Philosophisch-Historische Fakultät Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie

Das „Geschichtsmodell“ des Neokonfuzianismus und dessen Einfluss auf die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades „Master of Arts“

betreut von ao. Univ.-Prof. Dr. Heinz Noflatscher

von Emanuel Simonini

Innsbruck im Mai 2019

Inhaltsverzeichnis I. Einleitender Teil 1. Einleitung ...... 1 2. Forschungsfrage ...... 4 3. Hypothese...... 5 4. Zur Einrichtung dieses Bandes ...... 6 4.1 Zur Schreibweise chinesischer Wörter ...... 6 4.2 Zu Daten und Zeiträumen ...... 6 4.3 Zum Begriff der „traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung“ ...... 7 4.4 Zum Begriff des Neokonfuzianismus ...... 8

II. Das Geschichtsmodell des Neokonfuzianismus 1. Auszüge aus der Geschichte. Ein chronologischer Überblick ...... 9 1.1 Von „weisen“ Kulturheroen und mythischen Urkaisern. Die Xia- und Shang-Dynastie ...... 9 1.2 Über eine „prächtige“ Dynastie und „fehlgeleitete Männer“. Die Zhou-Dynastie ...... 14 1.3 Über den Fürsten von Zhou, Kongzi und die Entstehung der „kanonischen Schriften“ des Konfuzianismus. Die „Zeit der Frühlings- und Herbstannalen“ ...... 16 1.4 Über das Zeitalter der großen Philosophen. Die „Zeit der Frühlings- und Herbstannalen“ ...... 21 1.5 Über die vertrackte Suche nach einem funktionierenden Gesellschaftsystem. Die „Zeit der Streitenden Reiche“ ...... 24 1.6 Vom Zeitalter der Despoten und Gesetze. Die Qin-Dynastie ...... 26 1.7 Über den Daoismus und die Frage, wie „tugendhaft“ die ersten Han-Kaiser waren. Die Han-Dynastie ...... 28 1.8 Des Konfuzianismus neue Kleider ...... 33 1.9 Über die „wiederauferstandene“ Zhou-Lehre der Han-Zeit ...... 36 1.10 Von „untugendhaften“ Männern und kulturellem Niedergang. Die „Zeit der Drei Reiche“ und die Wei-Dynastie ...... 37 1.11 Über „das große Fahrzeug“ und den „endlosen leidvollen Kreislauf“ des Lebens ...... 41 1.12 Vom „Zeitalter des Buddhismus“. Die Wei- und Jin-Dynastie ...... 46 1.13 Über kurzlebige Dynastien und skrupellose Herrscher. Die „Zeit der Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ ...... 49 1.14 Über die „Dunkelschule“ und das „Wuwei“ ...... 51 1.15 Über den unheilvollen Siegeszug des Buddhismus. Die „Zeit der sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ und die „Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien“ ...... 55 1.16 Von legistischen Despoten und „Großbauprojekten“. Die Sui-Dynastie ...... 57 1.17 Von „großartigen“ Reichen und einer „frevelhaften“ Kaiserin. Die Tang-Dynastie ...... 62 1.18 Über die Zerstörung von Klöstern und verkannten Dichtern ...... 67 1.19 Vom Ende „Goldener Zeitalter“ und „Söhnen, die ihre Väter nicht mehr als Väter behandeln“ ...... 71 1.20 Über Banditenbanden und Massakern an Gelehrten. Die Tang-Zeit und die „Zeit der Fünf Dynastien und Zehn Reiche“ ...... 75 1.21 Von Herrschern, die keine sein wollen und idealen Kaisern. Die Song-Dynastie ...... 79 1.22 Über den Aufstieg der Gelehrsamkeit und berühmte Kanzler ...... 82 1.23 Über eine „neue“ Lehre und „alte“ Überzeugungen ...... 85 1.24 Über die „Vier Bücher“ und konfuzianische Schismen. Die Song- und Ming-Dynastie ...... 88 1.25 Zusammenfassung ...... 90

2. Kennzeichen des „neokonfuzianischen Geschichtsmodells“ ...... 93 2.1 Der Einfluss der neokonfuzianischen Lehre auf die chinesische Geschichtsschreibung ...... 93 2.2 Sechs Kennzeichen des „neokonfuzianischen Geschichtsmodells“ ...... 94 2.2.1 Idealisierung des Altertums ...... 95 2.2.2 Herabsetzung des Legismus ...... 95 2.2.3 Herabsetzung des Buddhismus ...... 96 2.2.4 Idealisierung von Förderern des Konfuzianismus ...... 99 2.2.5 Ambivalentes Verhältnis zum Daoismus ...... 100 2.2.6 Literatur und Geschichte ...... 102

III. Wirkungszeitraum des „neokonfuzianischen Geschichtsmodells“ 1. Einführung ...... 106 2. Die „geistige Krise“ des Neokonfuzianismus ...... 108 2.1 Ursachen ...... 108 2.2 Die „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ ...... 111

3. Die Kritik der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ an der neokonfuzianischen Lehre. Erläutert an den Schriften von Zhang Xuecheng (1738-1801)...... 112 3.1 Zhang Xuecheng. Eine kurze Biografie ...... 112 3.2 Konventionelle Ansichten ...... 113 3.3 Zhang Xuechengs Kritik an den zwei neokonfuzianischen Hauptströmungen ...... 116 3.4 Zhang Xuecheng. Ein Vordenker seiner Zeit? ...... 120 3.5 Das anzustrebende Ideal ...... 121 3.6 Zusammenfassung ...... 124

4. Die Kritik der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ am „neokonfuzianischen Geschichtsmodell“. Erläutert an den Schriften von Zhang Xuecheng ...... 124 4.1 Einführung ...... 124 4.2 Fallbeispiel Sima Qian ...... 125 4.3 Eine historische Neubewertung von Sima Qian...... 130 4.4 Grenzen der Kritik ...... 132 4.5 Zusammenfassung ...... 133

5. Der Einfluss der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ auf den Gelehrtendiskurs der Qing-Zeit ...134 5.1 Das Verhältnis zwischen der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ und dem „Enligthenment Movement“ ...... 134 5.2 Zusammenfassung ...... 136 5.3 Schluss ...... 138

IV. Literaturverzeichnis 1. Quelleneditionen ...... 140 2. Verwendete Literatur ...... 142 3. Weiterführende Literatur ...... 150

I. Einleitender Teil 1. Einleitung Besuchte ein Reisender in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts den Aachener Dom, dann fand er dort eine „Reliquienbüste“ vor, die ein stilisiertes „Porträt“ von Karl dem Großen (747/48–814) zeigte. Genau diese „Reliquienbüste“, die von Besuchern im Mittelalter direkt innerhalb der Domkirche bestaunt werden konnte, vermochte glücklicherweise die Jahrhunderte zu überdauern und wird heute in der Aachener Domschatzkammer aufbewahrt.1 Doch obwohl die Aachener Domschatzkammer das idealisierte Abbild vom wohl berühmtesten aller Karolinger-Herrscher heute wie einen „Schatz“ hütet, wird die sogenannte „Karlsbüste“ trotz alledem alljährlich noch anlässlich zweier Feiertage hervorgeholt. Neben dem „Karlsfest“ können Pilger in Aachen das Abbild auch noch im Zuge eines der höchsten christlichen Feste bestaunen; zu Christi Himmelfahrt, wo Karl der Große wie ein „Heiliger“ verehrt wird.2 In unseren Breitengraden verkörperte Karl der Große lange Zeit das Idealbild eines mittelalterlichen Königs; und selbst bis zum heutigen Tage wird er großteils noch als jener weiser, umsichtiger, Kunst und Kultur liebhabender Herrscher angesehen, dem man nicht viel vorzuwerfen hat, außer dass er nicht lange genug am Leben blieb, um noch weitere Erfolge erzielen zu können. Dass ausgerechnet Karl dem Großen diese Ehre zu Teil wurde, sollte uns jedoch nicht verwundern. Denn schließlich verkörperte der Karolinger nichts Geringeres, als das von der christlichen Kirche definierte Idealbild eines mittelalterlichen europäischen Königs. Karl der Große wurde von der christlichen Kirche als der „Neue David“, „König und Prophet“ bezeichnet, weil er die Christianisierung sowohl in Frankenreich durch seine Reformpolitik, als auch durch die von ihm in die Wege geleiteten Sachsenkriege in ganz Europa vorantrieb. Dass sich die vom Christentum stark geprägte europäische Geschichtsschreibung gerne an ihn erinnerte, sollte uns daher nicht verwundern.3 Die moderne Geschichtswissenschaft ist sich heute im Allgemeinen darüber einig, dass das Christentum in Europa einen enormen Einfluss auf die europäische Geschichtsschreibung des Mittelalters ausübte. Aus diesem Grunde verwenden heutige Historiker die „Reichsannalen“, die „Vita Karoli“ und das „Aachener Karlsepos“ – die drei Primärquellen, die uns über das Leben von Karl dem Großen vorliegen – bei Weitem nicht mehr so unbefangen wie früher.

1 Domschatzkammer Aachen, Karlsbüste, [https://www.aachener-domschatz.de/highlights/karlsbueste/], eingesehen am 23.03.2019. 2 Näheres über die „Karlsbüste“ und die Herausbildung des „Karlskultes“ in Aachen nachzulesen in: Max Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 138–156. 3 Vgl. Johannes Fried, Karl der Grosse. Gewalt und Glaube. Eine Biographie, München 2013, S. 589–633. 1

Unter gewissenhaft arbeitenden Historikern werden sie immer erst dann als Quelle herangezogen, nachdem sie diese einer grundlegenden quellenkritischen Analyse unterzogen haben. Dies ist nicht zuletzt deshalb nötig, weil sich die moderne Geschichtswissenschaft weitestgehend darüber einig ist, dass es sich allem voran beim „Aachener Karlsepos“, aber auch bei Einhards (770–840) „Vita Karoli“ um Geschichtswerke handelt, die aus einer eschatologischen Weltsicht geschriebene sind.4 Weil uns heute deutlicher bewusst ist, dass viele der „Errungenschaften“, die dem „idealisierten“ Karolinger-Herrscher von der christlich geprägten Geschichtsschreibung über die Jahrhunderte hinweg zugeschrieben wurden, relativiert werden müssen, sehen wir Karl den Großen in einem anderen Licht als noch vor 30 Jahren. Im Gegensatz zur modernen „europäischen Geschichtswissenschaft“ hat die chinesische Geschichtswissenschaft einen weit weniger kritischen Zugang zu ihrer Geschichte. Was zum einen natürlich darin begründet liegt, dass sich die heutigen chinesischen Historiker an eine von der KPC (Kommunistische Partei China) vorgegebene „Linie“ halten müssen. Zwar hat sich die chinesische Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten in der Methodik und Herangehensweise stark an die westliche Geschichtswissenschaft angenähert, doch in jüngster Zeit scheint sich ein folgenschwerer Trendwandel abzuzeichnen. So wurde etwa am 3. Januar 2019 das „Zentrale chinesische Geschichtsforschungsinstitut“ (Zhongguo Lishi Yanjiuyuan), an der „Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften“ (kurz CASS), in Beijing eingeweiht.5 Anlässlich der Feierlichkeiten wurde vor Ort ein persönlicher Brief vom amtierenden Präsidenten Xi Jingping verlesen, in welchem sich dieser – den Prinzipien seiner Partei treu ergeben – nicht nur dafür aussprach, dass das „Studium der chinesischen Geschichte mit dem methodologischen Ansatz des historischen Materialismus“ vollzogen werden sollte, sondern darüber hinaus auch die chinesischen „Forscher“ dazu aufforderte, dass diese „besser aus der Geschichte lernen“ müssten, um „die Gesetzmäßigkeit der Geschichte aufdecken“ und den „historischen Trend“ erfassen zu können.6 Huang Kunming, Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees und Leiter der Abteilung „Öffentlichkeitsarbeit“ der KPC, machte die politische Agenda, die in den Worten von Xi Jingping lagen, noch deutlicher, als er in seiner Rede anlässlich der Eröffnung des „Zentralen chinesischen

4 Vgl. Kerner, Karl der Grosse, S. 65–92. 5 Ein relevanter Zeitungsartikel hierzu ist jener von der Sinologin Sabine Dabringhaus, Zentralinstitut für Geschichte. China feiert seinen Sonderweg, in: Frankfurter Allgemeine, [https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/geschichtsschreibung-china-feiert-seinen-sonderweg- 16001211.html], eingesehen am 20.01.2019. 6 Yi Yang, Xi Congratulates on CASS Chinese History Institute’s Establishment, in: Chinese Academy of Social Sciences (CASS), [http://casseng.cssn.cn/news_events/news_events_news_briefing/201901/t20190110 _4809553.html], eingesehen am 20.01.2019. 2

Geschichtsforschungsinstitut“ verlauten ließ, dass die Forscher der “richtigen politischen Linie” nachfolgen sollten, um „die chinesische Geschichtsschreibung zu verbessern“ und 7 damit im Kollektiv zur „nationalen Verjüngung“ beizutragen. Während zu Mao Zedongs (1893–1976) Lebzeiten noch der Versuch unternommen wurde, die chinesische Geschichte auszulöschen, scheint sie heute im „Reich der Mitte“ wieder verstärkt dazu zu dienen, der Gesellschaft Kontinuität zu stiften. Um dem „Nationalstaat China“ eine Basis zu geben, wird der Umgang mit der eigenen Geschichte heute von der Parteispitze vorgeschrieben. Die Idee, dass Geschichte einen Nutzen für die Gesellschaft in sich bergen solle, ist bei Leibe jedoch keine Neuerfindung der KPC. Denn im chinesischen Kulturraum stand – ähnlich wie im christlichen vor dem 18./19. Jahrhundert – schon seit Anbeginn der Geschichtsschreibung die erzieherische Funktion von Geschichte an erster Stelle, erst dann ging es um „Objektivität“.8 Seit dem Altertum ging es den chinesischen Historikern vordergründig darum, nach moralisierenden Elementen in der Vergangenheit zu suchen, nach Beispielen, anhand derer die Menschen verstehen konnten, was moralisch „richtiges“ bzw. „falsches“ Handeln bedeutet.9 Dass aber dieses – in der chinesischen Geschichtsschreibung „kulturell“ tief verwurzelte – althergebrachte „Vorrecht“ zur „Moralisierung“ nie objektiven Maßregeln folgen kann, sollte uns allen klar sein. Zumal es Gedanken- und Wertesysteme gibt, welche die bindenden Moralvorstellungen in einer jeden Gesellschaft definieren – und diese geben wiederum die bindenden Normen vor, an die sich die Geschichtsschreibung zu halten hat. Jeder, der Geschichte schreibt, ist zwangsläufig dazu verdammt, aus dem „Diskurs“ seiner Zeit heraus über historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Sachverhalte zu urteilen. Weil sich diejenigen, die Geschichte schreiben, immer nach den vorherrschenden gesellschaftlichen Konventionen ausrichten müssen, kann Geschichtsschreibung schlichtweg nie objektiv sein. Dies ist eine „Gesetzmäßigkeit“, die wir oft zu ignorieren versuchen. Auch heute verfassen Historiker ihre Texte noch gerne unter dem Deckmantel der „Objektivität“; sie glauben fest daran, dass ihre Sicht auf die Vergangenheit völlig unbefangen von jedweden Einflüssen ist. Und trotz alledem würde wohl jeder namhafte Historiker aus der westlichen Hemisphäre seine Glaubwürdigkeit verlieren, wenn er beispielsweise auch nur den geringsten Aspekt von totalitären Regimen guthieße. Wenn wir uns heute mit den totalitären Regimen in der Geschichte auseinandersetzen, so werden diese immer aus einem negativen Blickwinkel

7 Yi Yang, Xi Congratulates on CASS Chinese History Institute’s Establishment, in: Chinese Academy of Social Sciences (CASS), [http://casseng.cssn.cn/news_events/news_events_news_briefing/201901/t20190110 _4809553.html], eingesehen am 20.01.2019. 8 Vgl. Chun-chieh Huang, The Defining Character of Chinese Historical Thinking, in: History and Theory 46 (2007), Heft 2, S. 180–188, hier S. 182. 9 Vgl. ebd., S. 187–188. 3 heraus betrachtet. Natürlich nicht zu Unrecht, wie der „gesunde Menschenverstand“ zu meinen scheint. Doch – und das ist entscheidend – müssen wir stets im Hinterkopf behalten, dass es nicht der „gesunde Menschenverstand“, sondern allem voran die unserer heutigen Gesellschaft zugrunde liegenden Wertvorstellungen sind, die die Art und Weise definieren, wie wir auf unsere Vergangenheit zurückblicken. Weil sich in Europa die Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert stark durch die aus den Sozialwissenschaften stammenden Diskurstheorien und den späteren „ideengeschichtlichen Ansätzen“ ergänzt hat, wissen wir heute, dass unsere Sichtweise auf die Vergangenheit durch einen „Wertekonsens“, auf den sich unsere moderne Gesellschaft geeinigt hat, bedingt ist. In China kam es bis heute nie zu einer vergleichbaren Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Was wiederum zur Folge hat, dass im Gegensatz zu unserem Kulturraum, wo wir erkannt haben, dass wir etwa der eingangs erwähnten „Vita Karoli“ aus den genannten und vielerlei anderen Gründen nur bedingt Glauben schenken dürfen, die chinesische Geschichtswissenschaft mit dem Quellenkorpus, der ihr vorliegt, weit unbefangener umgeht. Weil in China nie wirklich nach der Intention hinter den Standardwerken der traditionellen chinesischen Geschichtschreibung gefragt wurde, wird deren orthodoxen Geschichtsdarstellung oft noch „blindes“ Vertrauen entgegengebracht.

2. Forschungsfrage In China liegt das „Vorrecht“ über die Deutung der Geschichte heute unbestritten bei der KPC. Doch vor dem 20. Jahrhundert hatte nicht das Zentralkomitee, sondern die herrschenden Dynastien die Deutungshoheit darüber inne, wie Geschichte geschrieben und ausgelegt wurde. Die Herrscher der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.), der Tang-Dynastie (618– 907), der Song-Dynastie (960–1279) und jene der vielen weiteren Dynastien Chinas gaben die sogenannten 24 Dynastiegeschichten in Auftrag, jene mehr als 3.000 Bände umfassenden und grundlegenden Werke der chinesischen Historiografie, die uns eine zusammenhängende und aufeinander aufbauende Geschichtserzählung über den seit der Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.) festgesteckten geografischen Raum des „Reiches zwischen den Vier Meeren“ (Zhongguo) liefern. Die 24 Dynastiegeschichten sind die Hauptquellen, die uns über die chinesische Geschichte vorliegen, und ihre Erzählstruktur definiert bis heute die Art und Weise, wie wir auf die chinesische Vergangenheit zurückblicken. Doch welche Ideen sind es, die ihre Erzählform definieren? Was sind die treibenden Ideale, die hinter der Gesamterzählung liegen? Welche „Weltanschauungen“ waren es, die vor dem

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20. Jahrhundert darüber geboten, wie Geschichte in China geschrieben und gedacht wurde? Diese Abhandlung versucht genau diesen Fragen auf den Grund zu gehen.

3. Hypothese All die Geschichtswerke der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung – die uns vom Altertum bis hin zum Ende der Ming-Dynastie (1368–1644) vorliegen – wurden fast ausnahmslos von offizieller Stelle beauftragten Historikern geschrieben; von Gelehrten, die von den herrschenden Dynastien zum Schreiben der Annalen, der „chronologischen Tabellen“ und Biografien herangezogen wurden.10 Eine elitäre Gelehrtenschicht schrieb für eine elitäre Leserschaft Geschichte, die wie eingangs schon erwähnt, in China seit den frühesten Zeiten vor allem als ein „Lehrbuch“ für die später lebenden Generationen verstanden wurde.11 Bereits der „Vater“ der chinesischen Geschichtsschreibung, Sima Qian (145–90 v. Chr.), urteilte im 1. Jahrhundert n. Chr. in seinem Geschichtswerk, dem „Shiji“, über vergangene Machthaber – verglich die Herrschaftsperioden der unterschiedlichen Kaiser und Könige untereinander und entschied, ob deren Regierungszeiten als „gut“ oder „schlecht“ zu bewerten waren.12 Die späteren Geschichtsschreiber nahmen Sima Qian zu ihrem Vorbild und taten es diesem gleich13 – sie interpretierten die Vergangenheit immer wieder aufs Neue und schrieben so das „Lehrbuch“ der Geschichte unzählige Male um. Diese Abhandlung wird aufzeigen, dass sich die chinesischen Historiographen vom 11. bis zum 19. Jahrhundert sowohl beim Schreiben ihrer Geschichtswerke als auch bei der Deutung der Vergangenheit an einem Wertekodex orientierten, der von der neokonfuzianischen Lehre getragen wurde. Diese Abhandlung wird dies sichtbar machen und verdeutlichen, woran wir erkennen können, dass die „traditionelle chinesische Geschichtsschreibung“ ein „Spross“ des Neokonfuzianismus ist. Um nachvollziehen zu können, inwieweit unsere heutige Sichtweise auf die chinesische Vergangenheit durch die neokonfuzianische Lehre definiert ist, wird im ersten Teil dieser Abhandlung die chinesische Geschichte aus dem Blickwinkel der „traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung“ wiedergegeben und anhand mehrerer historischer Fallbeispiele erläutert, wie die von der neokonfuzianischen Lehre erdachten Ansichten und

10 Vgl. Helwig Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur. Die 3000jährige Entwicklung der poetischen, erzählenden und philosophisch-religiösen Literatur Chinas von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bern/München/Wien 1990, S. 130 –134. 11 Vgl. Huang, The Defining Character of Chinese Historical Thinking, S. 182. 12 Vgl. Harold M. Tanner, China. A History. From Neolithic Cultures through the Great Qing Empire 10.000 BCE–1799 CE, Band 1, Indianapolis/Cambridge 2010, S. 118. 13 Vgl. Kai Vogelsang, Geschichte Chinas, Stuttgart 2013, S. 153–154. 5

Moralvorstellungen Einzug in die Erzählstruktur der 24 Dynastiegeschichten fanden. Am Ende des ersten Teils werden die gewonnen Erkenntnisse zusammengefasst und sechs Kennzeichen des „neokonfuzianischen Geschichtsmodells“ genannt. Nachdem im ersten Abschnitt die Herausbildung des „neokonfuzianischen Geschichtsmodells“ geschildert und dessen Kennzeichen offengelegt wurden, setzt sich der zweite Teil dieser Abhandlung vordergründig mit der Frage auseinander, über welchen Zeitraum das von der neokonfuzianischen Lehre getragene „Geschichtsmodell“ seine Dominanz im chinesischen Kulturraum zu wahren vermochte. Dabei geht es im Speziellen um die Klärung der Frage, ob das „neokonfuzianische Geschichtsmodell“ infolge der „geistigen Krise“ des Neokonfuzianismus im 18. Jahrhundert durch ein anderes Geschichtsmodell abgelöst wurde oder nicht.

4. Zur Einrichtung dieses Bandes 4.1. Zur Schreibweise chinesischer Wörter Grundsätzlich werden alle Personennamen, Orte und Begriffe in der sogenannten „Pinyin“ Umschrift – dem in China offiziell verwendeten System zur Romanisierung des Hochchinesischen – geschrieben. Jedoch wird, um einer etwaigen Verwirrung vorzubeugen, von der Verwendung phonetischer Lautkennzeichnungen zumeist abgesehen, da sich die moderne hochchinesische Aussprache alter Namen, Orte und Begriffe mitunter stark von der rekonstruierten alt- oder mittelchinesischen Aussprache unterscheidet. Bei der Benennung von Persönlichkeiten wird der geläufigste Name verwendet; dabei kann es sich um Rufnamen (z. B. Han Yu), Herrschaftsnamen (Der Fürst von Zhou), Künstlernamen (Su Dongpo) und speziell bei Kaisern um Tempelnamen (Taizong) handeln. Latinisierte Namensumschreibungen (z. B. Menzius) werden nicht genutzt und chinesische Schreibweisen gewählt (Konfuzius=Kongzi).

4.2. Zu Daten und Zeiträumen In dieser Abhandlung wird bewusst darauf verzichtet, die chinesische Geschichte nach dem im europäischen Kulturraum gängigen Periodisierungsmodell (Altertum/Mittelalter/Neuzeit) einzuteilen. Einzig der Begriff des „Altertums“ wird verwendet, weil er sich als dienlich erweist und dazu benutzt werden kann, sprachlich jenen Zeitraum zu umreißen, den die später lebenden chinesischen Gelehrten als „Yuǎngǔ Shídài“ (Alte Zeit) bezeichneten. Es gibt keine

6 allgemeingültige Definition darüber, welchen Zeitraum das „Yuǎngǔ Shídài“ umfasst. Zumeist beginnt es aber mit der Herausbildung der chinesischen Kultur und endet mit der Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.) Im Allgemeinen hält sich diese Abhandlung an die „klassische Periodisierung“, so wie sie durch die 24 Dynastiegeschichten fixiert wurde. Was wiederum bedeutet, dass die Geschichte nicht in Epochen, sondern in zeitlich aufeinander folgende Dynastien eingeteilt wird. Weil das „klassische Periodisierungsmodell“ verwendet wird, sei jedoch darauf hingewiesen, dass im chinesischen Kulturraum oft mehrere Dynastien zeitgleich nebeneinander existierten. Beispielsweise herrschte etwa die Qin-Dynastie, die traditionell zwischen den Jahren 221 und 207 v. Chr. angesetzt wird, bereits in der Zeit der „Östlichen Zhou-Dynastie“ (770–256 v. Chr.) über ein autonomes Gebiet. Eine Dynastie wird somit also nicht mit ihrer Begründung datiert, sondern beginnt und endet in der Regel dann, wenn ihr das „Mandat des Himmels“ von der späteren Geschichtsschreibung zugesprochen bzw. aberkannt wurde. Im Hinblick auf Personen werden immer die Lebensdaten angegeben; was wiederum bedeutet, dass auch bei Kaisern und Königen stets die Lebensspanne und nicht die Regierungszeit abgebildet wird. Die Lebensdaten der „mythischen Urkaiser“, sowie der Herrscher der Xia-, Shang- und Zhou-Dynastie können von anderen Darstellungen abweichen, da deren Lebensdaten in der Forschung umstritten sind.

4.3. Zum Begriff der „traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung“ Der Begriff der „traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung“ (traditional Chinese historiography) wird von Sinologen und Historikern oft verwendet, aber nur selten definiert. Wenn in dieser Abhandlung von der „traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung“ die Rede ist, sind mit dem Ausdruck grundsätzlich all jene Geschichtswerke gemeint, die vor dem 20. Jahrhundert innerhalb des chinesischen Kulturraums entstanden sind und durch die herrschenden Dynastien Chinas „offiziell“ als solche anerkannt wurden. Somit bezieht sich der Begriff der „traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung“ auf die „Hofgeschichtsschreibung“ und dient dazu, generalisierend all jene Geschichtswerke zu benennen, die durch die chinesische „Hofgeschichtsschreibung“ vor der Absetzung der Monarchie am Ende der Qing-Zeit (1644–1912) hervorgebracht wurden.

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4.4. Zum Begriff des Neokonfuzianismus Gleich zu Beginn sei darauf hingewiesen, dass es den „Begriff“ des Neokonfuzianismus in China ursprünglich nicht gab. Vielmehr handelt es sich bei diesem um einen „Ausdruck“, der erst von der westlichen Sinologie für das äußerst komplexe „Gedankengebäude“ gefunden wurde, welches sich seit dem 10. Jahrhundert im chinesischen Kulturraum herausgebildet hat. Da sich der Begriff heute auch in China durchgesetzt hat, wird er auch in dieser Abhandlung verwendet. Der Neokonfuzianismus umfasst mehrere sogenannte konfuzianische „Schulen“, denen allen gemein ist, dass sie auf ein und demselben „Lehrgebäude“ fußen. Die konfuzianischen Schulen, die zum Neokonfuzianismus hinzugezählt werden, sind entweder innerhalb der Song-Zeit – im 11. und 12. Jahrhundert – oder in den darauf folgenden Jahrhunderten entstanden. Innerhalb Chinas wurden jene „Schulen“, die heute zum Neokonfuzianismus hinzugezählt werden, unter anderem wie folgt sprachlich zusammengefasst: • Nach der Entstehungszeit der Lehre: „Songxue“ (Song-Lehre). • Nach dem Wirkungszeitraum der Lehre: „Song-Ming-lixue“ (Song-Ming-Lehre) • Geteilt in die beiden Hauptströmungen der Lehre: o Die von Zhu Xi und den „Cheng-Brüdern“ begründeten „Cheng-Zhu-[li]xue“ (Cheng-Zhu-Lehre) o Die von Lu Jiuyuan und Wang Yangming begründete „Lu-Wang-[xin]xue“ (Lu-Wang-Lehre) • Mitunter wurde die Lehre auch als „daoxue“ (Lehre vom [dao] Rechten Weg) bezeichnet. Der Begriff „daoxue“ ist wahrscheinlich der am schwierigsten zu verwendende Ausdruck, da auch die Lehren des Daoismus als „daoxue“ bezeichnet wurden.

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II. Das Geschichtsmodell des Neokonfuzianismus 1. Auszüge aus der Geschichte. Ein chronologischer Überblick 1.1. Von „weisen“ Kulturheroen und mythischen Urkaisern. Die Xia- und Shang- Dynastie „Im Altertum hatten die Menschen vielerlei Not. Dann traten weise Kulturheroen [Shengren] auf, die sie im rechten Weg des miteinander lebens[!] und gegenseitigen Unterstützens unterwiesen. Sie waren ihnen Herrscher, sie waren ihnen Lehrer, vertrieben ihnen Gewürm, Schlangen, Vögel und Wildtiere und siedelten sie im Mittelland [Zhongtu] an. War (den Menschen) kalt, dann (brachten sie ihnen bei), Kleidung herzustellen. War ihnen hungrig, dann (brachten sie ihnen bei), Essen zu beschaffen. Wohnten sie auf Bäumen, so konnten sie herabfallen, hielten sie sich am Boden auf, konnten sie krank werden, und so schufen sie ihnen Paläste und Wohnstätten.“14 Diese Zeilen entstammen aus einem vielbeachteten Traktat des Gelehrten Han Yu (768–824), einem der sogenannten „Acht Großen Prosaisten der Tang- und Song-Zeit“ (618–1279), der diese Zeilen in seiner Schrift mit dem Titel „Yuan dao“ (On the Dao) im 8. Jahrhundert n. Chr. eingearbeitet hatte. In seiner Abhandlung beschäftigte er sich mit der Genese des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Zusammenhang mit den „grundsätzlichen Ordnungsmustern“, die der Welt zugrunde liegen. Han Yu liefert in seinem polemischen Beitrag eine durchaus durchdachte These, wie sich die Gesellschaft nach seinen Vorstellungen in den frühesten Zeiten entwickelt haben muss. So soll es sogenannte „Shengren“ – weise Männer – gegeben haben, die andere Menschen in ihrer Klugheit und Tugendhaftigkeit übertrafen und sie „[…] im rechten Weg des miteinander lebens[!] und gegenseitigen Unterstützens unterwiesen.“15 Darüber hinaus gaben sie den Menschen „[…] Ordnungsregeln, um sie zu führen, wenn sie nachlässig und erschöpft waren.“16 Vereinfacht ausgedrückt, zeigten die Klügeren den vom „Himmel weniger Beschenkten“, wie sie in der Welt zurechtkommen konnten, und erhielten dafür von den Menschen Anerkennung, durch die sie wiederum selbst in der Hierarchie der Urgesellschaft aufsteigen konnten. Die herausragenden Fähigkeiten der „Shengren“ legitimierten sie dazu, über die Menschen zu herrschen – die klügsten und tugendhaftesten Männer wurden so zu den ersten Königen und Kaisern Chinas. Interessant ist, dass Han Yus Überlegungen zur Genese des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Frühgeschichte sich nur unwesentlich von den heutigen Thesen der zeitgenössischen europäischen Altertumsforschung unterscheiden. Diese besagen, dass es vor

14 Han Yu, Yuan dao, zitiert nach Christoph Kaderas, Das Yuan dao des Han Yu (768-824) – Analyse und vollständige Übersetzung, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (2000), Heft 150, S. 243–267, hier S. 262. 15 Ebd., S. 262. 16 Ebd., S. 263. 9 allem der soziale Wettbewerb unter den Menschen war, der dazu führte, dass sich die einzelnen Individuen in der Gemeinschaft unterschiedlich positionierten und sich eine hierarchische Gesellschaft herausbildete.17 Viele heutige Anthropologen, Ethnologen und Historiker stimmen darin überein, dass die Menschen über Jahrtausende ohne eine herrschende Klasse existieren konnten. Doch die Ungleichheit zwischen „erfolgreichen und weniger erfolgreichen“ Individuen – der Wettbewerb – begünstigte bei gleichzeitigem Anwachsen der Population das Aufkommen eines „Häuptlingtums“, das sich in der Regel zu einer Wahlmonarchie und später zu einer Erbmonarchie weiterbildete.18 Han Yu (768–824) konkretisierte diese Grundidee bereits im 8. Jahrhundert n. Chr. und spätere Gelehrte wie beispielsweise Zhang Xuecheng (1738–1801) dachten diese weiter. Für den im 18. Jahrhundert lebenden Gelehrten handelte es sich bei der Entwicklung der Gesellschaft hin zum Königtum nur bedingt um einen durch eine göttliche Fügung vorherbestimmten Weg. Vielmehr war diese Entwicklung für den in der Qing-Zeit (1644– 1912) wirkenden Gelehrten – ähnlich wie für die heutigen Altertumsforscher – ein pragmatischer, logischer, durch die Natur und die sozialen Bedürfnisse der besagten Zeit bedingter gesellschaftlicher Vorgang. Die Zivilisation entstand aus der Notwendigkeit heraus. Diesen Standpunkt vertrat auch Zhang Xuecheng und er beschrieb ihn in seinem Essay „Yuan dao“ (On the Dao) wie folgt: „When three people were living together in one house, then each morning and evening they had to open and shut the doors and gates and they had to gather firewood and draw water in order to prepare the morning and evening meals. Since they were not just one single person, there had to be a division of responsibilities. Sometimes each attended to his or her own work; sometimes work was alternated and each took a turn. This indeed was a situation that could not have been otherwise, and there developed the principles of equality, peace, structure, and order. Then, fearing that people would quarrel over the delegation of responsibilities, it became necessary to bring forward the one most advanced in years to keep the peace. This too was an inevitable state of affairs, and as a result the distinctions between old and young and between honored and humble took shape. When there came to be groups of five and ten and then hundreds and thousands and these split into groups and separated into classes, it became necessary for each elder to have charge of his own group of five or ten. When these groups accumulated to hundreds and thousands, such a large number of people required management and direction, and so it was necessary to advance the one most outstanding in talent to order the complex relationships among them. The situation became complicated, requiring leadership

17 Vgl. Christoph Ulf, Zur ‚Vorgeschichte‘ der Polis. Die Wettbewerbskultur als Indikator für die Art des politischen Bewusstseins, in: Hermes 139 (2011), Heft 3, S. 291–315, hier S. 314. 18 Zur Genese von Gesellschaftssystemen siehe: Thomas Schweizer, Die Sozialstruktur als Problem der ethnologischen Forschung, in: Zeitschrift für Ethnologie 117 (1992), S. 17–40, hier speziell die S. 17 – 27. Oder auch Shereen Ratnagar, Our Tribal Past, in: Social Scientist 31, Heft 1, (2003), S. 17–36. 10 to employ the people effectively, and so it was necessary to advance the one greatest in Virtue to control the development of things. This too was an inevitable state of affairs […].“19 Seit sich die Menschen in Gruppen von „fünf und zehn zusammengefunden hatten“, benötigte es rudimentäre Regeln des Zusammenlebens. Als sie sich später zu „hunderten und tausenden zusammenfanden“, benötigte es Gesetze und Führung. Jene mit „herausragendem Talent“ wurden in der alten Zeit zu Herrschern, die sich während ihrer Regierungszeit Gedanken über die beste Art des Führens und des Zusammenlebens machten. So erklärten die fünf Urkaiser20 „die Dinge und vollendeten die Unternehmungen.“ Die drei Könige21 „etablierten die Institutionen und vererbten ihr Modell an die Nachwelt“22 – und schufen durch diesen Vorgang im Altertum den ursprünglichen Konfuzianismus, jenes auf moralischen Grundsätzen basierende Gesellschaftsmodell, das in China über zweitausend Jahre eine der wichtigsten gesellschaftsrelevanten philosophischen Leitbilder bleiben sollte. Für die konfuzianischen Gelehrten der späteren Epochen stand außer Zweifel, dass es sich bei dieser ursprünglichen Ausprägung der konfuzianischen Philosophie um die „reinste“ Ausformung ihrer Lehre handelte.23 Bis hin zum sagenumwobenen Fürsten von Zhou (um 1050 v. Chr.) blieb der „reine“ Konfuzianismus nach ihrer Vorstellung in seinen Grundsätzen erhalten. In seinem „Yuan dao“ (On the Dao) beschreibt der in der Qing-Zeit lebende Zhang Xuecheng (1738–1801), wie die konfuzianische Lehre ihre „Reinheit“ in der Alten Zeit wahren konnte. “From the beginning of Heaven and earth down to the emperors Yao and Shun and the Xia and Shang dynasties, sages always had attained the position of emperor [...].”24 Vom berühmten „Gelben Kaiser“, Huangdi (2674–2575 v. Chr), bis hin zu den Lebzeiten vom Fürsten von Zhou (um 1050 v. Chr.) waren die Kaiser nicht nur Herrscher, sondern auch die Tugendhaftesten aus ihrer Zeit gewesen.25 Sie vereinten die Positionen eines „Offiziellen“ und eines „Lehrers“ in ihrer eigenen Person, wodurch sie die konfuzianische Lehre als

19 Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), 1789, translated by Philip J. Ivanhoe, in: On Ethics and History. Essays and Letters of Zhang Xuecheng, translated and with an Indroduction by Philip J. Ivanhoe, Stanford 2010, S. 26. 20 Bei den „fünf Urkaisern“ handelt es sich um die mythischen Herrscher Huangdi (auch Gelben Kaiser), Zhuanxu, Gaoxin, Yao und Shun. Die fünf Urkaiser sollen im 3. Jahrtausend v. Chr. gelebt und regiert haben und werden traditionell als die Schöpfer der chinesischen Zivilisation angesehen. 21 Wenn konfuzianische Gelehrte von den sogenannten „drei Königen“ sprachen, meinten sie gemeinhin die ersten drei Regenten der „Westlichen Zhou-Dynastie“ (1046–770 v. Chr.). 22 Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), S. 27. 23 Vgl. Thomas Tabery, Selbstkultivierung und Weltgestaltung. Die praxiologische Philosophie des Yan Yuan (1635–1704) (Opera Sinologica 23), Wiesbaden 2009, S. 166–170. 24 Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), S. 29. 25 Vgl. Ina Asim, Aspects of the Perception of Zhou Ideals in the Song Dynasty (960-1279), in: Die Gegenwart des Altertums. Formen und Funktionen des Altertumsbezugs in den Hochkulturen der Alten Welt, hrsg. v. Dieter Kuhn/Helga Stahl, Heidelberg 2001, S. 459–480, hier S. 459. 11

Herrschende in der Praxis ausführen und gleichzeitig in ihrer Funktion theoretische und philosophische Überlegungen über das gesellschaftliche Zusammenleben anstellen konnten. Für Zhang Xuecheng galten ihre Herrschaftszeiten als der Inbegriff der weltlichen Umsetzung des Konfuzianismus.26 Die Verehrung der ersten Kaiser und Könige ist aber keinesfalls etwas, das man ausschließlich in den Ausführungen des qing-zeitlichen Gelehrten finden kann, sondern war über die Zeiten hinweg vielmehr Konsens unter den Anhängern des Konfuzianismus. Die Urkaiser, allen voran die erhabenen Kaiser Yao (2353–2234 v. Chr.) und Shun (2294–2240 v. Chr.) aus dem 24. und 23. Jahrhundert v. Chr., galten seit dem Altertum als unantastbare Vorbilder für Tugend und Gerechtigkeit.27 Bereits im ersten Absatz des „Buches der Urkunden“ – einem der Konfuzianischen Klassiker – im Kapitel des „Buches der Tang“ wird Yao mit Lobhuldigungen überhäuft. Dort heißt es, Yao „[…] was reverential, intelligent, accomplished, and thoughtful, – naturally and without effort. He was sincerely courteous, and capable of all complaisance.“28 Und auch dessen kaiserlicher Nachfolger Shun stand Yao in nichts nach – ihm wurden nicht weniger positive Attribute nachgesagt. Auch Shun wird als ein „tiefgründiger, weiser, intelligenter, milder, respektvoller und vollkommen aufrichtiger Mann“ beschrieben, der darüber hinaus von dessen Vorgänger Yao nicht etwa wegen seines Geburtsrechtes, sondern aufgrund seiner Tugendhaftigkeit zum König auserkoren wurde.29 Im auslaufenden zweiten Jahrtausend v. Chr. endet nach der Auffassung der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung jene Epoche, in der sich der „reine“ Konfuzianismus aus den verschiedenen Lehren der „Alten Zeit“ herauskristallisiert hatte.30 Auf diese Ära folgt eine Periode, in der die chinesischen Könige zwar weiterhin zu den Klügsten in ihrem Reich gehörten, aber nicht mehr so tugendhaft wie Yao oder Shun waren. Die Herrscher ließen zunehmend von den überlieferten Weisheiten der mythischen Urkaiser ab und ein gesellschaftlicher „Sittenverfall“ setzte ein. Sima Qian (145–90 v. Chr.), der „Herodot“ der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung und einer der sogenannten drei „Großen

26 Vgl. David S. Nivison, The Life and Thought of Chang Hsüeh-ch’eng (1738–1801), Stanford 1966, S. 147– 148. 27 Dieter Kuhn, Einführung in die Gegenwart des Altertums in China, in: Die Gegenwart des Altertums. Formen und Funktionen des Altertumsbezugs in den Hochkulturen der Alten Welt, hrsg. v. Dieter Kuhn/Helga Stahl, Heidelberg 2001, S. 55–82, hier S. 60. 28 Shujing, The Chinese Classics. With a Translation Critical and Exegetical Notes, Prolegomena, and Copious Indexes, Band 3/1, hrsg. v. James Legge, Hongkong 1865, S. 15. 29 Ebd., S. 29. 30 Thomé H. Fang, Chinese Philosophy. Its Spirit and Its Development, Taipeh 1981, S. 488–489. 12

Historiker“ Chinas, beschreibt den kulturellen Niedergang in seinem „Shiji“31 in kurzer und prägnanter Weise. „The government of the Xia dynasty was marked by honesty, which in time deteriorated until mean men had turned it into rusticity. Therefore the men of Shang who succeeded the Xia reformed this defect through the virtue of reverence. But reverence degenerated until mean men had made it a superstitious concern for the spirits. Therefore the men of the Zhou who followed corrected this fault through cultivation.“32 Bereits im 1. Jahrhundert v. Chr., zu der Zeit, in der Sima Qian sein Werk verfasste, hatte sich in seinen Grundfesten schon jenes Geschichtsbewusstsein über die mythische Vorzeit herausgebildet, das die neokonfuzianischen Gelehrten rund zweitausend Jahre später noch vertreten sollten. Verurteilt die letzten Herrscher der Xia-Dynastie (2205–1675 v. Chr.) und der Shang-Dynastie (1675–1046 v. Chr.), doch lobt die der „Westlichen Zhou-Dynastie“ (1046–770 v. Chr.)! – dieses moralisierende Geschichtsverständnis war bis ins 20. Jahrhundert Konsens im Bezug auf die Rezeption der chinesischen Frühgeschichte. Und auch der qing-zeitliche Gelehrte Zhang Xuecheng (1738–1801) beschrieb dieses rudimentäre Verständnis der Vergangenheit in seiner Schrift „Shih Te“ (Virtue in an Historian) wie folgt: „As for approving of Yao and Shun and condemning Jie and Zhou, these are things everyone knows to say.“33 Und fürwahr, der letzte Kaiser Jie (1728–1675 v. Chr.) der Xia-Dynastie galt zusammen mit dem letzten Kaiser Zhou (1105–1046 v. Chr.) der Shang-Dynastie in der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung als Musterbeispiel für einen „untugendhaften“ Herrscher. Sima Qian (145–90 v. Chr.) gibt uns in seinem „Shiji“ Auskunft über den verwerflichen Charakter von Jie und Zhou. Jie habe einen verschwenderischen Lebensstil geführt, Sklaven am Hofe gehalten und sein Volk mit brutaler Grausamkeit regiert. Zhou hingegen, am Beginn seiner Regierungszeit noch ein tugendhafter Mann, verfiel mit zunehmendem Alter sowohl dem Alkoholismus als auch den Frauen und fing darüber hinaus an, am Foltern gefallen zu finden. Es heißt, er wäre ein so schlechter Mensch gewesen, dass er sogar seinem tugendhaften Onkel Bi Gan das Herz herausreißen ließ; nur um zu wissen, wie denn das Herz eines Weisen wohl auszusehen hätte.34 Wie glaubhaft solche Zuschreibungen sind, bleibt

31 Beim „Shiji“ (Aufzeichnungen des Großen Historikers) handelt es sich um die erste der 24 Dynastiegeschichten. Das Geschichtswerk von Sima Qian gilt als stilbildend, weil sich „der Großteil“ der später lebenden chinesischen Historiker bei der Abfassung ihrer eigenen Werke an der Gliederung des „Shijis“ orientierten. 32 Sima Qian, Shiji 16 (Reflections on the Rise of Emperor Kao-tsu), übersetzt von Burton Watson, in: Records of the Historian. Chapters from the Shih chi of Ssu-ma Ch’ien, translated by Burton Watson, New York 1969, S. 145–146. 33 Zhang Xuecheng, Shih te (Virtue in an Historian), 1791, translated by Philip J. Ivanhoe, in: On Ethics and History, S. 78. 34 S. J. Marshall, The Mandate of Heaven. Hidden History in the Book of Changes, New York 2001, S. 31. 13 fraglich. Denn wie auch für die Pharaonen des 2. Jahrtausends v. Chr. in Ägypten lässt sich nur wenig über die Wesenszüge der chinesischen Kaiser und Könige der Frühgeschichte sagen. Mutmaßungen über deren Charakter beruhen stets nur auf vagen Vermutungen. Und dennoch: Für die konfuzianischen Gelehrten der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) stand tausend Jahre später außer Frage, dass vom Beginn der Xia-Dynastie (2205–1675 v. Chr.) bis ins 11. Jahrhundert v. Chr. die Moral und Tugend in der Gesellschaft insgesamt zurückgegangen waren.35

1.2. Über eine „prächtige“ Dynastie und „fehlgeleitete Männer“. Die Zhou-Dynastie Betrachtet man an diesem Punkt einmal zusammenfassend, wie die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung ihre eigene Frühgeschichte in ihren Grundzügen verstand, ergibt sich folgendes Bild: Am Anbeginn der Zeit stehen die fünf mythischen Urkaiser, die das konfuzianische Gesellschaftsmodell erschufen. Sie gelten grundsätzlich als „tugendhaft“ und weise. Diesen folgen die zwei Dynastien der Xia (2205–1675 v. Chr.) und Shang (1675–1046 v. Chr.) nach, unter denen die Moral in der Gesellschaft sukzessive zurückging und sich der „Konfuzianismus“ in eine falsche Richtung zu entwickeln begann. Die Zeitabschnitte, in denen die Xia- sowie Shang-Dynastie herrschten, wurden beiderlei im Vergleich zu den Herrschaftszeiten der mythischen Urkaiser als „durchwachsene“ Perioden in der chinesischen Geschichte angesehen. Beendet wurde diese mehr als eintausend Jahre andauernde und durch einen moralischen „Sittenverfall“ geprägte Periode, in der die Xia und Shang regierten, erst wieder durch die Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr.). Genauer gesagt war es ein gewisser Mann namens Ji Fa, Begründer der Zhou-Dynastie, der dafür Sorge trug, dass die untugendhafte Shang-Dynastie gestürzt werden konnte. Denn Ji Fa, der als der „große König“ Wu († 1043 v. Chr.) in die Geschichte einging, entfachte eine Rebellion gegen die despotische Shang-Dynastie und ließ den letzten Shang-Herrscher namens Zhou in seinem brennenden Palast zu Tode kommen.36 Entgegen der untugendhaften Shang-Herrscher gingen König Wu und die auf ihn nachfolgenden Zhou-Herrscher wiederum als Männer in die Geschichte ein, die sich hauptsächlich durch ihre moralischen Qualitäten, ihre Weisheit, ihre Güte und ihre liebevolle

35 Vgl. Edward Slingerland, Classical Confucianism (I). Confucius and the Lun-Yü, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 107–136, hier S. 111–112. 36 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 62. 14

Sorge um das Volk auszeichneten.37 Die Zhou wurden zu einem Gegenbild der vorangehenden Xia und Shang stilisiert. Ihre Herrschaftszeit gilt als eine „helle“, eine „strahlende“ Epoche, in der sich die Menschen wieder auf die Weisheiten der Alten beriefen und Moral sowie Tugend wieder großgeschrieben wurden. Die Zeit, in der die letzte „große“ Dynastie des Altertums über „ganz“ China herrschte, galt und gilt auch heute noch als ein „Goldenes Zeitalter“ innerhalb der chinesischen Geschichte.38 Die Zhou erfuhren eine durchwegs positive Rezeption vonseiten der chinesischen Geschichtsschreibung und auch der große Philosoph Kongzi (551–479 v. Chr.) soll von den Qualitäten der Zhou überzeugt gewesen sein und gesagt haben: „The Zhou, as compared with the two previous dynasties – how magnificent is its culture! I follow the Zhou.“39 Doch auch die Zhou, so „tugendhaft“ sie sich unter ihren ersten Herrschern auch zeigten, vermochten es dennoch nicht, länger als achthundert Jahre zu bestehen. Denn auch ihre Herrscher waren letztendlich nicht davor gefeit, dass die Tugend unter ihnen über die Jahrhunderte hinweg zu schwinden begann.40 In den ersten zwei Jahrhunderten des ersten Jahrtausends v. Chr. hatten es die Zhou noch geschafft, große Teile Chinas unter ihrer Herrschaft zu vereinen. Ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. nahm die Bedeutung der Zhou jedoch stetig wieder ab. Kleinere Territorialherrscher sagten sich von der Zentralmacht los und das auf Tributzahlungen angewiesene Reich versank zunehmend in Chaos. Die heutige Forschung geht davon aus, dass die Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr.) sich bis ins 8. Jahrhundert v. Chr. territorial zu schnell und zu expansiv ausgedehnt hatte. Militärisch konnte das neu hinzugewonnene Gebiet auf Dauer nicht gegen die immer wieder aufkeimenden Aufstände im Inneren verteidigt werden. Hinzu kam, dass sich die Zhou immer häufiger gegen „Barbarenangriffe“ aus dem Nordwesten und Südwesten erwehren mussten.41 Das Reich implodierte und im 7. Jahrhundert v. Chr. waren die Zhou in China nur noch ein Machtfaktor neben vielen anderen. Doch für die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung waren es weder Regionalfürsten noch Barbaren, denen die Hauptschuld für den Untergang der Zhou zugesprochen wurde. Vielmehr war es der unheilvolle Einfluss einer einzigen schönen Frau, der die Zhou zu stürzen vermochte. Bekannt wurde die Frau unter dem Namen Bao Si (792–771 v. Chr.). Laut

37 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 63. 38 Vgl. Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 18. 39 Kongzi, Lunyu 3.14, übersetzt von Robert Eno, in: The Analects of Confucius. An Online Teaching Translation (http://www.indiana.edu/~p374/Analects_of_Confucius_(Eno-2015).pdf), Indianapolis 2015, S. 11. 40 Slingerland, Classical Confucianism, S. 115. 41 Vgl. Michael Weiers, Geschichte Chinas. Grundzüge einer politischen Landesgeschichte, Stuttgart 2009, S. 21. 15 der traditionellen Erzählung machte diese dem zwölften König You (795–771 v. Chr.) schöne Augen und verlangte, dass der Herrscher falschen Alarm geben sollte. You der Vernunft – die er eigentlich als Zhou-Regent besaß – beraubt, entzündete die Warnfeuer und ließ seine Truppen sowie die der tributpflichtigen Regionalfürsten ohne einen triftigen Grund aufmarschieren. Lediglich um eine Frau zu amüsieren, hatte er durch diese Aktion das Vertrauen seiner Vasallen verspielt. Als ein Barbarenheer der Rong42 kurze Zeit später einen wirklichen Angriff aus dem Westen startete, eilte niemand mehr You zu Hilfe. Die Rong brandschatzten die Hauptstadt, ermordeten König You und beendeten damit die hegemoniale Stellung der Zhou in China.43 Egal ob man nun der traditionellen Erzählung oder dem Narrativ der neueren Forschung folgen will – Fakt ist, dass sich die Herrschaftsverhältnisse in China um 771 v. Chr. nachhaltig zu ändern begannen. Auf eine Phase, in der einzelne Dynastien über den Großteil des chinesischen Kulturraums regierten, folgte eine Zersplitterung der Gebiete in viele „Kleinstaaten“.44 Der hegemonial herrschenden „Westlichen Zhou-Dynastie“ (1046–770 v. Chr.) gingen zwei Zeitperioden nach, in denen die Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr) zwar weiterhin – in Form der „Östliche Zhou-Dynastie“ (770–256 v. Chr.) – bestand, jedoch mit einer Vielzahl von nebeneinander gleichzeitig exisitierenden Kleinreichen militärisch um die Vorherrschaft streiten musste. Die erste dieser Epochen wird „Periode der Frühlings- und Herbstannalen“ (Chunqiu) genannt und dauerte von 770 bis 476 v. Chr. Bei der zweiten handelt es sich um die sogenannte „Zeit der Streitenden Reiche“ (476–221 v. Chr.).

