WISSENSCHAFTLICHE ZEITSCHRIFT DER WILHELM-PIECK-UNIVERSITÄT - 25. JAHRGANG 197Ö GESELLSCHAFTS- UND SPRACHWISSENSCHAFTLICHE REIHE, HEFT 2 HERAUSGEBER: DER REKTOR

Aus der Sektion Physik der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock

Direktor: Prof. Dr. sc. H. Ulbricht

Zur Geschichte der Elektrolytforschung an der Universität Rostock *)

von W. Ebeling, P. Jakubowski, R. Mahnke, E. Rogmann

1. Einleitung schung standen, geht die Entwicklung des 18. und 19. Als Elektrolyte bezeichnet man elektrisch leitende Jahrhunderts im wesentlichen ohne Beteiligung Ro¬ Flüssigkeiten oder feste Körper, in denen der Strom¬ stocker Gelehrter vorüber. Erst in unserem Jahrhun¬ transport zum überwiegenden Teil auf die Wanderung dert wird insbesondere durch die großen Leistungen von Ionen zurückzuführen ist. Diese spezielle Art des von Adolf HEYDWEILLER (1856-1925), Paul WALDEN Leitvermögens zeigen z. B. Salze in wässriger Lösung, (1863-1957), Hermann ULICH (1845-1945), Walter aber auch in der Schmelze und im kristallinen Zustand. SCHOTTKY (geb. 1886) und Hans FALKENHAGEN Elektrolyte spielen in der modernen Technik eine so (1895—1971) wieder eine neue Tradition durch For¬ große Rolle, daß sie einem ganzen Industriezweig, der schungsresultate von internationalem Rang geschaffen. elektrochemischen Industrie, einen Namen gegeben 1908 begründet A. HEYDWEILLER diese Tradition am haben. Auch für den Ablauf aller Lebensprozesse, die Physikalischen Institut. In den folgenden Jahren stehen ohne Beteiligung von Ionen undenkbar wären, spielen experimentelle Arbeiten zur Elektrolytforschung im die Elektrolyte eine fundamentale Rolle. Diese weni¬ Vordergrund. Wesentliche Beiträge kommen seit 1908 gen Hinweise mögen zur Rechtfertigung einer beson¬ aus der von P. WALDEN gegründeten physiko-che- deren Untersuchung der Geschichte dieser wichtigen mischen Abteilung des chemischen Instituts. WALDEN’s interdisziplinären Forschungsrichtung an der Univer¬ Schüler H. ULICH führt diese Arbeiten weiter. Mit sität Rostock dienen. Die Traditionen фг Elektrolyt¬ der Berufung W. SCHOTTKY’s an die Universität forschung an der Universität Rostock gehen bis auf den Rostock verlagert sich das Schwergewicht auf die berühmten Gelehrten Joachim JUNGIUS (1587-1657) Theorie der Elektrolyte. Nach 1949 setzen H. FALKEN¬ zurück, der heute als einer der Wegbereiter^der Natur¬ HAGEN und seine Mitarbeiter die Elektrolytforschung wissenschaften der Neuzeit gewürdigt wird [1, 2]. Jo¬ fort, wobei besonderer Wert auf das Zusammenwir¬ achim JUNGIUS, der 1624 auf eine Professur für ken von Experiment und Theorie gelegt wird. Gegen¬ Mathematik an der Universität Rostock berufen wurde, wärtig wird die Theorie der Elektrolyte, basierend hat die Demokritische Atomhypothese wiederbelebt und auf den allgemeinen Methoden der Statistischen Phy¬ die kleinsten durch Teilung stofflicher Materie ent¬ sik, an der Sektion Physik unter Leitung der Profes¬ stehenden Partikel als materielle Einheiten anerkannt. soren G. KELBG, H. ULBRICHT und W. EBELING Durch Betrachtungen der Vorgänge zwischen metal¬ intensiv fortgeführt und durch experimentelle Unter¬ lischen Elektroden und Metallsalzlösungen am Beispiel suchungen ergänzt. der Verkupferung von Eisen in Kupfervitriol hat er einige Grundvorstellungen der Elektrochemie antizi¬ 2. Adolf Heydweiller piert. Nach JUNGIUS findet bei der Verkupferung 2.1. Lebensdaten keine gegenseitige Umwandlung von Eisen in Kupfer 15. 1.1856 in Krefeld geboren. statt, sondern es geht ein stofflicher Austausch zwi¬ 1874 Studienbeginn an der TH Hannover und schen Lösung und Metallelektrode vor sich. Diese an den Universitäten Leipzig und Berlin Erkenntnis bedeutete einen erheblichen Fortschritt in 1874/75 Militärdienst der materialistischen Deutung dieses Prozesses. Wäh¬ 1881/82 Kandidat des höheren Lehramtes am rend mit diesen bahnbrechenden Ideen die Wissen¬ Realgymnasium Giessen schaftler der Universität Rostock im 17. Jahrhundert 1883/85 Assistent am Institut di Studii noch an der Spitze der zeitgenössischen Elektrolytfor¬ Superiori Florenz 1886/90 Assistent am Physikalischen Institut der Die vorliegende Arbeit basiert auf den Untersuchungen *) Universität Würzburg eines sozialistischen Studentenzirkels (P. J., R. M. und E. R.) zur „Geschichte der Physik“. 1886 Promotion 1887 Habilitation der Zeit von 1900 bis 1916 wurden dabei folgende 1887.93 Privatdozent Probleme untersucht: 1893/95 Privatdozent an der Universität Straßburg — Dichte und elektrisches Leitvermögen 1895 1901 a. o. Professor an der Universität Breslau — Oberflächenspannung und elektrisches Leitvermögen 1901/06 o. Professor an der Universität Münster wässriger Salzlösungen 1908.21 o. Professor an der Universität Rostock. — Dichtemoduln der Ionen im Wasser Berufung zum Direktor des Physikalischen — Refraktion, Dispersion und Dissoziation von Salzen Instituts im Wasser 1909. 