wichen konspirativ auf Telefonzellen aus. Heute stoßen unsere Beamten bei Durchsuchungen immer häufiger auf die unterschiedlichsten technischen Geräte: PCs, Notebooks, Handys, Digitalkameras, Spielkonsolen, Navigationsgeräte, MP3-Player - um nur einige potenzielle Beweismittel zu nennen.

Doch die Täter legen längst nicht mehr alle Informationen mit Beweiswert auf ihrem Computer oder anderen Speichermedien ab, sondern haben die Vorzüge des Cloud-Computing längst für sich entdeckt. Anonymisierung und Kryptierung werden immer mehr zum Standard der Kommunikation von Schwerstkriminellen. Immer häufiger werden auch offene WLAN-Zugänge unbeteiligter Dritter genutzt. Den von den Tätern in Millisekunden vollzogenen Sprung über nationale Grenzen hinweg müssen die Strafverfolgungsbehörden auf dem langwierigen monatelangen Weg der internationalen Rechtshilfe nachvollziehen. Das Strafrecht wird zunehmend an seine funktionalen und territorialen Grenzen geführt.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 342 Technischer Wandel als strategische Herausforderung für die deutschen Sicherheitsbehörden

Die Lagedarstellung zeigt, dass der Aufgabenzuschnitt der Polizei von heute sowie die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Polizei heute agiert, einer erheblichen Dynamik unterliegen. Damit verlieren auch die Instrumente, die der Polizei vor Jahren zur Bekämpfung der seinerzeit aktuellen Kriminalitätsphänomene an die Hand gegeben wurden, nach und nach an Wirkung. Eine Entwicklung die eigentlich niemanden verwundert: Kriminalität und Ermittlungsarbeit in virtuellen Welten unterliegen logischerweise anderen Anforderungen als in der realen Welt.

Im Kern geht es darum, den technologischen Vorsprung der Täter aufzuholen, wobei es bei der Suche nach Lösungen ganz wesentlich darauf ankommt, den technologischen Wandel bereits heute vorauszudenken.

Will die Polizei weiterhin erfolgreich Kriminalität bekämpfen, muss sie auf die dynamische Veränderung der Modi Operandi reagieren können. Im Hinblick auf die Bandbreite der ihr zur Verfügung stehenden Eingriffsmaßnahmen muss sie daher über Wahlmöglichkeiten verfügen. Die Polizei muss auf Maßnahmen zurückgreifen können, die zweckgeeignet und mit Blick auf die jeweils aktuelle Gefahrenlage auch angemessen und zielgerichtet sind. Dabei sind die vom Grundgesetz und vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Grenzen selbstverständlich zu beachten. Es kommt darauf an, bewährte Methoden wie beispielsweise den Einsatz von Verdeckten Ermittlern, die klassische Telefonüberwachung oder die akustische Wohnraumüberwachung sinnvoll den technologischen Entwicklungen entsprechend zu ergänzen.

Unstreitig ist dabei, dass die Aufgabe, Menschen vor Gefahren zu schützen, im Einzelfall auch Eingriffe in Freiheitsrechte erforderlich macht. Am Ende geht es den Sicherheitsbehörden aber nicht um eine Reduzierung persönlicher Freiheit, sondern um die Gewährleistung eines notwendigen Maßes an Sicherheit für Leib und Leben.

Freiheit und Sicherheit

In der öffentlichen Diskussion werden Freiheit und Sicherheit häufig in Opposition zueinander gesetzt. Es wird der Eindruck vermittelt, Sicherheit sei immer nur auf Kosten der Freiheit zu erlangen. Bei genauer Betrachtung sind Freiheit und Sicherheit keine Antipoden. Freiheit und Sicherheit ergänzen sich, sie stehen in einem Komplementärverhältnis zueinander. Fest steht, dass es keine Freiheit ohne Sicherheit geben kann und umgekehrt.

Es ist die vorrangige Aufgabe des Staates, die Balance zwischen Freiheitsgrundrechten und Sicherheitsbedürfnissen zu gewährleisten. Ein Übermaß staatlicher Befugnisse und Eingriffe würde grundrechtliche Freiheiten auf bloße Lippenbekenntnisse reduzieren. Das andere Extrem, ein Untermaß staatlicher Befugnisse, könnte einen Zustand der Selbstjustiz herausfordern. Der Bürger muss sich im Rechtsstaat auf effektiven Schutz durch den Staat ebenso verlassen können, wie auf den Schutz gegen den Staat.

Die Sicherheitsbehörden stehen daher vor der Herausforderung, die notwendigen Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung zu ergreifen und zugleich so wenig wie möglich in Freiheitsrechte einzugreifen. Diese Aufgabe ist weder neu noch unlösbar. Das Grundgesetz gibt uns dabei klare Regeln an die Hand, um die Balance von Sicherheit und Freiheit zu bewahren:

• In Deutschland müssen Eingriffe in die Grundrechte ausdrücklich durch Gesetze erlaubt sein.

• Das ermächtigende Gesetz und auch die konkrete Einzelmaßnahme selbst müssen verhältnismäßig sein.

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• Bei sensiblen Eingriffen in Freiheitsrechte muss eine unabhängige Stelle, in der Regel ein Richter, gewährleisten, dass die dafür notwendigen Voraussetzungen vorliegen.

Online-Durchsuchung

Nur unter diesen eng umrissenen Voraussetzungen ist auch die Online-Durchsuchung mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 27. Februar 2008 ausdrücklich festgestellt.

Bei der Online-Durchsuchung handelt es sich um eine Maßnahme, bei der der Rechner einer Zielperson ohne deren Wissen und ohne, dass die Ermittler am Standort des Rechners anwesend sind, auf verfahrensrelevante Daten mit spezieller Software durchsucht wird.

Die Online-Durchsuchung ist kein Standardverfahren, sondern ultima ratio. Sie dient ausschließlich der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus und ist nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nur zulässig zum Schutz hochrangiger Rechtsgüter wie Leib, Leben und Freiheit einer Person oder bei Bedrohung gegen den Bestand des Staates. Es geht nicht darum, flächendeckend und willkürlich auf die Rechner unbescholtener Bürger zuzugreifen und deren verfassungsrechtlich verankertes Grundrecht aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG und damit deren Recht auf Privatheit zu verletzen.

Die Online-Durchsuchung ermöglicht den Strafverfolgungsbehörden eine adäquate Reaktion auf das veränderte Kommunikations-, Interaktions- und Datenspeicherungsverhalten von Terrorverdächtigen ausschließlich zur Gefahrenabwehr. Zur Strafverfolgung darf das Bundeskriminalamt die Online- Durchsuchung nicht einsetzen.

Mindestspeicherungsfristen

Ebenfalls unentbehrlich für die Strafverfolgung und Gefahrenabwehr im digitalen Zeitalter ist der Zugriff auf Daten über die Nutzung elektronischer Telekommunikationsmittel. Die Zuordnung einer polizeilich bereits bekannten IP-Adresse zu einem Anschlussnehmer ist oft der schnellste und sicherste, bei manchen Delikten der einzige Weg, kriminelle Internetnutzer zu identifizieren. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sieht bei der Zuordnung einer bekannten IP-Adresse zu einem Anschlussinhaber keinen Eingriff in Art. 10 GG. Ein Eingriff in Art. 10 GG findet nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts erst statt, wenn rückwirkend auf Telekommunikationsverkehrsdaten (bisher bis zu 6 Monate) zurückgegriffen wird. Telekommunikationsverkehrsdaten wurden und werden nicht bei der Polizei, sondern bei den Providern gespeichert. Dabei geht es um die Aufklärung von Netzwerken organisierter Tätergruppen und des internationalen Terrorismus.

Am 2. März 2010 hat das BVerfG die sogenannte Vorratsdatenspeicherung in ihrer bisherigen gesetzlichen Umsetzung für verfassungswidrig erklärt. Die Provider mussten die bislang gesammelten Daten umgehend löschen. Verkehrsdaten stehen seitdem für die polizeiliche Ermittlungsarbeit wegen der uneinheitlichen Speicherpraxis der Provider weit überwiegend nicht mehr zur Verfügung. Erste Analysen zeigen einen Rückgang der Ermittlungserfolge um bis zu 60 % bei Delikten in der virtuellen Welt. Welche weiteren Folgen gibt es für die polizeiliche Ermittlungsarbeit im Einzelnen?

1. Keine Anschlussinhaberdaten von IP-Adressen Tatankündigungen von Amokläufen oder Sprengstoffanschlägen, Suizidäußerungen, terroristische Videoverlautbarungen, Angebote von Kinderpornografie oder offene Diskussionen über

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Kindesmissbrauch finden regelmäßig in Chaträumen oder sozialen Netzwerken statt. Hackingangriffe oder Betrügereien mit fremden Zugangsdaten geschehen mittlerweile täglich. Die User erscheinen anonymisiert, nur gekennzeichnet durch ihren frei wählbaren "Nickname" oder unter einer gestohlenen Identität. Ohne die Identifizierung von IP-Adressen existieren in der Regel nur wenige Möglichkeiten, die Nutzer des jeweiligen Accounts zu ermitteln.

2. Keine Verkehrsdaten im Zusammenhang mit der Telefonie Die Verbindungsdaten geben zum Beispiel Aufschluss über Netzwerke der Organisierten Kriminalität. Kriminelle Gruppierungen handeln in der Regel konspirativ, planen ihre Verbrechen langfristig und können häufig nur über ihre Kommunikationswege miteinander in Beziehung gebracht werden. In vielen weiteren Fällen sind Verbindungsdaten die erste oder einzige Spur zum Täter: vor allem bei Tatankündigungen oder Forderungen bei Entführungen.

3. Keine Standortdaten von Mobiltelefonen Durch die Auswertung retrograd, d. h. im zeitlichen Rückgriff erhobener Funkzellendaten können entscheidende Ermittlungsansätze für die Aufklärung von Verbrechen gewonnen werden. Geografische Daten eines aktivierten Handys geben der Polizei wichtige Informationen hinsichtlich des Aufenthaltsortes eines Tatverdächtigen innerhalb eines bestimmten Zeitfensters im Zusammenhang mit schweren Straftaten. Diese können sowohl zur Belastung als auch zur Entlastung des Tatverdächtigen beitragen.

Die Beispiele belegen, dass Telekommunikationsverkehrsdaten im digitalen Zeitalter für eine wirksame Strafverfolgung und Gefahrenabwehr von besonderer Bedeutung sind. Dies hat auch das BVerfG anerkannt, denn das Urteil sagt auch, dass die anlasslose Speicherung von Daten auf Vorrat zu diesem Zweck unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Erforderlich sind allerdings Regelungen zur Datensicherheit, zur Begrenzung der Datenverwendung, zur Transparenz und zum Rechtsschutz. Die entstandene Sicherheits- und Schutzlücke muss schnellstmöglich in Form einer verfassungskonformen Regelung für Mindestspeicherungsfristen von Telekommunikationsverkehrsdaten geschlossen werden!

Das immer wieder bemühte sogenannte "Quick-Freeze-Verfahren" stellt im Übrigen keine geeignete Alternative zur Wiedereinführung einer Mindestspeicherfrist dar. Speichern Provider keine Verkehrsdaten, können auch keine Daten "eingefroren" werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht übrigens in der erwähnten Entscheidung bezogen auf die Zweckeignung der Maßnahme festgestellt.

Fazit

Der Staat darf vor den neuartigen Erscheinungsformen der Kriminalität im 21. Jahrhundert nicht die Augen verschließen. Die Polizei muss ihre Aufgaben konsequent erfüllen und ihrem Schutzauftrag für die Sicherheit der Menschen in unserem Land, die einen Anspruch auf eine wirksame Gefahrenabwehr und Strafverfolgung haben, gerecht werden. Der Rechtsstaat muss sich angemessen wehren können; er darf sich nicht bewusst blind und taub machen! Das Internet darf kein verfolgungsfreier Raum sein. Wer diesen Anspruch von vornherein aufgibt, weil er meint, dies sei der Preis der Freiheit, denn hundertprozentige Sicherheit könne es ohnehin nicht geben, der kündigt das Sicherheitsversprechen des Staates gegenüber seinen Bürgern auf.

Die moderne Polizei erfüllt ihre Aufgaben konsequent, aber mit der notwendigen Sensibilität im Umgang mit den ihr vom Gesetzgeber anvertrauten Eingriffsinstrumenten. Wohl wissend, dass jeder Grundrechtseingriff legitimatorische Kosten zur Folge hat, die vorher genau abzuwägen sind.

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Ohne Sicherheit ist keine Freiheit Standpunkt Günther Beckstein

Von Dr. Günther Beckstein 22.11.2010 Der Jurist Dr. Günther Beckstein ist Mitglied des Bayerischen Landtags. Von 1993 bis 2007 war er bayerischer Innenminister, anschließend bis 2008 Ministerpräsident des Freistaates Bayern.

Günther Beckstein fordert den Mittelweg zwischen Nachlässigkeit und umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen. Man müsse bei neuen Bedrohungen intelligente neue Wege gehen und die Ideologisierung und Emotionalisierung der Diskussion vermeiden.

Wilhelm von Humboldt, der große Staatsmann und Philosoph, hat im Jahre 1792 einen Satz geprägt, der noch heute das Zeug hat zur politischen Maxime: "Denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit." Es ist dieser Satz in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Erstens, weil er andeutet, dass ein gemeinschafts- und demokratieverträglicher Freiheitsbegriff nicht die Freiheit meinen kann, zu tun und zu lassen, was man als Einzelner gerade will - ungeachtet der Bedrohung, die davon für andere ausgeht. Und zweitens, weil er dieser wohl definierten Freiheit, der Freiheit in der Verantwortung für sich und für andere, einen Begriff an die Seite stellt, der immer wieder als ihr Antagonismus verstanden wurde und wird: den Begriff der Sicherheit. Dieser Antagonismus aber ist ein großer Irrtum. Sicherheit und Freiheit sind alles andere als Gegensätze. Klipp und klar stellt Humboldt fest: Die Sicherheit ist nachgerade die Voraussetzung für die Freiheit. Ohne Sicherheit ist alle Freiheit nichts, weil sie ein Leben in Angst bedeuten würde. Nur wer in Sicherheit lebt, kann sich frei entfalten und bestmöglich entwickeln. Es ist nur zu begrüßen, dass diese Erkenntnis inzwischen europaweit konsensfähig ist und auf EU-Ebene auch Eingang gefunden hat in das so genannte Stockholmer Programm.

Nun kann man es freilich auch übertreiben mit der Sicherheit. Wenn die Sicherheitsmaßnahmen eines Staates oder einer Staatengemeinschaft für die Bürgerinnen und Bürger so umfangreich werden, dass ein normales Leben nicht mehr möglich ist, dann ist das ebenso unbefriedigend wie die völlige Nachlässigkeit auf dem Feld der Sicherheitspolitik. In der Mitte liegt vielmehr die Kraft! Als Faustregel muss gelten: so wenig Sicherheitsmaßnahmen wie möglich und so viel wie nötig. Diese Balance herzustellen, ist nicht ganz so einfach - auch deswegen, weil die Sicherheitspolitik in einem völlig unnötigen Maße ideologisch und emotional besetzt ist. Umso unentbehrlicher ist es, den politischen und gesetzgeberischen Sicherheitsmaßnahmen auf nationalstaatlicher und auf europäischer Ebene eine saubere Analyse der Ist-Situation zugrunde zu legen. Diese Analysearbeit wird in einer Welt der Globalisierung und der internationalen Verflechtung gerade auch der Sicherheitsgefährder nicht eben leichter.

Wer sie dennoch leistet, der stellt fest: Die Kriminalität ist nicht mehr das, was sie einmal war. Alleine im Bereich der Organisierten Kriminalität hatte die Internationalisierung unserer Welt fundamentale Veränderungen zur Folge. Die grenzenlose Freiheit, die wir in Europa seit dem Wegfall der Grenzkontrollen genießen dürfen, hat nicht nur uns, sondern auch international operierenden Banden mehr Entfaltungsmöglichkeiten erbracht denn je.

Hier gilt es, althergebrachte Maßnahmen nicht einfach zu kumulieren, sondern intelligente neue Wege zu gehen, so wie der Freistaat Bayern dies anlässlich des Wegfalls der Grenzkontrollen an der Grenze zu Tschechien von Beginn an gemacht hat. Neben einer ausgezeichnet funktionierenden grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit den tschechischen Behörden setzt Bayern auf das Mittel

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 346 der Schleierfahndung. Mit diesem etwas sperrig als "Befugnis zu verdachts- und ereignisunabhängigen Kontrollen" bezeichneten Instrument ist es der bayerischen Polizei möglich, Kontrollen im Landesinneren auch ohne konkrete Gefahr durchzuführen.

Bayern hat damals, bei der Einführung der Schleierfahndung, eine gesetzgeberische Vorreiterrolle übernommen. Mehrere Bundesländer sind diesem Beispiel gefolgt. 2003 hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof die Schleierfahndung für verhältnismäßig und verfassungskonform erklärt. Heute wissen wir, dass sie eines der effektivsten Instrumente bei der Bekämpfung international operierender Banden überhaupt ist. Ein anderes Beispiel ist die Terrorismusbekämpfung. Vor allem der islamistische Terrorismus bereitet mir Sorgen - auch deswegen, weil er längst internationale Formen angenommen hat und als Feindbild jene demokratischen Gesellschaftsformen pflegt, die innerhalb der Grenzen der Europäischen Union oder in den Vereinigten Staaten zu Hause sind. Dazu braucht es gar nicht immer gleich das Beispiel des 11. September 2001. Alleine in Deutschland gab es im Umfeld der letzten Bundestagswahl elf ganz konkrete Anschlagsdrohungen von islamistischen Terroristen.

Immer häufiger werden junge "Jihadisten" hierzulande angeworben, im Herzen Europas. Wir können Reisebewegungen von jungen Männern aus Deutschland nachweisen, die in Krisenregionen zum Kampf gegen "Ungläubige" oder in Ausbildungslager in Pakistan und Afghanistan, in Somalia und im Jemen führen. Nicht nur Deutschland, Europa und der gesamte Westen, sondern Demokratie, Pluralismus und die Freiheit des Menschen insgesamt sind fest im Visier global agierender islamistischer Terroristen.

Auch auf diesem Gebiet hat der Freistaat Bayern seine Hausaufgaben gemacht, gründlicher als viele andere Länder in Europa: Der sauberen Analysearbeit folgte nicht minder konsequent ein Bündel an hoch wirkungsvollen Maßnahmen. Dazu gehören die Schaffung spezieller Einheiten zur Aufklärung krimineller islamistischer Strukturen, die Einrichtung eines Strategischen Innovationszentrums beim Bayerischen Landeskriminalamt und die in der Öffentlichkeit intensiv diskutierte Online-Durchsuchung. Sie ist ein Musterbeispiel für den immer wieder aufkommenden Streit um die richtige Balance aus Sicherheitsmaßnahmen und dem Schutz der Bevölkerung vor allzu intensiver Kontrolle durch den Staat.

Zu diesem Streit an sich sage ich: Er ist gut und sinnvoll, weil er die Gesellschaft zum Nachdenken darüber anregt, an welcher Stelle die Grenzen staatlichen Zugriffs in einer Demokratie zu platzieren sind. Und zur Online-Durchsuchung selbst sage ich: Sie rangiert noch deutlich innerhalb dieses Grenzbereiches und ist ein Vorbildinstrument für alle anderen europäischen Regionen. Längst ist das World Wide Web zur virtuellen Drehscheibe und zum Kommunikationsmedium Nummer 1 für die Anwerbung von Attentätern mit radikalislamischem Hintergrund geworden. Es ist eine Informations- und Austauschplattform zur Vorbereitung terroristischer Anschläge. Gewaltbereite Islamisten wenden sich im Netz mit ihren Hassbotschaften an die Öffentlichkeit, rufen zu Anschlägen auf und helfen sich gegenseitig mit Anleitungen zum Bombenbau aus. Wir können es uns nicht leisten, ausgerechnet auf diesem wichtigen Feld denjenigen hinterherzuhinken, die uns bedrohen.

In seinem Urteil vom 27. Februar 2008 zum nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz hat das Bundesverfassungsgericht daher auch ausdrücklich festgestellt, dass das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme nicht völlig schrankenlos garantiert werden kann. Wenn Eingriffe zu präventiven oder repressiven Zwecken nötig sind, dann sind sie unter ganz bestimmten und sehr streng definierten Voraussetzungen auch zulässig. Dabei reicht ein bloßer Verdacht noch lange nicht aus. Es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut besteht. An diesen strengen Einschränkungen orientiert man sich auch in Bayern, wenn eine Online-Durchsuchung notwendig geworden ist. Die bayerische Synthese aus strikter Beachtung der rechtlichen Vorgaben und konsequenter Ausschöpfung des sicherheitspolitisch Möglichen ist vorbildlich und taugt zur Schablone für die Sicherheitspolitik in ganz Europa.

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Dass in der Diskussion um das Maß an staatlicher Kontrolle die Wogen immer wieder sehr hoch schlagen, liegt an der eingangs bereits erwähnten Ideologisierung und Emotionalisierung des Themas, wie sie gerade auch der Streit um die Online-Durchsuchung mit sich brachte. Eine Versachlichung des Themas "Sicherheit und Freiheit" tut Not - auch deswegen, weil dadurch der Blick auf die Fakten nicht mehr in dem Maße verstellt würde, wie das bisweilen der Fall ist. In der Angelegenheit der Online- Durchsuchung sind die Fakten diese: Es besteht erstens eine konkrete, sehr einfach nachweisbare Sicherheitsbedrohung. Der Gesetzgeber hat zweitens klare Einschränkungen für die Handhabung des Instruments der Online-Durchsuchung aufgelegt. Und die Anwendung dieses Instruments beschränkt sich drittens im richtigen Leben in Bayern auf eine Handvoll Fälle im Jahr.

Es gibt also nur sehr wenige Felder, auf denen der Gesetzgeber und die Behörden mehr Sensibilität walten lassen als auf dem Feld der Freiheits- und Sicherheitspolitik. Was mich immer wieder verwundert, das sind die Bürgerinnen und Bürger selbst: Denn so sehr sie - zu Recht! - ein Argusauge darauf haben, dass der Staat nicht allzu weit in ihre Privatsphäre eindringt, so offen scheinen sie mit eben dieser Sphäre umzugehen, sobald sie online sind: Wer die weltweite Nutzergemeinschaft bei Youtube an seinem letzten alkoholgeschwängerten Partyabend teilhaben lässt, wer beim Chat ohne echte Kenntnis des Gegenübers über alles Mögliche und Unmögliche plaudert und wer in Social Communities auch noch seine intimsten Geheimnisse preisgibt, der braucht sich nicht zu wundern, wenn alle Welt am Ende ganz von selbst das weiß, was herauszufinden der Staat sich nie und nimmer erdreistet hätte.

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Sicherheit und Freiheit brauchen Datenschutz Standpunkt Peter Schaar

Von Peter Schaar 22.11.2010 Peter Schaar ist seit 2003 vom Deutschen Bundestag gewählter Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit.

Die technische Entwicklung ermögliche den unbemerkten Eingriff in unsere Privatsphäre, erläutert Peter Schaar. Auf diese Bedrohung müsse Europa geschlossen reagieren und sein Verständnis vom Datenschutz als Grundrechtsschutz mit einer Stimme vertreten.

Unsere Daten sind heiß begehrt. Ganze Wirtschaftszweige leben davon, unsere Daten zu sammeln und kommerziell auszuwerten. Adresshändler verkaufen unsere Daten an Unternehmen, die diese für Zwecke der Werbung nutzen. Auskunfteien wie die Schufa berechnen aus unseren Daten gegen eine Gebühr Wahrscheinlichkeitswerte, die ihren Kunden darüber Auskunft geben sollen, ob wir den von uns beantragten Bankkredit oder die Raten unseres Mobiltelefonvertrags zurückzahlen werden. Und mit Bonus- und Kundenkartenprogrammen sammeln Kaufhäuser gezielt Informationen über unsere Kaufgewohnheiten und Lieblingsprodukte, um diese Erkenntnisse zur Verbesserung ihres Angebots zu nutzen. Für die Privatwirtschaft sind unsere personenbezogenen Daten das Gold des 21. Jahrhunderts.

Aber nicht nur die Privatwirtschaft, auch der Staat hat ein wachsames Auge auf unsere Daten. Zum Schutz vor Terrorismus und Kriminalität müssen Polizei und Nachrichtendienste Zugriff auf unsere Daten haben. Die Sammlung personenbezogener Daten dient darüber hinaus der Verwaltungsvereinfachung. Und schließlich werden Daten auch zu statistischen Zwecken benötigt wie bei der bevorstehenden neuen Volkszählung. Dies alles geschieht mit Hinweis auf öffentliche Interessen.

Heute können staatliche und nicht-staatliche Stellen in einem noch nie da gewesenen Maß riesige Datenmengen anhäufen und zu Profilen zusammenführen, die genaue Rückschlüsse auf unsere Lebensgewohnheiten zulassen. Aus Verkehrsdaten von Mobiltelefonen lassen sich detaillierte Bewegungsprofile gewinnen, aus den von uns besuchten Webseiten Interessenprofile. Der Abgleich von E-Mail-Adressen und von "Freundeslisten" durch Anbieter sozialer Netzwerke ermöglicht aussagekräftige Profile über unsere sozialen Kontakte.

Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung und Online-Durchsuchung belegen dabei, dass nicht nur die Privatwirtschaft, sondern auch der Staat in zum Teil bedenklichem Umfang Daten sammelt und auswertet.

Der Datenschutz soll den Bürger vor den Begehrlichkeiten der Privatwirtschaft und allzu großer Wissbegier des Staates schützen. Weder der gläserne Kunde noch der gläserne Bürger sind mit dem Menschenbild des Grundgesetzes vereinbar. Bereits 1983 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Volkszählungsurteil postuliert, dass jeder Bürger die Kontrolle über seine Daten haben muss. Aus diesem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erwächst dem Staat zugleich die Schutzpflicht, seine Bürger vor rechtswidrigen Eingriffen in die Privatsphäre zu schützen. Er muss verbindliche Spielregeln für den Umgang mit personenbezogenen Daten aufstellen, deren effektive Kontrolle sicherstellen und den Betroffenen ein funktionierendes Instrumentarium an die Hand

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 349 geben, damit sie ihre Datenschutzrechte durchsetzen können.

Auf nationaler Ebene regeln die Datenschutzgesetze des Bundes und der Bundesländer den Umgang mit personenbezogenen Daten. Für die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen sind der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit und die Datenschutzbehörden der Länder verantwortlich.

Auf Ebene der Europäischen Union garantiert eine Datenschutzrichtlinie seit 1995 gemeinsame Datenschutzstandards. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 verfügt die Europäische Union mit Artikel 8 der Charta der Grundrechte zudem über ein eigenständiges, europaweites Datenschutzgrundrecht.

Die technologischen Entwicklungen stellen die nationalen und europäischen Datenschutzgesetze allerdings vor Herausforderungen, auf die sie nicht immer zeitgemäße Antworten haben. Ich betrachte es mit Sorge, dass die technische Realität, die unseren Alltag immer mehr bestimmt, Eingriffe in unser Recht auf informationelle Selbstbestimmung zunehmend geräuschlos und hinter unserem Rücken ermöglicht. Interessen, Lebensweisen und Persönlichkeitsmerkmale werden Dritten bekannt, ohne dass der Betroffene dies steuern kann. Von der Datenautonomie jedes Einzelnen, der Grundidee des Datenschutzes, sind wir damit weit entfernt.

Daher werbe ich für ein zeitgemäßes Datenschutzrecht. Regelungsbedarf besteht auf nationaler, auf europäischer und - wegen der Internationalisierung der Datenströme - zunehmend auch auf internationaler Ebene. Denn der Umgang mit persönlichen Daten macht nicht vor Landesgrenzen halt. Die internationale Verflechtung der Unternehmen führt dazu, dass Daten weltweit kursieren. Und auch der Staat übermittelt unsere Daten ins Ausland, beispielsweise Flugpassagierdaten. Der Transfer persönlicher Daten in andere Länder verwischt die Verantwortlichkeiten und stellt die Betroffenen bei der Durchsetzung ihrer Rechte vor erhebliche Hürden. In der digitalen Welt, in welcher sich Daten in Sekundenbruchteilen von einem Server auf den anderen übertragen lassen, wissen die Betroffenen oft nicht einmal, in welchem Erdteil ihre Daten gespeichert sind.

Angesichts dieser rasanten technologischen Entwicklung bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Globalisierung mit der damit verbundenen Verschiebung der internationalen Kräfteverhältnisse wird es immer wichtiger, dass Europa sein Verständnis von Datenschutz als Grundrechtsschutz mit einer Stimme vertritt. Deshalb ist es zu begrüßen, dass die Europäische Kommission den Rechtsrahmen für den Datenschutz in der Union weiterentwickeln und zukunftsfest gestalten will. Entsprechende Vorarbeiten wurden bereits begonnen und sollen noch in diesem Jahr in einem ersten Entwurf für einen neuen Rechtsakt zum Datenschutz münden.

Das Internet, das nationalrechtlich kaum beherrschbar ist, umfasst und beeinflusst mit seinen vielfältigen Diensten immer mehr Lebensbereiche. Es ist damit sichtbarster Ausdruck der Notwendigkeit, Datenschutz als gesellschaftliche Herausforderung zu verstehen. Es reicht nicht aus, das Datenschutzrecht internetfähig zu machen. Auch in der Gesellschaft muss es zu einem Umdenken kommen. Es ist besorgniserregend, wenn eine wachsende Zahl von Nutzern bereit ist, einem unbekannten Empfängerkreis freiwillig sogar intime Informationen über sich preiszugeben. Dieser "digitale Exhibitionismus" ist verhängnisvoll, weil die Betroffenen Teile ihrer Persönlichkeit preisgeben, ohne über eine wirksame Kontrolle über die Weitergabe der Information zu verfügen. In der Welt des Internets sind die Informationen schnell kopiert und der Herrschaft des Betroffenen entzogen. Notwendig ist daher auch eine Sensibilisierung jedes Einzelnen für den bewussten Umgang mit seinen persönlichen Daten.

Voraussetzung für einen derartigen verantwortlichen Umgang ist dabei, dass die Betroffenen wissen und verstehen, was mit ihren Daten geschieht oder geschehen soll. Gefordert ist zum einen eine transparente Informationspolitik der Anbieter von Diensten und der Betreiber von technischen Plattformen. Andererseits müssen die Nutzer ein Mindestmaß an Kenntnis über und Interesse an

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 350 informationstechnischen Zusammenhängen erlangen. Schließlich brauchen sie echte Entscheidungsmöglichkeiten hinsichtlich der Preisgabe persönlicher Daten, ohne unangemessene Nachteile bei der "Datenverweigerung" befürchten zu müssen.

Es ist eine wichtige gesellschaftliche Weichenstellung, welchen Stellenwert der Mensch und sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung in unserer Informationsgesellschaft haben. Die Datenschutzgesetze schaffen lediglich den Rechtsrahmen für den ordnungsgemäßen Umgang mit personenbezogenen Daten durch Dritte. Darin liegt die freiheitswahrende Funktion des Datenschutzrechts. Indem es verbindliche Regeln für den Umgang mit unseren Daten aufstellt, schafft es Vertrauen. Dieses Vertrauen der Menschen in wirksame Schutzmechanismen im Bereich von Datenschutz und Datensicherheit ist die Grundlage der kommunikativen Entfaltung der Bürgerinnen und Bürger. Wer nicht an die Sicherheit seiner Daten und die Integrität der Kommunikationspartner und Kommunikationsmittel glaubt, der schottet sich ab und nimmt nicht mehr am gesellschaftlichen Leben unserer modernen Informations- und Kommunikationsgesellschaft teil. Das Recht auf den Schutz unserer persönlichen Daten muss aber immer wieder aktiv eingefordert werden. Datenschutz ist auch Selbstdatenschutz. Dazu müssen die Bürger ihre Rechte eigenverantwortlich und selbstbestimmt wahrnehmen. Nur so kann Datenschutz wirklich funktionieren.

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Die dunkle Seite der Technik ausmalen Standpunkt Hans-Liudger Dienel

Von Dr. Hans-Liudger Dienel, Gefährdungsszenarien 22.11.2010 Dr. Hans-Liudger Dienel leitet das Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin und das nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung in Berlin(http://www.nexusinstitut.de).

"Mama, Papa, mich haben die Synsekten gestochen! - Aufgeregt kam Julie ins Haus gelaufen. Martin, der gerade über dem Verwaltungskram für seinen Öko-Bauernhof gesessen hatte, schaute seine elfjährige Tochter an. Im Gesicht und an den bloßen Armen hatte sie rote Flecken wie von Mückenstichen." So beginnt eines der zahlreichen Szenarien, die Experten/innen in Arbeitsgruppen im Projekt FESTOS konzipiert haben. Das vorliegende Szenario beschreibt die Gefährdung durch Cyber-Insekten, die Menschen und Tiere angreifen.

Möglichst dunkle, böse und extreme Missbräuche neuer, zum Teil futuristischer Technologien: Offene Gesellschaften müssen Gefahren offen diskutieren, meint Hans-Liudger Dienel. Das europäische Projekt FESTOS leiste einen Beitrag dazu.

In den letzten Jahren haben in vielen europäischen Ländern die für Verbrechensbekämpfung und Terrorabwehr zuständigen nationalen Polizeibehörden technische Arbeitsgruppen eingerichtet. Sie befassen sich mit zukünftigen möglichen Bedrohungslagen, die durch eventuell noch gar nicht vorhandene, aber denkbare, mögliche neue Technologien ausgelöst oder verstärkt werden.

In Deutschland ist hier das Bundeskriminalamt tätig geworden. Es arbeitet an einem "Technologieradar" für die Erfassung von technologisch induzierten Bedrohungen. Auch in anderen europäischen Ländern gibt es ähnliche Bemühungen. Doch man arbeitet bisher weitgehend unvernetzt und mit nur kleinen Budgets nebeneinander her. So gelingt zwar eine exemplarische Bewertung einzelner Technologien im Hinblick auf Gefährdungspotenziale, aber kein flächendeckendes Technologie-Screening und vor allem noch keine Diskussion, Entwicklung und Einführung möglicher präventiver Gegenmaßnahmen.

