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Sendung vom 27.11.2006, 20.15 Uhr

Freimut Duve Ehemaliger Medienbeauftragter der OSZE im Gespräch mit Corinna Spies

Spies: Willkommen zum alpha-forum, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer. Unser Gast im Studio ist heute Freimut Duve, Publizist und Politiker und lange Jahre für die SPD im . Herzlich willkommen, Herr Duve. Duve: Guten Tag. Spies: Ich würde gerne mit Ihrer Lebensgeschichte beginnen, weil die, wie Sie geschrieben haben, mit einer Lüge begonnen hat. Das Thema Wahrhaftigkeit bzw. der Gegensatz dazu, nämlich die Lüge, hat ja in Ihrem gesamten journalistischen, publizistischen und politischen Leben eine große Rolle gespielt. Deswegen würde mich nun am Anfang tatsächlich diese erste Lüge in Ihrem Leben interessieren. Duve: Ich bin Hamburger, aber aufgrund der Nürnberger Gesetze musste meine Mutter bei meiner Geburt aus verschwinden. Sie war im fünften Monat schwanger mit mir, als sie aus Hamburg fortging, damit ihre Nazieltern nicht merkten, dass sie schwanger war. Sie kam mit Hilfe einer Tante nach Würzburg und dort in Würzburg wurde ich auch geboren, weil sich letztlich eine Hebamme um meine Mutter kümmerte. Spies: Das Problem angesichts der politischen Situation im Jahr 1936 in Deutschland bestand darin, dass Ihre Mutter von einem nach den Kriterien der Nazis jüdischen Mann schwanger war. Duve: Meine Mutter wusste das. Sie war eine sehr kluge Frau, auch eine Frau, die sehr genau aufpasste. Als sie dann vom Standesbeamten wegen der Geburtsurkunde gefragt wurde, wer der Vater sei, sagte sie etwas, das für sie, die damals noch sehr religiös gewesen ist, das Schlimmste war, was man überhaupt sagen konnte: "Ich weiß es nicht!" Mit diesem "Ich weiß es nicht!" begann mein Leben. Sie hat es mir dann später zwei Mal erzählt: Diese Geschichte hat sie sehr bewegt und aus diesem Grund hat sie mir das nicht öfter erzählt, sondern nur zwei Mal. Spies: Beim ersten Mal waren Sie erst neun Jahre alt: Das war nach dem Ende des Krieges und dem Zusammenbruch der Nazidiktatur. Duve: Ja, erst als 1945 die Briten Hamburg erobert hatten, traute sie sich mir das zu sagen. Mein Name ist übrigens aus dem gleichen Grund auf diesem Bett entstanden, auf dem ich geboren wurde. Die Hebamme wollte nämlich wissen, wie meine Mutter ihren Sohn nennen wolle. Meine Mutter hatte jedoch ganz sicher mit einer Tochter gerechnet und sich für sie einige Namen ausgedacht. Plötzlich hatte sie aber einen Sohn – und keinen Namen für ihn. Die Hebamme sagte dann zu ihr: "Ach, nennen Sie ihn doch Helmut, mein Sohn heißt auch Helmut!" Meine Mutter erzählte mir viele Jahre später, dass sie sich in diesem Moment in ihrem Bett aufgerichtet und einen Namen erfunden habe: "Nein, Helmut heißt der nicht! Der heißt Freimut!" Letztlich ist dann dieser Name für mich schon auch so ein bisschen ein Lebensprogramm geworden. Spies: Ich würde gerne noch einmal auf die Person Ihrer Mutter zurückkommen, denn sie muss Sie ja doch sehr entscheidend geprägt haben, nicht nur mit diesem Namen, sondern tatsächlich durch ihren freien Mut. Denn sie war da, war bei Ihnen. Wer jedoch nicht da sein konnte, war Ihr Vater Bruno Herzl, ein entfernter Verwandter des berühmten Theodor Herzl, des zionistischen Politikers, der mit seiner Aktivität letztlich den Grundstein für den Staat Israel gelegt hat. Was ist mit Bruno Herzl passiert, Ihrem Vater, den Sie nie kennen gelernt haben? Duve: Er war sehr hinduistisch, asiatisch, buddhistisch usw. geprägt. Meine Mutter ihrerseits war anthroposophisch geprägt. Sie hatten sich in Hamburg in einer Buchhandlung kennen gelernt. Er war gerade über Hamburg mit dem Schiff aus Indien zurückgekommen. Dabei haben sie sich kennen und lieben gelernt. Als er merkte, dass das alles aufgrund der politischen Situation keinen Sinn hat, ist er wieder in seine Heimatstadt nach Esseg, also nach Osijek zurückgefahren. Die Familie Herzl war ja sehr stark geprägt von der deutschen Bildungsliteratur. Das älteste Buch, das ich besitze, ist aus der Herzl-Familie und stammt aus dem Jahr 1806. Da steht vorne wirklich der Name "Herzl" drin. Die Familie Herzl hatte damit schon viel, viel länger Bücher als die Duve-Familie. Die Familie Herzl war aber auch stark von der ungarischen und von der serbischen Kultur geprägt. Mein Vater ist dann dort in Osieck geblieben. Nach einigen Jahren kamen jedoch die kroatischen Nazis dorthin, die Ustaschas. Wir wissen nicht genau, ob er an einer Krankheit gestorben ist oder erst, als die Ustaschas in die Stadt kamen. Ich habe Jahre später durch Zufall, als ich Bosnien- Beauftragter des Deutschen Bundestages war, eine Zeugin gefunden. Diese ältere Dame – sie ist zwei Jahre älter als ich – hat es als Kind miterlebt, wie damals die Ustaschas-Nazis meine Großmutter väterlicherseits aus dem Haus geschleift haben. Sie war bereits krank zu diesem Zeitpunkt. Sie haben sie dann auf der Straße auf den Lastwagen geworfen und abtransportiert. Diese ältere Frau, die das als Kind erlebt hatte, musste noch weinen, als sie mir das so viele Jahre später erzählte. Spies: Mir fällt gerade etwas auf, über das ich in der Vorbereitung auf diese Sendung gar nicht nachgedacht habe: Eigentlich ist das das Leiden Ihrer Familie. Aber Sie selbst haben in der Nazizeit