10 Leitung des Neubaus des Physikalischen — Ultraviolette Dispersion von Salzen im Wasser. Institutes an der Universität Rostock Auch hier sind die Vorarbeiten Kohlrausch's Aus¬ 1911 Gründung der Luftwarte Friedrichshöhe gangsbasis der Untersuchungen. Durch die Verbesserung 1911 Physiko-chemischen Eröffnung des Labo¬ der Experimentiertechnik wird eine bedeutende Ver¬ ratoriums an der Universität Rostock feinerung der Beobachtungen erreicht. Die experimen¬ 1921 Entlastung von den Aufgaben an der tellen Arbeiten sind sehr umfangreich und wurden mit Universität Rostock und Umzug nach größter Genauigkeit durchgeführt. Es werden z. B. München, Dichtemessungen an 28 Salzlösungen unterschiedlicher 31. 12. 1925 verstorben. Konzentration und bei verschiedenen Temperaturen vorgenommen. Dabei ließ sich ein linearer Zusammen¬ hang zwischen dem relativen Dichtezuwachs gegen 2.2 Wissenschaftliche Tätigkeit Wasser und dem elektrischen Leitvermögen nachwei- Adolf Heydweiller wurde im Jahre 1908 an die Uni¬ sen. Die Regel der allgemeinen Addition der Ionen¬ versität Rostock berufen, wo als Nachfolger er Ditericis eigenschaften konnte bestätigt werden. Ausnahmen die Leitung des Physikalischen Institutes übernahm führte Heydweiller auf Hydratation bzw. Neigung zur Er war schon damals [4]. ein bekannter Experimental¬ Komplexbildung zurück. physiker und verfügte über Erfahrungen im Instituts¬ Adolf Heydweiller erwarb sich nicht nur bei der neubau (ein nicht unwesentlicher Grund für seine Erforschung der mechanischen, thermodynamischen Berufung, wie aus den Akten Schon hervorgeht). in und optischen Eigenschaften der Elektrolyte große den Jahren 1909/10 begann seiner unter Leitung der Verdienste als fähiger Experimentalphysiker, aufmerk¬ längst fällige Neubau des Physikalischen Institutes, sam verfolgte er auch die Entwicklung der Theorie. das nach einigen Schwierigkeiten am 26.9. 1910 seiner Die letzten Jahre seines Schaffens widmete er u. a. Bestimmung übergeben werden Auch konnte. an der Untersuchungen der experimentellen Bestätigung der Errichtung und wissenschaftlichen Arbeit der 1911 ge¬ Quantentheorie, die damals gerade im Entstehen be¬ gründeten Luftwarte in Friedrichshöhe hatte Prof. griffen war [5]. Nach dieser Theorie bestehen Bezie¬ Heydweiller bedeutenden Anteil. Seine Hauptaufgaben hungen zwischen der Wärmetönung chemischer Reak¬ lagen jedoch in der Lehre und Forschung. Prof. Heyd¬ tionen und der gleichzeitigen Änderung der optischen weiller hielt seine Vorlesungen in zwei Im Zyklen: Eigenschaften. Anregung für Heydweillers Untersu¬ Wintersemester las er über Magnetismus, Elektrizität chungen war die Elektronenoptik elektrolytischer Lö¬ und Optik, im Sommersemester Allgemeine Physik, sungen von F. Haber, wonach sich die optischen Ver¬ Akustik und Wärme. Dazu kamen Übungen und Semi¬ änderungen bei Ionisationen vollständig auf Änderun¬ nare, die gemeinsam mit den Mathematikern gestal¬ gen der Schwingungszahlen der Valenzelektronen tet wurden. zurückführen lassen. In seiner Forschertätigkeit hatte sich Heydweiller Zur Prüfung der Theorie verwendete Heydweiller H- anfangs verschiedenen Problemen der ge¬ Elektrik und OH-Ionen, da diese Prozesse meßtechnisch gut widmet. Seit den 90iger Jahren nafim er in frucht¬ erfaßbar sind. Bei den Untersuchungen stützt er sich barer Zusammenarbeit mit Friedrich Kohlrausch die auf Drudes Elektronentheorie sowie drei zusätzliche Untersuchungen auf dem Gebiet der Elektrolytfor¬ Postulate, wonach schung auf. In Rostock erfahren diese Arbeiten eine (1) nur ein loses Valenzelektron existiert, welches bedeutende Intensivierung. Zunächst geht es Heyd¬ optische Veränderungen verursacht weiller und seinen Mitarbeitern um die Präzisierung (2) nur Änderungen der Schwingungszahlen dieses und Erweiterung der vor rund 15 Jahren ermittelten Valenzelektrons auftreten Werte für die Ionisationswärme und Ionisationskon¬ (3) das Verhältnis bei den ablaufenden Prozessen stante des Wassers. Dabei geht er von Arrhenius’ Theo¬ (e/m) konstant bleibt. rie aus, die das Massenwirkungsgesetz auch für starke Elektrolyte voraussetzt, eine Annahme, die später kor¬ Durch Verwendung modernster Meßtechnik konnte eine rigiert werden mußte. Die ermittelten Korrektionsfak¬ hohe Genauigkeit erreicht werden und es wurde ein toren für die Neutralisationswärme stimmen jedoch positives Resultat erzielt: die berechneten Werte für sehr gut mit den Erfahrungen anderer Wissenschaftler, die Schwingungszahlen der Valenzelektronen stimm¬ z. B. Noyes überein und erlaubten es, die Werte für ten mit den experimentell ermittelten bestens überein. Ionisationskonstante und -wärme des Wassers neu zu Dieses Resultat bedeutet eine experimentelle Bestäti¬ berechnen und innerhalb der Fehlergrenzen bis 200 °C gung der derzeitigen theoretischen Vorstellungen der zu extrapolieren. Quantentheorie, der Elektronentheorie und der Postu¬ In der Folgezeit widmet sich Heydweiller im Verein late über das optische Verhalten von Elektrolyten. mit seinen Schülern der Untersuchung physikalischer Mit diesen Untersuchungen hatte Heydweillers Schaf¬ Eigenschaften von Lösungen [4]. Von besonderem In¬ fen auf dem Gebiet der Elektrolytforschung seinen teresse sind dabei der Zusammenhang verschiedener Höhepunkt erreicht. Daneben war Adolf Heydweiller Eigenschaften sowie der Anteil der Ionen daran. In Mitherausgeber eines Lehrbuches von Friedrich Kohl-