In diesem Kontext hat steht das von der EU-Kommission geförderte Projekt FESTOS (Foresight of Evolving Security Threats Posed by Emerging Technologies, siehe www.festos.org), in dem Zukunftsforschungsinstitute aus fünf Ländern (Israel, Deutschland, Großbritannien, Finnland, Polen) technologische Bedrohungslagen erforschen, präventive Gegenmaßnahmen entwickeln und durch den europäischen Charakter des Projekts implizit auch den Austausch und die Zusammenarbeit der nationalen (Polizei)Behörden anregen und unterstützen. Denn die fünf Institute arbeiten in dem europäischen Vorhaben in den nationalen Teilprojekten in unterschiedlicher Art und Weise mit den jeweiligen nationalen (Polizei-)Behörden zusammen. In Deutschland gehört der Leiter des Kriminalistischen Instituts des Bundeskriminalamts, Carl-Ernst Brisach, zum Beirat des FESTOS Projekts; mit seinen Mitarbeiter/innen im "Technologieradar" pflegt FESTOS einen intensiven Austausch.

In der Zukunftsforschung wird seit vielen Jahren mit sogenannten "Wildcards" oder auch "Black Swans" gearbeitet. So bezeichnet man Ereignisse, die zwar eine ganz geringe Eintrittswahrscheinlichkeit haben, aber eine sehr große, zum Teil dramatische Wirkung entfalten können. Das deutsche Teilprojekt ist in definierten Technologiefeldern auf der systematischen Suche nach solchen Wildcards. Dafür bedient es sich der Szenarienmethode. In den Szenarienprozessen schlüpfen technische und administrative Experten/innen in die Rolle von Terroristen und Verbrechern und versuchen, sich in möglichst dunkle, böse und extreme Missbräuche neuer, zum Teil futuristischer Technologien hineinzudenken. An der Szenarienentwicklung beteiligt ist der Zukunftsforscher und Science-Fiction

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Autor Karlheinz Steinmüller.

Viele Katastrophen ergeben sich erst aus dem Zusammenspiel unglücklicher Ereignisse. In den Szenarien kommt es daher darauf an, das Zusammentreffen verschiedener Bedrohungen, Zufälle, hysterischer Reaktionen und eines ungenügenden Krisenmanagements analytisch zu beschreiben. Dabei kann gar nicht schwarz genug gedacht werden. Erst in einem zweiten Schritt geht es darum, mögliche präventive Maßnahmen sowie Konzepte für ein stabilisierendes Krisenmanagement zu entwickeln.

Können und sollen die europäischen Staaten und die europäische Staatengemeinschaft überhaupt auf teilweise ganz unwahrscheinliche, aber immerhin mögliche technologische Horrorszenarien präventiv reagieren? Das ist eine implizite zentrale Fragestellung, die das Forschungsvorhaben FESTOS begleitet. Zu den möglichen Reaktionen gehören die genaue Beobachtung von Gefährdungslagen, die Ansprache und Begleitung von Forschungsinstituten und -gruppen, die an potenziell besonders gefährlichen Technologien arbeiten, die Schaffung von Problembewusstsein und - im Extremfall - auch die staatliche Reglementierung des Wissensfortschritts und der Eingriff in die Freiheit von Forschung und Wissenschaft, also eines der wichtigen und hohen Güter westlicher Vorstellungen von Freiheit und Moderne. In den letzten Jahren ist es zu einer verstärkten ethischen Regulierung und Selbstregulierung der Forschung gekommen. Als Beispiel sei die Stammzellenforschung erwähnt. Auch die militärtechnische Forschung ist selbstverständlich hochreguliert. Insofern ist die sicherheitspolitisch begründete Regulation und Selbstregulation von Forschung und Wissensverbreitung kein grundsätzlich neuer Schritt.

Wie groß ist überhaupt das Gefährdungspotenzial neuer Technologien? Ist es nicht vielmehr so, dass die ganz übergroße Zahl von Verbrechen und Terrorattentaten sich leicht beschaff- und bedienbarer "Low Techs" bedient, aber höchst selten schwer beschaffbare, anspruchsvolle und damit auch auffällige neue Technologien nutzt? Aus dem Bereich der Terrorforschung wird zu Recht darauf hingewiesen, dass etwa grausame Selbstmordattentate in der Regel auf technologisch niedrigem Niveau ausgeführt werden. Diese Hinweise sind nicht völlig falsch, berücksichtigen aber nicht die bereits heute schnell wachsende Zahl technologisch anspruchsvoll(st)er Attacken von der Internetkriminalität bis hin zu chemischen Angriffen.

Würde eine Beschränkung von Forschung in eine bestimmte Richtung aber nicht geradezu anziehend für Akteure mit dunklen Absichten wirken? Kann es sein, dass schon die Forschung zu technologischen Gefährdungen diese eher fördert als verhindert? Immerhin steigt damit die Aufmerksamkeit für die potenzielle Gefährdung. Vielleicht regt dies die Kreativität bei den falschen Zielgruppen an. Allein die Publikation von Gefährdungen kann zu "Nachahmereffekten" führen. Dies kann natürlich sein. Offene Gesellschaften müssen diese Gefahren der öffentlichen Debatte tragen. Forschung über technologischen Missbrauch sollte aber eingebettet sein in eine Diskursstrategie. Ähnlich wie bei den Sicherheitstechnologien am Flughafen geht es auch bei der Erforschung technologischer Missbrauchsgefahren und präventiver Maßnahmen um einen abgewogenen Kompromiss zwischen sicherheitspolitischen Anforderungen auf der einen und gesellschaftspolitischer Forderungen nach Freiheit, Selbstbestimmung und einem Minimum an einschränkender Kontrolle auf der anderen Seite.

In diese Diskussion müssen die (Polizei-)Behörden und ihre technischen Abteilungen integriert werden. FESTOS leistet hier implizit einen katalytischen Beitrag für die gegenseitige Information der nationalen (Polizei-)Behörden in Europa. Noch sind Erfahrungsaustausch und Zusammenarbeit eher gering. Europäische Forschungsvorhaben, wie FESTOS, bringen die nationalen Technologiebeobachter zusammen und leisten damit auf sicherheitspolitischer Ebene auch einen Beitrag zur europäischen Integration.

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Freiheit oder Sicherheit Eine Auswahl von eurotopics.net

22.11.2010

Wie weit dürfen US-Geheimdienste europäische Bürger ausspähen? Welche Maßnahmen gegen Terrorismus sind sinnvoll? Und darf der Staat die Privatsphäre seiner Bürger einschränken? Stimmen aus der europäischen Presse.

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Neuer Facebook-Dienst macht Nutzer gläsern Süddeutsche Zeitung - Deutschland; Mittwoch, 17. November 2010

Mit einem neuen Postfach will das Online-Netzwerk Facebook seine Verbraucher künftig stärker an sich binden. SMS, E-Mail und Chat-Nachrichten laufen in einer Nachrichtenzentrale zusammen, werden vorsortiert und gespeichert. Das Angebot geht zu Lasten des Datenschutzes, warnt die linksliberale Süddeutsche Zeitung: "Noch ist nicht jedem bewusst, dass er für dieses scheinbar kostenlose Angebot in einer anderen Währung zahlt - mit Informationen über seine Gewohnheiten und seine Sehnsüchte. ... Im Netz sind all diese Informationen viel wert. Facebook nutzt sie, um Werbeanzeigen genau an der richtigen Stelle zu platzieren. Schätzungen zufolge hat das Unternehmen im vergangenen Jahr 1,28 Milliarden Dollar mit den Anzeigen im Netz umgesetzt. ... Doch es ist ein Irrglaube anzunehmen, dass die Menschheit den gierigen Managern ausgeliefert ist. Wie jeder andere Internetkonzern hat auch Facebook nur so viel Macht, wie die Internetnutzer ihm zugestehen. Auch der digitale Briefkasten ist ein Angebot. Und jeder kann es ebenso gut ausschlagen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE79094- Neuer-Facebook-Dienst-macht-Nutzer-glaesern)

USA spionieren schwedische Bürger aus Expressen - Schweden; Dienstag, 9. November 2010

Die USA haben jahrelang schwedische Bürger nachrichtendienstlich überwacht, die sich in der Nähe von Gebäuden der US-Botschaft aufhielten. Die liberale Abendzeitung Expressen fragt sich, inwieweit die schwedische Sicherheitspolizei Säpo darüber informiert war und welche Beweggründe die USA hatten: "Es ist nicht auszuschließen, dass die USA ziemlich weit gegangen sind. Nach den Anschlägen vom 11. September hat der US-Geheimdienst nicht nur Stecknadeln in Heuhaufen gesucht. Man hat auch ganze Heuhaufen an Informationen eingesammelt, in denen wichtige Details untergegangen sind. Aber wir müssen uns fragen, warum die Säpo nicht bemerkt hat, dass US-Amerikaner ein großes, vielleicht illegales Netz in Schweden ausgeworfen haben um Verdächtige zu aufzuspüren. Und müssen die Bürger wirklich alles glauben, was Regierung und Behörden zunächst sagen? Die Enthüllungen um CIA-Flugzeuge, die mit Terrorismusverdächtigen in Schweden zwischengelandet sind, hat uns gelehrt skeptisch zu sein." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE78639- USA-spionieren-schwedische-Buerger-aus)

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Zu sorglose Internetnutzer Novinar - Bulgarien; Sonntag, 7. November 2010

Die EU-Kommission fordert mehr Rechte für Nutzer von Facebook und anderer sozialer Netzwerke im Internet. Die Weiterverbreitung personenbezogener Daten soll künftig besser kontrolliert werden können. Die Forderungen sind Teil einer umfassenden Datenschutzstrategie. Das Problem liegt aber nicht nur bei den Betreibern, sondern vor allem bei den Nutzern, meint die Tageszeitung Novinar: "Selbst die härtesten Maßnahmen schützen uns nicht vor unserer eigenen Verantwortungslosigkeit und dem unüberwindlichen Verlangen online vor anderen anzugeben. In der Internet- Kommunikationskultur, die immer noch im Entstehen ist, scheint man als Freak oder Soziopath zu gelten, wenn man kein Foto auf sein Profil stellt. Wir versenden und veröffentlichen sorglos Fotos, nur um unser Gegenüber von unserer sozialen Kompetenz zu überzeugen. Dass unser Gegenüber aber der wahre Psychopath oder einfach ein Datendieb sein könnte, kommt uns dabei nicht in den Sinn." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE78558- Zu-sorglose-Internetnutzer)

US-Gesetz gegen Hacker widerspricht Freiheitsrecht La Stampa - Italien; Montag, 28. Juni 2010

Der US-Senat diskutiert einen Gesetzentwurf, wonach Präsident Barack Obama im Fall von Hacker- Angriffen weitreichende Kontrolle über die Telekommunikations-Infrastruktur der USA erhält. Der Gesetzesentwurf rückt das Land paradoxerweise in die Nähe von China, meint die liberale Tageszeitung La Stampa: "Es ist ein eindeutiges Zeichen für die Vertiefung der Kluft zwischen den USA und Europa hinsichtlich des optimalen Gleichgewichts zwischen dem Schutz der individuellen Freiheit und der Bürgerrechte einerseits und der kollektiven Sicherheit andererseits. Paradoxerweise rückt er die USA näher an China, dessen Internetzensur die US-Außenministerin Hillary Clinton noch vor wenigen Monaten lautstark anprangerte. Es ist tatsächlich ein Paradox, dass in einem von wachsender Entwestlichung geprägtem Zeitalter ein weiterer Schritt in diese gefährliche Richtung ausgerechnet von den Vereinigten Staaten unternommen wird, den Schöpfern und größten Nutznießer des politischen Selbstverständnisses des Westens." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE72095- US-Gesetz-gegen-Hacker-widerspricht-Freiheitsrecht)

Deutsche Richter zu ängstlich beim Datenschutz Süddeutsche Zeitung - Deutschland; Mittwoch, 3. März 2010

Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag entschieden, dass die deutschen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung gegen die Verfassung verstoßen, und dass die zu Grunde liegende EU- Richtlinie nicht adäquat umgesetzt worden ist. Die linksliberale Süddeutsche Zeitung analysiert: "Das Urteil ist hart, aber nicht hart genug. Es ordnet zwar an, die bisher gespeicherten Daten zu löschen, lässt aber die Speicherung und Weitergabe der Daten für die Zukunft umfassend zu. Auf der Basis der im Urteil geschilderten Gefahren hätte die Speicherung aber generell verboten werden müssen. Das haben sich die Richter jedoch nicht getraut, weil es sonst einen Rechtskrieg mit der Europäischen Union gegeben hätte. ... Die Zeit, in der man dem Konflikt nicht mehr ausweichen kann, rückt aber näher. ... Auf diese Weise werden die fundamentalen Gefahren der Datenspeicherung auf Vorrat nur ein wenig verkleinert, aber nicht beseitigt. Das Gericht weiß um das Potential zur Freiheitsgefährdung, die in der Vorratsdatenspeicherung steckt." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE66491- Deutsche-Richter-zu-aengstlich-beim-Datenschutz)

Sammelwut der US-Terrorfahnder begrenzen

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Die Presse - Österreich; Freitag, 22. Januar 2010

Das umstrittene Swift-Abkommen über die Weitergabe von Bankdaten an die USA zur Terrorbekämpfung soll am 1. Februar in Kraft treten. Am Donnerstag hat das Europaparlament aus Datenschutzgründen einen Aufschub gefordert. Die Tageszeitung Die Presse stellt den Nutzen der enormen Datenmengen infrage: "Wie absurd ist doch die wachsende Bereitschaft zur Weitergabe von sensiblen Daten geworden. Sie beschädigt nicht nur unsere Privatsphäre, sie schafft vor allem eine unübersichtliche Datenmenge, die nicht mehr kontrollierbar ist. Die USA wollen jetzt auch noch auf Banküberweisungen in der EU - 15 Mio. pro Tag - zugreifen. Sie schaffen es zwar nicht einmal, aus ihrer relativ kleinen Terrordatenbank potenzielle Täter wie den Detroit-Flug-Bomber herauszufiltern. Aber ihre Sammelwut ist ungestillt. So größenwahnsinnig wie dieses Vorhaben der Terrorfahnder ist, so naiv ist der Glaube der EU-Innenminister, dass diese unübersichtliche Datenmenge sinnvoll eingesetzt und ein Missbrauch ausgeschlossen werden kann." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE64401- Sammelwut-der-US-Terrorfahnder-begrenzen)

Angst vor Terror irrational New Statesman - Großbritannien; Freitag, 8. Januar 2010

Die Angst vor Terror ist irrational und überzogen, meint Mehdi Hasan in der Wochenzeitschrift New Statesman. Es wäre besser, einen kühlen Kopf zu bewahren: "Es gibt keinen Scanner, keine Technologie, keine Sicherheitsmaßnahme, die uns absoluten Schutz vor Terrorismus gewährt. Noch kann das Terrorismus-Problem militärisch gelöst werden. Was wir brauchen, ist Geduld, Durchhaltevermögen und Sinn für die historische Perspektive. Bei Treffen mit Ministern und Beamten in [dem Regierungsviertel] Whitehall sehe ich oft Poster aus dem Zweiten Weltkrieg auf den Rückseiten von Türen: 'Ruhig bleiben und weitermachen'. Unsere Anführer sollten weise genug sein, den Ratschlag zu befolgen, vielleicht sogar als Neujahrsentschluss annehmen. Ruhig bleiben. Weitermachen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE63666- Angst-vor-Terror-irrational)

Körperscanner sind Illusion der Technik La Repubblica - Italien; Mittwoch, 6. Januar 2010

Die Debatte um die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen nach dem vereitelten Terroranschlag auf ein US-Flugzeug in Detroit legt erneut den alten Gegensatz von Sicherheit und Freiheit offen. Diesbezüglich kritisiert die linksliberale Zeitung La Repubblica die Forderung nach einem verstärkten Einsatz von Körperscannern: "Auch in schwierigen Zeiten ist es vonnöten, dass die Politik einen klaren Kopf behält, weder Emotionen noch Versuchungen nachgibt daran zu glauben, dass die Antwort auf den Terrorismus notwendigerweise eine Einschränkung der Freiheit mit sich bringt. Es ist nicht das erste Mal, das die technologische Begeisterung die Hand der Politiker lenkt, indem sie die Realität verzerrt und Lösungen suggeriert, die sich als gefährlich und ineffizient erweisen können. ... Die wahre Verantwortung [für das Attentat von Detroit] trägt das US-amerikanische Verteidigungssystem, nicht die Technologie." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE63483- Koerperscanner-sind-Illusion-der-Technik)

Belgien als Big Brother De Morgen - Belgien; Dienstag, 27. Oktober 2009

Die belgische Regierung hat angekündigt, die europäische Richtlinie zur Speicherung von Telefon- und Computerdaten zu übernehmen. Die Tageszeitung De morgen kommentiert: "Wer garantiert, dass

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 356 die unglaubliche Menge an Informationen, die durch diese Richtlinie gesammelt werden, nicht für ganz andere Zwecke als den Kampf gegen den internationalen Terrorismus missbraucht werden? Terroristen und Schwerverbrecher haben übrigens nicht die Angewohnheit, über ungesicherte Kanäle zu kommunizieren. Das stärkste Argument ist, dass diese Richtlinie erneut einen großen Schritt in Richtung einer Big Brother-Gesellschaft bedeutet und eigentlich vollkommen kontraproduktiv ist. Denn um unsere Gesellschaftsform vor potenziellen Feinden zu schützen, benutzt man Techniken, die die Fundamente dieser Gesellschaft aushöhlen. Man tut stellvertretend die Arbeit der Terroristen: die Vernichtung der Privatsphäre, der individuellen Freiheit und des Rechts, ohne ständige Staatskontrolle sein Leben führen zu können." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE60049- Belgien-als-Big-Brother)

Der EuGH erklärt Passagierdaten-Abkommen mit den USA für nichtig Süddeutsche Zeitung - Deutschland; Mittwoch, 31. Mai 2006

Richter können richtig gemein sein", schreibt die Zeitung in ihrem Kommentar zum Urteil des EuGH zur Flugdatenübertragung an die USA. "Das Gericht hat nur geprüft, ob die EU in Gestalt von Kommission und Rat rechtlich befugt war, ein solches Abkommen zu schließen. Die strikt juristische Antwort aus Luxemburg ist für die EU aber nicht weniger peinlich, als es eine Abfuhr wegen des Datenschutzes gewesen wäre. Das Gericht hat nämlich festgestellt, dass sich die EU auf ein Datenschutzgesetz beruft, das ausdrücklich nicht für Zwecke der nationalen Sicherheit und Strafverfolgung gedacht ist. Die politische Ohnmacht der EU in solchen Fragen ist von den Mitgliedstaaten durchaus gewollt - eifersüchtig hüten sie ihre nationalen Kompetenzen. Folgerichtig hätten sie über die Flugdaten jeweils bilateral mit den USA verhandeln müssen. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE4857- Der-EuGH-erklaert-Passagierdaten-Abkommen-mit-den-USA-fuer-nichtig)

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Demografie

23.3.2011

Nach Prognosen der Vereinten Nationen werden im Jahr 2050 in Europa ca. 40 Millionen Menschen weniger wohnen als heute. In dieser Aussage steckt allerdings viel Unklarheit: Treffen die Modellrechnungen wirklich ein? Wird die Überalterung ein Problem für die Gesellschaft? Und wie können sich Regionen, Kommunen und Unternehmen auf die Veränderungen einstellen?

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Hilfe, wir werden weniger – oder ist das vielleicht gut? Die demografische Entwicklung in der Diskussion Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 23.3.2011

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Viele Faktoren beeinflussen die demografische Entwicklung: Geburten, Todesfälle, Migration. Ist die demografische Zukunft Europas daher unklarer als gedacht? Wird Europa schrumpfen? Ist das ein Problem? Wie muss Europa auf die demografische Entwicklung reagieren?

Frau mit Rollator in Karten-Miniatur. Lizenz: cc by-nc-sa/2.0/de (hebedesign) Eigentlich ist es ganz einfach: Jede Frau, die 1981 nicht geboren wurde, bekommt 2011 kein Kind. Diese banale Aussage weist auf zweierlei hin: Die Demografie arbeitet mit langfristigen Trends. Und: Die politischen Folgen der demografischen Entwicklung sind nicht kurzfristig zu beheben.

Die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland und in den meisten anderen Staaten der Europäischen Union schrumpft. "Deutschland schafft sich ab", meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 13. Januar 2011 in Anlehnung an den Titel eines umstrittenen Buches und fuhr fort: "Immer

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 359 weniger Menschen leben in der Bundesrepublik, und die Zuwanderung ändert daran nichts. Um 100.000 ist die Bevölkerung 2010 im Vergleich zum Vorjahr geschrumpft, und der Trend geht weiter."

Das ganze Ausmaß der Bevölkerungsentwicklung wird allerdings erst in einigen Jahren sichtbar werden, wenn die älteren und älter gewordenen Jahrgänge sterben. Die Erhöhung der Lebenserwartung hat den Trend zur Verringerung der Bevölkerungszahl nämlich bislang aufgehalten. Das zeigt schon, dass die Bevölkerungsentwicklung nicht allein von der Geburtenzahl, sondern auch von der Lebenserwartung abhängt. Hinzu kommen die Veränderungen der Bevölkerung durch Zu- oder auch Abwanderung.

Wie viele Menschen 2050 in Deutschland leben werden, lässt sich also nicht wirklich zuverlässig sagen. Hierauf weisen Klaus Bingler und Gerd Bosbach in ihrem Beitrag hin. Bei den von den Statistischen Ämtern angegebenen Zahlen für die Zukunft handele es sich keineswegs um Prognosen, sondern lediglich um Modellrechnungen. Diese basieren jeweils auf einem Kranz von Annahmen und verändern sich mit diesen. Wie viel Geburten nimmt man für künftige Jahre an, wie viele Zuwanderer werden erwartet, wie wird sich die Lebenserwartung in den nächsten 40 Jahren verändern? Die ehrliche Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Aber wir können natürlich berechnen, wie hoch die Bevölkerungszahl sein wird, wenn man die verschiedenen Größen als gegeben annimmt.

In der Vergangenheit wurde die Bevölkerungsentwicklung stark von äußeren Ereignissen wie Seuchen und Kriegen geprägt. Wer im Krieg umkommt - und der Zweite Weltkrieg zählte deutlich über 50 Millionen Tote - fehlt nicht nur in der Gesellschaft, er fällt auch als Elternteil aus. Zudem erschweren Kriegswirren, Zerstörungen und Nahrungsmittelmangel die Familiengründung. Als nach dem Zweiten Weltkrieg neue Jahrgänge ins zeugungs- und gebärfähige Alter hineinwuchsen und sich gleichzeitig die gesellschaftlichen Verhältnisse verbesserten, zog die Geburtszahl deutlich an, es kam zu einem "Babyboom". Die zwischen 1955 und circa 1965 geborenen nennt man heute noch die "Baby Boomer", neutraler: die geburtenstarken Jahrgänge. In den USA fand diese Entwicklung schon fünf Jahre früher statt, der Babyboom begann 1950.

In den 1960er-Jahren ist jedoch eine neue Entwicklung in den westlichen Gesellschaften eingetreten. Die "Anti-Baby-Pille" hat eine Verhütung sehr viel zuverlässiger ermöglicht. Zum ersten Mal in der Geschichte konnten die Menschen in der Sexualität selbst entscheiden, ob sie Nachwuchs zeugen wollten oder nicht, und das auch bei spontanen sexuellen Kontakten. Die Folge war ein drastischer Rückgang der Geburtenrate, der als "Pillenknick" bekannt wurde. Die Bevölkerungswissenschaftlerin Thusnelda Tivig schreibt dazu in ihrem Artikel: "Nur so wenige Kinder haben zu können, wie man sich wünscht, und ein immer längeres Leben verbringen zu können, sind gewonnene Freiräume."

Aber die Bevölkerungsentwicklung wird, wie gesagt, nicht nur von der Geburtenrate bestimmt, sondern auch durch Lebenserwartung und Zu- oder Fortzüge. Jede dieser Entwicklungen hat jedoch Konsequenzen, erwünschte und unerwünschte. Um diese Konsequenzen geht der Streit, den die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler austragen, wenn sie über das Thema der demografischen Entwicklung diskutieren.

Dabei wird deutlich, dass die Entwicklung in verschiedenen europäischen Ländern sehr unterschiedlich ist, auch wenn die "einheimische Bevölkerung fast aller europäischen Länder altert" (Kröhnert) und Thusnelda Tivig polemisiert: "Der Begriff 'alte Welt' erhält eine demografische Bedeutung." Besonders betroffen sei der ländliche Raum, so Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, er werde durch die demografische Entwicklung ausbluten, allerdings vor allem in den Ländern Osteuropas, während in Frankreich, Großbritannien oder Irland auch die ländlichen Regionen von einer stabilen demografischen Situation profitieren könnten.

Allerdings ist die Europäische Union ein Raum der Freizügigkeit, kein Land kann seine Bürger am Wegzug und die der anderen EU-Länder am Zuzug hindern. Was hier an grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen stattfinden könnte, wird in den meisten Überlegungen noch gar nicht erfasst.

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Was sind nun die Konsequenzen einer niedrigen Geburtenrate bei erhöhter Lebensqualität für die Gesellschaft als Ganze? Hier gehen die Meinungen weit auseinander. Während Steffen Kröhnert davon ausgeht, dass künftiges Wirtschaftswachstum "von den Kosten des demografischen Wandels aufgezehrt" werde, halten beispielsweise Bingler und Bosbach solche Aussagen für unzulässige Dramatisierungen, die von anderen Defiziten der gesellschaftlichen Entwicklung wie zum Beispiel der hohen Arbeitslosigkeit und der unzureichenden Ausbildung Jugendlicher ablenken sollten. Im Gegenteil sehen sie die Entwicklung positiv: "Wenn das Bruttoinlandsprodukt, wie alle Experten annehmen, auch in Zukunft wächst, wenn die Anzahl der Menschen in Deutschland sinkt, trifft ein größerer Kuchen auf weniger Esser. Weshalb sollen dann die meisten den Gürtel enger schnallen?"

Die Gewerkschaften leiten aus der demografischen Entwicklung sozialpolitische Forderungen ab. So fordert der Bezirk Sachsen des Deutschen Gewerkschaftsbundes in einer Anhörung der Europäischen Kommission in Bezug auf den sozialen und territorialen Zusammenhalt die Bereitstellung hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen, betriebliche Ansätze für alternsgerechtes Arbeiten, die Aus- und Weiterbildung zur Sicherung von Fachkräften, die Senkung der Schulabrecherzahlen, die Weiterentwicklung der Infrastruktur zwischen Land und Stadt sowie die Mobilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Die Freie Demokratische Partei (FDP) sieht als Konsequenz aus der demografischen Entwicklung eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit . Eine solche wurde von der Bundesregierung und im Bundestag von den sie tragenden Parteien mittlerweile auch beschlossen, "Rente mit 67" heißt das stark umkämpfte Projekt.

Eine niedrige Geburtenzahl lässt sich - zumindest statistisch - durch eine verstärkte Zuwanderung ausgleichen. Darüber, ob das ein gangbarer Weg sein kann, wird politisch heftig gerungen. Während der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage - die sogenannten Wirtschaftsweisen - eine verstärkte Zuwanderung fordert, um dem Fachkräftemangel beizukommen, warnen andere vor den Folgen einer verstärkten Einwanderung für das Zusammenleben in der Gesellschaft. "Kinder statt Inder", war die Parole des früheren nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers im Wahlkampf 2005. Selbst wenn solche Parolen die jungen Erwachsenen ansprechen und zu einer größeren Kinderzahl führen würden, müssten allerdings 25 bis 30 Jahre ins Land gehen, bevor diese als qualifizierte Arbeitskräfte dem Markt zur Verfügung stünden.

Unabhängig davon muss man der Frage nachgehen, warum sich das generative Verhalten der Menschen in der statistisch beobachtbaren Weise geändert hat. Sind die Auflösung der traditionellen Werte und ein hemmungsloser Egoismus Schuld daran, dass weniger Paare sich für Kinder entscheiden, wie aus der konservativen Ecke gerufen wird, oder hat die Zurückhaltung damit zu tun, dass die Kommunen nicht genügend Kinderbetreuungsplätze und die Betriebe nicht hinreichend Teilzeitarbeitsmöglichkeiten anbieten, wie von der linken und der liberalen Seite zu hören ist?

Richtig ist sicherlich: Immer weniger Frauen, und zwar gerade die gut ausgebildeten, sind bereit, sich einem traditionellen Rollenbild zu fügen und auf eine berufliche Karriere zu verzichten, um Kinder groß zu ziehen. In dem Maße, in dem partnerschaftliche Modelle des Miteinander und Möglichkeiten, Beruf und Kinder zu vereinbaren, fehlen, verweigern sie sich der Familiengründung.

Eine Reihe von Fragen stellen sich also im Bereich der demografischen Entwicklung:

• Warum sinkt die Geburtenrate in den meisten europäischen Gesellschaften?

• Kann der Rückgang der Geburten durch sozialpolitische und betriebliche Maßnahmen aufgefangen werden?

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• Welche Konsequenzen hat die Alterung der Gesellschaft für diese, von der städtischen Infrastruktur über die Organisation von Pflege bis zur Gestaltung der Rente?

• Ist eine verstärkte Einwanderung aus Ländern außerhalb der Europäischen Union eine Lösung des demografischen Knicks oder schafft sie neue Probleme für das Zusammenleben im Land?

• Können Europa und Deutschland ihre wirtschaftliche Spitzenstellung halten, wenn die Arbeitskräfte immer älter werden?

• Wie verändert die demografische Entwicklung die Siedlungsstruktur eines Landes und der EU insgesamt?

Auf viele dieser Fragen geben die nachfolgenden Beiträge Antwort - und sie werfen neue Fragen auf. Eines wird allerdings schnell deutlich, wenn man die Beiträge liest: Eine langweilige und verstaubte Wissenschaft ist die Demografie nicht. Ihre Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zielen auf den Kern der gesellschaftlichen Organisation und gehen uns alle an.

Literatur

Bevölkerung Deutschlands bis 2060. 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung - Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 18. November 2009 in Berlin. Statistisches Bundesamt 2009. (http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pk/2009/Bevoelkerung/ pressebroschuere__bevoelkerungsentwicklung2009,property=file.pdf)

Gerd Bosbach: Demografische Entwicklung - Realität und mediale Aufbereitung, Berliner Debatte Initial 3/2006. (http://www.berlinerdebatte.de/index.php?option=com_virtuemart&page=shop. browse&category_id=11&Itemid=41&lang=german)

Gerd Bosbach/Jens Jürgen Korff: Lügen mit Zahlen - Wie wir mit Statistiken manipuliert werden, München 2011.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage: Rente mit 67 Auszug aus dem Jahresgutachten 2006/07, (Ziffern 324 bis 333). (http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/ fileadmin/dateiablage/download/ziffer/z324_333j06.pdf)

Birgit Sudhoff: Alterssicherung, demographischer Wandel und intergenerationelle Gerechtigkeit, Hamburg 1995.

Thusnelda Tivig/Pascal Hetze (Hrsg.): Deutschland im Demografischen Wandel. Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels, Rostock 2007. (http://www.zdwa.de/zdwa/artikel/ index_dateien/index_060101.php)

Thusnelda Tivig/Golo Henseke/Matthias Czechl: Wohlstand ohne Kinder? Sozioökonomische Rahmenbedingungen und Geburtenentwicklung im internationalen Vergleich, Heidelberg 2011.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 362 Internet aktion2050.de (Internetadresse der Aktion Demografischer Wandel der Bertelsmann-Stiftung. Hier gibt es auch einen Demografie-Monitor für jedes einzelne Bundesland.) (http://www.aktion2050.de) eurelectric.org (Daten und Fakten zum demografischen Wandel, erarbeitet von der Union der Elektrizitätswirtschaft, gefördert von der Europäischen Kommission) (http://www.eurelectric.org/ Demographic/GR/2008demographicchangep8.htm) ec.europa.eu/social (Internetseite der Europäischen Kommission mit Informationen zum demografischen Wandel in Europa) (http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=502&langId=de) destatis.de (Internetseite des Statistischen Bundesamtes im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung) (http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Navigation/Statistiken/Bevoelkerung/ Bevoelkerung.psml;jsessionid=D5BD4555AA0145EA83F46B55973E2D97.internet2)

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Demografischer Wandel in Europa Standpunkt Paul Gans & Ansgar Schmitz-Veltin

Von Prof. Dr. Paul Gans, Dr. Ansgar Schmitz-Veltin 22.11.2010 Prof. Dr. Paul Gans ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsgeographie an der Universität Mannheim.

Dr. Ansgar Schmitz-Veltin ist Sachgebietsleiter "Bevölkerung und Bildung" sowie stellvertretender Abteilungsleiter am Statistischen Amt von Stuttgart.

Europa ist zwar vielfältig - auch demografisch - eine Entwicklung findet dennoch überall statt: die Alterung der Gesellschaften. Paul Gans und Ansgar Schmitz-Veltin zeigen, wie Regionen damit umgehen sollten und fordern eine bessere Kooperation regionale Akteure.

Bevölkerungsrückgang, Alterung, Vereinzelung und Internationalisierung kennzeichnen die zukünftige demografische Entwicklung in Europa. Jeder dieser vier Trends stellt unterschiedliche gesellschaftliche Herausforderungen, deren Dimensionen eng miteinander in Beziehung stehen. Im Fokus des Beitrages stehen die zukünftige Bevölkerungsentwicklung und -alterung. Beide beeinflussen in hohem Maße die Wettbewerbsfähigkeit der Ökonomie und die Qualität der Daseinsvorsorge auf regionaler Ebene.