zunächst einmal etwas anderes erlitten, weil Sie ja gar nicht wussten, was es mit Ihrem Vater auf sich hat. Das, was Sie als Kind erlitten haben, hat damit nämlich vermeintlich gar nichts zu tun. Sie waren viel in Heimen, weil Ihre Mutter ja alleinerziehend war. Duve: Ja, ich war fast nur in Heimen, denn meine Mutter musste arbeiten. Sie war sehr fleißig und sie war auch, wie ich glaube, sehr intelligent, denn sie war ja auch mal nach England ausgebüxt gewesen, weil ihr Vater ihr das Abitur hatte verbieten wollen. Ihr Vater war ein Kaufmann und hatte daher zu ihr gesagt: "Mädchen machen kein Abitur, die müssen nähen und kochen lernen!" Sie ist dann mit einem großen Koffer, den ich bis heute besitze, nach England gegangen, wo sie in London Au-pair-Mädchen geworden ist. Dort hat sie aber auch studiert und ist dann relativ stolz mit dem Examen der London School of Economics nach Hamburg zurückgekommen. Das ist zunächst einmal der Hintergrund dieser Geschichte. Spies: Das war für die damalige Frauengeneration doch ein recht ungewöhnlicher Schritt. Duve: Ja, sie wurde damit eine der ersten staatlich geprüften Steuerberaterinnen in Deutschland. Während dieser ganzen Zeit war ich immer in Kinderheimen. Das hatte einfach mit ihren Arbeitszeiten als Buchhalterin usw. zu tun. Nur am Wochenende sah ich sie. Sie arbeitete immer bis Sonnabendmittag und fuhr dann raus und holte mich aus dem Kinderheim ab. Wir waren dann Sonnabendnachmittag und den ganzen Sonntag über zusammen. Montag früh stand sie meistens um vier, halb fünf Uhr auf und brachte mich wieder in das jeweilige Kinderheim zurück. Spies: Warum waren Sie denn nicht bei den Großeltern, denn das wäre doch eigentlich der "Normalfall" gewesen? Duve: Das war unmöglich und das hätte meine Mutter auch nie gewollt. Die Großeltern mütterlicherseits standen doch in einer gewissen Distanz zu uns. Es gab dann nach 1945 eine gewisse Zeit, in der ich manchmal im Schlafzimmer der Großeltern übernachtet habe: Sie waren freundlich zu mir – aber meine Mutter wahrte nach wie vor die Distanz. Denn mein Großvater war immerhin der Gründer der NSDAP in der Stadt Altona gewesen: Das hat meine Mutter doch sehr verletzt und sie hatte auch einfach eine andere Geschichte als er. Spies: Aber in Heimen zu sein, ist doch für ein Kind, noch dazu, wenn es so klein ist, nicht so toll, oder? Duve: Meine Mutter hatte dadurch, dass sie Anthroposophin war, einen sehr guten Kontakt zu den Kinderpflegestätten, die anthroposophisch geprägt waren und in denen man sehr viel malen musste, singen musste. Allerdings gab es zweimal Pflegemütter oder Pflegeeltern, von denen ich davongelaufen bin. Da war ich so ungefähr vier, fünf Jahre alt. Das war schon recht gefährlich, denn ich bin damals in Bergedorf, also außerhalb Hamburgs, einfach auf die Straße gerannt. Ich wurde daraufhin 24 Stunden lang eingesperrt, weil ich weggelaufen war. Von dort hat mich meine Mutter dann herausgeholt und mich woanders hingebracht. Das ist insgesamt zweimal passiert. Ich hatte dann aber ein sehr schönes Kinderheim, in dem ich sozusagen das erste mitbegründende Kind war: Ich war nämlich das jüngste Kind in diesem "Heim an der Langenhorner Chaussee". Dort hatte ich dann dieses furchtbare Erlebnis, dass ich rausging, als man nicht rausgehen durfte, und ich lauter Menschen sah, die alle nur diese dünnen Anstaltshemden und -hosen trugen. Draußen in Langenhorn war nämlich ein Arbeits-KZ mit jüdischen Häftlingen gewesen: Sie wurden zu diesem Zeitpunkt alle weggebracht von dort, weil die Briten bereits in der Nähe waren. Das muss daher so ungefähr im Januar 1945 gewesen sein. Ich habe dann den SS-Mann, der natürlich eine Knarre umhatte und in voller Uniform neben diesen halbnackten Menschen – im Januar ! – marschierte, gefragt, was hier los sei. Er hat mich einfach mit dem Gewehrkolben zur Seite geschoben. Eigentlich hätte ich nicht auf der Straße sein dürfen: Das ganze Heim hatte nämlich Ausgangsverbot. So ein Ausgangsverbot habe ich jedoch nie akzeptiert, ich war immer schon heimlich nach draußen gelaufen. Das Verrückte war, dass mich die Heimleiterinnen dann in diesem Moment gar nicht mehr reinholen konnten ins Heim, weil ja auch sie nicht hinaus auf die Straße durften. Spies: Sie waren zu diesem Zeitpunkt acht oder neun Jahre alt. Duve: Da war ich gerade neun Jahre alt geworden. Dieses Erlebnis hat mich schon sehr bedrückt. Ich hatte zum ersten Mal bewusst gesehen, was diese Brutalität im Nationalsozialismus bedeutete und wie man mit jüdischen Zwangsarbeitern umging. Viele dieser Zwangsarbeiter sind dann ja auch auf diesem Marsch noch umgekommen. Spies: Wussten Sie als Kind bereits, dass das jüdische Zwangsarbeiter waren? Duve: Nein, aber die Heimleiterin hat dann doch Andeutungen darüber gemacht. Sie meinte zu mir, ich dürfe jetzt auf keinen Fall wieder rausgehen, das sei gefährlich, die SS sei wirklich sehr, sehr gefährlich. Ein paar Wochen oder Monate später gab es wieder ein Ausgangsverbot bei uns im Heim. Freimut rannte aber wieder raus, rannte über den Vorgarten zur Straße. Wieder drückte das ganze Heim die Nasen an die Fenster: die Kinder und die Heimleiterin. Sie trauten sich auch nicht, die Fenster aufzumachen, denn das war absolut verboten: Es herrschte totales Ausgangsverbot für alle! Ich war