112 rausch, Verfasser biographischer Abhandlungen über 1934 Dr. sc. h. c. der Universität Madrid. einige bedeutende Naturforscher wie Fr. Kohlrausch, Verschiedene Berufungen u. a. nach W. Hittorf. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen zu und Leningrad abgelehnt. verschiedensten allgemeinen und speziellen physikali¬ Emeritierung. schen Problemen zeugt von einer regen Forschungs¬ 1934-42 Als Emeritus in Rostock Beschäftigung tätigkeit. mit der Geschichte der Chemie und dem In den Jahren nach 1916 setzten die Belastungen Thema „Goethe und die Chemie“ durch den 1. Weltkrieg sowie der sich verschlechternde (1934 — Goethe-Medaille). Gesundheitszustand dem weiteren Wirken Heydweil- 1942 Bei einem Luftangriff wurde Waldens

lers Grenzen. Im Oktober 1921 wird er auf eigenen Wohnung und seine Bibliothek (10 000 > Wunsch von seinen Pflichten entbunden und tritt in Bände) in der heutigen August-Bebel- q; den Ruhestand. Seine Arbeiten in der Elektrolytfor¬ Straße in Rostock total zerstört. schung wurden in der Folgezeit von dem Chemiker 1942-47 Aufenthalt in Bühl/Baden, danach Paul Waiden in Rostock weitergeführt. /Main. 1946 Zur feierlichen Wiedereröffnung der Universität Rostock am 25. Februar 1946 3. Paul Waiden wurde Waiden vom damaligen Rektor, 3.1 Lebensdaten Prof. Rienäcker, eingeladen. 26. 7.1863 in Rosenbeck bei Riga als Sohn eines 1947 Übersiedlung nach Gammertingen/ Landwirtes geboren Württemberg; Gastprofessur an der WS 1882-88 Studium der Chemie am Polytechnikum Universität Tübingen für Geschichte in Riga als Schüler von W. Ostwald der Chemie. und K. A. Bischof 1950 Dr. rer. nat. h. c. der Universität 1889 Abschluß als Diplom-Ingenieur, Tübingen Tätigkeit als Chemiker in Riga 22.1.1957 im Alter von 93 Jahren verstorben in SS 1890 u. SS Fortsetzung der Studien an der Gammertingen. 1891 Universität Leipzig bei W. Ostwald 1891 Promotion bei W. Ostwald in Leipzig zum Dr. phil. mit summa cum laude 3.2. Wissenschaftliche Tätigkeit SS 1893 Studienaufenthalt an der Universität Paul Waiden gehört zu den überragenden Forschern München, danach Rückkehr nach auf dem Gebiet der Elektrochemie. Er verliert seine Rußland Eltern schon im Alter von IV2 Jahren und wird in 1893 Mag. chem. (Magistergrad) an der einem Pensionat in Cesis erzogen. Über seine Nationa¬ Universität Odessa lität schweigt Waiden und gibt z. B. auf dem Frage¬ 1894 Prof, für physikalische und analytische bogen eines internationalen Kongresses an: Nationali¬ Chemie am Polytechnikum in Riga tät: Chemiker. Stradin macht anhand des Taufbuches 1899 Promotion zum Dr. chem. an der und von Berichten seiner Zeitgenossen die lettische Universität St. Petersburg Herkunft wahrscheinlich [6]. Der begabte Junge be¬ 1899-1919 ord. Prof, für allg. Chemie am ginnt 1882 das Studium an der Rigaer Polytechnischen Polytechnikum in Riga Lehranstalt [6, 7, 8]. 1910 ord. Mitglied der Akademie der Besonders war es die Lehrer- und Forscherpersön¬ Wissenschaften in St. Petersburg (neben lichkeit des jungen Rigaer Professors Wilhelm Ost¬ der Professur in Riga) wald, die Paul Waiden fesselte und seine Arbeits¬ 1919 Erster Rektor der aus dem Poly¬ richtung nachhaltig beeinflußte. 1885 wurde er technikum hervorgegangenen Lettischen Assistent für Physik, und 1886 für Chemie bei Ostwald. Universität Riga der sozialistischen 1886 bittet P. Waiden seinen Lehrer um ein Thema Sowjetrepublik Lettland. Emigriert nach für eine erste wissenschaftliche Arbeit. Ohne große der Errichtung eines bürgerlidh- Überlegung und Bedenken sagt Ostwald „Prüfen Sie nationalistischen Regimes in Lettland doch das Verhalten mehrsäuriger Basen gegenüber ein- Okt. 1919-1934 ord. Prof, für Chemie an der und mehrbasigen Säuren durch die Bestimmung des Universität Rostock molekularen elektrischen Leitvermögens etwa zwischen 1925 Ehrengast bei der 200-Jahr-Feier der den Verdünnungen von 32 bis 1024 Litern“ [15]. Akademie der Wissenschaften zu Als Ergebnis dieser Arbeit erscheint 1887 ein Artikel Leningrad von P. Waiden im ersten Band der Zeitschrift für 1927—März 28 Austauschprofessur an der Cornell- physikalische Chemie, der die berühmt gewordene Universität in Ithaca (USA) Ostwald-Waldensche Regel enthält. Nach Ostwalds 1927 Wahl zum Ehrenmitglied der sowjeti¬ Berufung nach Leipzig wandte sich Waiden unter dem schen Akademie der Wissenschaften zu Einfluß von Ostwalds Nachfolger K. A. Bischof der Leningrad Stereochemie zu, dem Teilgebiet der Chemie, das 1929 Dr. Ing. h.c. der TH Stuttgart sich mit der räumlichen Konfiguration der Moleküle 1932 Dr. med. h. c. der Universität Rostock beschäftigt. 1934 Teilnahme an der von der sowjetischen 1895/96 gelang Waiden eine Entdeckung, die soge¬ Akademie der Wissenschaften zu nannte Walden’sche Umkehrung, die ihm sofort Welt¬ Leningrad organisierten 100-Jahr-Feier ruf einbrachte. Die Walden’sche Umkehrung beinhaltet von Mendelejews Geburtstag neben die Tatsache, daß „ausgehend von einem einheitlichen O. Hahn und L. Meitner optisch aktiven und mit nur einem Kohlenstoffatom