1.3. Über den Fürsten von Zhou, Kongzi und die Entstehung der „kanonischen Schriften“ des Konfuzianismus. Die „Zeit der Frühlings- und Herbstannalen“ Die Zhou waren die letzte „große“ Dynastie des Altertums. Auf sie folgte eine Zeit von Chaos und Krieg – eine lange Zeitperiode der „kulturellen Dunkelheit“. Zumindest sahen die konfuzianischen Gelehrten der späteren Epochen dies so. Für sie waren die Zhou die Letzten, die den „reinen“ Konfuzianismus hochleben ließen.45 Sie galten als die Letzten, die noch den

42 Mit dem Begriff Rong (auch Xirong) wurden im chinesischen Altertum jene Menschen bezeichnet, die westlich des Einflussgebietes des „Reiches zwischen den Vier Meeren“ lebten. Ins Deutsche übersetzt, bedeutet Rong in etwa „kriegerische Fremde“. Feng Li, Landscape And Power In Early China. The Crisis and Fall of the Western Zhou, 1045–771 BC, Cambridge 2006, S. 286. 43 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 78. 44 Joseph Needham, Introductory Orientations (Science and Civilisation in China 1), Cambridge 1954, S. 91. 45 Vgl. Robert P. Kramers, The Development of the Confucian Schools, in: The Ch'in and Han Empires. 221 BC–AD 220, hrsg. v. Denis Twitchett/Michael Loewe (The Cambridge 1), Cambridge 1986, S. 747–765, hier S. 748. 16 unverfälschten Traditionen der Altvorderen nachgingen, und sie waren die Letzten, die ihre Herrscher nach dem konfuzianischen „Gesellschaftsverständnis“ korrekt auswählten. Denn die Menschen „nominierten“ unter der erhabenen Zhou-Dynastie – mit der im Übrigen immer die „Westliche Zhou-Dynastie“ (1046–770 v. Chr.) gemeint war – ihre Könige genauso, wie die Menschen ihre Kaiser in der mythischen Vorzeit ausgewählt hatten. Die Zhou-Könige wurden – so das Narrativ – wie einst die Urkaiser auch, zu Regenten auserkoren, weil sie die klügsten und tugendhaftesten Männer ihrer Zeit waren. Und nicht etwa, weil es sich bei ihnen um die besten militärischen Anführer handelte oder ein Geburtsrecht sie legitimierte. Damit lebten die Zhou im Verständnis der späteren Gelehrten das konfuzianische Gesellschaftsideal, in dem der Dienst am „Staat“ im Fokus des Interesses lag und private Interessen stets hintangestellt wurden.46 Neben all den berühmt gewordenen Zhou Königen, wie Wen (1112–1050 v. Chr.) und Wu (†1043 v. Chr.), ist es jedoch vor allem ein weiser Herrscher, der das Geschichtsbewusstsein von Kongzi sowie den späteren Gelehrten-Generationen prägen sollte und zu einer positiven Rezeption der Zhou führte. Der in der Qing-Zeit (1644–1911) lebende Gelehrte Zhang Xuecheng (1738–1801) beschreibt ihn in seiner Schrift „Yuan dao“ (On the Dao) wie folgt: „The Duke of Zhou, being a sage endowed by Heaven with pure knowing, and happening to live at a time when the accumulated wisdom of antiquity had been transmitted and preserved and the Dao47 and fa48 models were complete, was able to sum up, in his principles and policies, the ‚complete orchestra’ of all past time.”49 Es war der „Fürst von Zhou“ (um 1050 v. Chr.), der Sohn des Begründers der Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr.), der den Menschen in schriftlicher Form die gesammelten Weisheiten seiner Vorväter hinterließ. Ohne ihn wäre „alles“ verloren gewesen. Ohne ihn gäbe es nichts – keine Moral und keine Tugend, denn die Lehren aus der mythischen Vorzeit konnten letztlich nur aufgrund seines Wirkens die Zeiten überdauern. Der Sage nach ist es nämlich hauptsächlich dem intellektuellen Wirken von Ji Dan (um 1050 v. Chr.), eben jenem „Fürsten

46 Vgl. Hans van Ess, Der Konfuzianismus, München 2003, S. 27. 47 Der Begriff „dao“ kann unmöglich ins Deutsche übersetzt werden. Das „Daodejing“ beginnt mit den Worten: „Ein dao, von dem man reden kann, ist nicht ein beständiges dao“. Schon diese erste Aussage impliziert: „dao“ ist sprachlich nicht fassbar und dennoch allumfassend. Es ist ein Weltbegriff, der den universellen Zusammenhang aller Dinge ausdrücken soll – ein Überbegriff, der alles Beschreibbare beschreibt und selbst doch nicht beschrieben werden kann. Zur Bedeutung des Begriffes „dao“ siehe: Hans van Ess, Der Daoismus, S. 10–16. 48 Genauso wie der Begriff „dao“ ist auch der Begriff „fa“ eigentlich nicht übersetzbar. Philip J. Ivanhoe versucht das „fa“ mit „Proper Models“ zu übersetzen. Chris Fraser übersetzt es mit „models/paradigms/standards/laws“. In diesem Quellenausschnitt bezieht sich der Begriff „fa“ auf die Art des Regierens. Der Fürst von Zhou hatte das „fa“ – die richtigen Modelle/Gesetze – von seinen Vorfahren überliefert bekommen. Zur Bedeutung des Begriffes „fa“ siehe: Chris Fraser, The Mohist School, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 137–163, hier S. 142–144. 49 Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), S. 28–29. 17 von Zhou“, zu verdanken, dass das Wissen um den „reinen“ Konfuzianismus über die Jahrhunderte hinweg nicht verloren gegangen ist. Er soll all die Weisheiten aufgezeichnet haben, die ursprünglich von den mythischen Urkaisern erdacht wurden und sich bis in seine Zeit durch mündliche Überlieferung erhalten hatten.50 Der „Fürst von Zhou“, weise wie er war, bemerkte die Notwendigkeit des „Übermittelns“ der Lehren seiner Vorväter, um einem erneuten Sittenverfall in der Zukunft – wie zu den Xia- und Shang-Zeiten – in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Er sammelte das Wissen um den „reinen“ Konfuzianismus, um es so der Nachwelt zu hinterlassen. Auf den Kulturheroen Zhou würden, so die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung, zwei der fünf „Konfuzianischen Klassiker“ zurückgehen. Das „Buch der Wandlungen“ (Yijing) sowie das „Buch der Urkunden“ (Shujing) sollen größtenteils aus seiner Feder stammen. Außerdem gilt er als Übermittler der „Riten von Zhou“, bei dem es sich um den bedeutendsten Text im „Buch der Riten“ (Liji) handelt. Entgegen den Vertretern der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung glaubt heute niemand, der sich objektiv mit der Entstehung der „Konfuzianischen Klassiker“ auseinanderzusetzen versucht, noch daran, dass der „Fürst von Zhou“ (um 1050 v. Chr.) höchstpersönlich all diese Werke zusammengefasst haben soll.51 Doch das heutige Geschichtsverständnis unterscheidet sich nun einmal bei weitem von jenem des alten Chinas, in dem die konfuzianischen Klassiker noch als unverrückbare Werke galten, die man in ihrer Bedeutungskraft mit der Bibel im christlich geprägten europäischen Raum gleichsetzen könnte. Zwar stritt man stets über die philosophische Auslegung der Texte, doch deren Entstehungszeit und deren Autoren wagte man nicht zu hinterfragen. Auch der durchaus kritische Han Yu (768–824) tat dies im 8. Jahrhundert n. Chr. nicht, wie man aus seinem „Yuan dao“ herauszulesen kann:

„Yao überlieferte es an Shun, Shun überlieferte es an Yu, Yu überlieferte es an Tang, Tang überlieferte es an [König] Wen, [König] Wu und den Herzog [Fürsten] von Zhou; [König] Wu und der Herzog [Fürst] von Zhou überlieferten es Konfuzius, und Konfuzius überlieferte es Menzius. Nach dem Tode des Menzius gab es niemanden, der die Überlieferung weitergegeben hätte.“52 Han Yu veranschaulicht uns in dieser Textpassage eine auf den ersten Blick lückenlose Übermittlungslinie. Es klingt fast so, als wären die genannten Personen zeitlich knapp aufeinander gefolgt, als hätten sich Yu und Tang persönlich gekannt, als wäre der Fürst von Zhou ein Zeitgenosse von Kongzi gewesen. Doch dem war nicht so – zwischen dem

50 Vgl. Yu-lan Fung, The Period of the Philosophers, From the Beginning to Circa 100 B.C. (A History of Chinese Philosophy 1), translated by Derk Bodde, Princeton 41966, S. 54–56. 51 Vgl. Tanner, China. A History, S. 76. 52 Han Yu, Yuan dao, zitiert nach Christoph Kaderas, Das Yuan dao des Han Yu (768-824), S. 266. 18

Begründer der Xia-Dynastie Yu (†2147 v. Chr.) und dem Begründer der Shang-Dynastie Tang (1778–1742 v. Chr.) lagen gut dreihundert und zwischen dem Herzog von Zhou (um 1050 v. Chr.) und Kongzi (551–479 v. Chr.) sogar mehr als fünfhundert Jahre. Die Übermittlung der konfuzianischen Lehre war bei weitem nicht so lückenlos, wie Han Yu es in seiner Abhandlung „Yuan dao“ darzustellen versuchte. Doch was uns Han Yu in dieser Textpassage in wenigen Zeilen über die Übermittlungslinie der chinesischen Philosophie vermittelt, wurde spätestens ab dem 11. Jahrhundert n. Chr. zum kollektiven Geschichtsverständnis. Die späteren Konfuzianer glaubten fest daran, dass nachdem die letzte altertümliche Dynastie der Zhou im 7. Jahrhundert v. Chr. gefallen war, es kein Reich mehr gegeben habe, in dem der ursprüngliche, der „reine“ Konfuzianismus der Altvorderen gelebt wurde. Nach dem vorherrschenden Geschichtsbild der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung war der Fürst von Zhou (um 1050 v. Chr.) der Letzte, der die Lehren seiner Vorfahren in ihrer Ursprünglichkeit übermittelt bekam. Doch glücklicherweise habe der Fürst von Zhou das gesammelte Wissen, das er über seinen Vater König Wen von den altehrwürdigen Kulturheroen erhalten hatte, aufgezeichnet und es weitergegeben. An Kongzi (Konfuzius), der dessen schriftlichen Nachlass rund fünfhundert Jahre später heranzog, um die „Fünf Klassiker“, die später zu den kanonischen Schriften des Konfuzianismus heranreifen sollten, zu komplettieren.53 Glaubt man der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung, dann soll Kongzi sich selbst als jemand betrachtet haben, der die auf ihn gekommene Bildung weitergeben wollte.54 Über sich selbst soll er gesagt haben: „I transmit rather than innovate. I trust in and love the ancient ways.“55 Kongzi versuchte den ursprünglichen Konfuzianismus zu begreifen und diesen für die Nachwelt zu erhalten. Deshalb verwendete er seine gesamte Lebenszeit darauf, all die Lehren aus dem Altertum zu sammeln und zu konservieren.56 „Der Meister“, wie Kongzi zumeist genannt wurde, schrieb die „Frühlings- und Herbstannalen“ (Chunqiu)57, verfasste den Großteil des „Buches der Riten“ (Liji)58 und trug darüber hinaus rund dreitausend Lieder für das „Buch der Lieder“ (Shijing) zusammen.59 Doch damit nicht genug. Des Weiteren wird ihm nachgesagt, er habe sich auch intensiv mit den zwei bereits

53 Siehe hierzu Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), S. 30. 54 Van Ess, Der Konfuzianismus, S. 21. 55 Kongzi, Lunyu 7.1., übersetzt von Robert Eno, in: The Analects of Confucius. An Online Teaching Translation (http://www.indiana.edu/~p374/Analects_of_Confucius_(Eno-2015).pdf), Indianapolis 2015. 56 Vgl. Slingerland, Classical Confucianism (I). Confucius and the Lun-Yü, S. 114–149. 57 Van Ess, Der Konfuzianismus, S. 10. 58 Ebd., S. 12. 59 Ebd., S. 29. 19 bestehenden Klassikern auseinandergesetzt, das Vorwort zum „Buch der Urkunden“ verfasst und das „Buch der Wandlungen“ kommentiert.60 Heute ist wohl jedem seriösen Historiker bewusst, dass Kongzi nicht der alleinige Urheber all dieser Schriften gewesen sein kann. Zwar schließt die heutige Forschung nicht aus, dass einzelne Textpassagen der „Fünf Klassiker“ auf den „Meister“ zurückzuführen sind, doch für den Großteil der Texte ist sich die heutige Geschichtswissenschaft einig, dass sie von einer Vielzahl anderer Gelehrter, deren Namen uns zumeist nicht überliefert sind, zusammengestellt wurden.61 Von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung wurde Kongzi jedoch zu einem Kulturheron stilisiert, der alle anderen Gelehrten in seiner Weisheit zu überstrahlen vermochte. Allein ihm wäre es zu verdanken, dass die Werke vom Fürsten von Zhou (um 1050 v. Chr.) und die übrigen gesammelten Weisheiten aus dem Altertum in der turbulenten „Epoche der Frühlings- und Herbstannalen“ (770–476 v. Chr.) nicht verloren gegangen sind.62 Vertraut man auf die traditionelle Sichtweise, dann versuchte „der Meister“ die ursprüngliche Form der konfuzianischen Lehre zu ergründen, indem er sich intensiv mit dem Altertum auseinandersetzte. Für ihn stand fest, dass es die „pure Weisheit“ nur in den vergangenen Zeiten gegeben hatte.63 Doch Kongzi war in seinem Schaffen immer nur – wie er selbst über sich gesagt haben soll – „ein Übermittler und kein Erschaffer“64. Denn die Zeitperiode, in der die ursprünglich reine Lehre noch neue philosophische Aspekte hinzugewinnen konnte, war mit dem Untergang der „Westlichen Zhou-Dynastie“ (1046–770 v. Chr.) beendet. So brachte Kongzi selbst keine neuen Gesichtspunkte in die bereits vorhandenen Weisheiten des Altertums ein. Er sammelte lediglich das schon vorhandene Wissen und kommentierte es – selbst erschuf er nichts. Jedenfalls nicht wissentlich, denn zu seinen Lebzeiten konnte er nicht erahnen, dass die Kommentare, die sogenannten „Analekten“ oder „Gespräche des Konfuzius“65 (Lunyu), die

60 Das „Buch der Urkunden“ sowie das „Buch der Wandlungen“ sollen vom Fürsten von Zhou verfasst worden sein. Hans van Ess, Der Konfuzianismus, S. 30. 61 Vgl. Iso Kern, Das Wichtigste im Leben. Wang Yangming (1472–1529) und seine Nachfolger über die «Verwirklichung des ursprünglichen Wissens» 致良知, Basel 2010, S. 16. 62 Siehe hierzu Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), S. 34. 63 Slingerland, Classical Confucianism (I). Confucius and the Lun-Yü, S. 116. 64 Vgl. Kongzi, Lunyu 7.1., übersetzt von Robert Eno, in: The Analects of Confucius. An Online Teaching Translation (http://www.indiana.edu/~p374/Analects_of_Confucius_(Eno-2015).pdf), Indianapolis 2015. 65 Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 61. Das Lunyu umfasst eine Sammlung von rund fünfhundert Gesprächsnotizen und Aussprüchen. Es stammen jedoch lediglich die Bücher drei bis neun aus der Zeit des Konfuzius, die übrigen Texte wurden in der Form, wie sie uns überliefert sind, erst im 2. Jahrhundert v. Chr. zusammengestellt. 20 ihm zugeschrieben wurden, in späteren Zeiten ihrerseits den Rang von konfuzianischen Klassikern erhalten sollten.

1.4. Über das Zeitalter der großen Philosophen. Die „Zeit der Frühlings- und Herbstannalen“ Der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebende Philosoph Mengzi (370–290 v. Chr.) soll über Kongzi berichtet haben, dass dieser der Einzige gewesen sei, „[…] über den gesagt werden kann, er habe das ‚komplette Orchester‘ zusammengefasst.“66 Laut Mengzi war Kongzi also der Letzte, dem es möglich war, das „Komplette Orchester“ – das heißt, die gesamten konfuzianischen Weisheiten des Altertums – zusammenzufassen. Doch Mengzis Behauptung, dass die „Fünf Klassiker“ die „komplette Sammlung“ der konfuzianischen Lehren seien, ist bei einer genaueren Betrachtung trügerisch. Denn selbst der „Meister“ konnte sich seinerzeit bei der Komplettierung des „gesamten Orchesters“ nur noch auf bruchstückhaft erhaltene Überlieferungen aus dem Altertum beziehen. Denn die vorherrschende Ansicht war die, dass der Großteil der Weisheiten aus der mythischen Vorzeit bis zum 5. Jahrhundert v. Chr. bereits unwiederbringlich verloren gegangen seien. Die konfuzianischen Klassiker waren letztendlich nur eine Sammlung von antiken Textfragmenten.67 Im „Liji“ (Buch der Riten), das von Kongzi (551–479 v. Chr.) persönlich zusammengestellt worden sein soll, heißt es etwa wie folgt: „Pride should not be allowed to grow; the desires should not be indulged; the will should not be gratified to the full; pleasure should not be carried to excess.“68 Das „Liji“ und die anderen Klassiker bestehen zum vorwiegenden Teil aus ähnlich schwer zu deutenden Textstellen. Die an Kongzi überlieferten Traditionen über Tugend, Moral und Staatsführung waren unvollständig und kryptisch. Weil der „Meister“ das Wissen aus dem Altertum selbst nur überliefert bekam und er persönlich keine weiterführenden Erklärungen zu den Textstellen gab, waren die Klassiker schwer zu verstehen – ihre ursprüngliche Bedeutung – so heißt es – wusste einzig und alleine Kongzi. Bis zum 8. Jahrhundert v. Chr., das heißt, bevor die ersten beiden „Klassiker“ komplettiert wurden, konnten noch neue philosophische Einflüsse in die konfuzianische Lehre Eingang finden. Mit der Zusammenstellung der drei konfuzianischen Klassiker sowie der Edition der

66 Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), S. 29. 67 Vgl. Albert Cavin, Der Konfuzianismus (Die Grossen Religionen der Welt 8), aus dem Französischen übertragen von Elinor Lipper, Genf 21981, S. 101–102. 68 Liji. Quli 2, translated by James Legge, in: Chinese Text Project, [http://ctext.org/liji/qu-li-i], eingesehen am 22.05.2018. 21 zwei bereits bestehenden durch Kongzi, endete diese Möglichkeit jedoch. Spätestens ab Kongzi stand der unverrückbare konfuzianische Kanon aus den „Fünf Klassikern“ in seinen Grundsätzen fest. Dies mag – aus heutiger Sicht – wohl vor allem mit dem Aufkommen der Schrift im ersten Jahrtausend v. Chr. zu tun haben. Denn mit der zunehmenden Verschriftlichung, die sich im 1. Jahrtausend v. Chr. in allen Bereichen der Gesellschaft zeigte69, ging eine erste Kanonisierung der konfuzianischen Lehre einher. In dem man die Weisheiten der Alten niederschrieb, wurden sie unverrückbar. Der „Meister“ hatte alles verbliebene Wissen über die Lehren des Altertums gesammelt, seine Arbeit war getan. Kongzi hatte das „komplette Orchester“ zusammengefasst – und einer vollkommenen und abgeschlossenen Sammlung gab es nun einmal nichts mehr hinzuzufügen. All die berühmt gewordenen konfuzianischen Philosophen nach Kongzi, sei es nun Mengzi (ca. 370–290 v. Chr.), Han Yu (768–824), Zhu Xi (1130–1200) oder Wang Yangming (1472– 1529) – sie alle suchten nach der ursprünglichen Auslegung der konfuzianischen Lehre, indem sie die „Fünf Klassiker“ unterschiedlich interpretierten. Keiner der späteren Gelehrten hinterfragte dabei die Echtheit des konfuzianischen Kanons, sodass die „Klassiker“ stets kanonische Schriften blieben. Da das ursprüngliche Verständnis über die „Fünf Klassiker“ mit dem Tode des „Meisters“ verloren gegangen war, gab es stets einen großen Spielraum für Neuinterpretationen der eigenen Lehre. Denn niemand wusste genau, wie der ursprüngliche Konfuzianismus denn nun wirklich ausgesehen hatte. Auf Basis der „Klassiker“ versuchte man die Lehre des Altertums zu rekonstruieren und jeder der später lebenden „weisen Männer“ (Shengren) behauptete, die Lehren vom Fürsten von Zhou (um 1050 v. Chr.) sowie Kongzi in ihrer Gänze verstanden zu haben und damit der ursprünglichen „reinen“ Lehre am nächsten zu sein. So entwickelte sich in China eine breitgefächerte Rezeptionskultur der konfuzianischen Lehre, aus der sich über die Jahrhunderte hinweg jene Vielzahl von unterschiedlichen konfuzianischen „Schulen“ herausbildete, die wir heute kennen. Der Gelehrte Zhang Xuecheng (1738–1801) schrieb im 18. Jahrhundert in Bezug auf die kanonischen Werke: „Nevertheless, the great principles of the Six Classics70 shine forth like the sun and the stars and what has been deleted from or added (to them) since the time of the Three Dynasties can be inferred for a hundred generations thereafter. The evident points can quickly be discovered in their general scope, and the more obscure aspects can gradually be understood by studying the course of their

69 Vgl. Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 18–26. 70 Ursprünglich soll es nicht nur fünf, sondern „Sechs Klassiker“ gegeben haben. Doch über den Verbleib des sechsten Klassikers, dem „Buch der Musik“, ist man sich bis heute uneins. Zum einen könnte es die Jahrhunderte nicht überdauert haben und verloren gegangen sein. Oder zum anderen wurde es möglicherweise in das „Buch der Riten“ (Liji), im Kapitel Yueji („Records of Music“) implementiert. Näheres zum Verbleib des sechsten „Klassikers“ nachzulesen in: Kern, Wang Yangming. 22 history. The evident points can quickly be discovered in their general scope, and the more obscure aspects can gradually be understood by studying the course of their history. The resource (for understanding) them is close at hand; the ability is something that everyone possesses. And so, every person can personally grasp their (true meaning). How can one cling to a single, fixed model and try to force agreement?”71 Die großen Prinzipien der „konfuzianischen Lehre“ können seit den „Drei Dynastien“72 (Xia/Shang/Westlichen Zhou) des Altertums „für hundert Generationen danach abgeleitet werden“. Diese vom qing-zeitlichen Gelehrten geäußerte Aussage impliziert, dass die allgemeinen Grundsätze der konfuzianischen Geisteshaltung sich aus den Klassikern klar herauslesen lassen. Nächstenliebe, Rechtschaffenheit, die Situierung des eigenen Anstandes, die rechtmäßige Verehrung der Eltern, Lehrer und Herrscher73 – all diese „großen Prinzipien“ finden sich in den Klassikern. Jeder kann ihre Bedeutung sowie ihren Nutzen für die Gesellschaft durch das Studium der kanonischen Schriften verstehen. Doch da jedermann für sich selbst die großen Prinzipien unterschiedlich begreifen kann, jeder beispielsweise für sich persönlich ein anderes Verständnis von Rechtschaffenheit oder Nächstenliebe hat, wie kann man da erwarten, dass es jemals eine allgemeingültige Interpretation der konfuzianischen Lehre und ihrer Klassiker geben kann? In ihrer Funktion übt die Bibel als „Heilige Schrift“ einen normativen Anspruch auf alle Konfessionen des Christentums aus. Ob Katholiken, Lutheraner, Reformierte, Anglikaner, Baptisten oder Methodisten – sie alle berufen sich auf die fixierten Worte in der Bibel. Ähnlich der dem Christentum zugrunde liegenden Bibel kann man die „Fünf Klassiker“ gewissermaßen als die „Heiligen Schriften“ des Konfuzianismus ansehen. Es gibt einen Schriftkorpus, einen „gemeinsamen Glaubensgrundsatz“, aber etliche hundert verschiedene Konfessionen. Eine allgemeingültige Auslegung des Konfuzianismus gab es nie und eigentlich konnte es eine solche auch nicht geben. Fast jede Dynastie in der chinesischen Geschichte berief sich auf eine andere Interpretation der kanonischen Schriften, auf eine andere „Schule“, die den Konfuzianismus neu auszulegen versuchte. So dominierte etwa unter der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) die „Alttext-Schule„ (Guwen Ching) und die „Neutext-Schule“ (Jinwen)74, wogegen es unter der Yuan-Dynastie (1271–1368) die „Cheng-Zhu-Schule“ und

71 Zhang Xuecheng, Po Yüeh (On Breadth and Economy), 1789, translated by Philip J. Ivanhoe, in: On Ethics and History, S. 74. 72 Mit den „Drei Dynastien“ waren gemeinhin die altertümlichen Dynastien der Xia (2205–1675 v. Chr.), Shang (1675–11046 v. Chr.) und Westlichen Zhou (1046–770 v. Chr.) gemeint. 73 Näheres zu den Kardinaltugenden des Konfuzianismus nachzulesen in: Yu-lan Fung, The Period of the Philosophers, S. 66–72. 74 Näheres zur „Alttext-Schule“ sowie zur „Neutext-Schule“ nachzulesen in: Wolfgang Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie. Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus, München 2001, S. 131–138. 23 unter der Ming-Dynastie (1368–1644) die „Lu-Wang-Schule“75 war. Untereinander stritten die konfuzianischen Schulen über die Bedeutung einzelner Passagen in den Klassikern, über die Auslegung der Kommentare von Kongzi oder über Kommentare, die von berühmt gewordenen Gelehrten über Kongzis Kommentare verfasst wurden. Doch obschon es stets eine Fülle von Reibungspunkten zwischen den zahlreichen späteren konfuzianischen Schulen gab, vereinte sie alle stets ihre „Liebe“ zum Altertum und die Verehrung von Shun, Yao, Wu, Wen und Kongzi.

1.5. Über die vertrackte Suche nach einem funktionierenden Gesellschaftsystem. Die „Zeit der Streitenden Reiche“ Bis 220 v. Chr. breitete sich der Konfuzianismus in China immer weiter aus. Von einer einheitlichen Lehre konnte jedoch zu diesem Zeitpunkt schon keine Rede mehr sein. Denn bereits unter den Schülern des Kongzi hatte sich die konfuzianische Lehre, laut der Überlieferungstradition, in acht verschiedene Zweige aufgeteilt.76 Während der „Zeit der Streitenden Reiche“ (476–221 v. Chr.) ging die Zersplitterung weiter und bis zum Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. soll es hundert verschiedene Schulen gegeben haben.77 Ob der Konfuzianismus wirklich – wie von den späteren Gelehrten angenommen wurde – die bestimmende Lehre dieser Zeit gewesen ist, muss jedoch grundsätzlich hinterfragt werden. Denn neben der Lehre des „Königlichen Weges“ gab es in der „Zeit der Streitenden Reiche“ noch drei weitere bedeutende Philosophien, die gewissermaßen um die „Deutungshoheit“ in jener Epoche stritten. Neben der konfuzianischen existierten noch daoistische, legistische und mohistische78 Schulen, die allesamt gleichermaßen nach einem funktionierenden Gesellschaftsystem suchten. Nach einer „sozialen Organisationsform“, die sich in den vorchristlichen hierarchischen Gesellschaftssystemen Chinas etablieren ließ. Am Ende der „Zeit der Streitenden Reiche“ (476–221 v. Chr.) setzte sich zunächst der Legismus durch, eine „radikale“ Lehre, die sich neben den Schriften von Shen Buhai (365– 337 v. Chr.) und Shang Yang (†338 v. Chr.) hauptsächlich aber vor allem auf jene von Han

75 Bei der „Cheng-Zhu-Schule“ sowie der „Lu-Wang-Schule“ handelt es sich um die beiden einflussreichsten Schulen des Neokonfuzianismus. 76 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 109. 77 Needham, Introductory Orientations, S. 95. 78 Auf den Mohismus wird nicht näher eingegangen, da diese chinesische philosophische Strömung lediglich vom 5. bis zum 3. Jahrhundert v. Chr. einflussreich war. Nach dem 3. Jahrhundert v. Chr. ging sie teilweise im Konfuzianismus auf, verlor wesentlich an Bedeutung und hatte daher auch nur einen untergeordneten Einfluss auf die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung. Näheres über den Mohismus nachzulesen in: Chris Fraser, The Mohist School, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 137–163. 24

Fei (280–233 v. Chr.) stützte. Grundsätzlich gingen die Anhänger des Legismus von der Annahme aus, dass alle Menschen von Natur aus „schlecht“ seien. Sie nahmen an, dass die moralische Kultivierung des Einzelnen ebenso wenig von Sinnhaftigkeit geprägt war wie eine umfassende Erziehung der gesamten Gesellschaft.79 Da Individuen von Natur aus unmoralisch handeln würden und immer auf ihren eigenen Vorteil bedacht wären, sahen die Legisten nur eine Möglichkeit, auf Basis derer ein Staat ihrer Meinung nach aufgebaut werden konnte. Einzig durchdachte Gesetze und harte Vorschriften könnten als Grundlage für einen funktionierenden Staat dienen. Nur sie könnten das gemeine Volk „im Zaum halten“. Denn „[…] die Weisheit des Volkes ist nicht zu gebrauchen. Sie ist wie der Verstand eines Kleinkindes. […] Will man einem Kind den Kopf scheren oder ein Geschwür öffnen, muss es festgehalten werden, während die liebevolle Mutter es heilt, denn es wird unaufhörlich schreien und weinen, da es nicht versteht, dass ihm die Beseitigung eines kleinen Übels großen Nutzen bringt.“80 Das Volk begreift nicht. Es ist zu einfältig zu verstehen, warum der „Staat“ unliebsame Gesetze erlässt und in gewissen Situationen hart gegen seine eigene Bevölkerung vorgehen muss. Han Fei (280–233 v. Chr.) brachte mit seiner Metapher vom „Kleinkind“ (dem Volk) und der „liebevollen Mutter“ (dem Staat) die leitenden Prinzipien der legistischen Lehre auf den Punkt. In seinen Grundsätzen forderte der Legismus nämlich die Etablierung eines „starken Staates“, der sich für das Gemeinwohl des Reiches einsetzen sollte. Wenn nötig, müsse der Regierende für das Wohl des Reiches auch gegen sein eigenes Volk vorgehen. Was jedoch als das Gemeinwohl für die Bevölkerung galt, verordnete der Staat von „oben“. Eine Fülle von Gesetzen sollte das Zusammenleben der Menschen regeln und die Beständigkeit des „Staates“ garantieren.81 Die Überlegung der Legisten war: Wenn die Gesetzgebung gut ist und der Herrschende im Reich eine gefestigte Machtbasis hat, dann ist auch der Staat stark. Ist der Staat stark, zerfällt er nicht. Zerfällt er nicht, dann gibt es keine Kriege. Gibt es keine Kriege, dann wird es auch den Menschen zweifellos gut gehen. Wenn die Untertanen erlassene Gesetze nicht akzeptierten, dann müssten sie auf Linie gebracht werden. Um den vom Legismus erdachten „starken Staat“ etablieren zu können, dürfe ein Herrscher folglich selbst vor Terror und Gewalt nicht zurückschrecken. Im Zentrum der Lehren von Han Fei (280–233 v. Chr.) stand der Machterhalt der Herrschenden. Aus

79 Vgl. Yu-lan Fung, A Short History of Chinese Philosophy, edited by Derk Bodde, New York 21976, S. 162. 80 Han Fei, Han feizijishi 19, Kapitel 50, übersetzt von Wilmar Mögling, in: Die Kunst der Staatsführung, Die Schriften des chinesischen Meisters Han Fei, Köln 1994, S. 558. 81 Vgl. Derk Bodde, The State and Empire of Ch‘in, in: The Ch'in and Han Empires. 221 BC–AD 220, hrsg. v. Denis Twitchett/Michael Loewe (The Cambridge History of China 1), Cambridge 1986, S. 20–102, hier S. 74– 76. 25 diesem Grunde wurde der „Begründer“ des Legismus oftmals auch als der „Machiavelli Chinas“ bezeichnet.

1.6. Vom Zeitalter der Despoten und Gesetze. Die Qin-Dynastie Als Yin Zheng (260–210 v. Chr.) 221. v. Chr. die letzten unabhängigen chinesischen Staaten Yan und Qi besiegt hatte, endete die Epoche der „Zeit der Streitenden Reiche“ (476–221 v. Chr.). Yin Zheng, der sich selbst den Namen „Qin shi huangdi“ (Erster Erhabener Kaiser von Qin) gab, vermochte es, China nach rund 500 Jahren erstmals wieder unter einem Banner zu vereinen. Er erhob sich zum Kaiser von ganz China und strukturierte sein Reich nach den Lehren des Legismus.82 Der Geschichtsschreiber Sima Qian (145–90 v. Chr.) fasste diesen historischen Vorgang wie folgt zusammen. „The Qin ruler, having annexed the lands of all the other feudal lords, faced south and called himself an emperor, proprietor of all within the four seas […]. But the First Emperor was greedy and short-sighted, confident in his own wisdom, never trusting his meritorious officials, never getting to know his people. He cast aside the kingly Way and relied on private procedures, outlawing books and writings, making laws and penalties much harsher, putting deceit and force foremost and humanity and righteousness last, leading the whole world in violence and cruelty.“83 Der „große Historiker“ zeichnete in seinem Geschichtswerk ein äußerst düsteres Bild der Qin. Für ihn erschien der „Erste Erhabene Kaiser von Qin“ als ein „Barbar“, dem es allein durch seine militärischen Fähigkeiten gelungen war, eine Gewaltherrschaft aufzubauen. Yin Zheng erschuf ein Reich, in dem die Menschen unter der Gewalt und Grausamkeit der Eroberer leiden mussten. Er etablierte eine Gesellschaft, in der der „Königliche Weg“84 keinerlei Bedeutung hatte, eine Welt, in der die legistische Lehre dominierte, das einfache Volk zu verdummen drohte und es für Tugend und Moral keinen Platz mehr gab. „Thereupon he [the emperor] discarded the ways of the former kings and burned the books of the hundred schools of philosophy in order to make the black-headed people ignorant. He destroyed the walls of the great cities, put to death the powerful leaders, and collected all the arms of the empire, which he had brought to his capital at Xianyang, where the spears and arrowheads were melted down and cast to make twelve human statues. All this he did in order to weaken the black-headed people.“85 Das Jahr 213 v. Chr. markiert eine tiefgreifende Zäsur in der chinesischen Geschichtsauffassung. Denn Yin Zheng (260–210 v. Chr.) ordnete in diesem Jahr eine Bücherverbrennung an, die in der chinesischen Geschichte ihresgleichen sucht. Auf Anraten

82 Weiers, Geschichte Chinas, S. 29. 83 Sima Qian, Shiji 6 (The Basic Annals of the First Emperor of the Qin), übersetzt von Burton Watson, in: Records of the Grand Historian. Qin Dynasty, Band 1, Hong Kong/New York 21993, S. 80–81. 84 Mit dem „Königlichen Weg“ (Kingly Way) ist die konfuzianische Lehre gemeint. 85 Ebd., S. 79. 26 von Kanzler Li Si (280–208 v. Chr.), einem Anhänger der legistischen Lehre, soll der erste Qin-Herrscher 213 v. Chr. die Vernichtung von unzähligen altertümlichen Schriften angeordnet haben. Chroniken, Annalen, Biografien, die Bücher der hundert konfuzianischen Schulen und selbst die konfuzianischen Klassiker sollten aus dem kollektiven Gedächtnis der „schwarzköpfigen Menschen“ – wie Sima Qian die Bauern und das „einfache Volk“ bezeichnete – ausgelöscht werden. Der „Große Historiker“ und die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung verurteilte die Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.) für ihr Vorgehen aufs Höchste. Doch hinsichtlich der Prinzipien des Legismus war die Maßnahme der Verbrennung von philosophischen Werken und historischen Schriften aus der Sicht der Qin-Dynastie sicherlich nachvollziehbar. Denn die legistische Lehre hatte einen völlig anderen Zugang zur Geschichte wie der Konfuzianismus. Diese gänzlich andere Einstellung zur Vergangenheit lässt sich aus den Werken von Han Fei (280–233 v. Chr.), aber auch aus anderen, dem Legismus zugeschriebenen Werken, herauslesen. „Wer [.] in der heutigen Zeit den Weg von Yao, Shun, Yu, Tang und Wu preist, der wird sich zweifellos dem Spott der heutigen Weisen aussetzen. Deshalb hofft ein weiser Herrscher weder auf eine Wiedereinrichtung der Ordnung des Altertums, noch erlässt er für alle Zeiten geltende Vorschriften. Er erörtert die Vorgänge seiner Zeit und trifft entsprechend Maßnahmen.“86 Han Fei propagiert, dass man aus der Geschichte nichts lernen kann – sie ist vergangen und kann niemals als ein „Leitfaden“ für spätere Generationen dienen. Die Welt befindet sich „in einem stetigem Wandel“ und die Weisheiten der Altvorderen können nur für die Gesellschaft des Altertums gelten. Weil die Gesellschaft – von den mythischen Urkaisern bis zu den Lebzeiten von Han Fei – sich stark verändert hätte, bedürfe es neuer Grundsätze, an denen sich ein Reich orientieren sollte. Nach der Vorstellung von Han Fei dürften sich die Qin- Herrscher nicht an Yao, Shun, Yu, Tang und Wu messen, wie es die Konfuzianer forderten, sondern sie sollten ihre eigenen Wege bestreiten.87 Denn in einem weise geführten Reich folgt der Regierende nicht den moralischen Prinzipien der früheren Könige; in „[…] einem klug regierten Staat [gibt es] keine Bücher, sondern nur die Lehre des Gesetzes“88. Die legistischen Philosophen verurteilten die „Geschichtsverliebtheit“ der Konfuzianer und verlangten von den Qin-Herrschern nichts Geringeres, als dass sich diese von der Lehre des „Königlichen Weges“ abwenden sollten.89

86 Han Fei, Han feizijishi 19, S. 530. 87 Vgl. Fung, The Period of the Philosophers, S. 317. 88 Han Fei, Han feizijishi 19, S. 543. 89 Vgl. Fung, A Short History of Chinese Philosophy, S. 160. 27

1.7. Über den Daoismus und die Frage, wie „tugendhaft“ die ersten Han-Kaiser waren. Die Han-Dynastie Die Qin-Dynastie herrschte lediglich im Zeitraum von 221 bis 207 v. Chr. über China. In dieser kurzen Zeitspanne versuchten die Anhänger des Legismus den Konfuzianismus auszulöschen. Doch „glücklicherweise“ gelang ihnen dieses Vorhaben nicht zur Gänze, wie Sima Qian (145–90 v. Chr.) berichtet. „The Qin […] burned all the copies of the Odes and Documents in the empire, along with the historical records of the various feudal rulers […]. The reason the Odes and Documents have reappeared is that many copies were stored away in people’s houses. But the historical records were stored only in the Zhou archives, and hence were all destroyed. How regrettable! How regrettable! All we have left are the Qin historical records […].“90 Die Qin hatten zwar alle historischen Aufzeichnungen der Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr.) vernichtet, doch die konfuzianischen Klassiker entgingen der Bücherverbrennung. Sie überdauerten die fünfzehn Jahre andauernde „Terrorherrschaft“ der Qin in den Häusern der Menschen. Nachdem die Qin-Dynastie infolge einer Reihe von Aufständen91 im Jahre 206 v. Chr. von Liu Bang (247–195 v. Chr.)92 gestürzt worden war, konnten die kanonischen Werke wieder aus ihren Verstecken hervorgeholt werden. An diesem Punkt erhofften sich die Konfuzianer, dass die Weisheiten der Altvorderen wieder unter den Menschen eine erneute Verbreitung finden würden. Doch wie sich herausstellen sollte, war ihre Hoffnung zumindest vorerst vergebens. Denn auch die Han-Kaiser regierten nicht nach den „Richtigen Prinzipien“. Zumal die frühen Han-Herrscher den „reinen“ Konfuzianismus, so wie ihn die mythischen Kaiser praktiziert hatten und in den Klassikern vorzufinden war, zurückwiesen und lieber nach den Grundsätzen der daoistischen Lehre herrschten, die sie aus dem „Daodejing“ herauslesen konnten, wo es etwa heißt: „Man breche mit den Vorbildern, gebe die Gelehrsamkeit auf, und den Leuten ist hundertfach gedient. Man breche mit der ‚Menschlichkeit‘ [ren], gebe die ‚Rechtschaffenheit‘ [yi] auf, und die Leute kehren zurück zu ‚kindlicher Pietät‘ und ‚elterlicher Zuwendung‘. Man breche mit der Kunstfertigkeit, gebe die Eigennützigkeit auf, und Räuber und Diebe wird es keine geben. […] Man

90 Sima Qian. Shiji 15 (Reflections on the Rise of the Qin), übersetzt von Burton Watson, in: Records of the Grand Historian. Qin Dynasty, S. 87. 91 Der Untergang der Qin-Dynatie begann mit dem sogenannten „Aufstand von Chen Sheng († 208 v. Chr.) und Wu Guang († 208 v. Chr.)“ (Dazexiang Uprising). Auf diesen folgten mehrere Aufstände innerhalb des gesamten Qin-Reiches. Näheres zur Umbruchzeit zwischen der Qin- und Han-Dynastie nachzulesen in: Michael Loewe, The Former Han Dynasty, in: The Ch'in and Han Empires. 221 BC–AD 220, hrsg. v. Denis Twitchett/Michael Loewe (The Cambridge History of China 1), Cambridge 1986, S. 103–222, hier S. 110–119. 92 Bei Liu Bang handelt es sich um den Begründer der Han-Dynastie. Gleichermaßen wie unter seinem Familiennamen ist dieser auch unter seinem kaiserlichen Titel Han Gaozu bekannt. 28 lege das Schlichte offen und umfasse das Ursprüngliche. Man habe wenig Eigeninteressen und wenig Begehren.“93 Nur einem Menschen, der dazu bereit ist, von all seinen Begehrlichkeiten abzulassen und sich von den falschen Moralvorstellungen loszulösen, sei es möglich, das allumfassenden „dao“ zu finden. Um der ursprünglichen Weisheit ein Stück näher zu kommen, muss der Mensch seine eigenen „falschen“ Interessen und Begierden erkennen und von diesen ablassen. „Bescheidenheit“ und „Ausgeglichenheit“ waren die höchsten zu erreichenden Ziele der Daoisten. Nicht umsonst heißt es im Kapitel 46 des „Daodejing“: „[…] Kein Unheil ist größer, als nicht zu wissen, was genug ist. Kein Vergehen ist größer, als etwas erlangen zu wollen.“94 Nach dem Verständnis der daoistischen Lehre sollte der Mensch nicht nach „Großem“ streben. Vielmehr wäre er in seinem Handeln dazu verpflichtet, seine gesamte Energie darauf zu verwenden, seine eigene Persönlichkeit zu kultivieren. Denn wenn der Einzelne sein „qi“ im Gleichgewicht hält, dann ist auch seine eigene Familie ausgeglichen. Wenn die Familie ausgewogen ist, dann ist es auch das Dorf, in dem seine Sippe lebt. Sind die Dörfer im Gleichgewicht, sind es auch die Provinzen. Sind die Provinzen ausgewogen, ist das „qi“ des gesamten Reiches im Gleichgewicht.95 Die Daoisten glaubten daran, dass die Kraft, die alles Weltliche ordnen konnte, allem voran im einzelnen Individuum lag. Damit stellte sich die Lehre gänzlich anders dar als der Konfuzianismus, der die Welt nach den moralischen Sitten des Altertums, nach den Gesetzen der „Shengren“ – jener weisen Männer die von den Konfuzianern für ihre erhabene Weisheit verehrt wurden – zu strukturieren versuchte. Die „Grundschrift“ des Daoismus forderte nicht weniger, als dass die Menschen mit den konfuzianistischen Vorbildern aus der Antike brechen sollten. Die Lehre des „Einklangs“ zeigte sich dabei konsequent. Sie kannte keine Gelehrten, die den Menschen vorschrieben, was moralisch als gut oder schlecht anzusehen war; keine mythischen Figuren, wie beispielsweise Yao oder Shun, die durch ihre Tugendhaftigkeit glänzten und den Menschen als Ideal dienen sollten.96 Der Daoismus sprach sich gegen die Verehrung der konfuzianischen Kulturheroen aus, erschuf gleichzeitig aber selbst eigene Vorbilder in der Geschichte – nur ließen die sich

93 Daodejing. Kapitel 19, übersetzt von Ansgar Gerstner, in: Eine Synopse und kommentierte Übersetzung des Buches Laozi sowie eine Auswertung seiner gesellschaftskritischen Grundhaltung auf der Grundlage der Textausgabe Wang-Bis, der beiden Mawangdui-Seidentexte und unter Berücksichtigung der drei Guodian- Bambustexte, Trier 2001, S. 110. 94 Daodejing. Kapitel 46, S. 238. 95 Vgl. Daodejing. Kapitel 54, S. 54. 96 Vgl. Xiaogan Liu, Daoism (I). Lao Zi and the Dao-De-Jing, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 209–236, hier S. 230. 29 ursprünglich nicht benennen.97 Die „Shengren“ der Daoisten (Unsterbliche/xian) waren sowohl Männer als auch Frauen, die im Altertum gelebt und sich durch ihre Bescheidenheit ausgezeichnet haben sollen. Sie hätten sich in ihrem Auftreten wie „zurückhaltende Gäste“ gezeigt, ihre Charakterzüge wären so „einfach wie unbearbeitetes Holz“ und „so offen und weit wie ein Tal gewesen.“98 Jedoch gerieten ihre Namen in Vergessenheit, eben weil ihnen ein bescheidener Charakter zugrunde lag. Und selbst wenn sie zu den klügsten Gelehrten ihrer Zeit gehört haben mögen, war es ihnen persönlich nicht von Bedeutung gewesen, dass man sich ihrer in der Zukunft erinnern würde. Genauso wie der Legismus propagierte auch der Daoismus ein gänzlich anderes Geschichtsverständnis als der Konfuzianismus. Während für die konfuzianischen Gelehrten die Erforschung ihrer eigenen Vergangenheit immer einen hohen Stellenwert hatte, spielte Geschichte in der daoistischen Weltauffassung nur eine untergeordnete Rolle. Denn schließlich konnte man von Männern und Frauen, die den „Weg der Mitte“ einst gemeistert, jedoch nichts hinterlassen hatten, nur noch herzlich wenig lernen. Und ebenso konnten auch die Gesellschaftssysteme des Altertums nicht als Maßstab für das Zusammenleben in der Gegenwart dienen, weil man die „richtigen Modelle“ und das „dao“ selbst ja schließlich nicht in der Vergangenheit fand, sondern ausschließlich in der Kultivierung von einem selbst. Den daoistischen Gelehrten lag nichts ferner, als die menschliche Gesellschaft nach den in den „Fünf Klassikern“ vorgegebenen moralischen Prinzipien strukturieren zu wollen. „Je mehr Vorschriften es in der Welt gibt, desto ärmer sind die Leute. […] Je ausgeprägter Gesetze und Verordnungen sind, desto mehr Räuber und Diebe gibt es. Daher sprechen Menschen des Einklangs: Ich handle nicht, und die Leute entwickeln sich von alleine. Ich liebe es, ruhig zu sein, und die Leute sind von alleine vorbildlich. Ich bin ohne Angelegenheiten, und die Leute sind von alleine reich. Ich habe kein Begehren, und die Leute sind von alleine ursprünglich.“99 Ein König, welcher der Lehre des „Einklangs“ folgt, darf den Menschen nichts aufzwingen. Er soll keine Gesetze erlassen, darf sich weder zu Sachverhalten äußern noch in einer anderen Form in das Leben der Menschen eingreifen. Das daoistische Ideal sah einen passiv

97 Das Daodejing nennt keine Namen. In späterer Zeit begründete der Daoismus jedoch sein eigenes Pantheon, bestehend aus einer Vielzahl von nur schwer fassbaren „Unsterblichen“ (Xian). Zu diesen gehören etwa die folgenden sogenannten „Acht Unsterblichen“: Lü Dongbin (Tang-Dynastie), Lie Tieguai (Song-Dynastie), Zhongli Quan (Han-Dynastie), Han Xiangzi (Tang-Dynastie), Cao Guojiu (Song-Dynastie), Zhang Guolao (Tang-Dynastie), Lan Caihe (?) und He Xiangu (Tang-Dynastie). 98 Daodejing. Kapitel 15, S. 88. 99 Daodejing. Kapitel 57, S. 286. 30 agierenden Herrscher vor, der durch sogenanntes „Nichttun“ (wuwei)100 regieren sollte; nur so könnte das Reich wohlgeordnet und die gesamte Welt im Einklang sein. Laut zeitnah entstandener historischer Quellen sollen die frühen Han-Kaiser auch tatsächlich nach der von den Daoisten idealisierten Regierungsdevise des „Nichttun“ geherrscht haben.101 In Teilen des „Buches der Han“ steht geschrieben, dass die Han-Kaiser bis zum sechsten Herrscher Wen (202–157 v. Chr.) und siebten Herrscher Jing (188–141 v. Chr.) dem sogenannten Huang-Lao Daoismus nahestanden. Im „Fengsu tongyi“, bei dem es sich um ein Kapitel im sogenannten „Buch der Han“ (Hanshu)102 handelt, heißt es beispielsweise. „Kaiser Wen kultivierte die Lehre von Huangdi und Laozi, die Methoden der Gelehrten mochte er nicht sonderlich, in seiner Regierung schätzte er lauter Ruhe und das Nichttun(wuwei).“103 Rund zweihundert Jahre nach der Regierungszeit von Kaiser Wen verfasste der Historiker Ying Shao (140–206)104 diese Zeilen. Dieser Textausschnitt, das Geschichtswerk105 von Sima Qian (145–90 v. Chr.) und weitere schriftliche Überreste aus der Han-Zeit gelten heute als aussagekräftige Belege dafür, dass die frühen Han-Kaiser Anhänger der daoistischen Lehre waren. Dass wir die „geistige Ausrichtung“ der frühen Han-Kaiser heute überhaupt anzweifeln, liegt daran, dass sich in China eine Geschichtsauffassung nach der Konzeption des Konfuzianismus durchgesetzt hat. Spätere, dem Konfuzianismus nahestehende Gelehrte verklärten die Rezeption der ersten Han-Kaiser. Sie deuteten die geistige Ausrichtung der frühen Han-Kaiser um – und idealisierten Wen und Jing zu „Shengren“ des Konfuzianismus. Will man den Ausführungen der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung glauben, dann soll der Konfuzianismus bereits unter dem fünften Han-Kaiser Wen zur „Staatsideologie“ erhoben worden sein.106 Zunächst habe sich dieser am Beginn seiner Regierungszeit zwar noch neutral gegenüber all den Lehren seiner Zeit gezeigt, doch nachdem ihm ein konfuzianischer Gelehrter namens Jia Ji (um 175 v. Chr.) die Vorzüge des

100 Der Begriff „wuwei“ (wu „ohne“/ wei „(zu)tun“) kommt erstmals im Daodejing vor. „Nichttun“ darf keinesfalls wörtlich verstanden werden. Denn „wuwei“ bedeutet nicht, nichts zu tun, sondern vielmehr, einzig dann spontan etwas zu tun, wenn die eigene Handlung mit dem „dao“ im Einklang ist. 101 Ch’en Ch’i-Yün, Confucian, Legalist, and Taoist thought in Later Han, in: The Ch'in and Han Empires. 221 BC–AD 220, hrsg. v. Denis Twitchett/Michael Loewe (The Cambridge History of China 1), Cambridge 1986, S. 766–807, S. 767. 102 Beim „Buch der Han“ (Hanshu) handelt es sich um ein offizielles Geschichtswerk. Der Hofhistoriker Ban Gu (32–92) und dessen Schwester Ban Zhao (45–116) gelten als Verfasser des monumentalen Geschichtswerkes, welches im Jahre 111 n. Chr. fertiggestellt worden sein soll. Das „Buch der Han“ behandelt den Zeitraum der „Westlichen Han-Dynastie“ vom ersten Han-Kaiser 206 v. Chr. bis zum Tode des Wang Mang (45 v. Chr.–23 n. Chr.) im Jahre 23 n. Chr. 103 Hanshu. Fengsu tongyi 2.6, zitiert nach Kai Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 146. 104 Ying Shao (140–206) war ein Beamter und Historiker am Hofe der Han-Dynastie. Er gilt gemeinhin als der Verfasser dieser Zeilen. 105 Das „Shiji“. 106 Vgl. Weiers, Geschichte Chinas, S. 35. 31

„Königlichen Weges“ nähergebracht hatte, soll Wen seine persönliche Einstellung geändert haben. Dem fünften Han-Kaiser wird nachgesagt, dass er aufgrund seiner Klugheit, instinktiv die Vorteile der konfuzianischen Lehre erkannt hätte, vom Daoismus abließ und in seinen späteren Lebensjahren zu einem Förderer des Konfuzianismus wurde.107 Ebenso wie Kaiser Wen (202–157 v. Chr.) soll es auch dessen Nachfolger Jing (188–141 v. Chr.) ergangen sein. Obgleich auch unter diesem der Huang-Lao Daoismus noch die bestimmende Lehre am Hofe war, soll Jing, laut der traditionellen chinesischen Geschichtsauffassung, eigentlich im Geiste ein überzeugter Anhänger von den Lehren des Kongzis gewesen sein.108 Ob der fünfte sowie sechste Han-Kaiser jedoch wirklich als jene großen „Shengren“ des Konfuzianismus betrachtet werden sollten, als die sie später angesehen wurden, bleibt indes fraglich. Als historisch gesichert gilt allerdings, dass die Lehre des „Königlichen Weges“ unter dem siebten Han-Herrscher stark an Einfluss gewann. Während die „geistige Ausrichtung“ von Wen und Jing bis heute umstritten ist, deckt sich, was Kaiser Wu betrifft, die Sicht der traditionellen chinesischen Geschichtsauffassung mit jener der heutigen Geschichtswissenschaft. Früher wie auch heute wurde und wird dem siebten Han-Kaiser Wu (156–87 v. Chr.) eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung der konfuzianischen Lehre zugesprochen.109 Doch hinsichtlich der Gründe, warum Wu den Einfluss des Daoismus zurückzudrängen versuchte, scheiden sich auch hier die Geister der Vergangenheit und der Gegenwart. Die traditionelle Sicht ist die, dass sich Wus Faszination für den Konfuzianismus schon in dessen Kindheit herausgebildet hätte. Bereits als junger Knabe wäre der Prinz in einem außerordentlichen Maße an Literatur, Poesie und generell am „Lernen“ interessiert gewesen. Gefördert durch einen konfuzianischen Gelehrten namens Wang Tsang (um 100 v. Chr.), der dem Thronfolger in einer umfassenden Ausbildung die Weisheiten der „Fünf Klassiker“ näherbrachte, soll Wu intuitiv die Vorzüge des Konfuzianismus erkannt haben. Anders als dessen Vater Jing und Großvater Wen – die laut der traditionellen chinesischen Geschichtsauffassung, wie oben beschrieben, ja auch schon die Lehre des „Königlichen Weges“ favorisiert hatten – habe Wu bereits vor seinem sechzehnten Lebensjahr den Beschluss gefasst, den Konfuzianismus zur einzig bestimmenden Lehre in seinem Reich zu erheben.110

107 Homer H. Dubs, The Victory of Han Confucianism, in: Journal of the American Oriental Society 58 (1938), Heft 3, S. 435–449, hier S. 436. 108 Ebd., S. 437. 109 Kramers, The development of the Confucian schools, S. 755. 110 Dubs, The Victory of Han Confucianism, S. 437. 32

Im Hinblick auf neuere Forschungserkenntnisse ist jedoch weitestgehend davon auszugehen, dass sich der siebte Han-Herrscher in seiner Regierungszeit nicht nur rein aus Überzeugung von der legistischen und daoistischen Lehre zu distanzieren begann. Obgleich man dies nicht auszuschließen vermag, da man die persönliche Weltanschauung von Wu heute nur noch schwerlich rekonstruieren kann, geht die heutige Forschung gemeinhin davon aus, dass es hauptsächlich machtpolitische Gründe waren, die Wu dazu drängten, den Konfuzianismus zu bevorzugen. Um sich als Herrscher legitimieren zu können und unliebsame, dem Huang-Lao Daoismus nahestehende Beamte am Hofe und in den Provinzen zu entmachten, stützte sich der siebte Han-Herrscher in seiner Herrschaftsausübung auf die Weisheiten Kongzis und er erhob den Konfuzianismus zur „staatlichen“ Orthodoxie.111 Vorzugsweise ging es also zuallererst darum, die eigene Machtbasis nachhaltig zu stärken. Deshalb förderte Wu die konfuzianische Lehre und schmälerte den Einfluss des Huang-Lao Daoismus. Nachweislich wurden in der Regierungszeit des siebten Han-Herrschers die „Fünf Klassiker“ zur Pflichtlektüre für die Beamtenschicht erhoben und konfuzianische Gelehrte im gesamten Reich als offizielle Würdenträger eingesetzt.112

1.8. Des Konfuzianismus neue Kleider Egal welche Bedeutung wir den frühen Han-Kaisern bei der Verbreitung des Konfuzianismus zusprechen wollen – fest steht, dass die Lehre des „Königlichen Weges„ spätestens ab Wu zur bestimmenden Geisteshaltung am han-zeitlichen Hof wurde.113 Die Konfuzianer, auf Basis derer philosophischen Theorien die konfuzianischen Reformen im Han-Reich durchgesetzt wurden, sahen sich selbst als die „geistigen Nachfahren“ von Kongzi an. Sie beriefen sich auf die vom „Meister“ überlieferten Weisheiten aus den „Fünf Klassikern“ und behaupteten, dass sie die Rituale und Institutionen in ihrem Reich nach den altehrwürdigen Prinzipien der Zhou ordnen würden.114 Es ist von essentieller Bedeutung, dass wir an diesem Punkt die Selbstwahrnehmung der zeitgenössischen Gelehrten begreifen. Diese sahen sich nämlich keineswegs als die Anhänger einer neuen „Denkschule“ an – sie verstanden sich als Sachkundige der „ursprünglichen Lehre“. Damit propagierten die han-zeitlichen Konfuzianer den Standpunkt, dass sie und nur sie, den „ursprünglichen Konfuzianismus“ kennen und diesen auch vertreten würden. Die

111 Vgl. Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 160. 112 Ch’i-Yün, Confucian, Legalist, and Taoist thought in Later Han, S. 769. 113 Ebd., S. 769. 114 Ng On-cho/Q. Edward Wang, Mirroring the Past, The Writing and Use of History in Imperial China, Honolulu 2005, S. 54. 33 geistige Elite der Han-Zeit begriff sich als eine Anhängerschaft der „wahren Lehre“ und glaubte fest daran, dass sie den Konfuzianismus in derselben Art wie Kongzi verstehen und diesen auch genauso wie dieser auslegen würden.115 Bei Lichte besehen, offenbarte sich der „Han-Konfuzianismus“ jedoch als eine grundsätzlich differente Lehre. Zwar stützte er sich in seiner Argumentation auf die durch Kongzi erhalten gebliebenen Weisheiten aus der „Westlichen Zhou-Dynastie“ (1046–770 v. Chr.) – doch von der ursprünglichen Ausformung des Konfuzianismus hatte sich das han-zeitliche Dogma bereits weit entfernt.116 Die neue Philosophie hatte einen völlig anderen Zugang zur „Wirklichkeit“, wie der folgende Textausschnitt aus einem berühmt gewordenen Kommentar mit der Bezeichnung „Üppiger Tau der Frühlings- und Herbstannalen“ (Chunqiu fanlu) offenlegt. „Der Heilige [König] dupliziert in seiner Regierungsführung die Bewegung des Himmels. Mit den Freundlichkeiten dupliziert er seine Wärme und entspricht so dem Frühling; mit den Wohltaten dupliziert er seine Hitze und entspricht so dem Sommer; mit den Strafen dupliziert er seine Kühle und entspricht so dem Herbst; und mit seinen Hinrichtungen dupliziert er seine Kälte und entspricht so dem Winter. […] Deswegen sage ich, daß der König ein Äquivalent zum Himmel darstellt in dem Sinne, daß der Himmel in seinem Walten die vier Jahreszeiten besitzt ebenso wie der König in seinem Walten die vier Regierungsmaßnahmen.“117 Diese „Zeilen“, die von Dong Zhongshu (179–104 v. Chr.) am Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. niedergeschrieben wurden, zeigen uns, inwieweit sich der Konfuzianismus der Han-Zeit verändert hatte. In ihren Grundsätzen lehnten sich Dong Zongshus Thesen an die Lehrsätze der konfuzianischen Vordenker Mengzi (372–289 v. Chr.) und Xunzi (298–220 v. Chr.) an, die sich ihrerseits mit Grundsatzfragen im Zusammenhang mit der menschlichen Natur beschäftigten.118 Anders als die als extrem anzusehenden Vorstellungen von Mengzi119, nach dessen Überzeugung der Mensch von Natur aus „gut“ ist, und Xunzi120, nach dessen Überzeugung der Mensch von Natur aus „schlecht“ ist, glaubte der Gelehrte aus dem 2. Jahrhundert v. Chr., dass die Menschen bei ihrer Geburt weder einen „guten“ noch „schlechten“ Charakter aufweisen würden. Zwar hätte der Einzelne angeborene Wesenszüge, doch gemeinhin würde jedes neugeborene Kind einem „unbeschriebenen Blatt“ gleichen. Erst

115 Kramers, The Development of the Confucian schools, S. 753–754. 116 Vgl. Yiu-ming Fung, Philosophy in the Han dynasty, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 269–302, hier S. 271. 117 Dong Zhonghsu, Chunqiu fanlu 55, zitiert nach Wolfgang Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 122. 118 Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 122. 119 Zu den Lehren von Mengzi siehe: Kern, Wang Yangming, hier speziell die Seiten 22–30. 120 Zu den Lehren von Xunzi siehe: John Knoblock, Xunzi. A Translation and Study oft the Complete Works, Band 1–3, Stanford 1988–1994. Eine aufschlussreiche Gegenüberstellung der Lehren von Mengzi und Xunzi zu finden in: Kim-chong Chong, Classical Confucianism (II). Meng Zi and Xun Zi, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 269–302. 34 durch „Lernen“ im Verlauf des Heranwachsens würde sich entscheiden, in welche Richtung sich die Charaktereigenschaften eines Menschen entwickeln. Da ausnahmslos jeder die naturgegebene Veranlagung dazu hat, sowohl „gute“ als auch „schlechte“ Wesenszüge herauszubilden, müsse es, laut Dong Zhonghsu, eine umfassende moralische Erziehung für alle geben. Eine solche Vorstellung impliziert, dass es nur dann möglich sei, dass sich die Menschheit hin zum „Gutem“ entwickelt, wenn man die gesamte Gesellschaft nach gemeinsamen moralischen Grundwerten erziehen würde.121 Die Geisteshaltung von Dong Zhongshu (179–104 v. Chr.) – die der moralischen Erziehung eine übergeordnete Rolle in der Gesellschaft zuspricht – ist in ihrer weltanschaulichen Konzeption unverkennbar mit den fundamentalen Wertvorstellungen des Konfuzianismus verbunden.122 Seine Ideen weisen zweifelsohne eine enge Verknüpfung mit den Lehren von Mengzi und Xunzi auf. Doch obwohl die Lehren von Dong Zhongshu offensichtlich von konfuzianischen Denkmustern durchdrungen waren und der Gelehrte selbst als ein „Kenner“ der „Fünf Klassiker“ angesehen wurde, hatte seine Auslegung des „Königlichen Weges“ nur noch wenig mit der „ursprünglichen“ Ausformung des Konfuzianismus zu tun. In seinen Ausführungen finden sich Gedanken, deren Ursprünge sich klar in der konfuzianischen Tradition verorten lassen. Gleichzeitig finden sich aber auch – und das ist entscheidend – aus dem Daoismus stammende Theorien über die Urkräfte von Yin und Yang sowie Aspekte aus der ebenfalls dem Daoismus zugerechneten „Fünf-Elemente-Lehre“.123 Dong Zhongshus Auffassung vom Menschen und dessen Stellung in der Welt kann hierbei als ein Musterbeispiel für die Veränderungen, die sich in der Auslegung des Konfuzianismus in der Han-Zeit ergeben hatten, angesehen werden. Denn egal, ob wissentlich oder unbewusst, der Konfuzianer hatte offensichtlich in seinen Überlegungen Begriffe und Konzeptionen aus dem Daoismus übernommen. In dem oben zitierten Quellenausschnitt von Dong Zhongshu wird die Synthese, die der Konfuzianismus mit dem Daoismus eingegangen war, deutlich. In den Ausführungen vom han-zeitlichen Gelehrten geht es – wie so oft in konfuzianischen Texten – um die Frage, wie ein Herrscher zu einem „guten“ Regenten werden kann. Nach den Vorstellungen von Dong Zhongshu darf ein König nicht einzig nach den erhabenen moralischen Prinzipien der Altvorderen herrschen, sondern er muss in seinem Handeln stets auch im Einklang mit den Kräften der Natur sein. Der Geist, das „qi“ des Herrschers, soll, genauso wie die durch

121 Roger T. Ames, Dong Zhongshu (Tung Chung-shu), in: Encyclopedia of Chinese Philosophy, New York 2003, S. 239. 122 Vgl. Weiers, Geschichte Chinas, S. 35. 123 Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 122. 35 kosmologische Prozesse erschaffene Natur, ausgeglichen sein – was, und das muss uns bewusst sein, ein von Grund auf daoistischer Gedanke ist.