der Einzige, der draußen auf der Straße war. Und plötzlich sauste da ein Jeep der britischen Truppen auf mich zu, die dann kamen. Die deutschen Truppen waren, wie ich gesehen hatte, zurückgewichen, denn die Briten hatten mittlerweile Hamburg erobert. Die Briten rückten dann weiter nach Schleswig-Holstein vor. Dieses Heim befand sich nämlich in einem Grenzstadtteil von Hamburg. Es raste also ein Jeep auf mich zu und hielt an: Zwei sehr chic gekleidete Offiziere sprangen heraus und schnatterten auf Englisch auf mich los. Ich verstand natürlich kein Wort, aber sie waren sehr freundlich zu mir. Ich bedeutete ihm aber immer nur mit meinen Händen, dass ich kein Wort verstand. Es war klar: Sie wollten irgendetwas wissen, vermutlich wo genau die Grenze zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein verläuft. Nun ja, ich ging dann ganz stolz zurück ins Heim - und bekam dort natürlich eine saftige Abreibung. Ich wurde allerdings nicht geschlagen, denn das waren keine Kinderheime, in denen man geschlagen worden wäre. Ich war allerdings auch in Kinderheimen gewesen, in denen ich verprügelt worden war. Dort jedoch nicht. Das war also meine Begegnung damals in diesem Kinderheim: zuerst diese jüdischen Häftlinge, dann die abmarschierenden deutschen Truppen und die einmarschierenden britischen Soldaten. Das war alles an der gleichen Straße. Spies: Haben Sie sich als Kind dafür geschämt, dass Sie ein uneheliches Kind waren, dass Sie nicht immer bei Ihrer Mutter sein konnten? Oder hat Ihre Mutter Hildegard Duve dies durch das ihr eigene Selbstbewusstsein ausgleichen können? Duve: Nein, ich habe mich nie geschämt. Ich bin dann ja in die wieder hergestellte Waldorfschule gekommen, die im Krieg kaputt gegangen war. Ich selbst hatte ja auch den Bombenkrieg in Hamburg miterlebt. Nein, wir hatten ganz viele Kinder bei uns in der Klasse, die einen Elternteil oder ihre beiden Eltern verloren hatten, die Flüchtlingskinder waren usw. Nein, das war kein Thema. Die Tatsache, dass meine Mutter alleinerziehend war, war vielleicht ab und zu ein bisschen ein Thema. Es gab dort in dieser Schule auch Kinder, die aus sehr wohlhabenden Familien stammten und die noch beide Eltern hatten. Aber in diesen beiden Jahren 1946 und 1947 gab es keine großen Unterschiede zwischen uns: Da befanden sich alle irgendwie in einer dramatischen Lebenssituation – ganz unabhängig von ihrer jeweiligen Herkunft. Später jedoch konnte man schon so ein bisschen erkennen, wer aus welchem Elternhaus stammt. Das galt vor allem für die Flüchtlingskinder aus Ostpreußen mit aristokratischem Namen: Die landeten dann nämlich auch teilweise in unserem Heim bzw. in unserer Schule. Sie hatten allerdings auch alles verloren. Nein, da herrschte zunächst einmal schon eine Gleichheit, eine Egalität. Spies: Was haben Sie aus dieser Zeit an Positivem mitgenommen trotz dieser widrigen Umstände? Was war es, das Ihnen dann letztlich diesen erfolgreichen Weg in eine exponierte Stellung – denn ein Politiker stellt sich ja wirklich aus in der Öffentlichkeit – ermöglicht hat? Duve: Meine Weltneugier, meine Menschenneugier. Und Sie dürfen nicht vergessen, ich bin ja erst mit 42 Jahren Politiker geworden – und hatte das eigentlich gar nicht gewollt. Mein Lebenswunsch war es nämlich keineswegs gewesen, Politiker zu werden. Stattdessen ging es mir in politischer, gesellschaftspolitischer Hinsicht immer nur darum, diesen Rassismus zu bekämpfen. Ich bin dann ja zunächst einmal Akademiker geworden an der Universität und habe dabei rassistische Politiken im südlichen Afrika studiert. Ich hatte davor einfach wahnsinniges Glück gehabt: Ich war Werkstudent gewesen und auch dabei hatte mich meine Weltneugier umgetrieben. Denn plötzlich bekam ich einen Job zunächst in einem Reisebüro. Das war schon recht toll. Nach einiger Zeit wurde ich dann aber mit einer Lambretta, also einem Motorroller, Reiseleiter in Mallorca. Ich lernte also Spanisch. – Ich machte das natürlich immer nur in den Semesterferien, das ist klar. – Dann studierte ich auch noch Arabisch, weil mich die arabische, die islamische Welt schon damals sehr interessierte. Ich wurde eines Tages von diesem Reiseunternehmen nach Tanger versetzt. Dort in Tanger baute ich dann für dieses Unternehmen eine bestimmte Form des Tourismus auf: Die Touristen interessierten sich sehr für die Moscheen und für die wenigen Synagogen, die es dort gab, denn in Tanger gibt es ja insgesamt drei sehr starke Religionen. Dies alles hat mich sehr beschäftigt, sehr bewegt. Ich glaube, ich habe meinen Job dort auch ganz gut gemacht, denn ich bekam dann ein Angebot der "Touropa". Damit wurde ich Vertragspartner einer Münchner Firma, denn "Touropa" saß ja in München. Die "Touropa" machte mich zum Beauftragten für ihr Flugreiseunternehmen – das heute, wenn ich mich nicht täusche, "TUI" heißt – in ganz Nordafrika mit Büro in Tunis. Auch damals gab es natürlich schon viele Touristen, die immerzu nur am Strand liegen wollten. Aber so kurz nach dem Algerienkrieg – mit dem ich mich als Historiker natürlich auch befassen wollte und musste – hatten wir doch auch sehr viele Touristen, die sehr stark bildungsinteressiert waren. So organisierte ich mir zwei alten VW-Bussen, die ich anmietete, Rundreisen durch das wunderschöne und kulturell ungeheuer