- 3 G 3/76 Ro 113 begabten Körper . .. unter Anwendung von optisch¬ Waldens wissenschaftliche Tätigkeit in Rostock lag inaktiven, chemisch verschiedenen wirkenden Agenzien, auf dem Gebiet der Elektrolytlösungen in nichtwäss¬ bei relativ niedrigen Temperaturen, zweierlei aktive rigen Lösungsmitteln, der er sich seit etwa 1910 syste¬ Substitionsprodukte, d. h. die beiden optischen Anti¬ matischen Studien widmete. Neben dem umfangreichen poden zu gewinnen sind“ [9]. Buch „Elektrochemie nichtwässriger Lösungen“ [14], das Optisch aktive Substanzen bewirken eine Links- oder über die gesamten eigenen Untersuchungen berichtet, Rechtsdrehung der Polarisationsebene des Lichtes. Das entstand ebenfalls 1923 „Molekulargrößen von Elek¬ Walden'sche Phänomen wurde sogleich bei seiner Ver¬ trolyten in nichtwässrigen Lösungsmitteln“ [13]. öffentlichung beachtet und bewertet (z. B. durch W. Das chemische Institut entwickelte eine große Lei¬ Ostwald 1896), zumal es im Widerspruch zur damals stungsfähigkeit. Waldens internationale Anerkennung geltenden Regel stand. Diese besagte, daß ein optisch drückt sich auch in zahlreichen Einladungen zu Kon¬ aktiver Körper und das aus ihm abgeleitete Derivat gressen in der ganzen Welt aus. Er war Mitglied von 6 Akademien der Wissenschaften, 4facher Ehrendoktor und Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und der Londoner Chemischen Gesellschaft. Nach seiner Emeritierung tritt P. Waiden mit Vor¬ trägen (z. B. im ehemaligen Rostocker Stadttheater) und Büchern zur Geschichte der Chemie und zum Thema „Goethe und die Naturwissenschaften“ an die Öffentlichkeit. Paul Waiden, der sicher zu den ganz großen Vertre¬ tern der Elektrochemie zählt, hat in seinem Leben viele persönliche Enttäuschungen und Schicksals¬ schläge hinnehmen müssen. Dazu hat zweifellos auch seine besonders in höherem Alter zunehmend inkonse¬ quente und schwankende politische Haltung beigetra¬ gen. Während seine Haltung bis 1919 noch für einen progressiven Vertreter der liberalen Intelligenz Ru߬ lands typisch ist, stellt er sich während der revolu¬ tionären Ereignisse in Riga auf die Seite der Sowjet¬ macht. Er übernimmt den Auftrag zur Organisation der Lettischen Universität auf der Basis der bisherigen Polytechnischen Lehranstalt und wird von der Sowjet¬ regierung Lettlands als ihr erster Rektor eingesetzt. Gleichzeitig erfüllt er einige verantwortliche Aufträge der Sowjetregierung zur Entwicklung einer chemischen Industrie. Der damalige Vorsitzende der Regierung Sowjetlettlands Peter Stutchka hat Waldens Arbeit persönlich sehr hoch eingeschätzt [6]. Nach Errichtung der bürgerlich-nationalistischen Macht in Lettland emigriert er nach Deutschland. Später folgt er dem Einfluß der deutsch-national chauvinistischen Propa¬ ganda, die sich besonders in seinen historischen Wer¬ Abb. 1 ken Paul Waiden (1863-1957) widerspiegelt. Durch die Kriegsfolgen mittellos und vereinsamt, stirbt er 1957 im Alter von 93 Jahren in einem Altersheim in Gammertingen bei Tübingen. Es ist ein historischer Fakt, daß Paul Waiden dis ein und dieselbe Drehungsrichtung haben oder bei ersten Brücken zwischen der jungen Lettischen Univer¬ dem Derivat Razemisation (optische Inaktivität) ein- sität Riga und der traditionsreichen Rostocker Univer¬ tritt. sität geschlagen hat und damit die heutige feste Freund¬ So kam Waiden 1919 schon als eine bekannte Per¬ schaft und Zusammenarbeit beider Universitäten be¬ sönlichkeit auf naturwissenschaftlichem Gebiet an die gründen half. Rostocker Universität. In einem Schreiben an P. Wai¬ den, der sich z. Z. auf Schloß Remplin befand, heißt es: „Ministerium gestattet sich, freigewordenen ord. 4. Hermann Ulich Lehrstuhl für anorganische Chemie unter folgenden Bedingungen anzutragen: 1. Vorlesungen über allge¬ 4.1 Lebensdaten meine und anorganische Chemie, Pharmazie, analyti¬ 13. 1. 1895 in Dresden geboren sche Chemie und 2. Leitung des Instituts“ [8]. 1914 Studium der Naturwissenschaften in P. Waiden vertrat als Anorganiker eine ausgespro¬ Freiburg, Unterbrechung wegen des 1. chen physikalisch-chemische Richtung. Er gründete eine Weltkrieges, schwere Verwundung eigene physiko-chemische Abteilung im chemischen im April 1918, die er mit großer Energie Institut. Als ersten Mitarbeiter in dieser Abteilung überwand. gewann er H. Danneel von der TH Berlin. Später 1919 Wiederaufnahme des Studiums an der TH besetzte er die zugelassene Assistentenstelle mit seinem Dresden Schüler H. Ulich. 1920 Verbandsexamen an der TH Dresden