Die regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung von Eurostat für den Zeitraum von 2010 bis 2030 gibt Hinweise auf die räumliche Vielfalt des demografischen Wandels.

Zwar können die Länder der EU gemäß der Basisvariante eine Zunahme von 499,4 Mio. auf 519,9 Mio. Einwohner oder von etwa 4,1 % erwarten, doch ist dieser mittlere Wert auf Länderebene wenig aussagekräftig wie beispielsweise die gegenläufige Entwicklung in Bulgarien und Irland dokumentiert. Auffallend sind großräumige Verteilungsmuster mit zu erwartenden steigenden Einwohnerzahlen in Skandinavien, mit Stagnation im westlichen und südlichen Europa sowie mit zum Teil deutlichen Bevölkerungsrückgängen in den Beitrittsländern der Jahre 2004 und 2007. Der zukünftige Trend in den ehemals sozialistischen Ländern ist vor allem durch einen Gegensatz zwischen Metropole (Hauptstadt) und Peripherie gekennzeichnet. In den früheren EU-15-Staaten spielen dagegen die Siedlungsstrukturen eine geringere Rolle, wenngleich sich auch hier differenzierte regionale Muster zeigen: in Schweden das Gefälle zugunsten der Agglomerationen in den südlichen Landesteilen, in Deutschland die Unterschiede zwischen Ost und West mit den positiven Trends im Süden und Nordwesten, in Frankreich die günstige Entwicklung entlang des Mittelmeers, der Pyrenäen sowie des Atlantiks, in Spanien das Gefälle von den Küstenregionen im Südosten zu den ländlich geprägten und teilweise altindustrialisierten Gebieten im Nordwesten, in Italien, wo sich das sogenannte Dritte Italien positiv vom Mezzogiorno abhebt.

Die Alterung, die Zunahme der Zahl und/oder des Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung ist in Europa überall zu beobachten. Bildhaft ausgedrückt zeigt sich die Alterung in einer Verbreiterung der Spitze der Alterspyramide als Folge der weiterhin steigenden Lebenserwartung sowie einer sich gleichzeitig verjüngenden Basis aufgrund der Geburtenhäufigkeit unter dem natürlichen Reproduktionsniveau. Der Altenquotient, die Zahl der mindestens 60-Jährigen bezogen auf 100 Personen zwischen 20 und unter 60 Jahren, hat 2010 in vielen westeuropäischen Regionen hohe Werte von mindestens 40 Punkten erreicht, während er in den osteuropäischen Ländern unterdurchschnittliche Anteile aufweist.

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Ein Vergleich mit den Werten für das Jahr 2030 zeigt, dass die Alterung in allen Regionen weiter fortschreiten wird. Ihr Anstieg hängt von verschiedenen Kombinationen der Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit sowie der altersspezifischen Selektivität der Zu- und Abwanderungen ab. Unterschiede in der Intensität der Alterung bestehen zwischen Agglomerationen und ländlichen Räumen, aber auch zwischen Regionen mit vergleichbarer Siedlungsstruktur. So wandern z. B. aus strukturschwachen Regionen vor allem junge Erwachsene auf der Suche nach Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen ab. In wachstumsstarken Gebieten dämpft deren Zuzug die Alterung und wirkt sich positiv auf die Zahl der Geburten aus. Dagegen beschleunigt sich der Alterungsprozess in den Abwanderungsgebieten, aber auch in landschaftlich und/oder klimatisch attraktiven Räumen aufgrund des überproportionalen Zuzugs älterer Menschen.

Welche Herausforderungen und welche Handlungsfelder können für die regionale Entwicklung abgeleitet werden? Rückgang und Alterung der Bevölkerung verringern das Arbeitskräftepotential, insbesondere das jüngerer Erwachsener. Zudem gefährdet die Alterung in Gebieten mit geringer Bevölkerungsdichte die Lebensqualität der Menschen. Denn in ländlichen Gebieten wird eher als in städtischen Räumen die Tragfähigkeit von sozialen, kulturellen und technischen Infrastrukturen sowie von privaten Dienstleistungen unterschritten. Der Zugang zu vorhandenen Angeboten wird zusätzlich durch die größeren Distanzen zwischen den verschiedenen Standorten erschwert.

In Finnland implementierte die Regierung Anreize, damit ältere Erwerbspersonen länger arbeiten, fördert Weiterbildungsmaßnahmen, zeichnet "best practice"-Beispiele zur Propagierung der Weiterbeschäftigung Älterer aus und hat 2005 das offizielle Renteneintrittsalter abgeschafft. Zum Erhalt der Infrastruktur sowie zur Verbesserung von Beschäftigungschancen startete die Regierung ein Pilotprojekt in der dünn besiedelten Region Kainuu. Sie übertrug dem Regional Council 2004 die Verantwortung für die regionale Entwicklung, bei der Nachfrage-Angebot-Überlegungen die Grundlage bilden sollen.

Eine regionale Bevölkerungsvorausberechnung ergab eine ab 2010 stark ansteigende Zahl von Personen, die das Rentenalter erreichen. Die hieraus abgeleitete Nachfrage zum Beispiel nach sozialen und gesundheitlichen Infrastrukturen stellt die Gemeinden vor finanzielle Probleme - zum einen aufgrund erhöhter Nachfrage nach Dienstleistungen im regionalen Zentrum, zum anderen aufgrund des Wegbrechens der Nachfrage in den kleineren Siedlungen, da viele ältere Menschen bevorzugen, in zentralen Orten mit ihrer besseren Infrastruktur zu leben. Der Regional Council organisierte in Abstimmung mit den Kommunen beispielsweise gemeindeübergreifende Angebote in der Gesundheitsversorgung.

Zudem baute man auf der Basis von Pilotprojekten die Informations- und Kommunikationstechnologie aus, um älteren Menschen Zugang zu Versorgungsangeboten von zu Hause aus zu ermöglichen. Ziel ist, dass Ältere möglichst lange im eigenen Haus wohnen und sich selbst versorgen. Gegenwärtig dient die Vernetzung mit Breitbandkabel dazu, ein Kompetenzcluster Seniorpolis aufzubauen. In Kooperation mit Forschungseinrichtungen will man zum Beispiel Produkte, Wissen und Konzepte zur Verbesserung von Dienstleistungsangeboten für Ältere entwickeln.

Dass der demografische Wandel aber auch in dicht besiedelten Regionen zu einem immer bedeutsameren Thema wird, zeigt das Beispiel der Metropolregion Rhein-Neckar. Aufbauend auf einer Analyse zur zukünftigen Bevölkerungsentwicklung wurde hier 2007 die Regionalstrategie Demografischer Wandel entwickelt. Ihr Ziel ist es, für die durch den demografischen Wandel entstehenden Herausforderungen zu sensibilisieren und die Region zukunftsfest zu machen.

Dabei setzt die auf Initiative des Verbands Region Rhein-Neckar, verschiedener Kammern und Unternehmen ins Leben gerufene Strategie auf die Einbeziehung aller regionalen Akteure aus Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft. Durch den Aufbau von Strukturen wie einem zentralen Lenkungskreis, Themenkoordinatoren und verschiedenen Expertengruppen und Arbeitskreisen soll die Abstimmung und Kommunikation innerhalb der Region gestärkt werden. Darüber hinaus hat die

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Regionalstrategie das Ziel, durch die Bündelung von Informationen und Aktivitäten sowie den Aufbau einer eigenen Homepage möglichst viele Akteure zu erreichen. Schließlich sollen in ausgewählten zentralen Handlungsfeldern zukunftsweisende Produkte entwickelt werden, um die Region für den demografischen Wandel fit zu machen.

Die beiden Beispiele zeigen, dass der demografische Wandel Herausforderungen für Regionen mit ganz unterschiedlichen Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen stellt und dass generelle Handlungsempfehlungen nur schwer zu treffen sind. Ziel sollte die Implementierung regionaler Kooperation und Koordination in mehreren aufeinander folgenden Schritten sein. Zuerst sollte bei allen Akteuren aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und freier Trägerschaften sowie auch bei der Bevölkerung auf regionaler Ebene ein Problembewusstsein geschaffen werden.

In einem zweiten Schritt sind Kommunikationsstrukturen zu implementieren, die einen Informationsaustausch zwischen den Akteuren über die regionalen Stärken und Schwächen ermöglichen. Aus gemeinsamen Zielvorstellungen zur zukünftigen regionalen Entwicklung wären dann in einem dritten Schritt konkrete Handlungskonzepte abzuleiten, die zwischen den Akteuren abgestimmt sind. Ihre Umsetzung in den verschiedenen Handlungsfeldern kann in unterschiedlichen Formen institutionalisiert werden.

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Der demografische Wandel in Europa schafft enorme regionale Verwerfungen Standpunkt Steffen Kröhnert

Von Dr. Steffen Kröhnert 25.3.2011

Dr. Steffen Kröhnert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Deutschlands Osten wird zu den größten Demografie-Verlierern gehören, meint Steffen Kröhnert, ebenso wie der Osten Europas. Der demografische Trend kann seiner Meinung nach nicht mehr aufgehalten werden, aber seine Auswirkungen abgemildert.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1990 endete nicht nur die politische Teilung Europas, auch die demografische Entwicklung veränderte sich in den meisten Ländern des Kontinents entscheidend. Als sich die Schlagbäume öffneten, entflohen die Menschen zu Millionen den schwierigen Lebensbedingungen in den ehemaligen Ostblock-Staaten. Zusätzlich dazu strömen jährlich hunderttausende Nicht-Europäer auf den Kontinent, um nach Arbeit und einer besseren Zukunft zu suchen. Die europäische Integration machte selbst jene Länder Westeuropas, die bislang Abwanderungsgebiete waren, zu neuen Zielen der Migration. Vor allem Spanien, wo sich die Zahl der Ausländer zwischen 1995 und 2006 fast verachtfachte. Oder Italien, wo die Ausländerzahl in dieser Zeit auf das Dreifache anstieg. In Irland endete 1993 gar eine 150-jährige Auswanderungsgeschichte. Der wirtschaftliche Boom machte Irland bis 2007 zu einem der wichtigsten Zuwanderungsländer des Kontinents - zwischen 1995 und 2006 hat sich die Zahl der dort lebenden Ausländer verdoppelt. Selbst Finnland und Portugal verzeichneten fast doppelt so viele Ausländer wie noch 1995.

Aber auch auf die natürliche Bevölkerungsentwicklung, vor allem auf die Zahl der Geburten, nahm die veränderte politische Situation Einfluss. Überall in Mittel- und Osteuropa boten sich den Menschen plötzlich neue Lebensoptionen, viele waren durch den massiven Abbau von Arbeitsplätzen aber auch verunsichert und verschoben Familiengründungen auf später. Die Geburtenzahlen brachen auf teils dramatische Weise ein. In Ostdeutschland erreichte die durchschnittliche Kinderzahl je Frau, die etwa zwei betragen müsste, wenn die Bevölkerung ohne Zuwanderung stabil bleiben soll, im Jahr 1993 vorübergehend ein Niveau von nur mehr 0,77. Eine "halbierte Generation" kam zur Welt. Doch auch Rumänien und Bulgarien, Estland und Lettland, Polen und Ungarn erlebten die demografischen Auswirkungen des Systemwechsels auf die Fertilität, meist verstärkt durch die Abwanderung vor allem junger Menschen im potenziellen Familiengründungsalter. Die Kinderzahlen je Frau sanken auf Werte, wie sie in west- und südeuropäischen Ländern mit fehlender oder unmoderner Familienpolitik schon länger zu verzeichnen sind - auf etwa 1,3 Kinder je Frau oder gar darunter. Dies bedeutet, dass jede Kindergeneration ein Drittel kleiner ist, als die ihrer Eltern.

Die einheimische (autochthone) Bevölkerung fast aller europäischen Länder altert und schrumpft. Bereits ab 2010 wird in der Europäischen Union die Bevölkerung im Erwerbsalter zwischen 15 und 65 Jahren abnehmen. Dann gehen nach und nach die starken Geburtsjahrgänge der 1950er- und 1960er- Jahre in den Ruhestand. Da alle später geborenen Jahrgänge zahlenmäßig kleiner sind, wird die Erwerbsbevölkerung anschließend kontinuierlich schrumpfen. In Deutschland wird die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter in den kommenden 50 Jahren aktuellen Prognosen zufolge um etwa 30 Prozent abnehmen. Dies ist historisch eine völlig neue Situation - denn in der Vergangenheit stand wirtschaftliches Wachstum stets auch mit einer Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen in

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Zusammenhang. In Zukunft kann nur noch technologische Innovation den Wohlstand der Menschen sichern. Auch wenn dies für angespannte Arbeitsmärkte zunächst eine Entlastung bedeutet - auf lange Sicht dürfte diese Entwicklung zu einem Mangel an qualifizierten Erwerbstätigen führen und so zur Innovationsbremse werden.

Die Auswirkungen der demografischen Entwicklung sind regional sehr verschieden. In der Gegenwart zeigt sich der Effekt anhaltend niedriger Kinderzahlen vor allem in peripheren, ländlichen Gebieten, in denen früher kinderreiche Familien die Regel waren. Diese Regionen haben immer schon die nachwuchsärmeren und wachsenden Ballungszentren mit jungen Menschen versorgt. Seit aber selbst in der Peripherie die Kinderzahlen je Frau zum Teil weit unter den Wert von 2,1 gesunken sind, der eine langfristig stabile Bevölkerungszahl verspricht, haben entlegene Regionen der Abwanderung nichts mehr entgegenzusetzen. Sie bluten demografisch aus. Nur in Staaten mit höherer Fertilität und anhaltender Zuwanderung, etwa in Frankreich, Irland oder Norwegen, gibt es genug Menschen, um auch in ländlichen Regionen die Bevölkerungszahlen zu stabilisieren.

Das europäische Statistikamt Eurostat geht davon aus, dass bis 2030 für drei Viertel aller europäischen Regionen die Zuwanderung der einzig mögliche Wachstumsfaktor sein wird (Eurostat- Regionalprognose 2004 bis 2030). Die Hälfte dieser Gebiete wird trotz Zuwanderung einen Bevölkerungsrückgang erleben, weil der natürliche Bevölkerungsrückgang - der Überschuss von Sterbefällen über die Geburten - dort besonders groß ist. Nur ein Viertel aller Regionen erreicht Stabilität oder Wachstum aus eigener Kraft. Ohne Zuwanderung von außen würde die Bevölkerung der EU bis 2050 um etwa 50 Millionen Menschen schrumpfen (Eurostat-Länderprognose 2007 bis 2050).

Im zentraleuropäischen Gebiet, das von Südschweden und Dänemark über Westdeutschland bis nach Norditalien, Ostösterreich und Slowenien reicht, wird der attraktive Wirtschaftsraum voraussichtlich für eine stabile, gleichwohl alternde Bevölkerung sorgen. Deutschlands Osten wird weiterhin zu den größten Verlierern gehören, vor allem weil es dort schon heute an jungen Menschen und damit potenziellen Eltern fehlt. Ein Phänomen, das ebenso in Rumänien und Bulgarien, in Teilen Polens und Italiens sowie in den noch weiter östlich gelegenen Nicht-EU-Ländern zu erwarten ist. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks steht der stärkste Bevölkerungsrückgang bevor. Auch dort werden Staaten in Zukunft aufgrund ihrer niedrigen Geburtenraten Zuwanderer benötigen. Der Blick geht dabei im Allgemeinen immer weiter nach Osten. Aber auch da haben Länder wie die Ukraine oder die Republik Moldau kaum noch junge Menschen zu bieten.

Der Einfluss der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 auf diese Regionalprognosen ist noch nicht völlig abzuschätzen doch er scheint gering. Für kleine, besonders betroffene Länder, wie etwa Island oder Irland, könnten sich bisherige Annahmen zur Zuwanderung als zu hoch erweisen. Auch sind Rückwanderungen aus bestimmten Ländern mit zuletzt hoher Einwanderung, wie etwa Spanien, denkbar. An den übergreifenden demografischen Trends - Nachwuchsmangel, Alterung und Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung, Zunahme des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund und Entleerung der peripheren Räume - wird sich dadurch jedoch nichts ändern.

Der demografische Wandel lässt sich nicht aufhalten. Man kann lernen mit ihm umzugehen und seine Auswirkungen zu mildern. Auf der Welt insgesamt wird auch künftig kein Mangel an Menschen herrschen. Allein die Bevölkerung Afrikas wächst jedes Jahr um etwa 20 Millionen. Ein neues wirtschaftliches Zentrum der Welt könnte in Südostasien entstehen, wo Millionen junge Menschen als potenzielle Produzenten und Konsumenten vor dem Eintritt ins Erwerbsleben stehen. Doch hierzulande dürfte es einen Wohlstandszuwachs, wie ihn speziell die Deutschen aus vergangenen Jahrzehnten gewohnt waren, für die Mehrheit der Menschen nicht mehr geben. Das Wirtschaftswachstum der Zukunft - sollten wir welches haben - wird von den Kosten des demografischen Wandels aufgezehrt.

In Ländern mit relativ hoher Fertilität und anhaltender Zuwanderung wie Frankreich, Großbritannien oder Irland können auch ländliche Regionen profitieren und verzeichnen eine stabile bis wachsende demografische Situation. In den Ländern Osteuropas, die demografisch stark schrumpfen, stabilisieren

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 368 sich in der Regel nur Metropolregionen. Der ländliche Raum droht demografisch auszubluten.

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Die Demografie als Sündenbock: Wie Rechnungen ohne den Wirt gemacht werden Standpunkt Gerd Bosbach & Klaus Bingler

Von Klaus Bingler, Prof. Dr. Gerd Bosbach 23.3.2011 Klaus Bingler ist Journalist und schreibt schwerpunktmäßig über die Themen Medizin, Gesundheitswesen und Soziales.

Prof. Dr. Gerd Bosbach lehrt am Fachbereich Betriebs- und Sozialwirtschaft des Rhein-Ahr-Campus Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung, Mathematik und Statistik.

Gerd Bosbach und Klaus Bingler warnen vor demografischen Horrorszenarien: Die Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung würden zu oft als Fakten missverstanden, fehlinterpretiert und könnten künftige Veränderungen nicht wirklich vorhersagen.

Demografie gilt manchem als eine trockene Wissenschaft, die mit abstrakten Zahlen und Statistiken operiert und ein größeres Interesse allenthalben bei einem kleinen Kreis von Fachleuten hervorruft. Betrachtet man jedoch die öffentlichen Debatten der letzten Jahre, könnte man eines anderen belehrt werden. Denn gewisse Ergebnisse dieser angeblich so nüchternen Forschungsdisziplin scheinen einen emotionalen und ideologischen Sprengstoff zu bergen, wie ihn in früheren Jahrhunderten vielleicht nur die Theologie enthielt.

So drohen alle Dämme des kühlen Sachverstands besonders dann zu brechen, wenn es um die zukünftige Bevölkerungsentwicklung geht. Die damit zusammenhängenden Fragen beschäftigen die Gemüter in Deutschland in bestimmten Intervallen bereits seit mehr als einem Jahrhundert. In den letzten Jahren hat die Debatte wieder an Sprengkraft gewonnen. Politiker und scheinbar seriöse Medien malen regelrechte Horrorszenarien an die Wand: Man spricht von einer vergreisenden und aussterbenden deutschen Bevölkerung und droht gar mit dem Krieg der Generationen. Denn es gebe zu wenig Kinder und Jugendliche, um die immer mehr werdenden Rentner zu ernähren. Da würden nur Einschnitte bei den Rentenzahlungen, etwa durch ein höheres Renteneinstiegsalter, weiterhelfen. Und auch im Gesundheitsbereich komme man ohne deutliche Einschnitte nicht aus.

Eine Rechnung, die ohne den Volkswirt gemacht wird

Auch wenn eine solche Sichtweise viele Menschen zu bestechen vermag - die Rechnung, die hier aufgestellt wird, ist fehlerhaft, da sie ohne den Wirt - und zwar, genauer gesagt, den Volkswirt - gemacht wurde. Denn bei dieser Argumentation wird ausgeklammert, dass der prekäre Zustand unserer Sozialsysteme von bestimmten volkswirtschaftlichen Bedingungen abhängt. Dazu gehören vor allem der zu geringe Anteil der Vollbeschäftigten und das relativ niedrige Lohnniveau in Deutschland. Daraus ergibt sich ein negativer Effekt auf das Beitragsvolumen der Sozialkassen. Es ist also nicht die zu geringe Zahl an Erwerbsfähigen und die zu hohe Zahl an Rentnern, die wie unterstellt unseren Sozialsystemen zu schaffen macht.

Ähnlich einseitig und verkürzt verläuft die Debatte, wenn es um den angeblich demografisch bedingten Facharbeitermangel geht. Gerne wird argumentiert, dass die Ursache dafür der Rückgang der Zahl junger Menschen ist. Der wirkliche Grund liegt aber darin, dass vor allem in den Jahren 1995 bis 2005 viel zu wenig ausgebildet wurde. Die damals abgewiesenen Jugendlichen wären heute 25 bis 35-

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 370 jährige Facharbeiter und stünden dem Arbeitsmarkt selbst ohne Rentenanhebung noch 30 bis 40 Jahre zur Verfügung! Statt über Nachwuchsmangel zu klagen, sollten die existierenden Jugendlichen bestens ausgebildet werden. Davon sind wir aber weit entfernt, wie ein Blick in Schulen und Hochschulen eindrücklich belegt.

Die demografischen Veränderungen im letzten Jahrhundert waren enorm

Wer davor warnt, dass die demografische Entwicklung Deutschlands auf einen Abgrund zusteuert, sollte den Blick einmal zurückwenden und sich klarmachen, welche gewaltigen Veränderungen in Deutschland bereits im letzten Jahrhundert stattgefunden haben:

• Die Lebenserwartung hat sich um mehr als 30 Jahre erhöht.

• Der Anteil von Jugendlichen und Kindern an der Gesamtbevölkerung ist von 44 auf 21 Prozent gesunken.

• Der Anteil der Menschen, die über 65 Jahre alt sind, ist von weniger als 5 Prozent auf über 16 Prozent gestiegen, also auf mehr als das Dreifache.

Angesichts solcher Umwälzungen hätte es nach Auffassung der heutigen Dramatisierer eigentlich zu einem totalen Zusammenbruch der Sozialsysteme kommen müssen. Wir alle wissen, dass dies nicht geschehen ist, dass innerhalb des letzten Jahrhunderts die sozialen Sicherungssysteme stattdessen entscheidend ausgebaut werden konnten und der Lebensstandard der deutschen Bevölkerung deutlich verbessert wurde, und das bei einer massiven Reduzierung der Arbeitszeit!

Möglich sind nur Modellrechnungen, aber keine Prognosen

Wenn es um die drohende "Schrumpfung und Überalterung" der Bevölkerung geht, stützt man sich in der öffentlichen Diskussion vor allem auf die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes. Dabei wird jedoch allzu gerne unterstellt, dass es sich hierbei um regelrechte Prognosen handelt. Die Verfasser des Statistischen Bundesamtes selbst tun dies mitnichten und sprechen ihren Berechnungen lediglich Modellcharakter zu. Sie legen dabei bestimmte Annahmen zu Lebenserwartung, Geburtenzahl und Wanderungssalden zugrunde. Von diesen Annahmen gibt es mehrere Varianten, die dementsprechend auch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. So wurden in der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung von 2009 zwölf Modellrechnungen erstellt, die für das Jahr 2060 eine Bevölkerungszahl zwischen 61,8 und 76,9 Millionen Menschen ergeben. Es handelt sich also um eine Abweichung zwischen den Varianten von gut 15 Millionen, von Sicherheit also keine Spur. Vernünftige Zukunftsprognosen über einen Zeitraum von 30 oder gar 50 Jahren sind eben nicht möglich. Man ist lediglich dazu in der Lage, bestehende Trends fortzuschreiben. Dabei werden Strukturbrüche notwendigerweise ausgeklammert. So konnte 1950 niemand bei einer Schätzung für 2000 wissen, welche Auswirkungen etwa der Pillenknick oder der Zuzug ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien, der Zuzug von Aussiedlern aus Osteuropa in den nächsten Jahrzehnten mit sich bringen sollte. Auch die veränderten Einstellungen zu Familie und Kindern - erst die geburtenstarken Jahrgänge, dann der Trend zu Kleinfamilie oder Single-Dasein - ahnte 1950 keiner. So werden auch zukünftige Strukturbrüche die heutigen langfristigen Vorhersagen zu Makulatur werden lassen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 371 Eine einseitige Sichtweise führt zu Panik

Leider werden in der Öffentlichkeit Modellrechnungen allzu häufig als Fakten verkauft und obendrein einseitig interpretiert. Dies lässt sich in besonderer Weise am Beispiel des sogenannten Altenquotienten verdeutlichen. Öffentlich wird damit eine unbezahlbare Belastung der Erwerbstätigen durch steigende Rentnerzahlen suggeriert. Dieses Ergebnis erhält man allerdings nur, wenn man übersieht, dass Erwerbstätige auch die Kinder, die nichterwerbstätigen Erwachsenen und vor allem sich selbst zu ernähren haben. Berücksichtigt man all dies, steigt die Belastung durch die Zunahme Älterer gerade mal um 18% in 50 Jahren. Das entspricht weniger als 0,4 % pro Jahr. Durch Fokussierung auf nur einen Ausgabeanteil und Zusammenrechnen von 50 Jahren Steigerungen wird für die Dramatisierer daraus eine Verdopplung der Belastung. Übrigens ist der Bierpreis in den letzten 45 Jahren um gut 300 % gestiegen, ohne dass Bier ein Luxusgetränk geworden wäre.[1]

Die Demografie soll von den eigentlichen Problemen ablenken

Es drängt sich der Eindruck auf, dass mit Hilfe der Demografie von wirklichen Problemen abgelenkt wird. Dazu zählt beispielsweise die immer noch hohe Arbeitslosigkeit. Sie führt zum einen dazu, dass es den Sozialkassen an Einnahmen fehlt und zum anderen hohe Kosten für die Sozialversorgung anfallen. Dass sich zudem die Arbeitgeber immer mehr aus der Parität zurückziehen, trägt sicher auch nicht zur Entschärfung der Situation bei. Zu guter Letzt eine einfache volkswirtschaftliche Betrachtung. Wenn das Bruttoinlandsprodukt, wie alle Experten annehmen, auch in Zukunft wächst, wenn die Anzahl der Menschen in Deutschland sinkt, trifft ein größerer Kuchen auf weniger Esser. Weshalb sollen dann die meisten den Gürtel enger schnallen?[2].

[1] s. dazu "Lügen mit Zahlen", S. 163.

[2] Uns liegt als pessimistischste Annahme für die BIP-Entwicklung ein durchschnittliches Wachstum von 1% vor. Die Überlegung gilt aber selbst bei einem kaum vorstellbaren längerfristigen "0-Wachstum".

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Demografische Standortrisiken für Unternehmen Standpunkt Thusnelda Tivig

Von Prof. Dr. Thusnelda Tivig 25.3.2011 Prof. Dr. Thusnelda Tivig ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Universität Rostock und Leiterin der Forschungsgruppe "Alternde Erwerbsbevölkerung" im Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels.

Fachkräfteangebot, Produktivität und Innovationsfähigkeit: Die Demografie kann Einfluss auf Standortfaktoren haben. Belastbare Prognosen für die Entwicklung einzelner Regionen gibt es jedoch nicht, meint Thusnelda Tivig, und hofft auf weitere Studien.

Europas Bevölkerungen altern in noch nie dagewesener Weise. Der Hauptgrund ist die geringe Kinderzahl, der Anstieg der Lebenserwartung trägt aber auch dazu bei. Der Begriff "alte Welt" erhält eine demografische Bedeutung.

Die Einwohnerzahl sinkt in einigen Regionen, während sie in anderen steigt. Im Durchschnitt rechnet man bis 2030 mit einer Zunahme der Bevölkerung in der EU um voraussichtlich 5 Prozent. Sie wird wesentlich von Zuwanderung getragen.

Durch Zuwanderung nimmt die ohnehin große ethnische Vielfalt in der EU weiter zu. Gleichzeitig trägt der soziale Wandel zur Erhöhung der Vielfalt in der Bevölkerung bei. Neue Partnerschaftsformen, mannigfaltige Lebensentwürfe, eine sichtbare Ausdifferenzierung Älterer prägen heute die Gesellschaft.

Wie ist der demografische Wandel zu bewerten?

Die Bewertung der demografischen Entwicklungen hängt vom Blickwinkel ab. Auf individueller Ebene ist der Wandel eine Erfolgsgeschichte. Nur so wenige Kinder haben zu können, wie man sich wünscht, und ein immer längeres Leben verbringen zu können, sind gewonnene Freiräume.

Auf gesellschaftlicher Ebene kann die gesteigerte Reformbereitschaft als Chance gesehen werden. Unter dem demografischen Druck nimmt man sich auch Problemen an, deren Lösung längst fällig war, wie die Entkoppelung des Bildungszugangs von der Herkunft, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder die Erwerbsbeteiligung Älterer. Die gesellschaftlichen Herausforderungen liegen vor allem in der Anpassung der Institutionen (von den Sozialversicherungen bis zum Wehrdienst) und in der Aufrechterhaltung des Wohlstands.

Die Wohlstandswahrung entscheidet sich zu einem großen Teil auf der Unternehmensebene. Der demografische Wandel bietet Unternehmen Chancen im Bereich neuer Produkte und Dienstleistungen für Ältere und Hochaltrige. Die Frage ist, ob es den Betrieben gelingen wird, mit alternden Belegschaften und trotz Nachwuchs- und Fachkräftemangels innovativ und produktiv zu bleiben.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 373 Entwicklung der Erwerbsbevölkerung

Selbst optimistische Prognosen wie die 2008 Vorausberechnung von Eurostat zeigen, dass der Nachwuchs nahezu allerorts knapp wird und die Erwerbsbevölkerung in der Regel selbst dort schrumpft, wo die Gesamtbevölkerung noch wächst.

Auf EU-Ebene wird mit einem zahlenmäßigen Rückgang der jüngeren, erwerbsfähigen Altersgruppen 15-24, 25-34 und 35-44 Jahre von durchschnittlich 15-20 Prozent gerechnet; das gleichzeitige starke Anwachsen der "Best Agers"-Gruppe 55- bis 64- Jähriger kann diesen Rückgang nicht kompensieren: Die Erwerbsbevölkerung der EU geht nach neuester Prognose im Zeitraum 2008-2030 um 3,4 Prozent zurück.

Unterschiede zwischen den Regionen eines Landes sind dabei häufig größer als zwischen den Ländern. So wächst die Erwerbsbevölkerung Hamburgs um voraussichtlich 27 Prozent, während sie in Dresden um 35 Prozent zurückgeht. In Zypern wird für die 15- bis 64-Jährigen ein Zuwachs von 26 Prozent erwartet, in Bulgarien ein Rückgang von 18 Prozent. Dazwischen liegen unter anderem Deutschland mit -12 Prozent, die Niederlande mit -6 Prozent, Frankreich mit einer voraussichtlich konstanten Erwerbsbevölkerung und Großbritannien mit 5 Prozent Wachstum.

Standortentscheidungen in Zeiten des demografischen Wandels

Noch sind demografische Unterschiede keine wesentliche Determinante von unternehmerischen Standortentscheidungen; das könnte sich allerdings ändern, wenn sie weiter zunehmen. Selbst dann könnte aus einer ungünstigen demografischen Entwicklung jedoch nicht unmittelbar auf ein demografisches Standortrisiko geschlossen werden.

Um ein solches festzustellen, muss zunächst geprüft werden, welche demografie-sensiblen Standortfaktoren für ein Unternehmen oder eine Branche besonders wichtig sind: das Arbeits- und Fachkräfteangebot, die Arbeitsproduktivität, die Innovationsfähigkeit? Danach kann versucht werden, den Einfluss demografischer Entwicklungen auf diese Standortfaktoren zu quantifizieren. Anschließend ist der weitere Kontext in Form von ungenutzten Kompensationspotenzialen, unterstützenden Politikmaßnahmen und persönlichen Einstellungen in der Arbeitsbevölkerung zu berücksichtigen. Erst aus dem Zusammenspiel all dieser Faktoren kann auf das Vorliegen demografischer Standortrisiken oder Standortchancen für Unternehmen geschlossen werden.

Beispiel Arbeitskräfteangebot

Die Zusammenhänge lassen sich am besten anhand des Standortfaktors "Verfügbarkeit von Arbeitskräften" veranschaulichen. Ein passender Indikator sind altersspezifische Beschäftigungsraten; sie sind für die 25- bis 54-Jährigen hoch, für die Älteren aber niedrig. Die altersgruppenspezifische Bevölkerungsentwicklung zeigt aber, dass bis 2030 mit wenigen regionalen Ausnahmen nur die Gruppe der über 55-Jährigen zahlenmäßig zulegt, während die Zahl der 25- bis 44-Jährigen stark sinkt. Das bedeutet, es nehmen die Gruppen ab, deren Erwerbsbeteiligung hoch ist und die Gruppen zu, deren Beschäftigungsrate niedrig ist. Ohne eine Ausweitung der Beschäftigung Älterer ist daher selbst aus einer regionalen Zunahme der Erwerbsbevölkerung noch kein Vorteil abzuleiten.

Zudem gibt es Kompensationspotenziale, die in verschiedenen Ländern und Regionen sehr unterschiedlich ausfallen: die ungenutzte Arbeitskraft von Erwerbslosen, insbesondere von Frauen und Älteren; das Potenzial von Frauen in Teilzeit; das Arbeitsangebot möglicher Einpendler. Regionen in Österreich, den Niederlanden, Schweden, Westdeutschland, Belgien und Großbritannien profitieren von einem Kontext, der im EU-weiten Vergleich neutral bis sehr günstig ist. In Frankreich und Italien wirkt die Berücksichtigung von Kompensationspotenzialen hingegen eher negativ, in Spanien, Griechenland, Portugal und in Regionen ehemals sozialistischer Länder sogar deutlich verschlechternd auf das Zusammenspiel von Standortqualität und demografischer Entwicklung.