1.9. Über die „wiederauferstandene“ Zhou-Lehre der Han-Zeit Während man in der „Zeit der Frühlings- und Herbstannalen“ (770–476 v. Chr.) und in der „Zeit der Streitenden Reiche“ (476–221 v. Chr.) die daoistische, legistische und konfuzianische Lehre noch relativ klar voneinander trennen konnte, war dies spätestens in der Han-Zeit zu einem äußerst schwierigen Unterfangen geworden. Denn bis ins erste Jahrhundert v. Chr. hatten sich die unterschiedlichen philosophischen und theologischen Strömungen bis hin zur Unkenntlichkeit miteinander vermischt, was wiederum zur Folge hatte, dass der Konfuzianismus sich durch neue ideengeschichtliche Impulse ergänzte.124 Ursprünglich hatte sich die Lehre des „Königlichen Weges“ fast ausschließlich damit auseinandergesetzt, wie ein Reich geführt und eine Gesellschaft geordnet werden sollte, nun kamen vor allem Fragen rund um die Stellung des Menschen im Kosmos hinzu. Speziell auf den Konfuzianismus bezogen, bedeutete der han-zeitliche Synkretismus, dass die einst rein auf das Diesseits und die reale Gesellschaft blickende Lehre im Verlauf der Zeit durch die mystischen und kosmologischen Spekulationen aus dem Daoismus und Fragen rund um die „Beschaffenheit der menschlichen Natur“ aus dem Legismus ergänzt wurde. Die Lehre des „Königlichen Weges“ war mit der daoistischen und legistischen Lehre eine Synthese eingegangen und erschuf so in der Han- Zeit eine völlig neue Ausformung des Konfuzianismus. Eine neue Lehre, die sich selbst zwar als die „wiederauferstandene“ Zhou-Lehre definierte, aus deren erhalten gebliebenen Texte wir heute aber diverse philosophische Einflüsse aus vielen anderen Lehren herauslesen können.125 Weitestgehend lässt sich sagen, dass sich der han-zeitliche Konfuzianismus in seinen Grundsätzen gegenüber den anderen philosophischen Strömungen Chinas aufgeschlossen zeigte. Diese Annahme unterstützen die Schriften von Dong Zhonghsu (179–104 v. Chr.) ebenso wie die uns zumindest fragmentarisch erhalten gebliebenen Werke von Wang Chong (27–100), Huan Tan (43 v. Chr.–28 n. Chr.) oder Ban Gu (32–92).126 Wenn es darum ging, sich vom Daoismus und Legismus abzugrenzen, waren die Han-Gelehrten weit weniger radikal als ihre späteren „Geistesbrüder“. Sie bedienten sich in einer pragmatischen Weise an den bestehenden Begrifflichkeiten und Konzeptionen aus dem gesamten Spektrum der

124 Fung, Philosophy in the Han dynasty, S. 272. 125 Vgl. Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 138–141. 126 Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 110. 36 existierenden chinesischen Philosophien und fügten diese zu differenten Ausformungen des „Königlichen Weges“ neu zusammen. Gemeinhin wurde der Han-Konfuzianismus von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung in zwei Hauptströmungen unterteilt: in die sogenannte „Alttext-Schule“ und „Neutext-Schule“.127 Doch offen betrachtet, wird die Kategorisierung in lediglich zwei Zweige, der han-zeitlichen Lehre nicht gerecht, da diese bei weitem facettenreicher war. Vom Großteil der einstigen Neben- und Unterströmungen des Han-Konfuzianismus blieb jedoch beinahe nichts erhalten. Hauptschuld dafür tragen vor allem die Vertreter des späteren orthodoxen Konfuzianismus, die bei ihrem Versuch, die han-zeitliche Lehre zu kanonisieren, den Großteil der Schriften aus der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) aus dem geistesgeschichtlichen Gedächtnis des Konfuzianismus tilgen ließen. Vor allem die vom Daoismus und Legismus stark beeinflussten Strömungen fielen der Zensur zum Opfer. So sind jene Schriften, die uns heute noch aus der Han-Zeit erhalten geblieben sind, nur noch die, die zum narrativen Geschichtsverständnis der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung passen wollten.128

1.10. Von „untugendhaften“ Männern und kulturellem Niedergang: Die „Zeit der Drei Reiche“ und die Wei-Dynastie Außerhalb vom Dorf Xigaoxue, direkt am „Gelben Fluss“, in der Provinz Henan gelegen, befindet sich eine gut besuchte Touristenattraktion. Heutige Besucher finden an der besagten Stelle ein Steingrab vor, in dem einer der berühmtesten Männer Chinas seine letzte Ruhestätte gefunden haben soll. Jedes chinesische Kind kennt den Namen des dort begrabenen Mannes, auf dessen Namen sogar ein bekanntes chinesisches Sprichwort fußt, das da heißt: „Speak of Cao Cao and Cao Cao appears“ – was sinngemäß das Gleiche wie: „Wenn man vom Teufel spricht, dann kommt er“ in unserem Kulturraum bedeutet.129 Cao Cao (155–220) war neben Dong Zhuo (139–192) und Yuan Shao (154–202) einer von drei Generälen, die sich am Ende des 2. Jahrhunderts militärisch gegen die Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) auflehnten. Als das Han-Reich sich in einer „Schwächephase“ befand, nutzten diese drei Männer die Gunst der Stunde. Eigentlich ausgesandt um die Grenzen gegen die jährlich stattfindenden „Barbarenangriffe“ im Westen und Norden zu verteidigen, wandten

127 Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 133. 128 Vgl. Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 109. 129 Lauren Hilgers, Is this the tomb of China's Most Notorious Villain...... or Just an Overhyped Tourist Trap?, in: Archaeology 63 (2010), Heft 5, S. 36–41, hier S. 36. 37 sie sich gegen die Han-Dynastie, gegen eine Zentralmacht, die den Separatismus- Bestrebungen von Cao Cao, Dong Zhuo und Yuan Shao nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Denn die Machtbasis der Han bröckelte am Ende des 2. Jahrhunderts nicht nur, sie war zusammengebrochen. Ständige „Barbarenangriffe“, aufkeimende Aufstände im gesamten Reich, eine leere Schatzkammer, schlechte Ernten, blutige Cliquenkämpfe am Hof – mit all diesen Problemen hätte sich ein noch minderjähriger Kaiser gleichzeitig auseinandersetzen sollen. Weil die Zentralmacht sich in einer Schwächephase befand, bildete sich ein Machtvakuum, welches die drei Generäle zu ihren Gunsten auszunutzen vermochten. Sie sagten sich von der Han-Dynastie los, begründeten jeweils eine eigene Dynastie und läuteten damit das „Sanguo“, die sogenannte „Zeit der drei Reiche“ (220–280) ein.130 Wenn man einen Vergleich zur europäischen Geschichte ziehen will, dann ist die “Zeit der drei Reiche“ im kollektiven Geschichtsbewusstsein des heutigen Chinas ähnlich stark verwurzelt, wie in Europa die „Frühe Römische Kaiserzeit“. Will man diesen Vergleich noch weiter intensivieren, so könnte man Cao Cao als den chinesischen Gegenpart zu Julius Cäsar betrachten. Denn wie Julius Cäsar war auch dieser ein machthungriger Feldherr gewesen, der sich militärisch gegen das bestehende System auflehnte und sich schließlich in einem „Bürgerkrieg“ – ähnlich dem Triumvirat – vorfand, aus dem er als Sieger hervorgehen konnte. Des Weiteren lebten der chinesische sowie der europäische Heerführer gleichermaßen in einer Zeit des Umbruchs. Sie agierten in einer Periode, in der das „Schwert“ über das „Wort“ obsiegte und in der sich die zwei Feldherren, durch ihr kluges – oftmals aber auch skrupelloses – Vorgehen durchzusetzen vermochten. Beide Männer werden heute als zwei der „größten“ historischen Persönlichkeiten, die es seit jeher in der gesamten Menschheitsgeschichte gegeben hat, angesehen. Ihre militärischen Feldzüge gelten als legendär und sind beinahe jedem im betreffenden Kulturraum ein Begriff. Doch berühmt gewordene Persönlichkeiten umranken immer auch hartnäckige Mythen. So ist es fraglich, ob es die oft genannte Liebesbeziehung zwischen Kleopatra und Cäsar wirklich gegeben hat. Und es ist wohl bestenfalls umstritten, ob die letzten Worte des römischen Diktators wirklich „Auch du, mein Sohn Brutus“, gewesen sind. Genauso wie bei dessen europäischem Gegenpart entstammen viele Zuschreibungen zur historischen Gestalt Cao Caos aus dem „Reich der Legenden“. So wahrscheinlich auch die folgende Geschichte, die sich zugetragen haben soll, nachdem Cao Cao bereits die Hauptstadt des Han-Reiches erobert hatte und der letzte Han-Kaiser sich unter der Kontrolle des Usurpators befand.

130 Vgl. B. J. Mansvelt Beck, The Fall of Han, in: The Ch'in and Han Empires. 221 BC–AD 220, hrsg. v. Denis Twitchett/Michael Loewe (The Cambridge History of China 1), Cambridge 1986, S. 317–376, hier S. 362–369. 38

„Und so gab Tsao Tsao [Cao Cao] (vorerst) den Plan eines Thronwechsels auf. Er beschränkte sich darauf, den Schwager des Throns und seine vier Mitverschwörer samt ihren Familien und ihrem Gesinde vor dem Stadttor öffentlich hinrichten zu lassen. Nicht weniger als siebenhundert Menschen büßten bei dieser Massenhinrichtung ihr Leben ein. Unter den Zuschauern, die dem grausigen Schauspiel beiwohnten, gleichviel ob Würdenträger oder einfaches Volk, war niemand, der nicht Tränen vergossen hätte. Aber durch die Massenhinrichtung war der Rachedurst des Kanzlers noch nicht gestillt. Mit einer Rotte Bewaffneter drang er in den Kaiserpalast ein und forderte als letztes Opfer die kaiserliche Nebengemahlin ersten Ranges. […] Der Kaiser liebte sie besonders, und sie war von ihm im fünften Monat schwanger.“131 Cao Cao (155–220) verschonte nicht einmal eine schwangere Frau. Selbst einen schnellen Tod gewährte er dieser nicht – im Gegenteil, der skrupellose Despot offenbarte seinen moralisch verwerflichen Charakter und ließ die erste kaiserliche Nebengemahlin vor dem Palasttor in einer brutalen Art und Weise von seinen Männern erdrosseln.132 Die hier geschilderte Geschichte, die offensichtlich die negativen Charaktereigenschaften von Cao Cao hervorzuheben versucht, entstammt aus einem im 14. Jahrhundert entstandenen Roman mit dem Titel „Die Geschichte der Drei Reiche“133 (Sanguo yanyi). Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Cao Cao von Luo Guanzhong (ca. 1330–1400), dem Autor der „Geschichte der Drei Reiche“, im 14. Jahrhundert als ein intriganter und gnadenloser Despot, schlichtweg sogar als der größte „Schurke“, den es in der Geschichte jemals gegeben hat, beschrieben wurde. Denn Luo Guanzhong hatte in seinem Roman lediglich das zu seiner Zeit vorherrschende Geschichtsbild über das 3. Jahrhundert übernommen, das die Zeitperiode von 220 bis 280 n. Chr. als eine der „dunkelsten Epochen“ in der chinesischen Geschichte ansah. Die chinesische Geschichtsschreibung urteilte immer über ihre Vergangenheit. Und im Falle von Cao Cao fiel dieses Urteil, wie wir alleine schon aus Luo Guanzhongs Werk herauslesen können, überaus schlecht aus. Mitunter aber sogar so vernichtend, dass die von Cao Cao begründete Wei-Dynastie (220–265) im Nachhinein aus der offiziellen Liste der rechtmäßigen Herrscherhäuser getilgt wurde.

131 Luo Guanzhong, Sanguo yanyi, übersetzt von Franz Kuhn, in: Die Geschichte der Drei Reiche. Roman aus dem Alten China mit vierundzwanzig Holzschnitten aus dem chinesischen von Franz Kuhn, 1679, hrsg. v. Franz Kuhn, Frankfurt am Main 1981, S. 323. 132 Luo Guanzhong, Sanguo yanyi, S. 324. 133 Gemeinhin gilt „Die Geschichte der Drei Reiche“ als eine der „Großartigsten“ je im chinesischen Kulturraum geschaffenen Prosaerzählung. Als Verfasser des populären Werks – das bis heute einen nicht unwesentlichen Einfluss auf das kollektive chinesische Geschichtsverständnis ausübt – gilt Luo Guanzhong (1330-1400). Sein Roman basiert im Wesentlichen auf historischen Fakten und deckt sich in weiten Teilen mit dem „offiziellen Geschichtswerk“ – den „Chroniken der Drei Reiche“ (Sanguozhi), verfasst von Chen Shou (233–297) – zu jener Zeit. Die Authentizität des Werkes ist jedoch bestenfalls umstritten, da Luo Guanzhong sich bei seiner Interpretation der geschichtlichen Ereignisse großen literarischen Freiraum ließ. Die bedeutendsten Abschnitte des Romans in deutscher Übersetzung nachzulesen in: Die Geschichte der Drei Reiche. Roman aus dem Alten China mit vierundzwanzig Holzschnitten aus dem chinesischen von Franz Kuhn, 1679, hrsg. v. Franz Kuhn, Frankfurt am Main 1981. 39

„In the past, Chen Shou, in his Record of the Three Kingdoms, treated (the biographies of the ruling family of) Wei under the section for members of the hereditary house and (the biographies of the ruling families of) Wu and Shu134 under the section for supplemental biographies. [...] (But) just because Chen Shou earlier made a mistake [...], one should not regard the insight of Xi Zaochi and Zhu Xi (who corrected these mistakes) as vastly superior. Those in past and present times who have ridiculed the Record of the Three Kingdoms [...] (because of these mistakes) appear to be engaging in outrageous abuse. Such people do not stop to consider whether or not the ancients would agree with their opinions, were we to raise them from the grave.”135 Laut dem im dritten Jahrhundert lebenden Historiker Chen Shou (233–297) – dem mutmaßlichen Verfasser der „Chroniken der Drei Königreiche“ (280 n. Chr.) – war das „Mandat des Himmels“ rechtmäßig von der Han- an die Wei-Dynastie (220–265) weitergereicht worden, was wir daran erkennen können, dass dieser in seinen „Chroniken der Drei Königreiche“ „[die] Wei im Teil für Mitglieder des Herrenhauses und [die] Wu und Shu im Teil für ergänzende Biografien“ behandelte. Doch wie der oben zitierte Quellenausschnitt zeigt, glaubten die später lebenden Gelehrten keineswegs an eine rechtmäßige Herrschaft der Wei-Dynastie. Vielmehr vertraten diese die Ansicht, dass Chen Shou beim Schreiben seines Geschichtswerkes ein fataler Fehler unterlaufen wäre, indem dieser die Wei in seinen „Chroniken“ als legitime Nachfolgerdynastie der Han behandelt hatte. Obwohl es sich bei den „Chroniken der Drei Königreiche“ um eine durchaus glaubwürdige Quelle zur Wei-Dynastie handelte, wollten die späteren Vertreter der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung die Ansicht von Chen Shou keineswegs teilen. Diese wollten nicht an eine rechtmäßige Herrschaft glauben, sondern sahen die in ihren Augen verwerfliche Wei-Dynastie als eine „illegitime“ Dynastie an. Nun ist – wie Napoleon Bonaparte es einst bereits gesagt haben soll – „Geschichte die Version von vergangener Ereignisse, auf die sich die Menschen geeinigt haben“. Und uns muss bewusst sein, dass es die späteren Vertreter der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung waren, die die Wei-Dynastie (220–265) sozusagen im Nachhinein entmachteten, als sie der Wei-Dynastie das „Mandat des Himmels“ in ihren Geschichtswerken aberkannten und die Abkömmlinge aus dem Hause Wei offiziell zu unrechtmäßigen Herrschern erklärten.136 Warum aber taten sie dies? Worin lagen die Gründe, dass die späteren Gelehrten die Wei- Dynastie aus der Liste der „offiziellen Dynastien“ tilgen wollten? Die drei wichtigsten

134 Bei den drei konkurrierenden Dynastien der „Zeit der Drei Reiche“ handelte es sich um die Wei-, die Wu- und die Shu-Dynastie. Von Chen Shou wurde die von Cao Cao begründete Wei-Dynastie als legitime Nachfolgerdynastie der Han-Dynastie angesehen, wogegen die beiden anderen Dynastien außen vor blieben. 135 Zhang Xuecheng, Wen Te (Virtue in a Litterateur), 1796, translated by Philip J. Ivanhoe, in: On Ethics and History, S. 83. 136 Vgl. Weiers, Geschichte Chinas, S. 45. 40

Ursachen seien hier genannt. Erstens müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Vertreter der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung über ihre Vergangenheit immer aus der Perspektive eines Einheitsreiches urteilten. Während ein geeintes chinesisches Reich unter der Kontrolle von nur einer Dynastie stets als das Optimum angesehen wurde, galt ein geteiltes Reich als das genaue Gegenteil dazu. Cao Cao war maßgeblich am Untergang der Han-Dynastie beteiligt, wodurch er und seine Dynastie eine nicht unwesentliche Teilschuld daran trugen, dass das Einheitsreich der Han auseinandergefallen war und ein Zeitabschnitt anbrach, in dem sich China in mehrere Kleinreiche aufsplitterte, die sich auf eine blutige Weise untereinander bekämpften.137 Zweitens wurde die Wei-Dynastie herabgesetzt, weil sich deren Begründer, Cao Cao, offen gegen die vom Konfuzianismus determinierten hierarchischen Gesellschaftstrukturen gewandt hatte. Dieser hatte gleich mehrere konfuzianische Kardinaltugenden verletzt, als er seinen Herrscher verriet, seinen Sohn als Thronfolger einsetzte und sich infolge dieses machtpolitischen Manövers von der Han-Dynastie lossagte. Was jedoch sicherlich am schwersten wog, ist drittens die Tatsache, dass die konfuzianische Lehre ab der Wei-Dynastie ihre vorherrschende Stellung am Hofe und in der Gesellschaft verlor.138 Denn die spätere, von orthodoxen neokonfuzianischen Denkmustern durchdrungene Geschichtsschreibung gab Cao Cao die Hauptschuld daran, dass der Daoismus nach dem Untergang der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) wieder an Einfluss gewinnen und eine weitere gänzlich neue Lehre, der Buddhismus, sich innerhalb des chinesischen Raums verbreiten konnte.

1.11. Über „das große Fahrzeug“ und den „endlosen leidvollen Kreislauf“ des Lebens Im Jahre 1972 fand man nördlich von Chengdu bei Ausgrabungen ein behauenes Steinfragment, bei dem die beteiligten Archäologen schnell bemerkten, dass es sich bei diesem um eine Relieffliese handeln musste,139 da auf dem Steinfragment eine Pagode abgebildet war, die von zwei großen Lotusblüten gerahmt wird. Zwar handelt es sich bei dem Fund aus der Provinz Sichuan nur um ein von der Zeit stark gezeichnetes kleines Bruchstück, doch die Gestaltung der Relieffliese weist für die Experten klar darauf hin, dass sie einst Teil

137 Vgl. Mansvelt Beck, The Fall of Han, S. 369. 138 Alan K. L. Chan, Neo-Daoism, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 303–323, hier S. 303. 139 Marylin Martin Rhie, Early Buddhist Art of China and Central Asia. Later Han, Three Kingdoms and Western Chin in China and Bactria to Shan-shan in Central Asia (Handbook of Oriental Studies 12), Leiden/Boston/Köln 1999, S. 61. 41 eines buddhistischen Schreins aus der Han-Zeit gewesen sein muss.140 Durch diesen und weitere archäologischen Funde scheint die Vermutung nahe, dass der Buddhismus bereits in der späten Han-Zeit (23/25–220), im 1. oder. 2. Jahrhundert n. Chr., seinen Weg nach China gefunden hatte.141 Begründet wurde die Lehre, die mutmaßlich über die Seidenstraße in den chinesischen Raum vorgedrungen war, ursprünglich in Indien, genauer gesagt, in der heutigen im indischen Distrikt Gaya zu verortenden Kleinstadt Bodhgaya, wo ein gewisser Siddhartha Gautama (ang. 563–483 v. Chr.) im 6. oder 5. Jahrhundert v. Chr. – über den genauen Zeitraum ist man sich unklar – in asketischer Abgeschiedenheit die „vollkommene Erleuchtung“ erlangt haben soll.142 Geläufiger als der Name des Mannes ist uns wohl heute eher die Zuschreibung, die ihm gegeben wurde. Denn Siddhartha Gautama ist kein geringerer als der Religionsstifter des Buddhismus, Buddha („Der Erwachte“) selbst. Der Legende nach begründete Siddhartha Gautama in Nordindien die buddhistische Religion. Bei dieser handelt es sich grundsätzlich um eine sogenannte „Erlösungsreligion“, die ihren Fokus auf das „Jenseits“ in Form des theologischen Konzeptes des „endlosen leidvollen Kreislaufes“ (Samsara) vom Leben und der Suche nach dem Nirwana (Erlöschen) legte. Grundlage der Lehre des Buddhismus waren und sind die „vier edlen Wahrheiten“. Diese besagen, dass das Leben voller Leid ist, der Grund für dieses Leid die menschlichen Begierden seien, dass man das zukünftige Leid des Lebens durch die Zügelung dieser Begierden vermeiden könne und dass man den eigenen Gelüsten entgegenwirkt, indem man dem „Edlen achtfachen Pfad“ folgt. Durch die Übung in rechter Erkenntnis, durch rechte Absichten, rechte Rede, rechtes Handeln, rechten Lebenserwerb, rechte Übung, rechte Achtsamkeit und durch rechte Meditation könne man den „endlosen leidvollen Kreislauf“ der Wiedergeburten überwinden und zur Erlösung in Form des „Nirwana“ (Verlöschen) gelangen.143 Auf seinem geistesgeschichtlichen Weg nach China ging der Buddhismus Synthesen mit den traditionellen chinesischen Lehren ein. Die aus dem indischen Subkontinent stammende „Erlösungsreligion“ vermischte sich schon früh mit dem Daoismus, in späterer Folge aber auch erfolgreich mit dem Konfuzianismus. Bereits in den ersten uns heute bekannten

140 Marylin Martin Rhie, Early Buddhist Art of China and Central Asia, S. 62. 141 Paul Demiéville, Philosophy and Religion from Han to Sui, in: The Ch'in and Han Empires. 221 BC–AD 220, hrsg. v. Denis Twitchett/Michael Loewe (The Cambridge History of China 1), Cambridge 1986, S. 808–872, hier S. 820. 142 Hans Wolfgang Schumann, Mahāyāna-Buddhismus. Das große Fahrzeug über den Ozean des Leidens, München 19952, S. 111–123. 143 Helwig Schmidt-Glintzer, Der Buddhismus, München 32008, S. 16. 42

Übersetzungen von buddhistischen Texten ins Chinesische wird dies sichtbar. „Yoga“ wie auch „bodhi“ wurden bei den Abschriften etwa zu „dao“ und der Begriff „Nirvana“ wurde zu dem aus dem Daoismus stammenden Begriff „wuwei“ abgewandelt.144 Durch die Synthese, welche der Buddhismus mit den traditionellen chinesischen Lehren einging, bildeten sich eigenständige durch die chinesische Geisteswelt geprägte Nebenströmungen des Buddhismus. Natürlich gab es – wie beim Daoismus, Konfuzianismus und wie bei fast allen philosophisch-theologischen Konzepten – von Beginn an nicht nur eine allgemeingültige Lehre, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen buddhistischen „Schulen“, die im chinesischen Raum miteinander konkurrierten und um die Deutungshoheit stritten.145 Doch gleich wie verschieden sich die buddhistischen Strömungen Chinas auch in der Auslegung von einzelnen Sutras und in ihren organisatorischen Strukturen zeigen mochten – gemein war ihnen allen, dass sie in ihrer Geisteshaltung dem sogenannten Mahayana-Buddhismus146 nahestanden.147 Die Lehre des sogenannten „Großen Fahrzeugs“ – „maha“(groß)/“yana“(Fahrzeug) – ist bis heute die in Ostasien dominierende Strömung des Buddhismus. Im Gegensatz zu den beiden anderen großen Hauptrichtungen, dem Theravada und dem Hinayana, kann im Mahayana- Buddhismus grundsätzlich jeder Gläubige einen Platz im von der Lehre propagierten, „Großen Fahrzeug“ ergattern. Dies bedeutet, dass nicht nur die Elite, das heißt, einzelne Mönche, Heilige oder andere Privilegierte durch das „Erlöschen“ aus dem „ewigen leidvollen Kreislauf des Lebens“ ausscheiden können, sondern im Prinzip jeder Mensch dazu in der Lage ist, das „Nirvana“ zu erreichen. Um aber erfolgreich zu „erlöschen“, muss der Einzelne dem „Edlen Achtfachen Pfad“ folgen und sich speziell in den Tugenden des Mitgefühls (Karuna) und der Weisheit (Prajna) üben, solange bis er selbst zu einem „Arhat“ (Würdigen) heranreift. Besonders dem „Arhat“ – im Mahayana-Buddhismus als „Bodhisattva“ (erleuchtetes Wesen) bezeichnet – wurde eine entscheidende Position in der buddhistischen Lehre innerhalb des chinesischen Kulturraums zugesprochen. Dieser galt als Sinnbild für das höchste anzustrebende Ziel eines jeden Gläubigen und unterschied sich in einem zentralen Punkt vom „Arhat“ des Theravada-Buddhismus. Anders als sein „indisches Gegenstück“ versucht der „Boddhisattva“ sein „Erlöschen“ aufzuschieben. Dies tut er grundsätzlich wegen des „Mitgefühls“(Karuna), welches er gegenüber allen anderen Menschen hat. Ein „Arhat“

144 Demiéville, Philosophy and Religion from Han to Sui, S. 825. 145 Vgl. Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 184. 146 Eine detaillierte Darstellung zum Mahāyāna-Buddhismus bietet das Werk von Hans Wolfgang Schumann, Mahāyāna-Buddhismus. Das große Fahrzeug über den Ozean des Leidens, München 19952. 147 Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 189. 43

„erlischt“ sofort nach seiner Erleuchtung, doch einem „Boddhisattva“ liegt der Gedanke fern, lediglich alleine ins „Nirvana“ zu gelangen. Vielmehr ist es diesem ein Anliegen, das „Große Fahrzeug“ mit „erleuchteten Seelen“ zu befüllen. Indem der „Boddhisattva“ den Menschen seinen Weg zur „Erleuchtung“ offenbart, hofft er, dass auch andere Menschen, die es ihm gleich tun, aus dem „ewigen leidvollen Kreislauf des Lebens“ entfliehen können.148 Vereinfacht gesprochen, ist der „Boddhisattva“ im Kern also nicht nur als ein „erleuchtetes Wesen“ anzusehen, sondern auch als ein Lehrer, der den Menschen die Vorzüge seiner Religion bzw. Philosophie näherbringt und ihnen hilft, ein „tugendhaftes Leben“ zu führen. Wenn man einmal vom theologischen Hintergrund absieht, verhält sich der idealisierte „Boddhisattva“ gleich wie ein konfuzianischer „Shengren“. Der Mahayana-Buddhismus erhob die Lehrtätigkeit zu einem essentiellen Bestandteil der eigenen philosophischen Grundprinzipien.149 Indem er dies tat, das heißt, die idealisierten Charakterzüge eines „Boddhisattva“ zugunsten der vom Konfuzianismus determinierten Wertvorstellungen auslegte, konnte sich die buddhistische Lehre erfolgreich an die bereits existierende chinesische Geisteswelt anpassen. Ein buddhistischer „Boddhisattva“, der nach seiner Lehrtätigkeit laut der Überlieferung erfolgreich ins Nirvana eingegangen war, soll der im 8. Jahrhundert lebende Mazu Daoyi (709–788) gewesen sein. Dieser hatte laut einer Legende bereits in jungen Jahren die „vollkommene Erleuchtung“ am Berg Hengyue150 erlangt und war in der Folge zu einem der bedeutendsten buddhistischen Gelehrten seiner Zeit herangereift. Nachdem Mazu Daoyi zum „Boddhisattva“ geworden war, gründete er die sogenannte „Hongzhou-Schule“151, in der er am Ende seines Lebens 139 Schüler152 persönlich durch derlei Worte belehrt haben soll: „Wenn ihr unseren Weg verstehen wollt, so wisset: Das gewöhnliche Bewußtsein ist der Weg. Was ist es, das das gewöhnliche Bewußtsein genannt wird? Es ist ohne Pläne und Absichten zu sein, ohne Unterscheidungen zwischen Richtig und Falsch, ohne Auswählen oder Ablehnen, es ist weder profan noch heilig. Daher heißt es […]: ‚Weder die Handlungsweise der gewöhnlichen Menschen noch die Handlungsweise der Heiligen, das ist die Handlungsweise des Boddhisattva‘.“153

148 Vgl. Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 181. 149 Vgl. hierzu Schumann, Mahāyāna-Buddhismus, S. 187–190. 150 Mazu Daoyi und Dazhu Huihai. Grundlegende Reden und Aufzeichnungen der Honghzou-Schule des Chan- Buddhismus, hrsg. v. Christian Wittern, Berlin 2011, S. 11. 151 Die von Mazu Daoyi begründete Hongzhou-Schule war von der Tang- bis in die Song-Zeit einflussreich. Die Hongzhou-Schule gilt in China gemeinhin als die bedeutendste Schule des Chan-Buddhismus. Aus dem Chan- Buddhismus – bei dem es sich wiederum um die einflussreichste Unterströmung des Mahayana-Buddhismus handelte – formte sich der japanische Zen-Buddhismus. Näheres über den Chan-Buddhismus nachzulesen in: Bernard Faure, Chan Insights and Oversights. An Epistemological Critique of the Chan Tradition, Princeton 1996. 152 Mazu Daoyi und Dazhu Huihai. Grundlegende Reden und Aufzeichnungen, S. 15. 153 Ebd., S. 21. 44

Ein „Boddhisattva“ ist laut Mazu Daoyi also eine Person, die das Extreme scheut, die „Mitte“ in den Dingen sucht und keinerlei Pläne und Absichten verfolgt. Man könnte fast meinen, dass Mazu Daoyi in diesem Quellenauszug nicht die Charakterzüge eines „Boddhisattva“, sondern vielmehr die eines daoistischen „Heiligen“ beschreibt. Denn ursprünglich spielten die beiden Wesenszüge der „Bescheidenheit“ und der „Ausgeglichenheit“ ja eigentlich hauptsächlich in der daoistischen Philosophie eine zentrale Rolle.154 Doch wie dieses Beispiel zeigt, vermochte der Buddhismus auch die wesentlichsten Aspekte aus der daoistischen Philosophie erfolgreich in seine Lehre zu integrieren. Bis ins 8. Jahrhundert hatte sich die buddhistische Lehre durch ihre Fähigkeit, sich erfolgreich anzupassen, soweit an den Daoismus und Konfuzianismus angenähert, dass die drei Lehren oftmals nur noch schwerlich voneinander unterschieden werden konnten. In einem relativ kurzen Zeitraum, in weniger als 400 Jahren, war der Buddhismus so zu einem festen Bestandteil in der chinesischen Geisteswelt geworden. Mitunter hatte sich der Buddhismus sogar so weit mit den traditionellen chinesischen Lehren vermischt, dass selbst ein Literat wie Liu Zongyuan (773–819), der sich selbst als ein konfuzianischer Gelehrter ansah, das folgende Urteil fällte: „In der Tat gibt es im Buddhismus Dinge, die man nicht ablehnen kann. Gar häufig stimmen sie mit den kanonischen Büchern des Konfuzianismus, vom Buch der Wandlungen bis zu den Gesprächen überein. In der Tat habe ich Freude an dem, worin der Buddhismus unserem natürlichen Fühlen entspricht und auch nicht vom Tao des Konfuzius abweicht.“155 Da sich der Konfuzianismus, der Daoismus und der Buddhismus gegenseitig ergänzten, wechselseitig beeinflussten und viele Begrifflichkeiten miteinander teilten, war es schwierig geworden, eine klare Grenze zwischen den drei Lehren zu ziehen. Doch nicht nur ein im 8. Jahrhundert n. Chr. lebender Konfuzianer wie Liu Zongyuan tat sich schwer, eine Differenzierung zwischen den philosophischen Strömungen innerhalb Chinas vorzunehmen. Selbst ein buddhistischer „Erleuchteter“ wie Mazu Daoyi (709–788) wollte oder konnte dies nicht.

154 Siehe S. 29. 155 Liu Zongyuan, Song seng Haochu xu, zitiert nach Wolfgang Kubin, Der klassische Essay (sanwen), in: Die klassische chinesische Prosa. Essay, Reisebericht, Skizze, Brief. Vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hrsg. v. Marion Eggert/Wolfgang Kubin/Rolf Trauzettel/Thomas Zimmer (Geschichte der chinesischen Literatur 4), München 2004, S. 1–116, hier S. 46. 45

Als dieser bei einer Gelegenheit von einer nicht näher beschriebenen Person befragt wurde, wo eigentlich die Übereinstimmungen und Unterschiede der drei Lehren des Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus liegen würden, soll dieser erwidert haben: „Wenn [Menschen] von großem Vermögen sie [die drei Lehren] gebrauchen, sind sie gleich; [Menschen] mit begrenzten Fähigkeiten escheinen sie unterschiedlich. Alle drei sind aus einer einzigen spirituellen Quelle gespeist, erst in der Begegnung erscheinen Unterschiede, und es werden drei. Verblendung und Erleuchtung liegen in den Menschen, nicht in der Unterschiedlichkeit der Lehren.“156

1.12. Vom „Zeitalter des Buddhismus“: Die Wei- und Jin-Dynastie Heutzutage ist das aus dem indischen Subkontinent stammende Gedankenkonstrukt der „Karma-Lehre“ in der westlichen Hemisphäre wohl fast jedem Menschen ein Begriff. Jenes Ursache-Wirkung-Prinzip, welches davon ausgeht, das alles Tun eines Individuums unweigerlich Folgen nach sich zieht. Genauer gesagt, geht die Karma-Lehre davon aus, dass jede Handlung in der physischen Welt positives oder negatives „Karma“ erzeugt. Handelt man in seinem Leben größtenteils „schlecht“, so erschafft man eine Fülle von „negativem Karma“157, das irgendwann – sei es vielleicht auch erst in einem späteren Leben – wieder auf einen zurückkommen wird.158 Der Karma-Lehre liegt damit ein auf gesellschaftlichen Moralvorstellungen basierendes Konzept zugrunde. Es folgt einem Ursache-Wirkungs- Prinzip, im Sinne von: Wer Schlechtes tut, der wird auch Übles erfahren. Auch im deutschen Sprachraum kennen die Menschen dieses Prinzip, welches etwa in dem bekannten vom Alten Testament159 abgewandelten Sprichwort, „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“, ersichtlich wird. Im chinesischen Raum sprach man nicht von „Karma“, sondern von „Qi“ (Chi), einer universellen Kraft, die jedem substantiellen Ding, aber auch jeder Handlung innewohnt. Überall auf der Welt ist diese unsichtbare ordnende Kraft zu finden und es gibt nichts, das sie nicht durchdringt. In sich ruhend, ist das „Qi“ ausgeglichen. Weder dominiert in ihm das „Yin“(das Dunkle/das Weiche/das Kalte/das Weibliche) noch das „Yang“ (das Helle/das Harte/das Heiße/das Männliche). Bringt man das „Qi“ jedoch in irgendeiner Form in ein Ungleichgewicht, sorgt die von den undurchschaubaren kosmologischen Kräften geleitete „Natur“ dafür, dass die entstandene Unausgewogenheit letztlich wieder beseitigt wird.

156 Mazu Daoyi und Dazhu Huihai. Grundlegende Reden und Aufzeichnungen, S. 62. 157 Gleiches gilt auch für „positives“ Karma. 158 Vgl. Schumann, Mahāyāna-Buddhismus, S. 69–70. 159 Die Bibel, Hosea, Kapitel 8, Vers 7. 46

Sammelt nun ein Mensch in seinem Leben einen Überfluss an „schlechter Energie“ an, richtet der Kosmos – ähnlich einem Gott – über diesen Menschen, in dem „der Himmel“ die „schlechte Energie“, welche von diesem Menschen ausgeht, letztlich wieder neutralisiert. Nach der Vorstellung der chinesischen Geisteswelt bestrafen die „Kräfte“ der Natur am Ende also jeden, der ein überwiegend untugendhaftes Leben führt und sein „qi“ wissentlich in Ungleichgewicht gebracht hat.160 In der chinesischen Geschichte gibt es wohl niemanden, der die ordnenden Kräfte der Natur zu seinen Lebzeiten derart „herausgefordert“ hatte, wie es einst der Usurpator Cao Cao (155– 220) tat. Zumindest wenn man den Vorstellungen der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung glaubt, dann sammelte dieser zu seinen Lebenszeiten durch seine Taten eine Fülle von schlechter „Energie“ an, die ihm am Ende zum Verhängnis werden musste. Cao Cao starb einen unglücklichen Tod.161 Doch das untugendhafte Verhalten von Cao Cao wurde letztendlich nicht nur ihm selbst, sondern auch seinen Nachfolgern zum Verhängnis. Einst hatte der Usurpator den letzten Han-Kaiser festsetzten lassen und die Wei-Dynastie (220–265) etabliert, doch nunmehr rächten sich gewissermaßen die Kräfte des Kosmos, indem Cao Caos Enkel das gleiche Schicksal erlitt. Genauso wie Cao Cao einst den letzten Han- Kaiser entmachtet hatte, zwang nun ein gewisser Sima Yan (236–290) den dritten und letzten Wei-Kaiser zum Abdanken162 und beseitigte damit – nach dem moralisierenden Verständnis der chinesischen Geschichtsschreibung – das „Chaos“, das durch Cao Cao in China entstanden war. Der Frühling des Jahres 266 n. Chr. war angebrochen, als Sima Yan sich zum Kaiser erhob und die Jin-Dynastie (265–420) begründete. Doch die Zerschlagung der Wei war lediglich der erste bedeutende Erfolg den Sima Yan in seinem Leben feiern konnte. Denn diesem war noch etwas vergönnt, das um ein Vielfaches prestigeträchtiger war als die Schaffung einer eigenen Dynastie. Er vermochte zu erreichen, was selbst der glorreichen Han-Dynastie (206 v. Chr.– 220 n. Chr.) nicht möglich gewesen war und eroberte mit seinen Truppen „ganz“ China. Zwar benötigte er, um diese Errungenschaft zu erlangen, noch weitere vierzehn Jahre seines

160 Eine Übersetzung des Begriffes „Qi“ (auch Chi) in die deutsche Sprache ist im Grunde unmöglich. Näheres zu den vielen Bedeutungen des Begriffs „Qi“, nachzulesen in: Li Cunshan/ Yan Xin, A Differentiation of the Meaning of "Qi" on Several Levels, in: Frontiers of Philosophy in China 3 (2008), S. 194–212. 161 Die geläufigste Erzählung ist die, dass Cao Cao vor seinem Tode von heftigen Kopfschmerzen geplagt worden sein soll. Hua Tuo († 220), ein Arzt und guter Vertrauter diagnostizierte Cao Cao eine rheumatische Erkrankung, die das Gehirn befallen hatte. Um seinen Fürsten zu retten, wollte Hua Tuo diesem die Schädeldecke öffnen. Cao Cao ließ sich – paranoid wie er gewesen sein soll – nicht helfen. Er glaubte an einen Mordkomplott gegen ihn und ließ den Arzt Hua Tuo ins Gefängnis werfen, wo dieser binnen weniger Tage verstarb. Cao Cao selbst erlag nur kurze Zeit später der Krankheit, die richtig diagnostiziert wurde und eigentlich von Hua Tuo geheilt werden hätte können. 162 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 201. 47

Lebens, doch am Ende konnte er alle chinesischen Kleinreiche unter seiner Herrschaft vereinen.163 Dieser Erfolg brachte ihm nicht nur einen festen Platz in den Geschichtsbüchern ein, sondern gab ihm auch seinen Herrschaftsnamen „Jin Wudi“, was übersetzt in etwa „Jin der Unbezwingbare“ bedeutet. Die traditionelle chinesische Geschichtschreibung zeichnete ein ambivalentes Bild vom „Reichseiniger“ Sima Yan (236–290). Einerseits gilt der Begründer der Jin-Dynastie (265– 420) als ein großmütiger Regent und erfolgreicher Stratege, dem es nach den mythischen Urkaisern und der verwerflichen Qin-Dynastie erstmals wieder gelungen war, China in seiner „Ganzheit“ zu beherrschen. Anderseits wurde Sima Yan aber auch aufgrund seines Lebensstils und seiner innenpolitischen Agenda verurteilt. Es heißt, er sei durch seine Prunksüchtigkeit aufgefallen, habe ausschweifende Orgien gefeiert und wäre ein „Lustmolch“ sondergleichen gewesen, der sich über zehntausend Konkubinen zur selben Zeit an seinem Hof gehalten haben soll.164 Schwerwiegender als sein dekadenter Lebensstil gilt aber noch seine Unfähigkeit hinsichtlich von Regierungsangelegenheiten. Denn Sima Yan soll persönlich die als irrgeleitet geltende Idee vertreten haben, dass die Wei-Dynastie (220–265) nur deshalb untergegangen war, weil sie den Prinzen und offiziellen Würdenträgern im Reich zu wenig Macht zugesprochen hatte. Diesen „Fehler“ der Vorgänger-Dynastie wollte der Jin- Herrscher tunlichst vermeiden. Um seine Vasallen zufrieden zu stimmen und um nicht dasselbe Schicksal wie der letzte Wei-Kaiser erleiden zu müssen, verlieh Sima Yan seinem engen Verwandtschaftskreis und einflussreichen Würdenträgern weitreichende Privilegien.165 Diese „Laissez-faire“-Haltung, die Sima Yan gegenüber seiner eigenen Verwandtschaft und einigen Vasallen vertrat, sollte sich jedoch als ein fataler Fehler herausstellen und am Ende genau das Gegenteil von dem bewirken, was der erste Jin-Kaiser eigentlich zu erreichen versucht hatte. Denn schon binnen kürzester Zeit, nachdem Sima Yan im Jahre 290 gestorben war, kam es zu internen Machtkämpfen am Hofe und eine Rebellion der sogenannten „Acht Könige“ (Bawang zhi luan) brach vom Zaun. Genau jene einflussreichen Familienmitglieder, die der erste Jin-Herrscher mit weitreichenden Privilegien ausgestattet hatte, nutzten nun die

163 Bis auf das Gebiet der heutigen Provinz Sichuan vermochte Sima Yan das gesamte Territorium des ehemaligen Qin-Reiches zu erobern. Vgl. Piero Corradini, The Barbarian States in North China, in: Central Asiatic Journal 50 (2006), Heft 2, S. 163–232, hier S. 172. 164 Ulrich Theobald, Jin Wudi 晉武帝 Sima Yan 司馬炎, in: ChinaKnowledge.de – An Encyclopaedia on Chinese History, Literature and Art, [http://www.chinaknowledge.de/History/Division/personsjinwudi.html], eingesehen am 17.07.2018. 165 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 201. 48

Gelegenheit des Thronwechsels und versuchten, die Macht im Reich ihrerseits an sich zu reißen.166 In der chinesischen Geschichtsschreibung gilt der Niedergang der Jin-Dynastie als ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn ein chinesischer Kaiser nicht der Beamtenschaft, sondern machtgierigen Familienmitgliedern die Verwaltung der Provinzen überträgt.167 Das moralisierende Bild, welches die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung zu zeichnen versucht, ist hierbei offensichtlich: Sima Yan gab seinen Vasallen und nicht konfuzianischen Würdenträgern die Macht – und dafür wurden er und seine Dynastie bestraft. Nichts anderem als der persönlichen Fehleinschätzung von Sima Yan sei es zu verdanken, dass das chinesische Einheitsreich schon nach nur einer Generation wieder zerfiel und die schreckliche Zeit der „Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ (Wuhu shiliuguo) anbrechen konnte.168

1.13. Über kurzlebige Dynastien und skrupellose Herrscher. Die „Zeit der Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ Schon alleine die Bezeichnung der Epoche der „Zeit der Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ (304–439) sollte den Geschichtsinteressierten von heute zum Nachdenken bewegen. „Fünf Barbaren“ herrschten mehr als hundert Jahre über den gesamten Norden Chinas und stürzten das ehemalige Reichsgebiet der Jin-Dynastie (265–420) ins völlige Chaos. So lautete das Urteil, welches die chinesische Geschichtsschreibung über den Zeitraum von 304 bis 439 zog. Grundsätzlich handelte es sich bei den von der späteren Geschichtsschreibung benannten „Fünf Barbaren“ nicht um einzelne Männer, sondern um reiternomadische „Volksgruppen“, die ab dem dritten und vierten Jahrhundert verstärkt ins „chinesische“ Gebiet eingedrungen waren. Die fünf Stämme der Xiongnu, Di, Jie, Xianbei und Qiang169 besiegten auf ihrem Weg nach Süden die chinesischen Verteidigungstruppen, die ihnen entgegengesandt wurden, und errichteten im Zeitraum von 304 bis 439 n. Chr. sechzehn kurzlebige „Staaten“ im Norden und Westen Chinas. Größtenteils geht die heutige Forschung davon aus, dass die Ursachen für die politischen Umwälzungen im Norden Chinas im 4. Jahrhundert in den Folgen eines

166 Susan Wise Bauer, The History of the Medieval World. From the Conversion of Constantine to the First Crusade, New York/London 2010, S. 15. 167 Vgl. Gisela Gottschalk, Chinas große Kaiser. Ihre Geschichte – Ihre Kultur – Ihre Leistungen. Die chinesischen Herrscherdynastien in Bildern, Berichten und Dokumenten, Bern/München 1985, S. 93. 168 Wise Bauer, The History of the Medieval World, S. 16. 169 Corradini, The Barbarian States in North China, S. 166. 49 weltweiten Klimawandels zu finden sind.170 Im Verlauf des zweiten, dritten und vierten Jahrhunderts wurde es in den hohen Breitengraden der nördlichen Hemisphäre nachweislich kälter. Es waren wohl die Folgen dieser klimatischen Veränderung, welche die „nomadischen Völker“ des Nordens dazu zwangen, ihre Heimat in südlicher Richtung zu verlassen und in die chinesischen Grenzgebiete einzufallen. Fast alle Informationen, die wir heute über die Zeit der „Sechzehn Reiche der fünf Barbaren“ (304–439) haben, entstammen aus einem „Offiziellen Geschichtswerk“ aus dem 7. Jahrhundert, das „Jinshu“ (Buch der Jin) genannt wird.171 Dieses gibt uns Auskunft über diese „schreckliche Epoche“ und weiß in einer detaillierten Form über die Protagonisten aus der Ära der „Sechzehn Reiche der Fünf Barbarben“ zu berichten. So heißt es in diesem beispielsweise über Shi Hu (334–349), einem Herrscher aus einer Dynastie, die gemeinhin als die „Spätere Zhao-Dynastie“ (330–350) bekannt geworden ist: „Nachts drang er [Shi Hu] in die Häuser seiner Minister ein und vergewaltigte ihre Frauen; eine schöne Konkubine ließ er schminken, um sie dann zu köpfen und ihr Haupt auf einem Teller herumreichen zu lassen; eine anmutige buddhistische Nonne schändete er, tötete sie dann, kochte und fraß sie.“172 Laut dem „Jinshu“ war der zweite Regent der Späten Zhao-Dynastie ein brutaler, rachsüchtiger und skrupelloser Despot, der auf eine bestialische Weise seinen animalischen Trieben folgte. Shi Hu war der Inbegriff eines „Barbaren“. Jedoch handelte es sich bei diesem um keinen Einzelfall. Denn im „Buch der Jin“ finden wir neben der Beschreibung von Shi Hu noch eine Vielzahl von Passagen, in denen sich die späteren Tang-Historiker in einer ähnlichen Weise über die negativen Charakterzüge der „barbarischen“ Herrscher aus der Zeit der „Sechzehn Reiche“ äußerten.173 Es ist jedoch äußerst fraglich, inwieweit wir dem „Jinshu“ trauen können, wenn es Regenten, wie den im 4. Jahrhundert lebenden Shi Hu als einen völlig von moralischen „Grundwerten“ losgelösten, Frauen vergewaltigenden „Schlächter“ beschreibt. Nicht zuletzt deshalb ist kritische Zurückhaltung geboten, weil das von der Tang-Dynastie (618–907) in Auftrag gegebene Geschichtswerk erst im Jahre 648 herausgegeben wurde. Allein schon der große zeitliche Abstand zwischen den historischen Ereignissen und deren Niederschrift muss als problematisch angesehen werden. Es brauchte mehr als zweihundert Jahre, bis die Geschichte der „Späten Zhao“ auf Bambusrollen gebracht wurde. Zweihundert Jahre, in denen sich nicht

170 Wolf Dieter Blümel, 20000 Jahre Klimawandel und Kulturgeschichte – von der Eiszeit in die Gegenwart, in: Wechselwirkungen, Jahrbuch aus der Lehre und Forschung der Universität Stuttgart (2002), S. 2–19, hier S. 13. 171 Beim Jinshu handelt es sich deshalb um ein sogenanntes „Offizielles Geschichtswerk“, weil dieses am Hofe der Tang-Dynastie kompiliert und dort im Jahre 648 herausgegeben wurde. 172 Jinshu 106. Shi Jilong 1, zitiert nach Kai Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 204. 173 Vgl. Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 204. 50 nur die politischen Verhältnisse in China erneut stark gewandelt hatten, sondern auch das vorherrschende Geschichtsbild. Genauso wie die römische Geschichtsschreibung bezeichnete auch die chinesische Geschichtsschreibung die Abkömmlinge der „reiternomadischen Stämme“ aus dem Norden Eurasiens als „Barbaren“.174 Die von ihnen etablierten Dynastien und Herrschaftshäuser gelten grundsätzlich als verwerflich. Liest man heute das „Buch der Jin“, so muss man sich stets vor Augen halten, dass die von der Tang-Dynastie beauftragten Historiker, die mit dem Schreiben des „Jinshu“ betraut wurden, aus der Perspektive eines Einheitsreiches über ihre Vergangenheit urteilten. Sie versuchten die Zeit, in der das chinesische Reich zersplittert war und von „Fremdherrschern“ aus dem Norden regiert wurde, mit negativen Konnotationen zu versehen. Einerseits taten sie dies, um die Herrschaft der eigenen Dynastie zu legitimieren. Andererseits hatte die Herabsetzung der Zeit der „Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ überdies auch noch dogmatische Gründe, wie in den folgenden Abschnitten noch zu sehen sein wird.