114 Es 1921 Übersiedlung an die Universität Rostock, kollegen P. Waiden und W. Schottky gestanden. Ulich um in den folgenden 3 Semestern eine soll deshalb noch einmal betont werden, daß H. Dissertation bei P. Waiden anzufertigen einen eigenständigen und wesentlichen Beitrag zur 1922 Promotion bei P. Waiden mit summa cum Entwicklung der physikalischen Chemie und speziell laude zum Dr. phil. zur Elektrolytforschung geleistet hat, der eine weite 1923 Assistent I. Klasse an der physikalisch¬ Anerkennung gefunden hat. chemischen Abteilung des chemischen 5. Walter Schottky Instituts der Universität Rostock 5.1 Lebensdaten 1926 Habilitation an der Universität Rostock 23. 7.1886 Als Sohn des Mathematikers Friedrich 1926 Erteilung der venia legendi (Lehrbefugnis) Schottky in Zürich geboren. für das Fach physikalische Chemie, 1903 Der Vater erhält eine Professur in Berlin Privatdozent und wird später auch Mitglied der außerplanmäßiger außerordentlicher 1930 Akademie. Professor an der Universität Rostock 1904 Schotty legt sein Gymnasialabitur in 1934 Ruf an die TH Aachen angenommen. Berlin ab. Ernennung zum o. Professor für '09 1904 Mathematische und physikalische Studien physikalische Chemie an der Fakultät für an der Berliner Friedrich-Wilhelm- Stoffwirtschaft der TH Aachen Universität. 1940 ord. Professor an der TH Karlsruhe 1912 Promotion „Über relativtheoretische 14. 4. 1945 in Öhrungen Württemberg im Alter von Energetik und Dynamik“ Gutachter: 50 Jahren verstorben M. Planck und F. Rubens theoretische Unter¬ 4.2 Wissenschaftliche Tätigkeit 1912/14 Experimentelle und suchungen über Raumladungen von Während seiner Rostocker Zeit fertigte H. Ulich an¬ Röhren an der Universität Jena. erkannte wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet 1914/15 Wissenschaftliche Arbeit in Berlin der Elekrolytforschung an [18, 19]. Besonders beschäf¬ 1916/19 Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Obering.) tigte ihn die Leitfähigkeit von Elektrolytlösungen. der Firma Siemens & Halske. Das Thema seiner Dissertation lautete „Leitfähigkeits¬ der 3 °C 1920 Habilitation über „Thermodynamik messungen bei 0°, 18 und 100 an verdünnten wäss¬ seltenen Zustände“, in Würzburg, Privat¬ rigen Lösungen von Salzen einwertiger Ionen“, die dozent an der dortigen Universität. Habilitationsschrift ist überschrieben mit „Über die 1923 Berufung zum a. o. Professor für Beweglichkeit der elektrischen Ionen“. P. Waiden theoretische Physik an der philosophischen schätzt die Arbeit als „durchaus zeitgemäß und äußerst Fakultät der Universität Rostock. wertvoll und auf große gesetzmäßige Zusammenhänge 1926 Ernennung zum Ordinarius der eingestellt“ ein. [8] Universität Rostock Bis 1934 verfaßt H. Ulich zahlreiche Veröffentli¬ Schottky scheidet auf eigenen Wunsch aus chungen über Experimentalarbeiten zur elektrolytischen 1927 dem Lehrkörper der Universität Rostock Leitfähigkeit, Dielektrizitätskonstanten, Salzschmelzen aus und wird wissenschaftlicher Berater und fertigt kritische Zusammenfassungen der Theorie bei Siemens & Halske in Berlin über die Dissoziation in Lösungen (besonders über den 1929 Im Springer-Verlag erscheint das unter Zusammenhang zwischen Ionenbeweglichkeit und inne¬ Mitwirkung von H. Ulich und C. Wagner rer Reibung) an [19]. entstandene Werk „Thermodynamik“. Viel Zeit nahm die Zusammenarbeit mit W. Schottky 1936 Verleihung der Hughes Medal der Royal zur Abfassung eines Lehrbuches über die gesamte Society in London. Thermodynmaik in Anspruch. Das gemeinsam von W. 1944 Übersiedlung nach Pretzfeld/Oberfranken Schottky und C. Wagner erarbeitete umfangreiche 1946 Vertragsmitarbeiter des Siemenskonzerns Werk „Thermodynamik“ erschien 1929 in Berlin, im 1951 Dr, h. c. der TH Darmstadt Vorwort sagt Schottky „Ulich war mir zugleich Schü¬ 1959 Dr. h. c. der Technischen Universität in ler und Lehrer. Er ersetzte durch Sach- und Litera¬ Westberlin. turkenntnisse meine fehlenden chemischen Kenntnisse“ [17]. Dieses Buch hat internationale Anerkennung ge¬ 5.2 Wissenschaftliche Tätigkeit funden und gilt noch heute als ein Standardwerk Walter Schottky war eine Forscherpersönlichkeit, die auf dem Gebiet der Thermodynamik. auf vielen Gebieten der Physik wesentliche Beiträge 1930 brachte H. Ulich ein eigenes Lehrbuch über lieferte. Dieser „tiefgründige Denker“, wie ihn A. chemische Thermodynamik heraus [18]. Als Privat¬ Sommerfeld charakterisierte, erhielt seine vorzügliche dozent kündigte H. Ulich seit dem Wintersemester Ausbildung an der Berliner Humboldt-Universität, wo 1926/27 Vorlesungen über physiko-chemisches und che¬ er Vorlesungen in Experimentalphysik bei E. War- misch-technisches Rechnen, Thermochemie und Elektro¬ burg und P. Drude, in theoretischer Physik bei M. chemie an. Beliebt waren seine Seminarübungen über Planck, in Chemie bei Landoldt und Nernst und in Elektrolytlösungen und die Physikalische Chemie für Philosophie bei Paulsen und Riehl hörte. Naturwissenschaftler und Mediziner. Für Studenten Die Praktika standen unter Leitung von Blasius und und interessierte Rostocker Bürger hielt Ulich öffent¬ Wehnelt. In den Jahren von 1909 bis 1912 setzte er liche Vorlesungen an Sonnabenden. Ein Thema lautete sich in seiner Promotion mit einigen Gedanken Ein¬ z. B. „Die Bedeutung der Röntgenstrahlforschung“. steins aus den Jahren 1906/07 auseinander und disku¬ Die Arbeit von H. Ulich in Rostock hat möglicher¬ tierte die philosophischen Konsequenzen der speziellen weise etwas im Schatten seiner überragenden Fach¬ Relativitätstheorie.