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Standortfaktor Fachkräfteangebot

Für den Standortfaktor Fachkräfteangebot ist abzuschätzen, ob Kontextfaktoren wie Bildungsinvestitionen, das ungenutzte Potenzial hoch ausgebildeter Frauen oder die Verbreitung von Weiterbildung die demografisch bedingten Änderungen in der Altersstruktur der Fachkräfte kompensieren können. Es zeigt sich, dass dies in vielen österreichischen, westdeutschen, italienischen, griechischen und spanischen Regionen nicht der Fall ist, in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Finnland, Schweden sowie Ostdeutschland hingegen schon. Dabei resultieren mögliche Engpässe in Deutschland trotz der kumulierten Ost-West Wanderung im Westen primär aus dem vergleichsweise geringen Anteil hoch Ausgebildeter an der Erwerbsbevölkerung, im Osten stattdessen primär aus der ungünstigen demografischen Entwicklung. Andere Standortfaktoren wie Arbeitsproduktivität und Innovationsfähigkeit lassen sich auf ähnliche Weise unter die Lupe nehmen.

Regional vergleichende Betrachtungen

Global agierende Unternehmen stellen auch globale demografische Überlegungen an. So gibt es jenseits der genannten Kompensationspotenziale die Möglichkeit, sich auf internationale Wanderarbeiter zu verlassen oder eine eigene, international mobile Gruppe von Arbeitskräften aufzubauen, um sie bei lokalen Engpässen flexibel einzusetzen. Ferner kann in arbeitssparenden technischen Fortschritt investiert werden. Beides ist jedoch mit hohen Kosten verbunden, insbesondere wenn es um den Ersatz gut ausgebildeter Fachkräfte geht. Die Bedeutung der regionalen Verfügbarkeit von Arbeits- und Fachkräften und ihrer (kreativen) Produktivität bleibt daher auch in einer globalisierten Wirtschaftswelt hoch und wird im demografischen Wandel nur zunehmen.

Um vergleichende Einschätzungen der regionalen Verfügbarkeit von Arbeits- und Fachkräften vorzunehmen, braucht man vergleichbare Daten. In der EU wird die Basis an vergleichbaren Länder- und Regionaldaten seit einigen Jahren erfreulicherweise ausgebaut. Die demografischen Vorausberechnungen sind jedoch, insbesondere wenn die Betrachtung kleinräumig ist, wenig genau. So wird die Bevölkerung Italiens, die gemäß der 2004 Prognose 2008-2030 um 2,5 Prozent schrumpfen sollte, in der 2008 Prognose für den gleichen Zeitraum als mit 4 Prozent wachsend dargestellt. Für Hamburg berechnete Eurostat 2004, dass es im Zeitraum 2008-2030 einen Bevölkerungszuwachs von 2 Prozent erwarten könne; vier Jahre später wurden 29 Prozent ausgewiesen. Wie sollen Unternehmen und Kommunen auf der Basis solcher Daten längerfristig planen?

Verwirrung oder Orientierung durch immer neue Daten?

Je mehr Bevölkerungsvorausberechnungen produziert werden, desto weniger Orientierung bieten sie. Gleichzeitig fehlen themenbezogene demografische Studien auf Unternehmens- und Branchenebene, etwa zur Altersabhängigkeit der Produktivität oder der altersspezifischen Motivation für Weiterbildung.

Insgesamt ist in den letzten Jahren jedoch ein starkes Anwachsen des öffentlichen Interesses und des Wissens über demografische Zusammenhänge zu beobachten. Hält diese Entwicklung an, so könnten sich Wirtschaft, Politik und Verwaltung bald auf Regeln für die Produktion von Vorausberechnungen einigen und sich anschließend auf die tieferliegenden, kausalen Zusammenhänge konzentrieren. Warum haben wir so wenige Kinder? Wie können wir durch die eigene Lebensführung den Zugewinn an Jahren, die wir bei guter Gesundheit und in Arbeit verbringen, erhöhen? Warum gehen die Menschen trotz der Abschläge so früh in Rente, wie es die Gesetze nur zulassen? Ist die Erfahrung Älterer für die Wirtschaft wirklich so wertvoll, obwohl sie die Erfahrung des Scheiterns (von Umstrukturierungen oder eigener Anstrengungen) mit einschließt? Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ursachen und Folgen demografischer Veränderungen sind mindestens so spannend, wie die Veränderungen selbst.

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Demografie Eine Auswahl von eurotopics.net

31.3.2011

Babyboom in Finnland, niedrige Geburtenrate in Slowenien: Europas Presse diskutiert die demografische Entwicklung. Wie mit alten Arbeitnehmern umgehen? Wer bestimmt das britische Rentenalter? Und weshalb wurden in Frankreich 2010 so viele Kinder geboren?

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Europa braucht seine alten Arbeiternehmer Süddeutsche Zeitung - Deutschland; Donnerstag, 27. Januar 2011

Dänemarks rechtsliberale Regierung will das gesetzliche Rentenalter langfristig auf 74 Jahre anheben. Grund ist ein Mangel an Arbeitskräften. Ein guter Vorschlag, lobt die linksliberale Süddeutsche Zeitung, der sich auch für andere europäische Staaten anbietet: "Wir brauchen sie [die älteren Arbeitnehmer], weil eine schrumpfende Bevölkerung ein Wachstumsrisiko ist. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels werden die Erfahrung und das Wissen älterer Arbeitnehmer für die Unternehmen unverzichtbar. Großbritannien etwa will die gesetzliche Altersgrenze für Berufstätige abschaffen. Das ist keine schlechte Idee. Denn warum sollte jemand nicht länger arbeiten, wenn er das will? Mehr Flexibilität wäre auch hierzulande wünschenswert. Denn wer in Deutschland über das gesetzliche Rentenalter hinaus arbeiten will, braucht meist die Zustimmung seines Arbeitgebers. Die meisten Arbeitsverträge sind an das gesetzliche Rentenalter gekoppelt und enden dann automatisch. Ältere Mitarbeiter sind wertvoll. Sie zu ignorieren, bedeutet, teuer erworbene Erfahrung zu verschleudern. Europa kann sich das nicht mehr leisten. Doch die Europäer können ihre Politik ändern." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE82295- Europa-braucht-seine-alten-Arbeiternehmer)

Franzosen haben Lust Kinder zu bekommen Les Echos - Frankreich; Mittwoch, 19. Januar 2011

In Frankreich wurden im vergangenen so viele Kinder wie seit 30 Jahren nicht geboren worden, nämlich rund 828.000. Das geht aus den aktuellen Zahlen des französischen Statistikamts INSEE hervor. Die Wirtschaftszeitung Les Echos identifiziert drei Gründe für diesen Trend: "Erstens ist die Anzahl erwerbstätiger Frauen in den vergangenen Jahrzehnten immer größer geworden und so haben sich viele von ihnen erst spät dazu entschieden, Kinder zu bekommen. Der zweite Grund ist politischer Natur. Der Staat treibt durch eine Reihe von Maßnahmen wie Kindergeld, Kinderkrippen und Steuervergünstigungen die Geburtenzahlen in die Höhe. ... Die dritte Ursache für unseren demografischen Aufschwung liegt tiefer: Die Franzosen haben einfach Lust, Kinder zu bekommen. In einem Land, in dem alles unsicherer wird, dessen Zukunftsaussichten nicht sehr rosig sind und das Angst vor der sich verändernden Welt hat, entspricht der Kinderwunsch der Lust, sich trotz allem eine Zukunft zu schaffen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE81882- Franzosen-haben-Lust-Kinder-zu-bekommen)

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Partei für die bemitleidenswerten Älteren De Volkskrant - Niederlande; Dienstag, 11. Januar 2011

Der Politiker Jan Nagel hat die Partei 50plus gegründet, die sich für die Rechte der über 50-Jährigen und vor allem die Sicherheit ihrer Rente einsetzen will. Richtig so, handelt es sich doch um eine total vernachlässigte Generation, spottet der Kolumnist Bert Wagendorp in der linksliberalen Tageszeitung De Volkskrant: "Bis vor kurzem hörte man über diese Babyboom-Generation ganz andere Dinge: Sie zogen an allen Strippen, füllten sich großzügig ihre Taschen, hatten ein Grachtenhaus und verbrachten gute Zeiten in ihrem Bauernhäuschen in Burgund. Auf der jüngsten Volkskrant-Liste der 200 einflussreichsten Niederländer steht der erste unter 50-Jährige auf Platz 19 (und ist bereits 49 Jahre alt). Aber das sagt gar nichts. ... Wir haben es mit Opfern von Unrecht und Willkür zu tun, doppelt benachteiligt und schwer gestraft. Und wofür? Weil sie 50plus sind und ihr ganzes Leben lang das Land wiederaufgebaut haben. Geht es noch ungerechter? Nein. Und darum ist es gut, dass es Jan Nagel gibt. Jan Nagel ist der Robin Hood der grauen Welle, er stiehlt von den reichen Jungen und schenkt es den armen Älteren." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE81434- Partei-fuer-die-bemitleidenswerten-Aelteren)

Babyboom zeigt finnischen Optimismus Savon Sanomat - Finnland; Montag, 3. Januar 2011

In Finnland wurden im Jahr 2010 mehr Kinder geboren als jährlich in den vergangenen vier Jahrzehnten zuvor. Der Boom zeigt, dass junge Menschen an die Zukunft glauben, meint die liberale Tageszeitung Savon Sanomat: "Die wachsende Zahl von Babys war in der Hauptstadtregion besonders stark. ... Einer der Gründe für das Phänomen ist, dass viele junge Paare zum Studieren oder Arbeiten aus anderen Teilen des Landes in die Region gezogen sind. Der landesweite Babyboom bedeutet zudem, dass junge Erwachsene an die Zukunft glauben. Das Phänomen ist auch anderswo in Europa zu beobachten. Obwohl die Unsicherheit in der Euroregion groß ist, hindert das die Menschen nicht daran, ein Kind zu bekommen. Ein gutes Beispiel dafür ist auch Deutschland, wo Babys im Rekordtempo geboren werden. In Finnland ist die durchschnittliche Geburtenrate pro Frau von 1,73 im Jahr 2000 nun schon auf 1,86 gestiegen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE81004- Babyboom-zeigt-finnischen-Optimismus)

Briten sollen ihr Rentenalter selbst bestimmen The Times - Großbritannien; Freitag, 30. Juli 2010

Die britische Regierung plant Arbeitgebern zu verbieten, Arbeitnehmer gegen ihren Willen in Rente zu schicken, wenn diese 65 Jahre alt sind. Die Tageszeitung The Times ist begeistert: "In früheren Jahrzehnten, als die Arbeitswelt vom herstellenden Gewerbe dominiert wurde, waren physisch schwächer werdende Arbeitnehmer eine Bremse der Produktivität. Aber in einer Wirtschaft, die durch Dienstleistungen und die Anwendung von Wissen charakterisiert ist, können ältere Arbeitnehmer viel mehr beitragen. Ein zwingendes Rentenalter ist weder für sie von Nutzen noch ein Weg, die Produktivität der Beschäftigten zu erhöhen. Im Gegenteil, es belastet die alternde Gesellschaft, indem es die Kosten des Rentensystems erhöht. Der Vorschlag, den Rentenzwang zu verbieten, würde dieses Problem allein durch seinen Symbolcharakter verbessern. Indem man deutlich macht, dass ältere Arbeitnehmer einen wichtigen Beitrag zur Arbeitswelt leisten, könnte die Regierung viele überzeugen in ihr zu verbleiben. Sie werden sowohl Steuern zahlen als auch Renten beziehen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE73714- Briten-sollen-ihr-Rentenalter-selbst-bestimmen)

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Private Rente löst Demografieproblem nicht Magyar Hírlap - Ungarn; Mittwoch, 6. Januar 2010

Die private Rentenvorsorge sei eine riskante Lösung für die demografische Krise des Westens, schreibt die rechtskonservative Zeitung Magyar Hírlap. "Das System der privaten Rentenvorsorge bietet scheinbar einen Ausweg aus der Misere. Dieser Schein trügt aber insofern, als die privaten Rentenkassen die Einzahlungen der künftigen Rentner in die Aktien von transnationalen Unternehmen investieren, die in solchen Regionen der Welt Extraprofite erzielen, wo einerseits die Geburtenrate hoch ist, andererseits die Lohnkosten äußerst niedrig sind. ... Das Problem dabei ist, dass man bei diesem Pyramidenspiel auch verlieren kann, weil jene Weltregionen immer entschiedener gegen diese eigentümliche 'Arbeitsteilung' aufbegehren. Im vergangenen Jahr sind auf globaler Ebene ... rund ein Drittel der Ersparnisse in den privaten Rentenkassen 'verschwunden'. Der Verlust entspricht etwa fünf Billionen US-Dollar. ... Sofern es dauerhaft viele Rentner und wenige Aktive geben wird (weil immer weniger Kinder auf die Welt kommen), droht auch bei der privaten Rentenvorsorge ein Kollaps." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE63533- Private-Rente-loest-Demografieproblem-nicht)

Erhöhung des Rentenalters erfordert Mentalitätswechsel De Volkskrant - Niederlande; Donnerstag, 1. Oktober 2009

Die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in den Niederlanden über eine Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre sind gescheitert. Angesichts des Haushaltsdefizits fordere die Politik nun Einsparungen bei den Renten, schreibt die linksliberale Tageszeitung De Volkskrant: "Im Parlament ist eine große Mehrheit für die Erhöhung des Rentenalters. Aber bei der Konkretisierung gehen die Meinungen auseinander. Die größte Schwierigkeit stellen die Menschen mit niedrigen Einkommen und schweren Berufen dar. Die müssen verschont werden, findet das Parlament zurecht. Nur hat bisher niemand die Frage beantwortet, was und wer zu diesen Kategorien gerechnet werden muss. Um die Einsparung von vier Milliarden zu realisieren, muss mindestens ein Viertel aller Arbeitnehmer bis zum 67. Lebensjahr weiterarbeiten. Das erfordert nichts weniger als einen Mentalitätswechsel. Vor allem für die Arbeitgeber, die gerade in Krisenzeiten geneigt sind, sich älterer Arbeitnehmer zu entledigen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE58632- Erhoehung-des-Rentenalters-erfordert-Mentalitaetswechsel)

Mehr Anerkennung für Senioren Les Echos - Frankreich; Mittwoch, 24. September 2008

In der Tageszeitung Les Echos fordert die Wirtschaftberaterin Gabrielle Rolland mehr Anerkennung für ältere Arbeitskräfte in der Gesellschaft: "Das Bild der Senioren ist negativ behaftet in einer Gesellschaft, in der ein extremer Jugendwahn herrscht. Schon allein das Wort 'Senior' erinnert an das Alter und an den Abbau. Unter den entwickelten Ländern sind Frankreich und Belgien bezüglich des Anteils an nicht berufstätigen älteren Menschen Rekordhalter. Wir haben es mit einem Paradox zu tun: Zum ersten Mal in der Geschichte haben Männer und Frauen eine um 20 bis 25 Jahre höhere Lebenserwartung und dieses Geschenk des Lebens wird nicht honoriert. ... Länger zu leben, ohne den finanziellen Abstieg zu riskieren, wird nur dann möglich sein, wenn wir gemeinsam das Image der Senioren verändern. ... Denn viele Studien zeigen, dass Arbeit Senioren jung hält, die Mauern zwischen den Generationen einreißt und ein attraktives Image schafft." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE36509- Mehr-Anerkennung-fuer-Senioren)

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 379

Niedrige Geburtenrate Finance - Slowenien; Mittwoch, 22. März 2006

Slowenien wird wegen seiner niedrigen Geburtenrate "nie zum Klub der hoch entwickelten europäischen Länder" zählen, schreibt der Ökonom Igor Zalar in einem Gastkommentar zur jüngsten Demografie-Studie der EU. "Wenn wir das ändern wollen, müssen wir sofort die demografische Politik ändern. Eine Umgebung schaffen, in der Kinder gesellschaftlich und sozial erwünscht und nützlich sind... Die zweite Alternative ist eine veränderte Migrationspolitik, die fremde, junge und ausgebildete Arbeitskräfte ins Land holt, die legal beschäftigt werden und alle Sozialabgaben zahlen. Ich denke, wir brauchen mehr Migration, schon wegen des beschleunigten Alterns der slowenischen Gesellschaft. Doch sie kann nicht die einzige Maßnahme bleiben, ansonsten werden wir nach dem Jahr 2030 nur schwer über Slowenien als unser Land sprechen können." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE3424- Niedrige-Geburtenrate)

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Solidarität

29.4.2011

Ist Europa solidarisch? Darf und muss Europa solidarisch sein? In welchem Verhältnis stehen Solidarität und Eigenverantwortung in der Europäischen Union? Fünf Experten vertreten ihre Meinung: aus verschiedenen Perspektiven, mit unterschiedlichen Argumenten und jeweils eigenen Rückschlüssen.

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Solidarität in Europa: Wie solidarisch soll Europa sein? Einleitung

Von Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte 29.4.2011

ist Leiter der Europäischen Akademie Berlin.

Der Begriff Solidarität wird in Europa häufig bemüht - doch ist unklar, was damit eigentlich gemeint ist. Das wurde nicht zuletzt in der Eurokrise klar. Auch andere europäische Themen stellen wohlfeile Solidaritätsbekundungen auf die Probe.

Wer in die Internetsuchmaschine Google das Wort "Solidarität" eingibt, erhält 3.780.000 Einträge in weniger als einer Sekunde nachgewiesen. Die Solidarität ist ein Thema für viele und das Jahr 2011 könnte das Jahr der Solidarität werden - zumindest das Jahr, in dem über Solidarität intensiv gestritten worden ist.

Solidarität: Ein häufig benutztes Wort

"Stark und solidarisch" ist der Titel des Regierungsprogramms der Hamburger SPD für ihre Stadt 2011, "fair und solidarisch" seien die Grundwerte der FDP, sagte deren Generalsekretär Christian Lindner 2010 und schon 2008 erklärte sich der CDU-Kreisverband Heilbronn "solidarisch mit den Milchbauern". Die Partei Die Linke zeigte sich 2011 "solidarisch mit Protest der Gewerkschaften in den USA", wie einer Pressemitteilung zu entnehmen war. Die Partei spricht sich auch für eine "solidarische Bürgerversicherung" aus. Alle Lohn- und Einkommensteuerzahler in Deutschland entrichten einen "Solidaritätszuschlag" und die Bild-Zeitung fragte im April 2011 besorgt, ob nun auch noch ein "Energie- Soli" entrichtet werden müsse, um den Ausstieg aus der Atomenergie zu finanzieren.

Der Deutsche Fußballbund (DFB) wiederum hat einen "Runden Tisch "Solidarität mit den Soldaten' " eingerichtet, während Bayern München Solidarität mit seinem Lokalrivalen 1860 München praktiziert und ihm 2011 einen Kredit anbietet. Derweil fordert die Kulturszene zur Solidarität mit dem in China verhafteten Künstler Ai Weiwei auf und der Bundespräsident bittet um Solidarität mit Japan und den dort von Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe Betroffenen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 382 Was bedeutet "solidarisch"?

Ein mächtiges und häufig benutztes Wort ist die "Solidarität" also. Sprachlich steckt in ihr das lateinische Wort "solidus", das sich mit "dicht" und "fest" - oder auch mit solide übersetzen lässt. Das Lexikon der "Zeit" definiert Solidarität als "mit jemandem übereinstimmend und für ihn einstehend" und das von Gerd Reinhold herausgegebene Soziologie-Lexikon beschreibt "Solidarität" als " Zusammengehörigkeitsgefühl von Individuen und Gruppen". Das auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung verfügbare Politiklexikon von Klaus Schubert und Martina Klein bezeichnet Solidarität als "Prinzip, das gegen die Vereinzelung und Vermassung gerichtet ist und die Zusammengehörigkeit, d.h. die gegenseitige (Mit-)Verantwortung und (Mit-)Verpflichtung betont." Solidarität könne "auf der Grundlage gemeinsamer politischer Überzeugungen, wirtschaftlicher oder sozialer Lage etc. geleistet werden."

Die Definition ist also keineswegs eindeutig. Handelt es sich bei der Solidarität nun um ein Gefühl der Gemeinsamkeit und Übereinstimmung oder um eine Handlung des Einstehens füreinander? Wird Solidarität also empfunden oder geleistet?

Es ist wohl so, dass Solidarität sich im Handeln ausdrückt, also darin, dass man mit jemandem solidarisch ist, dass dies aber nur auf der Basis geschieht, dass man sich mit demjenigen auch verbunden fühlt. Dabei ist eine Solidarität, die auf sozialen Gemeinsamkeiten basiert (Partei, Gewerkschaft, Fußballclub) zu unterscheiden von einer allgemeinen menschlichen Solidarität, die sich zum Beispiel zeigt, wenn Menschen in Deutschland für die Opfer eines Erdbebens auf Haiti spenden, ohne dass sie dort jemanden kennen oder vielleicht genau wissen, wo diese Insel eigentlich liegt. Insgesamt haben die Deutschen im Jahr 2010 übrigens 2,3 Mrd. Euro für verschiedene Zwecke gespendet.

Katastrophen rufen eine generelle menschliche Solidarität hervor, die gerade denjenigen geleistet wird, mit denen man nichts gemein hat, sondern die sich in einer anderen - sehr viel schlechteren - Lage befinden. Wenn man von diesen Akten der Mitmenschlichkeit absieht, sind die Adressaten von Solidarität im Allgemeinen Menschen oder soziale Gruppen, denen man sich verbunden fühlt. Solidarität setzt also Gemeinsamkeiten voraus. Eine Besonderheit von Solidarität ist auch, dass im Prinzip die Empfänger zugleich Absender sind - und umgekehrt.

Der Beitrag der britischen Unterhaus-Abgeordneten Gisela Stuart zitiert den berühmten Roman "Die drei Musketiere" von Alexandre Dumas, deren Slogan das sehr gut ausdrückt: "Einer für alle, alle für einen." Anders ausgedrückt: Solidarität basiert auf dem Prinzip, dass in der Solidargemeinschaft jeder für jeden einsteht und es durchaus so sein kann, dass heute der eine, morgen der andere der Solidarität bedarf. Demzufolge wird der Grundsatz der Solidarität auf die Probe gestellt, wenn eine Situation eintritt, in der immer einer Solidaritätsleistungen empfängt und ein anderer sie immer leisten muss.

Die Europäische Union sieht sich als eine solidarische Gemeinschaft. Schon in der Präambel des EU- Vertrags (EUV) ist die Rede von dem "Wunsch, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken" . Die Artikel 2 und 3 dieses Vertrages greifen die Solidarität mehrfach auf, als Wert, der allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist (Art. 2), als Aufgabe, die "Solidarität zwischen den Generationen" sowie "die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten" zu fördern (Art. 3 Abs. 3). Auch als Ziel ihrer internationalen Politik ist die Solidarität genannt (Art. 3 Abs. 4). Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) kennt sogar eine eigene Solidaritätsklausel: "Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist." (Art. 222 Abs. 1)

In der letzten Zeit wurde die Solidarität der EU-Mitgliedstaaten untereinander vor allem auf zwei Feldern auf eine Probe gestellt.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 383 Solidaritätsfall: Die Eurokrise

Das erste war und ist die Unterstützung der Länder der Eurozone, die durch jahrelange falsche Politik oder die Auswirkungen der Finanzkrise und deren Durchschlagen auf die heimischen Banken und damit indirekt auf den die Bankenexistenz garantierenden Staat in Not geraten sind. Die Währungsunion kannte und kennt als Grundsatz, dass jeder für seine Schulden selbst einstehen muss ("no bail out"). Die anderen Eurostaaten haben also nicht die Pflicht, einem von der Pleite bedrohten Land zu helfen. Bedeutet das aber auch, dass sie ihm nicht helfen dürfen? Hierüber gibt es einen erbitterten Streit unter Politikern, Ökonomen und auch Juristen.

Der Finanzwissenschaftler Markus C. Kerber ist in seiner Position völlig eindeutig: Eine Hilfe für in Not geratene Eurostaaten, sagt er in seinem Beitrag, sei ein klarer Verstoß gegen die Europäischen Verträge. Außerdem sei sie politisch das falsche Signal: Wer sich darauf verlasse, dass die anderem ihm zur Not helfen, werde in seinen Anstrengungen nachlassen, sich selbst zu helfen.

Andere Juristen sehen das anders. Nicht nur der von Prof. Kerber zitierte Finanzrechtler Ulrich Häde, auch der Direktor des Walter Hallstein-Instituts für europäisches Verfassungsrecht, Ingolf Pernice, sagt in einem Zeitungsbeitrag, es sei nicht ausdrücklich verboten, sich gegenseitig zu helfen, und es sei auch nicht vernünftig, sich in einer Krisensituation selbst die Hände zu binden. Eine Hilfe für andere sei durchaus auch im eigenen Interesse: "Die Pleite selbst eines kleinen Mitgliedstaats wie Griechenland droht alle Partner in den Strudel zu ziehen." (FAZ-Net 25.3.2010)

Die britische Parlamentarierin Gisela Stuart sieht die Angelegenheit nüchtern, wenn sie feststellt, dass die Eurorettung zu einer erheblichen Belastung Deutschlands führen wird, was sie weder für Deutschland noch für Europa für gut hält. "Immer, wenn es Probleme in Europa gab, wurde Deutschland zur Kasse gebeten. Mehr Europa und weniger Deutschland." Und sie fährt fort: "Der Nachbar Frankreich hatte nie solche Hemmungen."

"Deutschland nervt", kontert die französische Politikwissenschaftlerin Céline-Agathe Caro, die Zeitung " Le Monde" zitierend. Aus französischer Sicht sei Solidarität selbstverständlich, über die "No-Bail-Out- Klausel" habe man in unserem Nachbarland nie diskutiert. Während die Deutschen der Ansicht seien, wenn die Realität nicht den Verträgen entspreche, müsse man die Realität ändern, neigten die Franzosen dazu, die Verträge zu ändern. In Frankreich sei man der festen Überzeugung, dass nur Solidarität unter den Mitgliedstaaten die europäische Integration voranbringen könne - was die einzige Möglichkeit sei, die Interessen der EU-Staaten auf internationaler Ebene wirksam zur Geltung zu bringen.

"Der wahre Egoist kooperiert", hört man oft. Gemeint ist damit: Gemeinsam kann man auch seine individuellen Ziele besser erreichen. Am besten geschieht das in einer Gruppe, in der man sich aufeinander verlassen kann und die Gewissheit hat, in einer Schwächeperiode unterstützt zu werden. Auch Julia Langbein, eine deutsche Politikwissenschaftlerin, die am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert und jahrelang in Italien gelebt hat, spricht sich für "Solidarität aus Eigennutz und Überzeugung" aus. Dabei nennt sie als Felder neben der schon erwähnten Frage der gemeinsamen Währung auch die Energieversorgung und die Migration.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 384 Solidaritätsfall: Migration

Fragen des Umgangs mit irregulären Einwanderern und Flüchtlingen waren der zweite große Aufreger im ersten Halbjahr 2011. Durch die Umbrüche in Nordafrika galten die alten Regeln nicht mehr, die die EU mit den Diktatoren des südlichen Mittelmeers getroffen hatte. In einem unmoralischen, aber effizienten Handel hatte die EU, Geld, Waffen und politische Unterstützung für die Potentaten gegen deren Zusicherung getauscht, den Europäern die Armutsflüchtlinge vom Hals zu halten. Danach, mit welchen Mitteln dies geschah, haben die Europäer nicht gefragt und die Bilder, wie sich führende Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten beispielsweise in Paris und Rom durch operettenhafte Auftritte von Libyens Gewaltherrscher Gaddafi geradezu zum Affen haben machen lassen, sind noch recht frisch.

Nachdem es aber in Tunesien einen Umsturz und in Libyen einen Umbruch gab, sind die Grenzen auf nordafrikanischer Seite offen und viele Menschen aus Afrika suchen die Chance, den gelobten Kontinent Europa zu erreichen. Sie kommen auf überladenen, kaum seetüchtigen Schiffen übers Mittelmeer und landen auf Malta oder an Italiens Küsten.

Die anderen EU-Staaten aber fühlen sich nicht zuständig. Zwar gibt es ein bisschen Unterstützung für das kleine Malta, dem einige Flüchtlinge abgenommen werden, aber den Italienern wünscht man viel Glück bei der Bewältigung des Ansturms hilfesuchender und auch hilfloser Menschen. Vergeblich fordern die Italiener die Solidarität der anderen EU-Staaten ein. Dieses Wort wurde von den Partnern in der Union erst wieder in den Mund genommen, als Italien Visa für die Flüchtlinge ausstellte, die somit legal in die anderen Länder des Schengen-Raums reisen können. Natürlich hofft die italienische Regierung, dass die Flüchtlinge in den Norden, aus sprachlichen Gründen vor allem nach Frankreich, abwandern. Frankreich und Italien werfen sich nun gegenseitig mangelnde Solidarität vor.

Auch für Polen ist Solidarität ein wichtiger Grundsatz. Weronika Priesmeyer-Tkocz, eine polnische Politikwissenschaftlerin, die in Deutschland arbeitet, weist darauf hin, dass der politische Aufbruch, der letztendlich große Teile von Europa erfasst hat, von der unabhängigen Gewerkschaft "Solidarnosc " ausging - was im Deutschen "Solidarität" heißt. Dass Solidarität aber auch auf europäischer Ebene ein Geben und Nehmen ist, musste die polnische politische Elite lernen - was sie auch getan hat. Mittlerweile, schreibt Weronika Priesmeyer-Tkocz, "ist Polen tatsächlich als Teil der Europäischen Union angekommen und als wichtiges Glied in dieser Struktur will es nicht nur Empfänger der Brüsseler Solidarität sein, sondern ist auch bereit, Verantwortung für das Wohl der Gemeinschaft zu übernehmen."

Solidarität erweist sich, wenn sie benötigt wird, Solidaritätsbekundungen sind wohlfeil. Das wird in der Europäischen Union des Jahres 2011 deutlich. Was die Diskussion weiter beschäftigten wird, ist die Frage, wie weit Solidarität gehen kann und muss - und ob diejenigen sich unsolidarisch verhalten, die sich durch Untätigkeit in die Situation bringen, dass sie der Solidarität der anderen bedürfen. Einfache Antworten, so viel ist klar, gibt es nicht. Ein Europa ohne Solidarität wird es auch nicht geben können.

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Es geht um das Prinzip - aber auch um wesentlich mehr Standpunkt Céline-Agathe Caro

Von Dr. Céline-Agathe Caro 29.4.2011 Dr. Céline-Agathe Caro ist Französin und hat in Paris und Dresden studiert. Seit April 2010 ist sie Koordinatorin für Europapolitik im Team Außen-, Sicherheits- und Europapolitik der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Solidarität unter den EU-Staaten ist die einzige Möglichkeit, die Interessen Europas in der Welt zu vertreten, meint Céline-Agathe Caro. Wichtig sei dafür Einigkeit zwischen Paris und Berlin - diese hätte in der Griechenlandkrise jedoch nicht bestanden.

Wie viel Solidarität braucht Europa? Aus französischer Perspektive: Viel! Es geht um das Prinzip - aber auch um wesentlich mehr.

"Deutschland nervt" schrieb die französische Tageszeitung Le Monde am 1. April 2010. "Es ist dieser gute Schüler, der sich immer meldet, der immer alles richtig beantwortet, der an die Tafel geht, um uns zu sagen, wie die Sache zu lösen ist. Und der, weil er selber geschuftet und gelitten hat, keine Nachsicht für Faulpelze hat. Deutschland, als erste europäische Wirtschaftsmacht, ist dieses vorbildliche Land, das es nach drakonischen Anstrengungen geschafft hat, seine eigenen Defizite zu bändigen. (...) Es ist der größte Beitragszahler für den europäischen Haushalt (20%). Es bezahlt weitestgehend seinen Anteil und weigert sich, die Milchkuh Europas zu sein - Deutschland nervt, weil es tugendhaft ist."

Verantwortung versus Solidarität?

Diese durchaus pointierte Analyse sagt viel aus - sowohl über Deutschland als auch über Frankreich. Sie erinnert zunächst daran, dass Berlin von Beginn der Griechenlandkrise an klar machte, dass die deutschen Steuerzahler nicht für die wirtschaftlichen Fehlentwicklungen der Griechen haften würden. Die Bundesregierung knüpfte somit ihre Bereitschaft, Griechenland eine finanzielle Unterstützung zu gewähren, an konkrete Bedingungen. "Wir wollen die Europäische Union, aber wir wollen keine Transferunion zulasten Deutschlands" machte Bundesaußenminister Guido Westerwelle in seiner europapolitischen Grundsatzrede am 27. April 2010 deutlich. So bedeutet für Deutschland im Kontext der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise europäisch zu sein, vor allem verantwortungsbewusst zu agieren. Solidarität in Europa kann in diesem Zusammenhang nur funktionieren, wenn jedes Land sich wirtschaftlich anstrengt - was nicht zuletzt mit einer soliden Sparpolitik verbunden ist - und somit dazu beiträgt, aus der EU eine ökonomisch dynamische Zone zu machen.

Von dieser deutschen ökonomischen Strenge distanzierte sich Frankreich im Rahmen der Griechenlandkrise deutlich: Europäisch zu sein, bedeute solidarisch zu agieren, meinte Paris von Beginn an, dies stelle ein Grundprinzip innerhalb der EU dar. Sehr früh im Mai 2010 stimmte die Nationalversammlung der Griechenland-Hilfe zu. Auch wurde der sogenannte Euro-Rettungsschirm in Frankreich sehr schnell verabschiedet. Sowohl die Parlamentarier als auch die Öffentlichkeit unterstützten beide Entscheidungen ohne polarisierende Debatte. So wurde z. B. über einen Bruch der "No Bail Out"-Klausel in Frankreich nie diskutiert. Allgemein herrschte 2010 eher der Tenor, dass wenn die Verträge ein Hindernis zur Überwindung der Krise darstellen, es dann eher legitim ist, sie anzupassen.