1.14. Über die „Dunkelschule“ und das „Wuwei“ Im 12. Jahrhundert zog der große neokonfuzianische Philosoph Zhu Xi (1130–1200) das folgende Urteil. „Buddhism entered China as Confucianism was at a low ebb. It is characterized with ideas about immensity, self-promotion, falseness and extinguishment […].“175 Laut Zhu Xi konnte sich die buddhistische Lehre nur deshalb im chinesischen Raum verbreiten, weil der Konfuzianismus sich nach dem Untergang des Han-Reiches (206 v. Chr.– 220 n. Chr.) in einer Schwächephase befand. Im Altertum war die Lehre des „Königlichen Weges“ über dreihundert Jahre lang die bestimmende Kraft in China gewesen, doch die Han hatten nach der Auffassung von Zhu Xi versagt. Sie ließen es zu, dass eine von „Unermesslichkeit“, „Eigenwerbung“ und „Verlogenheit“ geprägte Lehre wie der Buddhismus in China Fuß fassen konnte. Wenn die Han-Herrscher untugendhaften Männern wie Cao Cao (155–220) nicht vertraut hätten, dann wäre die Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) niemals erloschen und es hätte wohl nicht das vierhundert Jahre andauernde Interregnum in der chinesischen Geschichte

174 John King Fairbank/Merle Goldmann, China. A New History, Boston/London 32006, S. 72. 175 Zhu Xi, Zhuzi yulei 3009, zitiert nach Weixiang Ding/Deyuan Huang, Zhu Xi’s Choice. Historical Criticism and Influence – An Analysis of Zhu Xi’s Relationship with Confucianism and Buddhism, in: Frontiers of Philosophy in China 6 (2011), Heft 4, S. 521–548, hier S. 527. 51 geben müssen, in dem die „Wahrheit durch gewaltiges Chaos überschattet wurde“. Zhu Xi kommentierte dies folgendermaßen: „[.] Other theories arose overnight and flourished as the disciples of Lao[zi] and Buddha arrived. Because their doctrines resembled that of (the learning of) pattern [lixue], truth was overcome by massive chaos.“176 Die „Wahrheit“ war für Zhu Xi (1130–1200) die konfuzianische Lehre. Und diese – so glaubte der Philosoph – wurde im Zeitraum vom 2. bis zum 7. Jahrhundert von den häretischen Lehren des Laozi und Buddha „überschattet“. Jedoch war es keineswegs nur der im 12. Jahrhundert lebende Philosoph Zhu Xi, der das Aufkommen des Buddhismus und das Wiedererstarken des Daoismus als eine unheilvolle Entwicklung in der Geschichte ansah. Vielmehr wurde die Geschichtsauffassung, die Zhu Xi im 12. Jahrhundert vertrat, zum Konsens innerhalb der chinesischen Geschichtsschreibung der späteren Jahrhunderte. Die Historiker der Song-, Yuan-, Ming- und Qing-Zeit erschufen – vom Weltbild des Neokonfuzianismus beeinflusst – ihre eigene Sichtweise auf die Vergangenheit. Sie gaben eine eigene Geschichtsinterpretation, die auf einem „Geschichtsmodell“ beruhte, das von den Idealen des neokonfuzianischen Dogmas durchdrungen war. Grundsätzlich ging dieses von der neokonfuzianischen Orthodoxie determinierte „Geschichtsmodell“ von der Annahme aus, dass den Menschen großes Übel erspart geblieben wäre, wenn es die Wei-Dynastie (220–265) nie gegeben hätte. Denn wie schon beschrieben wurde, verurteilte die spätere chinesische Geschichtsschreibung die Wei-Dynastie einerseits aufgrund des untugendhaften Verhaltens, das ihr Begründer zu Tage gelegt hatte. Doch die negative Rezeption, welche die Wei-Dynastie erfuhr, beruhte nicht nur auf der historischen Person von Cao Cao (155–220), sondern in erster Linie auf der Tatsache, dass unter der Herrschaft von der durch den Despoten Cao Cao etablierten Wei-Dynastie die Menschen vom Konfuzianismus abließen und sich der sogenannten „Xuan-xue Lehre“177 (Dunkel-Schule) zuwandten. Einer „Schule“, die zwar weiterhin die „Fünf Klassiker“ hochhielt, den Fürsten von Zhou und Kongzi verehrte, sich jedoch gleichzeitig in einem immer größeren Maße auf die Weisheiten aus dem Daoismus stützte.178 Unter der Wei-Dynastie vollzog sich ein Wandel innerhalb der chinesischen Geisteswelt, der weitreichende Folgen nach sich zog. Ein

176 Zhu Xi, Sishu zhangju jizhu 19–20, zitiert nach Lionel M. Jensen, Zhu Xi’s World-Picture and the Mythistory of „Imperial Confucianism“, in: Oriens Extremus 49 (2010), S. 79–113, S. 101. 177 Einen detaillierten Einblick zur “Xuanxue-Lehre” bietet Alan K. L. Chan, Neo-Daoism, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 303– 324. Oder in deutscher Sprache Wolfgang Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, hier im Besonderen die Seiten 142–156. 178 Vgl. Chan, Neo-Daoism, S. 304 –305. 52

Dogmenwechsel, der zu einer Renaissance des Daoismus führte und der den Konfuzianismus als bestimmende philosophische Strömung abzulösen vermochte. Und genau dieser Dogmenwechsel war es, den die spätere Geschichtsschreibung missbilligte – sie sah die „Renaissance“ des Daoismus im 3. Jahrhundert als eine verwerfliche Entwicklung in der chinesischen Geschichte an und sah in den Wei jene Übeltäter, die es zuließen, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Im dritten und vierten Jahrhundert n. Chr. dominierten nicht mehr die Lehren von Kongzi, sondern die Lehren der sogenannten „Dunkel-Schule“ (Xuanxue) die chinesische Geisteswelt.179 Mitunter zählten illustre Gelehrte wie He Yan (207–249), Wang Yan (256– 311), Xiahou Xuan (209–254) oder Guo Xiang († 312) zu dieser hinzu. Doch als der bekannteste Vertreter der „Xuanxue-Lehre“ ist wohl gemeinhin Wang Bi (226–249) anzusehen. Dieser hinterließ der Nachwelt neben einer Vielzahl von Kommentaren zum „Buch der Wandlungen“ und zu den „Gesprächen des Konfuzius“ auch etliche Kommentare sowie eine selbständige Zusammenfassung180 des „Daodejings“.181 Wang Bi vertrat den philosophischen Standpunkt, dass prinzipiell nur ein Geist, der „die Leere“ (wu) kennt, auch „voll“ sein kann. Denn „die Leere“, das „Nichtsein“, ist ebenso eine alles durchdringende Kraft wie „das Existentielle“, „das Sein“. „Holz, Ton und Mauerwerk sind es, womit die drei [Türen, Fenster und Gefäße] gemacht werden; sie alle haben im Nichtsein ihre Brauchbarkeit. Das besagt: Es ist das Nichtsein, durch das das Sein Nutzen (bringt), es hängt allemal davon ab, daß das Nichtsein Brauchbarkeit (verleiht).“182 Seine Idee von der „Nützlichkeit“ des „Nichtsein“ übertrug Wang Bi auch auf den „Staat“ und die „Regierung“, wie sein Kommentar zum Kapitel 38 des „Daodejings“ zeigt, in dem er bemerkt: „How does one obtain virtue? From the Dao. How does one complete virtue? By taking negativity as one's use. If one takes negativity as use, then there will be nothing not supported. […] And though the sage-king is great, he takes the void as his ruling principle. Therefore, it says ‚looking by way of returning’, then the heart of heaven and earth is visible, and considering it from the point of the ‚winter solstice’, ruling principle of the former kings is evident. Therefore, if (sage-king) exterminates his selfishness and negates his person, none within the four seas will not look up to him, and of far and near none will not come to him […].“183

179 Chan, Neo-Daoism, S. 313. 180 Diese selbständige Zusammenfassung trägt den Titel „Hauptideen des Laozi“ (Laozi zhilüe). 181 Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 145. 182 Wang Bi, Laozi daodejing zhu 12, zitiert nach Wolfgang Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 147. 183 Wang Bi, Wang Bi, Ji jiaohsi 93, zitiert nach Edward L. Shaughnessy, Commentary, Philosophy, and Translation. Reading Wang Bi’s Commentary to the „Yi Jing“ in a New Way, in: Early China 22 (1997), S. 221– 245, hier S. 231–232. 53

Ein weiser König nimmt das „Nichts“ als sein führendes Prinzip. Denn „nicht zu handeln“, ist genauso bedeutend wie „zu handeln“. Nur wenn ein Herrscher von seiner „Selbstsucht“ ablässt und seine eigene Person zu „negieren“ versucht, wird er letzten Endes erfolgreich sein können. Nur dann wird es – wie Wang Bi es bezeichnete – keinen Menschen innerhalb der „Vier Meere“184 mehr geben, der nicht gewillt sein würde, zu ihm aufzuschauen. Ein weiser Herrscher sollte laut Wang Bi also den Mittelweg zwischen „handeln“ und „nicht handeln“ wählen, weder „absolut“ regieren noch sich „vollkommen“ von den Regierungsangelegenheiten zurückziehen.185 Um erfolgreich herrschen zu können, muss er das Extreme scheuen und den „Mittelweg“ zwischen den wechselseitigen Kräften von Yin und Yang einschlagen. Es ist unverkennbar, wie eng Wang Bis Idealbild von einem „tugendhaften Regenten“ mit dem Lehrgebäude des Daoismus verbunden war.186 Neben der Wei-Dynastie (220–265) berief sich auch die Jin-Dynastie (265–420) auf die „Xuanxue-Lehre“.187 So soll auch der Begründer der Jin-Dynastie, Sima Yan (236–290), ein bekennender Anhänger der neodaoistischen Strömung gewesen sein. Ganz im Sinne der Lehren der „Dunkel-Schule“ negierte dieser seine eigene Herrschaftsposition. Sima Yan erklärte die „Leere“ (wu) zu seiner Regierungsdevise und teilte die Macht im Staate an seinen engen Verwandtschaftskreis auf.188 Für Sima Yan mag die Hinwendung zum Herrschaftsideal der „Xuanxue-Lehre“ nur ein nachvollziehbares macht-politisches Manöver gewesen sein. Doch die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung verurteilte Sima Yan – sie wurde nicht müde, seine Herrschaftsweise als „irrgeleitet“ zu beschreiben. Denn nach den Vorstellungen der späteren Geschichtsschreiber schwelgte der Jin-Kaiser lieber in Luxus, feierte ausschweifende Feste und frönte mit seinen zehntausend Konkubinen daoistischen Sexualpraktiken zur Lebensverlängerung, als dass er sich mit drängenden Regierungsangelegenheiten auseinandersetzte. Sima Yan hatte den „fatalen Fehler“ begangen, dass er sich von den Weisheiten des „Königlichen Weges“ entfremdet hatte. Er folgte den Lehren der „Dunkel-Schule“ nach, herrschte durch die Regierungsdevise des „Nichttun“ und stürzte so das Reich ins völlige Chaos. Das Bild, welches die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung in Hinblick auf die Jin-Dynastie vermitteln will, ist auch hier wieder

184 Der Begriff China hat sich erst in der Neuzeit herausgebildet. Das Land zwischen den „Vier Meeren“ kann als ein Synonym für China verstanden werden, da die „Vier Meere“ metaphorisch die Grenzen des chinesischen Kulturraums bildeten. 185 Shaughnessy, Commentary, Philosophy, and Translation, S. 232. 186 Vgl. Chan, Neo-Daoism, S. 311. 187 Ebd., S. 313. 188 Tanner, China. A History, S. 143–144. 54 offensichtlich. Die Herrschaft der Jin-Dynastie währte nur für eine Generation, eben weil sich diese der „Xuanxue-Lehre“ zugewandt hatte. Mit dem Zusammenbruch der Jin-Dynastie verloren die Lehren von Wang Bi (226–249) und jene der „Dunkel-Schule“ wieder an Bedeutung. Doch nach der Ansicht der traditionellen chinesischen Geschichte wurde es in der Folgezeit keineswegs besser. Denn auf die Jin folgte die Zeit der „Sechzehn Reiche der fünf Barbaren“ (304–439), eine „chaotische Epoche“189, in der die Lehren des „Königlichen Weges“ vollkommen – wie Zhu Xi es genannt hatte – vom Buddhismus „verschattet“ wurden. Nachdem die Menschen den falschen Versprechungen der „Xuanxue-Lehre“ unter den Wei und den Jin anheimgefallen waren, gelang es nun der buddhistischen Lehre, die Deutungshoheit innerhalb der chinesischen Geisteswelt zu erlangen.

1.15. Über den unheilvollen Siegeszug des Buddhismus. Die „Zeit der sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ und die „Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien“ Spätestens bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. hatte sich der Mahayana-Buddhismus in ganz China verbreitet. Das Heilsversprechen, welches das „Große Fahrzeug“ des Mahayana gelobte, fand eine erhebliche Resonanz unter den Menschen in ganz Südostasien. Dies führte dazu, dass bis zum ausgehenden 4. Jahrhundert „weite Teile“ der „chinesischen Bevölkerung“ zu Anhängern der buddhistischen Lehre wurden.190 Die aus Indien stammende Religion hatte sich im ganzen Herrschaftsgebiet der ehemaligen Jin-Dynastie (265–420) rasant verbreitet.191 Doch auch die „reiternomadischen Volkstämme“ aus dem Norden übernahmen den Buddhismus. Nicht nur entdeckten sie die Erlösungsreligion für sich – letztlich waren es eben genau jene „Barbaren“ aus dem Norden, die zu den größten Förderern der neuen Lehre heranreiften.192 Shi Hu (295–349) galt als einer von diesen „Barbarenherrschern“, die den Buddhismus für sich reklamiert hatten. Ausgerechnet jener frauenvergewaltigende „Schlächter“ aus der „Späteren Zhao-Dynastie“193 – der höchstpersönlich eine buddhistische Nonne geschändet und dann „gefressen“ haben soll – zeigte sich als einer der größten Förderer der buddhistischen Religion. Shi Hu war ein überzeugter Anhänger des Buddhismus. Doch er förderte die Erlösungsreligion nicht nur; er erklärte diese sogar zur „Staatsreligion“ in seinem

189 Vgl. Tanner, China. A History, S. 146. 190 Näheres zu der Verbreitungsgeschichte des Buddhismus in China nachzulesen in Gernet, Jacques, A History of Chinese Civilisation, Cambridge/New York/Melbourne, Band 1-2, 21996, S. 210–232. 191 Helwig Schmidt-Glintzer, Kleine Geschichte Chinas, München 2008, S. 64. 192 Vgl. Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 223. 193 Siehe S. 50. 55

Herrschaftsgebiet und erlaubte es zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte, dass Gläubige innerhalb seines Reiches ein buddhistisches Mönchsgelübte ablegen durften, um dadurch in den buddhistischen Mönchsstand gelangen zu können.194 Einer der vielleicht bedeutendsten Förderer des Buddhismus gilt damit gleichzeitig als einer der brutalsten Herrscher, den es jemals in der chinesischen Geschichte gegeben hat. Zumindest sah die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung dies so. Denn sie setzte Shi Hu und andere „barbarische Herrscher“ herab, indem sie diesen die Hauptschuld daran gab, dass sich die als verachtenswert geltende buddhistische Lehre im Verlauf des 4. Jahrhunderts im chinesischen Raum verbreiten konnte. Nach der Auffassung der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung waren es die „Barbaren“, die der buddhistischen Lehre in Nordchina zum Aufstieg verhalfen und eine „buddhistische Hochblüte“ in ganz China einleiteten.195 Doch in der Realität endete der „Siegeszug“ des Buddhismus nicht an den Grenzen der „nichtchinesischen Reiche“ des Nordens. Der Mahayana-Buddhismus wurde auch im Süden, wo sich die „chinesischen Dynastien“ erfolgreich gegenüber den reiternomadischen Stämmen aus dem Norden erwehren konnten, zu einem festen Bestandteil der chinesischen Kultur.196 Ersichtlich wird der Einfluss, den der Buddhismus auch innerhalb der elitären Schichten im Süden Chinas hatte, wohl am besten anhand von Kaiser Wu (464–549), dem Begründer der Liang-Dynastie (502–557). Dieser erhob den Buddhismus innerhalb seines Herrschaftsgebietes zur „Staatsreligion“.197 Außerdem verfasste er höchstpersönlich Kommentare zu buddhistischen Schriften, stiftete eine Vielzahl von Stupas, Buddhastatuen und Klöster. Darüber hinaus soll sich Wu selbst als ein „Kaiserlicher Boddhisattva“ angesehen haben, als ein „erleuchtetes Wesen“, dessen oberstes Ziel es war, seine Untertanen zu bekehren. Es heißt, Wu Di wäre sogar ein so überzeugter Gläubiger gewesen, dass er mehrmals einem buddhistischen Kloster „seinen eigenen Leib hingegeben“ haben soll; nur um seinen veräußerten Körper kurze Zeit später für eine als horrend geltende Summe von angeblich vierhundert Millionen Münzen wieder freikaufen zu lassen. Es nimmt nicht Wunder, dass die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung auch Wu seine Begeisterung für den Buddhismus in der historischen Rezeption seiner Person übel anrechnete.198

194 Corradini, The Barbarian States in North China, S. 189. 195 Vgl. Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 227. 196 Helwig Schmidt-Glintzer, Geschichte Chinas bis zur mongolischen Eroberung, 250 v. Chr.–1279 n. Chr. (Oldenburg Grundriss der Geschichte 26), München 1999, S. 124. 197 Vgl. Whalen Lai, Chinese Buddhist philosophy from Han through Tang, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 324–362, hier S. 350–351. 198 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 221. 56

1.16. Von legistischen Despoten und „Großbauprojekten“. Die Sui-Dynastie Es sollte noch bis zum Ende des 7. Jahrhunderts dauern, bis die „geistige Vorherrschaft“ der buddhistischen Lehre in China gebrochen werden konnte. Denn auf die Epoche der „Zeit der sechzehn Königreiche der Fünf Barbaren“ (304–439) folgte nun zunächst einmal die „Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien“ (439–589), das sogenannte „Nanbei-Chao“, eine Ära, in der sich schnell wechselnde Dynastien untereinander bekämpften und um die Vorherrschaft in China stritten.199 Doch auch in dieser Epoche blieb der Buddhismus weiterhin sowohl in den von den „nichtchinesischen Fremdherrschern“ dominierten Dynastien des Nordens als auch in den von den „Han-Chinesen“ geführten Dynastien des Südens, die bestimmende Kraft.200 Den Einfluss, den der Buddhismus auf die „chinesische“ Gesellschaft und Geisteswelt dieser Zeitperiode hatte, war enorm. Wolfgang Bauer ging sogar so weit zu behaupten, dass „praktisch“ das „ganze“ chinesische Geistesleben vom 4. bis zum 7. Jahrhundert durch den Buddhismus geprägt gewesen sei.201 Ob man so weit wie der bereits verstorbene Sinologe gehen will, ist triftig in Frage zu stellen, da die daoistische und konfuzianische Lehren auch in der „Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien“ (439–589) weiterexistierten. Nur vermochten sie es eben nicht, zu den bestimmenden philosophischen Denkschulen jener Zeit zu werden. Es dauerte noch bis zum ausgehenden 6. Jahrhundert, bis sich erste Anzeichen eines aufkommenden Dogmenwechsels zeigen sollten. Generell können wir davon sprechen, dass mit dem Ende der „Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien“ gleichermaßen auch das Ende des „Buddhistischen Zeitalters“ in China eingeläutet wurde. Jedoch muss der Niedergang des Buddhismus in China als eine relativ langsame Entwicklung angesehen werden, die weitere drei Jahrhunderte in Anspruch nahm. Denn auf die „Südlichen und Nördlichen Dynastien“ folgte nun zunächst einmal die Sui-Dynastie (581–618). Dieser war es gelungen, im Verlauf des 6. Jahrhunderts zur stärksten Macht innerhalb Chinas aufzusteigen. Bis zum Jahre 577 hatten die Sui, von ihrem ursprünglichen Heimatgebiet im Osten Chinas, zuerst die nördlichen Reiche unterworfen, bevor sie sich mit ihrer überlegenen Militärmacht gegen Süden wandten, wo sie mit ihren Truppen auf mehreren Feldzügen auch dort erfolgreich ein Reich nach dem anderen erobern konnten. Die etwa zwei Jahrzehnte andauernde Expansion des Sui-Reiches endete schließlich im Jahre 589 mit der Zerschlagung

199 Näheres zur „Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien“ nachzulesen in: Weiers, Geschichte Chinas, S. 48–55. 200 Fairbank/Goldman, China. A New History, S. 73. 201 Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 227. 57 der Chen-Dynastie (557–589), wodurch auch die letzte unabhängige Dynastie im chinesischen Raum zu einem Teil des neu entstandenen Sui-Reiches geworden war.202 Genauso wie den ersten Jin-Kaiser lobte die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung auch den ersten Sui-Kaiser für diese Errungenschaft. Denn maßgeblich wäre es – nach der Betrachtungsweise der späteren vom orthodoxen Neokonfuzianismus beeinflussten Geschichtsschreibung – hauptsächlich dem politischen sowie militärischen Geschick von Kaiser Wen (541–604) zu verdanken gewesen, dass die „Barbarenherrscher“ im Norden Chinas gestürzt wurden und dass nach einem fast dreihundert Jahre andauernden Interregnum – in dem das „Chinesische Reich“ erneut zersplittert gewesen war – endlich wieder ein chinesisches Einheitsreich geformt werden konnte.203 Doch die späteren konfuzianischen Geschichtsschreiber ehrten Wen nicht nur aufgrund seiner militärischen Leistungen. Weit mehr als für seinen Erfolg der „Reichseinigung“ schätzte die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung Kaiser Wen für die Art und Weise, wie er sein neugebildetes Reich zu strukturieren begann. Maßgeblich wäre es nämlich Wen zu verdanken gewesen, dass der Konfuzianismus nach mehr als 400 Jahren wieder zu neuen Ehren gelangen konnte. Denn er förderte die konfuzianische Lehre und erhob diese darüber hinaus sogar zu einer der bestimmenden philosophischen Denkschulen innerhalb seines Herrschaftsgebietes. Der erste Sui-Regent unterstützte den Konfuzianismus, in dem er in der Verwaltung seines Reiches auf Institutionen nach dem Vorbild der Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr.) zurückgriff und ein ähnliches Beamtensystem wie jenes, das es einst unter den Han gegeben hatte, im Sui-Reich einführte.204 Neben Kaiser Wen berief sich auch dessen Sohn Yang (560–618) in seiner Regierungszeit auf die „Weisheiten“ aus den „Fünf Klassikern“. Auch Yang förderte den Konfuzianismus. Doch in erster Linie wurde der zweite Sui-Herrscher für den Bau von Großprojekten berühmt. Yang ließ in seiner Regierungszeit den sogenannten „Kaiserkanal“ errichten, eine mehr als 1800 Kilometer lange Wasserstraße, die den trockenen Norden Chinas mit den fruchtbaren Mündungsgebieten des Jangtsekiang verband.205 Doch die Bautätigkeiten des zweiten Sui- Kaisers beschränkten sich keineswegs nur auf die Schaffung von neuen Wasserkanälen. Yang initiierte neben dem Bau der längsten je von Menschenhand geschaffenen Wasserstraße auch ein weiteres Großprojekt. Er plante die Errichtung einer zweiten Hauptstadt für das Reich. Höchstpersönlich hatte Yang die Idee zur Gründung der neuen Stadt, die den Namen

202 Weiers, Geschichte Chinas, S. 65. 203 Vgl. Gottschalk, Chinas große Kaiser, S. 98. 204 Vgl. Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 233–234. 205 Needham, Introductory Orientations, S. 123. 58

“ tragen sollte – in einem 604 herausgegebenen Dekret argumentierte er für die Errichtung eben dieser Stadt: „Isn't it true that the Book of Changes says: ‚Be enlightened about the essence of change, (you) will never exhaust the use of your people’, ‚change brings about enlightenment, and enlightenment stays endurable’, and ‚those who possess virtue can endure, and those who possess merit can expand’? Moreover, I have been told that (when a ruler is) satisfied with peace yet capable of change, [he] will enjoy the service of his people endlessly. Consequently, the Zhou royal family of Ji founded two Zhou [capitals], which would have been in accord with the wishes of King Wu. The people of Yin206 moved capitals five times, which would have consummated the achievement of King Tang.“207 Yang (560–618) versuchte die Umsetzung des von ihm in Augenschein genommenen Großprojektes mit Worten aus dem „Buch der Wandlungen“ zu begründen. In typischer „konfuzianischer Manier“ legitimierte er sein Handeln durch geistige Bezüge auf mehrere Textpassagen aus den „Fünf Klassikern“ sowie durch einen Rückgriff auf die Geschichte.208 Denn wie Yang in seinem Dekret bekannt gibt, hätten auch schon die erhabenen altehrwürdigen Kaiser Shang-Dynastie (1675–1046 v. Chr.) und der „Westlichen Zhou- Dynastie“ (1046–770 v. Chr.) in ihrer Zeit mehr als nur eine Hauptstadt in ihrem Reich besessen. Die „glorreiche“ Zhou-Dynastie nannte zwei Hauptstädte ihr Eigen. Und deren Vorläuferdynastie, die Shang, verlegten ihre Hauptstadt sogar fünf Mal. Warum also sollte der zweite Sui-Kaiser nicht auch eine zweite Hauptstadt in seinem Reich besitzen dürfen? Zumal an dem Ort, wo die neue Stadt entstehen sollte, früher „Chengzhou“ gelegen hatte, die einstige Hauptstadt des Zhou- und Han-Reiches;209 jene „altehrwürdige Stadt“, in der Kongzi laut der Überlieferungstradition studiert haben soll und die in der „Zeit der Drei Reiche“ (208–280) vom abtrünnigen General Dong Zhuo (139–192) niedergebrannt wurde.210 Allein schon die von konfuzianischen Denkmustern durchdrungene Argumentation, wie Yang die Neuerrichtung der Stadt „Chengzhou“ in seinem Dekret rechtfertigte, ist ein aussagekräftiger Beleg dafür, dass das Denken des zweiten Sui-Kaisers stark vom Konfuzianismus beeinflusst gewesen sein muss. Yang (560–618) und dessen kaiserlicher Vater Wen (541–604) förderten den Konfuzianismus, waren Kenner der „Fünf Klassiker“ und verglichen ihre Herrschaftszeit mit

206 Die Shang-Dynastie wurde mitunter auch als Yin-Dynastie bezeichnet. 207 Sui shu 3.60–62, zitiert nach Victor Cunrui Xiong, Sui Yangdi and the Building of Sui-Tang Luoyang, in: The Journal of Asian Studies 52 (1993), Nr. 1, S. 66–89, hier S. 82. 208 Vgl. Xiong, Sui Yangdi and the Building of Sui-Tang Luoyang, S. 74. 209 Näheres zur historischen Bedeutung der Stadt Chengzhou nachzulesen in: Maria Khayutina, Western "Capitals" of the Western Zhou Dynasty. Historical Reality and Its Reflections Until the Time of Sima Qian, in: Oriens Extremus 47 (2008), S. 25–65. 210 Rafe De Crespigny, Fire over Luoyang. A History of the Later Han Dynasty 23-220 AD. Leiden/Boston 2016, S. 456–460.

59 jener der mythischen Urkaiser Chinas. Damit wiesen die beiden Sui-Kaiser Wesenszüge auf, die mitunter eng mit den von der neokonfuzianischen Lehre als „tugendhaft“ angesehenen „Charaktervorstellungen“ verbunden waren. Aus diesem Grunde könnte man auch meinen, dass die Regierungszeiten der beiden Sui-Kaiser zu den „Höhepunkten“ innerhalb der chinesischen Geschichte zählen müssten. Doch dem ist nicht so. Zwar zählt die kurze Periode, in der die Sui-Dynastie (581–618) über die Geschicke von „ganz“ China bestimmte zu einer der „besseren Perioden“ in der chinesischen Geschichte, doch als „herausragendes“, oder gar „Goldenes Zeitalter“ gilt die Zeit der Sui-Dynastie nicht. Dass dies der Fall ist, liegt wohl vor allem daran, dass es sich bei den Sui-Herrschern – trotz ihrem offensichtlichen Interesse, welches sie an der konfuzianischen Lehre zeigten – nach dem Verständnis der späteren chinesischen Geschichtsschreiber um keine „tugendhaften“ Herrscher handelte. Denn insgesamt betrachtet, befand sich die Regierungsweise der Sui-Kaiser zu weit abseits von dem, was die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung als gut befinden konnte. So förderte Kaiser Wen zwar den Konfuzianismus, in dem er die Institutionen im Staate nach dem Vorbild der Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr.) schuf und ein Beamtensystem einführte, das dem der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) glich. Doch gleichzeitig war Wen auch ein bekennender Buddhist gewesen. Über hundert Reliquien soll er in seinem Leben an buddhistische Klöster gestiftet haben. Und es heißt, dass der erste Sui-Kaiser darüber hinaus sogar so religiös gewesen sei, dass er sich selbst als einen „Kaiserlichen Boddhisattva“ angesehen habe.211 Mehr noch als die religiöse Einstellung von Wen (541–604) sah die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung dessen Herrschaftsweise als problematisch an. Denn Wen bestimmte über seine Untertanen, ohne dass er sich bei wichtigen Entscheidungen mit seinen Ministern oder mit anderen Vertretern aus der Beamtenschaft absprach. In „absolutistischer Manier“ regierte er als unangefochtener Alleinherrscher. Ähnlich einem legistischen Tyrannen aus der Qin-Zeit (221–207 v. Chr.) forcierte Wen den Aufbau eines „rationalen Staates“ und ließ Beamte für Fehler sowie für bloße Kritik auspeitschen oder sogar zum Tode verurteilen.212 Genauso wie Wen war auch dessen Nachfolger Yang (560–618) ein Buddhist, der wie sein Vater in einer „legistischen Weise“ über sein Reich regierte.213 Und ebenso wie sein Vater wurde auch Yang von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung für seine Herrschaftsweise verurteilt.214 Beispielsweise zog der Historiker Wei Zheng im 636

211 Vgl. Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 235. 212 Ebd., S. 233. 213 Xiong, Sui Yangdi and the Building of Sui-Tang Luoyang, S. 76. 214 Weiers, Geschichte Chinas, S. 66. 60 erschienen und „offiziellem Geschichtswerk“ zur Sui-Dynastie (581–618), dem sogenannten „Jiu Tangshu“215, über Yang das folgende Resümee: „Didn't Sui Yangdi [Emperor Yang] also desire peace and order under heaven and the longevity of his dynasty? He brought about the ruin (of the dynasty) by practicing the tyrannical rule of King Jie216. He did not worry about the future, resting on his wealth and strength. He drove the whole world to support his licentious indulgence, and exhausted every resource to enhance his personal comfort. He pressed into court service ladies within the country, and sought after exotic products from afar. Palatial structures were elaborately decorated, edifices and raised pavilions were erected. Corvée was levied regardless of season, incessant warfare was waged.“217 Yang erbaute den „Kaiserkanal“ und begründete die Stadt Luoyang – aus reiner Prunksucht heraus. Rein gar nichts tat er für das Wohl der Bevölkerung und alles was ihn bekümmerte, war einzig und alleine seine eigene Person. Der narzisstisch anmutende Kaiser berief sich zwar in seinem Tun auf die „Fünf Klassiker“ des Konfuzianismus, doch selbst wäre er, wie man aus den Aufzeichnungen des Historikers Wei Zheng herauslesen kann, weit davon entfernt gewesen, ein „tugendhafter“ Herrscher zu sein. Für die späteren Historiker erschien es als eindeutig, dass die Sui-Kaiser durch ihre selbstsüchtige Regierungsweise sowohl ihr eigenes „Qi“ als auch das ihres Reiches in ein „Ungleichgewicht“ gebracht hatten. Und eine den falschen Prinzipien folgende „unausgewogene“ Regierungsweise, so wie sie Yang und sein kaiserlicher Vater an den Tag legten, zog nun einmal – wie wir bereits von der Wei-Dynastie (220–265) wissen218 – immer negative Konsequenzen nach sich. Die Sui-Kaiser hatten durch eine selbstsüchtige Weise regiert und dadurch ihr „Mandat des Himmels“ eingebüßt. Sie hatten versagt und ihre Familie verlor folglich die Herrschaftslegitimation. Vor allem in dem unrühmlichen Ende, das Yang finden sollte, sah die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung einen unbestreitbaren Beweis dafür, dass die Sui ihr Reich grundsätzlich falsch regiert hatten. Denn der zweite und letzte Sui-Kaiser starb keines natürlichen Todes. Rücksichtslos wie er nun einmal gewesen war, hatte Yang zu seinen Lebzeiten sein Volk bis aufs Letzte ausgebeutet.219 Wie wir aus den Aufzeichnungen des

215 Beim „Jiu Tanghsu“ (Old Book of Tang) handelt es sich um eine der „24. Dynastiegeschichten“. Das Ältere der beiden „offiziellen Geschichtswerke“ zur Tang-Dynastie behandelt den Zeitraum zwischen 618 bis 906, wurde in der „Zeit der Fünf Dynastien und Zehn Reiche“ (907–960) herausgegeben und umfasst 200 Kapitel. Federführend bei der Zusammenstellung des Werkes soll Liu Xu (888–947) gewesen sein. Dieser bekleidete sowohl unter der „Späteren Tang-Dynastie“ (923–936) als auch unter der „Späteren Jin-Dynastie“ (936–947) das Amt eines Kanzlers. 216 Gemeint ist hier der letzte König der Xia-Dynastie Jie (1728–1675 v. Chr.). Seine Herrschaftsweise galt als äußert „untugendhaft“. Siehe S. 13. 217 Jiu Tang shu 71.2550, zitiert nach Victor Cunrui Xiong, Sui Yangdi and the Building of Sui-Tang Luoyang, S. 72. 218 Siehe S. 47. 219 Vgl. Xiong, Sui Yangdi and the Building of Sui-Tang Luoyang, S. 72. 61

Historikers Wei Zheng herauslesen können, wurden die Menschen ganzjährig zum Bau seiner Großprojekte herangezogen und mussten unablässig in immer neuen Kriegen für den Kaiser kämpfen. Fortwährend und ohne Unterlass wurde die Bevölkerung dazu verdammt, für den dekadenten Kaiser zu schuften, was die unweigerliche Folge nach sich zog, dass die Menschen keine Zeit mehr dazu fanden, ihre eigenen Felder zu bestellen. Am Ende rächte sich die legistische Regierungsweise von Yang und er fiel einer Rebellion zum Opfer, deren Ausbruch er selbst verschuldet hatte. Eine Hungersnot, die maßgeblich durch die verwerfliche Herrschaftsweise von Yang verursacht wurde, löste einen Aufstand aus, der dem zweiten Sui- Herrscher letztendlich das Leben kostete.220 Das moralisierende Bild, welches die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung in Bezug auf den Untergang der Sui-Dynastie (581–618) vermitteln will, ist hierbei im Grunde jenes: Hätte sich Yang in seiner Herrschaftsweise nicht an den legistischen Qin-Kaisern, sondern vielmehr an den altehrwürdigen konfuzianischen „Shengren“ orientiert, dann wäre es wohl nie zu den vielen Rebellionen gegen ihn gekommen und er wäre wohl auch nicht im Jahre 618 von Li Yuan (566–635), dem Begründer der Tang-Dynastie (618–907), erdrosselt worden.

1.17. Von „großartigen“ Reichen und einer „frevelhaften“ Kaiserin. Die Tang-Dynastie In der Tang-Zeit (618–907) durchlebte die Seidenstraße eine Blütezeit, die chinesische Bevölkerung wuchs an und das „Reich der Mitte“ dehnte sich bis zur Taklamakan-Wüste in Zentralasien aus.221 Sicherlich nicht zu Unrecht gilt die Zeit der Tang-Dynastie unter heutigen Historikern als ein Höhepunkt in der chinesischen Geschichte. Doch entgegen der modernen Geschichtswissenschaft zeichnete die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung ein differenziertes und zum Teil ambivalentes Bild von der Tang-Dynastie. Grundsätzlich teilte sie die Dynastie in vier Zeitperioden ein: In eine Frühzeit (618–712), eine Blütezeit (713– 765), eine Mittlere Zeit (766–835) und eine Spätzeit (836–906).222 Die Frühzeit der Tang-Dynastie (618–712) wird hierbei hauptsächlich von der Regierungszeit eines einzigen Mannes bestimmt, von Li Shimin, dem großen Kaiser Taizong (599–649). Er gilt als ein Herrscher, dem die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung Achtung zollte, und das obwohl er sich in seiner geistigen Einstellung offenherzig gegenüber dem Daoismus

220 Vgl. Needham, Introductory Orientations, S. 123–124. 221 Vgl. Schmidt-Glintzer, Geschichte Chinas bis zur Mongolischen Eroberung, S. 60–62. 222 Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 256. 62 zeigte und selbst den Buddhismus in seinem Reich weiterhin gewähren ließ.223 Taizong erfuhr trotz seiner persönlichen Präferenz für den Daoismus eine fast durchwegs positive Rezeption.224 Und dies hat seine Gründe. Einerseits galt Taizong als ein militärisches Genie; als ein kluger und weitsichtiger Stratege, dem es gelungen war, das Tang-Reich aus einer gerechtfertigten Rebellion heraus zu formen, das chinesische Einheitsreich durch seine militärischen Erfolge zu erhalten und China darüber hinaus territorial enorm zu erweitern.225 Die späteren Gelehrten sahen in Taizong einen kriegerischen Kaiser. Doch als Despoten – so wie beispielsweise die Sui-Kaiser – betrachteten sie ihn nicht. Denn Taizong sei zwar hart gegen seine Feinde vorgegangen, gleichzeitig wäre er jedoch auch ein gerechter und kluger, kurzum ein „tugendhafter“ Herrscher gewesen.226 Dies zeige sich vor allem darin, dass Taizong die Verwaltung des Reiches nach den „richtigen Prinzipien“ strukturieren ließ. Er agierte weitsichtig und übertrug die „Staatsgeschäfte“ nicht etwa „machtgierigen“ Eunuchen oder „verschlagenen“ Familienmitgliedern, sondern der Beamtenschaft, also Männern, die er aus den Abgängern der staatlichen Beamtenprüfungen, die unter seiner Herrschaft ausgebaut und nunmehr fixiert wurden, rekrutieren ließ. Taizong habe seine Untergebenen geachtet und seiner Bürokratie vertraut.227 Und damit regierte er ganz im Sinne von jenem Herrschaftsideal, welches von den späteren konfuzianischen Gelehrten als „tugendhaft“ befunden wurde. Die „offiziellen Quellen“ zur Tang-Zeit geben uns eine detaillierte Auskunft über die Charakterzüge von Taizong. Wie schon beschrieben wurde, habe der Tang-Regent immerzu eingehend mit seinen engsten Vertrauten diskutiert und seine Berater stets gleichberechtigt an politischen Entscheidungen teilhaben lassen.228 Doch wenn man dem im Zeitraum von 1065 bis 1084 erschienenen „Zizhi tongjian“229 (Umfassender Zeitspiegel zur Hilfe bei der Regierung) trauen möchte, dann fürchtete der

223 Togan Isenbike, Court Historiography in Early Tang China. Historiography in Early Tang Assigning a Place to History and Historians at the Palace, in: Royal Courts in Dynastic States and Empires. A Global Perspective, hrsg. v. Jeroen Duindam/Tülay Artan/Metin Kunt, Cambridge 2011, S. 171–198, hier S. 197. 224 Vgl. Mark Edward Lewis, China’s Cosmopolitan Empire, The Tang Dynasty, London/Cambridge 2009, S. 34. 225 Vgl. Weiers, Geschichte Chinas. S. 69. 226 Vgl. Isenbike, Court Historiography in Early Tang China, S. 193. 227 Gottschalk, Chinas große Kaiser, S. 107. 228 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 251. 229 Beim „Zizhi tongjian“ handelt es sich um ein monumentales Geschichtswerk, das im Jahre 1065 durch den fünften Song-Kaiser Yingzong (1032–1067) in Auftrag gegeben wurde. Nach sechzehnjährigem Schreibprozess wurde es 1084 fertiggestellt. Als Hauptverfasser der in 294 Bände unterteilten Universalgeschichte – die den Zeitraum zwischen 403 v. Chr. und 959 n. Chr. behandelt – wird gemeinhin Sima Guang (1019–1086) angesehen. 63

Tang-Kaiser seine Minister mitunter sogar. Im Jahre 628 soll Taizong im Kreise seiner Untergebenen bekannt gegeben haben: „People say that the Son of Heaven is the highest sovereign and is thus afraid of nothing. I disagree. I fear Heaven who supervises me, and the ministers who look up to me. Cautious and attentive (in discharging my duties), I am still afraid of my failing to act on Heaven’s will and to live up to people’s expectations.“230 Nach dem vorherrschenden Geschichtsverständnis der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung herrschte Taizong (599–649) nach den richtigen Prinzipien. Denn genauso wie die für die konfuzianischen Gelehrten als „tugendhaft“ geltenden mythischen Kaiser Yao und Shun achtete er die „Kräfte des Himmels“ und stützte sich als oberste Instanz im Reich auf seine Minister und die Beamtenschaft. Taizong regierte nach dem Musterbild eines konfuzianischen „Shengren“ und es war sein Verdienst, dass die konfuzianische Lehre nach fünfhundert Jahren „kultureller Dunkelheit“ endlich wieder erstrahlen konnte. Nicht nur ließ Taizong in allen Provinzen und Kreisen Konfuziustempel errichten. Es war auch seine Regierungsperiode, in der die Konfuziusverehrung ähnlich religiöse Züge annahm wie die der daoistischen Unsterblichen und buddhistischen Götter.231 Die spätere Orthodoxie sah vor allem deshalb in Taizong einen „tugendhaften Herrscher“, weil dieser sich zu seinen Lebzeiten für die konfuzianische Lehre einsetzte. Bis auf wenige charakterliche Schwächen wäre Taizong also ein von Grund auf „tugendhafter“ Mensch gewesen. Doch „leider“ sind – wie es uns schon von der historischen Rezeption des letzten Herrschers der „Westlichen Zhou-Dynastie“ (1046–770 v. Chr.) bekannt geworden ist – auch die besten und klügsten Männer nicht von der Anmut schöner Frauen gefeit.232 Und aus diesem Grunde sollte es uns auch nicht überraschen, dass auch Taizong und seiner Tang-Dynastie (618–907) eine zwar schöne, aber „ehrlose“ Frau zum Verhängnis werden sollte. Die Geschichte kennt diese „böswillige“ Frau, deren ursprünglicher Name uns heute unbekannt ist, unter dem Namen (625–705). Einst hatte Taizong die besagte Wu Zetian aufgrund ihres gefälligen Aussehens in seinen Harem geholt. Doch mit dem Tode von Taizong im Jahre 649 wurde die Konkubine vom Hof entlassen – sie wurde in ein buddhistisches Kloster geschickt und wurde Nonne. Wäre Wu Zetian dort geblieben, dann wäre der Tang-Dynastie ein großes Übel erspart geblieben. Doch der Sohn und Thronfolger von Taizong Gaozong (†683) machte, wie die traditionelle

230 Zizhi tongjian 192. Seite 6048, zitiert nach Wang Zhenping, Ideas Concerning Diplomacy and Foreign Policy Under the Tang Emperors Gaozu and Taizong, in: Asia Major. Third Series 22 (2009), Heft 1, S. 239–285, hier S. 278. 231 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 251. 232 Siehe S. 15. 64 chinesische Geschichtschreibung betont, einen riesigen „Fehler“, indem er die schöne Frau zurück an den Hof holte. Denn dort angekommen, arbeitete sich die intrigante Konkubine schnell zu einer der Nebengemahlinnen des Kaisers vor und letztendlich sogar bis zur „Ersten kaiserlichen Gemahlin“ von Gaozong.233 In dem von der Song-Dynastie (960–1279) offiziell herausgegebenen Geschichtswerk zur Tang-Dynastie (618–907) steht geschrieben, dass Kaiser Gaozong der schönen Wu Zetian völlig verfallen gewesen wäre. Der Tang-Kaiser habe ihr – blind vor Liebe – mehr als seinen engsten Ratgebern vertraut. Im „Zizhi tongjian“ heißt es: „Wu Zetian wohnte jeder […] Angelegenheit, die der Kaiser behandelte, hinter einem Vorhang bei; jedes Regierungsgeschäft, ob groß, ob klein, hörte sie mit. Die größte Macht des Reiches ging vollends in die Inneren Gemächer über; über Beförderungen und Degradierungen, Leben und Tod entschied ihr Wort, während der Kaiser nur die Hände in den Schoß legte.“234 Gaozong ließ seine „Erste Kaiserliche Gemahlin“ weitestgehend frei walten, gebot ihren Intrigen keinen Einhalt und gab ihr überdies im Grunde dieselben Befugnisse in der Führung der inneren Staatsgeschäfte, wie er sie selbst hatte. Und so war es letztlich auch nicht überraschend, dass Wu Zetian die Macht im Staate an sich riss, als Gaozong im Jahre 683 starb. Bald nach dem Tode ihres Gemahls setzte die nunmehr alleinregierende Kaiserin zunächst nacheinander zwei ihrer Söhne als Thronfolger ein. Jedoch handelte es sich hierbei nur um eine politische Finte, denn nachdem die „intrigante“ Wu Zetian ihre Feinde am Hofe erfolgreich beseitigt hatte und sie ihre Herrschaft als genügend gefestigt ansah, setzte sie sogleich ihren eigenen Sohn wieder ab, bestieg selbst den Thron und begründete eine neue Dynastie.235 Schon anhand der Benennung der neuen Dynastie zeigte sich der „untugendhafte Charakter“ von Wu Zetian. Denn die Kaiserin benannte diese nach der „größten Dynastie“, die es in der chinesischen Geschichte je gegeben hatte. Ausgerechnet nach den altehrwürdigen Zhou! Die späteren konfuzianischen Gelehrten sahen dies als eine Ungeheuerlichkeit an, zumal die von Wu Zetian (625–705) begründete Zhou-Dynastie (690–705) nach ihrem Verständnis rein gar nichts mit der erhabenen Zhou-Dynastie des Altertums gemein hatte. Wu Zetian strukturierte ihr Reich nicht nach den richtigen Prinzipien. Sie ordnete ihre Zhou-Dynastie nicht der konfuzianischen Lehre unter, sondern vielmehr der buddhistischen Lehre.236 So umgab sich die Kaiserin mit einem Beraterkreis aus buddhistischen Mönchen, finanzierte den Bau zahlreicher Klöster und ließ von mehreren zehntausend Gelehrten heilige buddhistische Texte

233 Vgl. Weiers, Geschichte Chinas. S. 73. 234 Zizhi tongjian 201, zitiert nach Kai Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 259. 235 Vgl. Weiers, Geschichte Chinas, S. 74. 236 Vgl. Isenbike, Court Historiography in Early Tang China, S. 178. 65 produzieren.237 Doch damit nicht genug, denn die Thronusurpatorin ging in ihrem verwerflichen Treiben noch viel weiter. 690 ließ sich die einstige buddhistische Nonne Wu Zetian von einem Mönch namens Falang zu dem ins Leben getretenen „Maitreya-Buddha“ – dem sogenannten „Großen Kommenden Weltlehrer“ – erheben. Durch diese Proklamation war sie im ideologischen Sinne nicht mehr als die Herrscherin über das „Reich zwischen den Vier Meeren“ (China) anzusehen, sondern von „Jambudvipa“, dem im Buddhismus heiligen und in Indien liegenden sogenannten „Rosenapfelbaumkontinent“.238 Es bedarf wohl keiner weiteren Erklärung, dass die spätere, vom orthodoxen Konfuzianismus beeinflusste Geschichtsschreibung eine solche Verlautbarung als reinste Blasphemie ansehen musste. Die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung lastete Wu Zetian (625–705) eine Reihe von Vergehen an, die sie aufgrund ihres Glaubens verübt haben soll. Doch der heute sicherlich als überzeichnet anzusehende „untugendhafte Charakter“ der buddhistischen Kaiserin wird wohl am besten anhand der folgenden Geschichte ersichtlich, die wir aus dem in der Song-Zeit (960–1279) erschienen „Wenyuan yinghua“239 herauslesen können. In dieser Textsammlung wurde verlautbart, dass Wu Zetian, nachdem Gaozong (†683) das Zeitliche gesegnet hatte, nach einem neuen „Lebensgefährten“ Ausschau gehalten habe. Wie es weiter heißt, fand sie diesen in einem Markthändler für Heilmittel mit dem Namen Xiabao Feng († 695). Wu Zetian holte – was an sich schon als pietätlos galt – den Mann niederer Herkunft an ihren Hof, änderte seinen Namen in Huaiyi Xue und erhob ihn zu einem buddhistischen Mönch. Schon anhand der Wahl ihres Geliebten offenbarte sich einmal mehr Wu Zetians Charakterschwäche. Denn Huaiyi Xue wäre ein „Rüpel“ sondergleichen gewesen. Am Hofe habe man ihn gemieden, weil er daran gewöhnt war, diejenigen, die in seine Nähe kamen, zu schlagen und zur Seite zu werfen. Zudem gibt uns die „offizielle“ Geschichtsschreibung darüber Auskunft, dass die gesamte Hauptstadt über das Verhalten von Huaiyi Xue entsetzt gewesen wäre.240 Der „falsche“ Mönch Huaiyi Xue ging als eine Person in die Geschichte ein, die auf Geheiß der Kaiserin und im Namen ihres Glaubens unzählige Verbrechen beging, so viele, dass die Eskapaden von Huaiyi Xue auch den ordnenden Kräften innerhalb der Natur irgendwann zu viel wurden. Sogar der „Himmel“ wäre erbost über das Verhalten der illegitimen Kaiserin und

237 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 265. 238 Weiers, Geschichte Chinas, S. 75. 239 Beim „Wenyuan yinghua“ handelt es sich um eines der sogenannten „Vier Großen Bücher der Song“ (Song si da shu). Die Song-Dynastie gab die Erstellung der Textsammlung in Auftrag. Zwischen den Jahren 982 und 986 wurde sie am Hofe der Song-Dynastie zusammengestellt. Als Hauptverfasser des Wenyuan yinghua gilt gemeinhin Li Fang (925–996). Das „Buch“ besteht im Wesentlichen aus einer Sammlung von Gedichten, Oden, Liedern und Geschichten aus der Tang Zeit. 240 Weiers, Geschichte Chinas, S. 74. 66 ihres Günstlings gewesen. Wenn man den Ausführungen im „Wenyuan yinghua“ trauen will, dann wäre der „Himmel“ bisweilen sogar so erzürnt gewesen, dass er dem unheilvollen Treiben der beiden ein Ende setzte. „During the government of Tianhou241 [Wu Zetian], the monk Huaiyi [Xue] made the ‚great statue’242 and built the tian-tang to house it. Wang Hongyi (†694) and Li Zhaode (†697) [,these two officials] were ordered to take different routes to find and cut down large trees, to make use of their power ruthlessly and lash the functionaries, to excavate the mountains and fill in streams. There are no words to describe how many workmen, day after day, were injured and killed. The amount of money wasted each time amounted to a hundred million (cash). At the time the ‚hundred families’243 were sad and dismayed, (and everyone within) the ‚four seas’ [China] was in a state of alarm. August Heaven, being very clear-sighted, actually then issued a warning: all the structures built by him [Huaiyi Xue] were destroyed in a disastrous fire. One after the other, the followers of Huaiyi submitted to the law and died.“244 Für den Bau einer einzigen „riesigen“ Buddhastatue wurde der gesamte „Staatshaushalt“ aufgewendet und unzählige Arbeiter mussten ihr Leben lassen. Durch ihre übertriebene Religiosität brachte die bekennende Buddhistin Wu Zetian großes Unheil über China – diese Sichtweise kann man aus dem „Wengyuan yinghua“ herauslesen und war auch jenes Urteil, das die späteren Historiker über die Zhou-Kaiserin fällten.245 Die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung missbilligte die Zhou-Dynastie (690–705) und machte aus der Person der Kaiserin eine Allegorie. Sie verklärte die historische Gestalt von Wu Zetian und stilisierte ihre Religiosität zu einem Problem, insofern, als dass die Zhou-Kaiserin am Ende als ein „Sinnbild“ für die Verwerflichkeit der buddhistischen Lehre angesehen wurde.