* 3 115 rerseits erwies sich eine Klärung der begrifflichen Grundlagen und Definitionen der chemischen Statistik als notwendig, um ein ungehindertes Fortschreiten auf — dem eingeschlagenen Weg ( der Beschreibung der Ladungswolken — Anm. d. Verf.) zu ermöglichen“ [21]. Rostock mit seinen Traditionen auf dem Gebiet der Elektrolytforschung bot dafür gute Möglichkeiten. Seine erste große Ai-beit auf diesem Gebiet stellt seine Würzburger Habilitationsschz-ift über „Die Thei'mo- dynamik seltener Zustände im Dampfraum“ dar, wobei er zu den seltenen Zuständen neben den Ionen, Elek¬ tronen, Atomen und Molekülen auch Photonen zählte, und er sich stark von den elektrochemischen Arbeiten Herzfeldt’s, des späteren Nobelpreisträgers, beeindruckt zeigte. Weitere Gedanken und Ergebnisse legte er in den Veröffentlichungen „Zur statistischen Fundamen- tiei'ung der chemischen Thermodynamik“ [22], „Eine Verallgemeinerung der Fowler’schen Verteilungsstati¬ stik“ [23] und „Quasineutrale elektrische Diffusion in ruhenden und strömenden Gasen“ [24] dar. Gleichzeitig erschienen im selben Zeiti’aum auch weiterhin regel¬ mäßig Beiträge zu den Problemen der Elektronen¬ röhren. Sein Hauptaugenmerk galt in dieser Zeit aber seiner „Thermodynamik“ [17], die er unter Mitarbeit des Rostocker Kollegen H. Ulich und des Berliner Kollegen C. Wagner schrieb und die 1929 im Springer-Vexiag erschien. In den letzten Jahren seiner Rostocker Zeit wurden die Beziehungen des auch experimentell interessierten Schottky, dem A. Einstein bescheinigte, „daß er sich aufs Experimentelle vei’steht“ [20], zur Siemens & Hals- lukratives Angebot seitens Abb. 2 ke AG enger und ein Walter Schottky (geb. 1886) dieser Fii-ma bewirkte sein Ausscheiden aus dem Lehi’körper der Rostocker Universität. Auf den frei¬ gewordenen Lehrstuhl wurde der bekannte theoretische Physiker F. Hund bei'ufen, dem 1929 P. Jordan und Im physikalischen Institut der Universität Jena be¬ W. Weizel folgten [25, 26]. gann er mit seinen Arbeiten zu Problemen der Raum¬ Für die Entwicklung der Elektrolytforschung an der ladungen in Elektronenröhren, die er und seine Mit¬ Universität Rostock liegt die Bedeutung Schottky’s be¬ arbeiter sowohl auf theoretischem als auch sonders in seinen Arbeiten zur statistischen Begrün¬ experimentellem Gebiet vorantrieben. Diesen Gegen¬ dung der chemischen Thermodynamik, die auch die stand versuchte er in seiner ganzen Komplexität zu Vorgänge in Elektrolyten beschreibt, sowie in seinen ez-gründen. Schottky untersuchte die Quelle der Raum¬ Beiträgen zur Statistik von Ladungsträgern. Auf die¬ ladungsteilchen und gelang zu Aussagen über die sen Gebieten hat W. Schottky fundamentale Leistungen Struktur fester Körper (Schottkydefekt); er versuchte, von bleibendem Wert erzielt. die Raumladungswolke zu beschreiben, und nahm an der Entwicklung der Methoden der statistischen Physik teil, wobei er auch wesentliche Ergebnisse erzielte 6. Hans Falkenhagen (z. B. Gesetze der ambipolaz-en Diffusion). M. Planck sagte über Schottky: „Im Ganzen darf ich sagen, daß 6.1 Lebensdaten er die Erwartungen, ..., zum Teil voll erfüllt, zum 13. 5.1895 als Sohn eines Bildhauers in Wernigei-ode/ Teil übertroffen hat. Letzteres gilt namentlich von Harz geboren. seinen theoretischen Leistungen auf dem Gebiet der 1913 Beginn des Studiums der Physik, Elektronenphysik. Hier hat er bleibende Werte ge¬ Mathematik und Chemie an den schaffen, durch originelle Ideen und deren muster¬ Univei’sitäten Heidelbei'g, München und hafte konsequente Durchführung. Und was diesen Göttingen. Arbeiten ihren höchsten aktuellen Reiz gibt, ist, daß 1921 Promotion in Göttingen mit summa cum er bei ihnen stets den Anschluß an die Natur bzw. laude. Thema der Dissertation: „Kohäsion Technik im Auge behielt, ... Auch auf dem Gebiet und Zustandsgleichung von Dipolgasen“. der statistischen Mechanik und ihrer Anwendung auf 1921—1922 Assistent für technische Physik an der thermodynamische Probleme hat er einige vorzügliche Technischen Hochschule Danzig Arbeiten veröffentlicht,...“ [20]. 1922—1924 Assistent für Experimentalphysik an der Besonders in seiner Rostocker Zeit, wo er zunächst Univei'sität Köln. als außerordentlicher und ab 1926 als ordentlicher Pro¬ 1924 Habilitation in Köln. Thema der fessor wirkte, galt sein Bemühen einem Problem, Habilitationsschrfit : „Paschen-Back-Effekt worüber er in seinem Lebenslauf schrieb: „..., ande¬ des H-Atoms“.