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Die EU-Länder sitzen alle in einem Boot

Die Unterstützung Frankreichs an Griechenland lag sicherlich zum Teil daran, dass in dem französischen kollektiven Gedächtnis festgeschrieben steht, dass es dieses Land als Wiege der abendländischen Zivilisation zu schützen gilt. Frankreich pflegt seit dem Unabhängigkeitskrieg Griechenlands, den es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterstützte, enge Kontakte zu Athen. Beide Staaten waren zudem Alliierte im Ersten und Zweiten Weltkrieg.

Darüber hinaus unterstreichen Ergebnisse von Umfragen, die im März 2010 vom Meinungsforschungsinstitut IFOP für den französischen Think Tank "Fondation pour l'innovation politique" durchgeführt worden sind, dass die Südländer Frankreich, Italien und Spanien im Vergleich zu den Nordländern Deutschland, Großbritannien und Niederlande generell mehr Solidarität und Mitgefühl gegenüber Griechenland zeigten. So waren letztes Jahr drei Viertel der Deutschen und der Briten gegen eine finanzielle Unterstützung an Athen, während eine knappe Mehrheit der Franzosen und der Spanier sowie sogar zwei Drittel der Italiener dafür waren. Diese Solidarität gegenüber Griechenland erklärt sich zum Teil durch die Befürchtung der Südländer, zukünftig eventuell selber auf finanzielle Unterstützung durch die EU angewiesen zu sein. So teilten laut derselben Umfrage vom März 2010 die Mehrheit der Franzosen, der Italiener und der Spanier diese Befürchtung, während zwei Drittel der Deutschen sich vor dieser Gefahr sicher fühlten. Aus französischer Sicht braucht Europa also viel Solidarität, unter anderem weil alle EU-Länder in einem Boot sitzen und zukünftig auf die Hilfe der anderen angewiesen sein könnten. Alle genannten Südländer haben auch traditionell keine besondere finanzielle und währungspolitische Stabilitätskultur und dementsprechend mehr Verständnis als Deutschland für Länder ohne strenge Haushaltspolitik.

Soforthilfe statt Belehrung und Alleingang

Die Soforthilfe Frankreichs für Griechenland hat auch damit zu tun, dass Präsident Sarkozy von Anfang an entschlossen handeln wollte, um ein starkes Signal in Richtung der Finanzmärkte zu senden und somit eine weitere Schwächung Griechenlands sowie anderer Euroländer zu vermeiden. Eine schnelle und starke Solidarität zu zeigen, vermeide die Zuspitzung der Probleme, so die damalige Analyse.

In diesem Fall kollidierte der politische Führungsstil im Elysée-Palast mit dem viel vorsichtigeren Temperament der Bundeskanzlerin. Für Deutschland war es auch - wie bereits erwähnt - besonders wichtig, Griechenland vor seine Verantwortung zu stellen und nicht sofort einzugreifen. In Frankreich wurde diese Haltung als Zögern und politische Schwäche sowie nicht zuletzt als taktisches Manöver im Vorfeld der Wahlen in Nordrhein-Westfalen bewertet.

In Paris wird zudem oft übersehen, dass die Entscheidungswege in Deutschland anders sind, dass auf dieser Seite des Rheins eine Kultur des Kompromisses herrscht, und dass die Kanzlerin bei Regierungsentscheidungen sowohl auf ihre Koalitionspartner als auch auf die Bundesländer Rücksicht nehmen muss. In Frankreich treffe der Präsident eine einsame Entscheidung und erst im Nachhinein frage man sich, wie diese zu implementieren sei, so eine vor kurzem gehörte Analyse eines deutschen Diplomaten. Durch die Ablehnung einer schnellen Griechenland-Hilfe stand Deutschland auf jeden Fall in Frankreich unter dem Verdacht, sich von den anderen europäischen Partnern distanzieren zu wollen und einen Sonderweg gehen zu wollen, wenn es darum geht, die Stabilität der Eurozone zu sichern und die europäische Wirtschaftskraft zu schützen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 387 Schicksalsgemeinschaft

Seit der Verabschiedung des Euro-Rettungsschirms hat sich die Zusammenarbeit zwischen Paris und Berlin jedoch deutlich verbessert und somit konnten beide Länder schnell wieder als treibende Kräfte zur Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise in der EU fungieren. So sind sich beide Länder im Grunde genommen darüber einig, dass die Währungsunion eine Schicksalsgemeinschaft darstellt, und dass sie unbedingt geschützt und gestärkt werden muss. In diesem Kontext bedeutet Solidarität auch für beide Länder, dass neue europäische Mechanismen gemeinsam entwickelt werden sollen, um die Eurozone zu stärken sowie Wachstum und Beschäftigung in Europa voranzutreiben.

Deutschland und Frankreich einigten sich bereits vor dem letzten Sommer über die Notwendigkeit der Entwicklung einer - wie die Franzosen es gerne nennen - Wirtschaftsregierung, was einer Koordinierung der Finanz- und Wirtschaftspolitiken innerhalb der EU entspricht, unter anderem durch die Konsolidierung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Aus dem gleichen Grund plädierten sie Ende 2010 ebenfalls gemeinsam neben anderem für die Schaffung eines permanenten Krisenmechanismus ab 2013. Auf dem EU-Gipfel im Februar 2011 haben sie ferner die Entwicklung eines Paktes für Wettbewerbsfähigkeit initiiert, womit die Staats- und Regierungschefs der Eurozone sich auf Reformschritte in der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik zukünftig verpflichten könnten.

Gemeinsame globale Herausforderungen

Jenseits der Finanz- und Wirtschaftskrise vertritt die französische Regierung nach wie vor die Meinung, dass die EU den Ländern Europas die Chance gibt, ihre Divergenzen zu überwinden, um zusammen besser auf gemeinsame Herausforderungen reagieren zu können, und dass es heutzutage mehr denn je ausreichend Gründe gibt, um den europäischen Einigungsprozess fortzusetzen.

Im Zeitalter der Globalisierung und der Entstehung einer multipolaren Welt bleibt also Solidarität unter den EU-Staaten die einzige ernsthafte Möglichkeit, um auf der internationalen Ebene die politischen und wirtschaftlichen Interessen Europas zu fördern, die gemeinsamen Werte zu verteidigen, Verantwortung in der Welt zu übernehmen sowie die Position der EU als normative Macht zu sichern, sei es im Bereich der Demokratie und der Menschenrechte, für die Regulierung der internationalen Finanzmärkte, im Rahmen der Klimaverhandlungen oder im Bereich der neuen Technologien. Diese europäische Solidarität stellt aber eine große Herausforderung für alle EU-Mitgliedsländer dar, denn es verlangt in jedem Bereich solide, abgesprochene Strategien.

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Solidarität ohne Grenzen? Eine juristische Klarstellung aus ökonomischer Sicht Standpunkt Markus C. Kerber

Von Prof. Dr. Markus C. Kerber 29.4.2011 Prof. Dr. Markus C. Kerber ist Professor für Öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der TU Berlin und außerdem Gastprofessor am I.E.P. in Paris.

Markus C. Kerber setzt sich mit der Frage auseinander: Darf die EU oder einzelne Mitgliedsstaaten in Not geratenen EU-Mitgliedern helfen? Oder verstößt finanzieller Beistand gegen das Vertragsrecht der Europäischen Union?

1. Problemstellung

Nachdem der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bundesbank und erste Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank Ottmar Issing vor dem "Dammbruch einer Nichtbetrachtung des bail-out- Verbots" gewarnt hatte, machten sich die Vertreter des öffentlichen Rechts daran, die normativen Eckpfeiler der Währungsunion (Verbot übermäßiger Defizite, Verbot der monetären Finanzierung, Verbot des bail-outs) unter den allgemeinen Vorbehalt der in den Europäischen Verträgen geforderten zwischenstaatlichen Solidarität zu stellen.[1] Die Finanzkrise lehre - so der Hochschullehrer Ulrich Häde -, dass die Art. 120 ff. des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Ausnahmeklauseln brauchen, um flexibel genug reagieren zu können. Für die no bail-out - Klausel des Art.125 AEUV gelte nach seiner Meinung:

"Die no bail-out Klausel des Art. 103 EG[2] erweist sich in der Krise sogar als wenig streng. Sie kann und soll Hilfeleistungen für Mitgliedsstaaten in Not nicht verhindern. Die Gemeinschaft wird schon aus politischen Gründen kein Land finanziell untergehen lassen können."[3]

Diese Argumentation, die methodisch an Carl Schmitt erinnert[4], würde es im Ergebnis erlauben, das gesamte Inventar an normativen Sicherungen der Europäischen Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ad acta zu legen und rechtssystematisch den Einstieg in den europaweiten Finanzausgleich zu suchen. Die Fragestellung ist von dramatischer Einfachheit: Sind die Hartwährungsländer der EU bereit, den realwirtschaftlich nicht verdienten Wohlstand in anderen Ländern der Eurozone durch den eigenen Steuerzahler finanzieren zu lassen?

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 389 2. Die Rechtslage

Auf der Suche nach argumentativen Auswegen aus einer eindeutigen Situation ist die Forcierung juristischer Methodenlehre und Auslegung schon fast die Regel geworden. So verhält es sich bei den Bemühungen von Häde, dem von ihm als überragenden Gemeinschaftsgrundsatz verstandenen Prinzip der Solidarität bereits bei der Griechenlandkrise zu einer juristischen und politischen Bedeutung zu verhelfen. a) Die Reichweite des bail-out Verbots in Art. 125 AEUV Die Bemühungen um finanziellen Beistand für einen Finanznotstandsstaat der Eurozone entweder durch die Union oder Mitglieder der Eurozone stoßen sich überwiegend an den eindeutigen Verboten der Art. 123 bis 125 AEUV. Nicht nur der Wortlaut, sondern auch das telos dieser Vorschriften zielt darauf, fiskalisches Fehlverhalten eines Mitglieds der Eurozone eben nicht auf Dritte oder gar die Gemeinschaft abzuwälzen, sondern dem betreffenden Mitgliedstaat selbst aufzubürden. Die Antwort des Marktes auf fiskalisches Fehlverhalten ist eindeutig und gewollt. Das betreffende Mitgliedsland muss für die Schuldenaufnahme höhere Zinsen zahlen.

Die in diesem Zusammenhang geäußerten Zweifel an den Fähigkeiten der Märkte, äquivalente Sanktionen zu erteilen,[5] werden mit dem Hinweis auf den Delors-Bericht des Jahres 1989 verbunden. In der Tat geht der zitierte Bericht von Überreaktionen der Märkte aus. Es ist indes nicht nachvollziehbar, wie man juristisch-argumentativ von dieser kontroversen Einschätzung des Delors-Berichts darauf schließen kann, diese marktskeptische Einschätzung gehöre zur Entstehungsgeschichte des bail-out- Verbots und sei daher restringierend bei der Auslegung von Art. 125 AEUV zu berücksichtigen. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn die in Art. 123 bis 125 AEUV gewollte ausdrückliche Beschränkung von Union und Mitgliedsländern auf die eigenen Schulden und damit der Ausschluss jeglicher Übernahme der Schulden von Finanznotstandsstaaten der Eurozone glaubwürdig sein soll, muss die Bestimmung streng ausgelegt werden. Ihr kontrafaktischer Charakter gerade in Krisensituationen bewahrt die Währungsunion davor, dass durch moral hazard die Märkte darauf vertrauen, nach dem Griechenland- Debakel auch für andere mögliche Krisenländer der Europäischen Wirtschaftsunion einzustehen. Diese Funktion von Art. 125 AEUV[6] übersieht Häde. Ebenso vergisst er es, darauf hinzuweisen, dass sich das Verbot des Art.125 AEUV an alle potentiellen Haftungsnehmer wendet, also nicht nur gegenüber der Union, sondern auch gegenüber jedem einzelnen Mitgliedstaat gilt.[7] Es gilt insbesondere für bilaterale Hilfen in Gestalt von Garantien oder Darlehen, die bessere Zinskonditionen als die marktüblichen vorsehen.

Angesichts der Unzulässigkeit der Hilfe zugunsten eines Finanznotstandslandes der Europäischen Währungsunion im Rahmen der Art. 143, 144 AEUV wurde die Möglichkeit von Zahlungsbilanzkrediten erörtert. Hierbei handelt es sich um Hilfen der Union, die ausschließlich in Fällen von Zahlungsbilanzkrisen gewährt werden können. Es besteht Übereinstimmung, dass eine derartige Hilfe schon deshalb nicht mehr für Mitglieder der Währungsunion gewährt werden kann, weil diese mittlerweile über eine gemeinsame Zahlungsbilanz verfügen. Die in der Vergangenheit gewährten Finanzhilfen[8] sind daher nach übereinstimmender Auffassung keine Rechtsgrundlage für eine bilaterale Hilfe an Finanznotständler.

So verbleibt die Frage, ob Art. 122 II AEUV Rechtsgrundlage für den finanziellen Beistand der Union gegenüber einem präinsolventen Mitgliedstaat der Europäischen Währungsunion sein könnte. Häde meint, dass der Tatbestand "der außergewöhnlichen Ereignisse, die sich der Kontrolle der Mitgliedlandes" entziehen, in Anlehnung an die Verordnung über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit[9] interpretiert werden könne.[10] Dabei übersieht er, dass die in Art. 2 der vorgenannten Verordnung vorgenommene Definition eines außergewöhnlichen Ereignisses nur die Frage klärt, von welchem Zeitpunkt an die Kommission verpflichtet ist, im Rahmen des Art. 126 AEUV ein Defizitverfahren gegen den betreffenden Mitgliedstaat durchzuführen. Für die Interpretation des Art 122 II AEUV enthält also die sekundärrechtliche Ausformung des Art. 126 AEUV durch die (EG) Verordnung 1467/97 vom 27.6.2005, keine Anhaltspunkte. Im Übrigen kann dahingestellt bleiben, ob der Rat mit der vorgenannten Verordnung die Verordnungskompetenz des

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Art.126 XIV AEUV etwa in der Weise überschritten hat, dass er Primärrecht durch Sekundärrecht modifiziert hat. Dann wäre selbst die Präzisierung in Art.2 I der genannten Verordnung rechtswidrig.

Wenn also die Auslegung des Tatbestands des außergewöhnlichen Ereignisses in Art. 122 II AEUV anhand der Stabilitätsverordnung fehl geht, so bleibt lediglich die Auseinandersetzung mit dem Hädeschen Argument, dass ein hohes Haushaltsdefizit zwar nicht als außergewöhnliches Ereignis einzustufen sei, indessen der Staatsbankrott zu jenen Tatbeständen zähle, die in Art. 122 II AEUV umschrieben seien.[11]

Diese Interpretation Hädes setzt einen Anreiz dafür, dass sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion nicht damit begnügen, übermäßige Defizite zu "erwirtschaften", sondern sich alsbald dem Staatsbankrott[12] nähern. Erst dann kämen sie in den "Genuss" des finanziellen Beistands nach Art. 122 II AEUV. Eine solche Interpretation ist nicht nur methodisch unvertretbar, sondern würde es erlauben, das Prinzip der Eigenhaftung und Eigenverantwortlichkeit der Mitglieder der Währungsunion durch einen wuchernden europaweiten Finanzausgleich zu ersetzen. Dies ist weder mit dem Wortlaut, noch mit dem telos der Art. 123 bis 126 AEUV vereinbar.[13][14]

Art. 122 II AEUV relativiert also mitnichten die Beistands- und Finanzierungsverbote der Art. 123 bis 126 AEUV. Demnach wäre die Gewährung von finanziellem Beistand an Finanznotstandsstaaten durch die Europäische Union oder durch einzelne Mitglieder ein Verstoß gegen die Vorschriften der Art. 123 bis 126 AEUV, der im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens gerügt werden könnte.

[1] Vgl. Beispielsweise Pernice, FAZnet v. 26.03.2010, faz.net (http://www.faz.net/s/ RubD5CB2DA481C04D05AA471FA88471AEF0/Doc~E69EAFFC7C8E24D9A8B33F05D35B3C071~ Atpl~Ecommon~Scontent.html) (28.4.2010); Ders. Handelsblatt v. 26.4.2010, S. 7; Häde, Staatsbankrott und Krisenhilfe, EuZW 2009, 273 ff., Ders., Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW 2009, 399 ff. [2] Gemeint ist die wortgleiche Vorschrift des Art. 125 AEUV. [3] Häde, Staatsbankrott und Krisenhilfe, EuZW 2009, 273 ff., Ders., Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW 2009, 399 ff. [4] Vgl. Schmitt, Politische Theologie, Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 4. Auflage (1985), S.22. [5] Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW 2009, 399 (402). [6] Gnan, in: Groeben/Schwarze, Komm. z. EUV/EGV, 6 Aufl. (2003), Art.103 EGV Rdnr. 23; Hattenberger, in: Schwarze, Komm. z. EUV, 2. Aufl. (2009), Art. 103 Rdnr. 4 EGV. [7] Gnan, in: Groeben/Schwarze (o. Fußn. 9), Art. 103 Rdnrn. 23 f. [8] Art. 143, 144 AEUV von der verordnung (EG) Nr. 332/2002 des Rates vom 18.2.2002 "Zur Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten. [9] Verordnung (EG) Nr. 1056/2005 des Rates vom 27.6.2005 "Zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 "Über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit". [10] Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW 2009, 399 (400). [11] Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW 2009, 399 (401) sowie Ders, Staatsbankrott und Krisenhilfe, EuZW 2009, 273 "Damit kann die Gemeinschaft grundsätzlich allen Mitgliedstaaten beistehen, wenn z.B. der Staatsbankrott droht." [12] Vgl. hierzu: Kerber, Souveränität und Konkurs, 1. Aufl. (2005); Schmölders, Geldpolitik, 2. Aufl. (1968); Ders., Finanzpolitik, 3. Aufl. (1970). [13] Die einzige bisher ergangene Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung von Art. 126 AEUV (Art. 104 EG) hat mahnend hervorgehoben, welche Bedeutung der Maastricht Vertrag der wahrung der Haushaltsdisziplin beigemessen habe. Den hierfür genannten Vorschriften sei eine Auslegung zu geben - so der Gerichtshof der Europäischen Union - die ihre volle praktische Wirksamkeit sichere. [14] EuGH, Urt. v. 13.7.2004 - C-27/04, Slg. 2004 Seite I-06649, Rdnr. 74 - Nichtigkeitsklage, Kommission/Rat

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Solidarität aus Eigennutz und Überzeugung Standpunkt Julia Langbein

Von Dr. Julia Langbein 29.4.2011 Dr. Julia Langbein hat am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kolleg- Forschergruppe "The Transformative Power of Europe" an der Freien Universität Berlin.

Für Julia Langbein ist Solidarität ein Wesenszug der EU. In der Schuldenkrise und bei den Themen Energie und Migration brauche Europa noch mehr Solidarität - aus Eigennutz als auch aus moralischer Überzeugung.

Es wird kaum jemand abstreiten, dass Solidarität, verstanden als "ein füreinander Einstehen und die Übernahme von Verantwortung für Andere" auch und gerade über materielle Interessen hinaus, eine wichtige Ressource für das Wohl des Einzelnen und das Gemeinwohl ist. Ohne die Solidarität der anderen würden wir Notsituationen ganz allein meistern müssen. Ohne solidarisches Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen reduziert sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich andere Menschen uns gegenüber solidarisch verhalten.

Solidarität als Wesenszug der EU

Solidarität ist daher auch unabdingbar für den europäischen Integrationsprozess. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat einmal die Frage gestellt, ob es nicht genau der Wert der Solidarität ist, der das Wesen Europas (oder präziser das Wesen der EU) am besten beschreibt.[1] Laut Ash spricht dafür, dass es gerade die europäischen Sozialstaaten sind, die sich vom amerikanischen Turbokapitalismus unterscheiden, indem sie Wert auf soziale Sicherheit und Fürsorgeprogramme legen. Zudem sind sich konservative und linke Kreise in der EU in weiten Teilen einig, dass es eine soziale Marktwirtschaft geben muss, auch wenn es zwischen (und unter) ihnen Grabenkämpfe bei der Frage nach der gewünschten Balance zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung für die schwächsten Gruppen der Gesellschaft gibt. Nichtsdestotrotz ist bei den Wohlfahrtssystemen der EU-Mitgliedstaaten ein starkes Gefälle zu verzeichnen. So möchte man aus deutscher Sicht vielleicht doch lieber im hiesigen System arbeitslos oder berentet werden als im polnischen oder tschechischen.

Für Solidarität als Wesenszug der EU spricht trotz dieser innereuropäischen Unterschiede aber auch, dass ärmere Mitgliedstaaten und Regionen von Transferleistungen aus dem EU-Haushalt profitieren. So zahlen die wirtschaftlich stärkeren EU-Mitglieder schon lange Zeit für die Entwicklung Griechenlands oder Irlands. Noch im Jahr 2008 erhielt Griechenland 559 Euro pro Kopf aus dem EU-Haushalt. Bei Irland waren es 130 Euro pro Kopf. Bei den mittel- und osteuropäischen Staaten, die 2004 der EU beigetreten sind, fallen die Zahlen schon geringer aus. So erhielt Polen im Zeitraum 2004-2006 gerade einmal 67 Euro pro Kopf. Es sind jedoch insbesondere die deutschen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die von der gestiegenen Kaufkraft in den anderen europäischen Mitgliedsländern profitieren. So gingen 2009 fast 63 Prozent der deutschen Exporte in die EU. Laut Angaben des statistischen Bundesamtes stieg der deutsche Export-Performance-Index gegenüber Griechenland im Zeitraum 2000 bis 2009 von 87 auf 109 und gegenüber Polen von 100 auf 110.[2] Zudem hängt jeder 5. Arbeitsplatz in Deutschland vom Export ab.[3]

Trotzdem: Ist das nicht alles ein bisschen zu viel des Guten mit der Solidarität in der EU? Wir haben doch auch viele Probleme in Deutschland. Schlagzeilen über Kinderarmut, über Menschen mit

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 393 geringfügigem Einkommen trotz zwei bis drei Jobs, über längere Wartezeiten beim Arzt als Kassenpatient häufen sich schließlich. Meine Antwort lautet: Nein, wir haben nicht genügend Solidarität in der EU, sondern brauchen noch mehr. Und das sowohl aus Eigennutz als auch aus moralischer Überzeugung. Hierfür drei Beispiele:

1. Schuldenkrise

Ein aktuelles Thema, in dessen Zusammenhang der Begriff Solidarität immer wieder fällt, ist die Schuldenkrise Griechenlands, Irlands und Portugals. Spanien könnte folgen. Warum aber sollen sich nun Länder wie Deutschland oder Frankreich solidarisch zeigen und diesen Ländern aus der Patsche helfen? Zumal sich ein Land wie Griechenland ja auch nicht solidarisch verhalten hat. Ein Großteil der griechischen Staatsverschuldung ist durch Korruption, Klientelpolitik, Statistikbetrug und einen aufgeblähten öffentlichen Sektor maßgeblich selbst verursacht. Daher muss Griechenland innenpolitische Reformen durchführen und eine stringente Sparpolitik umsetzen. Ebenso muss der griechische Staat sicherstellen, dass Steuern gezahlt und nicht hinterzogen werden.

Trotzdem müssen auch die anderen EU-Staaten helfen, weil wir im selben Boot sitzen und aufeinander angewiesen sind. Die irischen oder griechischen Schulden werden von deutschen, britischen, französischen und anderen europäischen Banken gehalten. Gehen Griechenland oder Irland Pleite, wird auch der deutsche Finanzmarkt ins Wanken geraten.

Nach jüngsten Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich haben die deutschen Banken an Irland Kredite in Höhe von fast 140 Milliarden Euro vergeben. Rechnet man die Forderungen deutscher Banken hinzu, die gegenüber Griechenland, Portugal und Spanien bestehen, dann belaufen sich die Außenstände insgesamt gar auf 380 Milliarden Euro.[4] Das sind 50 Milliarden Euro mehr als die gesamten Ausgaben des Bundeshaushalts im Jahr 2010. Wenn Irland oder Griechenland nicht geholfen wird, kommt es in der Konsequenz zu einer neuen Bankenkrise, die wiederum durch den Steuerzahler aufgefangen werden muss.

Der Eurorettungsschirm ist daher erst einmal richtig, greift aber bei der Lösung des Problems zu kurz. Gleichzeitig müssen die Banken zu einer Umschuldung Griechenlands und Irlands gezwungen werden. Das geht nur, wenn die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten ihren Banken niedrigere Zinsen und längere Rückzahlungsfristen für ihre Anleihen abverlangen. Solidarität in Europa kann nicht nur am Steuerzahler hängen, sondern muss auch von denen getragen werden, die von der ungezügelten Kreditvergabe profitieren. Derartige Krisen können in Zukunft nur vermieden werden, wenn die Banken entweder stärker reguliert werden oder endlich die Finanztransaktionssteuer eingeführt wird, aus deren Einnahmen unter anderem solche Krisen in Zukunft finanziert werden könnten.

2. Energie

Bis heute fehlt es der EU an einem einheitlichen Energiemarkt, auf dem Strom und Gas grenzüberschreitend gehandelt werden können. Ein einheitlicher Markt und ein dazugehöriges Gemeinschaftsorgan würde nicht nur ein Garant für alle EU-Staaten sein, dass sie im Fall eines Versorgungsausfalls aus politischen oder technischen Gründen mit Strom und Gas aus dem gesamten europäischen Energienetz beliefert werden können.

Diese Energiesolidarität hätte auch den Vorteil, dass durch erneuerbare Energien erzeugter Strom trotz der schwankenden Einspeisung, wie zum Beispiel bei einem Sturm, effizient genutzt werden kann. Zudem könnte ein einheitlicher Energiemarkt der EU auch eine bessere Verhandlungsposition gegenüber den Energielieferanten aus dem Ausland bescheren.

Heute hängt der Gasbedarf der mittel- und osteuropäischen Staaten zwischen 70 und 100 Prozent von Importen aus Russland ab, Deutschland deckt 37 Prozent mit Gas aus Russland ab. Spanien und Portugal hingegen beziehen ihr Gas überwiegend aus Afrika. Diese unterschiedlichen Marktstrukturen

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 394 führen zu unterschiedlichen energiepolitischen Interessen und erschweren den EU-27, mit einer Stimme gegenüber ausländischen Gaslieferanten zu sprechen. Zu guter Letzt würde mehr Energiesolidarität in Europa erhöhten Wettbewerb unter den europäischen Stromkonzernen bescheren, was mit großer Wahrscheinlichkeit auch zu einer Senkung der Verbraucherpreise führt.

3. Migration

Die sogenannte "Drittstaatenregelung" prägt die europäische Migrationspolitik maßgeblich und ist ein hochgradig unsolidarisches Prinzip. Danach ist derjenige EU-Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrages zuständig, in dem der Asylsuchende die EU-Außengrenze überschreitet. Die Verantwortung für die Asylsuchenden müssen daher vor allem Mitgliedsländer wie Griechenland, Italien oder Spanien übernehmen. Länder wie Deutschland, die eine bequeme Binnenlage genießen, verhalten sich mit dieser Regelung weder gegenüber den anderen EU-Mitgliedstaaten noch gegenüber den Asylsuchenden solidarisch. Konsequenz dieses unsolidarischen Verhaltens ist eine totale Überlastung der italienischen oder griechischen Behörden, was zum Teil zu menschenunwürdigen Lebensbedingungen der dort registrierten Asylbewerber führt. So berichtete kürzlich eine deutsche Tageszeitung, dass Asylsuchende aus Somalia von den italienischen Behörden in das Gebäude der ehemaligen somalischen Botschaft in Rom geschickt werden, mit dem Hinweis, dass ihnen dort geholfen wird. Dort angekommen finden die Asylsuchenden jedoch weder Versorgungsmöglichkeiten, fließendes Wasser, Strom oder eine Heizung vor und leben zu dutzenden unter menschenunwürdigen Zuständen.[5]

Solidarität unter dem Schleier der Unwissenheit

Letztendlich lässt sich Solidarität als Grundlage für gesellschaftliches Zusammenleben mit einer Idee begründen, die auf den amerikanischen Moralphilosophen John Rawls zurückgeht: Rawls schlägt vor, dass die Menschen die Regeln ihres Zusammenlebens unter einem Schleier der Unwissenheit bestimmen. Keiner darf vor der Festlegung der Regeln wissen, welchen Status, Bildungsgrad und welche Herkunft er haben wird. Die Menschen müssen demnach davon ausgehen, dass sie nach Lüftung des Schleiers - also im realen Leben - arm und benachteiligt sein könnten. Sie werden die Regeln des gesellschaftlichen Lebens daher so bestimmen, dass es auch noch diesen ärmsten und stark benachteiligten Menschen gut gehen wird.

Diese Überlegung ist für Rawls die Bedingung für eine gerechte und solidarische Welt. Es wäre viel getan, wenn sich jeder, ob Politiker, Banker, Angestellter oder Arbeitsloser, wenigstens ab und zu einen Schleier der Unwissenheit überwerfen würde. Wie würden wir als EU-Bürger handeln, wenn wir nicht wüssten, ob wir nach dem Lüften des Schleiers Bewohner eines bankrotten Staates, eines EU-Mitglieds mit prekärer Energieversorgung, eines Mitgliedstaates an der EU-Außengrenze oder Asylant wären? Vielleicht doch solidarisch(er)?

[1] Ash, Timothy Garton: Europe's true stories, Prospect, Ausgabe 131, Februar 2007. [2] Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, Pressemitteilung Nr.142 vom 21.04.2010 [3] Tatsachen über Deutschland 2010/2011, Societäts-Verlag, Frankfurt am Main, http://www. tatsachen-ueber-deutschland.de. [4] Ruhrkamp, Stefan: Banken zittern mit den schwachen Euro-Staaten, Faz.net, 5.02.2011. [5] Braun, Michael: Das Haus der Somalier, taz, 25.01.2011.

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Von "Solidarnosc" ins Zeitalter der Solidarität Standpunkt Weronika Priesmeyer-Tkocz

Von Dr. Weronika Priesmeyer-Tkocz 29.4.2011 Dr. Weronika Priesmeyer-Tkocz ist Polin und hat in Breslau und Berlin Internationale Beziehungen und Politikwissenschaft studiert. Seit 2009 ist sie Studienleiterin an der Europäischen Akademie Berlin.

Solidarność - Solidarität. Dieser Begriff ist eng mit der Demokratisierung Polens verbunden. Heute, so Weronika Priesmeyer-Tkocz, sei europäische Solidarität eine Chance für Polen: Das Land könne zeigen, dass es Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen könne.

Es ist mehr als 30 Jahre her, dass die erste unabhängige polnische Gewerkschaft "Solidarnosc" aus einer Streikbewegung von Arbeitern im Sommer 1980 in der Danziger Werft entstand. Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sie sich in eine Bewegung gegen das kommunistische Regime, quer durch alle Gesellschaftsschichten hindurch. Damit begann ein Prozess in Richtung Demokratisierung und Transformation in Polen und dem gesamten Ostblock.

Bei seinem Besuch in Warschau im Oktober 2010 erinnerte der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barosso daran, dass es ohne die Solidarnosc-Bewegung keine deutsche Wiedervereinigung gegeben hätte und die EU in ihrer heutigen Form nicht existieren würde. Der polnische Präsident Bronislaw Komorowski wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass man eigentlich im Zeitalter der Solidarität lebe, denn diese sei die geeignetste Antwort auf das europäische Dilemma.

Seit sieben Jahren ist Polen zusammen mit anderen mittel- und osteuropäischen Nachbarn Mitglied der Europäischen Union. In dieser Zeit hat sich das Land wirtschaftlich und strukturell beachtlich entwickelt. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich mehr als halbiert (9,4 Prozent); das Bruttonationaleinkommen pro Kopf stieg von 45 Prozent des EU-Durchschnitts auf mehr als 60 Prozent. Selbst von der Wirtschafts- und Finanzkrise blieb Polen weitestgehend verschont: Trotz eines deutliche Rückgang des Wachstums verbuchte das Land 2009 mit 1,7 Prozent des BIP als einziges in der EU wirtschaftliches Wachstum (2010 waren es sogar 2,7 Prozent).

Diese positiven Trends sind wohl einer dynamischen Gesellschaft, aber vor allem auch den Strukturfonds der Europäischen Kommission zu verdanken. Im Haushaltsrahmen 2007-2013 bleibt Polen mit 67 Milliarden Euro aus dem Kohäsionsfonds der größte Profiteur der EU (auf dem zweiten Platz ist Spanien mit 35 Milliarden Euro; die an 16 EU-Anrainer adressierte Europäische Nachbarschaftspolitik wird mit 11,2 Milliarden Euro bezuschusst). Die Mehrheit der polnischen Bevölkerung (sechs von zehn) ist mit der europäischen Integration zufrieden und betrachtet den Beitritt Polens zur EU als eine positive Entscheidung.

Aber wie solidarisch ist Europa aus polnischer Sicht? Das hängt unmittelbar mit der Frage zusammen, wie man in Polen die gesamte europäische Integration und Zusammenarbeit betrachtet. Aber auch damit, wie sehr sich das Land als Teil Europas definiert und ob es bereit ist, Verantwortung innerhalb der europäischen Strukturen zu übernehmen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 396 Solidarität als Machtfrage

Kurz nach der Osterweiterung ist Polens EU-Präsenz vor allem durch die rechtskonservative Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" der Brüder Kaczynski geprägt worden, die eine deutlich europa- und deutschlandskeptische Politik betrieben haben. Die Europäische Union biete zwar eine wirtschaftliche Entwicklung, sei aber zugleich eine Gefahr für die nationale Identität und Integrität Polens, hieß es damals in Warschau. Da für die regierenden Eliten die EU mit ihren supranationalen Institutionen ein notwendiges Übel war, musste man stets darauf hinweisen, dass es einen Unterschied zwischen "wir" (Polen) und "denen" (dem deutsch-französisch dominierten Westen) gebe. Die polnische Regierung hat sich in dieser Zeit stets bemüht, diese Unterschiede herauszuarbeiten. Die als Einbahnstraße gesehene "Solidarität" wurde zum Instrument polnischer Interessen.