interessante Tunesien mitsamt dieser alten Städte dort. Spies: Das Bild, das Sie vorhin selbst gezeichnet haben, "Freimut rennt hinaus!", passt nicht nur gut auf diese Zeit, sondern auch auf die spätere. Ich greife jetzt einfach ein bisschen vor, ohne dass wir die dazugehörige Geschichte bereits wirklich erzählt hätten. Die Zuschauer müssen also noch ein bisschen warten. Denn "Freimut" ist ja, wenn ich mal bei diesem Bild bleiben darf, auch hinausgerannt, als er sich bei der OSZE als Beauftragter für die Freiheit der Medien betätigt hat. Dieser Freimut ist aber irgendwann auch wieder zurückgekommen nach Hamburg und hat dort zunächst Sprachkurse für Gastarbeiter gegeben und ausländische Studenten betreut. Aber dann entstand doch so langsam eine Nähe zur Politik, denn Sie wurden persönlicher Referent eines Wirtschaftssenators und traten in die SPD ein. Geendet hat diese Geschichte quasi damit, dass Sie eines Tages für die SPD Abgeordneter im Deutschen Bundestag waren. Auch der Politiker muss ja, wenn ich das so sagen darf, rausrennen, er muss sich ausstellen. Ich denke, auch das passt recht gut zu diesem Bild, das Sie von sich gezeichnet haben: "Freimut läuft raus auf die Straße und schaut, was da los ist." Liege ich da richtig? Duve: Wichtiger für mich, für meine Lebensprägung war eigentlich, dass ich als Journalist – nachdem ich für kurze Zeit u. a. beim "Stern" gewesen war – gebeten wurde, die Reihe "rororo aktuell" herauszugeben. Dies habe ich 18 Jahre lang gemacht und dabei ungefähr 700 Titel herausgegeben. Bei dieser Arbeit habe ich sehr viele neue Dinge entwickelt. Gut, auch das kann man quasi unter das Bild "Freimut rennt raus" subsumieren. Ich habe nämlich z. B. die Reihe "Frauen aktuell" gegründet, in der es um die Rechte der Frauen ging. Aber meine wichtigste Reihe innerhalb dieser Reihe "rororo aktuell" war doch "Technologie und Politik". Dort ging es um technologische Fragen und deren ökologische Wirkungen. In dieser Reihe habe ich wirklich sehr viel publiziert – lange bevor ich selbst in die Politik ging. Und das Thema "Menschenrechte" war mir auch damals schon sehr, sehr wichtig. Wir haben Vaclav Havel publiziert, wir haben die Aufsätze von Adam Michnik publiziert, als er selbst noch im Gefängnis saß usw. Das heißt, ich konnte dann meine Weltneugier sehr stark in politische Literatur umwandeln: dies vor allen Dingen in der Freiheitsfrage. In so mancher Auseinandersetzung mit gewissen Leuten habe ich damals immer wieder gesagt: "Es gibt keinen Frieden ohne Freiheit!" Es ging ganz konkret um die Ostpolitik: um die Entspannung einerseits, aber auch andererseits um die Menschenrechte in den Staaten des Ostblocks. Wir haben dazu sehr viele Publikationen gemacht, und zwar lange bevor ich in die Politik ging. Ich ging dann allerdings doch in die SPD, weil mich die Politik der SPD auf diesem Gebiet sehr interessierte. Aber ich würde gerne noch etwas zu dem sagen, das Sie soeben erwähnt haben. Ich bin eines Tages in der Tat der Beauftragte der Hamburger Universität für die ausländischen Studenten geworden. Der Rektor hatte mich dazu ernannt und das war auch wirklich ein sehr schöner Job. In dieser Zeit habe ich gemerkt, dass all die Gastarbeiter in Hamburg, die damals meistens aus der Türkei kamen, natürlich kein Wort Deutsch konnten. Niemand dachte daran, niemand interessierte sich dafür, dass diese Menschen vielleicht auch mal Deutsch lernen sollten bzw. müssten. Und dabei war es sogar so, dass diese Menschen selbst Deutsch lernen wollten. Sie wohnten im südlichen Hamburg auf engstem Raum in Güterwagen: Frauen durften sie damals noch nicht mitbringen. In dieser Situation habe ich dann, und darauf bin ich bis heute wirklich besonders stolz, in der Innenstadt im "Haus der Jugend" für den Sonnabendnachmittag eine kostenlose Schule mit dem Namen "Deutsch für Ausländer" gegründet. Der Leiter des "Hauses der Jugend" hatte mir dafür die Räume zur Verfügung gestellt. Diese vielen, vielen Gastarbeiter bekamen dann von mir am Sonnabendnachmittag von zwei bis acht Uhr kostenlosen Deutschunterricht. Die Volkshochschule hat das dann später übernommen und inzwischen ist das ja ein Riesenthema und Riesenarbeitsgebiet geworden. Spies: Das heißt, Sie waren z. B. mit dieser Initiative Ihrer Zeit auch auf politischem Gebiet weit voraus. Duve: Nun, ich würde das nicht so angeberisch formulieren, aber ich merkte damals einfach, dass es in der ganzen Stadt, dass es in meiner Stadt niemanden gab, der sich darum kümmerte, dass diese Menschen, die hier bei uns arbeiten mussten, sollten und wollten, auch Deutsch lernen. Ich hörte auf den Baustellen dann z. B., wie der Hamburger Vorarbeiter zum türkischen Bauarbeiter sagte: "Du, kommen her!" Damit machte er sich natürlich auch sein eigenes Deutsch kaputt, damit er so "elegant" "Du, kommen her, du hier arbeiten!" sagen konnte. Das hat mich dazu gebracht, "Deutsch für Ausländer" zu gründen. Spies: Sie waren insgesamt 19 Jahre bei Rowohlt, von 1970 bis 1989. Diese Reihe "rororo aktuell" hat ja nicht nur politische Themen behandelt, sondern sie hat auch immer wieder aktuell in die Politik eingegriffen. Das war letztlich ja auch die Zeit des Aufbruchs im Osten Europas: Sie haben also mit dieser Reihe schon auch ein Stück weit Politik gemacht. Ich weiß