116 1924-1927 Außerplanmäßiger Lehrauftrag am Institut für theoretische Physik der Universität Köln. 1927-1928 Forschungsstipendium zur Arbeit bei P. Debye in Zürich und Leipzig 1929 Vorlesungen in Köln. 1930 Ernennung zum a. o. Professor für theoretische Physik an der Universität Köln 1930-1931 Forschungsaufenthalt in der USA, besonders in Madison an der Universität Wisconsin. 1933 Leiter der Abteilung für Elektrolyt¬ forschung am Physikalischen Institut der Universität Köln. 1936 Berufung zum Direktor des Instituts für theoretische Physik der Technischen Hochschule Dresden. 1949 Professor mit Lehrstuhl für theoretische Physik an der Universität Rostock 1951 Direktor des neugegründeten Instituts für theoretische Physik. 1955 Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Auszeichnung mit dem Nationalpreis III. Klasse. 1962 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Halle. 1964 Emeritiert. Zum Direktor des Instituts für theoretische Physik wird G. Kelbg Abb. 3 berufen. Hans Falkcnhagen (1895—1971) 26. 6. 1971 im Alter von 76 Jahren in Rostock verstorben. der Elektrolyte und insbesondere den Begriff der Ionenwolke entwickelt. Während die Debye-Hückel- 6.2 Wissenschaftliche Tätigkeit sche statistische Thermodynamik noch heute Gültigkeit Der Beitrag von Hans Falkenhagen zum Gebiet der besitzt, enthielt die gleichzeitig entwickelte Leitfähig¬ Elektrolytphysik ist sicher ebenso bedeutend wie der keitstheorie zunächst unbegründete Approximation, die von Paul Waiden zur Elektrolytchemie. Er gehört neben ein junger norwegischer Physiker, der spätere Nobel¬ Peter Debye, Lars Onsager und Erich Hückel zu den preisträger Lars Onsager 1927 mit einem kühnen Griff Begründern der Elektrolyttheorie. Mehrere Effekte zu umgehen wußte. Als Vierter stieß nun Falkenhagen tragen in der wissenschaftlichen Literatur seinen Na¬ zu der kleinen Elektrolyt-Gruppe, — ihm gelang zu¬ men und zahlreiche Veröffentlichungen und Bücher, nächst mit Debye eine Deutung der Dispersion der unter ihnen die Standardwerke „Elektrolyte“ und Leitfähigkeit [34], eine qualitative Theorie des Wien¬ ..Theorie der Elektrolyte“, zeugen von seiner großen effektes [35] und als Krönung seiner Bemühungen auch Schaffenskraft [27—33]. Falkenhagen ist ein Schüler des eine Theorie der Viskosität [36] der starken Elektro¬ Nobelpreisträgers P. Debye, bei dem er 1920 in Göt¬ lyte. Die Debye-Hückel-Onsager-Falkenhagen-Theorie tingen promovierte und als Assistent tätig war. In war wegweisend nicht nur für die Elektrolytphysik, dieser Zeit beschäftigte sich Falkenhagen mit Proble¬ sondern darüber hinaus für die gesamte Theorie der men der statistischen Mechanik von Dipolgasen. Nach Flüssigkeiten, da hier erstmalig konkrete Probleme der Berufung Debyes an die Leipziger Universität mit der Konzeption der binären Verteilungsfunktionen kommt Falkenhagen über Danzig an die Kölner Uni¬ behandelt werden. Diese Methode war für die statisti¬ versität, wo er als Assistent von Försterling über sche Mechanik von bahnbrechender Bedeutung. Optik und Atomphysik arbeitet und über den Pa- Dem Elektrolytgebiet hielt Falkenhagen sein ganzes schen-Back-Effekt des H-Atoms habilitiert. Aus dieser weiteres Forschungsleben die Treue. Ein Markstein ist Zeit stammen auch zwei Handbuchartikel über die die Berufung Falkenhagens 1949 an die Universität Pyro- und Piezoelektrizität sowie über Dispersion und Rostock, wo er nicht nur 1951 das Institut für theo¬ Absorption. Im Februar 1924 erhielt er von der Phi¬ retische Physik gründet, sondern darüber hinaus den losophischen Fakultät der Universität Köln die „venia Grundstein zu einer Rostocker Schule für die Theorie legendi“ für das Fach „theoretische Physik“. Bestim¬ der Elektrolyte legt, aus der inzwischen Hunderte mend für die weitere Forschungsrichtung Falkenhagens von Arbeiten hervorgegangen sind. Die Rostocker Ar¬ war ein Forschungsaufenthalt in Zürich und Leipzig beiten von Falkenhagen und seiner Schule sind insbe¬ bei seinem großen Lehrer Peter Debye. Angeregt sondere der Ausdehnung der Theorie der Elektrolyte durch die sogenannten Anomalien starker Elektrolyte auf höhere Konzentrationen und den statistischen hatte Debye in Zusammenarbeit mit seinem Schüler Grundlagen der Theorie gewidmet [29,30]. Daneben Erich Hückel seit 1923 die Grundlagen einer Theorie werden auch experimentelle Arbeiten durchgeführt [28]

117 und eine umfangreiche Sammlung experimenteller Da¬ einer anerkannten Forschungsstätte für die Theorie ten für das Tabellenwerk LANDOLT — BÖRNSTEIN der Flüssigkeiten und speziell der Theorie der Elek¬ erarbeitet. Charakteristisch für den Forscher Falken¬ trolyte entwickelte. Aus der Schar seiner Schüler ist hagen ist das Streben nach einer engen Verbindung inzwischen eine ganze Reihe von sozialistischen Hoch¬ der theoretischen Untersuchungen mit den experimen¬ schullehrern und Forschern hervorgegangen, die an der tellen Fakten. Er liebte nicht abstrakte Theorien, so¬ Universität Rostock und anderen Einrichtungen der weit diese nur um ihrer selbst betrieben werden und DDR tätig sind; zu seinen Schülern gehören u. a. betrachtete skeptisch jedes „Formelgestrüpp“ ohne er¬ Schmutzer in Jena, Jacob und Kremp in Güstrow, kennbare Beziehung zum Experiment. Stets fragte er Kelbg, Gerdes, Ulbricht, Kraeft und Ebeling in Rostock. nach der physikalischen Bedeutung und nach der Falkenhagens hervorragende Leistungen wurden u. a. Übereinstimmung mit Meßdaten. Falkenhagen war nicht durch die Wahl zum ordentlichen Mitglied der Aka¬ nur ein hervorragender Hochschullehrer, sondern auch demie der Wissenschaften, der Deutschen Akademie eine Persönlichkeit von großer menschlicher Wärme der Naturforscher Leopoldina und durch die Verleihung und Ausstrahlungskraft. Er sammelte eine ständig des Nationalpreises der DDR gewürdigt. Die von ihm wachsende Gruppe von Nachwuchswissenschaftlern um begründete Tradition wird heute von seinen Schülern sich und begeisterte sie für die Elektrolytforschung, so an der Sektion Physik der Universität Rostock fort¬ daß sich Rostock unter seiner Leitung immer mehr zu gesetzt.