1.18. Über die Zerstörung von Klöstern und verkannten Dichtern Für die konfuzianische Orthodoxie markierte das Ende der Herrschaft der Zhou-Kaiserin einen Wendepunkt innerhalb der chinesischen Geschichte. Denn mit dem Tode von Wu Zetian im Jahre 705 setzte nach Ansicht der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung ein Dogmenwechsel ein, der den Niedergang der buddhistischen Lehre endgültig besiegeln sollte. Für die Vertreter der späteren Orthodoxie war indes klar: Die Zhou-Kaiserin hatte den

241 Einer von vielen Titeln unter der Wu Zetian bekannt ist. Tianhou bedeutet übersetzt in etwa „Himmlische Kaiserliche Gemahlin“. 242 Bei der „Großen Statue“ handelte es sich um eine „riesige“ [die genaue Höhe ist unbekannt] Buddhastatue, die Kaiserin Wu zu errichten gedachte. 243 Die „Hundert Familien“ sind ein oft verwendetes Synonym für die „Allgemeinheit“ der Ethnie der Han- Chinesen. 244 Wenyuan yinghua 621. Seite 2b, zitiert nach Chen Jinhua, The Statues and Monks of Shengshan Monastery. Money and Maitreyan Buddhism in Tang China, in: Aisa Major. Third Series 19 (2006), Heft 1, S. 111–160, hier S. 128–129. 245 Vgl. Lewis, China’s Cosmopolitan Empire, S. 36. 67

Menschen noch ein letztes Mal unmissverständlich vor Augen geführt, was passieren konnte, wenn man das Reich nach den Richtlinien einer „sittenlosen“ Lehre unterwarf. Doch nach ihrem Tode hatten die Menschen endgültig genug vom – wie Zhu Xi es nannte – „Aberglauben“. Mit dem Ableben der Zhou-Kaiserin konnte nun endlich die Blütezeit der Tang-Dynastie (713–765) anbrechen. Ein zweites „Goldenes Zeitalter“ nach der Ära von Taizong, eine Zeitperiode, in der der buddhistischen Lehre nach über sechshundert Jahren erstmals wirklich Einhalt geboten wurde. Aus der Sichtweise der späteren konfuzianischen Gelehrten machte der neue Tang-Kaiser Xuanzong (685–762) am Beginn seiner Herrschaft alles richtig. Denn schließlich war er es, der 30 000 buddhistische Mönche und Nonnen laisieren ließ und die Neugründung von buddhistischen Klöstern einschränkte. Gleichzeitig gründete der Tang-Kaiser 738 die sogenannte Hanlin-Akademie246, die zur bedeutendsten Anlaufstelle für konfuzianische Gelehrte der späteren Epochen werden sollte. Schon Taizong hatte den Einfluss des Buddhismus geschmälert und den Konfuzianismus gefördert. Doch unter Xuanzong konnte die Lehre des „Königlichen Weges“ nun vollends zu neuen Ehren gelangen. Der Tang-Kaiser galt als ein „Liebhaber“ der Literatur und der Kunst, als ein gesitteter Kulturfreund, der die Weisheiten aus den „Konfuzianischen Klassikern“ zu schätzen wusste. Xuanzong regierte am Beginn seiner Herrschaftsperiode nach den richtigen Maßstäben und ehrte überdies auch noch die richtigen Persönlichkeiten,247 so auch Kongzi, den er 739 posthum sogar zu einem König erheben ließ. Der Tang-Kaiser sorgte – so wie die spätere Orthodoxie es sah – durch seine „tugendhafte“ Herrschaftsweise für Frieden wie auch für Wohlstand und schuf, wenn auch nur für kurze Zeit, ein kulturelles Umfeld, aus dem einige der größten Dichtergestalten Chinas herausgehen konnten. Zu nennen wären hier etwa Wang Wei (701–761), Meng Haoran (689–740) oder auch der trinkfeste Li Bai (701–762). Doch als der bedeutendste Dichter der Tang-Zeit gilt wohl Du Fu248 (712–770), der von manchen sogar als der „Größte Dichter Chinas“ angesehen wird.249 Aus seiner Feder sollen nicht weniger als 1457 Gedichte stammen.250 Und zu seinem Werk zählen auch die folgenden Zeilen aus dem 755 entstandenen Gesang „Tzu Ching fu

246 Zur Hanlin-Akademie und deren späteren Bedeutung, siehe Benjamin A. Elman, The Social Roles of Literati in Early to Mid-Ch‘ing, in: The Ch’ing Empire to 1800, hrsg. v. Denis Twitchett/John K. Fairbank (The Cambridge History of China 9/ Part 1), Cambridge 2002, S. 360–427, hier S. 384–393. 247 Schmidt-Glintzer, Geschichte Chinas bis zur Mongolischen Eroberung, S. 68. 248 Du Fu galt und gilt auch heute noch als ein Meister des sogenannten Lüshi-Stils. 249 Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 256. 250 Ebd., S. 262. 68

Fenghsien hsien yunghuai wupai tzu“ (Fünfhundert Schriftzeichen über meine Gefühle während der Reise von der Hauptstadt in den Kreis Fengxian): „Goddesses and immortals in the central hall, A mistiness wafts about each fair figure, Guests are warmed with furs of sable, The sound of sad reeds follows the clear strings, 64 Guests coaxed with camel-pad broth, Winter oranges overlaid by fragrant tangerines - Behind vermilion gates wine and meats decay, On the road the bones of the frozen dead.“251 68 Jene, die hinter den Palasttoren residieren, leben in Extravaganz, wogegen das gemeine Volk hungert und friert. Du Fu stellt in seinem Gesang die verschwenderische Lebensweise der „Herrschenden“ der ärmlichen Lebensweise der „einfachen“ Menschen gegenüber. In einer literarischen Form weist der Dichter auf die Missstände seiner Zeit hin. Im Sinne eines „politischen Statements“ beschwert er sich, dass die, die hinter den Palasttoren in Luxus schwelgen, nicht nach den richtigen Prinzipien herrschen – nicht „tugendhaft“ genug sind. Doch Du Fu nennt keine Namen, keinen Kaiser oder Minister, sondern moralisiert, ohne dass er auf Einzelpersonen Bezug nimmt. Diese moralisierende literarische Gegenüberstellung, immer auch mit einem politischen Hintergrund, ist exemplarisch für Du Fus Gedichte und wurde zum Vorbild für die Dichter der späteren Epochen.252 Du Fus (712–770) Stil gilt in der chinesischen Literaturgeschichte als ähnlich richtungsweisend wie im deutschen Sprachraum die Spruchdichtung von Walther von der Vogelweide (1170–1230). Heutzutage wird der mitteleuropäische Minnesänger als einer der bedeutendsten Dichter seiner Epoche angesehen. Doch in den zeitgenössischen mittelalterlichen Quellen finden wir nur vereinzelte Hinweise über ihn. Und ebenso ist es auch bei Du Fu. Auch seine 1457 Gedichte sucht man in den Anthologien, die uns aus der Tang-Zeit (618–907) erhalten geblieben sind, vergebens.253 Dies hat natürlich seinen Grund. Denn Du Fu, der „Größte Dichter der Tang-Zeit“, erlangte, ebenso wie sein europäisches Pendant erst nach seinem Tode Berühmtheit. Zeitlebens fanden Du Fus Gedichte kaum Beachtung. Kein Wunder, lebte der Dichter doch in einem Zeitabschnitt, in dem die kulturelle Blüte der Tang-Dynastie schon wieder zu schwinden begann. Xuanzong (685–762), der einst so strahlende neue Tang-Kaiser, war durch seine immer stärker zu Tage tretende Vergnügungssucht, die maßgeblich durch seine

251 Du Fu, Tzu Ching fu Feng-hsien hsien yung-huai wu-pai tzu 37/22/16, zitiert nach Eva Shan Chou, Reconsidering Tu Fu, Literary Greatness and Cultural Context, Cambridge 1995, S. 168. 252 Vgl. Shan Chou, Reconsidering Tu Fu, S. 167. 253 Ebd., S. 32. 69 persönliche geistige Hinwendung zum Daoismus verursacht wurde, zunehmend der Trägheit verfallen.254 Einmal mehr befand sich das Tang-Reich zur Mitte des 8. Jahrhunderts in einer Krise. Du Fu bemerkte dies – doch er wurde von seinem Fürsten nicht wahrgenommen. Jedoch hat jede Zeit ihre Helden. Und für die Song-Dynastie (960–1279) galt Du Fu später als ein „Held“ seiner Zeit, wie wir aus dem folgenden Kommentar von Su Dongpo (1037–1101), einem Dichter aus der Song-Zeit, herauslesen können. „Since ancient times there have been a great many poets, but Tu Fu alone is preeminent among them. Is this not because all through his wanderings, through poverty and hunger, despite his unsatisfied desire to serve the state, through all his vicissitudes, he never for the space of a meal forgot his sovereign?“255 Du Fu wurde zu seinen Lebzeiten verkannt, er musste ein entbehrungsreiches mittelloses Dasein fristen und vom Hunger getrieben durch die Provinzen reisen. Doch der „bedeutendste“ Dichter aus der Tang-Zeit vergaß auch in seiner größten Not niemals auf seinen Souverän. Laut dem song-zeitlichen Gelehrten Su Dongpo hatte Du Fu damit begriffen, was essentiell ist. Einem Märtyrer gleich verteidigte Du Fu auch in seinen schwersten Zeiten die Grundwerte, die den Konfuzianern „heilig“ waren. Er wurde als Beamter abgewiesen und war frustriert. Doch seine Loyalität gegenüber der Tang-Dynastie verlor er nie. Genauso wie die weisen „Shengren“ aus dem Altertum begriff er, dass eine offene Rebellion gegen die Tang-Dynastie keinen Nutzen bringen würde, er blieb loyal und versuchte, seinen Fürsten durch Gedichte auf die drängenden Probleme innerhalb des Reiches aufmerksam zu machen. Als moralische Instanz wies der Literat generalisierend auf das Leid des gemeinen Volkes hin, warnte vor „untugendhaften“ Ministern und Generälen und sprach sich offen für die Hingabe für den „Staat“ aus.256 Du Fu (712–770) wurde von Kaiser Xuanzong (685–762) nicht gehört. Doch die orthodoxen neokonfuzianischen Gelehrten der späteren Song-Zeit schätzten den Dichter für seine ungebrochene Loyalität und darüber hinaus auch für seinen Stil. Denn Du Fu schrieb nicht in dem zu seiner Zeit vorherrschenden und von den Einflüssen des Buddhismus durchdrungenen „Palaststil“ (Gongti shi), sondern vor allem im sogenannten „Alten Stil“ (Gushi).257 In einem „klassischen“ – der Antike nachempfunden – Stil, der im Verlauf der nächsten Jahrhunderte zur bestimmenden Ausdrucksweise in der Dichtkunst heranreifen sollte.258

254 Xuanzong folgte den Lehren des sogenannten „Shangqing-Daoismus“ nach. Näheres zu dieser Unterströmung des Daoismus sowie zu Xuanzong nachzulesen, in: Van Ess, Der Daoismus, S. 68–78. 255 Su Shih, Tu Fu chüan 1:99, zitiert nach Eva Shan Chou, Reconsidering Tu Fu, S. 23. 256 Vgl. Shan Chou, Reconsidering Tu Fu, S. 23. 257 Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 265. 258 Vgl. Kubin, Der klassische Essay (sanwen), S. 13–16. 70

Es ist bei weitem kein Zufall, dass ausgerechnet Du Fu in der chinesischen Literaturgeschichte einen besonderen Platz zugesprochen bekam. Denn die orthodoxen konfuzianischen Gelehrten der Song-Zeit suchten in der Tang-Zeit nach Kontinuität und fanden diese in Du Fu.259 Sie sahen in dem mittellosen Literaten einen tugendhaften Mann, der in seinem Denken seiner eigenen Epoche weit voraus gewesen war und auch in schwierigen Zeiten für die richtigen Prinzipien einstand. Du Fu wurde von den späteren Gelehrten dabei jedoch nicht nur als ein Dichter angesehen, sondern auch – und das ist entscheidend – als das Idealbild eines konfuzianischen Gelehrten.

1.19. Vom Ende „Goldener Zeitalter“ und „Söhnen, die ihre Väter nicht mehr als Väter behandeln“ Die Herrschaftszeit von Taizong und die erste Hälfte der Regierungsperiode von Xuanzong gelten in der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung als „Goldene Epochen“.260 Beinahe alles, was die späteren chinesischen Gelehrten an der Tang-Dynastie (618–907) als gut befanden, lässt sich in den Herrschaftszeiträumen der beiden Kaiser finden oder sich im weitestgehenden Sinne auf die Reformen zurückführen, die von den beiden Regenten herbeigeführt wurden. So wirkten etwa die als „bedeutend“ deklarierten Dichter der Tang- Zeit, Wang Wei (701–761), Li Bai (701–762) und Du Fu (712–770) allesamt im Zeitraum von 713 bis 765, in der Blütezeit der Tang-Dynastie (713–765). Suchen wir indes jedoch nach „herausragenden“ Dichtern, die innerhalb der Herrschaftszeit von Wu Zetian (690–705) oder in der Spätzeit der Tang-Dynastie (836–906) ihren Einfluss ausübten, so werden wir keine finden. Das vorherrschende Geschichtsbild einer Gesellschaft wird von den Werten ihrer eigenen Zeit geprägt. Oder vereinfacht gesprochen: Diejenigen, die die Deutungshoheit innerhalb einer Gesellschaft innehaben, bestimmen stets, was als „richtig“ oder als „gut“ befunden wird. Deshalb werden literarische Werke niemals nur aufgrund des herausragenden Talents ihrer Schreiber zu „Klassikern“. Vielmehr sind es die späteren Generationen, die darüber entscheiden, ob eine literarische Abhandlung als „gut“ oder „schlecht“ befunden wird. In unserem Kulturraum kennt heute fast jeder den metaphorischen Ausdruck der „Unsichtbaren Hand“. Die Schrift, „Der Wohlstand der Nationen“ von Adam Smith (1723– 1790) wird als ein kanonisches Werk innerhalb der Wissenschaftsdisziplin der

259 Vgl. Gottschalk, Chinas große Kaiser, S. 113. 260 Vgl. Lewis, China’s Cosmopolitan Empire, S. 40. 71

Nationalökonomie gehandelt. Doch es ist entscheidend zu begreifen, dass das Buch von Adam Smith nur deshalb zu einem „Klassiker“ der Nationalökonomie heranreifen konnte, weil sich der Kapitalismus weltweit durchgesetzt hat. Bei Goethes (1749–1832) „Faust“, „Die Räuber“ von Friedrich Schiller (1759–1805), „Candide oder der Optimismus“ von Voltaire (1694–1778) verhält es sich ähnlich. All diese Werke sind uns nur deshalb bekannt und gelten in unserem Kulturraum heute als „Klassiker“ der Literaturgeschichte, weil sich die Aufklärung, der Humanismus und das Bürgertum im mitteleuropäischen Raum erfolgreich etablieren konnten. Auch im chinesischen Kulturraum verhält es sich nicht anders. Dort gelten die Gedichte und Gesänge von Du Fu (712–770) und jene der anderen oben genannten Dichter aus der „Blütezeit der Tang“ nur deshalb als „Klassiker“, weil sich in China die konfuzianische Lehre nach dem Ende der Tang-Dynastie (618–907) durchzusetzen vermochte. In Europa prägten die Aufklärung, der Humanismus und das Bürgertum die Sicht auf die Vergangenheit. In China waren es vor allem die Moralvorstellungen und Werte des Konfuzianismus, die das vorherrschende Geschichtsbild prägten. Als Du Fu seine Gedichte schrieb, befand sich die Tang-Dynastie nach einer kurzen Blütezeit bereits wieder im Niedergang. Als ein Zeugnis für diesen Niedergang sah die spätere Orthodoxie vor allem die sogenannte „An Lushan-Rebellion“ an, die im Jahre 755 das Tang- Reich erschütterte, und die Dynastie in der Folgezeit an den Rand des Abgrunds führte. An Lushan (703–757), ein abtrünniger General, hatte sich in dem besagten Jahr mit seinen Truppen vom Tang-Reich losgesagt und sich gegen seine einstigen Herren gewandt. Der „Bürgerkrieg“, der nun folgte, sollte acht Jahre andauern, bevor sich die kaiserlichen Truppen in einem Pyrrhussieg gegen die Rebellen behaupten konnten. Am Ende konnten An Lushan und seine Verbündeten zwar erfolgreich gestoppt werden, doch die Tang-Dynastie war nach diesem Sieg nur noch ein Schatten ihrer selbst. Weite Landstriche waren verheert. Die Grundversorgung brach zusammen und die Hauptstadt des Reiches, Chang’an – die 756 schon einmal von An Lushan besetzt worden war – wurde 763 auch noch von tibetischen Truppen geplündert. Das einst so „stolze“ Tang-Reich lag in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts in Trümmern.261 Auch die Tang-Dynastie hatte also offensichtlich ihre Herrschaftslegitimation verwirkt. Durch ihren zunehmend „untugendhaften“ Regierungsstil verloren die Tang-Kaiser das „Mandat“, das sie durch den „Himmel“ einst erhalten hatten. Wieder einmal zerbrach das chinesische

261 Vgl. Naomi Standen, The Five Dynasties, in: The Sung Dynastie and Its Precursors. 907–1279, hrsg. v. Denis Twitchett/Paul Jakov Smith (The Cambridge History of China 5/ Part 1), Cambridge 2009, S. 38–132. 72

Einheitsreich und es folgte nach der Auffassung der späteren Orthodoxie eine „kulturelle Dunkelzeit“, die von der zweiten Hälfte des 8. bis zum Ende des 10. Jahrhundert andauern sollte. Trotz alledem war sich die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung weitestgehend darüber einig, dass auch die Tang-Dynastie ihren Untergang vermeiden hätte können – hätte sie nur auf die richtigen Persönlichkeiten gehört, auf Männer, wie den bereits erwähnten Dichter Du Fu, oder auf Han Yu (768–824), den bekanntesten der „Acht Großen Prosaisten der Tang- und Song-Zeit (618–1279)“, der schon zu seiner Zeit die „drängenden“ Probleme innerhalb des Tang-Reiches erkannt hatte: „Nach dem Verfall des ‚Dao‘ unter den Zhou, dem Tode des Konfuzius und der Bücherverbrennung unter den Qin gab es unter den Han (die Lehre) ‚Huanglao‘ und unter den (Dynastien) Jin, Wei, Liang und Sui den Buddhismus. Wenn jene […] sich nicht der (Lehrmeinung) des Yang [Zhu] anschlossen, so schlossen sie sich der des Mo [Di] an. Wer sich nicht (der Lehrmeinung des) Lao Zi anschloß, schloß sich (jener der) Buddhisten an. Wer sich dem einen anschloß, wandte sich gewiß von dem anderen ab. Die (einer Lehrmeinung) Beitretenden, hielten diese für überlegen, die sich (von einer Lehrmeinung) Abwendenden, hielten diese für unterlegen. Die beitraten, gaben sich der Lehre völlig hin, die sich abwandten, zogen sie in den Dreck. Oh weh!“262 Han Yu (768–824) vertrat am Ende des 8. Jahrhunderts den Standpunkt, dass die ursprüngliche Ausformung der konfuzianischen Lehre und deren Überlieferungstradition spätestens mit dem Tode von Kongzi erloschen war. Nachdem dieser das Zeitliche gesegnet hatte, vermischte sich die einst „reine“ Lehre aus dem Altertum mit den anderen bedeutenden „Geistesströmungen“ Chinas; unter der Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.) und der Han- Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) zunächst mit dem „Huanglao-Daoismus“ und unter den nachfolgenden Dynastien der, Wei (220–265), Jin (265–420) Liang (502–557) und Sui (581– 618) mit der buddhistischen Lehre. Han Yu – den man mit dem heutigen Vokabular gut und gerne als einen „konfuzianischen Fundamentalisten“ bezeichnen könnte – sah diese Entwicklung als einen äußerst problematischen Vorgang an. „Heutzutage ist es so, daß sie [die Menschen] danach streben, ihr Bewußtsein zu kontrollieren, und zugleich weisen sie die ganze Welt, das Reich und die Familie von sich und löschen ihre Sozialbindungen aus: Söhne behandeln ihre Väter nicht mehr als Vater, Minister behandeln ihre Herrscher nicht mehr als Herrscher, das Volk kümmert sich nicht mehr um die Angelegenheiten, die ihnen zukommen. Als Konfuzius das Chunqiu [die Frühlings- und Herbstanalen] schuf, betrachtete er jene Lehensfürsten, die barbarische Riten befolgten, als Barbaren, (während) er solche (Lehensfürsten), die den Riten Chinas nachkamen, als Chinesen betrachtete. In der kanonischen Schrift [in den Gesprächen des Konfuzius] heißt es: ‚Barbaren, die einen Fürsten haben, kommen nicht den Chinesen gleich, denen (ein Fürst) fehlt.‘ Im Buch der Lieder heißt es: ‚Widersetzt euch den Horden aus dem Westen und Norden, bestraft die Stämme von Jing und Shu.‘ Heute dagegen führen sie die Gesetze der Barbaren ein und stellen diese über die Lehren der früheren Könige. Bedeutet dies

262 Han Yu, Yuan Dao, zitiert nach Christoph Kaderas, Das Yuan dao des Han Yu, S. 260–261. 73 nicht, daß sich in Kürze alle zu Barbaren wandeln? […] Da dem so ist, was ist da zu tun? Ich sage: ‚Solange die Lehre der Daoisten und der Buddhisten nicht unterdrückt wird, solange wird die konfuzianische Lehre nicht überall kursieren. Macht die Anhänger des Daoismus und Buddhismus zu normalen Menschen, verbrennt ihre Bücher, säkularisiert (ihre) Klosteranlagen, nehmt das strahlende dao der früheren Könige als Leitfaden, und wenn die Witwen, Waisen, Vereinsamten, Krüppel und Kranke Fürsorge erhalten, so wird (der rechte Weg) wohl auszuführen sein‘.“263 Der Daoismus und der Buddhismus hatten nach der Auffassung von Han Yu nur Schlechtes gebracht. Die „häretischen Lehren“, die für Han Yu beide in ihren Grundsätzen eigentlich nicht zu China gehörten, hätten die einst so „reine“ chinesische Kultur über die Jahrhunderte hinweg vergiftetet. Sie hätten das Denken der Menschen unterwandert und die Bevölkerung in die Irre geführt – bis zu dem Punkt, dass in der Tang-Dynastie die Söhne ihre Väter nicht mehr als Vater, die Minister ihre Herrscher nicht mehr als Herrscher behandelt und das Volk sich nicht mehr um die auf sie gekommenen Angelegenheiten gekümmert hätten. Wo sollte dies alles nur hinführen? Außer zum Untergang der Tang-Dynastie? Nach dem Verständnis der späteren konfuzianischen Orthodoxie der Song-Zeit (960–1279) hatte Han Yu (768–824) erkannt, worin die entscheidenden Probleme seiner Zeit begraben lagen. Die Tang-Dynastie (618–907) sei nicht „tugendhaft“ genug – nicht konfuzianisch genug – gewesen und habe dadurch ihre Herrschaftslegitimation verwirkt. Dies hatte Han Yu bereits zu seinen Lebzeiten erkannt. Doch genauso wie der Dichter Du Fu (712–770) wurde auch er nicht gehört. Seine Einwände gegenüber den bestehenden Verhältnissen wurden als überzogen abgestempelt. Und für seine offene Kritik264, die der „Größte“ unter den „Acht großen Prosaisten der Tang- und Song-Zeit“ in einer Throneingabe gegenüber dem Buddhismus im Jahre 819 geäußert hatte, wurde Han Yu sogar vom Hofe verbannt.265 Zeitlebens wurden die von Han Yu verfassten Throneingaben, Essays und Briefe als zu extrem – die von ihm geäußerte Kritik gegenüber der daoistischen und buddhistischen Lehre als zu radikal – angesehen. Doch die spätere Orthodoxie sah in Han Yu einen Mann, der genauso wie der Dichter Du Fu in seinem Denken seiner Zeit weit voraus gewesen war. Die Song-Gelehrten ehrten den Prosaisten aus der Tang-Zeit für seine Art des Schreibens, für sein Weltbild und für seine ungebrochene Loyalität gegenüber den konfuzianischen Werten, insofern dass sie Han Yu zu einem „konfuzianischen Kulturheron“ hochstilisierten und die

263 Han Yu, Yuan Dao, zitiert nach Christoph Kaderas, Das Yuan dao des Han Yu, S. 265–267. 264 Seine Verbannung handelte sich Han Yu mit seiner berühmt gewordenen Throneingabe „Lun fogu biao“ (Manifest über den Buddhaknochen) ein. Im „Lun fogu biao“ kritisierte Han Yu eine alle dreißig Jahre stattfindende Prozession, in welcher der angebliche Fingerknochen von Buddha höchst selbst feierlich in den Kaiserpalast getragen wurde. Han Yu forderte in seiner Throneingabe vom Kaiser, dass dieser die Reliquie nicht anbeten dürfe und sie vielmehr ins „Feuer“ oder „Wasser“ werfen solle. 265 Liang Bingjun, Guo Lusheng, in: Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller. Leben und Werke, hrsg. v. Marc Hermann u. a. (Geschichte der chinesischen Literatur 9), Berlin 2011, S. 82–152, hier S. 94. 74 von ihm verfassten Schriften zu „Klassikern“ der Literaturgeschichte erklärten.266 Han Yus Schreibstil, der Stil der „Alten Prosa“ – „guwen“ genannt – wurde zur bestimmenden Kunstform.267 Und sein Geschichtsbild entwickelte sich letzten Endes sogar zum Konsens innerhalb der chinesischen Gelehrtenwelt.

1.20. Über Banditenbanden und Massakern an Gelehrten. Die Tang-Zeit und die „Zeit der Fünf Dynastien und Zehn Reiche“ In der Retroperspektive betrachtet, schienen Han Yus (768–824) Einwände kurze Zeit nach seinem Tode bereits Früchte zu tragen. Denn schon einundzwanzig Jahre nach dem Ableben des Prosaisten setzte im Jahre 845 die größte Buddhistenverfolgung ein, die es in China bis dahin je gegeben hatte. Nicht weniger als 4600 Klöster und 40.000 Schreine sollen im Verlauf eines Jahres zerstört sowie 260.000 Mönche und Nonnen gewaltsam in den Laienstand zurückversetzt worden sein.268 Der achtzehnte Tang-Kaiser Wuzong (814–846) verfolgte gegenüber dem Buddhismus eine äußerst harte Linie. Doch obwohl er den „Aberglauben“ in der Bevölkerung bekämpfte, handelte Wuzong keineswegs im Sinne von Han Yu, sondern tat das „Richtige“ aus den völlig falschen Gründen heraus. Wuzong wäre weder ein „tugendhafter“ Kaiser gewesen noch hätte er edelmütige Ziele verfolgt, ganz einfach deshalb nicht, weil er nicht den „richtigen Prinzipien“ folgte. Dies konnte er schlichtweg auch nicht, denn er war kein Konfuzianer gewesen, sondern vielmehr ein fanatischer Anhänger des Daoismus, der alles und jeden in seinem Reich im Namen seines Glaubens verfolgen ließ.269 Schon in der zweiten Hälfte der Regierungszeit von Xuanzong (685–762) hatte es sich abgezeichnet, spätestens aber ab der „Mittleren Tang-Zeit“ (766–835) ging es rapide bergab mit der „Tugendhaftigkeit“ der Tang-Kaiser. So ging auch Wuzongs Thronfolger und Onkel Xuanzong II. (810–859) keineswegs als ein „besserer“ Herrscher in die Geschichte ein, wie wir aus dem „Xin Tangshu“270 (New Book of Tang) herauslesen können.

266 Vgl. Timothy M. Davis, Lechery, Substance Abuse, and … Han Yu?, in: Journal of the American Oriental Society 135 (2015), Heft 1, S. 71–92, hier S. 71. 267 Kubin, Der klassische Essay (sanwen), S. 16. 268 Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 229. 269 Vgl. Gottschalk, Chinas große Kaiser, S. 116. 270 Beim „Xin Tanghsu“ (New Book of Tang) handelt es sich um eine der „24. Dynastiegeschichten“. Das jüngere der beiden „offiziellen Geschichtswerke“ zur Tang-Dynastie behandelt den Zeitraum zwischen 618 bis 906, wurde in der Song-Zeit (960–1279) herausgegeben und umfasst zehn Bände, bestehend aus 225 Kapiteln. Als die beiden Hauptverfasser des Werkes gelten gemeinhin Ouyang Xiu (1007–1072) und Song Qi (998–1061). 75

„When the Tang fell, thugs and bandits rose up during the Dazhong271 [Xuanzong II.] reign. The legacy of Taizong's virtues was remote. Worthy subjects were sent into exile, and those in power were cowards and of mediocre quality. Taxes were heavy and punishments harsh – the world was sorrowful.“272 Nach der Auffassung der späteren Song-Historiker hatten die Menschen auch allen Grund dazu, in der „Spätzeit der Tang-Dynastie“ (836–906) betrübt zu sein. Überall im Reich formierten sich Banden aus Verbrechern und Banditen. Das Reich lag in Trümmern und es gab niemanden, der die Tang-Dynastie noch retten hätte können, zumal die einst so mächtigen Tang-Kaiser im Verlauf des 8. Jahrhunderts zu Marionetten ihrer eigenen Diener, der Eunuchenschaft, geworden waren. Über die Jahrhunderte hinweg hatten die Palasteunuchen Wege und Mittel gefunden, wie sie trotz ihrer Zeugungsunfähigkeit ihren Reichtum, ihre Titel und ihre Ämter an Adoptivsöhne weitervererben konnten. Bis zum Ende der Tang-Dynastie reiften einige Eunuchen zu wohlhabenden und mächtigen Männern heran, die mitunter sogar so viel Einfluss ausüben konnten, dass sie über das Schicksal der Tang-Dynastie bestimmen konnten. So können wir dem „Xin Tangshu“ etwa entnehmen, dass nicht weniger als sieben der acht letzten Tang-Herrscher durch die einstigen Palastdiener zu Kaisern auserkoren worden sein sollen.273 Dass die Tang-Herrscher nicht mehr selbst über die Regierungsgeschäfte zu wachen vermochten, wäre wohl kein allzu großes Problem gewesen, wenn die Palasteunuchen eine stabile „Zentralregierung“ gewährleisten hätten können. Doch die Eunuchenschaft war untereinander verfeindet und musste ihren Einfluss auch noch gegen hohe Militärs und korrupte Kanzler verteidigen, was die unweigerliche Folge nach sich zog, dass sich der kaiserliche Hof in der „Spätzeit der Tang“ fast ununterbrochen in nicht endend wollenden Cliquenkämpfen, die zwischen den unterschiedlichsten Parteien am Hof losbrachen, verstrickt sah. Die Verwaltung des Reiches litt unter den Machtkämpfen an oberster Stelle, was in einer letzten Instanz wiederum dazu führte, dass die „Räuberbanden“ durch die Abwesenheit des „staatlichen Machtmonopols“ immer mehr Männer um sich scharen konnten.274 Spätestens in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts waren die ehemals nur lokal agierenden „Räuberbanden“ so zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung geworden. Zunächst plünderten die Banditen – unterstützt von der einfachen Landbevölkerung – lediglich einzelne Städte, doch im Verlauf des 9. Jahrhunderts wuchs ihre Macht und letztlich forderte eine

271 Dazhong ist ein „Großjährigkeitsname“ von Xuanzong II. 272 Ouyang Xiu, Xin Tangshu 225c:6469, zitiert nach Kwok-Yiu Wong, Corruption and Legitimacy. On the Conundrum of Emperor Xuanzong’s (R. 847–859) Government, in: Monumenta Serica 58 (2010), S. 65–108, hier S. 68. 273 Shih-shan Henry Tsai, The Eunuchs in the Ming Dynasty, New York 1996, S. 12. 274 Vgl. Fairbank/Goldman, China. A New History, S. 83–85. 76

Konföderation aus mehreren „Räuberbanden“ sogar die Tang-Dynastie in ihrer Gesamtheit heraus. Bekannt wurde der von den Banditen in die Wege geleitete „Bauernaufstand“, der nun folgen sollte, gemeinhin unter der Huang-Chao-Rebellion (875–884). Diese brach im Jahre 875 aus und sollte der „angeschlagenen“ Tang-Dynastie ihren endgültigen Todesstoß versetzen.275 Zwar konnten die kaiserlichen Truppen noch die vereinten „Räuberbanden“ auf dem Schlachtfeld besiegen, doch die eigentliche Macht im Reich war infolge der Huang- Chao-Rebellion vollends vom Kaiser und der Eunuchenschaft an einige Dutzend Kriegsherren übergegangen.276 Der zweitletzte Tang-Kaiser Zhaozong (867–904) fristete noch 20 Jahre ein Marionettendasein unter diesen Generälen, bis die Tang-Dynastie vollends an ihr Ende gelangt war, als einer dieser Kriegsherren, Zhu Quanzhong (852–912), im Jahre 904 den Thron für sich zu usurpieren begann.277 Im besagten Jahr ließ Zhu Quanzhong den vorletzten Tang-Kaiser Zhaozong (867–904) beseitigen und ihn durch dessen noch minderjährigen Sohn Aidi (892–908) ersetzen.278 Die Ermordung von Zhaozong war jedoch nur der erst Schritt. Denn im Sommer des folgenden Jahres ging Zhu Quanzhong mit seinem engsten Vertrauten Li Zhen (†923) daran, auch den übrigen Hof von unliebsam gewordenen Personen zu säubern. Das „Zizhi Tongjian“ schildert uns das Massaker, das nun folgen sollte, wie folgt: „At this time [in the summer of 905], Zhu Quanzhong ordered that Pei Shu279 and others who were banished, over thirty in total, stay in the White Horse postal station280. He had them all killed in one evening, and threw their bodies into the Yellow River. Previously, Li Zhen sat for the jinshi examination a number of times, but failed (repeatedly) to obtain the degree. Hence, he cultivated grudges against those who held degrees. He said to Quanzhong that, ‚they often refer to themselves as the »pure stream«. We should throw them into the Yellow River so that they would become the »muddy stream«!’ Quanzhong laughed and accepted his recommendation.“281 Zhu Quanzhong ließ über dreißig offizielle Beamte an nur einem Abend hinrichten. Den Ermordeten gewährte er nicht einmal ein ehrenvolles Begräbnis. Im Gegenteil. Der Thronusurpator ließ die leblosen Körper der Offiziellen in den Gelben Fluss werfen und amüsierte sich mit seinem engsten Vertrauten Li Zhen obendrein über den Tod von Männern, die den höchsten aller „akademischen Grade“ – den Jinshi-Grad – innegehabt hatten.

275 Vgl. Weiers, Geschichte Chinas. S. 86. 276 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 293. 277 Zur historischen Person von Zhu Quanzhong Näheres nachzulesen in: Standen, The Five Dynasties, S. 45–61. 278 Gottschalk, Chinas große Kaiser, S. 122. 279 Pei Shu (841–905) war ein einflussreicher Kanzler unter den letzten beiden Tang-Kaisern. 280 Die „White Horse postal Station“ (Baima yi) war eine Poststation, die sich an einem strategisch bedeutenden Flussübergang im Norden der heutigen Provinz Henan, in der Nähe der Stadt Kaifeng, am nördlichen Ufer des Gelben Flusses befand. 281 Zizhi Tongjian 265, Seite 8642-43, zitiert nach Kwok-Yiu Wong, The White Horse Massacre and Changing Literati Culture in Late-Tang and Five Dynasties China, in: Asia Major. Third Series 23 (2010), Heft 2, S. 33– 75, hier S. 38. 77

Das Bild, welches uns das „Zizhi tongjian“ anhand dieser Geschichte vermitteln will, ist im Grunde jenes: Der ehemalige General und Begründer der „Späteren Liang-Dynastie“ (907– 923) war ein grobschlächtiger Militär gewesen, der absolut keinen Respekt gegenüber der Gelehrtenwelt gehabt hatte. Er war ein Despot, dem die konfuzianischen Moralvorstellungen genauso fremd waren wie ein grundlegendes Gefühl für Pietät. Der große Tang-Kaiser Taizong (599–649) hatte noch gesagt: „I fear Heaven who supervises me, and the ministers who look up to me.“282 Zhu Quanzhong (852–912) hingegen fürchtete weder den „Himmel“, die Beamtenschaft noch seine Berater, er herrschte alleine und richtete willkürlich über seine Untergebenen. Neben den über 30 Offiziellen, die er im Sommer 905 exekutieren ließ, sollen auf sein Geheiß hin noch mindestens 462 Palasteunuchen in der Hauptstadt hingerichtet worden sein. Außerdem heißt es, Zhu Quanzhong habe alle Eunuchen, die in irgendeiner Form in Militärangelegenheiten verwickelt gewesen waren, zum Selbstmord verpflichtet.283 Aufgrund des drakonischen Verhaltens, das Zhu Quanzhong zu Tage legte, sollte es dem Leser des „Zhizi tongjian“ auch nicht weiter verwundern, dass der Thronusurpator im Jahre 908 schließlich auch noch den letzten und erst sechzehnjährigen Tang-Kaiser Aidi vergiften ließ.284 Nach diesem heimtückischen Mord benannte sich Zhu Quanzhong in Taizu um, etablierte die „Spätere Liang-Dynastie“ und läutete damit die sogenannte „Zeit der Fünf Dynastien und Zehn Reiche“ (907–960) ein, eine rund fünfzig Jahre andauernde Epoche, in der das chinesische Einheitsreich auseinanderbrach und sich erneut mehrere Kleinreiche um die Herrschaft in China stritten. In kürzester Zeit wechselten sich fünf Dynastien ab. Auf die von Zhu Quanzhong begründeten „Späteren Liang“ (907–925) folgten die „Späteren Tang“ (923–936), die „Späteren Jin“ (936–947), die „Späteren Han“ (947–950) und schließlich auch noch die „Späteren Zhou“ (950–960).285 – keine der genannten Dynastien konnte sich mehr als fünfzehn Jahre an der Macht halten.

282 Zizhi Tongjian 192. Seite 6048, zitiert nach Wang Zhenping, Ideas Concerning Diplomacy and Foreign Policy Under the Tang Emperors Gaozu and Taizong, S. 278. 283 Tsai, The Eunuchs in the Ming Dynasty, S. 12. 284 Gottschalk, Chinas große Kaiser, S. 123. 285 Neben diesen fünf „Dynastien“ gab es zwischen dem Zeitraum von 907 und 960 noch mehrere Dutzend Kleinkönigreiche, deren Herrschaftsgebiet sich vor allem im Süden Chinas konzentrierte. Näheres über diesen historischen Zeitraum nachzulesen in: Standen, The Five Dynasties, S. 38–132. 78

1.21. Von Herrschern, die keine sein wollen und idealen Kaisern. Die Song-Dynastie Einmal mehr war das chinesische Einheitsreich im 10. Jahrhundert zerbrochen. In Nordchina wurde der Kaiserthron in kurzen Abständen von einer „untugendhaften“ Dynastie zur anderen weitergereicht, wogegen der Süden des ehemaligen Tang-Gebietes in über ein Dutzend Kleinreiche zerfiel. Das glorreiche Tang-Reich war untergegangen – und mit ihm die chinesische Kultur. Zumindest wertete dies die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung so. Denn sie sah die „Zeit der Fünf Dynastien und Zehn Reiche“ (907–960), ähnlich der „Zeit der drei Reiche“ (220–280), der „Zeit der Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ (304–439) und der „Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien“ (439–589) als eine „Dunkle Periode“ innerhalb der chinesischen Geschichte an. In der Zeitperiode von 907 bis 959 gab es nach der Ansicht der späteren Orthodoxie keinen „tugendhaften“ Herrscher, der das „Mandat des Himmels“ wirklich verdient gehabt hätte.286 Es etablierte sich keine Dynastie, die in irgendeiner Form an die glorreiche Tang-Dynastie heranreichen konnte. Und im Grunde gab es auch keinerlei Hoffnung auf eine Besserung der Zustände. Doch wenn uns die chinesische Geschichtsschreibung eines vermitteln kann, dann dass einzelne heroische Männer das Schicksal von „ganz China“ schlagartig wieder zum Positiven wenden können. Beispiele hierfür finden wir zur Genüge: So hatte etwa der große König Wu († 1043 v. Chr.) den letzten tyrannischen Herrscher der Shang-Dynastie (1675–1046 v. Chr.) gestürzt und dadurch die erhabene Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr.) ins Leben gerufen. Gaozu (256–195 v. Chr.) brachte im 3. Jahrhundert v. Chr. die verwerfliche Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.) zu Fall und begründete die beachtungswürdige Han-Dynastie (206 v. Chr.– 220 n. Chr.). Und viele Jahrhunderte später formte der glorreiche Kaiser Taizong (599–649) das Großreich der Tang aus den Trümmern der „legistisch“ geführten Sui-Dynastie (581– 618). Nun, am Ende der „Zeit der Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ (304–439), betrat erneut ein Mann die Bühne der Geschichte, der im Alleingang das Schicksal von „ganz China“ zum Positiven zu wenden vermochte. Mit ursprünglichem Namen hieß der neue „Heilsbringer“ Zhao Kuangyin (927–976). Wir kennen ihn, der sich in seiner „Tugendhaftigkeit“ allemal mit den größten Königen und Kaisern in der chinesischen Geschichte messen konnte, wohl besser unter seinem Herrschaftsnamen Song Taizu.

286 Die „Späteren Liang“ (907–960), die „Späteren Tang“ (923–936), die „Späteren Jin“ (936–947), die „Späteren Han“ (947–950) und die „Späteren Zhou“ (950–960) wurden von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung allesamt als illegitime Dynastien erklärt. Gisela Gottschalk, Chinas Große Kaiser, S. 125. 79

Eben jenem Song Taizu, dem Begründer der Song-Dynastie (960–1279), zollte die chinesische Geschichtsschreibung großen Tribut. Denn im Grunde wäre es hauptsächlich seinem Wirken zu verdanken gewesen, dass die „kulturelle Dunkelheit“, der einmal mehr China in der „Zeit der Fünf Dynastien und Zehn Reiche“ (907–960) anheimgefallen war, wieder vertrieben werden konnte. Schon alleine anhand der Art und Weise, wie Song Taizu zum neuen Herrscher avancierte, konnten seine Zeitgenossen dessen „reinen“ und „tugendhaften“ Charakter erkennen. Denn der erste Song-Kaiser usurpierte nicht etwa den Thron, vielmehr wäre er – als der zweite Herrscher der „Späteren Zhou-Dynastie“ (950–960) im Jahre 959 überraschend ermordet wurde – dazu gedrängt worden, zum neuen Kaiser emporzusteigen.287 Song Taizu habe drei Mal abgelehnt, da er, wie es heißt, die Rechtmäßigkeit seiner eigenen Ernennung anzweifelte.288 Zu einigen seiner engsten Vertrauten soll er in diesem Zusammenhang gesagt haben: „If not for your efforts I could not have reached this [the throne]. Mindful of your merits, my gratitude is boundless. But being emperor is also very difficult. lt really can't compare to the happiness of being a military governor.“289 Will man diesen Zeilen aus dem 1183 herausgegebenen „Xu zizhi tongjian changbian“290 Glauben schenken, dann wollte Song Taizu (927–976) eigentlich gar kein Kaiser sein; viel lieber wäre er ein Militärgouverneur geblieben. Doch auf das Drängen der Menschen hin, die in ihm den auserwählten neuen Herrscher sahen, hätte sich der Begründer der Song-Dynastie letztendlich dann doch dazu entschieden, die Bürde des Throns auf sich zu nehmen. Es ist wohl offenkundig, welches Bild uns die offiziellen Quellen zur Thronbesteigung von Song Taizu zu vermitteln versuchen. Der Begründer der Song-Dynastie wäre ein von „Bescheidenheit“ geprägter Mann gewesen, ein Kaiser, der von Beginn an grundsätzlich andere Charakterzüge als die „untugendhaften“ Herrscher der „Zeit der Fünf Dynastien und Zehn Reiche“ aufwies. Song Taizu strebte nicht nach Macht. Er sei kein Despot, sondern das völlige Gegenteil zu einem solchen gewesen – nämlich ein Herrscher, der selbst prinzipiell eigentlich gar keiner sein wollte.

287 Vgl. Gottschalk, Chinas große Kaiser, S. 126. 288 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 308. 289 Li Tao, Xu zizhi tongjian changbian. 2.49–2.50, zitiert nach Peter Lorge, The Entrance and Exit of the Song Founders, in: Journal of Song-Yuan Studies 29 (1999), S. 43–62, hier S. 61. 290 Beim „Xu zizhi tongjian changbian“ handelt es sich um ein von „offizieller Stelle“ durch die Song-Dynastie beauftragtes Geschichtswerk. Es wurde 1183 herausgegeben, schließt zeitlich direkt an das bereits erwähnte „zizhi tongjian“ an und führt die Historie, die im „zizhi tongjian“ mit dem Jahre 959 endet, weiter. Inhaltlich setzt sich das „Xu zizhi tonjian changbian“ mit der Geschichte der „Nördlichen Song-Dynastie“ (960–1127) auseinander. Als Hauptverfasser des Werkes gilt gemeinhin Li Tao (1115–1184). Ursprünglich soll das Geschichtswerk ganze 980 Kapitel umfasst haben, wobei uns bis heute jedoch nur 520 Kapitel erhalten geblieben sind. 80

Im Gegensatz zu der von den traditionellen Quellen geschilderten Ansicht geht die heutige Forschung jedoch weitestgehend davon aus, dass Song Taizu wohl eher nicht allein aufgrund seiner überragenden „Tugendhaftigkeit“, sondern höchstwahrscheinlich wohl durch einen erfolgreichen „Militärputsch“ zur Macht gekommen war.291 Doch was die moderne Geschichtswissenschaft glaubt, sei hier nur am Rande erwähnt, denn für die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung handelte es sich bei Song Taizu schließlich um den Begründer der Song-Dynastie, der „glänzendsten“ Dynastie, die es in China seit der Zhou- Dynastie (1046–256 v. Chr.) gegeben hatte. Die spätere Orthodoxie verehrte Song Taizu (927–976). Sie sah in ihm einen Herrscher, der die Tang-Kaiser Taizong (599–649) und Xuanzong (685–762) in seiner „Tugendhaftigkeit“ noch um ein Vielfaches zu überstrahlen vermochte. Denn nach der Vorstellung der vom Neokonfuzianismus geprägten Gelehrten der späteren Epochen regierte der Begründer der Song-Dynastie (960–1279) in einer Weise, die jener der erhabenen mythischen Urkaiser Chinas nicht unähnlich war. Wie Yao und Shun wäre auch Song Taizu ein aufrichtiger, intelligenter und milder Herrscher gewesen, der bedeutende ökonomische und verwaltungstechnische Reformen in die Wege geleitet292 und einen von „ren“ (Menschlichkeit) und „yi“ (Rechtschaffenheit) geprägten Charakter aufgewiesen habe.293 Außerdem sei er der Gelehrtenwelt wohlwollend gegenübergetreten und habe unzählige Akademien und Schulen begründet. Und überdies berichten uns viele song- und ming- zeitliche Quellen, dass Song Taizu den sogenannten „Taizu-Schwur“ aussprach. Dieser Schwur würde – wie es in diesen Quellen heißt – seinen dynastischen Nachfolgern untersagt haben, dass diese Gelehrte töten dürften.294 Song Taizu und die von ihm begründete Song-Dynastie erfuhr eine durchwegs positive Rezeption von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung. Dies zeigt sich auch in der im 14. Jahrhundert herausgegebenen „Offiziellen Geschichte zur Song-Dynastie“ – dem „Songshi“295. In diesem zog der Historiker Tuo Tuo (1313–1355) das folgende Resümee über die Herrscher der Song:

291 Vgl. Charles Hartman, Sung Government and Politics, in: Sung China. 960–1279, hrsg. v. Denis Twitchett/John W. Chaffee (The Cambridge History of China 5/ Part 2), Cambridge 2015, S. 19–138, hier S. 27– 28. 292 Die von den ersten zwei Song-Kaisern in die Wege geleiteten Reformen nachzulesen in: Fairbank/Goldman, China. A New History, 88–95. 293 Frederick W. Mote, Imperial China 900 – 1800, Cambridge/Massachusetts/London 22015, S. 109. 294 Charles Hartman, Cao Xun and the Legend of Emperor Taizu’s Oath, in: State Power in China, 900-1325, hrsg. v. Patricia Buckley Ebrey/Paul Jakov Smith, Seattle/London 2016, S. 62–100, hier S. 62. 295 Beim „Songshi“ (Geschichte der Song-Dynastie) handelt es sich um eine der 24 Dynastiegeschichten. In 496 Bänden fokussiert sich das – in der Yuan-Dynastie (1271–1368) unter der Leitung des Historikers Tuo Tuo kompilierte und im Jahre 1343 herausgegebene – Geschichtswerk auf den Zeitraum der Song-Dynastie. 81

„Seit alters her ist es immer so gewesen, daß die Werte eines Gründungsherrschers und seiner Zeit die Qualität oder die Mängel einer ganzen Epoche bestimmen. Als der ‚Ahnherr der Künste‘ [Song Taizu] das Mandat wechselte, setzte er sogleich Literaten als Beamte ein und entzog den Militärbeamten ihre Macht. Die Hochschätzung von ‚wen‘296 während der Song-Zeit hatte darin ihren Anfang. Auch Taizong und Zhenzong waren, selbst als sie noch nicht als Herrscher inthronisiert waren, berühmt für ihre Vorliebe für gelehrtes Studium. Und als sie inthronisiert waren, nahm das, was von ‚wen‘ berührt wurde, täglich zu. Von da an, die ganze Abfolge ihrer Nachfolger hindurch, waren die Fürsten stets mit Lernen beschäftigt, und die nachgeordneten Minister und Beamten bis hinab zum Ortsvorsteher waren alle durch Examina ausgewählt, so daß es innerhalb der Vier Meere Literatenbeamte [wenshi] in Scharen gab.“297 Nach Auffassung der späteren Orthodoxie regierten Song Taizu und dessen kaiserliche Nachfolger nach den „richtigen Prinzipien“, weil sie in ihrer Herrscherperson die Positionen eines „Offiziellen“ und eines „Lehrers“ vereinten. Sie waren „Verwaltungsgenies“, gleichermaßen aber auch „Liebhaber“ der Künste und „Kenner“ der Klassiker; klug, belesen, zurückhaltend – kurzum „tugendhaft“ wären sie gewesen. So wie die Song-Herrscher im „Songshi“ beschrieben werden, erscheinen sie uns geradezu wie eine „Replik“ der „Gelehrtenkönige“ des Altertums, als ideale Kaiser, die sich durch ihre „Tugendhaftigkeit“ und ihre Liebe zum Volk auszeichneten. Doch um es in den Worten von Kongzi zu sagen: „If the masses hate someone, one must investigate the case; if the masses love someone, one must investigate the case.“298 Genauso wie „der Meister“ es in seinen „Gesprächen“ lehrt, sollten auch wir nicht frei von Skepsis sein und ergründen, wie es zur Glorifizierung der Song- Dynastie gekommen war.

1.22. Über den Aufstieg der Gelehrsamkeit und berühmte Kanzler Es war bei weitem kein Zufall, dass ausgerechnet die Zeitperiode zwischen 960 und 1279 von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung als eine „Goldene Epoche“ in der Geschichte angesehen wurde. Denn die vom orthodoxen Neokonfuzianismus geprägten Historiker schätzten die Song-Kaiser vor allem deshalb, weil die konfuzianische Lehre unter

296 Ursprünglich war mit dem Begriff „wen“ das geschriebene Wort gemeint. Ab der Tang-Zeit bezeichnete man sowohl prosaische wie auch lyrische Texte mit „wen“. Der Begriff „wen“ kann jedoch nicht einfach mit „Literatur“ übersetzt werden, da er weit mehr umfasst. Er bezeichnet auch den Einfluss, den das geschriebene Wort auf den einzelnen Menschen sowie die Gesellschaft hat. „Mit wen erhält man das dao“, hielt einst Zhou Dunyi fest. Wenn man sich darin übt, das „wen“ im richtigen Maße zu kultivieren, ist man auch in der Lage dazu, das „dao“ zu finden. Oder in den Worten von John King Fairbank: „Wen means basically the written word and so by extension its influence in thought, morality, persuasion, and culture.“ Fairbank/ Goldman, China. A New History, S. 69. 297 Tuo Tuo, Songshi. Kapitel 439. S. 12997. Zitiert nach Helwig Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 325. 298 Kongzi, Lunyu 15.28, translated by Robert Eno, in: The Analects of Confucius. An Online Teaching Translation, 2015, [http://www.indiana.edu/~p374/Analects_of_Confucius_(Eno-2015).pdf], S. 86. 82 ihrer Herrschaftszeit die absolute Deutungshoheit in China erlangen konnte. Die neokonfuzianischen Gelehrten der Yuan-Dynastie (1279–1368), Ming-Dynastie (1468–1644) und Qing-Dynastie (1644–1912) glaubten fest daran, dass unter der Song-Dynastie (960– 1279) der Daoismus und der Buddhismus bekämpft wurden und die song-zeitliche „Gesellschaft“ den Versuch unternahm, die „ursprüngliche“ konfuzianische Lehre – so wie sie im Altertum existiert hatte – wieder aufleben zu lassen. Beweise für diesen „Versuch“ konnten die späteren Gelehrten zur Genüge in den erhalten gebliebenen Aufzeichnungen der Song-Dynastie finden, zum Beispiel in den Schriften von Wang Anshi (1021–1086), dem vielleicht „berühmtesten“ Kanzler innerhalb der gesamten chinesischen Geschichte. An diesen erinnerte sich die spätere Orhtodoxie vorwiegend aufgrund von dessen Reformvorschlägen, welche dieser zeitlebens dem sechsten Song-Kaiser Shenzong (1048–1085) unterbreitet hatte. Wang Anshi erdachte eine Fülle von verwaltungstechnischen „Verbesserungsvorschlägen“ – einer davon nahm Bezug auf die Ausbildung der Beamtenschaft. Wang Anshi schrieb in seinem 1058 erschienenen und sogenannten „Zehntausend-Worte-Manifest“ (Wanyanshu): „Die augenblickliche Lehrmethode bildet nicht nur nicht den Menschentypen heran, den wir brauchen, sie verdirbt vielmehr den Studenten derart, daß er niemals ein tüchtiger Verwaltungsfachmann werden kann. Die Befähigung für die Verwaltung wird am besten durch Spezialisierung herangebildet, und sie wird durch eine zu große Zahl an Studienfächer vernichtet. So stellen wir fest, daß die Herrscher des Altertums ihre Handwerksmeister in den Betrieben suchten, ihre Landwirtschaftsleute auf den Gütern, ihre Wirtschaftler auf den Märkten und ihre Beamten in den Schulen. So hatte jeder die Gelegenheit, sich auf seinem eigenen Gebiete zu spezialisieren und brauchte als Vorbereitung für eine ganz bestimmte Tätigkeit nichts außerhalb Liegendes zu studieren. Man war der Ansicht, daß ein anderes System der Erwerbung des erforderlichen Fachwissens abträglich sei. Die Studenten wurden auch daran gehindert, etwas anderes als die Methoden und Grundsätze der Herrscher des Altertums zu studieren, und die zahlreichen abweichenden Lehren der verschiedenen Schulen wurden unter strenge Strafe gestellt.“299 Was uns beim Lesen dieser Zeilen sofort auffallen sollte, ist, dass Wang Anshi all seine Reformvorschläge durch einen Rückgriff auf die „Shengren“ des Altertums zu legitimieren versucht. Der Kanzler „glorifizierte“ in seinem „Zehntausend-Worte-Manifest“ die Regierungsweise der altvorderen Könige und Kaiser; er fordert, dass die Song-Dynastie ihre Beamtenschaft nach derselben Art und Weise ausbilden sollte, wie es einst die altertümlichen Dynastien nach seiner Vorstellung schon getan hätten. Im Sinne der Alten sollten die Beamtenkandidaten in der Song-Dynastie (960–1279) geschult werden. Genauso wie „früher“ unter den altehrwürdigen Kaisern und Königen, müssten sich die Studenten wieder spezialisieren und gleichzeitig – auch wenn dies widersprüchlich zur

299 Wang Anshi, Wanyanshu, zitiert nach Günther Debon, in: Chinesische Geisteswelt, Von Konfuzius bis Mao Tse-Tung, Leipzig 22009, S. 185. 83 vorangegangen Aussage zur Spezialisierung zu sein scheinen mag – das Bogenschießen praktizieren. Denn: „Im Altertum erlernten als äußerst dringliche Erfordernisse alle Beamtenkandidaten das Bogenschießen und das Kampfwagenfahren. […] Es war notwendig für die Unterhaltung von Gästen, es diente dazu, den Charakter eines Mannes zu bestimmen, und es zeigte, wer ein guter Kollege sein würde. Bei Musikspielen und in Verbindung mit der Durchführung der großen Zeremonien und Opferfeiern fand sich immer eine Gelegenheit für die Ausübung des Bogenschießens. […] Heutzutage wird jedoch diese außerordentlich wichtige Verantwortung, die von sehr sorgfältig ausgesuchten Männern getragen werden sollte, ‚Taugenichtsen‘ aufgebürdet, die nicht einmal fähig waren, in ihren eigenen Heimatdörfern ein notdürftiges Auskommen zu finden.“300 Wang Anshi forderte in seinen Reformen nichts Geringeres, als dass die chinesische Gesellschaft sich vollends nach den Gesetzen und Riten der altehrwürdigen Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr.) ausrichten sollte. Denn im Altertum, als noch der „reine“ Konfuzianismus gelebt wurde, wäre es den Menschen um ein Vielfaches besser ergangen, als in den ganzen Jahrhunderten danach, in welchen die chinesische „Zivilisation“ durch eine Vielzahl von unterschiedlichen häretischen Lehren korrumpiert wurde. Diese Geisteshaltung, die grundsätzlich davon ausgeht, dass lediglich im „klassischen Altertum“ das anzustrebende Ideal für eine funktionierende Gesellschaft aufgefunden werden kann, kennen wir bereits vom tang-zeitlichen Gelehrten Han Yu (768–824)301. Wang Anshi übernahm dessen „radikale“ Sichtweise auf die Vergangenheit. Doch tat dies nicht nur dieser. Vielmehr wurde Han Yus Geschichtsbild in der Song-Dynastie nunmehr zum Konsens innerhalb der konfuzianischen Gelehrtenwelt.302 Beispielsweise schrieb auch der sogenannte „Trunkene Alte“ (Zuiweng), Ouyang Xiu (1007–1072) in seinem „Ben Lun“ (Discourse on Fundamentals) im Jahre 1042: „Buddha was a barbarian who was far removed from China and lived long ago […]. But some two hundred years after the Three Dynasties303 had fallen into decay, when kingly rule ceased, and rites and righteousness were neglected, Buddhism came to China. It is clear then that Buddhism took advantage of this time of decay and neglect to come and plague us. This was how the illness was first contracted. And if we will but remedy this decay, revive what has fallen into disuse, and restore once again to the land kingly rule in its brilliance and rites and righteousness in their fullness, then although Buddhism continues to exist, it will have no hold upon our people.“304 Der Literat Ouyang Xiu (1007–1072) gilt gemeinhin als ein Widersacher von Wang Anshi (1021–1086). Doch obwohl sich der „Trunkene Alte“ zu seinen Lebzeiten offen gegen das Reformprogramm seines Zeitgenossen aussprach, waren sich sowohl Ouyang Xiu als auch

300 Wang Anshi, Wanyanshu, zitiert nach Günther Debon, in: Chinesische Geisteswelt, S. 187. 301 Siehe S. 73. 302 Vgl. Mote, Imperial China, S. 160–162. 303 Mit den „Drei Dynastien“ sind die altertümlichen Dynastien der Xia (2070–1600 v. Chr.), Shang (1700–1100 v. Chr.) und Zhou 1100–256 v. Chr.) gemeint. 304 Ouyang Xiu, Jushi Ji. 17.511, zitiert nach William Theodore De Bary, Sources of Chinese Tradition. From Earliest Times to 1600, Band 1, Columbia 1960, S. 387. 84

Wang Anshi in ihren Grundsätzen darüber einig gewesen, dass die Song-Dynastie nur dann Bestand haben könnte, wenn sie sich voll und ganz dem „ursprünglichen“ Konfuzianismus verschreiben würde, einem Konfuzianismus, von dem – wie wir bereits wissen – jedoch niemand so genau wusste, wie er eigentlich auszusehen hatte.