nicht, ob Sie jetzt darüber sprechen möchten, aber die Zusammenarbeit mit Rowohlt endete letztlich ja auch aus politischen Gründen. Sie wollten damals ein Buch über Uwe Barschel machen: mit den Artikeln, die damals im "Spiegel" über Barschel und die Affäre erschienen waren, die unter dem Namen "Waterkant-Gate" bekannt geworden war. Aber der Verlagschef Michael Naumann war damit nicht einverstanden. Diese Zusammenarbeit endete strittig, dann aber letztlich einvernehmlich. In dieser Zeit saßen Sie allerdings auch bereits im Deutschen Bundestag. Duve: Ja, ich war schon einige Jahre im Deutschen Bundestag und war damals sehr stolz darauf, dass ich in dieser Doppelrolle eine Sache gemacht habe, von der ich gerne wollte, dass sie auch weiterhin so gemacht würde. Ich habe, als ich dann Bundestagsabgeordneter wurde, mein Gehalt bei Rowohlt selbst reduziert und für diesen Reduktionsbetrag eine weitere Mitarbeiterin in meine Redaktion eingestellt, sodass ich dann nach Abzug der Steuern noch einen ganz kleinen Betrag für meine Arbeit für diese Reihe hatte. Denn ich konnte das ja nur mehr am Wochenende oder am Montag machen. Aber den Streit will ich hier jetzt nicht noch einmal aufwärmen: Er ging damals durch die gesamte Presse. Irgendwann haben wir uns dann auch geeinigt. Michael Naumann kannte ich ja bereits von London her: Wir hatten, als er noch junger Wissenschaftler war, bereits lange vor seiner Zeit bei Rowohlt eine Freundschaft. Das Problem auf seiner Seite war nämlich in diesem Streit, dass er nicht wusste, dass man aus rechtlichen Gründen ein Mitglied des Deutschen Bundestags nicht einfach entlassen kann. Spies: Das ist jetzt eine sehr hamburgische Art, über einen Konflikt zu reden, wie mir gerade auffällt. Duve: Ja, wir sitzen jetzt aber nicht in Hamburg, denn sonst würde ich mit Ihnen gleich Hamburgisch sprechen. Spies: Kommen wir zurück zu Ihrer Biographie, lassen aber Rowohlt Rowohlt sein. Gehen wir stattdessen in den Deutschen Bundestag. Auch dort haben Sie sich nicht unbedingt als Hinterbänkler profiliert; vielmehr gibt es ja diesen einen Satz über Sie, Sie seien ein "radikaldemokratischer Laut-Sprecher". Sie wurden auch mal als "Querkopf" bezeichnet oder als "die Nervensäge". Eine Nervensäge waren Sie wohl insbesondere auch für Ihre Bundestagskollegen, die Bundeskanzler waren bzw. wurden. Sie waren der kulturpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und waren zeitweise auch im Fraktionsvorstand. Sie haben sich, wie vorhin im Zusammenhang mit der Reihe "Technologie und Politik" bereits erwähnt, sehr für die ökologische Erneuerung und Modernisierung der Industriegesellschaft und vor allem für die Menschenrechte engagiert. Sie waren in Sachen Menschenrechte auch bereits für die OSZE tätig, also für die "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa". Und Sie waren, wie so viele damals, ein Gegner der Nachrüstung. Damit waren Sie aber auch Gegner der eigenen SPD-Regierungspolitik. Sie sind damals mit dieser Position auf die Nerven gegangen; später gingen Sie dann Gerhard Schröder auf die Nerven. War das auch ein Stück Methode? Ist es ein Stück Lebensprinzip von Ihnen: zu widersprechen? Andererseits haben sich viele gewundert, dass Sie dem Asyl-Kompromiss unter der Federführung der Regierung von dann doch zugestimmt haben, als die SPD insgesamt bei diesem Asyl-Kompromiss mit der damaligen konservativ- liberalen Regierung gemeinsame Sache machte. Dieser Asyl-Kompromiss war ja sehr, sehr umstritten und brachte damals auch viele Menschen dazu, aus der SPD auszutreten. Warum haben Sie damals diesem Kompromiss zugestimmt? War der Widerspruch sonst "nur" Methode, Lebenseinstellung? Haben Sie nur widersprochen, um Ihre eigene Partei hin und wieder aufzurütteln – was ja nicht das schlechteste aller Motive sein muss? Duve: Nein, es ging mir nicht um das Prinzip des Aufrüttelns, stattdessen ging es mir immer darum, das jeweilige Thema genau zu untersuchen und zu überprüfen. Danach hatte ich durchaus eine gewisse Parteitreue, eine gewisse Gruppentreue. Dies aber nur dann, wenn das mit meiner eigenen Prüfung des Themas und des Auftrags bei der Entscheidung, die dann ja im Bundestag zu treffen war, übereinstimmte. Ja, kommen wir auf diesen Asyl- Kompromiss zu sprechen, bei dem ich in der Tat viele Freunde verloren habe. Ich habe mich ja bereits als junger Mann besonders intensiv mit der Einwanderung beschäftigt. Dies auch aus familiären Gründen. Ich bin damals in dieser Zeit darauf gekommen, welche Asyl-Flunkerei, wenn ich das mal ganz vorsichtig so nennen darf, es bei uns in Deutschland gab im Hinblick auf Asylbewerber aus Osteuropa und anderen Ländern. Spies: Wie meinen Sie das? Meinen Sie damit Flüchtlinge, die gar nicht aus politischen Gründen nach Deutschland gekommen waren, sondern schlicht aus ökonomischen Gründen? Duve: Ich meine damit diejenigen, die damals merkten, dass die Einwanderung in dieses reiche Land namens Bundesrepublik am leichtesten geht, wenn man behauptete, politisch verfolgt worden zu sein. Da war ich dann tatsächlich der Meinung, dass wir diese Behauptung, jemand sei verfolgt gewesen, wirklich präzise untersuchen müssen und nicht einfach nur sagen dürfen: "Ja, wenn du sagst, dass du politisch verfolgt worden bist in deinem Heimatland, dann hast du bei