Zusammenfassung Die Elektrolytforschung ist eine interdisziplinäre For¬ служило для создания, в том числе, и такого труда, как schungsrichtung von weitreichender Bedeutung für «Термодинамика». После 1949 г., благодаря назначению Naturwissenschaften und Technik. Ihre Traditionen an HANS FALKENHAGEN (1895—1971) на кафедру теоре¬ der Universität Rostock gehen auf die Untersuchungen тической физики, первостепенной задачей исследова¬ von Joachim JUNGIUS im 17. Jahrhundert zurück und ний электролитов становится теория электролитов. werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Этот известный ученый, осносящийся к основателям Physiker Adolf HEYDWEILLER (1856-1925) neu be¬ теории электролитов, закладывает основы для проводи¬ lebt. Nach der Berufung des berühmten Paul WAL- мых в настоящее время секцией физики работ по темам DEN (1863—1957); (vormaliger erster Rektor der Letti¬ физики жидкостей. schen Universität Riga), im Jahre 1919 nach Rostock, entwickelt sich ein internationales Zentrum für Elek¬ Summary trochemie, zu dessen bekanntesten Vertretern Hermann Electrolyte research is an interdisciplinary field of ULICH (1895—1945) zählt. Auf den Lehrstuhl für theo¬ research of far-reaching importance for both science retische Physik wird 1923 der bekannte Physiker and technology. Its traditions at Rostock university Walter SCHOTTKY (geb. 1868) berufen und es ent¬ trace back to the studies made by JOACHIM JUNGIUS wickelt sich eine fruchtbare Zusammenarbeit der Che¬ in the 17th century and were revived by the physicist miker und Physiker aus der u. a. das Standardwerk ADOLF HEYWEILLER (1856-1925) at the beginning of „Thermodynamik“ hervorging. Nach 1949 verlagert sich the 20th century. After, in 1919, the famous , durch die Berufung von Hans FALKENHAGEN (1895 PAUL WALDEN (1863-1957), the former first Rector bis 1971) auf den Lehrstuhl für theoretische Physik of the Latvian University of Riga, had been called to der Schwerpunkt der Elektrolytforschung auf die Theo¬ Rostock, the University became an international centre rie der Elektrolyte. Dieser zu den Begründern der for electro-chemistry, HERMANN ULICH (1895—1945) Elektrolyttheorie zählende bedeutende Forscher legt die belonging to its most famous representatives. The well- Grundlagen für die heute an der Sektion Physik known physicist WALTER SCHOTTKY (born 1886) was durchgeführten Arbeiten über Flüssigkeitsphysik. called to the chair of theoretical physics in 1923, whe¬ reupon fruitful cooperation developed between Резюме and physicists and resulted i.a. in the publication of Исследование электролитов представляет собой меж- the standard work “Thermodymamics”. As a result of дисциплинное исследовательское направление, имею¬ the appointment of HANS FALKENHAGEN (1895- щее далеко идущее значение для естественных наук 1971) to the chair of theoretical physics in 1949, the и техники. Традиции этих исследований в Ростокском main attention of electrolyte research was shifted to Университете исходят из проведенных в XVII веке ис¬ the theory of electrolytes. This important scientist who следований JOACHIM JUNGIUS и вновь оживляются в is considered to be one of the founders of the theory of начале XX века физиком ADOLF HEYDWEILLER electrolytes laid the basis for the work in the field of (1856—1925). После приглашения известного химика physics of liquids which is currently being carried out PAUL WALDEN (1856—1957); (бывший ректор латвий¬ at the section of physics. ского Рижского Университета) в 1919 году в г. Росток, происходит создание международного центра по элек¬ Résumé трохимии, причем к наиболее выдающимся представи¬ La recherche dans le domaine de l’électrolyte est un телям следует отнести HERMANN ULICH (1895—1945). champ de recherches interdisciplinaire d’une impor¬ На кафедру теоретической физики приглашается в tance considérable pour les sciences naturelles et phy¬ 1923 году известный физик WALTER SCHOTTKY (ро¬ siques et pour la technique. Ses traditions à l’univer¬ дился в 1886 г.) и вот возникает и развивается пло¬ sité de Rostock remontent aux recherches effectuées par дотворное сотрудничество химиков и физиков, что по¬ JOACHIM JUNGIUS au 17è siècle et ont été à nou¬

118 veau stimulées au début du 20è siècle par le physicien chimistes et physiciens se développe, d’où naquit entre ADOLF HEYDWEILLER (1856-1925). Après la nomi¬ autres l’oeuvre standard «Thermodynamique». Après nation à Rostock du célèbre chimiste PAUL WALDEN 1949, à la suite de la nomination de HANS FALKEN- (1863—1957), ancien premier recteur de l’université let¬ HAGEN (1895—1971) à la chaire de physique théorique, tonne de Riga, en 1919, on assista au développement c’est la théorie de l’électrolyte qui devient le centre de d’un centre d’électrochimie international: parmi ses gravité de la recherche sur l’électrolyte. Ce chercheur représentants les plus éminents, HERMANN ULICH remarquable qui compte parmi les fondateurs de la (1895—1945). En 1923, c’est le célèbre physicien WALTER théorie de l’électrolyte, a crée les bases des travaux SCHOTTKY (né en 1886) qui est nommé à la chaire de sur la physique hydraulique effectués actuellement physique théorique. Une collaboration fructueuse entre dans la section de physique.

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