In den ersten Jahren seiner EU-Mitgliedschaft drohte Polen mehrmals ein Veto an, sobald es vom Misstrauen geleitet wurde, dass die europäischen Regelungen und Absprachen den nationalen Interessen im Wege standen. Unter dem Motto "Nizza oder Tod" drohte Präsident Lech Kaczynski bei Neuverhandlungen um den EU-Verfassungsvertrag im Juni 2007 mit einem Veto, wenn die anderen Mitgliedstaaten seinen Vorschlag einer neuen Stimmgewichtung im Rat (sog. Quadratwurzel) nicht übernehmen würden. Ein Jahr später beim Verhandlungsmandat für das neue EU-Russland- Abkommen wurde erneut mit Veto gedroht - diesmal ging es um polnische Fleischexporte, die angeblich aus hygienischen Gründen vom russischen Markt verbannt wurden.

Auch die deutsche Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder blieb von der polnischen Machtrhetorik nicht verschont. Das tatsächlich ungeschickt verhandelte deutsch-russische Projekt einer Ostseepipeline (heute Nord Stream) wurde als direkte Bedrohung für die polnische Energiepolitik empfunden und mit dem Hitler-Stalin-Pakt aus dem Jahre 1939 verglichen. Noch im Februar 2010 hat Jaroslaw Kaczynski (inzwischen in der Opposition) die EU diesbezüglich kritisiert und ihr ein unsolidarisches Verhalten Polen gegenüber vorgeworfen.

Selbstbewusstes Auftreten, realpolitische und teils polemische Rhetorik und kategorisches Geltendmachen der nationalen Interessen brachten Warschau den Ruf eines Störenfrieds und Bremsers der europäischen Integration ein. Die Idee einer europäischen Schicksals- und Interessengemeinschaft war passé.

Solidarität als Verpflichtung

Mit dem Regierungswechsel 2007 und der neuen liberalkonservativen Koalition unter Führung von Premierminister Donald Tusk kam es zu einem spürbaren Wechsel in der polnischen Europapolitik. Auch die deutsch-polnischen Beziehungen haben davon profitiert und erreichten eine lang vermisste Intensität.

Polen sei an der Stärkung der Solidarität in der Europäischen Union mehr als interessiert, sagte Präsident Komorowski bei seinem ersten Besuch in Brüssel. In der zweiten Hälfte 2011 übernimmt das Land das erste Mal den EU-Ratsvorsitz. Für die Regierung Tusk haben die haushaltspolitischen Verhandlungen rund um den neuen EU-Finanzrahmen 2014-2020 Priorität. Und sie sind wichtig im Hinblick auf die europäische Solidarität. Genauso wie die Kohäsionspolitik und das Thema Energiesicherheit. Symbolisch war in diesem Zusammenhang auch die Entschlossenheit Warschaus, den Posten des EU-Haushaltskommissars (Janusz Lewandowski) besetzen zu wollen.

Am deutlichsten ist die neue Rhetorik jedoch in Bezug auf die EU-Verschuldung und die instabile Lage in einigen Ländern der Eurozone erkennbar. Polen, selbst noch kein Mitglied im Euroraum, plädiert kontinuierlich dafür, dass die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verschärft und von allen eingehalten werden und dass auch künftige Euro-Mitglieder in Gespräche über die Rettung der gefährdeten Staaten eingebunden werden. Mit Zurückhaltung ist in diesem Zusammenhang der Gipfel der 17 Eurostaaten vom 11. März 2011 aufgenommen worden. Immerhin würde dort Beschlossenes indirekt alle Teilnehmer des europäischen Binnenmarktes betreffen. Polen dränge auf weitere EU-

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 397

Integration und wolle den solidarischen Gedanken nicht durch ein Europa zweier Geschwindigkeiten ersetzen, hieß es offiziell in Warschau. Der Ende März 2011 geschlossene Euro-Plus-Pakt, dem auch EU-Länder angehören, die nicht zum Euroraum gehören, geht wesentlich auf dieses Drängen zurück. Polen gehört dem Pakt an. Auch will die jetzige Regierung alle nötigen Schritte unternehmen, um so schnell wie möglich der Eurozone beitreten zu können.

Das polnische Verständnis von europäischer Solidarität geht jedoch weit über die Grenzen der Europäischen Union hinaus. Warschau setzt sich kontinuierlich dafür ein, dass die EU mit einem geeigneten Angebot die östlichen Anrainer Polens zur Europäisierung, Demokratisierung und Transformation bewegt (wobei die Frage eines EU-Beitrittes umstritten bleibt). Die aus einer polnisch- schwedischen Initiative entstandene Östliche Partnerschaft hat bewiesen, dass Polen seine europäischen Initiativen nicht mehr im Alleingang durchzusetzen versucht, sondern bereit ist, Interessenkoalitionen zu bauen und Kompromisse zu akzeptieren.

Solidarität als Chance

Mittlerweile ist Polen tatsächlich in der Europäischen Union angekommen - sieben Jahre nach dem Beitritt. Als wichtiges Glied in dieser Struktur will es nicht nur Empfänger der Brüsseler Solidarität sein, sondern ist auch bereit, Verantwortung für das Wohl der Gemeinschaft zu übernehmen. Damit das auch so bleibt und man tatsächlich von einem Zeitalter der Solidarität sprechen kann, muss diese politische Ausrichtung dauerhaft sein und darf nicht von nationalen Interessen und parteiischen Auseinandersetzungen geprägt werden. Die für den Herbst geplanten Parlamentswahlen in Polen könnten als Gradmesser dienen, ob das Land tatsächlich in Europa angekommen ist.

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Überlegungen aus Großbritannien Standpunkt Gisela Stuart

Von Gisela Stuart 29.4.2011 Gisela Stuart ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Seit 1997 gehört sie dem britischen Parlament (Unterhaus) an und vertritt dort den Wahlkreis Birmingham Edgbaston.

Wie funktioniert Solidarität in der Europäischen Union? Dieser Frage geht Gisela Stuart nach. Solange die Wirtschaft wächst gehe alles gut, so Stuart. In Krisen brauche man aber ein Zusammengehörigkeitsempfinden, und das sei in der EU eher schwach ausgeprägt.

D'Artagnan und die drei Musketiere Athos, Aramis und Porthos aus dem Roman "Die drei Musketiere " von Alexandre Dumas hätten die Frage nach der Solidarität ganz einfach beantwortet: "Einer für alle - alle für einen".

Die Gründungsväter - und es waren alles Männer - der Europäischen Union hatten eine ähnlich Idee: Die Mitgliedstaaten werden sich füreinander verantwortlich fühlen und über die Jahre wächst man zusammen, Schritt für Schritt, tiefer und enger. So ging das in Amerika und so wird das auch in Europa gehen.

Die Währungsunion war das jüngste große Projekt des Zusammenkommens. Eine gemeinsame Währung - aber keine zentrale Regierung oder die Fähigkeit, eigene Steuern zu erheben. Deshalb der Stabilitätspakt and keine Bail-outs. Währungsunion vor politischer Union - das hat noch kein Land vorher geschafft.

So die Theorie, aber wie so oft sah es in der Praxis anders aus. Länder wie Griechenland und Italien traten der Währungsgemeinschaft bei, obwohl es jedem klar war, dass die Beitrittsbedingungen nicht erreicht waren. Deutschland und Frankreich brachen den Stabilitätspakt. Kleinere Länder wie die Niederlande hielten sich daran and legten Beschwerde ein. Die Großen reagierten mit Schulterzucken. Dann gab es eben neue Regeln und die Europäische Zentralbank fixierte einen Zinssatz, der für die deutsche Wirtschaft gut war, den anderen aber schadete.

Was verstehen wir in der Politik unter Solidarität? Die Deutschen haben in der Nachkriegsgeschichte zweimal gezeigt, wie man krasse wirtschaftliche Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen zumindest mildern kann. Der Lastenausgleich gab von 1949 bis 1995 fast 140 Milliarden DM für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte aus. Und 1991 wurde der Solidaritätszuschlag eingeführt, der bei den Kosten der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten helfen sollte.

Auch die Briten verstehen Solidarität. Der Londoner bekommt für jedes Pfund, das er an Steuern abgibt auch etwa ein Pfund Wert von Staatsleistungen. In Schottland ist das schon fast £1.40, im Walisischen £1.80 und in Nord-Irland sogar £1.95. Das ist der Preis den man für die Union - das Vereinigte Königreich - zahlt. In Deutschland ist das auch so zwischen den Bundesländern.

Das Wörterbuch sagt, Solidarität bezeichnet eine, zumeist in einem ethnisch-politischen Zusammenhang benannte Haltung der Verbundenheit mit - und Unterstützung von - Ideen, Aktivitäten and Zielen anderer. Jedes Land, das seit 1957 der Union beigetreten ist, hatte seine eigenen Gründe. Am Anfang ging es

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 399 um dauernden Frieden zwischen Deutschland und Frankreich. Zusammen mit den Benelux-Ländern und vielleicht auch Italien, konnte man sich vorstellen, dass eine tiefe politische und wirtschaftliche Union, mit einer gemeinsamen Währung möglich sei.

Wie man das in die Realität übersetzen würde, war im Werner-Report des Jahres 1970 zu lesen. Der Delors-Report von 1989 war konkreter. Auffallend ist, dass es sich für Werner und Delors um ein rein politisches Projekt handelte. Die notwendigen wirtschaftlichen Voraussetzungen wurden nie in Erwägung gezogen. Man verließ sich darauf, dass die verschieden nationalen Wirtschaften zu einer gemeinsamen europäischen Wirtschaft zusammen wachsen würden.

Die Briten wollten da nicht mitmachen. Margaret Thatchers Wirtschaftsberater warnte davor, dass eine europäische Währung die Unterschiede zwischen den Wirtschaften der einzelnen Länder nur größer machen würde. Das war nicht das erste, oder das letzte Mal, dass die Briten anderer Meinung waren. De Gaulle wollte sie von Anfang an nicht dabeihaben - und mit gutem Grund. Er wusste, dass die Angelsachsen, die auf ihrer Insel mehr an freiem Handel interessiert waren, das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten ändern würden.

So war das auch, als sie 1973 beitraten - und es war auch der Anfang des Endes der 1960 gegründeten EFTA. Jahre später meinte der dann tschechische Premierminister und heutige Staatspräsident Vaclav Klaus, dass seit 1973 kleine Länder in Europa keine Wahl zwischen freiem Handel oder politischer Integration mehr hätten. Beitritt oder Isolation.

Für Spanien, Griechenland und Portugal in den 1980er-Jahren war der Beitritt in die Europäische Gemeinschaft eine Aufnahme in die Familie demokratischer Länder. Man hatte die Diktatoren abgeworfen und war Stolz darauf. In den 1990er-Jahren folgten die meisten der verbleibenden EFTA- Mitglieder die nicht draußen im Kalten bleiben wollten oder konnten (Schweden, Finnland, Österreich). 2004 kamen acht Länder, die für Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang gelebt hatten, und auch Malta and ein gespaltenes Zypern dazu. Nur die Norweger sagten zweimal Nein (1972 und 1994). Aber obwohl sie in Brüssel nicht vertreten sind, setzen sie doch alle Direktive und Regulationen um.

Man darf fragen, ob Bulgarien und Rumänien beitrittsfähig waren und ob es ein Fehler war, ein geteiltes Zypern aufzunehmen. Aber von sechs auf 27 in 47 Jahren ist bemerkenswert.

Die nächste offene Frage ist der Beitritt der Türkei, der schon seit 1987 verhandelt wird. Alle sind sich klar, dass sich mit der Türkei die Union wieder ändern wird. Aber Änderungen sind vielleicht aus anderem Grund unvermeidbar. Es hat sich in der Bevölkerung der Union ein Meinungsumschlag vollzogen. Früher nahm man alles im Namen Europas fraglos hin. Jetzt hat man gelernt, auch zur Union Nein zu sagen. Die Schweden weigerten sich 2003, dem Euro beizutreten. In Frankreich und den Niederlanden wurde 2005 der Verfassungsvertrag abgelehnt, 2008 ging es dem Lissabonner Vertrag in Irland genauso. Warum sind die Menschen der Union sich nicht so nahe gekommen, wie es die Politiker erhofft hatten? Solidarität muss erarbeitet werden, man kann das nicht künstlich von Oben erzwingen.

Wie ging das in den Vereinigten Staaten von Amerika? Zuerst erklärte man die Unabhängigkeit und es dauerte anschließend zwanzig Jahre, ehe man die Verfassung geschrieben hatte und eine Verwaltung der Steuereinkommen eingerichtet hatte. Der Dollar ersetzte die verschiedenen nationalen Währungen 75 Jahre später und eine Zentralbank gibt es erst seit 1913. In den Gründerjahren gab es heftige Auseinandersetzung zwischen Madison und Hamilton - es ging darum wer die Schulden der Kolonien übernehmen sollte. Sollte Virginia alleine zahlen? Hamilton gewann, die US Treasury wurde dafür verantwortlich - einer für alle, alle für einen.

Heute weiß man, wer für die Schulden eines bestimmten Staates verantwortlich ist. Ein Währung - ein Land - ein Zinssatz - ein Wechselkurs. Und wenn es Kalifornien schlecht geht, dann muss eben Texas helfen.

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Anders in Europa. Man streitet sich zwar über die Anwendung des Euro Rettungsschirms und über die Größe des Eurokrisenfonds, aber eines ist klar: Am Ende wird es sich um erhebliche Zusatzbelastung Deutschlands handeln. Das ist schlecht für die Union and noch schlechter für Deutschland. Wie sich Deutschland seinen Nachbarn gegenüber verhält, ist die geschichtliche Zentralfrage.

T. S. Eliot sagt in den "Vier Quartette": Ein Volk ohne Geschichte ist nicht durch die Zeit erlöst, denn die Geschichte folgt einem Schema von zeitlosen Momenten. (a people without history is not redeemed from time, for history is a pattern of timeless moments) Das heißt: Wir sollen von Geschichte lernen um uns von den Fehlern der Vergangenheit zu befreien.

Deutschland ist geografisch zentral und wirtschaftlich erfolgreich. In der Vergangenheit sprach man wenig von deutschen Interessen und wenn es Probleme in der Union gab, wurde Deutschland zur Kasse gebeten. Mehr Europa and weniger Deutschland. Der Nachbar Frankreich hatte nie solche Hemmungen.

Die Finanzkrise fordert, dass andere Länder wettbewerbsfähiger werden und ihr Defizit reduzieren. Aber das schafft böses Blut, wie man das im letzten Jahr an der Reaktion in Griechenland sah. Solidarität zu verlangen, wenn die grundlegenden Vorbedingung nicht bestehen, führt zuerst zum "Stau", dann zum "Stillstand" - und, wenn man nicht vorsichtig ist, zum "Auseinanderbrechen". Man sieht das in Belgien. Flamen und Wallonen haben so wenig gemeinsam, dass man schon seit Monaten keine Regierung bilden kann.

"Einer für alle und alle für einen" geht gut, wenn die Wirtschaft wächst. Aber sobald es um Abgaben und Schadensaufteilung geht, dann braucht man das Empfinden der Zusammengehörigkeit. Das findet man zwischen den Mitgliedsstaaten Europas aber sehr wenig.

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Solidarität Eine Auswahl von eurotopics.net

6.5.2011

Die europäische Presse sucht nach der europäischen Solidarität: Wie sollen die EU-Staaten auf Einwanderung reagieren? Sollen die starken Länder den in Not geratenen Staaten finanziell zur Seite stehen? Wie weit darf europäische Solidarität gehen?

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Migration gemeinsam angehen La Razón - Spanien; Mittwoch, 27. April 2011

Die Flüchtlingskrise der EU ist die Gelegenheit, einen seit langem schwelenden Konflikt endlich zu lösen, schreibt die konservative Tageszeitung La Razón mit Blick auf die von Frankreich und Italien geplante Reform des Schengen-Abkommens: "Die Krise bietet die Gelegenheit eine Debatte anzugehen, die aufgrund ihrer Komplexität und der widersprüchlichen Interessen innerhalb der EU zu lange aufgeschoben wurde. Bislang haben die Länder ohne Außengrenzen wenig Solidarität gezeigt und es fehlt am Willen, effiziente Instrumente zu entwickeln. Es muss das Ziel sein, endlich eine gemeinsame Antwort auf die Einwanderung zu finden - nicht eine Lösung, die nur von Frankreich oder Italien diktiert wird. ... Ein falsch verstandener nationaler Egoismus schwächt alle. In diesem Sinne müssen wir eine Lösung finden, um den freien Personenverkehr zu retten und gleichzeitig Maßnahmen zu ergreifen, die Antworten auf die Herausforderung der Einwanderung geben. Solche Maßnahmen könnten die Aufteilung der Last unter den Ländern einschließen, sowie die Verstärkung der Aufwendungen für Frontex und eine vereinte Asylpolitik." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE86570- Migration-gemeinsam-angehen)

Wahre Finnen bedrohen Europa De Tijd - Belgien; Freitag, 15. April 2011

Bei den finnischen Parlamentswahlen am Sonntag werden der rechtspopulistischen Partei Wahre Finnen große Gewinne vorhergesagt. Mit euroskeptischen Parolen haben solche Parteien auch in anderen reichen europäischen Ländern Erfolg, und das ist ein gefährlicher Trend, meint die Wirtschaftszeitung De Tijd: "Was geschieht, wenn auf einmal die europäische Solidarität stockt? Was ist, wenn die Partei Wahre Finnen einen neuen Rettungsplan für Portugal torpediert, wie sie das in ihrem Wahlkampf verspricht? Und was ist, wenn sie auch die Erhöhung der Kreditkapazität des europäischen Rettungsfonds für Euroländer mit Problemen blockiert? Die Märkte wittern nun schon Blut und treiben die Zinsen für die 'PIGS', wie die schwachen Euroländer genannt werden, in ungeahnte Höhen. ... Die Haltung der Markthändler ist genauso kurzsichtig, wie der Plan der Wahren Finnen: Die Kettenreaktion, die die Partei in Gang setzen kann, würde katastrophale Folgen für den Euro haben. Ohne Solidarität 'verdampft' auch Europa." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE86158- Wahre-Finnen-bedrohen-Europa)

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 402

Fehlende Solidarität Salzburger Nachrichten - Österreich; Montag, 11. April 2011

Bayern will notfalls mit Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze die Einwanderung von Flüchtlingen aus Tunesien verhindern. Die christlich-liberale Tageszeitung Salzburger Nachrichten kritisiert die fehlende Solidarität unter den EU-Mitgliedsstaaten, wenn es um Flüchtlinge geht: "Sobald Flüchtlinge in großer Zahl über die Grenzen Europas hereinschwappen, hört die Freundschaft der EU- Länder zueinander recht rasch auf. ... Die Misere zeigt: Europa hat sich verrannt in der Flüchtlings- und Zuwandererpolitik. Die Verantwortung für Asylsuchende und Flüchtlinge liegt ausschließlich bei jenen, die Europas Grenzen bewachen. Und wenn Italiener, Griechen oder Spanier damit überfordert sind, dann hilft man ihnen nicht, sondern schottet sich ab, wie jetzt die Bayern und andere Zentraleuropäer. Der Flüchtlingsdruck wird nicht nachlassen. Europa wird auch für hier einen Weg finden müssen, der das Problem solidarisch löst, statt es auf andere abzuschieben." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE85889- Fehlende-Solidaritaet)

Athen braucht Europas Solidarität Top-Thema; Dienstag, 8. März 2011

Drei Tage vor dem EU-Sondergipfel gerät Griechenland tiefer in den Strudel der Schuldenkrise. Die Rating-Agentur Moody's hat die Kreditwürdigkeit des Landes unter die des politisch instabilen Ägypten herabgestuft. Während einige Kommentatoren die privaten Rating-Agenturen vor Gericht sehen wollen, fordern andere mehr Solidarität unter den Euroländern. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER84239- Athen-braucht-Europas-Solidaritaet)

Zapatero spielt Vorreiter in Nordafrika Le Monde - Frankreich; Donnerstag, 3. März 2011

Spaniens Premier Jose Luis Rodriguez Zapatero hat am Mittwoch als erster EU-Regierungschef nach dem Sturz des alten Regimes Tunesien besucht. Die Tageszeitung Le Monde begrüßt diesen Schritt: " Wir müssen Herrn Zapatero im Namen Europas danken. Er hat ein Vakuum gefüllt. Frankreich [Präsident Sarkozy] hatte [2008] den 'Fortschritt bei den politischen Freiheitsrechten' in Ben Alis Tunesien begrüßt. Deshalb ist es verständlich, dass es nicht das erste Land ist, das die neue Ära am Südufer des Mittelmeers vor Ort feiert. ... Ohne als Spaßverderber dastehen zu wollen, beschleicht uns das starke Gefühl, dass Europa Schwierigkeiten hat, einem wichtigen historischen Prozess beizuwohnen, der sich an unseren Südgrenzen abspielt und unseren Kontinent deshalb unmittelbar betrifft. ... Man hätte sich von ganz Europa gewünscht, dass es sich offen um politische Solidarität bemüht, die der Bedeutung des Ereignisses würdig gewesen wäre. Also warten wir weiter auf ein Zeichen, das die Schicksalsgemeinschaft zwischen Europa und dem so nahen Morgenland bestätigt." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE84017- Zapatero-spielt-Vorreiter-in-Nordafrika)

Daniel Daianu mahnt mehr Solidarität in Europa an Revista 22 - Rumänien; Donnerstag, 3. März 2011

Die Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa führt häufig zu Spannungen zwischen den europäischen Institutionen und den EU-Mitgliedsländern. In der Wochenzeitung Revista 22 mahnt Daniel Daianu die starken und schwachen Länder zu mehr gegenseitigem Verständnis: "Die Wirtschaftskrise bringt große Länder wie Frankreich und Deutschland immer stärker dazu, nicht mehr die Methode der

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Regierungszusammenarbeit anzuwenden. Kanzlerin Angela Merkel erklärte in diesem Zusammenhang, dass diese 'Gemeinschaftsmethode' bedeute, dass die wichtigsten Entscheidungen nicht der langsamen Bürokratiemaschinerie der Kommission überlassen werden sollten, sondern dass der Europäische Rat vor allem in Krisensituationen die Entscheidungen treffen müsse. ... Doch das Machtverhältnis der EU-Staaten im Europäischen Rat ist äußerst unterschiedlich verteilt, was zu Spannungen führt. ... Ein immer wiederkehrender Slogan in Brüssel lautet: 'Mehr Europa ist die Lösung. ' Damit das Wirklichkeit wird, müssten Länder wie Deutschland den Großteil der Unionsländer nicht als Ballast begreifen. Die weniger leistungsfähigen Länder müssten hingegen verstehen, dass Solidarität kein Blankoscheck ist, da Berlin und die anderen Länder sich zuallererst vor ihren Steuerzahlern rechtfertigen müssen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE83949- Daniel-Daianu-mahnt-mehr-Solidaritaet-in-Europa-an)

Solidarität mit dem Süden zeigen Der Standard - Österreich; Dienstag, 15. Februar 2011

Die EU muss sich mit den südlichen Aufnahmeländern solidarisieren, fordert die linksliberale Tageszeitung Der Standard angesichts der Ankunft Tausender Flüchtlinge aus Tunesien auf der Mittelmeerinsel Lampedusa: "Die Flüchtlingsströme aus Tunesien über das Mittelmeer zeigen, dass sich der Freiheitsdrang nicht auf das eigene Land beschränkt, sondern auch Richtung Europa bewegt. Wie Spanien und Griechenland klagt Rom seit Jahren zu Recht darüber, dass die anderen EU-Staaten die Italiener mit dem Flüchtlingsproblem alleinlassen. Eine gemeinsame Lastenteilung in Europa ist drängender denn je. Denn bisher sind die Staaten am Südrand Europas wegen ihrer geografischen Lage, für die sie nichts können, überproportional stark betroffen. Das ist ein europäischer Solidaritätsfall. Drängender wird auch die Frage, was man diesen Staaten anbietet. Die bisherige EU- Nachbarschaftspolitik oder Mittelmeerunion war als Placebo gedacht, als Ersatz für eine Mitgliedschaft - wohl wissend, dass diese Staaten entscheidende Aufnahmekriterien nicht erfüllen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE83140- Solidaritaet-mit-dem-Sueden-zeigen)

Schuldenkrise bedroht Solidarität in EU Top-Thema; Freitag, 26. November 2010

Nach den Finanzhilfen für Irland gelten Spanien und Portugal als nächste Kandidaten. Das verstärkt die Angst um den Euro und bedroht damit die Solidarität in Europa, befürchtet die Presse. zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/DOSSIER79563- Schuldenkrise-bedroht-Solidaritaet-in-EU)

Bratislava bleibt standhaft Hospodárske noviny - Slowakei; Donnerstag, 26. August 2010

Dass die slowakische Premierministerin Iveta Radicová in Berlin das Nein zur Griechenlandhilfe verteidigt hat, lobt die slowakische Wirtschaftszeitung Hospodárske noviny: "Radicová hat dem Druck Deutschlands widerstanden. Sie wiederholte, dass Nein Nein bedeutet. Und sie verwahrte sich gegen EU-Währungskommissar Rehn, der uns wegen unzureichender Solidarität kritisiert hatte. Rehns übertriebene Kritik war ein Ausdruck von Arroganz und Unverschämtheit. Die Slowakei hat das volle Recht, allein über eine mögliche bilaterale Hilfe für Griechenland zu entscheiden. Unzureichend solidarisch hat sich zuerst die EU verhalten, als sie den Griechen keinen Cent gab. Erst als es ans Zahlen ging, war plötzlich von Solidarität die Rede. ... Sicher verkompliziert das erfolgreiche slowakische Aufbegehren die Lage für die Führer der Eurozone. Der slowakische Präzedenzfall hat unangenehme politische Folgen. Aber wenn die EU-Kommission jemanden in Sachen Solidarität

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 404 schulen will, sollte sie da beginnen, wo die Heuchelei am meisten stinkt - in Brüssel." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE75028- Bratislava-bleibt-standhaft)

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Zukunft des Euro (2010)

17.3.2010

Wem nutzt der Euro? Müssen Krisenländer wie Griechenland die Gemeinschaftswährung aufgeben? War die Euro-Einführung von Anfang an ein Fehler? Vier Experten geben unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der Zukunft des Euro.

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Der Euro – gemeinsames Geld und gemeinsames Schicksal

Von Eckart D. Stratenschulte 17.3.2010

Bis 2009 schien alles in Ordnung: Die Debatten über Sinn und Unsinn der Gemeinschaftswährung waren geführt, der Euro zeigte sich stabil und alle schienen zufrieden. Mit der Krise in Griechenland ist der Euro zurück auf der Tagesordnung. Hat er eine Zukunft? Zahlen die Fleißigen in der Währungsunion für die Faulen? Verschärft der Euro gar unsere Krise?

Um die aktuelle Diskussion über den Euro richtig einschätzen zu können, muss man sich einige elementare Erkenntnisse ins Bewusstsein rufen: Die Währung ist für eine Volkswirtschaft gewissermaßen der Blutkreislauf, ohne Geld kann sich eine Gesellschaft wirtschaftlich nicht entwickeln. Normalerweise verfügt jedes Land über eine eigene Währung. Gleichzeitig stellt dieser Staat auch ein einheitliches Wirtschaftsgebiet mit gemeinamen Gesetzen, Tarifen, Steuern und Preisen dar.

Verliert ein Land international an Konkurrenzfähigkeit, beispielsweise weil die Löhne zu hoch, die Infrastruktur zu schlecht oder die qualifizierten Arbeitskräfte nicht vorhanden sind, kann es seine Position verbessern, indem es seine Währung abwertet. Das eigene Geld verliert damit gegenüber anderen Währungen an Wert. Im Binnenverhältnis bleibt erst einmal alles gleich, die Bürger werden von einer solchen Abwertung nicht unmittelbar betroffen. Lediglich Importe werden teurer. Dadurch werden andererseits Exporte in andere Länder für diese billiger, so dass im Allgemeinen der Absatz angekurbelt werden kann. Die Abwertung einer Währung - oder auch ihre Aufwertung - ist ein wichtiges Steuerungsinstrument für eine Volkswirtschaft. Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft nicht in einer gleichmäßigen Bahn, sondern im Auf und Ab von Konjunkturzyklen. Die Regierungen neigen dazu, in Phasen des wirtschaftlichen Abschwungs die Konjunktur dadurch zu stärken, dass sie den Konsum fördern. Sie drängen ihre Notenbanken, die Kreditzinsen zu senken, also geliehenes Geld billiger zu machen. Dadurch werden die Bürger motiviert, sich auch auf Pump etwas zu leisten, Güter nachzufragen und so zur wirtschaftlichen Belebung beizutragen. Auch der Staat gibt in solchen Phasen mehr Geld aus und verschuldet sich dafür.

Eine hohe Staatsverschuldung kann durch eine Inflation faktisch reduziert werden. Zwar bleibt der Schuldenstand zahlenmäßig genauso hoch, aber wertmäßig verringert er sich um die Inflationsrate. Regierungen können daher durchaus ein Interesse an einer Inflation haben, die allerdings schlecht für alle ist, die Geldvermögen (zum Beispiel ein Sparbuch oder festverzinsliche Wertpapiere) besitzen oder deren Gehälter und Renten nur mit Verzögerung an die Geldentwertung angepasst werden. Um Inflation zu vermeiden, hatte man in Deutschland die Deutsche Bundesbank von der Regierung unabhängig gemacht.

Wenn verschiedene Staaten ihre Währung zusammenlegen, wie das mit dem Euro geschehen ist, handelt es sich um einen weitreichenden Schritt. Entsprechend ist die Gründung der Europäischen Währungsunion mit dem gemeinsamen Geld "Euro" nicht einfach gewesen. Viele Jahre wurde um dieses Projekt gerungen und immer wieder kreisten die Diskussionen um dieselben Fragen: Kann eine Währungsunion Bestand haben, wenn ihr nicht ein gemeinsames Wirtschaftsgebiet mit einheitlichen Regelungen, z.B. im arbeitsrechtlichen und sozialen Bereich, und mit einheitlichen Steuern zugrunde

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 407 liegt? Darüber, dass ein solcher "optimaler Währungsraum" in Europa nicht besteht und sicherlich auf längere Zeit auch nicht entstehen wird, waren sich alle Experten einig. Unterschieden haben sie sich in der Frage, ob eine gemeinsame Wirtschaftspolitik die Folge einer gemeinsamen Währung ist oder deren Voraussetzung, ob der optimale Währungsraum also mit dem gemeinsamen Geld entsteht oder ob es diesen vorab benötigt.

Den Ausschlag für die Gründung der Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht 1992 gaben dann aber nicht wirtschaftliche Überlegungen, sondern politische. Die deutsche Einheit hatte das Kräftegleichgewicht in der Europäischen Gemeinschaft durcheinander gebracht. Zwar wurde darüber nicht offen gesprochen, in den Verhandlungen und Überlegungen der Regierungen der europäischen Staaten gab es jedoch eine starke Furcht vor einer deutschen Dominanz, da die Europäische Gemeinschaft seit 1990 mit dem vereinten Deutschland nun auch bevölkerungsmäßig eine klare Nummer 1 hatte. Vor allem die französische Regierung drang daher sehr darauf, die Deutsche Mark und die Deutsche Bundesbank in ein gemeinsames System einzubinden, um so zu verhindern, dass Deutschland zu viel Macht in Europa ausüben könne. Die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl hat dem zugestimmt - allerdings unter der Bedingung, dass die Währungsunion und die Struktur der Europäischen Zentralbank sich sehr stark an dem deutschen Vorbild orientierten.

Die Aufgabe der D-Mark war in Deutschland nicht populär, Helmut Kohl und sein Finanzminister Theo Waigel wussten das. Sie sahen daher nur eine Chance, die Deutschen in die Währungsunion zu führen, wenn sie ihnen versichern konnten, dass der Euro genauso stabil sei wie die D-Mark und die Europäische Zentralbank genauso unabhängig wie die Deutsche Bundesbank. Auf deutsches Drängen wurde ein zusätzlicher Stabilitäts- und Wachstumspakt verabschiedet, der eine übermäßige Verschuldung der Euro-Mitgliedsländer auf Dauer verhindern sollte. Wenn das jährlich Defizit eines Landes drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschreitet, erhält das Land einen "blauen Brief" der Europäischen Kommission und kann, wenn es den Mangel nicht abstellt, vom EU-Ministerrat zu einer Geldstrafe verurteilt werden. Dass Deutschland und Frankreich, die beiden Schwergewichte der Währungsunion, im Jahr 2002 darauf drangen, diese Regelung vorübergehend außer Kraft zu setzen, weil sie selbst die Kriterien nicht erfüllten, hat viele Partner der Währungsunion verbittert. Für die schwächeren Teilnehmerländer in der Eurozone war diese zunächst auch deshalb ein Gewinn, weil sie neue Schulden nun zu deutlich geringeren Zinsen aufnehmen konnten, um ihr Staatsdefizit zu finanzieren.

Nicht alle haben allerdings diesen Vorteil genutzt, um Schulden abzubauen. Besonders Griechenland, das sich schon mit geschönten Zahlen Eintritt in die Währungsunion verschafft hatte, nahm sorglos weitere Kredite auf - und verschleierte diese gegenüber der Europäischen Union durch statistische Manipulationen. Als das Land aus diesem Grund - und verschärft durch die internationale Finanzkrise ab 2008 - im Jahr 2010 vor dem Bankrott stand, offenbarte sich ihm der Nachteil der Währungsunion: Eine Abwertung der nationalen Währung, normalerweise ein Mittel, um auf eine solche Situation zu reagieren, stand den Hellenen nicht zu Gebote. Sie mussten und müssen die Stabilisierungsanstrengungen daher dadurch erbringen, dass sie kurzfristig weitgehende Einsparungen im Staatsbudget, also auch bei den Renten und Gehältern, vornehmen und die Steuern erhöhen, was natürlich mit erheblicher sozialer Unruhe verbunden ist.