uns Asylrecht!" Ich war und bin sehr radikal für das Asylrecht: Ich finde immer noch, dass das zum Kernbestand unserer Demokratie gehören muss. Dieses Asylrecht wucherte damals jedoch aus. Was war dann aber der Hintergrund meiner Entscheidung? Der Hintergrund war, dass dieses Wirtschaftswunderland Deutschland in dieser Form nie ein Wirtschaftswunderland geworden wäre ohne die Mauer, ohne die "Zonengrenze", ohne die Absperrung der historischen Ost-West- Wanderung, die es seit 200 Jahren gab. Wenn man genau hinguckt, dann weiß man auch, weshalb es diese Ost-West-Wanderung aus Russland, aus Polen usw. bis an den Hamburger Hafen und dann nach Amerika immer gegeben hat. Dies will ich jetzt aber historisch nicht vertiefen. Diese Absperrung, dieses Nicht-Einwandern hat die Bundesrepublik stabilisiert – allerdings in aller Brutalität, denn diese Mauer war ja eine Brutal-Einrichtung. Diese Grenze war ein furchtbares Verbrechen. Die dann erfolgte Öffnung erzeugte plötzlich einen Migrationsprozess. Ich spreche jetzt nicht von der Einwanderung aus Afrika: Da bin ich anderer Meinung und ich habe ja auch bei bestimmten Dingen später dagegen gestimmt. Aber dieser Migrationsprozess nach der Öffnung der Mauer usw. führte zu Problemen, weil da in Osteuropa Auswanderungssehnsüchte wach wurden, derentwegen man aus Gründen der inneren Stabilität der Bundesrepublik doch ein wenig sorgfältiger hinsehen sollte. Ich habe jedenfalls lange über diese Problematik nachgedacht und dann diesem Kompromiss einmal zugestimmt. Bei späteren Abstimmungen habe ich jedoch bei bestimmten Einzelentscheidungen dagegen gestimmt. Ich habe das immer gemacht aus der Wahrnehmung der Probleme heraus, wie ich sie gesehen habe. Spies: Ich habe gerade noch einmal nachgeschaut: 1993 gab es diesen Asyl- Kompromiss. 1989 war die Mauer gefallen. Diese politische Entscheidung, diese politischen Konsequenzen kamen also erst ein paar Jahre danach. Können Sie denn heute, nachdem Sie den Bundestag verlassen haben, sagen, Sie haben sich mit Ihrer SPD ausgesöhnt? Denn Gerhard Schröder hat es ja z. B. nicht direkt bedauert, dass Ihre Amtszeit als OSZE- Beauftragter für die Freiheit der Medien nicht verlängert worden ist. Warum? Weil er seinen politischen Freund Putin schützen wollte vor Ihren immer wiederkehrenden Angriffen in Bezug auf die Medienfreiheit gerade in Russland. Duve: Das ist in gewisser Weise doch eine Missinterpretation. Gemäß der Verfassung der OSZE gibt es nur eine Amtsverlängerung. Diese hatte man mir sehr wohl gewährt. Ich war also nicht nur einmal drei Jahre lang Beauftragter der OSZE, sondern zweimal drei Jahre. Danach bin ich ausgeschieden. Gut, es gab da kurz die Diskussion, ob man meinetwegen die Regeln vielleicht ein wenig verändern könnte. Ansonsten kann ich nur sagen: Es gibt in der Tat einen tiefen Gegensatz, den ich auch klar ausspreche, zwischen Gerhard Schröder und mir. Wir waren früher sehr befreundet: Ich habe ihm u. a. in Hannover in seinem Wahlkampf damals sehr geholfen, und wir traten dann ja auch zur gleichen Zeit in den Bundestag ein. Dies will ich hier aber gar nicht erst vertiefen. Meine Kritik an der Beschädigung und beinahe Zerstörung der freiheitlichen Aufbruchsstimmung der jungen Journalisten, vor allem in Moskau, hatte jedenfalls durchaus ihre harten und realen Gründe. Ich bin damals ja auch immer wieder in Moskau gewesen und habe auch dort dasselbe gesagt. Russland ist ja inzwischen nach Kolumbien dasjenige Land in der Welt mit den meisten ermordeten Journalisten. Für mich ist das eine dramatische Situation, eine Situation, die uns wirklich betrifft, denn immerhin ist Russland der größte Nachbar Europas im Osten. Es gibt in Russland auch keine wirkliche Marktwirtschaft: Es gibt große Provinzen – ich meine hier nicht Moskau –, in denen es eine Mafia-Wirtschaft gibt. Dort privatisieren die jeweiligen Gouverneure die Wirtschaft zu ihren Gunsten und jeder Journalist, der es wagt, das offenzulegen, wie sich so jemand zum Millionär gemacht hat, muss um sein Leben fürchten. Da gibt es Gouverneure, die den Sitz der Firma, die sie für 400 Dollar vom Staat gekauft haben und die in Wirklichkeit Millionen wert ist, sofort nach dem Kauf irgendwo auf eine Insel, also in ein Steuerparadies verlagert haben. Und doch bleibt so jemand Gouverneur, denn Putin hat daran nichts auszusetzen gewusst und er hat daran bis heute nichts auszusetzen. Das ist wirklich ein dramatischer Vorgang und deswegen musste ich die Regierung des größten Nachbars Europas im Osten immer wieder kritisieren. Ich bin ja gegen Ende der neunziger Jahre immer wieder nach Moskau gereist und habe dort diese Aufbruchsstimmung miterlebt. Ich habe mich in Sachen Pressefreiheit auch sehr oft mit der russischen Regierung unterhalten. Aber das Resultat war immer wieder, dass ich sehr, sehr deutlich meine Kritik an der russischen Regierung erneuern musste. Spies: Ist daran die Freundschaft zu Schröder kaputt gegangen? Duve: Das will ich so direkt nicht sagen. Ich war jedenfalls plötzlich einer der beiden ranghöchsten Deutschen auf internationalem Parkett: Das waren Herr Töpfer und ich, Herr Töpfer in Afrika und ich mit meinem Amt. Ich hatte daher mit Deutschland selbst nicht mehr so viel zu tun. Ich musste im Gegenteil aufpassen, dass ich in meinem Amt nicht