1.23. Über eine „neue“ Lehre und „alte“ Überzeugungen Ouyang Xiu und Wang Anshi zählen heute zu zwei geistigen Vertretern des sogenannten „Neokonfuzianismus“ (Song-Ming-Lixue), jener geistigen Unterströmung des Konfuzianismus, die sich in der Song-Dynastie herausbildete und die innerhalb von wenigen Jahrzehnten zur bestimmenden Philosophie innerhalb des chinesischen Kulturraums heranreifen sollte. Sowohl Ouyang Xiu als auch Wang Anshi, aber auch Gelehrte wie Zhou Dunyi (1017–1073)305, Zhang Zai (1020–1077)306 oder die Cheng-Brüder307 Cheng Hao (1032–1085) und Cheng Yi (1033–1107) gaben der konfuzianischen Lehre im 11. Jahrhundert neue Impulse. Sie entwickelten den Konfuzianismus weiter und fügten ihm einen „metaphysischen“ und „kosmologischen“ Charakter hinzu. Hatte sich zu Kongzis Lebzeiten der Konfuzianismus noch hauptsächlich mit Grundsatzfragen im Zusammenhang mit der Moral und der Ethik sowie mit Fragen nach der Stellung des Individuums innerhalb von menschlichen Gesellschaften auseinandergesetzt,308 ergänzten die song-zeitlichen Gelehrten nunmehr die Lehre des „Königlichen Weges“ durch Fragen nach der Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur, der Wechselwirkung, die sich daraus zwischen den Naturkräften und dem einzelnen Individuum ergeben, sowie durch grundsätzliche Fragen nach der Stellung vom Menschen innerhalb des Kosmos.309 Die song-zeitlichen Philosophen nahmen Begrifflichkeiten und Denkinhalte aus dem Daoismus und dem Buddhismus in ihre eigene Lehre auf und integrierten sie in diese. Gewissermaßen könnte man gar davon sprechen, dass sie den Neokonfuzianismus schufen, in dem sie die daoistische und buddhistische Lehre „konfuzianisierten“. Bei Lichte besehen, bediente sich die „neokonfuziansiche Lehre“ nämlich offenherzig der Denkansätze, die

305 Näheres zu den Lehren von Zhou Dunyi nachzulesen in: Fung, A Short History of Chinese Philosophy, S. 266–280. 306 Näheres zu den Lehren von Zhang Zhai nachzulesen in: Ira E. Kasoff, The thought of Chang Tsai (1020– 1077), Cambridge 1984. 307 Näheres zu den Lehren der Cheng Brüder nachzulesen in: Yong Huang, "Why Be Moral?". The Cheng Brothers' Neo-Confucian Answer, in: The Journal of Religious Ethics 36 (2008), Nr. 2, S. 321–353. 308 Vgl. Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 242. 309 Näheres zu den neokonfuzianischen Schulen in der Song-Zeit nachzulesen in: Fung, A Short History of Chinese Philosophy, S. 266–293. 85 ursprünglich außerhalb der eigenen Lehre zu finden waren. Nirgends können wir dies wohl so deutlich erkennen wie bei Zhou Dunyi (1017–1073), dem erklärten Begründer des „Neokonfuzianismus“ höchst selbst: „Das höchste Nichtsein [wuwei] ist zugleich das höchste Sein. Bewegt sich das höchste Sein, so entsteht das Yang. Am Ende der Bewegung steht die Ruhe, das Yin. Am Ende der Ruhe entsteht wieder Bewegung. So sind Bewegung und Ruhe jedes der Ursprung des anderen. Unterschieden stellen Yin und Yang die beiden Pole dar. Wandelt sich das Yang, und tritt Yin hinzu, so erzeugen sie Wasser, Holz, Metall und Erde, jedes mit einem eigenen Wesen, und die vier Jahreszeiten treten ihren Lauf an. Die Fünf Elemente in ihrer Gesamtheit bilden das Nichtsein. Sind die Fünf Elemente hervorgebracht, hat jedes seine eigene Natur. Das wahre höchste Nichtsein und die Essenz der Zwei und Fünf (Elemente) vereinigen sich in unfassbarer Weise und gerinnen. Der Weg [dao] des Himmels wird der männliche, der der Erde der weibliche. Ihrer beiden Wesen vereinigen sich, erregen einander und bringen durch ihre Wandlungen die Zehntausend Dinge hervor. Alle Dinge haben ihr Leben, verändern und wandeln sich ohne Ende. Allein der Mensch erhält den feinsten Stoff und das meiste[!] an Geist. Ist sein Körper entstanden, entwickelt sein Geist das Wissen, seine fünf Naturen erregen und bewegen sich, er unterscheidet Gut und Böse und tut alle möglichen Taten. Der Heilige [Shengren] richtet sich nach der rechten Mitte, der Gradheit, Menschlichkeit [ren] und Gerechtigkeit [yi], vor allem strebt er nach Ausgeglichenheit und erreicht dadurch das Höchste der Menschen. So gleicht seine Tugend der des Himmels und der Erde, sein Glanz dem der Sonne und des Mondes, seine Taten dem Ablauf der vier Jahreszeiten, und er hat Macht über Glück und Unglück wie die Geister und Dämonen. Der Edle pflegt die Tugend und wird dadurch glücklich, der Niedrige widersetzt sich ihr und wird dadurch unglücklich.“310 Bei Zhou Dunyi finden wir alles: Yin und Yang, Nichtsein (wuwei), den „Shengren“, Ausgeglichenheit, Menschlichkeit (ren), Gerechtigkeit/Rechtschaffenheit (yi), Tugend, Kosmologie, Metaphysik, die Leere sowie Fragen nach dem Leben und Tod. Zhou Dunyis Schrift, die „Erklärungen zur Tafel des Urprinzips“ (Taiji tushuo), zeigt uns, wie breitgefächert und vorbehaltslos sich der „neue Konfuzianismus“ der Song-Zeit an den übrigen Denkschulen bediente. Eigentlich konnte der Neokonfuzianismus seine geistige Nähe zu den anderen bedeutenden philosophischen Schulen Chinas nicht verschleiern. Doch obwohl dies der Fall war, sahen sich die song-zeitlichen Philosophen stets als völlig unbeeinflusst vom Daoismus und Buddhismus an. Dies mussten sie gewissermaßen auch. Denn grundsätzlich waren sich die Vertreter des Neokonfuzianismus ja schließlich darüber einig gewesen, dass der „reine“ Konfuzianismus alleine im Altertum existiert hatte. Die Lehre des Altertums war das anzustrebende Ideal eines jeden konfuzianischen Gelehrten, die Vorstellung Konsens, dass diese einstige „reine Lehre“ unbeeinflusst von den anderen Geistesströmungen in China gewesen war.

310 Zhou Dunyi, Taiji tushuo 2, zitiert nach Günther Debon, Chinesische Geisteswelt, S. 178–179. 86

Die neokonfuzianischen Gelehrten glaubten fest daran, dass sie – und nur sie – den Konfuzianismus genauso auslegten, wie er im Altertum existiert hatte.311 So sah sich auch der „große“ Philosoph Zhu Xi (1130–1200) im Geiste als ein Vertreter des „ursprünglichen“ Konfuzianismus.312 In einem Essay mit dem Titel „Mu Zhai Ji“ (A Record on the House of Herding) beschrieb er seinen eigenen Werdegang wie folgt: „I did not meet Master Li until I went to Tongan for my tenure when I was already 24 or 25. When I spoke with Master Li, he simply disapproved of me. I was not aware of my mistake; instead, I doubted whether Master Li really knew what the Dao was. Therefore, I questioned him repeatedly. Master Li was a simple and solemn man, not good at expressing his thoughts. He merely told me to read the works by the great Confucians, so I temporarily put the thoughts of the Chan School313 aside. […] I was ignorant and relatively well-informed of the Chan School when I was young, but Master Li rebuked its flaws. When I reconsidered it afterwards, I found that it was Confucianism that was more profound. Whenever I made progress at one aspect, I would certainly regress at another point, and almost no trace of Buddhist cultivation can be found in me now. Buddhism is heresy after all.“314 Die späteren neokonfuzianischen Gelehrten der Yuan-, Ming- und Qing-Zeit waren stets darin bemüht, sich von den buddhistischen Einflüssen in der chinesischen Geisteswelt abzugrenzen. Doch selbst ein überzeugter Neokonfuzianer wie Zhu Xi – der oftmals als der größte Gelehrte nach Kongzi beschrieben wurde315 – war in seiner Weltanschauung maßgeblich von eben jener Lehre stark beeinflusst worden, die er eigentlich verurteilte. Dies zeigt uns allem voran die von Zhu Xi erdachte Lehre, die zwei gegensätzliche Bewusstseinsformen kannte: sowohl eine „tätige“ wie auch eine „meditative“.316 Um das „dao“ in den Dingen zu erkennen, müsse man sich – laut Zhu Xi – zum einen in den praktischen Dingen des Alltags üben, zum anderen aber zum Ausgleich auch seinem eigenen „Herzen“ widmen. Nur durch „ehrfürchtige Konzentration“ (jing) könne der Geist einen Zustand der „Ordnung“ erreichen, wodurch das Individuum letztlich in der Lage wäre, den eigenen „Herzenssinn“ zu ergründen.317 Der song-zeitliche Gelehrte Zhu Xi sah sich selbst als einen Verfechter der ursprünglichen Ausformung der konfuzianischen Lehre an und sprach sich vehement gegen den Buddhismus

311 Shu-hsien Liu, Neo-Confucianism (I). From Cheng Yi to Zhu Xi, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 365–395, hier S. 366. 312 Ebd., S. 368. 313 Bei der von Zhu Xi als „Chan-Schule“ bezeichneten Lehre handelte es sich um die bedeutendste Unterströmung des Mahayana-Buddhismus. Auch der bereits erwähnte Mazu Daoyi gilt als ein Vertreter dieser Lehre (Siehe S. 44). Näheres zum Chan-Buddhismus nachzulesen in Bernhard Faure, Chan Insights and Oversights. An Epistemological Critique of the Chan Tradition, Princeton 1996. 314 Zhu Xi, Zhu Wengong Wenji (Gesammelte Werke von Zhu Xi). Mu Zhai Ji, S. 2568–2620, zitiert nach Weixiang Ding/ Deyuan Huang, Zhu Xi’s Choice, S. 525. 315 Mote, Imperial China, S. 340. 316 Kern, Wang Yangming, S. 35. 317 Ebd., S. 34. 87 aus.318 Gleichzeitig übernahm er in seinem Denken aber mehrere Aspekte, die offensichtlich aus der buddhistischen Lehre entstammten. So handelte es sich bei der von ihm propagierten „ehrfürchtigen Konzentration“ grundsätzlich um nichts anderes als eine Meditationspraktik, deren Wurzeln klar im Buddhismus zu verorten sind. Und auch Zhu Xis Fokussierung auf die eigene „Selbstkultivierung“, seine Suche nach dem alles zugrunde liegenden „Ordnungsprinzip“ (li) im eigenen Individuum stand konträr zum altertümlichen Konfuzianismus, der sich ursprünglich ja vor allem mit Fragen um das kollektive Zusammenleben befasst hatte.319 Die Lehren von Zhu Xi weisen Widersprüchlichkeiten auf, die dem heutigen Leser mitunter als paradox erscheinen mögen. Doch dem Song-Gelehrten erschien seine Geisteshaltung keineswegs als widersprüchlich – vielmehr sah dieser sich selbst als völlig unbeeinflusst vom Buddhismus und Daoismus an.

1.24. Über die „Vier Bücher“ und konfuzianische Schismen. Die Song- und Ming- Dynastie Einst hatte Kongzi die „Kanonischen Schriften“ des Konfuzianismus erschaffen, indem er die auf ihn gekommenen Lehren aus dem Altertum gesammelt und sie in den „Fünf Klassikern“ zusammengefasst hatte. Über seine eigene Herangehensweise bei der Kompilierung seiner Werke soll der „Meister“ gesagt haben: „I transmit rather than innovate. I trust in and love the ancient ways.“320 Kongzi erdachte nach eigener Aussage selbst also keinerlei neue philosophische Standpunkte. Vielmehr verknüpfte er das vorhandene Wissen, kommentierte es und erhielt es so für die Nachwelt. Ähnlich wie der „Meister“ in der „Zeit der Frühlings- und Herbstanalen“ (770–476 v. Chr) ging nunmehr auch Zhu Xi (1130–1200) rund 1500 Jahre später vor, als er in der Song-Zeit die sogenannten „Vier Bücher“321 zusammenstellte. Auch Zhu Xi trug – genauso wie Kongzi seinerzeit – selbst nur wenig eigene Gedanken zum Konfuzianismus bei. Seine erbrachte Leistung lag vielmehr darin, dass er die unterschiedlichen Strömungen der konfuzianischen Lehre, die sich seit der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.)

318 Vgl. Liu, Neo-Confucianism (I). From Cheng Yi to Zhu Xi, S. 367. 319 Ebd., S. 383. 320 Kongzi, Lunyu 7.1. 321 Bei den sogenannten „Vier Büchern“ handelt es sich um das „Daxue“ (Das große Lernen), das Zhongyong (Mitte und Beständigkeit), das Lunyu (Analekten des Konfuzius) und das Buch „Mengzi“. Diese „Vier Bücher“ waren vom Jahr 1313 (Yuan-Dynastie) bis hin in das Jahr 1905 (Qing-Dynastie) offizieller Gegenstand der „Staatsprüfungen“. Kern, Wang Yangming, S. 12–13. 88 herausgebildet hatten, ordnete und sie unter dem „Dach“ eines „einheitlichen Lehrgebäudes“ unterbrachte. Dieses neue und äußerst komplex anmutende „Lehrgebäude“, das in der Song-Dynastie (960– 1279) erdacht und von Zhu Xi in den „Vier Büchern“ gedanklich gebündelt wurde, war der Neokonfuzianismus, der durch seine Fähigkeit, dass er alle bedeutenden theologisch- philosophischen Strömungen der chinesischen Geisteswelt erfolgreich in sich vereinte, länger bestehen konnte als irgendeine andere „Schule“ vor ihm. Von der Song- bis zur ersten Hälfte der Qing-Zeit (1644–1912), das heißt über einen Zeitraum von rund 500 Jahren, übte das Gedanken- und Wertesystem des Neokonfuzianismus seinen alles durchdringenden Einfluss auf die chinesische Geisteswelt aus.322 An diesem Punkt soll und darf jedoch keinesfalls das falsche Bild entstehen, dass es sich beim Neokonfuzianismus des 18. Jahrhunderts um die identische Lehre wie 500 Jahre zuvor gehandelt hätte. Denn natürlich entwickelte sich auch der Neokonfuzianismus im Verlauf der Jahrhunderte weiter. Etwa verlagerte sich sein Schwerpunkt von der in der Song-Zeit von den Cheng Brüdern und Zhu Xi vertretenen „Lixue-Schule“ (Lehre vom Prinzip) zu der im 16. Jahrhundert von Wang Yangming (1472–1529) begründeten „Xinxue-Schule“ (Lehre vom Wesen und Prinzip).323 Während beispielsweise Zhu Xi und die geistig an ihn anknüpfenden Philosophen der Song-Zeit (960–1279) und frühen Ming-Zeit (1368–1644) noch die Meinung vertraten, dass der Mensch „wirkliche Erkenntnis“ nur dann erlangen könnte, wenn er sich einerseits in den praktischen Dingen des Alltags übte und sich anderseits zurückzog, um zu meditieren, glaubten die späteren Neokonfuzianer, die der Lehre von Wang Yangming folgten, dass der Einzelne im „Handeln“ bereits selbst die „wirkliche Erkenntnis“ finden könnte. Denn: „Wie kann [.] Erkenntnis und Handeln etwas Verschiedenes sein? Ihrer ursprünglichen Natur nach sind sie eins, solange selbstsüchtige Wünsche sie nicht trennen. Der Weise [Shengren] belehrt jeden, dass er selbst handeln muss, bevor man sagen kann, dass er ein Verständnis hat. Solange jemand nicht handelt, versteht er nicht. Wie wichtig ist diese Aufgabe! Warum (sollte man) darauf bestehen, dass Erkenntnis und Handeln etwas Verschiedenes seien, während die Weisen [Shengren] sie als eine Einheit ansehen?“324 Wang Yangming (1472–1529) griff im 16. Jahrhundert einzelne Aspekte aus der „neokonfuzianischen Lehre“ heraus und stellte diese in Frage. Doch in all seiner Kritik – die

322 Vgl. Achim Mittag, Die Konstruktion der Neuzeit in China. Selbstvergewisserung und die Suche nach Anschluß an die moderne Staatengemeinschaft, in: Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs, hrsg. v. Renate Dürr/Gisela Engel/Johannes Süßmann (Historische Zeitschrift Beiheft N.F. 35, München 2003, S. 139–164, hier S. 144. 323 Näheres zu den Lehren von Wang Yangming nachzulesen, in: Kern, Wang Yangming. 324 Wang Yangming, Ch’uan-hsi-lu, zitiert nach Günther Debon, Chinesische Geisteswelt, S. 267. 89 er vor allem gegenüber der Person und den Lehren von Zhu Xi äußerte – löste er sich dennoch nie vom neokonfuzianischen Gedanken- und Wertesystem, welches sich in der Song-Zeit herausgebildet hatte. Auch der ming-zeitliche Philosoph blieb diesem weiterhin verhaftet, sodass, wenn wir die Lehren von Wang Yangming denen von Zhu Xi gegenüberstellen, wir nicht von der Herausbildung einer neuen „Schule“, sondern allemal von einem neokonfuzianischen „Schisma“ sprechen können, das sich im 16. Jahrhundert vollzogen hatte. Die zentralen „Denkinhalte“ des Neokonfuzianismus aber blieben von der Song-Zeit (960– 1279) bis zur ersten Hälfte der Qing-Zeit (1644–1912) in ihren Grundsätzen dieselben.325

1.25. Zusammenfassung Die Herausbildung einer „spezifischen Weltanschauung“ bedingt das Entstehen einer eigenständigen Ideologie. Diese Relation mag auf den ersten Blick als trivial erscheinen – und dennoch ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir uns stets dieses Zusammenhangs bewusst sind. Denn wenn man so will, dann hätte es die „Gesellschaftslehre“ des Marxismus niemals gegeben, wenn Marx (1818–1883) und Engels (1820–1895) nicht ihre eigene durch den „Klassenkampf“ geprägte Weltanschauung entwickelt hätten; oder aber den Faschismus, wenn sich in Italien nicht eine politische Strömung herausgebildet hätte, deren Vertreter sich durch eine nationalistische, antiliberale und antidemokratische Weltanschauung verbunden sahen. Und letztlich könnte es heute die im Volksmund als „Lebenseinstellung“ bezeichnete Ideologie des Veganismus nicht geben, wenn nicht eine Gruppe von Menschen existierte, die eine einheitliche tierethische Weltanschauung vertreten würde. Ideologien aber entstehen und vergehen. Ihre Wirkungsmacht wird nicht durch den Faktor Zeit, sondern durch den des „Menschen“ bestimmt. Stimmt eine Gesellschaft – oder zumindest eine größere Gruppe von Individuen in einer solchen – mit den Werten einer Ideologie überein, kann diese bestehen. Lehnt sie diese ab, muss sie vergehen. Wie lange eine Ideologie die Deutungshoheit innerhalb einer Gesellschaft gegenüber einer anderen Ideologie wahren kann, wird also grundsätzlich von den „Zustimmungswerten“, die eine „spezifische Weltanschauung“ generieren kann, bestimmt. So vermochte beispielsweise die „spezifische Weltanschauung“ der nationalsozialistischen Ideologie – die aus der faschistischen Ideologie erwachsen war und sich von dieser noch durch einen radikalen Antisemitismus und Rassismus abhob – in den 1930er Jahren im deutschsprachigen Raum

325 Vgl. Elman, The Social Roles of Literati in Early to Mid-Ch‘ing, S. 369–370. 90 von einem Großteil der Menschen hohe „Zustimmungswerte“ zu erhalten, bis sie in den 1940er Jahren nur noch von der „Elite“ vertreten wurde, bevor sie in der Nachkriegszeit endgültig ihre Deutungshoheit einbüßen musste. Bei der Ideologie des Nationalismus – in dessen „Gedankengebäude“ wir wiederum die Wurzeln des Faschismus und Nationalsozialismus verorten können – verhielt es sich indes anders. Dessen „spezifische Weltanschauung“, die sich im 18. Jahrhundert herausbildete, verging nicht und findet auch heute noch – wie wir alleine schon im folgenden Wort erkennen können – international hohe „Zustimmungswerte“. Die „spezifische Weltanschauung“, die aus der Ideologie des Nationalismus hervorgegangen ist, existiert weiter, weil die im 18. Jahrhundert vom Nationalismus erdachten Ideen auch heute noch von den Menschen „Zustimmung“ erhalten. Die kulturelle, ethnische und religiöse Homogenität spielen bei der Selbstdefinition von Staaten auch in der Moderne weiterhin eine wesentliche Rolle, genauso wie die „Geschichtsbilder“, die vom Nationalismus erschaffen wurden. „Das vereinigte Gallien / das eine einheitliche Nation bildet / die von demselben Geist beseelt ist / kann der ganzen Welt trotzen.“ Diese aus dem französischen übersetzte Inschrift können wir auf dem Sockel eines Monumentes lesen, welches im heutigen Alise-Sainte-Reine zu Ehren von Vercingetorix (82– 46 v. Chr.) errichtet wurde. Das Denkmal wurde im Jahre 1865 eingeweiht – in jener Zeitperiode, in der in Europa die Ideologie des Nationalismus ihre größte Wirkungsmacht entfalten konnte. Die französische Führungsriege bediente sich, genauso wie jene der übrigen europäischen Staaten, im 19. Jahrhundert der aufkeimenden nationalistischen Ideen, vereinnahmte deren „spezifische Weltanschauung“ in ihr Denken und erschuf dadurch ein völlig neues Geschichtsbild.326 Es war ein von den Idealen des Nationalismus geprägtes Geschichtsbild, das den auf dem Denkmal in Alise-Sainte-Reine dargestellten Avernerfürsten, der 52. v. Chr. gegen Julius Cäsar erfolglos in die Schlacht gezogen war, zu einem „französischen Nationalhelden“ hochstilisierte.327 Im auslaufenden 19. Jahrhundert vertraten die französischen Nationalisten die Auffassung, dass Vercingetorix die unter einem Banner vereinigten gallischen Stämme anführte, um die Souveränität der „französischen Nation“ zu erhalten,328 um das „vereinigte Gallien / das eine einheitliche Nation bildet“ gegen die expansiven „Römer“ zu verteidigen. Doch obgleich die französischen Nationalisten überzeugt von ihrem Geschichtsbild gewesen

326 Näheres zu diesem und anderen Vercingetorix-Denkmälern nachzulesen in: Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 108), Göttingen 1995, S. 31–73. 327 Vgl. ebd., S. 32. 328 Vgl. ebd., S. 34. 91 waren, handelte es sich hierbei dennoch um eine verklärte Sicht auf die Vergangenheit, denn in der Realität konnte der im 1. Jahrhundert v. Chr. lebende Vercingetorix weder für „Frankreich“ noch für irgendeine andere „Nation“ kämpfen. Ganz einfach schon alleine deshalb nicht, weil es zu dessen Lebzeiten weder den Begriff „Frankreich“ noch den der „Nation“ gegeben hatte. Die französischen Nationalisten des 19. Jahrhunderts ignorierten diese Tatsache aber. Sie suchten nach Kontinuität in der Vergangenheit, nach einer „Legitimationsquelle“ für ihre „spezifische Weltanschauung“ und fanden diese in den Galliern; und speziell bei Vercingetorix, der sich durch seine Biografie in einer herausragenden Weise dafür eignete, als „Ursprungsheld“ für die – durch den Nationalismus neu definierte – französische „Traditionsgemeinschaft“ ausgewählt zu werden. Die Vertreter des französischen Nationalismus vereinnahmten im 19. Jahrhundert die Vergangenheit für ihre eigenen Zwecke und entwickelten eine durch die Ideologie des Nationalismus determinierte „Geschichtsauffassung“. Indem die französischen Nationalisten die Geschichte nach den Wurzeln der „französischen Nation“ durchforsteten, erschufen sie ein alternatives „Geschichtsmodell“, dem ihre gegenwartbezogene „spezifische Weltanschauung“ zugrunde lag. Dieses eigene durch den Nationalismus geprägte „Geschichtsbild“ deutete die Geschichte um und suggerierte Wesenszusammenhänge, Kontinuitätslinien und Fakten, wo es ursprünglich eigentlich keine gegeben hatte. Weil das von der „spezifischen Weltanschauung“ der nationalistischen Ideologie erschaffene „Geschichtsmodell“ aber hohe „Zustimmungswerte“ im Frankreich des 19. Jahrhunderts erhielt, wurde es zum Konsens innerhalb der französischen Geisteswelt und die vom Nationalismus verklärten geschichtlichen Zusammenhänge letzten Endes zu „historischen Wahrheiten“. Genauso wie in Europa die Vertreter des französischen Nationalismus die Vergangenheit für ihre eigenen Zwecke vereinnahmten und eine durch die nationalistische Ideologie determinierte „Geschichtsauffassung“ entwickelten, taten es in China die neokonfuzianischen Gelehrten. Auch sie erschufen eine durch die „spezifische Weltanschauung“ des Neokonfuzianismus geprägte „Geschichtsauffassung“; eine eigene Sichtweise auf die Vergangenheit, die in der chinesischen Geisteswelt letzten Endes sogar eine hegemoniale Stellung erreichen konnte.

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2. Kennzeichen des „neokonfuzianischen Geschichtsmodell“ 2.1. Der Einfluss der neokonfuzianischen Lehre auf die chinesische Geschichtsschreibung Am Beginn des 2. Jahrtausends hatten Zhou Dunyi (1017–1073), Shao Yong (1011–1077), Zhang Zai (1020–1077), Cheng Hao (1032–1085), Cheng Yi (1033–1107) und etliche weitere berühmt gewordene Gelehrte das „philosophische Fundament“ erdacht, auf dem das „Gedankengebäude“ der neokonfuzianischen Lehre errichtet wurde. In der ersten Hälfte des Herrschaftszeitraumes der Song-Dynastie (960–1279) liegen die Wurzeln des Neokonfuzianismus329 – und dort müssen wir auch nach den Ursprüngen von jenem „neokonfuzianischen Geschichtsmodell“ suchen, das die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung wie kein anderes zu prägen vermochte. Die im 11. Jahrhundert lebenden Gelehrten der Song-Zeit hatten die chinesische Geschichte zum ersten Mal aus einem durch die Ideen und Ideale des Neokonfuzianismus bedingten Blickwinkel heraus betrachtet. Sie interpretierten die Vergangenheit, wie sie es für richtig hielten – und erschufen so ein neues „Geschichtsmodell“. Obgleich die song-zeitlichen Gelehrten durchaus davon überzeugt gewesen sein mögen, handelte es sich bei diesem durch das Gedanken- und Wertesystem des Neokonfuzianismus determinierten „Geschichtsmodell“ allerdings bei weitem um keine „objektive Sichtweise“ auf die Vergangenheit. Denn auch die song-zeitlichen Neokonfuzianer suchten in der Geschichte vor allem nach Legitimationsquellen für ihre eigene Weltanschauung. Sie fällten ihre Urteile über historische Begebenheiten von einer „ideologischen Warte“ aus und erschufen dadurch – in derselben Art und Weise wie die wesentlich später lebenden französischen Nationalisten – geschichtliche Wesenszusammenhänge, Kontinuitätslinien und „Fakten“, wo es ursprünglich eigentlich keine gegeben hatte. Dieses von den song-zeitlichen Gelehrten erschaffene und vom Neokonfuzianismus geprägte „Geschichtsmodell“ hätte im Verlauf der Zeit wieder an „Zustimmungswerten“ innerhalb der chinesischen Gelehrtenschaft verlieren können. Es hätte wieder vergehen oder mit dem Ende der Song-Zeit ganz einfach durch andere „Geschichtsmodelle“ ersetzt werden können. Doch für das von den im 11. Jahrhundert lebenden Neokonfuzianern konstruierte „Geschichtsmodell“ war dies nicht der Fall. Denn dieses war in der Lage, die Zeiten zu überdauern. Einst nur von wenigen Männern im 11. Jahrhundert erdacht, vermochte es in der Song-Zeit zunächst zum konsensuellen Narrativ unter den neokonfuzianischen Gelehrten zu

329 Mote, Imperial China, S 339. 93 werden, bevor es sich mit dem Aufstieg der neokonfuzianischen Lehre in den folgenden fünfhundert Jahren zum „normativen Geschichtsmodell“ erheben konnte. In diesem Zusammenhang dürfen wir uns die „Neuauslegung“ der „Geschichte“ zugunsten des neokonfuzianischen Dogmas allerdings keinesfalls als eine von einer zentralen Kraft gelenkte oder gar geplante Verklärung der Geschichte vorstellen, sondern vielmehr als einen Prozess, der mehrere Jahrhunderte in Anspruch nahm und nur bedingt durch „staatliche“ Institutionen gelenkt wurde. Die von den song-zeitlichen Gelehrten suggerierten historischen Wesenszusammenhänge, Kontinuitätslinien und „Fakten“ wurden von den nachfolgenden neokonfuzianischen Gelehrtengenerationen in der Yuan-, Ming- und Qing-Dynastie übernommen, wodurch diese immer wieder aufs Neue ihre Bestätigung fanden. Was letztlich im weitestgehenden Sinne dazu führte, dass einstige Ansichten, Hypothesen und Mutmaßungen letztlich über die Jahrhunderte hinweg zu „historischen Wahrheiten“ heranreifen konnten. Es waren die Ideen, Ideale und Werte des Neokonfuzianismus, die über einen Zeitraum von rund einem halben Jahrtausend als letzte Instanz darüber entschieden, wie in China „Geschichte“ geschrieben und interpretiert wurde. Aus diesem Grunde müssen wir, wenn wir uns heute mit der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung auseinandersetzen, stets im Hinterkopf behalten, dass diese ein „Spross“ des Neokonfuzianismus ist.

2.2. Sechs Kennzeichen des „neokonfuzianischen Geschichtsmodells“ In dieser Abhandlung sollte ersichtlich geworden sein, dass die „spezifische Weltanschauung“ des Neokonfuzianismus die „Sichtweise“ der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung auf die Vergangenheit prägte. Um zu verdeutlichen, in welcherlei Hinsicht die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung von dem Gedanken- und Wertesystem des Neokonfuzianismus beeinflusst gewesen war, wurden grundlegende historische Zusammenhänge erörtert und in Relation gestellt, sowohl philosophische als auch theologische Konzepte erläutert und auf die chinesische Literatur- sowie Kunstgeschichte eingegangen. Da jedoch bei der schieren Unmenge tradierter Informationen das Wesentliche leicht aus den Augen verloren werden kann, seien die wichtigsten Aspekte – anhand derer wir den Einfluss des Neokonfuzianismus auf die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung erkennen können – noch einmal in den folgenden sechs Punkten zusammengefasst.

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2.2.1. Idealisierung des Altertums Der Neokonfuzianismus maß keinem vergangenen Zeitraum mehr Aufmerksamkeit zu, als dem „chinesischen Altertum“ (yuǎngǔ shídài), jener Epoche, die von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung zwischen den Lebzeiten vom „Gelben Kaiser“ Huangdi und dem Ende der „Zeit der Streitenden Reiche“ (476–221 v. Chr.) angesetzt wurde. In diesem rund 2500 Jahre andauernden Zeitraum zwischen 2700 v. Chr. und 221 v. Chr. sah der Neokonfuzianismus die ideale Gesellschaft verwirklicht und dort verortete er auch seine geistigen Wurzeln. Das Altertum galt für die Neokonfuzianer als eine „vorbildhafte Epoche“, nach der hin sich der Einzelne sowie die gesamte Gesellschaft ausrichten sollten. Denn nach der Auffassung der neokonfuzianischen Gelehrten lebten die Menschen ja einzig in der „Alten Zeit“ nach den Richtlinien der von den mythischen Urkaisern erdachten „reinen Lehre“. Nur in dieser Epoche existierte die ideale Gesellschaft. Und nur in dieser Zeit wirkten die weisen „Shengren“ – Kulturheroen wie Wen und Wu, der Fürst von Zhou oder Kongzi. Die Neokonfuzianer glaubten fest an die utopische Vorstellung, dass es sich beim „chinesischen Altertum“ um eine „vollkommene Zeit“ gehandelt hätte, um eine Epoche, in der die Menschen durch die kluge Führung ihrer Herrscher, überspitzt gesprochen, auf Erden wie im „Garten Eden“ lebten. Schon die Han-Konfuzianer hatten das Altertum beschönigt. Doch die Neokonfuzianer gingen noch einen Schritt weiter. Sie schätzten die „Alte Zeit“ nicht nur, sondern glorifizierten diese und zogen sie als die wichtigste Legitimationsquelle ihres eigenen Denkens heran. Das Altertum galt für die neokonfuzianischen Gelehrten zweifellos als die bedeutendste Epoche innerhalb der gesamten Menschheitsgeschichte. Und daher nimmt es auch nicht Wunder, dass der Zeitraum zwischen 2700 v. Chr. und 221 v. Chr. von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung eine entsprechend positive Rezeption erfuhr.

2.2.2. Herabsetzung des Legismus Die neokonfuzianischen Gelehrten kritisierten und bekämpften den Legismus, weil dieser in seiner weltanschaulichen Konzeption mit dem Konfuzianismus völlig unvereinbar gewesen war. Der Legismus hatte eine differente Vorstellung von einer idealen Gesellschaft, wertete die Stellung eines Herrschers innerhalb von menschlichen Gemeinschaften anders, glaubte nicht an die Überlegenheit der „moralischen Erziehung“ und vertrat darüber hinaus die Auffassung, dass man aus der Geschichte keine Schlüsse für die Gegenwart ziehen kann. Weil die „spezifische Weltanschauung“ des Legismus nur äußerst wenig mit jener des

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Konfuzianismus gemein hatte, wurde der Legismus von den neokonfuzianischen Gelehrten als verwerflich angesehen und all jene historischen Zeiträume, in denen der Legismus eine bedeutende Rolle in der chinesischen Geisteswelt gespielt hatte, von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung herabgesetzt. Allem voran verband die neokonfuzianische Orthodoxie die Zeitperiode, in der die Qin- Dynastie ihren Machteinfluss ausübte, gedanklich mit dem Legismus. Die Qin ordneten ihr Reich zwischen 221 und 207 v. Chr. nach den Prinzipien der häretischen Lehre des Legismus – und wurden dafür von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung verteufelt. Die Qin-Herrscher wurden als kriegstreiberische Despoten dargestellt, die sich weder um das Schicksal ihres Volkes sorgten noch die Beamtenschaft und Gelehrtenwelt respektierten. Die Verwaltungsstruktur des Qin-Reiches galt als brutal, rücksichtslos und einzig an der Generierung von immer neuen Gesetzen und Strafen interessiert. Die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung versah die Qin-Dynastie mit einer Reihe von negativen Konnotationen und zog sie immer dann heran, wenn es darum ging, die „Lasterhaftigkeit“ des Legismus anhand von „historischen Beispielen“ zu veranschaulichen. Wann immer ein Kaiser in der chinesischen Geschichte mit der Qin-Dynastie in Verbindung gebracht wurde, galt er als „untugendhaft“. Nirgends können wir dies besser erkennen, als am Beispiel des zweiten Regenten der Sui-Dynastie (581–618). Kaiser Yang (560–618) wurde von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung mit den Qin-Kaisern verglichen, weil er den Aufbau eines „rationalen Staates“ forcierte, sich bei bedeutenden Entscheidungen nicht mit seinen Ministern absprach und in „legistischer Manier“ alleine regierte. Yang wurde gedanklich mit dem Legismus in Verbindung gebracht und ging daher als ein Gewaltherrscher in die Geschichte ein. Und die von ihm in die Wege geleiteten Großbauprojekte, die Schaffung des Kaiserkanals sowie die Gründung der Stadt Luoyang, blieben nicht als Bauprojekte für das Wohl der Bevölkerung in Erinnerung, sondern wurden als Prestigeprojekte eines geltungssüchtigen Despoten abgestempelt, deren Errichtung unzählige Menschenleben kostete.

2.2.3. Herabsetzung des Buddhismus Trotz seiner weiten Verbreitung unter allen Bevölkerungsschichten befand die neokonfuzianische Orthodoxie, dass der Buddhismus nicht zu China gehörte. Vielmehr handelte es sich bei der aus dem indischen Subkontinent stammenden Religion für die Neokonfuzianer gewissermaßen um einen „Eindringling“, der die chinesische Geisteswelt in

96 einer Zeitperiode, in der sich die „chinesische Zivilisation“ in einer „Schwächephase“ befand, unterwandert und die Gedanken der Menschen vergiftet hatte. Wenn die Neokonfuzianer sich im Bezug auf den Buddhismus in einem Punkt einig waren, dann in dem, dass die aus Indien stammende Religion nur „Schlechtes“ gebracht hatte. Denn für die neokonfuzianische Orthodoxie war eines völlig klar – es war der Einfluss des Buddhismus, der maßgeblich die Schuld dafür trug, dass die einst „reine konfuzianische Lehre“ aus dem Altertum verloren gegangen war. Einer Verschwörungstheorie nicht unähnlich, sahen die Neokonfuzianer dabei die „Wurzel allen Übels“ in einer unbekannten buddhistischen Macht, die sich am Ende der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.) aus dem geografischen Süden her mit dem Ziel aufgemacht hatte, die Gedankenwelt der chinesischen Bevölkerung mit ihren Irrlehren zu korrumpieren. Woher der Buddhismus gekommen war, wussten die Neokonfuzianer dabei im Grunde genau so wenig, wie sie mit Bestimmtheit sagen konnten, was die „häretische Lehre“ eigentlich im Schilde führte. Als sicher galt nur, dass es den „Aberglauben“ rund um die Lehre vom „ewigen leidvollen Kreislauf des Lebens“ aus den Köpfen der Menschen auszumerzen galt. Es hatte einen triftigen Grund, wieso Zhu Xi (1130–1200), Wang Yangming (1472–1529) und die anderen Vertreter des Neokonfuzianismus stets bemüht waren, sich selbst als völlig losgelöst vom Buddhismus darzustellen. Um diesen Grund jedoch zur Gänze nachvollziehen zu können, müssen wir uns zunächst noch einmal bewusst werden, dass die neokonfuzianischen Gelehrten in der chinesischen Geschichte bei weitem nicht die ersten Konfuzianer gewesen waren, die von sich behaupteten, dass sie die „Fünf Klassiker“ in derselben Art und Weise wie Kongzi auslegen würden. Auch die Han-Konfuzianer und die vielen konfuzianischen „Schulen“, die vom Altertum bis hin zur Song-Zeit (960–1279) entstanden waren, hatten sich ebenso schon als „Sachkundige“ des „ursprünglichen“ Konfuzianismus verstanden. Die Neokonfuzianer unterschieden sich in ihrer „grundsätzlichen Weltanschauung“ also nicht von all den konfuzianischen „Schulen“, die es vor ihnen gegeben hatte. Denn auch sie blieben der konfuzianischen Lehrtradition treu und suchten in den kanonischen Schriften nach Anhaltspunkten, anhand derer sie erkennen konnten, wie die „Shengren“ im Altertum den „reinen“, den „unverfälschten“ Konfuzianismus gelebt hatten. Und in der gleichen Weise wie es schon all die Konfuzianer in der chinesischen Geschichte vor ihnen getan hatten, nahmen auch die Neokonfuzianer dabei für sich in Anspruch, dass es sich bei ihrer Auslegung der „Fünf Klassiker“ um die „einzig wahre“ Auslegung des Konfuzianismus handeln würde.

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Weil der Neokonfuzianismus, vereinfacht gesprochen, genau dasselbe für sich beanspruchte, wie alle konfuzianischen Strömungen, die es vor ihm gegeben hatte, benötigte er ein „Alleinstellungsmerkmal“, einen Legitimationsgrund, der die Existenz der eigenen Lehre gegenüber den bereits bestehenden konfuzianischen Strömungen zu rechtfertigen vermochte. Die Neokonfuzianer legitimierten ihre Lehre nunmehr, indem sie die Hypothese aufstellten, dass all die konfuzianischen Schulen – die sich vom Altertum bis hin zur Song-Zeit herausgebildet hatten – „fehlerhaft“ gewesen seien. Oder besser gesagt, schlichtweg „fehlerhaft“ gewesen sein mussten, weil sie – und hier schließt sich der Kreis – in ihrer Gesamtheit von den Einflüssen des Buddhismus durchdrungen waren. Indem sich Zhu Xi, Wang Yangming und die anderen Vertreter des Neokonfuzianismus als unbefangen von jeglichen buddhistischen Einflüssen gebaren, verschafften sie ihrer eigenen Lehre somit den nötigen Legitimationshintergrund. Denn wenn alle konfuzianischen „Schulen“ ab dem Altertum die überlieferten Weisheiten der Altvorderen „fehlerhaft“ ausgelegt hatten, dann bedurfte es einer von Grund auf neuen Lesart der „kanonischen Schriften“ des Konfuzianismus, einer neuen Interpretation der „Fünf Klassiker“, die frei von buddhistischen Einflüssen war und natürlich einzig und alleine von den neokonfuzianischen Gelehrten geliefert werden konnte. Die ablehnende Haltung des Neokonfuzianismus gegenüber dem Buddhismus führte dazu, dass die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung all jene Personen, Schulen, Dynastien und Zeiträume, die in der chinesischen Geschichte mit dem Buddhismus in Verbindung gebracht wurden, diskreditierte. Dies geschah, beginnend mit der Wei-Dynastie (220–265) und deren Begründer Cao Cao (155–220), der zwar selbst noch kein bekennender Buddhist gewesen war, sich jedoch dadurch im historischen Sinne „schuldig“ machte, dass er durch die von ihm in die Wege geleitete Rebellion gegen das Han-Reich (206 v. Chr.–220 n. Chr.) der buddhistischen Lehre Tür und Tor geöffnet hatte. Nach der Ansicht der neokonfuzianischen Orthodoxie schuf die Wei-Dynastie den Nährboden, auf dem die buddhistische Häresie gedeihen konnte. Denn schließlich war es die Wei-Dynastie gewesen, die China ins Chaos gestürzt hatte und es zuließ, dass „Barbarenherrscher“, wie beispielsweise der frauenvergewaltigende Schlächter und Begründer der „Späteren Zhao-Dynastie“ (330–350) Shi Hu (334–349), dem Buddhismus in der Folgezeit zu seinem unheilvollen Aufstieg verhelfen konnten. Die Herrscher der „nicht- chinesischen“ Dynastien in der „Zeit der Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ (304–439) waren Protektoren des Buddhismus und gingen aus diesem Grunde allesamt – ähnlich wie Shi Hu – als „untugendhafte“ Regenten in die Geschichte ein.

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Doch die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung sah nicht nur die Fremdherrscher der „nicht-chinesischen“ Dynastien, sondern im Grunde alle Regenten, die mit dem Buddhismus in Verbindung gebracht wurden, als „untugendhaft“ an. Man denke an dieser Stelle etwa an Kaiser Wu (464–549), dem Begründer der Liang-Dynastie (502–557), der vor allem deshalb in Erinnerung blieb, weil er seinen Körper unzählige Male an buddhistische Klöster veräußert haben soll; oder an den Sui-Kaiser Wen (541–604), der sich selbst als einen „kaiserlichen Boddhisattva“ angesehen habe; und letztendlich natürlich auch an Wu Zetian (625–705), aus deren Rezeption die neokonfuzianische Orthodoxie sogar eine Allegorie für die „Verwerflichkeit“ der buddhistischen Lehre machte. Zusammenfassend können wir davon sprechen, dass der Neokonfuzianismus vorwiegend all jene historischen Zeiträume in ein negatives Licht rückte, in denen die buddhistische Lehre innerhalb des chinesischen Kulturraums von Bedeutung war. Aus diesem Grunde finden wir innerhalb des gesamten Zeitraums zwischen dem 2. und 7. Jahrhundert – der „Blütezeit“ des Buddhismus – keine Dynastie, die von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung positiv dargestellt wurde.

2.2.4. Idealisierung von Förderern des Konfuzianismus Die neokonfuzianische Orthodoxie hatte ein zentrales Interesse daran, anhand von „historischen Fallbeispielen“ zu belegen, dass die Menschen in den vergangenen Zeitperioden immer dann ein besseres Leben zu führen vermochten, wenn sich das „Reich zwischen den Vier Meeren“ nach dem Gedanken- und Wertesystem der konfuzianischen Lehre ausgerichtet hatte. Denn wenn die Zeitgenossen der Neokonfuzianer aus der Geschichte eines lernen sollten, dann dass es sich beim Konfuzianismus um die einzige „Lehrrichtung“ handelte, der es nachzueifern galt; und dass die von der neokonfuzianischen Orthodoxie vertretenen Ideen, Ideale und moralischen Standpunkte dieser einzig „Wahren Lehre“ den anderen chinesischen Geistesströmungen auch in der Vergangenheit stets überlegen gewesen waren. Um zu beweisen, dass der Konfuzianismus schon seit jeher der Gesellschaft immerzu ausschließlich nur „Gutes“ gebracht hatte, idealisierten die Neokonfuzianer all jene Zeiträume und Persönlichkeiten innerhalb der chinesischen Geschichte, die von ihr gedanklich mit dem Konfuzianismus in Beziehung gebracht wurden. Die von der „spezifischen Weltanschauung“ des Neokonfuzianismus beeinflusste traditionelle chinesische Geschichtsschreibung verklärte die Geschichte dabei insofern, als dass sie die Herrschaftszeiten von all jenen Regenten, die sich zu ihren Lebzeiten in irgendeiner Weise für die Verbreitung der konfuzianischen Lehre

99 eingesetzt hatten, als „tugendhaft“ beschrieb. So erfuhren etwa die Han-Kaiser Wen (202–157 v. Chr.), Jing (188–141 v. Chr.) und Wu (156–87 v. Chr.) und auch die Tang-Kaiser Taizong (599–649) und Xuanzong (685–762) hauptsächlich deshalb eine positive Rezeption, weil sie zeitlebens die konfuzianische Lehre in ihren Reichen gefördert hatten – oder zumindest von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung im Nachhinein gedanklich mit dem Konfuzianismus verknüpft wurden. Wen, Jing, Wu, Taizong und Xuanzong – diese und einige weitere ausgewählte Kaiser galten für die Vertreter des Neokonfuzianismus als Musterbeispiele für „tugendhafte Herrscher“. Unter ihrer klugen Regierung prosperierte die chinesische Kultur, florierte der Handel und blühte die chinesische Geisteswelt auf. Das „Reich zwischen den Vier Meeren“ war nach der Vorstellung der neokonfuzianischen Orthodoxie immer dann „wohlgeordnet“ gewesen, wenn sich seine Führer in ihrer Regierungsdevise nicht auf den Buddhismus, Legismus oder Daoismus, sondern auf den Konfuzianismus stützten. Am Beispiel der Kaiser, die in der Vergangenheit den „richtigen Prinzipien“ nachgefolgt waren, vermittelten die neokonfuzianischen Gelehrten darüber hinaus den Menschen, woran sie „richtiges“ und „tugendhaftes“ Handeln erkennen konnten. Wenn wir abschließend betrachten, welche Charaktereigenschaften einen „tugendhaften Herrscher“ auszeichneten, so ergibt sich das folgende Muster. Erstens regiert ein „tugendhafter“ Herrscher niemals alleine – er lässt sich stets von seinen Ministern und Untertanen beraten. Zweitens schätzt und respektiert er die Gelehrten und die Beamtenschaft. Drittens ist er gebildet, was wir zumeist daran erkennen können, dass er als ein Kenner der „Fünf Klassiker“ beschrieben wird. Viertens handelt ein „tugendhafter“ Herrscher nie impulsiv, sondern stets überlegt. Fünftens trifft er alle seine Entscheidungen zugunsten des Wohles der gesamten Bevölkerung. Und schließlich sechstens, erkennen wir einen „tugendhaften“ Regenten daran, dass er entweder das chinesische Einheitsreich schaffen oder dieses um jeden Preis erhalten will.

2.2.5. Ambivalentes Verhältnis zum Daoismus Während der Buddhismus von der neokonfuzianischen Orthodoxie in allen Belangen als verachtenswert angesehen wurde, galt der Daoismus nur dann als verwerflich, wenn er aus dem „Schatten des Religiösen“ heraustrat und einen Anspruch auf die Ordnung der Gesellschaft nach den philosophischen Grundprinzipien seiner Lehre erhob. Das heißt, solange sich der Daoismus einzig und alleine auf die religiösen Aspekte seiner Lehre

100 beschränkte, tolerierte der Neokonfuzianismus ihn. Wenn sich aber das gesamte „Reich zwischen den Vier Meeren“ vom Konfuzianismus abwandte und sich nach dem Gedanken- und Wertesystem der daoistischen Lehre hin auszurichten begann – dann sahen die Neokonfuzianer die „Lehre des Einklangs“ als eine Bedrohung an. Denn schließlich waren sich die geistigen Vertreter des Neokonfuzianismus natürlich darüber bewusst gewesen, dass der Daoismus das Reich keinesfalls nach den Sitten, Riten und hierarchischen Strukturen der altehrwürdigen Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr.) ordnen wollen würde. Die „Lehre des Einklangs“ hatte ihre eigene, zum Konfuzianismus ganz gegenteilige Vorstellung davon, nach welcher weltanschaulichen Konzeption sich die Gesellschaft ausrichten sollte. Mit dem „Daodejing“ und dem „Zhuangzi“ kannte sie ihre eigenen „kanonischen Schriften“, auf die sich die daoistischen Gelehrten berufen konnten. Und mit Laozi und Zhuangzi hatten sie ihre eigenen „Shengren“ aus dem Altertum, denen es nachzueifern galt. Der neokonfuzianischen Orthodoxie war völlig klar, dass die „Lehre des Einklangs“ – falls es dieser zu irgendeinem Zeitpunkt erneut gelingen sollte, zur bestimmenden geistigen Strömung innerhalb Chinas aufzusteigen – den Menschen die Leitprinzipien der daoistischen Lehre aufzuzwingen gedachte. Wenn der Daoismus die Deutungshoheit im Reich erlangen sollte, würde die chinesische Gesellschaft sich nicht mehr auf die Weisheiten aus den „Fünf Klassikern“ berufen, sondern auf jene aus den kanonischen Schriften des Daoismus. Ein solcher Dogmenwechsel musste nach der Ansicht der Neokonfuzianer natürlich mit allen Mitteln verhindern werden. Nie dürfte es der „Lehre des Einklangs“ jemals wieder gelingen, die Deutungshoheit über den Konfuzianismus zu erlangen. Doch wie konnte verhindert werden, dass die Menschen den falschen Versprechungen des Daoismus anheimfielen? Wie sichergestellt werden, dass der Konfuzianismus die bestimmende Geistesströmung im chinesischen Kulturraum blieb? Die Antwort auf diese Frage sollte uns nicht überraschen – ganz einfach, indem der Neokonfuzianismus den Daoismus als eine Bedrohung für das Wohl des gesamten Reiches erscheinen ließ. Um den Daoismus in Verruf zu bringen, gab es dabei natürlich kein nützlicheres „Werkzeug“ als die chinesische Geschichtsschreibung. Denn schließlich konnten die neokonfuzianischen Gelehrten den Menschen am besten anhand der Vergangenheit aufzeigen, dass der Daoismus – wenn dieser von einem „religiösen“ zu einem „politischen“ Phänomen wurde – als eine Gefahr für das „Reich zwischen den Vier Meeren“ angesehen werden musste. Anhand von Beispielen aus der Geschichte versuchte die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung zu vermitteln, dass das chinesische Reich immer dann schwierige Zeiten durchstehen musste,

101 wenn die Irrlehren des Daoismus den Geist eines früheren Regenten vernebelt hatten. Fiel ein vergangener Kaiser den Irrlehren des Daoismus anheim, dann hatte er sein persönliches Schicksal und das seiner Dynastie besiegelt. Beispiele dafür finden wir genug. So herrschte etwa der siebte Tang-Kaiser Xuanzong (685– 762) in der ersten Hälfte seiner Regierungsperiode noch „tugendhaft“, doch nachdem er sich persönlich der daostischen Regierungsdevise des „Nichttuns“ zuwandte, verfiel er der Trägheit und der Vergnügungssucht – und die Blütezeit der Tang-Dynastie endete. Genauso wie die Regentschaft von Xuanzong erschien auch die vom wesentlich früher lebenden Kaiser der Jin-Dynastie Sima Yan (236–290) zunächst vielversprechend. Doch nachdem auch dieser den Daoismus als seine führende weltanschauliche Konzeption auserkoren hatte, negierte er seine eigene Herrscherposition, verlor dadurch die Regierungsgeschäfte völlig aus den Augen und tat in seinem restlichen Leben im Grunde nichts anderes mehr, als mit seinen zehntausend Konkubinen daoistischen Sexualpraktiken zu frönen und ausschweifende Feste zu feiern. Sima Yan folgte der „Lehre des Einklangs“, herrschte nach der Regierungsdevise des „Nichttuns“ und stürzte so sein Reich ins Chaos. Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung den „Aufstieg des Daoismus“ historisch mit dem Niedergang des Reiches in Relation setzte, um die „Lehre des Einklangs“ als eine Bedrohung für das Reich der Mitte erscheinen zu lassen. Wenn ein chinesischer Kaiser vordergründig mit der daoistischen Lehre in Verbindung gebracht wurde, tendierte die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung dazu, diesen mit einer Reihe von negativen Stigmata zu versehen. Trägheit, Vergnügungssucht, geistige Beschränktheit, Hypersexualität und Lenkbarkeit – dies waren die am häufigsten verwendeten negativ konnotierten Merkmale, mit denen ein vergangener Regent gekennzeichnet wurde, der dem Daoismus anheimgefallen war.

2.2.6. Literatur und Geschichte Dass selbst heute noch – allem voran – das Altertum, die Tang- sowie die Song-Zeit innerhalb des chinesischen Kulturraums gedanklich mit einer Blütezeit von Kunst und Literatur verbunden werden, liegt am Einfluss des Neokonfuzianismus. Denn dieser gab als die dominierende Geistesströmung die Richtlinien vor; er entschied darüber, welche Philosophen, Dichtergestalten und Künstler aus der Vergangenheit grundsätzlich als „gut“ oder „schlecht“ befunden wurden.