Die Griechenlandkrise hat die Diskussion um den Euro noch einmal belebt und zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen geführt. Die einen sahen sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass die Eurozone kein optimaler Wirtschaftsraum sei und forderten Griechenland auf, die Währungsunion zu verlassen (so z.B. der frühere Banker Wilhelm Hankel oder die tschechische Zeitung Hospodářské noviny). Andere, wie der Jurist Karl Albrecht Schachtschneider, sehen für Deutschland keine andere Möglichkeit, als selbst aus der Eurozone auszutreten, wenn die Griechen und die anderen schwachen Staaten (Portugal, Italien, Irland und Spanien) dies nicht täten. Ein Ausschluss aus der Währungsunion ist nämlich in den Verträgen nicht vorgesehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hält dies für einen Mangel und forderte im März 2010 vor dem Deutschen Bundestag, die europäischen Verträge dahingehend zu ändern, dass es möglich wäre, sich von einem Mitglied der Währungsunion auch

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 408 gegen dessen Willen zu trennen. Damit rüttelte sie an einem Tabu der europäischen Integration (und erntete von ihren europäischen Kollegen viel Kritik). Insgesamt kennt die Europäische Union nämlich den Ausschluss eines Mitglieds nicht, sie basiert vielmehr auf dem festen Willen, sich trotz aller Meinungsunterschiede letztendlich zu einigen. Erst seit dem Lissabonner Vertrag gibt es überhaupt die rechtliche Möglichkeit für einen Mitgliedstaat, die EU aus eigenem Entschluss zu verlassen.

In Frankreich wird sehr stark eine andere Lösung der gegenwärtigen Eurokrise favorisiert, nämlich eine größere Gemeinsamkeit der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, die man durch eine europäische Wirtschaftsregierung sicherstellen möchte. Eine solche Steuerungsinstitution würde die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, die bislang ausschließlich auf die Erhaltung des Geldwertes, also die Inflationsbekämpfung, ausgerichtet ist, beeinträchtigen und stößt daher in Deutschland auf heftigen Widerstand. Als Kompromiss beschlossen die Staats- und Regierungschefs im März 2010 "eine enge Koordinierung der Wirtschaftspolitiken in Europa zu fördern". Sie sagten weiter: "Wir sind der Ansicht, dass der Europäische Rat die wirtschaftspolitische Steuerung der Europäischen Union verbessern muss, und schlagen vor, seine Rolle bei der wirtschaftlichen Koordinierung und der Festlegung der Wachstumsstrategie der Europäischen Union auszubauen." Damit hat der Europäische Rat, das sind die Staats- und Regierungschefs, sich selbst alle Vollmachten vorbehalten.

Einen anderen Vorschlag hat Bundesfinanzminister Schäube in die Diskussion gebracht: Die Europäische Union solle für den Fall der Krise eines Eurolandes einen Europäischen Währungsfonds schaffen, der sich an der Struktur und Tätigkeit des Internationalen Währungsfonds orientiere. Dort zahlen alle Mitgliedsländer Beträge ein und können im Fall einer finanziellen Notlage vom Währungsfonds Kredite erhalten, die allerdings an strenge Auflagen zur Gesundung der Finanzen gebunden sind. Ein solcher Europäischer Währungsfonds sei aber nur die Reaktion auf eine Krise, sagt die wirtschaftspolitische Sprecherin der Bundestags-Oppositionspartei Bündnis 90/Die Grünen, Kerstin Andreae. Wichtiger sei es jedoch, solche Krisen durch mehr wirtschafts- und auch steuerpolitische Harmonisierung zu verhindern. Dazu gehöre auch die Herstellung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts. Damit wird auf den Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands Bezug genommen. Die Deutschen exportieren mehr Waren ins Ausland als sie von dort beziehen, 2009 lag der Außenhandelsüberschuss bei über 136 Mrd. Euro. Auch wenn man die Dienstleistungen einbezieht (und damit auch die Summen, die deutsche Touristen im Ausland ausgeben), bleibt ein sog. Leistungsbilanzüberschuss von knapp 120 Mrd. Euro. Daher hat die französische Finanzministerin Lagarde die Deutschen aufgefordert, weniger zu exportieren und mehr im eigenen Land zu verbrauchen. Zu diesem Zweck sollten die Deutschen die Löhne erhöhen und die Steuern senken - ein Ansinnen, das Bundeskanzlerin Merkel entschieden zurückgewiesen hat. Die Deutschen würden ihre Wettbewerbsfähigkeit, die auch durch die moderate Lohnentwicklung gesteigert worden sei, nicht leichtfertig aufgeben.

Gäbe es keine Währungsunion, würde ein solches Problem wie der Außenhandelsüberschuss eines Landes oder das Außenhandelsdefizit eines anderen durch eine Aufwertung der einen oder eine Abwertung der anderen Währung(en) reguliert werden können. In Euroland ist diese Tür verschlossen, da die 16 Teilnehmerländer über eine gemeinsame Währung verfügen. Insgesamt wird die Diskussion um den Euro die deutsche und die europäische Öffentlichkeit noch weiter beschäftigen. Bis zum Jahresende sollen in der Europäischen Union Vorschläge vorgelegt werden, wie die Eurozone noch besser ausgestaltet werden kann. Aufgeben oder verlassen will sie niemand - und das wird wohl auch nicht geschehen.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 409 Hat der Euro noch eine Zukunft?

Wer aktuelle Bücher über den Euro sucht, die gemeinsame Währung von mittlerweile 16 EU-Staaten (und einigen weiteren kleinen Ländern, in denen er Zahlungsmittel ist), wird nur auf wenige Titel stoßen. Das Thema schien "durch" zu sein, die heftigen Debatten um den Sinn oder Unsinn des Gemeinschaftsgeldes waren geführt, der Euro zeigte sich stabil und alle schienen zufrieden. Die Touristen mussten kein Geld mehr umtauschen, auch außerhalb der Euro-Zone wird das Geld gerne angenommen. Die Industrie musste keine Umtauschrisiken mehr einpreisen und konnte klarer kalkulieren. Weniger offen wurde über den politischen Erfolg der Währungsunion geredet, der dennoch wohl ihr bedeutendster ist.

Die Einbringung der D-Mark in die gemeinsame Währung hat die Ängste der EU-Partner, dass das wiedervereinigte und damit deutlich größere Deutschland die anderen Partner dominieren könnte, gedämpft und so wesentlich dazu beigetragen, dass die Integration des vereinigten Deutschland in die europäische Struktur reibungslos funktioniert hat. Dass das politische Führungspersonal der deutschen Nachbarstaaten, auch der westlichen, über die deutsche Vereinigung nicht glücklich war, sollte nicht vergessen werden, wenngleich es Geschichte ist. Aus diesem Grund gerät die politische Funktion des Euro immer weiter in den Hintergrund und die währungspolitische Rolle wird deutlicher gesehen. Auch hier hatte die öffentliche Diskussion sich jedoch beruhigt.

Erst die Krise in Griechenland 2009/2010, die durch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise verschärft, aber nicht verursacht wurde, brachte das Thema wieder auf die Tagesordnung. Und plötzlich werden Fragen gestellt: Hat der Euro eine Zukunft? Zahlen die Fleißigen in der Währungsunion für die Faulen? Verschärft der Euro unsere Krise?

Nein, ist die Antwort des Ökonomieprofessors Michael Tolksdorf. Der Euro ist sowohl den relativ schwachen Volkswirtschaften als auch den starken zum Vorteil. Der Euro habe eine Zukunft, solange die Währungsunion den Mitteln nationalstaatlicher Wirtschafts- und Währungspolitik überlegen sei, was wohl noch für lange Zeit gelte.

Der Österreicher Robert Misik, Journalist und Sachbuchautor, sieht die Schwächen des Eurogebietes, das kein "optimaler Währungsraum" sei. Zu groß sind die Unterschiede zwischen Deutschland und Griechenland, zwischen den Niederlanden und Spanien. Die Entwicklung dieses iberischen Staates bezeichnet Misik als Musterfall der Europrobleme, die anders als in Griechenland nicht durch eine unverantwortliche Wirtschaftspolitik, sondern durch die Konstruktionsfehler des Euro-Systems ausgelöst wurden. Den optimalen Währungsraum wird es, so sagt Misik weiter, jedoch nicht geben, mithin auch keine optimalen Lösungen - aber immerhin bessere Lösungen, und darauf sollte man sich konzentrieren.

Auch Martin Seidel, Professor für Europarecht in Bonn, schreibt den Euro nicht ab, sieht aber für Griechenland erhebliche Probleme, seine Schwierigkeiten innerhalb der Währungsunion zu lösen. Deshalb solle man in Athen den Austritt aus dem Euro-Verbund ins Auge fassen, um mit einer eigenen Währung und damit der Möglichkeit, gemäß der jeweiligen Produktivität das eigene Geld ab- oder auch wieder aufzuwerten, die Wirtschaft zu sanieren. Dann und nur dann könne die EU dem krisengeschüttelten Land auch helfen. Innerhalb der Währungsunion sei eine solche Unterstützung ausdrücklich verboten, "no bail out" heißt diese Regelung in der Fachsprache. Fände sie dennoch statt, würde die Glaubwürdigkeit des gesamten Währungssystems erschüttert.

Michael Tolksdorf rät davon ab, die Währungszone zu verlassen. Er befürchtet, dass es Griechenland wesentlich schwerer fallen würde, seine Wirtschaft zu sanieren, wenn es nicht dem Druck der gemeinsamen Währung unterliege.

Für Karl Albrecht Schachtschneider war der Euro von Anfang an ein Fehler. Deshalb hat der mittlerweile emeritierte Professor für Öffentliches Recht auch damals gegen den Vertrag von Maastricht geklagt, durch den der Euro eingeführt wurde. Heute, so Schachtschneider, zeige sich, dass die Kläger recht

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 410 gehabt hätten, wenn auch etwas später als erwartet. Nun würden die Schäden sozialisiert, also allen gemeinsam aufgebürdet, die Währungsunion werde vertrags- und rechtswidrig zu einer Haftungsgemeinschaft, ein "bail out" fände eben doch statt. Deutschland sei in dieser Situation verpflichtet, die Währungsunion zu verlassen - es sei denn, die Problemstaaten Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien würden diesen Schritt gehen. Was nun vor Europa stehe, sei eine Währungsreform, also das Gegenteil einer stabilen Währung.

Der Euro, die gemeinsame Währung, ist mittlerweile im Zentrum einer europapolitischen Debatte, die heftig geführt wird, die uns als Selbstverständigung darüber, was wir in Europa eigentlich miteinander anfangen und wie weit wir uns gegenüber einander verpflichten wollen, sicherlich hilfreich ist.

Literatur

David MARSH: Der Euro - Die geheime Geschichte der neuen Weltwährung, Hamburg 2009

Martin SEIDEL: Der Euro - Schutzschild oder Falle?, ZEI working paper, B 01-2010, im Internet (http:// www.zei.de/download/zei_wp/B10-01.pdf)

Wilhelm HANKEL/Wilhelm NÖLLING/Karl Albrecht SCHACHTSCHNEIDER/Joachim STARBATTY: Die Euro-Klage - Warum die Währungsunion scheitern muss, Reinbek bei Hamburg 1998

Internationale Wirtschaftsbeziehungen, Informationen zur politischen Bildung, Heft 299, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Klage gegen den Vertrag von Maastricht, mit dem der Euro eingeführt wurde. (http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs19980331_2bvr187797. html)

Internetquellen

Privates Informationsportal über die Europäische Union (http://www.eu-info.de/euro-waehrungsunion)

Internetportal der Europäischen Union zur Wirtschafts- und Währungsunion (http://europa.eu/pol/emu/ index_de.htm)

Internetportal der Europäischen Zentralbank (http://www.ecb.int/ecb/html/index.de.html)

Server der Vertretung des Europäischen Parlaments in Deutschland (http://www.europarl.de)

Europa-Seite des Auswärtigen Amtes (http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Europa/Uebersicht. html)

Internetportal der Deutschen Bundesbank zum 10-jährigen Jubiläum des Euro (http://www. bundesbank.de/10jahreeuro/10jahreeuro_bewertung_1.php)

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Krise als Chance für den Euro nutzen Standpunkt Michael Tolksdorf

Von Prof. Dr. Michael Tolksdorf 18.3.2010

ist erster Prorektor der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

Krisen sind Chancen, sagt Michael Tolksdorf. Und die europäische Währungspolitik sollte die aktuelle Gelegenheit nutzen, um das komplizierte Verhältnis zwischen Eigenverantwortung des einzelnen Mitgliedslandes und der gemeinschaftlichen Solidarität treffsicher zu machen.

Wäre nichts so ungewiss wie die Zukunft, so könnte man viel unbefangener antworten: Ja, der Euro hätte eine, man wisse nur nicht genau welche. Er sei hoffentlich so sicher wie die Renten in Zeiten demografischen Wandels.

Die Prognosen würden genauer aussehen, fragte man auch, wie die Zukunft ohne die gemeinsame europäische Währung aussehe. Was ließe sich besser regeln ohne sie? Welche Mitgliedsstaaten und Unternehmen hätten einen wirtschaftlichen Vorteil, wenn im Gemeinsamen Markt statt einer Währung viele anzutreffen wären und man wie in der Vergangenheit mit Spekulationswellen und Kursschwankungen umgehen müsste?

Seit Ende 2009 ist der Euro im Gerede. Er schwächelt, wie vor ihm zahlreiche Weltwährungen, vom US-Dollar über das britische Pfund bis zum japanischen Yen. Ursache soll ein institutioneller Geburtsfehler sein: Eine Währung mit globaler Bedeutung benötige eine starke Notenbank wegen der Geldpolitik, einen großen Heimatmarkt wegen eines hinreichend großen Volumens von Wertschöpfung und Geldmenge, aber auch eine Regierung mit einer einheitlichen, widerspruchsfreien Wirtschaftspolitik. Europa hätte Letzteres nicht erreicht; der für den Euro konstitutive Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1992 sieht nur eine Wirtschaftspolitik vor, die die Länder individuell zwar als eine gemeinsame Angelegenheit behandeln sollten, nicht jedoch vergemeinschaftet hatten wie die Geldpolitik durch die Europäische Zentralbank.

In dieser Kritik steckt ein wahrer Kern: Geld in seinen modernen Erscheinungsformen hat keinen Wert an sich. Es gilt das Vertrauen in den Wert der Waren, die mit diesem Geld gekauft werden können. Als Tauschmittel hat es nicht nur gegenwärtige Bedeutung; mit Geld lassen sich auch Ansprüche in die Zukunft übertragen. Es ist damit Wertaufbewahrungsmittel und dabei in besonderer Weise vom Vertrauen in seine künftige Werthaltigkeit abhängig. Diese lässt sich nur schwer sichern, wenn Regierungen von Euroländern un-eindeutige Informationen über ihre jeweiligen wirtschaftlichen Aktionen verlautbaren. Auch wenn alle glaubhaft versicherten, ein stabiles Gemeinschaftsgeld anzustreben, geht es ihnen doch wie dem Angler, der weiß, dass der Köder nicht ihm, sondern den Fischen schmecken muss. Um als Geld weltweit angenommen zu werden, muss dieses Vertrauen bei Dritten, den Handlungsträgern in und außerhalb der Eurozone, bestehen. Das allerdings lässt sich nicht verordnen.

Vertrauen lässt sich aber erarbeiten, was die wohl unzweifelhafte Erfolgsgeschichte des Euro seit seiner Einführung 1999 und seiner Nutzung als mit Noten und Münzen sichtbares Geld seit 2002 beweist. Dabei wird vergessen, dass der Euro wegen der weltweiten Wirtschaftskrise als Folge der Börsenkrise vor knapp zehn Jahren stark abgewertet worden war – sein Wert betrug 2002 zeitweilig nur 0,82 US-$, gegenüber derzeit 1,36 $ (März 2010) und immerhin etwa 1,60 $ Mitte 2008, als er von

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 412 einer Dollarschwäche wegen der sich abzeichnenden Weltfinanzkrise "profitierte". Vertrauen bildete sich als Folge der fünf Kriterien, die Beitrittsstaaten nach dem gemeinsamen Stabilitätspakt erfüllen mussten. Wichtig wurden dabei neben den drei "monetären" Kriterien (niedrige Inflationsrate, Devisenkursstabilität und nachhaltige Langfristzinsen) die "fiskalischen" Kriterien. Bei diesen sind die Mitgliedsstaaten besonders gefordert; an diesen fast Sollbruch-Stellen entscheidet sich die Zukunft des gemeinsamen Geldes – können die Staaten ihre Haushalte seriös finanzieren und Haushaltsdefizite von nicht mehr als 3 % ihres jährlichen Bruttoinlandsprodukts erreichen? Schaffen sie es, die Gesamtverschuldung nicht über 60 % ihres BIP ansteigen zu lassen? Oder erliegen sie innenpolitischem Druck und geben deutlich mehr aus als sie einnehmen, bauen immer höhere Schuldentürme auf und hoffen klammheimlich, dass die irgendwann fällig werdende Rückzahlung in abgewertetem Geld und damit leichter erfolgen könne?

Mit anderen Worten, ob nationale oder Gemeinschaftswährung ist für die Zukunftsfähigkeit weniger wichtig als Wirksamkeit und Akzeptanz von Wirtschaftspolitik und Ausgabendisziplin. Währungskrisen können Gemeinschaftswährungen ebenso erleben wie nationale. Werden die ökonomischen Hausaufgaben versäumt, folgt die Strafe der Märkte: Abwertung der Währung, Verteuerung der Importe mit anschließend importierter Inflation, kompensatorische Lohnforderungen der Gewerkschaften und Preissteigerungen zur Sicherung der Gewinne seitens der Unternehmen, weitere Inflationsimpulse und Abwertungen. Bezahlt wird diese Zeche fast ausschließlich von den Beziehern unzureichend angepasster Kontrakteinkommen: Arbeiter, Rentner. Die gesellschaftliche Desintegration als Folge wachsender Ungleichheit von Einkommen und Vermögen ist offensichtlich.

So betrachtet hat kein Land, sei es Griechenland, Irland, Spanien oder Portugal, einen Vorteil, die Gemeinschaftswährung zu verlassen, um dem kollektiven Disziplinierungsdruck zu entkommen. Ja, formal mag es ein kurzfristig wirksames wirtschaftspolitisches Mittel zurück gewinnen, die Devisenkurse. Es könnte sich mit Abwertungen im Außenhandel eine Zeit lang Luft verschaffen. Es schüttelte zudem die Geldmengenkontrollen der EZB ab und könnte mit der Banknotenpresse die innenpolitischen Ansprüche von Beamten, Rentnern, Zulieferern nominal befriedigen. Der Preis dafür – und Deutschland hatte ihn mit den großen Inflationen 1923 und 1948 auch zahlen müssen – wird später entrichtet werden. Es scheint, als akzeptierte die griechische Bevölkerung trotz aller Erregungen die Bedeutung des Euro – keiner der Proteste forderte ernsthaft den Austritt aus der EWU und die Rückkehr zur alten inflationsanfälligen Nationalwährung.

Damit wäre die Flucht aus dem Euro und die Re-Nationalisierung der Geld- und Währungspolitik keine rationale Option für Regierungen, die eine sozial verantwortete Wirtschaftspolitik anstreben. Andererseits ist das eine gute Zukunftschance für den Euro: Die Währungsunion gibt den besten Rahmen für die Erreichung wirtschaftlicher Fundamentalforderungen – man kann in letzter Konsequenz nur das verbrauchen und als Einkommen verteilen, was vorher erarbeitet wurde. Das gelingt mit gemeinsamer Hilfe und gelegentlichem Druck besser als in nationaler Isolation. Notfalls können nationale Regierungen der supranationalen Zentralbank die Schuld geben, um selbst innenpolitisch zu überleben. Die "Financial Times" nannte das in Verbindung mit der Verhinderung von Wellen von Devisenspekulation "Seeking shelter in the eurozone" (20.10.2008): Die EWU als Schutzraum.

Schutzraum gibt der Euro auch den (vermeintlich) starken Mitgliedern, zu denen am häufigsten Deutschland und Frankreich gezählt werden. Welche Gefahren drohten diesen Ländern, wenn – ähnlich wie bei der Krise des Europäischen Wechselkursmechanismus 1992 – dramatische Abwertungen der Währungen wichtigster Handelspartner (damals Großbritannien, Italien, Dänemark, Schweden) die Manager zu Entscheidungen unter erheblicher Unsicherheit zwingen? Verzicht auf Investitionen, Abwarten, ob Entwicklungen tragfähig sind, erhöhte Kosten für Informationen und Absicherungen wären die Folge, und damit ein Rückgang der Wertschöpfung bei allen Beteiligten. Die EWU war auch eine Reaktion auf diese Krisen innerhalb der EU: Das gemeinsame Geld mit ebensolcher Geldpolitik und die vergemeinschaftete Stabilitätspolitik waren die Instrumente, mit derartigen Herausforderungen besser umgehen zu können.

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 413

Wenn Krisen gleichzeitig Chancen sind, dann sollte die europäische Währungspolitik die heutige Gelegenheit nutzen: Wie kann das hochkomplizierte Verhältnis zwischen Eigenverantwortung des einzelnen Mitgliedslandes und der gemeinschaftlichen Solidarität treffsicher gemacht werden? Hilfe ohne Bedingungen hieße, den Schlendrian zu Laster aller zu verstetigen. Totale Verweigerung bedeutete Isolation und Scheitern. Wäre ein Europäischer Währungsfonds nach dem Muster des IWF ein angemessenes Mittel der wechselseitigen Unterstützung? Anwendung des Stabilitätspaktes – müssen Hilfen, aber auch Sanktionen bei Verstößen neu justiert werden? Informationsgewinnung im Vorfeld zur Früherkennung: Ist es noch akzeptabel, dass dem Statistischen Büro der Gemeinschaft, Eurostat, gesamtwirtschaftlich relevante Daten verweigert werden können? Und wird man gemeinsam die Wirtschaftspolitik durchführen, die einzelne Regierungen gegenüber ihren nationalen pressure groups nicht durchzusetzen vermögen?

Der Euro hat solange eine Zukunft, wie die Währungsunion den Mitteln nationalstaatlicher Wirtschafts- und Währungspolitik überlegen ist. Das dürfte noch lange der Fall bleiben.

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Schutzwall mit Konstruktionsfehlern: Die Krise des Euro Standpunkt Robert Misik

Von Robert Misik 17.3.2010

Robert Misik lebt und arbeitet als Journalist und Sachbuchautor in Wien.

Der Euro habe sich als ziemlich nützlich erwiesen, sagt Robert Misik. Damit er besser funktionieren kann, müsse aber für eines gesorgt werden: dass die starken Länder die schwächeren nicht niederkonkurrieren.

Minus 15 Grad hatte es und der deutsche Schitourist Dominik P. saß vergessen nach Betriebsschluss auf einem Sessellift im Tiroler Hochzillertal. Um in der Dunkelheit auf sich aufmerksam zu machen, verfiel er auf eine grandiose Idee: Er zündete Geldscheine an. Beim letzten 10-Euro-Schein hat ihn ein Pistenarbeiter gesehen.

Da soll noch einer sagen, er hätte keinen Nutzen, der Euro.

Doch die gemeinsame europäische Währung hat gerade eine kleine Imagedelle. "Die Euro-Lüge" titelte der "Spiegel" jüngst, und das Coverbild zeigte eine schmelzende 1-Euro-Münze vor tiefschwarzem Hintergrund. Seit dem Drama um einen drohenden griechischen Staatsbankrott wird sogar die Frage gestellt: Kann die Währungsunion auseinanderbrechen? War der Euro vielleicht gar ein Fehler?

Zunächst einmal: Der Euro hat sich als ziemlich nützlich erwiesen. Die Bürger haben ihn schnell akzeptiert. Kaum jemand hängt noch nostalgisch D-Mark, Schilling, Lira oder Franc nach. Anders als prognostiziert, hängen nationale und kulturelle Identitäten offenbar doch weniger an Geldscheinen und Münzen, als angenommen. Dass manche Supermärkte und Dienstleister die Währungsumstellung als Anlass zum verwegenen Aufrunden genommen haben, bescherte dem Euro zwar den Ruf, ein " Teuro" zu sein, aber wirklich ungeliebt hat ihn das auch nicht gemacht. Und ökonomisch hat er auch seine Vorteile: Die Exportwirtschaft muss nicht mit stetig schwankenden Währungen kalkulieren, die mal auf-, und dann wieder abgewertet werden. Gerade auch in Krisen ist der Euro, anders als Währungen kleinerer Wirtschaftsräume, kaum durch Spekulanten angreifbar. Man will sich gar nicht ausmalen müssen, in welche Turbulenzen manche europäische Länder in den vergangenen zwei Jahren hätten kommen können. Nicht nur Spanien oder Griechenland, auch Österreich wäre – etwa angesichts der angespannten Osteuropa-Investments seiner Banken – spekulativen Angriffen ausgesetzt gewesen, deren sich das Land kaum hätte erwehren können.

Aber es gibt auch massive Konstruktionsfehler der Euro-Wirtschaftszone, die mit zu den Kalamitäten beigetragen haben, die Griechenland zuletzt einem Staatsbankrott gefährlich nahe gebracht haben und auch Spanien, Portugal, Italien und Irland schlecht dastehen lassen. Schon spricht man in Wirtschaftkrisen, wo man eine gewisse Liebe zu Akronymen hat, von den "PIIGS" – Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien - gewissermaßen die Schweinderln Europas. All diese Länder haben hohe Budgetdefizite, eine stark schrumpfende Wirtschaftsleistung, hohe Arbeitslosenquoten und teilweise ein dramatisch hohes Niveau an Gesamtschulden.

Das vorschnelle Urteil lautet nun: Die haben eben schlecht gewirtschaftet. Und im Einzelfall stimmt

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 415 das ja auch: Griechenland hat seit Jahren seine eigenen Wirtschaftsstatistiken gefälscht, die konservative Regierung hat knapp vor den jüngsten Wahlen (die sie dann verloren hat), noch massenweise Beamte eingestellt, damit ihr die das an der Urne danken, und die Steuereinnahmen sind drastisch niedrig – weil der Staat nicht funktioniert und sich deshalb auch die Finanzämter nicht besonders engagiert darum kümmern, dass die Bürger ihre Steuern auch wirklich zahlen.

Aber dass es in der Währungsunion jetzt gefährlich kracht, hat nicht nur mit Misswirtschaft zu tun. Es hat tiefere Gründe. Euroskeptiker haben schon vor Einführung der Einheitswährung davor gewarnt: Europa, ohne zentrale Regierung, ist viel zu uneinheitlich – und deshalb, wie das in der Fachsprache heißt, "kein optimaler Währungsraum". Wenn die einzelnen Länder aber ihre eigenen Währungen aufgeben, haben sie keine Möglichkeit mehr, mit Geldpolitik auf die Unterschiede zu reagieren. Dass es zu solchen Problemen kommen kann, war bekannt, sagt Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, "aber jetzt stellt sich heraus, dass sie ärger sind, als selbst die Eurogegner befürchtet haben ".

Das spanische Drama ist ein Lehrbuchbeispiel: Spanien hatte über viele Jahre einen Boom – und nebenbei, ähnlich wie die USA, seine eigene Immobilienblase. Die Spanier wurden reicher und reicher. Aber anders als die Griechen machte die spanische Regierung durchaus eine verantwortliche Wirtschaftspolitik. Das Land hatte ein ausgeglichenes Budget. Der Staatsschuldenstand war – und ist übrigens immer noch – moderat. Der Regierung war, anders als der Bush-Regierung in den USA, auch durchaus bewusst, dass sich eine große Immobilienblase aufbläht. Weil die Wirtschaft boomte, stiegen die Löhne. Bauarbeiter, Installateure, Immobilienmakler, Finanzdienstleister – alle verdienten sich eine goldene Nase. Hausbesitzer fühlten sich reich, weil ihre Häuser plötzlich doppelt soviel wert waren als im Jahr davor. Alle zusammen konsumierten wie wild, was die Konjunktur weiter befeuerte.

Weil aber die Löhne stiegen, verlor die spanische Wirtschaft Konkurrenzfähigkeit – vor allem im Vergleich mit den starken EU-Ökonomien, von denen man so salopp sagt, sie hätten "gut " gewirtschaftet. Vor allem gegenüber Deutschland, aber auch gegenüber Österreich. Deutschland hat ja seine Wettbewerbsposition um 14 Prozent "verbessert" in den vergangenen Jahren, Österreich um sechs Prozent. Es stieg die Produktivität, aber die Löhne stagnierten oder gingen zurück. Sie wurden "wettbewerbsfähiger" – so die freundliche Formulierung. Sie wurden "Exportweltmeister", weil sie Vorteile auf Kosten ihrer Partner hatten und weil die Bürger vom Wohlstandszuwachs nichts mehr sahen – so die weniger freundliche Formulierung.

Die spanische (und portugiesische und griechische) Wirtschaft verlor an Wettbewerbsfähigkeit. Unter normalen Bedingungen ist das der richtige Moment, in dem man darüber nachdenken müsste, die Währung abzuwerten. Wenn sie ihre Währung abwerten hätten können, dann wären Importe verteuert, ihre eigenen Exporte verbilligt worden und ihre Industrie damit wieder wettbewerbsfähiger. Aber genau dieser Weg zum Ausgleich von Disparitäten ist mit dem Euro verstellt.

Mit dem Platzen der Immobilienblase brach dann in Spanien auch die überhitzte Binnenkonjunktur ein. In Spanien, auch in Portugal steigt die Arbeitslosigkeit. Firmen gehen bankrott. Der Staat nimmt weniger an Steuern ein. Die Einkommenssteuern brechen ein, weil die Menschen weniger Einkommen haben. Die Umsatzsteuern brechen ein, weil sie weniger einkaufen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent, was die Staatsausgaben für die soziale Sicherung automatisch nach oben treibt. Die Regierung rutscht in dramatische Defizite. Ein fataler Kreislauf.

Und die Probleme verschärfen sich dadurch, dass der Euroraum kein "optimaler Währungsraum" ist. Was würde denn passieren, wenn der Euroraum ein "optimaler Währungsraum" wäre? Dann wären schon im Boom die Disparitäten etwas ausgeglichen worden. Denn ein Währungsraum, der gut funktioniert, zeichnet sich etwa durch einen integrierten Arbeitsmarkt aus. Wenn die Löhne in Spanien stark ansteigen, sie in Mecklenburg-Vorpommern aber stagnieren, dann würden die Menschen einfach von Mecklenburg-Vorpommern nach Spanien ziehen, um dort zu arbeiten. Das würde dann den Lohnanstieg in Spanien wiederum dämpfen. Genau das passiert, wenn in Michigan die Löhne

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 416 zurückgehen, sie in Florida aber ansteigen. Aber in Europa passiert das nicht – aus verschiedenen Gründen, kulturellen, wegen der unterschiedlichen Sprachen etc. In einem funktionierenden Währungsraum würden aber auch in der Krise Disparitäten solidarisch geschultert werden. Wenn in Kalifornien das Steuereinkommen einbricht und die Arbeitslosigkeit ansteigt, dann kann vielleicht der Gouverneur Arnold Schwarzenegger seine Beamten nicht mehr bezahlen, aber viele Dinge funktionieren immer noch – so müsste eben die Regierung in Washington viel mehr Schecks an die Arbeitslosen nach Kalifornien schicken. Aber das ist im Euro-Raum auch nicht möglich. Weil es keine gemeinsame Regierung gibt.

Wird der Euro-Raum deswegen auseinanderbrechen? Wäre das sogar gut? Das auch wieder nicht. Gerade für die geschwächten Länder hätte die Re-Etablierung einer eigenen Währung wohl " erdbebenartige, unkontrollierbare Folgen", wie Jean-Claude Juncker sagt, der Premier Luxemburgs und Sprecher der Euro-Länder. Aber man muss dafür sorgen, dass der Euro besser funktioniert. Jedenfalls ist es keine langfristig besonders kluge Strategie, dass die starken Länder schwächere Länder niederkonkurrieren. Europa braucht ein starkes Zentrum, das gegensteuern kann, wenn sich Regionen wirtschaftlich zu sehr auseinander entwickeln. Am besten wäre natürlich, man würde eine Zentralregierung etablieren, und die Bedeutung der Nationalstaaten würde auf das Niveau von Bundesländern schrumpfen. Ökonomisch wäre das in jedem Fall das Beste. Das Problem ist freilich, dass es dafür keine demokratische Legitimation gibt, und es ist beim besten Willen nicht erkennbar, dass sich daran, unter den Bedingungen unterschiedlicher politischer Kulturen, den Sprachschranken, die eine gemeinsame politische Öffentlichkeit verhindern, und den demokratischen Defiziten der europäischen Politik-Ebenen so schnell etwas ändern wird.

Optimale Lösungen wird es also im suboptimalen Währungsraum Europa auch künftig nicht geben – sondern nur bessere Lösungen.

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Austritt als Option Standpunkt Martin Seidel

Von Prof. Dr. Martin Seidel 18.3.2010 Prof. Dr. Martin Seidel ist Professor für Europarecht, Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er war langjähriger Bevollmächtigter der Bundesregierung in Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof und Mitglied der deutschen Delegation bei der Maastrichter Konferenz über die Wirtschafts- und Währungsunion.

Martin Seidel schreibt den Euro nicht ab – sieht aber für Griechenland erhebliche Probleme, seine Schwierigkeiten innerhalb der Währungsunion zu lösen. Deshalb solle Athen den Austritt aus dem Euro-Verbund ins Auge fassen.

Griechenland steht vor einer europapolitischen Entscheidung, die für das Land von schicksalhafter Bedeutung ist. Es kann seine wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten weiter unter seiner Zugehörigkeit zur Währungsunion unter deren aufzuzeigenden strengen Rahmenbedingungen zu meistern versuchen. Es kann sich aber auch dafür entscheiden, seine Mitgliedschaft in der Währungsunion aufzugeben, eine neue nationale Währung als "Mitgliedstaat mit einer Ausnahmegenehmigung" einzuführen und das Schicksal seiner wirtschaftlichen Gesundung unter möglicherweise günstigeren Rahmenbedingungen in die Hand zu nehmen.