als Deutscher tätig und als Deutscher wahrgenommen wurde. Ich hatte ja 56 Mitgliedsstaaten und war damals auch sehr viel in den USA, in Frankreich, England und Irland. Denn in Irland gab es damals leider ebenfalls eine ermordete Journalistin, weswegen ich dann auch selbst nach Irland geflogen bin und... Spies: Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche; ich würde gerne noch ein wenig bei Russland bleiben. Es ist natürlich schon so, dass man zu einem mächtigen und nahen Nachbarn gerne gute Beziehungen haben möchte. Gleichzeitig war aber erst in jüngster Zeit wieder in Russland das zu beklagen, was Sie "Zensur durch Mord" nennen. Ich meine den Mord an Anna Politkowskaja, der Journalistin, die ganz sicherlich auch Putin auf die Nerven gegangen ist, weil sie die Tschetschenienpolitik Russlands kritisiert hatte und weil sie immer wieder die Korruption in Russland beschrieben hat. Sie hatte vor einiger Zeit sogar einen Preis für ihre Arbeit als Journalistin bekommen, einen Preis, den Sie initiiert hatten. Vor kurzem ist sie nun vor ihrer Wohnung niedergeschossen und ermordet worden. Das sind natürlich Geschehnisse, die, wenn man sich gleichzeitig um gute Beziehungen zu Russland bemüht, doch erheblich stören. Und mehr als ärgerlich ist dann auch noch, wenn jemand wie Putin nach ihrer Ermordung sagt, Anna Politkowskaja hätte in Russland angeblich überhaupt keinen bedeutenden Einfluss gehabt. Duve: Das sehe ich natürlich anders. Ich bin ihr damals in Moskau begegnet und ich habe ihr später in Wien meinen Preis verliehen. – Der erste Preisträger war übrigens Jahre vorher der bereits erwähnte Adam Michnik gewesen. – Ich habe vor einigen Tagen einen Text, ein Interview von ihr gefunden, in dem Sie sich auf mich bezieht. Ich kannte dieses Interview vorher nicht, ich habe es tatsächlich erst vor einigen Tagen zum ersten Mal gelesen. In diesem Interview sagt sie: "Ich lebe in einem ganz gefährlichen Beruf. Ich bin gefährdet, aber Institutionen wie die von Herrn Duve und Personen wie Herr Duve schützen mich." Ich habe einmal in Moskau mit ihr gesprochen und ich dachte eigentlich, ich hätte zu ihr gesagt: "Geh doch vielleicht mal ein Jahr raus aus Russland!" In diesem Interview aber sagt sie: "Herr Duve hat immer zu mir gesagt, 'Mach deine Arbeit hier!'" Sie hat also meine Warnung ganz anders aufgenommen, als ich sie in Erinnerung habe. Nein, es ist ein ganz wichtiger und, wie ich finde, auch tragischer Vorgang, dass sich ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler zum Mit-Chef einer Firma macht, die Putin kontrolliert. Das ist die Firma Gasprom. Und diese Firma kontrolliert heute 80 Prozent der Printmedien in Russland! Das heißt, es gibt in Russland keine ökologisch-kritische Debatte mehr über kaputte Ölleitungen im Osten: der Baikalsee war bereits vergiftet, der Aralsee war vergiftet. Wir hatten damals bei Rowohlt geheime Texte von empörten sowjetrussischen Wissenschaftlern publiziert. In diesen Texten sagten sie: "Ihr vergiftet unser Land!" Und diese Vergiftung fand ja auch tatsächlich statt. Und was ist heute? Heute gehört dieser Firma Gasprom plötzlich fast die gesamte Presse Russlands! Alleine das ist bereits dramatisch und ich würde es für sinnvoll halten, wenn sich ein sehr einflussreicher Mann wie Gerhard Schröder dazu mal äußern würde. Es ist einfach so: Unser wichtigster Nachbar muss die Grundbedingungen der Menschenrechte respektieren und akzeptieren. Wir brauchen zwar sein Öl und sein Gas, das mag schon sein, aber die Menschenrechtsfrage ist dennoch von zentraler Wichtigkeit. Diese Vorstellung der "censorship by killing", also "Zensur durch Mord", hatte ich bereits in meinem ersten Amtsjahr entwickelt. Wir sind dann dieser Frage systematisch und weltweit nachgegangen und haben das untersucht. Denn was heißt "Zensur durch Mord" genau? Das heißt: Man ermordet eine Journalistin, einen Journalisten nicht deswegen, damit diese eine Person zum Schweigen gebracht wird, sondern man ermordet sie bzw. ihn, damit alle anderen aus Angst nichts mehr sagen. Das ist der eigentliche Grund für diese Morde an Journalistinnen und Journalisten, die immer wieder stattfinden. Für die Herrschenden geht es dabei politisch-strategisch um Folgendes: Wie können sie Schweigezonen erzeugen, erzwingen, damit sie nach außen hin weiter so tun können, als würde bei ihnen keine Pressezensur herrschen? Spies: Sie haben sich nicht nur mit der Situation der Journalisten in denjenigen Ländern beschäftigt, in denen es besonders schwierig oder gar lebensgefährlich ist, diesem Beruf nachzugehen, sondern Sie haben auch die Medien in Deutschland selbst kritisiert. Sie haben nämlich u. a. auch ein "Leitbild Unabhängigkeit" für Journalisten erarbeitet, von dem sich im Zweifelsfall auch bundesdeutsche Journalisten betroffen fühlen können. Sie sprechen dort z. B. von "institutioneller Zensur". Was meinen Sie damit? Duve: Wenn dieses wichtige Element unserer Verfassung, nämlich die Freiheit des Wortes, verrutscht in Propaganda, Werbung oder Schleichwerbung, wenn also der Presseauftrag nicht mehr erfüllt wird, dann wird es meiner Meinung nach dramatisch für die Demokratie. Der Presseauftrag lautet ja eigentlich, dass die Menschen einen kritischen Blick auf die politische Landschaft bekommen, weil sie sich in