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So darf es uns keinesfalls verwundern, dass ausgerechnet Han Yu (768–824), Ouyang Xiu (1007–1072) und Wang Anshi (1021–1086) zu drei der acht größten Prosaisten der chinesischen Literaturgeschichte erhoben wurden, oder Du Fu (712–770), Li Bai (701–762) und Meng Haoran (689–740) zu stilbildenden Dichtern. Denn die lyrischen und prosaischen Texte dieser Männer mögen zwar auch ohne Zuspruch wegen ihres außergewöhnlichen Stils posthum Anerkennung gefunden haben, doch ihre eigentliche Bekanntheit erlangten sie deshalb, weil der Neokonfuzianismus entweder in ihren Schriften oder Gedichten seine eigenen geistigen Wurzeln verortete oder aber in deren Texten die Ideen, Ideale und Werte seiner eigenen „spezifischen Weltanschauung“ vertreten sah. Der Neokonfuzianismus glorifizierte den „ursprünglichen Konfuzianismus“ des Altertums und missbilligte im Grunde alles, was mit dem Buddhismus in Verbindung gebracht wurde. Und genau dies taten – wenn auch oftmals unbewusst – auch jene Literaten, Künstler und Philosophen, die von der neokonfuzianischen Orthodoxie einen außerordentlichen Rang in Kunst und Kultur zugesprochen bekamen. Die „spezifische Weltanschauung“ des Neokonfuzianismus spiegelt sich in den Werken der als „bedeutsam“ deklarierten Philosophen, Dichtern und Künstlern Chinas wider. Dies können wir, wenn wir uns eingehend mit der chinesischen Literatur-, Kunst- und Philosophiegeschichte auseinandersetzen, mehr als deutlich erkennen. So zählen in der chinesischen Literaturgeschichte beispielsweise Han Yu (768–824), Liu Zongyuan (773–819), Ōuyáng Xiu (1007–1072), Su Xun (1009–1066), Zeng Gong (1019–1083), Wang Anshi (1021–1086), Su Shi (1037–1101) und Su Che (1039–1112) zu den sogenannten „Acht Großen Prosaisten der Tang- und Song-Zeit“.330 Ihre Werke wurden nach der Song-Zeit zu „Klassikern“ der Prosaliteratur erhoben. Doch diese Ehre wurde ihnen letztlich nur deshalb zuteil, weil sie ihre Texte allesamt im sogenannten „guwen-Stil“ schrieben, in einer literarischen Ausdrucksweise, die dem Schreibstil des Altertums nachempfunden war und sich bewusst vom bis in die Tang-Zeit vorherrschenden und als buddhistisch beeinflusst geltenden „pianwen-Stil“ distanzierte.331 Die neokonfuzianische Orthodoxie betrachtete den „guwen- Stil“ als den „Gipfel“ des prosaischen Schreibens, eben weil sich im „guwen-Stil“ die Ideen, Ideale und Werte der neokonfuzianischen Weltanschauung wiederfinden ließen. Genauso wie im literarischen Feld der Prosaliteratur zeigt sich auch in der Kunst, dass es der Neokonfuzianismus war, der die Deutungshoheit darüber innehatte, was als das „Optimum“ der chinesischen Malkunst angesehen wurde. Dass nämlich ausgerechnet die song-zeitliche

330 Kubin, Der klassische Essay (sanwen), S. 8. 331 Zu den Schreibstilen von „pianwen“ und „guwen“ näheres nachzulesen in: Kubin, Der klassische Essay (sanwen), S. 10–22. 103

Malerei mit einem Höhepunkt in der chinesischen Kunstgeschichte gleichgesetzt wurde332 und die naturalistischen Landschaftsmalereien von Li Tang (1047–1127), Guo Xi (960–1127), Ma Yuan (ca. 1155–1235) oder Xia Gui (ca. 1180–1230)333 selbst heute noch als „Meilensteine“ der chinesischen Kunstgeschichte gelten, liegt ebenso am Einfluss des Neokonfuzianismus. Denn in der gleichen Weise wie es bei den „Acht großen Prosaisten der Tang- und Song-Zeit“ der Fall war, wurde Li Tang, Guo Xi, Ma Yuan und Xia Gui die Ehrerbietung, die sie für ihre Werke erhielten, auch nur deshalb zuteil, weil deren Landschaftsmalereien mit den Idealen und Werten des Neokonfuzianismus konform gingen. Die Neokonfuzianer der späteren Epochen identifizierten sich mit der song-zeitlichen Landschaftsmalerei und erklärten Li Tang, Guo Xi, Ma Yuan und Xia Gui aufgrund ihres „herausragenden Stils“ zu künstlerischen Vorbildern334, während sie all jene Maler, die sich in der Tuschemalerei der sogenannten buddhistischen „Zen-Malerei“ einen Namen gemacht hatten, wegen ihrer „radikalen Pinseltechniken“ als „disziplinlos“ erachteten.335 Der Neokonfuzianismus war die Instanz, die darüber entschied, welche Werke aus der chinesischen Philosophie-, Literatur- und Kunstgeschichte den Rang von „Klassikern“ zugesprochen bekamen. Wenn wir uns nun abschließend noch einmal vor Augen führen, aus welchen Zeitperioden die einflussreichsten Gelehrten, Künstler und Dichtergestalten der chinesischen Literatur-, Kunst- und Philosophiegeschichte entstammen, so müssen wir überdies erkennen, dass der absolute Großteil von ihnen in drei Zeitperioden der chinesischen Geschichte lebte und wirkte. Die Mehrzahl der bedeutendsten aller philosophischen Werke, Gedichte und Malereien wurden entweder im Altertum, der Tang- oder der Song-Zeit geschaffen.336 Und damit deckt sich deren Entstehungszeit mit jenen drei historischen Zeiträumen, die vom Neokonfuzianismus als „Goldene Epochen“ der chinesischen Geschichte glorifiziert wurden. Außerhalb des Altertums, der Tang- und der Song-Zeit finden wir indes nur wenige Werke, die den Rang von „Klassikern“ erhielten. Speziell die Künstler, Literaten und Philosophen, die als buddhistisch beeinflusst galten, schienen ein hartes Los getroffen zu haben. Denn deren Werke – so erhaben sie auch gewesen sein mögen – gerieten aufgrund des „buddhistischen Makels“, den sie aufwiesen, in Vergessenheit. Und wir können nur von

332 Vgl. Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 318–319. 333 Diese vier Maler werden als die „Four Great Masters of the Southern Song-Dynasty“ bezeichnet. 334 Vgl. Wen C. Fong, Why Chinese Painting Is History, in: The Art Bulletin 85 (2003), Heft 2, S. 258–280, hier S. 270–271. 335 Vgl. Lian Duan, Semiotics for Art History. Reinterpreting the Development of Chinese Landscape Painting, Cambridge 2019, S. 104. 336 Vgl. Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, S. 338. 104

Glück sprechen, dass uns einige dieser Schriften, wie beispielsweise die in dieser Abhandlung herangezogenen „Reden und Aufzeichnungen des chan-buddhistischen Meisters“ Mazu Daoyi (709–788)337, über die zen-buddhistischen Schulen in Japan ihren Weg zu uns gefunden haben. Doch vieles ist durch die „Zensur“ der neokonfuzianischen Orthodoxie unwiederbringlich zerstört worden. Und wir können nur erahnen, welch großartige Meisterstücke aus der Literatur und der Kunst uns dadurch verloren gegangen sind.

337 Siehe S. 44. 105

III. Wirkungszeitraum des „neokonfuzianischen Geschichtsmodells“ 1. Einführung Im ersten Part dieser Abhandlung wurde darauf eingegangen, dass es allem voran der Neokonfuzianismus war, der die Art und Weise beeinflusste, wie im chinesischen Kulturraum „Geschichte“ geschrieben und gedacht wurde. Nachdem anhand von Auszügen aus den 24 Dynastiegeschichten, sowie bedeutenden aus der chinesischen Philosophiegeschichte stammenden Texten als auch am Beispiel der Schriften einiger ausgewählter Persönlichkeiten aus der chinesischen Geschichte, die Hauptkennzeichen des „neokonfuzianischen Geschichtsmodells“ erläutert wurden und darauf hingewiesen wurde, dass das von der neokonfuzianischen Lehre getragene „Geschichtsmodell“ die traditionelle chinesische Geschichtsschreibung wie kein anderes zu prägen vermochte, bleibt nunmehr noch die Frage zu klären, über welchen Zeitraum das „neokonfuzianische Geschichtsmodell“ seine Deutungshoheit innerhalb des chinesischen Kulturraums wahren konnte. Zwar wurde bereits mehrfach angedeutet, dass das von der „spezifischen Weltanschauung“ des Neokonfuzianismus getragene Geschichtsmodell über einen Zeitraum von „rund fünfhundert Jahren“ unumstritten das „normative Geschichtsmodell“ in China geblieben war, doch es wurde nicht näher darauf eingegangen, wann wir im engeren Sinne den Zeitpunkt verorten müssen, an dem das „neokonfuzianische Geschichtsmodell“ erstmals an „Zustimmungswerten“ innerhalb der chinesischen Gelehrtenwelt einbüßen musste. Aus diesem Grunde wird der zweite Part dieser Abhandlung dort ansetzen, wo die neokonfuzianische Lehre erstmals einer grundlegenden Kritik unterzogen wurde und sich vordergründig mit der Frage auseinandersetzen, ob das vom Neokonfuzianismus getragene Geschichtsmodell infolge der „geistigen Krise“ des Neokonfuzianismus im 17. und 18. Jahrhundert durch ein anderes „Geschichtsmodell“ ersetzt wurde, oder aber – im völligen Gegensatz dazu – auch während der Qing-Zeit (1644–1912) weiterhin das bestimmende Geschichtsmodell im chinesischen Kulturraum geblieben war. Die Klärung dieser Frage ist bedeutend, zumal sich die Forschung doch bis heute darüber uneins ist, inwieweit sich die „geistige Krise“ des Neokonfuzianismus am Ende der Ming-Zeit (1368–1644) auf den chinesischen Gelehrtendiskurs des 18. und 19. Jahrhunderts ausgewirkt

106 hat. Die Überlegungen reichen von, dass die „geistige Krise“ des Neokonfuzianismus „nur“ geringe Folgewirkungen nach sich gezogen habe338, bis hin zu Hypothesen, die davon ausgehen, dass es im chinesischen Kulturraum im Zuge des 17. und 18. Jahrhunderts bereits zu einem „Paradigmenwechsel“ oder sogar zu einer „Diskurs-Revolution“ gekommen sei, die den Weg für den späteren Sieg der „Wissenschaft“ gegenüber der „geistigen Tradition“ des Konfuzianismus geebnet hätte.339 Um die Frage – ob mit der „geistigen Krise“ des Neokonfuzianismus am Beginn der Qing- Zeit (1644–1912) jenes Geschichtsmodell, das in dieser Abhandlung in seinen Grundzügen beschrieben wurde, dermaßen an „Zustimmungswerten“ verlor, dass es durch ein anderes ersetzt wurde – klären zu können, wird in den folgenden Kapiteln zunächst in einem ersten Schritt kurz darauf eingegangen werden müssen, wodurch die „geistige Krise“ des Neokonfuzianismus im 17. Jahrhundert ausgelöst wurde, bevor in einem zweiten Schritt am Beispiel der Schriften von Zhang Xuecheng, einem im 18. Jahrhundert lebenden Gelehrten, die Ideen und Ideale, die hinter dem Paradigmenwechsel lagen, beschrieben werden. Dies wird nötig sein um abschließend in einem dritten Schritt verstehen zu können, welchen Einfluss eben jener Paradigmenwechsel, der sich im 17. und 18. Jahrhundert vollzog, letztlich auf die Art und Weise hatte, wie in der Qing-Dynastie (1644–1912) Geschichte geschrieben und wahrgenommen wurde.

338 Solche Thesen vertrat zum Beispiel Wolfgang Bauer. Er schrieb davon, dass die „progressiven Kräfte“ jener Zeit „quantitativ keineswegs stärker, sondern viel schwächer als die konservativen gewesen waren“ und „lediglich aus der Retrospektive betrachtet interessant geworden sind“. Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 302–304. Kai Vogelsang geht hingegen davon aus, dass im 18. Jahrhundert „in akademischen Biotopen zwar eine „scientific community“ entstand, jedoch jene „Sonderlinge“, die zu eben dieser „scientific community“ hinzugehörten, letztendlich erfolgreich durch die Qing-Dynastie „domestiziert“ werden konnten. Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 426–427. 339 Diese Thesen vertritt zum Beispiel die deutsche Sinologin Sabine Dabringhaus, die in den „Kaozheng- Gelehrten“ erste Elemente einer chinesischen Aufklärung sieht und sich bei ihrer Argumentation auf Xia Mingfang bezieht, der die „Kaozheng-Gelehrten“ des 18. Jahrhunderts als „Pioniere der Modernität im chinesischen Denkens“ bezeichnete. Sabine Dabringhaus, Aufklärung und Wissenschaft in China, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (2010), Sonderheft. Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, S. 263–290, hier S. 270–271. Auch Benjamin Elman interpretierte in seiner 1984 erschienen Abhandlung „From Philosophy to Philology. Intellectual and Social Aspects of Change in Late Imperial China“ (Cambridge Mass. and London, 1984) die „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ als eine „empirische Revolution im Diskurs“, welche die Überlegenheit der neokonfuzianischen Lehre erfolgreich in Frage stellte und auf lange Sicht eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung und Erleichterung der Hinwendung Chinas zu moderner Wissenschaft spielte. 107

2. Die „geistige Krise“ des Neokonfuzianismus 2.1. Ursachen Die im 17. Jahrhundert von Hungersnöten, Naturkatastrophen, Rebellenaufständen, durch Raubzüge und einer leeren „Staatskasse“ geplagte Ming-Dynastie (1368–1644), kam nach 250 Jahren unrühmlich an deren Ende, nachdem die Hauptstadt des Reiches innerhalb eines einzigen Jahres zweimal durch den Feind erobert worden war. Zuerst gelang es einer 200.000 Mann starken – und von einem gewissen Li Zicheng (1606–1645) angeführten – Rebellenarmee die zahlenmäßig unterlegenen und schlecht besoldeten Verteidigungstruppen der Ming zu überwinden. Doch dieser Sieg, den die Rebellen erringen konnten, sollte nur von kurzer Dauer sein. Denn mit der Eroberung von Beijing im Jahre 1644 hatte eben jener Rebellenführer Li Zicheng nicht nur den Untergang der Ming-Dynastie, sondern sogleich auch seinen eigenen besiegelt. Zumal es nach dem Zusammenbruch der Verwaltungsstrukturen in der Hauptstadt niemanden mehr gab, der die kaiserlichen Truppen an den Grenzgebieten koordinieren hätte können, um den Einfall der Manjuren, der nun folgen sollte, zu verhindern.340 Ohne nennenswerte Gegenwehr, überschritten diese noch 1644 die Grenzen und zogen vor Beijing, wo sie in der Nähe der Hauptstadt am Pass von Shanhaikuan eine siegreiche Schlacht gegen die verbliebenen Truppen des Li Zicheng schlugen.341 Nach dem Sieg der Manjuren auf dem Felde fiel die Hauptstadt ein zweites Mal innerhalb von nur einem Jahr in die Hände von Eroberern. Wie auch schon die Rebellen einige Wochen zuvor, zogen nunmehr die Manjuren in Beijing ein. Doch im Gegensatz zu den Rebellen ließen sich diese nicht mehr aus der Hauptstadt vertreiben. Vielmehr legten die Manjuren den Grundstein für eine neue Dynastie, indem sie sogleich den erst sechsjährigen Shunzhi (1638– 1661), den Sohn eines mächtigen aber bereits verstorbenen manjurischen Fürsten namens Hung Taiji (1592–1643)342, zum neuen Kaiser ernannten. Indem im Herbst des Jahres 1644 Shunzhi das „Mandat des Himmels“ überreicht wurde, war die Dynastie der Qing geboren – und damit eine der mächtigsten Dynastien innerhalb der gesamten chinesischen Geschichte. Mit Fug und Recht kann man die Qing-Dynastie (1644–1912) als eine der mächtigsten Dynastien in der chinesischen Geschichte bezeichnen. Niemals zuvor und auch nie mehr danach vermochten chinesische Kaiser über das Schicksal eines derart großen Gebietes zu

340 Vgl. Jerry Dennerline, The Shun-chih Reign, in: The Ch’ing Empire to 1800, hrsg. v. Willard J. Peterson (The Cambridge History of China 9/Part 1), Cambridge 2002, S. 73–119, hier S. 80. 341 Vgl. ebd., S. 82. 342 Zu Hung Taiji (1592–1643) und den manjurischen “Vorvätern” der Qing-Dynastie Näheres nachzulesen in: Gertraude Roth Li, State Building Before 1644, in: The Ch’ing Empire to 1800, hrsg. v. Willard J. Peterson (The Cambridge History of China 9/Part 1), Cambridge 2002, S. 9–72. 108 bestimmen, wie es die Qing-Kaiser taten. Unter den manjurischen Herrschern erreichte „China“ seine größte territoriale Ausdehnung, sodass die Qing in der Größe ihres Reiches – im historischen Vergleich – unangefochten an der Spitze standen.343 Und auch in der Langlebigkeit ihres Reiches konnten sich die Qing mit Leichtigkeit mit den „bedeutendsten“ Dynastien in der Geschichte messen. Denn neben der Qing-Dynastie (1644–1912) gab es in der chinesischen Geschichte lediglich drei Dynastien, die über einen vergleichbar langen Zeitraum über das „Reich zwischen den Vier Meeren“ zu gebieten vermochten. Die Qing konnten sich, was die Länge ihrer Herrschaftszeit betraf, mit der Zhou-, Han- und Ming- Dynastie messen. Von 1644 bis 1912 blieben sie an der Macht. Das ausgerechnet eine „mongolische Fremdherrscherdynastie“ über einen Zeitraum von mehr als 250 Jahren das „Mandat des Himmels“ für sich einbehalten konnte, lag sicherlich nicht zuletzt daran, dass diese zwar ursprünglich als Eroberer nach China gekommen waren, doch nach der erfolgreichen Begründung ihrer eigenen Dynastie bereitwillig die bestehenden Macht- und Verwaltungsstrukturen der einstigen Ming-Dynastie übernahmen. Die Qing bedienten sich fast unverändert an den Grundstrukturen des einstigen Regierungsapparates der Ming-Dynastie, stützten sich weiterhin bei der Rekrutierung von Staatsdienern auf das seit der Song-Dynastie etablierte System der Beamtenprüfungen und beugte Aufständen und Rebellionen vor, indem sie den Ming-Adel und die Beamtenschaft in ihren Verwaltungsposten beließen.344 Die einstigen Eroberer banden die einflussreiche Elite des Reiches an sich und waren äußerst erfolgreich darin, sich an die bereits bestehenden Machtverhältnisse anzupassen. Doch um auf lange Sicht erfolgreich zu bleiben, genügte es nicht, die eigene Herrschaft alleine durch militärische Gewalt oder durch den Aufbau von starken Verwaltungsstrukturen abzusichern. Wie uns die Geschichte aufzeigt, kamen die Qing-Herrscher nicht umhin, sich auch auf der kulturellen, gesellschaftlichen und religiösen Ebene an die chinesischen Verhältnisse anzugleichen. Dass sich die „mongolischen Fremdherrscher“ nämlich nicht als Eroberer, sondern als „chinesische Herrscher“ gebaren, können wir alleine schon anhand von der bildlichen Darstellung eben dieser erkennen. Die Qing-Herrscher ließen sich nicht etwa – wie vielleicht anzunehmen wäre – als „mongolische Khane“ darstellen, sondern in der gleichen Art und Weise wie die einstigen Ming-Herrscher. In der identischen Frontalansicht, in

343 Bei seiner größten Expansion im Jahre 1760 soll das Territorium der Qing-Dynastie (1644–1912) mehr als doppelt so groß wie jenes der Ming-Dynastie (1368–1644) gewesen sein. Willard J. Peterson, Introduction. New Order for the Old Order, in: The Ch’ing Empire to 1800, hrsg. v. Willard J. Peterson (The Cambridge History of China 9/Part 1), Cambridge 2002, S. 1–8, hier S. 7. 344 Vgl. Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 418. 109 denselben kaiserlichen Gewändern gehüllt und erhaben auf dem Thron sitzend, blicken sie auf den handwerklich in feinster Weise herausgearbeiteten Herrscherportraits auf uns herab. Doch die Art der Portraitierung der Qing-Kaiser ist nur ein augenscheinliches Beispiel, mittels dem wir die Anpassungsfähigkeit der Manjuren erkennen können. In unserem Zusammenhang wesentlich bedeutender ist, dass die Qing-Herrscher offenkundig auch dazu bereit waren, von ihren eigenen kulturellen Traditionen abzulassen und mit der „chinesischen Geisteswelt“ eine Synthese einzugehen. Beispielsweise soll schon der erste Qing-Herrscher Shunzhi (1638– 1661) einen mutmaßlichen Nachkommen des Kongzi in der 65. Generation geadelt haben. Und sein kaiserlicher Nachfolger Kangxi (1654–1722), reiste erwiesenermaßen mehrmals nach Qufu345 um dort am Konfuziustempel einen Kotau zu vollziehen.346 Diese zwei Beispiele deuten es schon an. Die Qing-Dynastie übernahm von der Ming-Dynastie neben vielen anderen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Aspekten auch den Neokonfuzianismus in der Auslegung von Zhu Xi (1130–1200) als ihre „Staatsideologie“.347 Oberflächlich betrachtet schien sich durch den Dynastiewechsel – der sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vollzog – zunächst nicht viel zu verändern. Doch obgleich sich die Qing-Dynastie (1644–1912) augenscheinlich darum bemühte, die „alte Ordnung“ zu wahren, konnte dies dennoch nicht darüber hinweg täuschen, dass sich der Neokonfuzianismus in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in einer „geistigen Krise“ befand. Der Zusammenbruch des Ming-Reiches und die damit einhergehende Abwesenheit eines „staatlichen“ Machtmonopols über mehrere Jahrzehnte, führte dazu, dass die bis dato orthodoxen Ansichten des Neokonfuzianismus zunehmend in Frage gestellt wurden und eine verstärkte Suche nach neuen philosophischen „Werten“ einsetzen konnte. Bei den daraus resultierenden „intellektuellen Anstrengungen“ gab es keine einheitliche Stoßrichtung, sodass bis zum Ende des 17. Jahrhunderts eine Vielzahl von neuen konfuzianischen „Denkschulen“, mit unterschiedlichen philosophischen Schwerpunktsetzungen, gegründet wurden.348 Diese neugegründeten konfuzianischen „Denkschulen“ zeigten sich in vielen geistigen Standpunkten miteinander unvereinbar, hatten aber gemein, dass sie das Abgleiten der konfuzianischen Lehrtradition in eine „metaphysische“ und „abstrakte“ Begriffswelt – wie es

345 In der Stadt Qufu, die sich in der heutigen ostchinesischen Provinz Shandong befindet, soll Kongxi sowohl geboren wie auch verstorben sein. Beim angesprochenen Konfuziustempel handelt es sich um einen 22 ha großen Tempelkomplex, der sich bis zum heutigen Tage an diesem Ort erhalten konnte. 346 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 420. 347 Vgl. Tanner, China. A History, S. 358. 348 Diese „Schulen“ zu benennen, würde den Rahmen dieser Abhandlung bei Weitem sprengen. Einen guten Überblick über die „Schulen“ jener Zeit zu finden in: Chung-yi Cheng, Philosophical development in late Ming and early Qing, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 429–470. 110 von den großen neokonfuzianischen Philosophen Zhu Xi (1130–1200) oder Wang Yangming (1472–1529) praktiziert und gelehrt wurde – missbilligten.

2.2. Die „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ Im 18. Jahrhundert wuchs in China eine Gelehrtengeneration heran, die in mehrerlei Hinsicht nicht mehr an die vorgefassten Meinungen der neokonfuzianischen Lehre glauben wollte. Eine Gelehrsamkeit, die gemeinhin mit dem Begriff „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ bezeichnet wird.349 Schon etliche Sinologen, Historiker und Philosophen versuchten sich daran, den nur schwierig zu fassenden chinesischen Begriff zu übersetzen. So übernahm beispielsweise der amerikanische Sinologe Benjamin A. Elman „Kaozheng“ mit „search for evidence“ ins Englische350, wogegen Kai Vogelsang in seiner 2013 erschienen „Geschichte Chinas“ im Zusammenhang mit der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ von einer „Kritischen Gelehrsamkeit“ spricht351 und der bereits verstorbene Wolfgang Bauer komplett von einer Übersetzung des Begriffes absah, indem er die „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ als eine „neue Methode“ verstand, die zum „Abbau des Neokonfuzianismus“ führte.352 Am besten trifft es aber wohl Chung-yi Cheng, der die „neue Gelehrsamkeit“, die sich während der Umbruchphase zwischen der Ming-Dynastie (1368–1644) und Qing-Dynastie (1644–1912) herausbildete, als ein „neues Paradigma“ beschreibt, das die etablierten Konzepte und Modelle des Neokonfuzianismus in einer „verstärkt“ naturalistischen, empirischen und pragmatischen Art und Weise zu betrachten versuchte.353 Doch egal welche Übersetzung man nun als „richtig“ erachten will, Fakt ist, dass wir in China ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vermehrt Gelehrte finden können, die heute zur „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ gezählt werden, weil sich diese in einem verstärkten Maße in ihren Schriften gegen die etablierten Ansichten innerhalb der neokonfuzianischen Lehrtradition wandten. Und eben einer dieser sogenannten „Kaozheng-Gelehrten“ war auch der eingangs erwähnte und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebende Zhang Xuecheng (1738–1801).354 Anhand seiner Schriften werden die Spezifika des „neuen“ – durch

349 Die „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ wird mitunter auch als „Han-Schule“ (Hanxue) bezeichnet. Wolfgang Ommerborn, Dai Zhens Konzeption des »li li«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 42 (2000), S. 9–53, hier S. 9. 350 Elman, The Social Roles of Literati in Early to Mid-Ch’ing, S. 394. 351 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 424. 352 Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 303. 353 Cheng, Philosophical Development in Late Ming and Early Qing, S. 455. 354 Neben Zhang Xuecheng gelten unter anderem Yan Yuan (1635–1704), Yan Ruoqu (1636–1704), Cui Shu (1740–1816) und Dai Zhen (1724–1777) als wichtige Vertreter der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“. 111 die „Kaozheng-Gelehrten“ getragenen – „Paradigmas“, welches sich in der Umbruchphase zwischen der Ming- und Qing-Zeit herausgebildet hatte, noch deutlich werden.

3. Die Kritik der Kaozheng-Gelehrsamkeit an der neokonfuzianischen Lehre. Erläutert an den Schriften des „Kaozheng-Gelehrten“ Zhang Xuecheng (1738–1801) 3.1. Chang Xuecheng. Eine kurze Biografie Zhang Xuecheng wurde im Jahre 1738 in der Shaoxing Präfektur, in der Nähe der Ufer der Hangzhou-Bucht, im Nordosten der heutigen Provinz Zhejiang geboren.355 Als einziger Sohn eines „Bezirksrichters“ war Zhang Xuecheng in seiner Kindheit eine gute Ausbildung vergönnt, wodurch dieser in seinen jungen Jahren genügend Wissen anhäufen konnte, um mit 24 Jahren in der Kaiserlichen Akademie (Kuo Tzu Chien) in Beijing aufgenommen zu werden.356 In der Hauptstadt des Reiches gründete Zhang Xuecheng seine Familie. Und dies war auch der Ort, an dem er sich in der ersten Hälfte seines Lebens größtenteils aufhielt, um zu studieren. Immer wieder mit Unterbrechungen – vorwiegend bedingt durch ausgedehnte Reisen – musste er sich im Umfeld seines Studiums in der Lektüre der „Fünf Klassiker“ und „Vier Bücher“ über fünfzehn Jahre lang üben, bis er mit 40 Jahren 1778 den Jinshi-Grad, den zweithöchsten akademischen Grad innerhalb des Qing-Reiches, erlangen konnte. Nachdem er sein Studium erfolgreich abgeschlossen hatte, hielt er zwischen 1778 und 1788 fünf akademische Posten im Umfeld mehrerer verschiedener Akademien inne.357 Nach 1788 endete Zhang Xuechengs Lehrtätigkeit und in seinen späteren Jahren verdiente er das nötige Geld für den Unterhalt seiner Familie größtenteils mit dem Schreiben von Provinzgeschichten sowie Familienbiografien. Aufgrund seiner Tätigkeit als „Regionalhistoriker“ reiste Zhang Xuecheng (1738–1801) in seinem Leben viel. Allein im Zeitraum zwischen 1787 und 1790 soll er nicht weniger als fünf Mal mit seiner gesamten Familie den Wohnsitz gewechselt haben.358 Für uns von zentraler Bedeutung ist vor allem sein Aufenthalt in Taiping, wo er im Jahre 1789 seine nach dem Entstehungsort benannten Taiping-Essays niederschrieb; in einer Zeit, wo Zhang Xuecheng in

355 Nivison, The Life and Thought of Chang Hsüeh-ch’eng, S. 20. 356 Ebd., S. 22–26. 357 Ebd., S. 93–95. 358 Ebd., S. 103. 112 seinem geistigen Schaffen, wie sein amerikanischer Biograph David S. Nivison (1923– 2014)359 es beschrieb: „His ideas about bibliography and literature had already taken shape; in historiography there were still interesting new ideas to come. But from Chang’s taking stock of himself and his beliefs in 1789 came the writings that are of widest and most enduring appeal. The T’ai-p’ing essays, in particular, from a remarkably complete and coherent view of the life of learning and of the world as it appeared to a man of letters. They contain what is philosophically the most interesting part of Chang’s thought, and they are stylistically among the finest pieces in his Wen-shih T’ung-i360.“361 In den folgenden Kapiteln dieser Abhandlung werden allem voran die „Taiping-Essays“ herangezogen. Mit Ausnahme von zwei Texten: Der 1791 von Zhang Xuecheng zu Papier gebrachten Schrift „Shih Te“ (Virtue in an Historian) und der im Jahre 1796 erschienen Schrift „Wen Te“ (Virtue of an Literature).

3.2. Konventionelle Ansichten Zhang Xuecheng verbrachte in seinem Leben wohl mehrere tausend Stunden mit dem Studium der „Kanonischen Werke“ des Konfuzianismus. Denn um die Provinz- und Hauptstadtprüfungen zu bestehen, musste er wichtige Passagen aus den „Fünf Klassiker“ und den „Vier Büchern“ auswendig lernen, sie rezitieren und in einer von offizieller Stelle vorgegeben Art und Weise kommentieren.362 Was der qing-zeitliche Gelehrte lernte, waren die vom Neokonfuzianismus durchdrungenen Lehren, die in der Song-Zeit (960–1279) erdacht und sich über die Yuan-Zeit (1279–1368) und Ming-Zeit (1368–1644) bis hin zu ihm verfestigt hatten. Als konfuzianischer Gelehrter und Abgänger des „staatlichen Prüfungswesens“ war Zhang Xuechengs Blickwinkel auf die Gegenwart und die Vergangenheit, also vor allem durch die „spezifische Weltanschauung“ des Neokonfuzianismus bedingt. Und aus diesem Grunde sollte es uns auch nicht verwundern, dass wir jenes vom Neokonfuzianismus geprägte Geschichtsmodell, welches in dieser Abhandlung bereits in seinen Grundzügen beschrieben wurde, auch bei Zhang Xuecheng wiederfinden können. Am besten kann dessen grundlegende Sichtweise auf die Vergangenheit wohl in dem 1789 zu Papier gebrachten Essay „T’ien Yü“

359 Nivison schrieb bis dato die einzige englischsprachige Biographie zu Zhang Xuecheng. 360 Sowohl beim Wen-shih T’ung-i (General Principles of Literature and History) als auch beim Chiao-ch’ou Tung-i (General Principles of Bibliography) handelt es sich um die zwei bedeutendsten Textsammlungen von Zhang Xuecheng. 361 Nivison, The Life and Thought of Chang Hsüeh-ch’eng, S. 103. 362 Die in der Song-Zeit verfassten Kommentare zu den „Fünf Klassikern“ und die von Zhu Xi kompilierten „Vier Bücher“ waren in der Qing-Zeit zum offiziellen Prüfungsstoff erhoben worden. Elman, The Social Roles of Literati in Early to Mid-Ch‘ing, S. 367. 113

(The Analogy of Heaven) veranschaulicht werden, in dem Zhang Xuecheng sich über die Übermittlungslinie der „konfuzianischen Lehre“ zwischen den „größten Philosophen“ innerhalb der chinesischen Geschichte äußerte. „(A) The Duke of Zhou carried on the legacy of kings Wen and Wu, personally serving as prime minister. And so, he set the standard for all time in regard to institutions, rites, and music. (B) Kongzi lived in an era of [social and political] decay; he possessed Virtue but lacked an official position. And so, he ‚transmitted but did not create’, in order to make clear the great dao of the former kings. (C) Mengzi`s age was one which itinerant scholars constantly wrangled with one another. And so, he applied himself to opposing (the teaching of) Yang [Zhu] and Mo [Zi] in order to honor what Kongzi had transmitted. (D) In Han Yu´s time, Buddhism and Daoism flared up like a raging fire. [...] (E) The Cheng brothers and Zhu Xi faced an age in which learning had become debased and its foundations had been forgotten. They argued for nature and principle in order to reform the common tendencies of people´s heart-minds.”363 (A) Unter der weisen Führung der altvorderen Könige der Xia-Dynastie (2205–1675 v. Chr.), Shang-Dynastie (1675–1046 v. Chr.) und „Westlichen Zhou-Dynastie“ (ca. 1046–770 v. Chr.) wurde der Konfuzianismus in seiner „ursprünglichen Reinheit“ erdacht. In dieser Zeitperiode, das heißt vom mythischen Kaiser Huangdi (ang. 2696–2598 v. Chr.) bis zu den Zhou Königen Wen (1112–1050 v. Chr.) und Wu (†1043 v. Chr.), etablierten die klügsten und tugendhaftesten Männer, die es nach der Ansicht von Zhang Xuecheng jemals in der Geschichte gegeben hatte, die allzeit gültigen „Modelle“, „Standards“ und „Institutionen“. Nachdem der „Fürst von Zhou“ (um 1050 v. Chr.) die „reine Lehre“ dieser weisen Könige aufgezeichnet und die letzte der altehrwürdigen Dynastien – die „Westliche Zhou-Dynastie“ (1100–770 v. Chr.) – an ihr Ende gekommen war, endet die „Goldene Periode“ des Altertums. (B) Auf die „Goldene Periode“ des Altertums folgt die Zeit der „Frühlings- und Herbstannalen“ (770–476 v. Chr.) in der Kongzi (551–479 v. Chr.) die „Fünf Klassiker“ kompilierte. Eine durch den politischen und gesellschaftlichen Zerfall geprägte Zeitperiode, in welcher „der Meister“ „glücklicherweise“ das auf ihn gekommene Wissen – inmitten einer von Krieg und Leid bestimmenden Epoche – aus den nur bruchstückhaft erhalten gebliebenen Weisheiten sammelte und niederschrieb. (C) Auf den in der „Zeit der Frühlings- und Herbstannalen“ (770–476 v. Chr.) lebenden Kongzi folgt wiederum Mengzi (370–290 v. Chr.), der in einer nicht minder chaotischen Ära, der „Zeit der Streitenden Reiche“ (476–221 v. Chr.), in welcher der Mohismus, der Daoismus, der Legismus und der Konfuzianismus um die geistige Vorherrschaft miteinander stritten, seine Werke erschuf.

363 Zhang Xuecheng, T’ien Yü (The Analogy of Heaven), 1789, translated by Philip J. Ivanhoe, in: On Ethics and History. Essays and Letters of Zhang Xuecheng, translated and with an Indroduction by Philip J. Ivanhoe, Stanford 2010, S. 65. 114

Nach dem Tode von Mengzi endet das Altertum – und von der Han-Dynastie bis zur Tang- Dynastie (618–907) gab es keine erwähnenswerten großen Philosophen. Auch für Zhang Xuecheng entstand in der von der daoistischen und buddhistischen Lehre dominierten Zeitspanne vom 2. Jahrhundert n. Chr. bis zum 7. Jahrhundert n. Chr. nicht viel von Wert. (D) Zu einer einstweiligen kulturellen Blüte kam es erst wieder in der Tang-Dynastie. Doch „leider“ war diese nur von kurzer Dauer, denn schon ab der zweiten Hälfte der Herrschaftszeit des Tang-Kaisers Xuanzong (685–762) setzte ein erneuter „Sittenverfall“ ein, sodass sich der „bedauernswerte“ und an der Schwelle zum 9. Jahrhundert lebende Han Yu (768–824) in einer Epoche wiederfinden musste, in der die häretischen Lehren des Buddhismus und Daoismus erneut „aufgeflammt“ waren. (E) Vom Beginn des 8. Jahrhunderts bis zum auslaufenden 10. Jahrhunderts währte eine erneute Phase der „kulturellen Dunkelheit“. Und erst in der Song-Dynastie (960–1279) vermochten die neokonfuzianischen Gelehrten die verdorbene Lehre des „Königlichen Weges“ einstweilen wieder „reinzuwaschen“. Zhu Xi (1130–1200) und die Cheng Brüder unternahmen den Versuch, die Einflüsse vom Buddhismus und Daoismus auf das „Reich“ und die „Gesellschaft“ auszumerzen. Doch die neokonfuzianischen Gelehrten konnten sich auch nur deshalb wieder auf den „ursprünglichen Konfuzianismus“ zurückbesinnen, weil sie in der Song-Zeit lebten, wo die „tugendhaften Song-Kaiser“ den „richtigen Prinzipien“ nachgefolgt waren und ein „kulturelles Umfeld“ erschaffen hatten, aus dem die größten Literaten seit dem Altertum hervorgehen konnten. Doch bedauernswerterweise ging auch die Song-Dynastie wieder unter. Und seit die Song an ihr Ende gekommen waren, ist: „(F) The Way of literature has been in decline and suffered since before the Yuan dynasty, and yet it is still not completely lost. In the Ming dynasty, people began to uphold the remnants of the Song and Yuan dynasties and crudely preserved proper rules and standards (for literary style). (G) By the time of the Jiaqing and Longqing emperors, benighted and ignorant (views) had not been kept at bay and (the dao of) literature was nearly at an end.”364 (F) Seit der Song-Dynastie (960–1279) verlor das literarische Schreiben stetig an Qualität. Zwar setzten die konfuzianischen Gelehrten der Ming-Zeit (1368–1644) noch alles daran, den seit dem 12. Jahrhundert anhaltenden Abwärtstrend aufzuhalten, indem sie versuchten, die „richtigen Modelle“, wie sie einst in der Song-Dynastie noch existiert hatten, zu bewahren. (G) Doch ihre Bemühungen, um die „Reinheit“ des Schreibens zu erhalten, waren vergebens, da diese durch ein erneutes „Aufflammen“ des Daoismus unter den langen

364 Zhang Xuecheng, Wen Li (The Principles of Literature), 1789, translated by Philip J. Ivanhoe, in: On Ethics and History. Essays and Letters of Zhang Xuecheng, translated and with an Indroduction by Philip J. Ivanhoe, Stanford 2010, S. 87. 115

Herrschaftszeiten des elften Ming-Kaisers Jiajing (1507–1567)365 und des dreizehnten Ming- Kaisers Wanli (1563–1620)366 zunichte gemacht wurden. Am Beispiel dieser beiden Quellenausschnitte können wir erkennen, dass sich die Geschichtsauffassung des qing-zeitlichen Gelehrten in den wesentlichen Punkten mit jener der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung deckt. Auch Zhang Xuecheng maß dem Altertum, der Tang-Dynastie (618–907) und Song-Dynastie (960–1279) eine besondere Stellung in der Geschichte bei. Wogegen er, in typischer neokonfuzianischer „Manier“, den Buddhismus in seinen Grundsätzen misstraute und die Herrschaftszeiten von Kaisern – wie beispielsweise von Jiajing (1507–1567) – die zu ihren Lebzeiten dem „Daoismus“ anheimgefallen waren, ablehnte.

3.3. Zhang Xuechengs Kritik an den zwei neokonfuzianischen Hauptströmungen Immer wieder scheint das „orthodoxe Geschichtsmodell“ des Neokonfuzianismus in Zhang Xuechengs Schriften durch. Es ist offensichtlich, dass der qing-zeitliche Gelehrte in seinem Denken maßgeblich von dem vorherrschenden Wissensdiskurs seiner Zeit geprägt gewesen war. Doch obschon dies der Fall gewesen ist, bedeutet dies jedoch keineswegs, dass dieser nicht in der Lage gewesen wäre, etablierte Ansichten zu hinterfragen. Denn: „I am not denying that one should approve of Yao and disapprove of Jie, esteem (true) kings and hold hegemons in low regard, pay homage to the Duke of Zhou and Kongzi and reject heterodox teachings, deem Cheng Yi and Zhu Xi as correct and Lu Jiuyuan and Wang Yangming as one-sided. (However) those who (simply) accept such things as conventional convictions and speak of them glibly, I know that they lack real knowledge.”367 Laut Zhang Xuecheng dürfe keinesfalls geleugnet werden, dass man den altertümlichen Kaiser Yao (2353–2234 v. Chr.) als „tugendhaft“ und den ebenfalls im Altertum lebenden Kaiser Jie (1728–1675 v. Chr.) als „untugendhaft“ ansehen müsse, dass man den Fürsten von Zhou (um 1050. v. Chr.) und die „Westliche Zhou-Dynastie“ (1046–770 v. Chr.) generell verehren solle, dass man die heterodoxen Lehren, den Legismus, den Buddhismus und den Daoismus, zurückweisen müsse und dass man die von Cheng Yi (1033–1107) und Zhu Xi

365 Näheres über den elften Ming-Kaiser Jiajing nachzulesen in: James Geiss, The Chia-ching Reign 1552-1566, in: The Ming Dynastie 1368–1644, hrsg. v. Denis Twitchett/Frederick W. Mote (The Cambridge History of China 8/ Part 1), Cambridge 1988, S. 440–510. 366 Näheres über den dreizehnten Ming-Kaiser Wanli nachzulesen in: Huang, Ray, The Lung-ch’ing and Wan-li Reigns 1567–1620, in: The Ming Dynastie 1368–1644, hrsg. v. Denis Twitchett/Frederick W. Mote (The Cambridge History of China 8/ Part 1), Cambridge 1988, S. 511–584. 367 Zhang Xuecheng, Hsi Ku (Conventional Convictions), 1789, translated by Philip J. Ivanhoe, in: On Ethics and History. Essays and Letters of Zhang Xuecheng, translated and with an Indroduction by Philip J. Ivanhoe, Stanford 2010, S. 58. 116

(1130–1200) begründete Schule jener von Lu Jiuyuan (1139–1192) und Wang Yangming (1472–1529) vorziehen solle. Diese und viele weitere orthodoxe Ansichten hatten für ihn durchaus ihre Berechtigung, weil sie sich – zumindest nach seiner Auffassung – als „wahr“ erwiesen hatten. Doch wer die etablierten Modelle und vorherrschenden Ansichten als gegeben hinnimmt, und diese nicht hinterfragt, dem fehlte es laut dem qing-zeitlichen Gelehrten an „ursprünglichem Wissen“368. Uns muss bewusst sein, dass die letztere Aussage ein durchaus „neuartiger Gedanke“ war. Denn Zhang Xuecheng nahm die vorherrschende Lehrmeinung, das heißt, das vom Neokonfuzianismus erschaffene und seit der Song-Dynastie (960–1279) geltende Diktum, nicht mehr als allzeit gültige Richtlinie war. Vielmehr hinterfragt er die orthodoxen Ansichten des Neokonfuzianismus, wenn er etwa in seinem Essay „Yüan Hsüeh“ (On Learning) nicht davor zurückschreckte, sich in einer mitunter radikalen Weise über die etablierten „Modelle“ zu äußern. „The world cannot be without intellectual fashions and intellectual fashions cannot but revolve through cycles. These are like the alternations of the yin and yang, which are manifested in what is destined to occur. What is valuable about the gentleman’s art of learning is that it can be used to manage the qi of the world and relieve one-sidedness, just as the alternations of the yin and yang are good for attaining balance and harmony. When an intellectual fashion begins, it necessarily takes something as its main theme. This is why philology, literature, and philosophy cannot avoid being either over-emphasized or under-emphasized. When an intellectual fashion has reached full flourishing, it necessarily contains some defects, because human emotions follow the times and covet reputation, pursuing the branch without understanding the root. And so, when an intellectual fashion has just begun, although it cannot avoid becoming one-sided, one must grasp its strength as the beginning of the latest fashion. When an intellectual fashion has run its course and become defective, and people abandon themselves to the pursuit of fame as if this were the proper thing to do, one must attack what is false as the remnant of a defunct fashion. This is simply the result of natural conditions.”369 Es ist die Natur der Dinge, dass alles Kosmologische und Weltliche nach Ausgeglichenheit strebt. Diesen – wie wir bereits wissen – ursprünglich aus dem Daoismus stammenden Gedanken finden wir auch bei Zhang Xuecheng wieder. Dass dieser in seinen Schriften vom Wechselspiel zwischen dem Yin und dem Yang spricht, ist zunächst einmal nichts Ungewöhnliches für einen konfuzianischen Gelehrten seiner Zeitperiode. In diesem Zusammenhang ist aber interessant, wie Zhang Xuecheng den Einfluss vom Wechselspiel

368 Hinter dem von Zhang Xuecheng verwendeten Begriff des „ursprünglichen Wissens“ (lianghzi) – wörtlich übersetzt „gutes Wissen“ – verbirgt sich ein komplexes philosophisches Konzept, welches von Mengzi erdacht wurde und vor allem in den Lehren von Wang Yangming eine bedeutende Rolle spielte. Näheres zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund und zur Bedeutung dieses Begriffes nachzulesen in: Kern, Wang Yangming. 369 Zhang Xuecheng, Yüan Hsüeh (On Learning), 1789, translated by Philip J. Ivanhoe, in: On Ethics and History. Essays and Letters of Zhang Xuecheng, translated and with an Indroduction by Philip J. Ivanhoe, Stanford 2010, S. 50–51. 117 zwischen den gegensätzlichen Kräften von Yin und Yang auf die konfuzianische Lehrtradition einschätzt. Wenn ein „Aspekt“ zum Yang strebt und dieser zu dominieren beginnt, greifen die undurchschaubaren ordnenden Kräfte der Natur ein, sodass dieser „Aspekt“ wieder zum Yin zu streben beginnt. Im Grunde verhält es sich wie bei Sommer und Winter. Im Sommer ist es warm und hell, dort dominiert das Yang. Doch wenn es eine überproportional helle und warme Zeitperiode wie den Sommer gibt, muss es zum Ausgleich immer auch eine dunkle und kalte Zeitperiode wie den Winter geben, wo das Yin dominiert. Und in derselben Weise wie es das Beispiel der Jahreszeiten zeigt, wo es im Jahresmittel der Temperaturen einerseits im Sommer zu warm und andererseits im Winter zu kalt ist, ist es nur natürlich, dass einstweilen das Yin oder das Yang überwiegt. In einer ähnlichen Weise wie es sich bei den Jahreszeiten gebiert, ist es auch in der Literatur, der Kunst, der Philologie und letztendlich auch innerhalb der konfuzianischen Lehrtradition. Denn auch die konfuzianischen „Schulen“ der Vergangenheit konnten es aufgrund der natürlichen Ordnung der Dinge nicht vermeiden, entweder „über-hervorhebend“ oder „unter- betont“ zu sein. Zhang Xuecheng bemängelt, dass die anderen Gelehrten zu seinen Lebzeiten dieses allumfassende „Gesetz der Natur“ nicht verstehen. Sie wollen oder können nicht begreifen, dass der Neokonfuzianismus – der im Prinzip nichts anderes wie eine „literarische Mode“ ist – niemals eine ewig gültige Lehrrichtung bleiben kann. Denn eine konfuzianische Strömung, die in die eine Richtung geht, benötigt in späterer Zeit zwangsläufig immer auch eine andere konfuzianische Strömung, die in die genau gegenteilige Richtung strebt. So hatte der Neokonfuzianismus, als er sich im 11. Jahrhundert herausbildete, noch seine Existenzberechtigung. In der Song-Zeit (960–1279), wo „das Lernen“ verdorben gewesen und dessen Ursprünge vergessen worden waren, wurden die Lehren von Zhu Xi benötigt, um die durch den Daoismus und Buddhismus „verunreinigt“ gewordene konfuzianische Schule wieder „reinzuwaschen“. Doch alles was danach kam, schoss gewissermaßen über das „Ziel hinaus“. Der Neokonfuzianismus wurde einseitig, „über-hervorhebend“ und daher mangelhaft. Nach Ansicht von Zhang Xuecheng hatten die Gelehrten der Yuan-Dynastie (1279–1368) und Ming-Dynastie (1368–1644) genau diesen Umstand nicht begriffen. Sie hätten weiterhin auf die Lehren von Zhu Xi oder auf die von Wang Yangming vertraut, diese überhöht und als ewiggültige Richtlinien erklärt. Was wiederum im weitestgehenden Sinne dazu führte, dass es zu Zhang Xuechengs Lebzeiten nur noch eine Lehrmeinung gab, die sich untereinander in zwei verfeindete Lager aufgeteilt hatte.

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„In the present age, teachers of the classics hold deep animosity for one another, literary men have little regard for one another, and the various philosophers of ‚(human) nature’ and ‚Heaven’ are divided into the competing schools of Zhu Xi and Lu Jiuyuan. The followers of Zhu Xi and Lu Jiuyuan attack one another, while those who talk about ‚learning’ and ‚literature’ ape whatever fashion is in vogue without ever realizing their error. The (present) situation is just as Zhuangzi once said, ‚Each of the hundred schools goes off in its own direction without ever turning back. They can never be reconciled and brought together!’370 Is it not sad!”371 Nachdem sich in der Ming-Zeit das „neokonfuzianische Schisma“ ereignet und sich der Neokonfuzianismus in zwei konkurrierende Hauptströmungen auseinanderdifferenziert hatte, stritten die beiden Denkrichtungen nur noch um die Deutungshoheit ihrer jeweiligen Schule. Egal ob die Gelehrten nun die Lehren von Zhu Xi (1130–1200)372 oder von Wang Yangming (1472–1529)373 bevorzugten, jeder glaubte, dass es sich bei deren Interpretation und Auslegung der „Fünf Klassiker“ um die einzig „Wahrhaftige“ gehandelt hätte. Obwohl Zhang Xuecheng in seinem Denken stark vom Neokonfuzianismus geprägt gewesen war, wollte sich dieser offensichtlich selbst zu keiner der beiden neokonfuzianischen Hauptströmungen zuordnen. Vielmehr stand er in seinem Denken „zwischen den Stühlen“ – oder glaubte zumindest, dass er dies tat, wenn er beispielsweise wie folgt in seinem Essay „Yüan Tao“ (On the Dao) seine persönliche Meinung über die Bedeutung von Kongzi preis gab. „They [the contemporary scholars] hold that a sage [meant here is Kongzi] endowed by Heaven with pure knowing may not be appraised in word or thought or be conceived to have one definite sort of greatness. Thus they invoke the notions of ‚Heaven’ and ‚divinity’ and regard the sage as unknowable.”374 Doch: „Although Kongzi is great, he is not greater than Heaven and earth. Is his greatness nonetheless not capable of being expressed completely in one sentence? Should someone ask (me), how may it be expressed in one statement? I would respond by saying, He simply studied the Duke of Zhou.”375 Entgegen der neokonfuzianischen Gelehrten betrachtete Zhang Xuecheng „den Meister“ nicht mehr als ein „gottähnliches Wesen“, das vom „Himmel“ mit dem „puren Wissen“ beschenkt worden war. Laut dem qing-zeitlichen Gelehrten könne man Kongzi zwar mit Fug und Recht als eine äußerste „kluge“ Persönlichkeit bezeichnen, doch bedeutsamer wie der „Himmel“ und die „Erde“ sei dieser keineswegs gewesen. Denn letzten Endes habe es sich bei Kongzi auch nur um einen Menschen aus Fleisch und Blut gehandelt.376 Und überhaupt, was hatte

370 Zhang Xuecheng paraphrasiert an dieser Stelle das 33. Kapitel des Zhuangzi. 371 Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), S. 44. 372 Mit den „Lehren von Zhu Xi“ ist die neokonfuzianische „Cheng-Zhu-Schule“ gemeint. 373 Mit den „Lehren von Wang Yangming“ ist die neokonfuzianische „Lu-Wang-Schule“ gemeint. 374 Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), S. 30. 375 Ebd., S. 31. 376 Ebd., S. 35. 119 dieser schon getan, außer bereits vorhandenes Wissen zu studieren? Schon in den Analekten gab „der Meister“ preis, dass er „nur übermittelte, aber nichts erschuf.“ Seine einzige Errungenschaft war es gewesen, dass er das Wissen der altvorderen Könige – welches ihm durch den Fürsten von Zhou (um 1050 v. Chr.) übermittelt wurde – zusammengetragen hatte.377 Für Zhang Xuecheng handelte es sich bei Kongzi um kein „gottähnliches Wesen“ mehr, sondern lediglich um einen Mann, dem das Glück vergönnt war, zum richtigen Zeitpunkt innerhalb der Geschichte zu leben.378 Aufgrund solcher entmythologisierenden Aussagen über Kongzi könnte man fast meinen, dass Zhang Xuecheng die Welt aus einem „rationalen Blickwinkel“ heraus betrachtete, oder gar, dass dieser sich im Geiste vom Konfuzianismus distanzierte und eine „säkularisierte Weltsicht“ entwickelt hätte. Doch wer diese Annahme teilt, der irrt. Denn obschon sich Zhang Xuecheng sowie andere „Kaozheng-Gelehrte“ seiner Zeit bewusst von dem vorherrschenden Diktum der neokonfuzianischen Orthodoxie abzugrenzen versuchten, hatte dies – wie in den folgenden beiden Kapiteln noch zu sehen sein wird – mit Säkularisierungstendenzen nur wenig zu tun.

3.4. Zhang Xuecheng. Ein Vordenker seiner Zeit? Zhang Xuecheng äußerte sich in einer kritischen Weise gegenüber den anerkannten beiden neokonfuzianischen Strömungen, stellte deren orthodoxe Ansichten in Frage und ging daran, vorherrschende Lehrmeinungen zu revidieren. Doch allein aufgrund der Tatsache, dass sich der qing-zeitliche Gelehrte in einer kritischen Weise gegenüber der dogmatischen Lehren des Neokonfuzianismus äußerte – wenn er sich etwa wie oben beschrieben gegen die „Vergöttlichung“ von Kongzi aussprach – dürfen wir nicht den Fehler begehen und den im 18. Jahrhundert lebenden Gelehrten als einen Vordenker des sogenannten „Enlightenment Movement“379 in China betrachten.

377 Vgl. Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), S. 32. 378 Vgl. Paul Demiéville, Chang Hsüeh-Ch’eng and his Historiography, in: Historians of China and Japan, hrsg. v. W. G. Beasley/ E. G. Pullyblank (Historical Writing on the Peoples of Asia III), London/New York/Toronto 1961, S. 167–185, hier S. 179–180. 379 Die heutige Forschung verbindet den Zeitraum zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts gedanklich mit dem „Enlightenment Movement“. In dieser Zeitperiode fanden aus dem Westen stammende aufklärerische Ideen einen verstärkten Einzug in den chinesischen Gelehrtendiskurs. Das chinesische „Enlightenment Movement“ ging in dem sogenannten „New Cultural Movement“ auf, welches zeitlich wiederum zwischen 1915 und 1920 angesetzt wird. Näheres zum „Englightenment Movement“ nachzulesen in: Xinyan Jiang, Enlightenment movement, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 473–511.

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Denn wenn wir dies tun, wäre es vergleichbar, als wenn wir annehmen würden, dass sich in unserem Kulturraum Martin Luther (1483–1546) und die frühen Reformatoren von der christlichen Kirche zu säkularisieren gedachten. Wie allseits bekannt ist, missbilligten die europäischen Reformatoren die Ämteranhäufung innerhalb des Klerus, den Ablasshandel sowie den Bilder-, Heiligen- und Reliquienkult innerhalb der Kirche. Sie forderten Reformen, um diese Missstände zu beseitigen. Doch in all ihren Reformbestrebungen ging es Martin Luther und den europäischen Geistlichen in keinster Weise darum, die theologischen Fundamente, auf denen die christliche Kirche beruhte, zu untergraben. Das kanonische Werk des Christentums – die Bibel – blieb für die Reformatoren trotz ihrer mitunter scharfen Kritik gegenüber der Kirche weiterhin das „Maß aller Dinge“. Die europäischen Geistlichen kehrten der Kirche keineswegs „den Rücken zu“. Vielmehr forderten sie eine Rückbesinnung auf die, nach ihrer Ansicht zentralen Inhalte in der Bibel, weil sich die katholische Kirche nach Ansicht der Reformatoren in ihrer Interpretation von der „Heiligen Schrift“ zu weit von der „ursprünglich-authentischen“ Auslegung der Bibel hin fortbewegt hatten. Auch wenn der Vergleich mit den europäischen Reformatoren in mehrerlei Hinsicht problematisch sein mag, das Wesentliche sollte er dennoch verdeutlichen. Denn genauso wie die Kritik der frühneuzeitlichen Theologen in Europa gegenüber der christlichen Kirche mit Säkularisierungstendenzen nur wenig zu tun hatte, hatte auch die Kritik von Zhang Xuecheng und der „Kaozheng-Gelehrten“ am Neokonfuzianismus mit etwaigen Säkularisierungstendenzen nur wenig zu tun. Denn auch die chinesischen Gelehrten dachten in ihren Reformbestrebungen weder daran, die – vom Konfuzianismus determinierten – hierarchischen Strukturen aufzubrechen, noch stellten sie die Authentizität der „kanonischen Werke“ des Konfuzianismus in Frage. Ihnen ging es, wie auch den Reformatoren, vielmehr darum, die Missstände innerhalb ihrer eigenen „Schule“ zu beseitigen, indem sie einforderten, dass sich die neokonfuzianischen Gelehrten wieder zurück auf die „ursprünglich-authentische Lehre“ besinnen sollten.