Griechenland ist derart hoch überschuldet, dass es zahlungsunfähig werden kann und ihm der Staatsbankrott droht. Soweit sie auf dem Kapitalmarkt noch zu haben ist, erfordert jegliche weitere Verschuldung einen immer höheren Preis. Im Hinblick auf den möglichen Ausfall ihrer Kredite an das Land verlangen die Investoren des Kapitalmarktes zunehmend höhere Zinsen und Versicherungsaufschläge. Als Folge seiner Zugehörigkeit zur Währungsunion verfügt Griechenland nicht mehr über eine eigene Geld- und Währungssouveränität. Es kann nicht mehr als Herrin einer eigenen Währungs- und Zentralbank durch eine Politik des "leichten Geldes", d.h. durch Inflationierung der eigenen Währung, seine Schulden abbauen. Die Aufgabe der nationalen Währungssouveränität und ihre Übertragung in die ausschließliche Zuständigkeit der Europäischen Union haben zur Konkursfähigkeit der Mitgliedstaaten geführt, die in die Währungsunion aufgenommen worden sind und den Euro als ihre Währung eingeführt haben. In einem Bundesstaat haften nach den meisten bundesstaatlichen Verfassungen die anderen Mitgliedstaaten und der Bund für die Verbindlichkeiten eines überschuldeten und von einem Konkurs bedrohten Gliedstaates. Die Europäische Union ist ungeachtet einiger supranationaler Ausprägungen kein Bundesstaat. Staatenverbände, beispielsweise die Vereinten Nationen, kennen das Prinzip der wechselseitigen Haftung ihrer Mitgliedstaaten und des Staatenverbandes als solchem für die Schulden eines Mitgliedstaates nicht. Nach dem Vertrag von Maastricht haften weder die anderen Mitgliedstaaten noch die Europäische Union als solche für die Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaates (No-bail-out). In der Europäischen Union, die über keine Steuerhoheit, keine Anleihebefugnis und nur über einen bescheidenen Haushalt von zudem an Ausgaben gebundenen 140 Mrd. Euro verfügt, hätte die wechselseitige Haftung anders als in einem Bundesstaat überdies zur Folge, dass faktisch nur die anderen Mitgliedstaaten mit ihrem Steueraufkommen, und zwar gesamtschuldnerisch, d.h. jeder nach Wahl der Gläubiger, die volle Haftung zu tragen hätten.

Auf der Konferenz von Maastricht 1991, die die gemeinsame Währung beschloss, wurde neben dem Ausschluss der wechselseitigen Haftung als zweites verfassungsrechtliche Standbein der Währungsunion, die als Stabilitätsgemeinschaft konzipiert war, ebenfalls expressis verbis als absolutes

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 418 und gerichtlich einklagbares Verbot festgeschrieben, dass die nationalen Haushalte nicht monetär finanziert werden dürfen, also nicht durch die Ausweitung der Geldmenge. Das Verbot umfasst sowohl die direkte als auch die indirekte monetäre Finanzierung staatlicher Haushalte, d.h. offene Kredite der Europäischen Zentralbank oder einer der nationalen Zentralbanken als auch beispielsweise den Ankauf staatlich begebener Anleihen, die nicht vom Kapitalmarkt aufgenommen werden, also nicht handelbar sind. Ein überschuldeter Mitgliedstaat, dem ein Konkurs droht, kann folglich auch nicht damit rechnen, dass ihm die Europäische Zentralbank oder eine nationale Zentralbank über direkte Kredite oder auf indirekte Weise von seiner Verschuldung entlastet. Der Ausschluss der wechselseitigen Haftung verlöre seinen Sinn und Zweck, wenn er umgangen werden könnte. Mitgliedstaaten, denen infolge übermäßiger Überschuldung der Staatsbankrott droht und die wie Griechenland überdies ein außenwirtschaftliches Leistungsbilanzdefizit aufweisen, deren Wirtschaft demnach nicht mehr ausreichend leistungs- und wettbewerbsfähig ist, können bei dauerhaftem Fehlverhalten die Währungsunion gefährden. Das sog. ordnungsrechtliche Instrumentarium, das der Europäischen Union zur Zügelung eines Mitgliedstaates zur Verfügung steht, der seiner Verantwortung nicht wahrnimmt und seine Verpflichtungen nicht erfüllt, ist unzureichend ausgebildet und wenig effektiv. Das gilt von Klagen vor dem Europäischen Gerichthof, die weitgehend ausgeschlossen sind, sowie von der Verhängung finanzieller Sanktionen durch den Rat im Rahmen des Verfahrens der Aufsicht über die Budgetlage der Mitgliedstaaten. Letzteres sieht keinen Automatismus vor und wird vom Rat der Europäischen Union verwaltet, in dem die Mitgliedstaaten vertreten und gewohnt sind, auf einander Rücksicht zu nehmen.

Das wirtschaftliche Anpassungsprogramm Griechenlands, auf dem die Europäische Union im Interesse der Sicherung der Währungsunion zwangsläufig beharren muss, kann, da finanzielle Hilfen der Europäischen Union ausbleiben, nicht anders als darin bestehen, dass staatliche Aufgaben Griechenlands reduziert und zusätzlich Abgaben, ebenfalls zu Lasten aller Bürger, erhöht werden. Angesichts der weltwirtschaftlichen Krisensituation, die auch Griechenland erfasst, ist ein solches wirtschaftspolitisches Austerityprogramm nicht angezeigt. Durchsetzbar gegenüber der Bevölkerung ist es, wie die Entwicklung in Griechenland der jüngsten Zeit zeigt, allenfalls "durch eine Wunder oder mit einem Wunder". Dauerhafte soziale Unruhen oder gar Ansätze zu einem Bürgerkrieg sind nicht auszuschließen. Nimmt die Entwicklung erst einmal Fahrt auf, würden auch finanzielle Hilfen von außen zu nichts mehr führen. Würde der griechische Staat zahlungsunfähig werden, wäre die Europäische Union kaum ein ausreichender Rahmen für eine bereinigende Lösung.

Auch Länder außerhalb der Europäischen Union, deren Banken in Griechenland engagiert sind oder die Handelsinteressen in Griechenland haben, wären zu beteiligen. Die Frage nach einem sofortigen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion bedarf daher keines Aufschubs. Der Austritt würde zwar die Gefahr eines Staatsbankrotts nicht aus der Welt schaffen, möglicherweise aber bessere Rahmenbedingungen für seine Abwendung und gegebenenfalls seine Bereinigung bieten. Was aber wichtiger ist: Ein Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion und die Wiedereinführung einer eigenen Währung würden es Griechenland ermöglichen, durch eine Abwertung seiner neuen Währung die Handelsbedingungen seiner Wirtschaft zu Drittstatten und den EU-Ländern in einer Weise neu zu ordnen, dass sich die außenwirtschaftlichen Leistungsbilanzdefizite reduzieren und seine Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig wird. Der Vertrag von Maastricht hat die Aufnahme in die Währungsunion von bestimmten ökonomischen und rechtlichen Bedingungen abhängig gemacht, diese jedoch nicht ausdrücklich zu Verbleibebedingungen erklärt. Er sieht daher expressis verbis weder ein Austrittsrecht noch die Befugnis der Europäischen Union zu einem Ausschluss eines Mitgliedstaates vor, der seine Verantwortung für die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft nicht wahrnimmt.

Die Befugnis zu einem Austritt ergibt sich indes aus Artikel 2 des Lissabonner Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, wonach der Rat einen Mitgliedstaat ermächtigen kann, im Bereich einer ausschließlichen Zuständigkeit der Europäischen Union – die Geld- und Währungspolitik ist eine ausschließliche Zuständigkeit - "gesetzgeberisch tätig" zu werden, d.h. auch wieder eine eigene Währung einzuführen. Sie ergibt sich ferner aus Artikel 50 des Lissabonner Vertrages über die Europäische Union, wonach ein Mitgliedstaat aus der Europäischen Union als solcher, also auch aus

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Teilbereichen ihrer Politikgestaltung, ausscheiden kann. Über den Austritt, der einen Antrag des betroffenen Mitgliedstaates voraussetzt, entscheidet wie bei der Aufnahme von Mitgliedstaaten in die Währungsunion der Rat in der Zusammensetzung des Staats- und Regierungschefs. Der ausscheidende Mitgliedstaat erlangt mit seinem Ausscheiden des Status eines "Mitgliedstaates mit einer Ausnahmegenehmigung" und hat damit auch ein Recht auf einen Wiedereintritt in die Währungsunion. Eine Herabstufung zu einem Mitgliedstaat zweiter Klasse bedeutet das Ausscheiden aus der Währungsunion nicht. Mitgliedstaaten wie Großbritannien, Dänemark und Schweden sowie Polen und die noch nicht der Währungsunion angehörenden Staaten Osteuropas empfinden sich nicht als Mitgliedstaaten zweiter Klasse.

Die Ermittlung des "marktgerechten" Kurses der neuen griechischen Währung zu Drittwährungen und zur Gemeinschaftswährung hätte einvernehmlich zwischen Griechenland und der Europäischen Währungszone zu erfolgen. Griechenland könnte dem europäischen Währungsverbund "Europäisches Wechselkurssystem II" beitreten und würde zur Stabilisierung des Wechselkursverhältnisses dessen Währungsbeistände in Anspruch nehmen, die für Griechenland mit dem Ausscheiden aus der Währungszone wieder aufleben würden. Die neue Währung, die bereits infolge ihrer Abwertung bei der Einführung die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft stärkt, könnte je nach der internen wirtschaftlichen Entwicklung Griechenlands gegebenenfalls weiter abgewertet, aber auch bei einem zu erwartenden Erstarken der griechischen Wirtschaft auch aufgewertet werden. Natürlich würden mit der Einführung einer abgewerteten neuen Währung Griechenlands eingeführte Waren teurer und würden unter den neuen Bedingungen ausländische Investitionen, die sich bereits im Lande befinden, in Mitleidenschaft geraten. Jedoch entstünden für ausländische Investoren dadurch, dass die griechische Wirtschaft neu angekurbelt würde, zum Ausgleich neue Investitionsanreize und Investitionschancen. Die griechische Bevölkerung würde vorübergehend durch die Preisentwicklung Einbußen erleiden, sie würde jedoch psychologisch hierunter nicht gleichermaßen wie unter einer derzeit als Folge der Beibehaltung der Mitgliedschaft in der Währungsunion zwangsläufig notwendigen drakonischen Absenkung ihrer Gehälter und Löhne und unter einer Verteuerung aller Waren und Dienstleistungen als Folge einer drastischen Steuererhöhung leiden. Der Austritt aus der Währungsunion wehrt einen drohenden Staatsbankrott nicht ipso iure oder ipso facto ab. Griechenland stünde nach dem Austritt indes nicht schlechter als Ungarn, Polen und Lettland da. Es könnte auf die Hilfe der Weltgemeinschaft, insbesondere die Hilfeleistungen des Internationalen Währungsfonds setzen und innerhalb der Europäischen Union neben den Währungsbeiständen des EWS II auch den Währungsbeistand der Artikel 143, 144 AEUV in Anspruch nehmen, der für Mitgliedstaaten mit Zugehörigkeit zur Währungsunion ausgeschlossen ist.

Inwieweit bei einer Zahlungsunfähigkeit Griechenlands über eine internationale Schuldenkonferenz wie in vergleichbaren Fällen die Schulden Griechenlands gestundet oder sogar erlassen werden müssten, bleibt als Frage der wirtschaftlichen Entwicklung Griechenlands vorbehalten. Etwaige finanzielle Hilfen der Europäische Union, die dann nicht so sehr eine Schuldenübernahme, sondern eine Unterstützung vergleichbar der Hilfe in Katastrophenfällen wären, ließen sich mit dem unionsrechtlichen Verbot der Schuldenübernahme wahrscheinlich vereinbaren, das bei Zugehörigkeit zur Währungsunion Griechenland gnadenlos trifft. Ökonomisch gestärkt könnte Griechenland – nunmehr unter einem anderen Vorzeichen – wieder in die Währungsunion aufgenommen werden.

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Der Euro ist gescheitert Standpunkt Karl Albrecht Schachtschneider

Von Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider 18.3.2010 Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg und war einer der Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Vertrag von Maastricht.

Für Karl Albrecht Schachtschneider war der Euro von Anfang an ein Fehler. Nun würden die Schäden sozialisiert, also allen gemeinsam aufgebürdet, die Währungsunion werde vertrags- und rechtswidrig zu einer Haftungsgemeinschaft.

Die Währungsunion des Maastricht-Vertrages ist gescheitert, etwas später als erwartet. Die Euro- Gruppe war nie der optimale Währungsraum, der einer gemeinsamen Währung eine Chance auf Bestand gibt. Weder die kleinen Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages (hoher Grad an Preisstabilität, Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit, normale Bandbreiten im Wechselkursmechanismus ohne Abwertung, Niveau der langfristigen Zinssätze), die vertragliche Voraussetzung für die dritte Stufe der Währungsunion, die Einführung des Euro, haben die Mitglieder der Euro-Gruppe außer Luxemburg verwirklicht, noch gar die große und erforderliche konvergente Stabilität. Letztere setzt auch und wesentlich einen allgemeinen hohen Beschäftigungsstand voraus, von dem schon bei der Einführung des Euros nicht die Rede sein konnte. Arbeitslosigkeit wird nicht durch eine allseits falsche Währung bekämpft, wie die Entwicklung des Euro-Raumes entgegen den hoffnungsfrohen Ankündigungen gezeigt hat, wenn auch einzuräumen ist, dass ein erheblicher Teil der Arbeitsplatzverluste auf die von einer verfehlten Freihandelsdoktrin verführte Globalisierung der Wirtschaft zurückzuführen ist. Die Leitzinssätze der EZB (Europäische Zentralbank) werden am Durchschnitt der Preisentwicklungen in der Euro-Zone orientiert und sind für alle Mitgliedstaaten falsch. Deutschland und andere Staaten müssten aufwerten, andere Staaten, insbesondere die PIIGS (Portugal, Italien, Irland, Griechenland, Spanien) mussten abwerten. Sie können es nicht, der Systemfehler einer Währungsunion unter heterogenen Volkswirtschaften, der im übrigen, wie sich zeigt, mittel- und langfristig zu Lasten der stärker inflationierenden Staaten auswirkt.

Die Währungsunion war nie die dauerhafte Stabilitätsgemeinschaft, welche auch das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil (1993) zum Kriterium des Verbleibs Deutschlands in derselben erklärt hat. Bereits die Einführung des Euro war ein Akt der Diktatur, vertragswidrig und rechtsschutzlos. Als der Euro trotz mangelnder Konvergenz eingeführt wurde, hat das Bundesverfassungsgericht Grundrechtsschutz verweigert. Entgegen jahrzehntelanger Praxis hat es der Eigentumsgewährleistung des Grundgesetzes (Art. 14 Abs. 1 GG) kein subjektives Recht der Bürger entnommen, die von dem Grundrecht geschützte vertragsgemäße Stabilitätspolitik einzuklagen. Im "Bereich rechtlich of-fener Tatbestände zwischen ökonomischer Erkenntnis und politischer Gestaltung" (?!) sei "die Entscheidungsverantwortlichkeiten Regierung und Parlament zugewiesen", nicht dem Gericht also (BVerfGE 97, 350 (373 f.). Das widerspricht dem Grundrechtsprinzip diametral. Jedenfalls die Einhaltung des Vertrages muss judiziabel sein.

Den Euro will die classa politica (einschließlich der Hochfinanz) der EU, ausgenommen vielleicht die britischen Konservativen, nicht aufgeben, koste es, was es wolle. Er ist engstens mit der weltweiten Kapitalverkehrsfreiheit (bisher Art. 56 EGV, jetzt Art. 63 AEUV, Vertrag über die Arbeitsweise der EU) verbunden und der wichtigste Hebel der bundesstaatlichen Entwicklung der Union. Deren ungenanntes

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 421

Staatsprinzip ist demgemäß die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, das Finanzverfassungsprinzip eines Staates schlechthin. Eine beständige Währungsunion muss allemal zugleich homogene Wirtschafts- und Sozialunion sein, letztlich ein wie auch immer föderalisierter Einheitsstaat. Die Euro- Politik erweist sich als ein Manöver, um den Völkern, zumal den Deutschen, die unionsweite Nivellierung ihrer Wirtschaftsleistung abzunötigen.

Fraglos hatten die Inflationsländer der Euro-Gruppe durch die vor allem durch Deutschland stabilisierte Währung jahrelang Kreditzinsen, die ihren Lohnkosten und ihrer Produktivität nicht entsprechen. In dieser Hängematte haben sie sich noch bedenkenloser am internationalen Kapitalmarkt verschuldet, staatlich und privat. Aber es konnte nie einen Zweifel geben, dass ohne Abwertung deren Wettbewerbs-, Kredit- und Zahlungsfähigkeit in absehbarer Zeit verlorengehen wird. Die PIIGS müssen eine Währung haben, die zu ihrer Wirtschaftskraft passt. Sonst sind staatliche und private Zahlungsunfähigkeit unausweichlich. Das Beispiel Argentiniens hat das in jüngerer Zeit erneut bewiesen.

Jetzt beginnt die Sozialisierung der Schäden der Euro-Politik, vorerst die des griechischen Desasters. Die Währungsunion wird zur Haftungsgemeinschaft, vertrags- und rechtswidrig. "Griechenland gehört zu uns. Wir lassen es nicht allein". Angela Merkels 'Schuldübernahme' nimmt der Pflicht zur Haushaltsdisziplin, die essentiell zur Konzeption der Währungsunion gehört, den Rest an Glaubwürdigkeit. Die Banken, welche die Kredite mit hohen Renditen wegen des billigen Geldes der EZB gegeben haben, tragen kein wirkliches Risiko mehr, seit sie der Politik ihre Systemrelevanz haben einreden können. Die Schäden der globalisierten Kapitalmärkte werden mittels Staatsschulden und Be-steuerung auf die 'Untertanen' abgewälzt. Die Medien steuern in political correctness den Schein des Rechts bei.

Die Rechtslage verpflichtet Deutschland, die Währungsunion zu verlassen, wenn Griechenland und die anderen PIIGS das nicht tun, weil Deutschland nach dem Maastricht-Urteil wegen des Art. 88 GG ("vorrangiges Ziel der Sicherung der Preisstabilität" der Europäischen Zentralbank), vor allem aber wegen der Eigentumsgewährleitung und noch mehr wegen des Sozialprinzips nur an einer Stabilitätsgemeinschaft mitwirken darf (BVerfGE 97, 350 (373 ff.) – Euro-Beschluss; schon BVerfGE 89, 155 (200 ff. – Maastricht-Urteil). "Nur stabiles Geld ist soziales Geld" (Peter Häberle).

Ein Europäischer Währungsfonds (EWF) wäre eine Einrichtung des Finanzausgleichs. Er würde die Missstände der Hartz-Staaten weiter finanzieren, wie bisher der Zinstransfer wegen der erschlichenen stabilen Währung. Der EWF wäre mit dem Haftungs- und Schuldübernahmeverbot des Art. 125 AEUV unvereinbar. Ein neuer Vertrag, welcher die no bail out-Klausel aufhebt und das finanzielle Schicksal der Mitgliedstaaten wie das der Länder in Deutschland vergemeinschaftet, wäre endgültig der Schritt in den Bundesstaat, den selbst das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts an eine Zustimmung des Deutschen Volkes bindet, weil ein Unionsvolk verfasst werden müsste. Die politische Willensbildung der Union wäre selbst nach Auffassung des Gerichts nicht mehr demokratisch. Richtigerweise ist sie das wegen der Befugnisfülle der Union, welche das Prinzip der begrenzten Ermächtigung spätestens seit dem Maastricht-Vertrag verlassen hat, schon lange nicht mehr.

Art. 122 AEUV ermöglicht bei "außergewöhnlichen Ereignissen, die sich der Kontrolle eines Mitgliedstaates entziehen", den "finanziellen Beistand der Union". Interpreten werden die selbstverschuldeten Finanzprobleme als beihilfefähige "Schwierigkeit" herbeizureden versuchen. Die qualifizierte Mehrheit im Rat wäre angesichts der allgemeinen haushaltspolitischen Disziplinlosigkeit leicht zu erreichen. Auch das wäre rechtswidrig.

Ein EWF wäre kein IWF (Internationaler Währungsfonds) der EU. Aufgabe des IWF ist der Zahlungsbilanzausgleich in fremder Währung (vornehmlich mittels Sonderziehungsrechten) zur Stabilisierung der eigenen Währung. Eine eigene, hilfsfähige Währung hat Griechenland nicht, sondern weitestgehend eine Fremdwährung, den Euro. Dem Euro könnte durch Maßnahmen des IWF zur Kreditierung des griechischen Staatshaushalts, soweit solche überhaupt dem IWF-Übereinkommen genügen, nicht geholfen werden. Sie würden den Rest an Vertrauen in den Euro zerstören. Wenn der

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Euro bleibt, wird er ein anderer Name für die DM sein, die Währung des DM-Blocks, für gewisse Zeit erweitert um Frankreich.

Die Unionspolitik erlebt ihr Waterloo. Das Scheitern der Währungsunion und die schlechterdings nicht tilgbaren Staatsschulden lassen nur einen Plan B erwarten: Währungsreform.

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Zukunft des Euro Eine Auswahl von eurotopics.net

22.3.2010

Wem nützt eine europäische Gemeinschaftswährung? Ist der Euro gescheiter? Und warum streben Länder wie Polen oder Dänemark den Beitritt zur Eurozone an? Stimmen aus der europäischen Presse.

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Die Probleme des wagemutigen Euro Világgazdaság - Ungarn; Donnerstag, 18. März 2010

Die Erschütterung des Euro ist nicht allein auf die Probleme Griechenlands zurückzuführen, meint Harold James, Geschichtsprofessor an der Princeton University, in der Wirtschaftszeitung Világgazdaság: "Die gemeinsame europäische Währung ist Teil eines wagemutigen Versuchs: Der Euro ist ein Zahlungsmittel, das nicht an ein einzelnes Land gebunden ist. Seine Existenz gründet vielmehr auf internationalen Vereinbarungen und Regeln. Als Reaktion auf die Krise haben jedoch die Länder der Währungsunion ihre nationalen Interessen über die gemeinsamen internationalen Regeln gestellt. ... Das Problem liegt darin, dass Frankreich und Deutschland - die treibenden Kräfte der monetären Integration - unterschiedliche Vorstellungen von der Lösung der Probleme hatten. Während die Deutschen auf klar definierte fiskalische Regeln pochten, wünschten sich andere einen größeren Bewegungsspielraum. Die Franzosen ihrerseits wollten parallel zur monetären Integration die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik. ... Zur Lösung der Währungsprobleme wäre nicht nur eine globale monetäre Politik vonnöten, sondern auch eine globale Regierung. Allerdings zeigt das Beispiel der EU, dass dies nicht einmal auf regionaler Ebene gut funktioniert." zur eurotopics Presseschau (http:www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE67301- Die-Probleme-des-wagemutigen-Euro)

Euro behindert Staaten bei Krisenbewältigung Népszabadság - Ungarn, Donnerstag, 11. März 2010

Die Ökonomin Annamária Artner erläutert in der linksliberalen Tageszeitung Népszabadság die wirtschaftlichen Mängel der Eurozone: "Was auf dem Spiel steht, ist der 'europäische Traum', also die Existenz der gemeinsamen Währung. Diese ... gibt jenen Ländern, die Probleme haben (etwa Griechenland), keine Möglichkeit, um mit einer eigenen Geldpolitik auf die Wirtschaftsprozesse einzuwirken. Dies wäre nur dann kein Problem, wenn von einer Staatengemeinschaft die Rede wäre, in der die Mitglieder auf einem gleich hohen Entwicklungsniveau wären und in der alle elementaren Lenkungsmechanismen des Marktes (zum Beispiel die Zinspolitik) dieselben wären. Die Eurozone entspricht indes keineswegs diesem Idealbild." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE66973- Euro-behindert-Staaten-bei-Krisenbewaeltigung)

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 424

Euro droht Ende Hospodárske noviny - Slowakei, Freitag, 19. Februar 2010

Der Ökonom Milton Friedman hatte bei der Entstehung des Euro sein Ende in 15 bis 20 Jahren vorhergesagt. Daran erinnert angesichts der Haushaltsprobleme in Griechenland die slowakische Wirtschaftszeitung Hospodárske Noviny. Seine Zweifel an der Gemeinschaftswährung hat er damit begründet, dass "hierbei mehrere Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsstand zusammenkämen. Und selbstverständlich auch mit unterschiedlichen Mentalitäten. Portugal, Italien, Griechenland und Spanien wurden am häufigsten als Problemländer genannt. Zu allen Argumenten der Fachleute gesellt sich noch der menschliche Faktor. Wie können verantwortliche Politiker absichtlich falsche Angaben machen? ... Auch wenn die Eurozone den Fall Griechenland überleben wird: Sollten die einzelnen Länder nicht verantwortungsvoll wirtschaften und sollte vor allem der Weg falscher Solidarität statt adäquater Strafen eingeschlagen werden, dann könnte sich Friedmans Vorhersage bald bestätigen." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65929- Euro-droht-Ende)

Bulgarien nähert sich dem Euro Világgazdaság - Ungarn; Donnerstag, 18. Februar 2010

Bulgarien tritt bald dem Europäischen Wechselkursmechanismus ERM II bei, was für ganz Osteuropa Signalwirkung haben wird, meint die Wirtschaftszeitung Világgazdaság: "Der Beitritt Bulgariens zum Europäischen Wechselkursmechanismus und damit später zur Währungsunion wird für die gesamte Region Ostmitteleuropas von Bedeutung sein und die Wirtschaftspolitik der anderen osteuropäischen EU-Mitgliedsländer beeinflussen. ... Wenn Bulgarien innerhalb des nächsten halben Jahres ERM II beitritt, werden die Entscheidungsträger in Brüssel 2012 wohl einige schlaflose Nächte haben, wollen sie die Euro-Einführung in Ostmitteleuropa verlangsamen. Sollte Bulgarien die Maastrichter Kriterien für den Beitritt zur Eurozone bis 2012 erfüllen, wird Brüssel dem Land wohl grünes Licht geben müssen, zumal viele Mitgliedstaaten der Währungsunion die Maastricht-Kriterien selbst jahrelang nicht erfüllen können. ... Sofern Brüssel die Erweiterung der Eurozone aber auf die lange Bank schiebt, macht es zwar einen Schritt in Richtung innerer Konsolidierung der Währungsunion. Zugleich erschwert es aber die wirtschaftliche Stabilisierung der Länder Ostmitteleuropas, indem es ihnen ein wichtiges Ziel wegnimmt." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65858- Bulgarien-naehert-sich-dem-Euro)

Riskantes Ungleichgewicht in Europa Berliner Zeitung - Deutschland, Mittwoch, 17. Februar 2010

Die Krise in Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern bedroht die Stabilität des Euro. Die Gründe dafür analysiert die Berliner Zeitung: "Irland und die Südeuropäer sind Opfer der enormen Ungleichgewichte, die sich in der Eurozone in den vergangenen zehn Jahren aufgeschichtet haben. Die nördlichen Kernländer, allen voran Deutschland, haben ihre Konkurrenzfähigkeit durch Lohnzurückhaltung kräftig gesteigert. Dadurch wurde ein großes Handelsbilanzplus aufgebaut. In Südeuropa gab es dagegen einen kreditfinanzierten Konsumrausch. Deutschland exportierte dorthin immer mehr Waren und pumpte wiederum das erlöste Kapital in Teilen zurück nach Südeuropa. So wurde das Preisniveau dort weiter nach oben gedrückt. ... Doch nun ist die Blase geplatzt und die Kapitalströme versiegen durch die Krise. ... Im Grunde haben die Euro-Länder 1998 riskante Wetten darauf abgeschlossen, dass Europas Einigung schnell voranschreitet, dass auch die Sozial- und Steuerpolitik sich zügig annähern ... . Die Wetten wurden verloren. Der Euro wird daran wohl

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 425 zerbrechen, in dieser oder einer der nächsten Krisen, wenn die Integration nicht doch noch überraschende Sprünge macht." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65761- Riskantes-Ungleichgewicht-in-Europa)

Griechenland offenbart Mängel des Euro The Times - Großbritannien, Mittwoch, 10. Februar 2010

Die wirtschaftliche Misere Griechenlands zeigt, dass Großbritannien Recht damit hatte, nicht der Währungsunion beizutreten, findet die Tageszeitung The Times: "Die Krise illustriert, dass der Euro ein fehlerhaftes Projekt ist. ... Wie britische Steuerzahler wissen, hat fiskalische Verschwendung ihren Preis, mit oder ohne Euro. Der grundsätzliche Einwand gegen den Euro ist, dass er sowohl zu einer gemeinsamen Haushaltspolitik als auch zu einem gemeinsamen Zinssatz führt. Griechenlands Sorgen verdeutlichen dies - und die Steuerzahler anderer Euroländer zahlen den Preis. Großbritannien hat seine eigenen wirtschaftlichen Probleme, aber die britischen Wähler haben immerhin die Macht, die Politiker zu bestrafen, die die Probleme verschuldet haben. Dem Euro beizutreten bedeutet, dieses demokratische Recht aufzugeben." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE65412- Griechenland-offenbart-Maengel-des-Euro)

Erfolgsgeschichte Euro The Irish Times - Irland, Montag, 5. Januar 2009

Mit Blick auf die Finanzkrise kommentiert die Tageszeitung The Irish Times den Erfolg des Euros zehn Jahre nach seiner Einführung. "Der Euro hat sich trotz der vielen düsteren Warnungen von Skeptikern, dass die Währung dem Untergang geweiht sei, als ein bemerkenswerter Erfolg herausgestellt. Die europäische Einheitswährung würde 'ökonomisch, sozial und politisch' scheitern, insistierte [die ehemalige britische Premierministerin] Margaret Thatcher: Sie lag in allen Punkten falsch. In der Tat war die Stärke und Stabilität des Euros niemals offensichtlicher als in den letzten Monaten, als die globalen finanziellen Turbulenzen sich nach dem Kollaps der [US-Investmentbank] Lehman Brothers verschärften. Im Unterschied dazu sind die Schwierigkeiten, die dies für einige Länder außerhalb der Eurozone wie Dänemark mit sich brachte, allzu offensichtlich. Um den Wechselkurs zu verteidigen und Kapitalflucht zu verhindern, müssen sie den Leitzins hoch halten. Es ist keine Überraschung, dass die öffentliche Meinung in vielen dieser Länder (zum Beispiel Dänemark und Polen) sich in Richtung Beitritt zur Eurozone bewegt." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE42475- Erfolgsgeschichte-Euro)

Martin Feldstein zweifelt den Euro an Világgazdaság - Ungarn, Dienstag, 8. Dezember 2009

Der Harvard Ökonom Martin Feldstein hinterfragt in der Wirtschaftszeitung Világgazdaság die Existenz der europäischen Gemeinschaftswährung Euro: "Obwohl der Euro den Handel vereinfacht, schafft er erhebliche Probleme für die Geldpolitik. Schon vor seiner Geburt fragten manche Ökonomen (auch ich selbst), ob eine Gemeinschaftswährung für eine derart heterogene Gruppe von Ländern überhaupt wünschenswert wäre. ... Die gegensätzlichen Bedingungen in Deutschland und Spanien veranschaulichen das Problem. ... Deutschland verzeichnete in den zwölf Monaten bis letzten August einen Außenhandelsüberschuss von 117 Milliarden Euro, wohingegen Spanien in den letzten zwölf

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Monaten ein Außenhandelsdefizit von 56 Milliarden Euro anhäufte. ... Hätte Spanien immer noch die Peseta und Deutschland die D-Mark, würden die Unterschiede in den Handelsbilanzen zu einer Aufwertung der Mark und einer Abwertung der Peseta führen. Durch die schwächere Peseta würde die Nachfrage nach spanischen Exporten angekurbelt und Spaniens Importe verringert, wodurch wiederum die Binnennachfrage gestärkt und die Arbeitslosenzahlen verringert würden." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE62405- Martin-Feldstein-zweifelt-den-Euro-an)

Euro-Einführung in Polen ein erster wichtiger Schritt Dziennik Gazeta Prawna - Polen, Donnerstag, 19. Februar 2009

Die Soziologin Jadwiga Staniszkis kommentiert in einer Kolumne den Plan der polnischen Regierung, den Euro einzuführen. Sie hält diese Idee für einen richtigen Schritt in der jetzigen Krise: "Die Lage der polnischen Wirtschaft ist zwar beunruhigend, doch es ist nicht nötig, Alarm zu schlagen. Ich denke, dass die vorsichtigen Überlegungen der Regierung, die europäische Währung direkt auf den Markt zu bringen, in der gegenwärtigen Situation ein erster richtiger Schritt sind. Er ist ausreichend vorsichtig und nicht von Panik geprägt. Die Kommentare im Westen, die sich mit der Lage in Polen befassen, sind unterschiedlich: 'The Economist' hat betont, dass die Krise nicht von unserer Wirtschaft verursacht wird, sondern im Zusammenhang mit äußeren Faktoren steht. Und außerdem werden wir nicht von den internationalen Banken unterstützt, die sich in Kreditangelegenheiten unfair verhalten. Sie wenden unterschiedliche Standards an, die bei uns wesentlich rigoroser sind." zur eurotopics Presseschau (http://www.eurotopics.net/de/archiv/results/archiv_article/ARTICLE45507- Euro-Einfuehrung-in-Polen-ein-erster-wichtiger-Schritt)

bpb.de Debatte: Europa kontrovers (Erstellt am 24.09.2019) 427

Redaktion

23.4.2014

Herausgeber

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Redaktion extern

Eckart D. Stratenschulte

Redaktion bpb

Martin Hetterich (verantwortlich) Thomas Fettien

Matthias Jung (2010) Stephan Trinius (2010) Ute Friederich (2010, studentische Mitarbeit)

Titelbild

European Space Agency

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