den Medien mit ganz verschiedenen Blickwinkeln und Meinung konfrontiert sehen, weil es, schlicht gesagt, eine pluralistische öffentlich-politische Diskussion gibt. Heute ist es jedoch so, dass ein begabter junger Journalist lernt, wie man Schleichwerbung betreibt, indem man die Themen jeweils so angeht und aufbereitet, dass sich bestimmte Firmen freuen dürfen und deswegen vielleicht sogar etwas bezahlen für so einen Beitrag. Wenn das so ist, dann verrutscht einer der wichtigsten Verfassungsgrundsätze unserer parlamentarischen Demokratie, nämlich der Artikel 5 des Grundgesetzes. Das führt zu einer schleichenden Beschädigung dieses Verfassungsgrundsatzes! Und dagegen habe ich mich gewehrt. Dies nimmt aber in jüngster Zeit immer noch mehr zu: Es entstehen auch aus wirtschaftlichen Interessen Schweigezonen. Oder es gibt aufgrund dieser wirtschaftlichen Interessen im Zusammenhang mit einem bestimmten Produkt auf einmal Ruhmgesänge in den Medien usw. Sehr stark ist das bereits in den USA fortgeschritten. Nach dem 11. September 2001 ist das aufgrund des Patriot Act noch heftiger geworden, weil in den USA durch dieses Gesetz die Medienfreiheit verändert wurde. Es gibt also jetzt im 21. Jahrhundert eine Herausforderung für die Pressefreiheit, die mir Sorgen macht. Spies: Wobei für die ARD gesagt werden kann: "Das alles kommt jetzt nicht mehr vor!" Denn mit Schleichwerbung und ähnlichem ist vor kurzem qua Beschluss aufgeräumt worden. Man hofft natürlich, dass das, was da beschlossen worden ist, auch in der Realität tatsächlich greift. Duve: Ich war jahrelang Mitglied des Rundfunkrates des NDR. An dem Tag, an dem ich in den Bundestag gewählt worden bin, bin ich aus dem Rundfunkrat ausgetreten. Ich habe dann auch viele meiner politischen Kollegen dazu aufgefordert, den gleichen Schritt zu machen. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass man nicht gleichzeitig Rundfunkrat und amtierender Politiker sein kann. Ich habe also dieses Amt des Rundfunkrates ganz bewusst aus diesem Grund aufgegeben. Ich finde es jedenfalls sehr gut, dass mittlerweile auch in der ARD diese Diskussion über Schleichwerbung aufgebrochen ist. Ich halte es für sehr, sehr wichtig, dass dem Einhalt geboten wird. Der Artikel 5 des Grundgesetzes gehört wirklich zu unserem engeren Verfassungsrahmen: Die Freiheit der Presse ist genauso wichtig wie die Unabhängigkeit der Richter, wie das Verfassungsgericht. Spies: Wir müssen langsam zum Ende kommen. Klar geworden ist, dass die Sache der Wahrhaftigkeit – die ja auch Grundlage des Berufs des Journalisten ist – in der Tat ein Lebensthema für Sie gewesen ist. Es ging Ihnen immer darum, Möglichkeiten zu schaffen und zu bewahren, das auszusprechen, was man selbst als Wahrheit erachtet. Genau dies war Ihrem Vater und Ihrer Mutter damals in der Zeit des Nationalsozialismus nicht möglich gewesen. Gibt es da für den streitbaren Freimut – wenn ich das noch einmal in Bezug auf das Bild "Freimut rennt raus" so sagen darf – einen versöhnlichen Ansatz? Sind Sie gelassener geworden? Oder sagen Sie, dass es gar keine Ruhe geben kann aufgrund all der vielen unvollendeten Aufgaben und Arbeiten? Duve: Ruhe gibt es nicht. Aber eines habe ich in meinem Leben doch gelernt: Du kannst nie die ganze Welt retten! Also höre auf, immer über die ganze Welt zu reden! Stattdessen suche dir ein konkretes Aufgabengebiet! Dies habe ich mit meiner Arbeit im Zusammenhang mit der Freiheit der Presse ja auch so gemacht. Das habe ich mit meinem Jugendgymnasium auf dem Balkan für die vom Krieg traumatisierten Kinder dort gemacht. Ein Freund von mir, der bereits bei dem Balkan-Projekt dabei war, führt nun in Afrika ein anderes Projekt von mir weiter. Dieses Projekt heißt "defence of the future", also "Verteidigung der Zukunft". Auf den Titel wie das Projekt bin ich stolz. Wir haben das vier Jahre lang auf dem Balkan gemacht und er macht das nun für Kindersoldaten im östlichen Kongo. Wir haben in Hamburg dafür nun wieder eine kleine Stiftung gegründet. Er macht das hervorragend im Kongo: Es geht um die Alphabetisierung von Kindern in einem wirklich elenden Gebiet, von Kindern, die fast alle ihre Eltern verloren haben. Also: Man darf nicht immer sagen: "Ach, die ganze Welt ist voller Probleme!" Nein, da wird man nämlich ideologisch. Die Frage ist vielmehr, und genau das hat mein Leben geprägt: "Wo kann man konkret eingreifen?" Und so habe ich mich damals eben für die Gastarbeiter eingesetzt und so setze ich mich heute für die Kinder im Kongo ein. Tja, das treibt mich an. Ich sage daher nicht: "Die Zukunft wird ganz schlimm!" Nein, ich frage bis heute, wo es für mich etwas Konkretes zu tun gibt. Wenn ich das noch ein paar Jährchen machen kann, dann tue ich das gerne. Aber ich werde das in Zukunft doch etwas verhaltener betreiben, weil ich ja daneben auch noch ein paar andere Dinge mache wie z. B. schreiben. Und ich lese jetzt z. B. auch gerne mal wieder Gedichte von Lyrikern wie Rilke usw., die mich schon in meiner Jugend begeistert haben. Spies: Glück auf für das, was Sie da noch alles vorhaben – oder "ahoi!", wie man in Hamburg sagen würde. Freimut Duve, vielen Dank für dieses Gespräch. Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und auf Wiedersehen.

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