3.5. Das anzustrebende Ideal Zhang Xuecheng (1738–1801) sah sich in seinem Denken als unbeeinflusst vom Neokonfuzianismus an und sprach sich für eine Abkehr von den orthodoxen Lehrmeinungen aus. Er stellte die etablierten neokonfuzianischen Ansichten in Frage und äußerte sich kritisch gegen die gängigen Gelehrtenmeinungen. Doch tat er dies eben nicht, weil er das

121 konfuzianische Wertesystem, die philosophischen, ethischen sowie moralischen Standpunkte der konfuzianischen Lehre in seinen Grundsätzen hinterfragte, sondern weil er – und das ist entscheidend – von der Hypothese ausging, dass seine Zeitgenossen die „kanonischen Werke“ des Konfuzianismus falsch interpretiert hatten. Für den qing-zeitlichen Gelehrten handelte es sich schlichtweg um eine Tatsache, dass die neokonfuzianischen Gelehrten die „Fünf Klassiker“ seit nunmehr fünfhundert Jahren fehlerhaft ausgelegt hatten. Dass sowohl Zhu Xi als auch Wang Yangming die Lehre des „Königlichen Weges“ zwar aus einem moralisch einwandfreien und redlichen Antrieb heraus zu reformieren gedachten, jedoch letztlich in ihren Bestrebungen gescheitert waren, weil deren Interpretation des Konfuzianismus weit ab von der „ursprünglich-authentischen Lehre“ gewesen sei. Zhou Dunyi (1017–1073), Zhu Xi (1130–1200), die Cheng Brüder und die späteren neokonfuzianischen Gelehrten hätten Begrifflichkeiten und Kultivierungspraktiken des Buddhismus übernommen und sich mit ihren metaphysischen Gelehrtendiskussionen sowie dem Augenmerk auf das exzessive Auswendiglernen und Kommentieren des konfuzianischen Kanons zu weit von der „ursprünglich-authentischen Lehre“ fortbewegt.380 Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sich Zhang Xuecheng und die Vertreter der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“, wenn sie Zhou Dunyi, Zhu Xi oder die Cheng Brüder in einer solchen Weise kritisierten, im Wesentlichen an demselben gedanklichen „Kunstgriff“ bedienten, den auch schon die song-zeitlichen Neokonfuzianer im 11. Jahrhundert benutzt hatten, um deren eigene Lehre zu legitimieren. Denn diese hatten ja – wie wir bereits wissen381 – schon in der Song-Zeit (960–1279) die Hypothese vertreten, dass all die konfuzianischen Schulen bis ins 11. Jahrhundert von den Lehren des Buddhismus und Daoismus durchdrungen gewesen waren, sodass der Konfuzianismus vom Altertum bis hin zu Zhu Xi nie richtig interpretiert werden konnte.382 Im 18. Jahrhundert bedienten sich nunmehr Zhang Xuecheng und die Vertreter der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ an demselben gedanklichen „Kunstgriff“, indem diese wiederum davon ausgingen, dass auch die „Schulen“ von Zhu Xi (1130–1200) und Wang Yangming (1472–1529) durch die „heterodoxen Lehren“ beeinflusst gewesen waren. Wenn aber Zhu Xis und Wang Yangmings Verständnis von den „Fünf Klassikern“ als fehlerhaft anzusehen sei, an welcher Lehre solle man sich dann orientieren? Für einen „Kaozheng-Gelehrten“ wie Zhang Xuecheng war diese Frage mit Leichtigkeit zu beantworten: Natürlich an die der Altvorderen!

380 Vgl. Tabery, Selbstkultivierung und Weltgestaltung, S. 36. 381 Siehe S. 86–87. 382 Siehe S. 97. 122

„The Duke of Zhou, in fulfilling the Virtue of king Wen and Wu, happened to live at a time when the work of emperors and kings was complete and when one dynasty had profited from the experience of another to the point where nothing further could be added. And so, he was able to rely on this past accumulation to form his own institutions and to ‚sum up’ in the dao of the Zhou [dynasty] the ‚orchestra’ of the ancient sages. This in fact is what is meant by ‚summing up the complete orchestra’.”383 Nach der Vorstellung von Zhang Xuecheng hatte seit den weisen „Shengren“ der „Westlichen Zhou-Dynastie“ (1046–770 v. Chr.) weder Zhu Xi, Wang Yangming noch irgendein anderer „großer“ Gelehrter, König oder Kaiser das „dao“ des „Königlichen Weges“ wirklich begriffen. Der Fürst von Zhou (um 1050 v. Chr.) war der Letzte aus einer langen Reihe nacheinander lebender altehrwürdiger „Shengren“. Er lebte in einer Zeitperiode, wo das Wirken der Könige und Kaiser „vollkommen“ gewesen war. Seit jedoch der Fürst von Zhou das „komplette Orchester“ im 11. Jahrhundert v. Chr. in den „kanonischen Werken“ zusammengefasst hatte, gab es – zumindest nach dem Verständnis von Zhang Xuecheng – keine wirklich „weisen“ und „tugendhaften“ Herrscher mehr. Und „bedauerlicherweise“ auch keine von Grund auf ernstzunehmenden Gelehrten. „Is it not regrettable! The tradition of the teacher’s dao has been lost for such a long time. (In the present age), a resolute scholar can search throughout the world and still not find an irreplaceable teacher. However, looking through the present into the past, I find loyal and earnest individuals; before I know it, a delightful feeling comes over me and I begin to laugh. Delving into their works, I find myself unable to explain what causes my tears (of joy). These are my teachers! Though I have not (personally) met them, they have secretly transmitted (their teachings) to me. It is like the case of an orphan who sees a likeness of his deceased father. Though no one tells him (that this is an image of his father) as he sleeps and dreams he comes to realize (the truth).”384 Seit den drei Dynastien der Xia (2205–1675 v. Chr.), Shang (1675–1046 v. Chr.) und der „Westlichen Zhou“ (1046–770 v. Chr.) gab es keine Könige und Kaiser mehr, die man von Grund auf als „tugendhaft“ ansehen hätte können, keine Gelehrtenpersönlichkeiten, die es Wert gewesen wären, dass man ihnen nacheifern hätte sollen und letztlich auch keine konfuzianischen Gelehrten, welche die „Fünf Klassiker“ richtig interpretiert hätten. Seit der Zeit der „Drei Dynastien“ ging es in allen Belangen nur bergab. Das ist der Grundtenor, den wir aus den Schriften von Zhang Xuecheng herauslesen können.385

383 Zhang Xuecheng, Yuan dao (On the Dao), S. 29. 384 Zhang Xuecheng, Shih Shuo (A Treatise on Teachers), 1789, translated by Philip J. Ivanhoe, in: On Ethics and History. Essays and Letters of Zhang Xuecheng, translated and with an Indroduction by Philip J. Ivanhoe, Stanford 2010, S. 55. 385 Vgl. Demiéville, Chang Hsüeh-Ch’eng and his Historiography, S. 179. 123

3.6. Zusammenfassung Bei Lichte betrachtet, handelte es sich bei dem „Kaozheng-Gelehrten“ Zhang Xuecheng – vereinfacht gesprochen – also weder um einen „Aufklärer“ noch um einen neokonfuzianischen Gelehrten, sondern um einen Anhänger einer neuen „konfuzianischen Denkschule“. Einer „Schule“, deren Vertreter zwar die Bestrebungen der Tang- und Song- Gelehrten, sowie jener Könige und Kaiser, die sich für die Wahrung der konfuzianischen Lehre in der Vergangenheit eingesetzt hatten, lobten, aber dennoch von der grundlegenden Idee ausgingen, dass die „reine Lehre“ – der „ursprüngliche Konfuzianismus“ – seit dem Niedergang der Zhou-Dynastie verloren gegangen war. Seit 2500 Jahren schien sich der Konfuzianismus für den qing-zeitlichen Gelehrten immer weiter von der „ursprünglich- authentischen Lehre“ des Altertums entfremdet zu haben. Und um diese Fehlentwicklung aufzuhalten, forderten er und die Vertreter der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“, dass sich die neokonfuzianischen Gelehrten wieder auf die wesentlichen Inhalte der eigenen Lehre zurückbesinnen sollten. Zhang Xuecheng und die „Kaozheng-Gelehrten“ des 18. Jahrhunderts strebten „Zurück zu den Wurzeln“ und waren überspitzt gesprochen „konfuzianische Fundamentalisten“386, für die es lediglich eine „Goldene Epoche“ in der Geschichte gab: Die Zeit der „Drei Dynastien“. Einzig und Alleine in diesem, zwischen dem mythischen ersten chinesischen Kaiser Huangdi (ang. 2696–2598 v. Chr.) und den historisch nur schwer fassbaren drei Dynastien der Xia (2205–1675 v. Chr.), Shang (1675–1046 v. Chr.) und „Westlichen Zhou“ (1046–770 v. Chr.) verorteten Zeitraum, konnte nach deren Auffassung das allumfassende „dao“, das „Heil“ für die gesamte Menschheit, gefunden werden.387

4. Die Kritik der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ am „neokonfuzianischen Geschichtsmodell“. Erläutert an den Schriften von Zhang Xuecheng 4.1. Einführung Indem Zhang Xuecheng und die „Kaozheng-Gelehrten“ das „philosophische Fundament“, auf dem das „Lehrgebäude“ des Neokonfuzianismus basierte, kritisch auf Ungereimtheiten überprüften, stellten sie die anerkannten und zur Orthodoxie gewordenen neokonfuzianischen Ansichten erstmals nach fünfhundert Jahren auf den „Prüfstand“. Den „Kaozheng-Gelehrten“ widerstrebte es, den halben Tag in Meditation zu verweilen und den übrigen Tag mit dem

386 Vgl. John B. Henderson, Scripture. Canon and Commentary. A Comparison of Confucian and Western Exegesis, Princeton, New Jersey 1991, S. 215. 387 Vgl. Demiéville, Chang Hsüeh-Ch’eng and his Historiography, S. 179. 124

Auswendiglernen der „Fünf Klassiker“ und „Vier Bücher“ zu verbringen. Sie bewegten sich fort von den, seit der Song-Zeit (960–1279) hochgehaltenen „metaphysischen“ und „spekulativen“ Ansätzen, wollten den vorgefassten Meinungen der neokonfuzianischen Orthodoxie keinen Glauben mehr schenken und überprüften Ansichten, die in der Song-Zeit, Yuan-Zeit (1279–1368) und Ming-Zeit (1368–1644) noch als unbestreitbar galten, auf ihre „Richtigkeit“ hin. Durch diese bewusst kritische Auseinandersetzung mit den neokonfuzianischen Lehrtraditionen ergaben sich neue Fragen im Zusammenhang mit den „Kultivierungspraktiken“ sowie den „kanonischen Werken“ des Konfuzianismus. Aber auch neue Fragen in Bezug auf die Geschichte. Denn wenn sich die Anhänger von Zhu Xi (1130–1200) und Wang Yangming (1472–1529) in ihrer Interpretation der „Fünf Klassiker“ geirrt hatten, musste auch das vom „Lehrgebäude“ des Neokonfuzianismus getragene und seit dem 11. Jahrhundert normativ gewordene „Geschichtsmodell“ zwangsläufig einige Fehler aufweisen. Wie wir aus den Schriften von Zhang Xuecheng und den Texten anderer „Kaozheng-Gelehrten“ des 18. Jahrhunderts herauslesen können, führte die Hinterfragung des vorherrschenden Dogmas in letzter Konsequenz auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit eben jenem Geschichtsmodell, das durch die neokonfuzianische Orthodoxie über einen Zeitraum von fünfhundert Jahren hinweg gestützt worden war. Ein Beispiel, an dem sich anschaulich vermitteln lässt, in welcherlei Hinsicht die „Kaozheng- Gelehrsamkeit“ die orthodoxen Geschichtsbilder des „neokonfuzianischen Geschichtsmodells“ im 18. Jahrhundert auf ihre „Richtigkeit“ hin überprüften, sei hier abschließend noch genannt. Als Basis dient das 1791 zu Papier gebrachte Essay „Shih Te“ (Virtue in an Historian), in dem sich Zhang Xuecheng eingehend mit der Frage auseinandersetzte, wie Historiker Geschichte schreiben sollten und sich nebenbei auch mit der – wie wir heute sagen würden – „Erinnerungskultur“ rund um die historische Person von Sima Qian (145–90 v. Chr.) beschäftigte.

4.2. Fallbeispiel Sima Qian Im chinesischen Kulturraum gilt Sima Qian als der „Vater“ der Geschichtsschreibung. Wie dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot in Europa, wurde auch Sima Qian in China diese Ehre allein aufgrund eines einzigen Geschichtswerkes, das weitestgehend aus dessen Feder stammen soll, zuteil. Denn der in der Han-Zeit lebende Gelehrte führte die von seinem Vater Sima Tan begonnene Arbeit fort und vollendete im Jahre 91 v. Chr. das „Shiji“, bei dem

125 es sich gleichermaßen um die erste Universalgeschichte Chinas, wie auch um die Erste der 24 Dynastiegeschichten handelt.388 Das „Shiji“ ist das älteste inhaltlich zusammenhängende Geschichtswerk, das im chinesischen Kulturraum entstanden ist und steht damit am „Beginn“ der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung. Inhaltlich deckt es den Zeitraum zwischen den ersten mythischen Kaisern Chinas und der frühen Han-Zeit (206 v. Chr.–220 n. Chr.) ab. In 130 Bänden mit 500.000 Zeichen schildert es die Geschichte der Shang-, Xia-, Zhou-, Qin- und Han-Dynastie, wobei Sima Qian sein Werk in die folgenden fünf nach Inhalt getrennten Kapitel unterteilte: In die Annalen der Herrscherhäuser (benji), die chronologischen Tabellen (biao), die Monografien zu kulturgeschichtlichen Themen (shu), die Geschichten zu bedeutenden Adelsfamilien (shijia) und Überlieferungen über wichtige historische Persönlichkeiten (zhuan).389 Das „Shiji“ gab das Format vor, wie die 24 Dynastiegeschichten geschrieben wurden, da die späteren chinesischen Geschichtsschreiber die Gliederung des „Shijis“ übernahmen und sich darüber hinaus auch stilistisch an dem monumentalen Geschichtswerk von Sima Qian (145– 90 v. Chr.) orientierten.390 Dass das „Shiji“ einen ungemein großen Einfluss auf die Art und Weise hatte, wie in China „Geschichte“ geschrieben wurde, ist heute unumstritten. Doch obgleich Sima Qian unter modernen Geschichtswissenschaftlern allem voran wegen seiner – für altertümliche Verhältnisse – durchaus „objektiven“ Schreibweise, zumeist eine positive Rezeption zu Teil wird, leuchtete der „Stern“ von Sima Qian im 18. Jahrhundert bei Weitem noch nicht so „hell“ wie heute, wie wir aus dem Essay „Shih Te“ (Virtue in an Historian) von Zhang Xuecheng herauslesen können: „And so, in later ages, those who discuss writing have considered Sima Qian as someone adept at ridicule and slander and consider subtle wording (implying praise and blame) as the central prerogative of an historian. Some, desiring (to emulate this) have even copied his [Sima Qian’s] style. This is simply to have the heart-mind of ‚rebellious minister or disobedient son’ while mindlessly following the Spring and Autumn Annals’ method of compilation. Is this not perverse indeed!”391 Offenbar erinnerten sich die „Zeitgenossen“ des qing-zeitlichen Gelehrten in keiner guten Art und Weise an Sima Qian. Wenn wir Zhang Xuecheng Vertrauen schenken dürfen, dann war es unter dem Großteil der Gelehrtenschaft im 18. Jahrhundert Konsens, dass es sich bei dem in der Han-Zeit lebenden Historiographen um keinen „tugendhaften“ Mann gehandelt habe. Die Anhänger des Neokonfuzianismus betrachteten den Verfasser des „Shijis“ als einen „Verleumder“ oder sogar als einen „Meister“ der Lächerlichkeit und jene die Sima Qian zu

388 Vgl. Tanner, China. A History, S. 118. 389 Weiers, Geschichte Chinas, S. 44–45. 390 Tanner, China. A History, S. 118. 391 Zhang Xuecheng, Shih Te (Virtue in an Historian), S. 80. 126 ihrem Vorbild nahmen, als „aufrührerische Minister oder ungehorsame Söhne“. Die neokonfuzianischen Gelehrten verurteilten den in der Han-Zeit (206 v. Chr.–220 n. Chr.) lebenden Historiographen, vordergründig, weil sie von der Annahme ausgingen, dass Sima Qian in seiner Funktion als Geschichtsschreiber die Kompetenzen seines Amtes überschritten habe. Sima Qian sei nicht nur – wie es Rechtens gewesen wäre – daran gegangen, die Ereignisse aufzuzeichnen, sondern habe auch über seinen Herrscher geurteilt, was eigentlich das „Vorrecht“ der späteren Historiker gewesen wäre. Dem „Berufsethos“ eines Geschichtsschreibers unwürdig, habe Sima Qian seine persönlichen Ansichten in das „Shiji“ einfließen lassen und seinen Regenten wissentlich in ein schlechtes Licht gerückt. „Now if one considers carefully the book that Sima Qian wrote, one will find essays like ‚The Feng and Shan Sacrefices’392, which describes deluded notions about spirits and ghosts, and ‚The Equalization of Trade’393, which takes into account (the harsh taxes) on merchants and peddlers.”394 Zhang Xuecheng benennt in seinem Essay „Shi Te“ zwei Kapitel des Shijis, in denen sich laut der neokonfuzianischen Orthodoxie Beweise für die subjektive Schreibweise von Sima Qian finden lassen würden. Zum Einen im 28. Kapitel „Opfer des Feng und Shan“, welches sich mit „den verblendeten Geistern und Kräften“ auseinandersetzt; und zum Anderen im 30. Kapitel „Ausgleich des Handels“, in dem der Geschichtsschreiber vordergründig auf die „harten Steuern auf Händler und Hökerer“ einging. Sima Qian habe laut den neokonfuzianischen Gelehrten speziell in diesen beiden Kapiteln des „Shijis“ subjektive Urteile über seinen Herrscher gezogen. Er habe seinen Fürsten – Kaiser Wu (156–87 v. Chr.) – vorsätzlich verunglimpft, als er die folgenden Zeilen im 30. Kapitel niederschrieb: „By the time the present emperor (Wu) had been on the throne a few years, a period of over seventy years had passed since the founding of the Han. During that time the nation had met with no major disturbances so that, except in times of flood or drought, every person was well supplied and every family had enough to get along on. The granaries in the cities and the countryside were full and the government treasuries were running over with wealth. In the capital the strings of cash had been stacked up by the hundreds of millions until the cords that bound them had rotted away and they could no longer be counted. In the central granary of the government, new grain was heaped on top of the old until the building was full and the grain overflowed and piled up outside, where it spoiled and became unfit to eat. Horses were to be seen even in the streets and lanes of the common people or plodding in great numbers along the paths between the fields, and anyone so poor as to have to ride a mare was disdained by his neighbours and not allowed to join the gatherings of the villagers. Even the

392 Gemeint ist hier das Kapitel 28 des Shijis. Das Kapitel „The Treatise on the Fang and Shan Sacrifices“ in voller Länge nachzulesen in: Sima Qian, Shiji, übersetzt von Burton Watson, in: Records of the Grand Historian. Han Dynasty II, Band 3, Hong Kong/New York 21993, S. 3–52. 393 Gemeint ist hier das Kapitel 30 des Shijis. Das Kapitel „The Treatise on the Balanced Standard“ in voller Länge nachzulesen in: Sima Qian, Shiji, übersetzt von Burton Watson, in: Records of the Grand Historian. Han Dynasty II, S. 61–88. 394 Zhang Xuecheng, Shih Te (Virtue in an Historian), S. 80. 127 keepers of the community gates ate fine grain and meat. The local officials remained at the same posts long enough to see their sons and grandsons grow to manhood, and the higher officials occupied the same positions so long that they adopted their official titles as surnames. As a result, men had a sense of self-respect and regarded it as a serious matter to break the law. Their first concern was to act in accordance with what was right and to avoid shame and dishonour.“395 Am Beginn der Herrschaftszeit des siebten Han-Kaisers Wu liefen die Schatzkammern vor Reichtum über, die Getreidespeicher waren prall gefüllt, die Wachen von Stadttoren aßen bestes Korn und sogar die einfachen Bauern auf dem Lande konnten sich eigene Pferde leisten. Laut Sima Qian ging es nicht nur dem Adel und den wohlhabenden Schichten innerhalb der Bevölkerung, sondern der „Allgemeinheit“ am Beginn der Herrschaftszeit von Kaiser Wu, rundum gut. Dies änderte sich jedoch schlagartig, als es im Jahre 120 v. Chr. – zwanzig Jahre nach der Thronbesteigung von Wu (156–87 v. Chr.) – zu einer folgenschweren Flutkatastrophe im Reich gekommen war. Denn infolge der Überflutungen fehlte es, wie es weiter im Shiji heißt, dem einfachen Volk an finanziellen Mitteln, um Nahrungsmittel kaufen zu können. Um die Not zu lindern, erließ Kaiser Wu ein Gesetz: Damit die von der Flut geschädigten „Armen“ nicht einen qualvollen Hungertod sterben mussten, durften sie bei den „Wohlhabenden“ ein Darlehen aufnehmen.396 Doch das von Wu ursprünglich in bester Absicht erlassene Gesetz verfehlte sein Ziel und zog weitreichende negative Konsequenzen nach sich. Die von der Flut Geschädigten „Armen“ verschuldeten sich bei den „Wohlhabenden“, wodurch diese wiederum in letzter Konsequenz immer reicher wurden. In diesem Zusammenhang hielt Sima Qian in seinem „Shiji“ fest: „The rich merchants and big traders, however, were busy accumulating wealth and forcing the poor into their hire, transporting goods back and forth in hundreds of carts, buying up surplus commodities and hoarding them in the villages; even the feudal lords were forced to go to them with bowed heads and beg for what they needed. Other who were engaged in melting iron and extracting salt from sea water accumulated fortunes amounting to tens of thousands of catties of gold, and yet they did nothing to help the distress of the nation, and the common people were plunged deeper and deeper into misery.“397 Folgt man den Ausführungen des 30. Kapitels des „Shijis“, dann hatte Kaiser Wu infolge der Flutkatastrophe im Jahre 120 v. Chr. offensichtlich zu den falschen Mitteln gegriffen. Denn durch das von dem Han-Kaiser erlassene Gesetz wurde die Not der von der Flut geschädigten Menschen nicht gelindert, sondern diese vielmehr immer tiefer ins Elend gestürzt.

395 Sima Qian, Shiji 30 (The Treatise on the Balanced Standard), übersetzt von Burton Watson, in: Records of the Grand Historian. Han Dynasty II, S. 63. 396 Ebd., S. 68. 397 Ebd. 128

Zhang Xuecheng benannte neben dem 28. Kapitel des „Shijis“ eben genau dieses Kapitel und schrieb: „These are examples of the bad government of (Emperor) Wu.”398 Und weiter: „It is true that in his chapters ‚The Wandering Knights’399 and ‚The Money Makers’400, Sima Qian could not avoid expressing intensive feelings, and here one also must admit that our worthy displays a certain fascination with the exotic.”401 Neben dem oben beschriebenen 28. und 30. Kapitel des „Shiji“ wurde Sima Qian vorgeworfen, dass dieser auch im 124. Kapitel (Die wandernden Ritter) und 129. Kapitel (Die Geldmacher) seines Geschichtswerkes nicht umhin kam, seine „intensiven Empfindungen“ über die Herrschaftsweise von Kaiser Wu auszudrücken. Sima Qian habe auch in diesen Textpassagen seines Geschichtswerkes in einer subjektiven Art und Weise über Kaiser Wu geschrieben. Beispielsweise etwa, wenn dieser wie folgt im 129. Kapitel „Die Geldmacher“ in seinem „Shiji“ festhielt: „Now there are men who receive no ranks or emoluments from the government and who have no revenue from titles or fiefs, and yet they enjoy just as much ease as those who have all these; they may be called the ‚untitled nobility’. A lord who possesses a fief lives off the taxes. Each year he is allowed to collect 200 cash from each household, so that the lord of 1.000 households has an income of 200.000 cash. But out of this he has to pay the expenses of his spring and autumn visits to the court and pay for various gifts and presentations. Common people such as farmers, craftsmen, travelling traders, and merchants on the whole may expect a profit of 2.000 cash a year on a capital investment of 10.000. So if a family has a capital investment of 1.000.000 cash, their income will likewise be 200.000. Out of this they must pay the cost of commutation of labour and military services, as well as property and poll taxes, but with the rest they may buy whatever fine food and clothing they desire.“402 Sima Qian sah es als eine Ungerechtigkeit an, dass die wohlhabenden Bauern, Handwerker, reisenden Händler und Kaufleute im Gegensatz zu den Adeligen nur wenig Steuern an das Reich abzuführen hatten. Der Geschichtsschreiber konnte seine „intensiven Empfindungen“ nicht verbergen, wenn er sich wie hier negativ über die Besteuerungsproblematik in seiner Zeit äußerte.

398 Zhang Xuecheng, Shih Te (Virtue in an Historian), S. 80. 399 Gemeint ist hier das Kapitel 124 des Shijis. Das Kapitel „The Biographies of the Wandering Knights“ in voller Länge nachzulesen in: Sima Qian, Shiji, übersetzt von Burton Watson, in: Records of the Grand Historian. Han Dynasty II, S. 409–418. 400 Gemeint ist hier das Kapitel 124 des Shijis. Das Kapitel „The Biographies of the Money-makers“ in voller Länge nachzulesen in: Sima Qian, Shiji, übersetzt von Burton Watson, in: Records of the Grand Historian. Han Dynasty II, S. 433–454. 401 Zhang Xuecheng, Shih Te (Virtue in an Historian), S. 80. 402 Sima Qian, Shiji 129 (The Biographies of the Money-makers), übersetzt von Burton Watson, in: Records of the Grand Historian. Han Dynasty II, S. 447–448. 129

4.3. Eine historische Neubewertung von Sima Qian Der Geschichtsschreiber Sima Qian (145–90 v. Chr.) hatte sich im 28., 30., 124. und 129. Kapitel seines „Shijis“ in einer negativen Form gegenüber der Herrschaftsweise seines Regenten geäußert; und genau das war es, was für die neokonfuzianische Orthodoxie ein Problem darstellte. Denn schließlich handelte es sich bei Kaiser Wu (156–87 v. Chr.) nicht um irgendeinen Kaiser in der chinesischen Geschichte. Er war der siebte Han-Herrscher Han Wudi gewesen! Und damit jener Kaiser, der von der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung idealisiert wurde, weil er den Konfuzianismus im Han-Reich zur dominierenden Geistesströmung erhoben hatte.403 Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die neokonfuzianischen Gelehrten Sima Qian nur deshalb posthum verurteilten, weil sich dessen zeitgenössische Schilderungen nicht mit dem vom Neokonfuzianismus konstruierten Vergangenheitsbildern vereinbaren ließen. Mehr als 1500 Jahre nach dem Tode des Geschichtsschreibers waren die neokonfuzianischen Gelehrten davon überzeugt, dass es sich bei Kaiser Wu um einen der „tugendhaftesten Herrscher“ innerhalb der gesamten chinesischen Geschichte gehandelt hatte. Und deshalb grenzte für sie – die Wu als einen „Schutzpatron“ des Konfuzianismus ansahen – die Kritik im „Shiji“ an der Regierungsweise des siebten Han-Herrschers an Blasphemie. Obwohl Sima Qian ein Zeitgenosse von Wu gewesen war und vermutlich lediglich die zu seiner Zeit vorherrschenden Verhältnisse in seinem „Shiji“ für die Nachwelt festhielt, glaubten die Neokonfuzianer dem han-zeitlichen Geschichtsschreiber nicht. Sie bezichtigten Sima Qian der „Falschaussage“ und gingen davon aus, dass dieser aufgrund einer persönlichen Abneigung gegenüber seinem Fürsten gelogen und diesen absichtlich in ein schlechtes Licht gerückt hätte. Dass Sima Qian im 28., 30., 124. und 129. Kapitel seines „Shijis“ eine von Subjektivität geprägte Schreibweise an den Tag gelegt hatte, bestritt auch Zhang Xuecheng nicht.404 Dass der Geschichtsschreiber aber – wie die mehr als 1500 Jahre später lebenden neokonfuzianischen Gelehrten behaupteten – seinen Herrscher vorsätzlich in ein schlechtes Licht gerückt hätte, wollte der qing-zeitliche Gelehrte hingegen nicht mehr glauben. In seinem Essay „Shih Te“ schrieb er:

403 Siehe S. 32–33. 404 Dies können wir darin erkennen, dass Zhang Xuecheng schrieb: „It is true, that in his chapters ‚The Wandering Knights’ and ‚The Money Makers’, Sima Qian could not avoid expressing intense feelings [...]”. Zhang Xuecheng, Shih Te (Virtue in an Historian), S. 80. 130

„But the remainder of the work [the Shiji] exhibits a comprehensive understanding of past and present and a perfect grasp of the Six Classical disciplines. Where does he [Sima Qian] ever presume to slander his superiors? Zhu Xi once said, ‚(In Encountering Sorrow, Qu Yuan) does not express excessive resentment against his lord; the interpretations of later men have overemphasized this’405. In similar veins, I say, ‚Sima Qian never presumed to slander his lord; the minds of those who read (his work this way) are themselves out of balance’. As for those who, because of personal difficulties, maliciously slander even their own lords and fathers and hope thereby to win immortal fame for themselves, such men are nothing more than fools, discontent with their lot in life, criminals within the Confucian school who have been punished by Heaven’s principles. What have (such people) written that is worthy of passing on (to future generations)?”406 Zhang Xuecheng entfernte sich von der orthodoxen Lehrmeinung, indem er die nach seiner Auffassung überzogene Kritik an Sima Qian (145–90 v. Chr.) nicht mehr länger gutheißen konnte. Dadurch, dass er den han-zeitlichen Geschichtsschreiber in Schutz nahm und jene Gelehrte, die Sima Qian als einen „Verleumder“ ansahen, als „Kriminelle inmitten der konfuzianischen Schule“ diffamierte, wandte er sich gegen das „normative Geschichtsmodell“ des Neokonfuzianismus. Doch Zhang Xuecheng stellte, wenn er Sima Qian verteidigte, die vom Neokonfuzianismus konstruierten Geschichtsbilder noch weit stärker infrage, als es zunächst den Anschein haben mag. Denn wenn Sima Qian im 28., 30., 124. und 129. Kapitel seines „Shijis“ – wie Zhang Xuecheng annahm – nicht gelogen hatte, dann musste er folglich die „Wahrheit“ gesagt haben. Und wenn Sima Qian die „Wahrheit“ in seinem Geschichtswerk für die Nachwelt festgehalten hatte, dann bedeutete dies, dass es sich bei dem siebten Han-Kaiser um keinen gänzlich „tugendhaften“ Kaiser gehandelt haben konnte. Indem Zhang Xuecheng Sima Qian zusprach, dass dieser sich „niemals angemaßt hätte, seinen Herren zu verleugnen“, stellte der qing-zeitliche Gelehrte somit in letzter Konsequenz auch die von der neokonfuzianischen Orthodoxie konstruierten Geschichtsbilder im Zusammenhang mit der historischen Person von Kaiser Wu (156–87 v. Chr.) in Frage. Zhang Xuecheng entfernte sich also auch insofern von der orthodoxen Lehrmeinung, als dass er Wu nicht mehr als jenen „unfehlbaren Herrscher“ – der im 18. Jahrhundert beinahe den Status eines gottähnliches Wesens erlangt hatte – betrachtete, sondern diesen, ähnlich wie Kongzi, nur als einen Menschen aus „Fleisch und Blut“ begriff.

405 Zhang Xuecheng paraphrasiert an dieser Stelle einen Ausschnitt aus der Schrift „Lunwen“ (On Literature) von Zhu Xi. Bei der von Zhang Xuecheng zitierten Textstelle aus dem „Lunwen“ bezog sich Zhu Xi wiederum auf das Klagelied „Lisao“ (Trauer nach der Trennung) des in der “Zeit der Streitenden Reiche“ (475–221 v. Chr.) lebenden Dichters Qu Yuan (340–278 v. Chr.). 406 Zhang Xuecheng, Shih Te (Virtue in an Historian), S. 80–81. 131

4.4. Grenzen der Kritik Das Beispiel im Zusammenhang mit der „Erinnerungskultur“ rund um die historische Person von Sima Qian zeigt uns, dass „Kaozheng-Gelehrte“ wie Zhang Xuecheng, im 18. Jahrhundert durchaus dazu fähig waren, die anerkannten und vom Neokonfuzianismus konstruierten Geschichtsbilder in einer kritischen Art und Weise zu hinterfragen. Gleichzeitig offenbart es uns aber auch die Grenzen der Kritik, die von den „Kaozheng-Gelehrten“ ausging. Denn in all ihren kritischen Äußerungen gegenüber dem „neokonfuzianischen Geschichtsmodell“, dürfen wir nie vergessen, dass es sich bei den „Kaozheng-Gelehrten“ des 18. Jahrhunderts im Grunde immer noch um überzeugte Konfuzianer handelte. Dass Zhang Xuechengs Sichtweise auf die Vergangenheit – vereinfacht gesprochen – zwar nicht mehr die eines neokonfuzianischen Gelehrten, aber immer noch die eines konfuzianischen Gelehrten war.407 Und als überzeugter Konfuzianer stand auch für den, in der Qing-Zeit (1644–1912) lebenden Gelehrten, weiterhin außer Frage, dass man in Hinblick auf die Geschichte beispielsweise den altertümlichen Kaiser Yao (2353–2234 v. Chr.) als „tugendhaft“ und den ebenfalls im Altertum regierenden Kaiser Jie (1728–1675 v. Chr.) als „untugendhaft“ befinden solle, dass man generell die Herrschaftszeiten von „tugendhaften Kaisern“, die sich in der Vergangenheit für die „richtigen Prinzipien“ eingesetzt hatten, im Gegensatz zu jenen Kaisern, die sich in ihren Herrschaftszeiten den „falschen Prinzipien“ zugewandt hatten, in einer positiven Erinnerung behalten müsse;408 und in der gleichen Weise wie die neokonfuzianischen Gelehrten, glaubte auch Zhang Xuecheng weiterhin fest daran, dass sein großes literarisches Vorbild Han Yu (768–824) in einer „schwierigen“ Epoche lebte, da zu dessen Lebzeiten die „buddhistischen“ und „daoistischen“ Lehren erneut „aufgeflammt“ waren.409 Weil sich diese anerkannten Lehrmeinungen in Bezug auf die Geschichte auch für Zhang Xuecheng weiterhin als „glaubwürdig“ erwiesen hatten, gab es für ihn keinen Grund, sie zu revidieren. Der qing-zeitliche Gelehrte ging in diesen, sowie in einer Fülle von weiteren Punkten, mit dem „orthodoxen Geschichtsmodell“ konform, wollte aber eben dennoch in mancherlei anderer Hinsicht nicht mehr an die etablierten Lehrmeinungen des vorherrschenden und durch den Neokonfuzianismus getragenen „Geschichtsmodell“ glauben, wie es uns das oben beschriebene Beispiel im Zusammenhang mit der „Erinnerungskultur“ rund um Sima Qian zeigt.

407 Vgl. Young-tsu Wong, Discovery or Invention. Modern Interpretations of Zhang Xuecheng, in: Historiography East & West 2 (2003), Heft 1, S. 178–203, hier S. 198. 408 Vgl. Demiéville, Chang Hsüeh-Ch’eng and his Historiography, S. 182. 409 Zhang Xuecheng, T’ien Yü (The Analogy of Heaven), S. 65. 132

4.5. Zusammenfassung Abschließend können wir zusammenfassend festhalten, dass der Untergang des Ming-Reiches (1368–1644) im 17. Jahrhundert den „Nährboden“ bereitete, auf dem die „Kaozheng- Gelehrsamkeit“ erblühen konnte. Durch den Zusammenbruch des Ming-Reiches und der damit einhergehenden Abwesenheit eines „staatlichen“ Machtmonopols über mehrere Jahrzehnte bedingt, konnte im chinesischen Kulturraum eine Gelehrtengeneration heranreifen, die den zur Orthodoxie gewordenen Lehrmeinungen des Neokonfuzianismus in vielerlei Hinsicht keinen Glauben mehr schenken wollte. Innerhalb dieser Gelehrtengeneration verloren die vom Neokonfuzianismus propagierten Ansichten an „Zustimmungswerten“, wodurch sich einzelne Gelehrte – wie etwa Zhang Xuecheng – im 18. Jahrhundert vermehrt vom neokonfuzianischen Dogma abzuwenden und eine eigene „Weltanschauung“ zu entwickeln begannen. Eine eigene Sichtweise auf die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, die zumeist durch einen „radikalen Klassizismus“ getragen wurde. Für die „Kaozheng-Gelehrten“ hatte der Neokonfuzianismus seine Stellung als „ewiggültige Lehrrichtung“ verloren; und nur dadurch war es ihnen möglich, die anerkannten Lehrmeinungen im 18. Jahrhundert anzuzweifeln und jenes „neokonfuzianische Geschichtsmodell“, das seit der Song-Zeit (960–1279) zur Norm geworden war, erstmals nach 500 Jahren auf den „Prüfstand“ zu stellen. Ohne die geistige Loslösung von den zur Orthodoxie gewordenen Ansichten des Neokonfuzianismus hätten in Zhang Xuecheng derlei kritische Gedanken, wie er sie sowohl gegen die beiden Hauptströmungen des Neokonfuzianismus wie auch im Hinblick auf die historische Rezeption von Sima Qian (145– 90 v. Chr.) und dem siebten Han-Kaiser Wu (156–87 v. Chr.) äußerte, niemals heranreifen können. Dies muss uns bewusst sein, darf aber letzten Endes dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die „Kaozheng-Gelehrten“, trotz all ihrer Kritik, die sie gegenüber den etablierten Lehrmeinungen äußerten, „objektiv“ betrachtet nur bedingt mit den von der neokonfuzianischen Lehre konstruierten Geschichtsbildern brachen. Zhang Xuecheng (1738–1801), Cui Shu (1740–1816), Tai Zhen (1724–1777) und andere „Kaozheng-Gelehrte“ erdachten die Geschichte im 18. Jahrhundert weder neu, noch gingen sie daran, das „neokonfuzianische Geschichtsmodell“ durch ein gänzlich Neues zu ersetzen. Vielmehr beschränkten sie sich darauf, einige der orthodoxen Ansichten des Neokonfuzianismus im Hinblick auf die Geschichte zu relativieren.

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Oder wie David S. Nivison es in einer kurzen und prägnanten Weise passend beschrieb: „Chang [Xuecheng], like a number of other men in the seventeenth and eighteenth centuries – Ku Yen-wu, Wang Fu-chih, Huang Tsung-hsi, Tai Chen – tried in his own way to break away from the past, to think out new positions, to frame new problems, and to deal with old problems in new ways. And like the others he was ultimately unable to free himself from the bonds of tradition.”410

5. Der Einfluss der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ auf den Gelehrtendiskurs der Qing-Zeit 5.1. Das Verhältnis zwischen der „Kaozheng-Gelehrsamkeit“ und dem Enligthenment Movement“ Nunmehr sollte ersichtlich geworden sein, in welcherlei Hinsicht die „Kaozheng-Gelehrten“ im 18. Jahrhundert die „orthodoxen Geschichtsmodelle“ des Neokonfuzianismus zu hinterfragen versuchten. Was bisher jedoch noch in keinster Weise angesprochen wurde, ist wie groß wir den Einfluss der „Kaozheng-Gelehrten“ denn nun einschätzen müssen. Vermochten die „Kaozheng-Gelehrten“ den Gelehrtendiskurs in China nachhaltig zu verändern oder nicht? Einige namhafte Historiker und Sinologen vertreten bis heute die These, dass die „Kaozheng- Gelehrten“ sich von den konfuzianischen Lehrtraditionen distanzierten und einer „secular academic society“ angehörten. Renommierte Geschichtswissenschaftler wie Benjamin A. Elman sehen in den „Kaozheng-Gelehrten“ Vordenker des „Enligthenment Movements“ und betrachten diese überspitzt gesprochen als „aufrührerische Geister“, die sich beherzt gegen die „staatliche Orthodoxie“ wandten und sich für ein „neues aufgeklärtes China“ einsetzten.411 Sicherlich steht es uns frei, Elman zu folgen – und natürlich können wir Zhang Xuecheng (1738–1801) als eine Persönlichkeit begreifen, die ihrer Zeit weit voraus gewesen ist. Jedoch müssen wir, nachdem wir uns eingehend mit den Schriften des qing-zeitlichen Gelehrten auseinandergesetzt haben, erkennen, dass die „Kaozheng-Gelehrten“ des 18. Jahrhunderts sich zwar durchaus in einer kritischen Art und Weise mit der neokonfuzianischen Lehre auseinandersetzten, doch deren „Ideen“ und „Ideale“ immer noch stark mit der konfuzianischen Lehrtradition verbunden waren.

410 Nivison, The Life and Thought of Chang Hsüeh-ch’eng, S. 296. 411 Siehe hierzu, Benjamin A. Elman. From Philosophy to Philology. Intellectual and Social Aspects of Change in Late Imperial China, Cambridge/London 1984. 134

Die „Kaozheng-Gelehrten“ waren – vereinfacht gesprochen – noch weit davon entfernt, dass man sie zu einer „secular academic society“ hinzuzählen könnte.412 Zumal die erste „aufklärerische Bewegung“ – die wir wirklich als solche bezeichnen können – sich im chinesischen Kulturraum nicht vor Ende des 19. Jahrhunderts formte.413 Erst als westliche „Ideologien“ an der Schwelle zum 20. Jahrhundert ihren Weg nach China gefunden hatten, verlor auch der Neokonfuzianismus seine Deutungshoheit im „Reich der Mitte“. Genauer gesagt, setzte erst nachdem die Qing-Dynastie (1644–1912) im Verlauf des 19. Jahrhunderts den europäischen Mächten in den beiden Opiumkriegen unterlegen und sich seiner militärischen und technologischen Rückständigkeit bewusst geworden war, ein allumfassender kultureller und gesellschaftlicher Wandel ein, der den Niedergang des Neokonfuzianismus in die Wege leiten sollte. Während der sogenannten „Periode der Selbststärkung“ (Ziqiang) von 1861 bis 1898 strebte die Qing-Dynastie eine „Verwestlichung“ auf allen Ebenen an.414 Von der Hoffnung getrieben, mit den Europäern in Zukunft konkurrieren zu können, wurde nach dem zweiten Opiumkrieg von der Qing-Dynastie der Aufbau der Industrie forciert, die kaiserliche Armee mit westlichen Waffen ausgerüstet und Akademien errichtet, die sich sowohl der Erforschung der westlichen Sprache wie auch den westlichen Naturwissenschaften widmeten.415 Die von „höchster Stelle“ angeordnete „Selbststärkung“ konnte – was die Industrialisierung und Modernisierung des Militärapparates betrifft – einige durchaus beachtliche Erfolge verzeichnen, führte jedoch in letzter Konsequenz auch dazu, dass die aus dem „Westen“ kommenden „Weltanschauungen“ einen immer stärkeren Einzug in den chinesischen Gelehrtendiskurs des 19. Jahrhunderts fanden.416 Sowohl der Liberalismus, der Demokratismus, der Nationalismus wie auch eine Reihe anderer „Weltanschauungen“ untergruben die neokonfuzianische Gelehrsamkeit und führten dazu, dass bis dato Unbestreitbares plötzlich bestreitbar wurde, sodass am Ende des 19. Jahrhunderts selbst die

412 Auch Michael Quirin, der sich in mehreren wissenschaftlichen Beiträgen mit dem „Kaozheng-Gelehrten“ Cui Shu (1740-1816) näher auseinandergesetzt hat, kam zu dem Schluss, dass auch Cui Shu noch weit davon entfernt gewesen war, zu einer „secular academic society“ hinzuzugehören. Michael Quirin, Kein Weg außerhalb der Sechs Klassiker - oder doch? Bemerkungen zum Verhältnis von Gelehrter Tätigkeit und persönlicher Wertpraxis bei Cui Shu (1740-1816), in: Monumenta Serica 42 (1994), S. 361–395, hier S. 394. Ebenso zeigt Wolfgang Ommerborn auf, dass auch die Gedankenwelt des „Kaozheng-Gelehrten“ Dai Zhen (1724–1777) noch äußert eng mit der neokonfuzianischen Lehrtradition verbunden war. Wolfgang Ommerborn, Dai Zhens Konzeption des »li li«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 42 (2000), S. 9–53. 413 Jiang, Enlightenment Movement, S. 473. 414 Vogelsang, Geschichte Chinas, S. 461. 415 Chunxiao Jing, Barbaren gegen Barbaren. Die chinesische Selbststärkungsbewegung und das deutsche Rüstungsgeschäft im späten 19. Jahrhundert, Münster/Hamburg/London 2002, S. 28. 416 Einen guten Überblick über die „Periode der Selbststärkung“ und ihre Folgen zu finden in: Fairbank/Goldman, China. A New History, S. 206–234. 135

Kardinaltugenden des Konfuzianismus nicht mehr, wie bisher, als jene immerwährenden „Grundpfeiler“ einer funktionierenden Gesellschaft wahrgenommen wurden, sondern als veraltete und hinderliche Überreste eines überholt gewordenen Moralkodexes, aufgrund dem China hinter den westlichen Mächten zurückgefallen war. „In Western countries, there is nothing that prohibits free speech more than religion. Hence, in Mill’s discussion on the liberty of thought and discussion, most times he takes religion as an example. In China, those moral norms for human relationships function in the same way. As far as those moral norms are concerned, no free discussion can be allowed. Chinese moral norms even do more than Western religions in prohibiting free discussion.”417 Yan Fu (1853–1921) sprach sich in seiner im Jahre 1903 herausgegebenen Schrift „On the Borderline between Society‘s Power and Individuals“418 offen gegen den Neokonfuzianismus aus und erklärte, dass China nur dann in ein „neues Zeitalter“ voranschreiten könnte, wenn es sich dem „alten“, vom Konfuzianismus getragenen, Gedanken- und Wertesystem entledigen würde. In einer ähnlichen Art und Weise wie es der erste Direktor der „Nationalen Peking- Universität“ (Beijing Daxue) tat, fingen im ausgehenden 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr chinesische Gelehrte die neokonfuzianische Lehre in ihren Grundsätzen zu hinterfragen an. Selbstredend lassen sich schon früher „aufklärerische Ideen“ in China nachweisen, doch letzten Endes waren es eben erst Yan Fu (1853–1921) und ähnliche denkende Gelehrte, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts „geistig“ soweit vom Gedanken- und Wertesystem des Neokonfuzianismus losgelöst hatten, dass sie das Studium der kanonischen Schriften als ein nutzloses Unterfangen betrachteten und das Streben danach, ein „Shengren“ zu werden, vollends aufgaben.

5.2. Zusammenfassung Die Kardinaltugenden des Konfuzianismus als einen veralteten Moralkodex anzusehen, sich von den altehrwürdigen Kulturheroen des Altertums, vom Fürsten von Zhou (um 1050 v. Chr.), König Wen (1112–1050 v. Chr.) und Wu (†1043 v. Chr.) oder Kongzi abzuwenden oder sich von den Weisheiten, die in den kanonischen Werken des Konfuzianismus

417 Yan Fu, On the Borderline between Society‘s Power and Individuals’ Power. 1:134, zitiert nach Xinyan Jiang, Enlightenment Movement, in: History of Chinese Philosophy, hrsg. v. Bo Mou (Routledge History of World Philosophies 3), New York 2009, S. 473–511, hier S. 479. 418 Bei Yan Fus „On the Borderline between Society‘s Power and Individuals’ Power” handelt es sich um eine kommentierte Übersetzung von John Stuart Mills (1806–1873) im Jahre 1859 erschienen Abhandlung mit dem Titel „On Liberty“. 136 niedergeschrieben waren, zu distanzieren – von solcherlei Überlegungen waren Zhang Xuecheng und die „Kaozheng-Gelehrten“ im 18. Jahrhundert „weit“ entfernt.419 Und dennoch waren deren Ansichten noch zu „radikal“ für ihre Zeitgenossen. Was wiederum maßgeblich daran lag, dass auch während der Qing-Zeit (1644–1912) der Neokonfuzianismus in der Auslegung von Zhu Xi (1130–1200) weiterhin die „Staatsideologie“ im „Reich der Mitte“ blieb; jene im chinesischen Kulturraum vorherrschende „Weltanschauung“, die darüber bestimmte, wie das gesellschaftliche Zusammenleben geregelt, welche Texte, Ideen und Ideale in den Akademien gelehrt und natürlich auch darüber gebot, wie Geschichte geschrieben und gedacht wurde. „Kaozheng-Gelehrte“ wie Zhang Xuecheng (1738–1801) Cui Shu (1740–1816) oder Dai Zhen (1724–1777) wurden, wenn sie sich nicht allzu kritisch gegenüber den „etablierten Ansichten“ des Neokonfuzianismus äußerten, zwar von der Qing- Dynastie geduldet, aber Anerkennung fanden sie unter ihren Zeitgenossen keine. Und daher müssen wir, wenn wir unverblümt in die Vergangenheit zurückblicken, erkennen, dass die „Kaozheng-Gelehrten“ im 18. Jahrhundert nur einen verschwindend geringen Einfluss auf den Gelehrtendiskurs ihrer Zeit ausübten. Schlichtweg übten sie sogar einen derart geringen Einfluss aus, dass wir von Glück sprechen können, dass uns deren Schriften überhaupt überliefert wurden. Zhang Xuecheng ließ noch vor seinem Tode persönlich etliche Kopien seiner Schriften anfertigen. Doch obwohl er dies tat, gerieten seine Werke über einen langen Zeitraum in Vergessenheit. Genauer gesagt, sollte es mehr als 200 Jahre dauern420, bis sich nicht – wie man vielleicht annehmen würde – ein chinesischer Historiker, sondern ein japanischer Sinologe, seiner Schriften annahm. Am Beginn des 20. Jahrhunderts erkannte Naito Torajiro (1866–1934) die Eigentümlichkeit von Zhang Xuecheng und publizierte noch im Jahre 1920 eine erste, im traditionellen Stil gehaltene, „chronologische Biografie“ (nianpu) über die Werke des qing-zeitlichen Gelehrten. Erst nachdem sich der japanische Sinologe Zhang Xuecheng gewidmet hatte, wurden auch chinesische Historiker auf ihn aufmerksam.421 Vor allem Hu Shi (1891–1962) – der mehrere Schriften über Zhang Xuecheng verfasste – ist es zu verdanken, dass Zhang Xuecheng heute auch unter chinesischen Historikern kein Unbekannter mehr ist.422 Alleine schon daran, dass Zhang Xuecheng in China in völlige

419 Vgl. Wong, Discovery or Invention, S. 185–187. 420 Nivison, The Life and Thought of Chang Hsüeh-ch’eng, S. 273. 421 Einen erhellenden und durchaus kritischen Blick auf die Rezeptionsgeschichte von Zhang Xuecheng wirft Young-tsu Wong in seinem Artikel „Discovery or Invention. Modern Interpretations of Zhang Xuecheng“, S. 181–187. 422 Philip J. Ivanhoe, On Ethics and History. Essays and Letters of Zhang Xuecheng, translated and with an Indroduction by Philip J. Ivanhoe, Stanford 2010, S. 2. 137

Vergessenheit geriet und erst von einem japanischen Sinologen wiederentdeckt werden musste, können wir erkennen, wie gering der Einfluss der „Kaozheng-Gelehrten“ in China eigentlich gewesen war.423 Letzten Endes überwand der Neokonfuzianismus seine „geistige Krise“ im 17. und 18. Jahrhundert und vermochte bis ins 20. Jahrhundert seine Deutungshoheit zu wahren. Und mit dem Neokonfuzianismus blieben auch die vom Neokonfuzianismus konstruierten Geschichtsbilder bestehen. Erst als der Neokonfuzianismus am Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker an „Zustimmungswerten“ vonseiten der „elitären Schichten“ und der Gelehrtenwelt verlor, konnte eine Neuinterpretation der Geschichte einsetzen. Die aus der westlichen Welt eingesickerten „Weltanschauungen“, wie beispielsweise der Nationalismus und in späterer Folge natürlich auch der Kommunismus, interpretierten die Geschichte neu und erschufen, genauso wie es einst die song-zeitlichen Neokonfuzianer im 11. Jahrhundert getan hatten, ihrerseits wiederum historische Wesenszusammenhänge, Kontinuitätslinien und „Fakten“, die allemal – wie die Geschichte beweist – das Zeug dazu hatten, zu historischen „Wahrheiten“ heranreifen zu können.

5.3. Schluss Als der Neokonfuzianismus im Verlauf des 20. Jahrhunderts voll und ganz seine gesellschaftliche Relevanz innerhalb des chinesischen Kulturraums verlor, sah dies der Großteil der chinesischen Gelehrtenschaft als eine Wohltat an. Doch natürlich glaubten nicht alle daran, dass die chinesische Gesellschaft durch das Abstreifen der alten „Normen“ und „Regeln“ des Neokonfuzianismus in ein „Goldenes Zeitalter“ voranschreiten würde. Und mancherlei Gelehrter kam nur schwerlich damit zurecht, dass sich China in nur kürzester Zeit von seinen geistigen Wurzeln zu befreien begann. So auch Gu Hongming (1857–1928), ein – wie Günther Debon ihn bezeichnete – „Konfuzianer nobelster Ausprägung“, der in seiner Schrift „Vox clamantis“ im Jahre 1921 einen letzten verklärenden Blick auf eine Kultur warf, deren Niedergang auch er nicht in der Lage war, aufzuhalten.424

423 Nicht nur Zhang Xuecheng geriet in Vergessenheit. Auch der „Kaozheng-Gelehrte“ Cui Shu erlangte seine heutige Bekanntheit erst im 20. Jahrhundert. Einen guten Überblick zur Rezeptionsgeschichte von Cui Shu bietet der schon ältere Beitrag von Joshua A. Fogel, On the Rediscovery of the Chinese Past. Cui Shu and Related Cases, in: Perspectives on a Changing China. Essays in Honor of Professor C. Martin Wilbur On the Occasion of His Retirement, hrsg. v. Joshua A. Fogel/William T. Rowe, Boulder 1979, S. 219–235. Ebenso wurden auch die kritischen Impulse, welche der „Kaozheng-Gelehrte“ Dai Zhen in mehreren seiner Schriften gegenüber der neokonfuzianischen Orthodoxie hervorbrachte, erst am Beginn des 20. Jahrhunderts populär. Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 307–308. 424 Debon, Chinesische Geisteswel, S. 291. 138

„Es besteht ein grosser, grundlegender Unterschied zwischen der chinesischen Zivilisation und der des modernen Europa. Ein berühmter Kunstkritiker, Herr Bernhard Berenson, sagt in einem Vergleich europäischer mit orientalischer Kunst: ‚Unsere europäische Kunst hat die verhängnisvolle Neigung, Wissenschaft zu werden, und wir besitzen kaum ein Meisterwerk, das nicht die Spuren davon trägt, ein Schlachtfeld geteilter Interessen gewesen zu sein.‘ Auch die europäische Zivilisation ist ein Schlachtfeld von geteilter Interessen, eine fortgesetzte Kriegsführung der geteilten Interessen von Wissenschaft und Kunst einerseits und Religion und Philosophie andererseits, wobei Kopf und Herz, Seele und Verstand in beständigen Widerstreit kommen. In den letzten 2500 Jahren der chinesischen Zivilisation finden wir keinen solchen Widerstreit zwischen Kopf und Herz. Das ist der grosse[!], grundlegende Unterschied zwischen der chinesischen Zivilisation und der des modernen Europas. Die Völker des modernen Europa haben eine Religion, die ihr Herz befriedigt, aber nicht ihren Kopf, und eine Philosophie, die ihren Kopf befriedigt, aber nicht ihr Herz. Wie steht es nun in China? Manche Leute behaupten, die Chinesen besässen keine Religion. Es ist sicher, dass in China sich sogar die Masse des Volkes nicht ernstlich an die Religion hält, ich meine Religion im europäischen Sinne des Worts. Die Tempel, Bräuche und Formen des Daoismus und Buddhismus sind mehr Gegenstand der Erholung als der Erbauung, sie ergreifen sozusagen den ästhetischen Sinn mehr als den moralischen oder religiösen, sie wenden sich mehr an die Einbildungskraft als an das Herz oder die Seele. Aber anstatt zu sagen, dass die Chinesen keine Religion haben, wäre es richtiger zu sagen, dass sie keine Religion brauchen, kein Bedürfnis danach fühlen […]. Die Wahrheit der Sache ist, dass das chinesische Volk im Konfuzianismus ein System der Philosophie und Ethik, eine Synthese der menschlichen Gesellschaft und Zivilisation besitzt, die die Stelle der Religion einnehmen kann. Manche sagen, der Konfuzianismus sei keine Religion, und er ist es auch nicht im europäischen Sinn des Wortes; aber darin, sage ich, liegt gerade seine Grösse, dass er keine Religion ist und doch die Stelle der Religion einnehmen kann, dass er die Menschen ohne Religion auszukommen lehrt.“425

425 Gu Hongming, Vox clamantis. Betrachtungen über den Krieg und anderes, übersetzt von Günther Debon, in: Günther Debon, Chinesische Geisteswelt, S. 298–299. 139

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