Bitter Moon von : honny soit qui mal y voit

Autor(en): Sennhauser, Michael

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Filmbulletin : Zeitschrift für Film und Kino

Band (Jahr): 34 (1992)

Heft 185

PDF erstellt am: 03.10.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-867389

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http://www.e-periodica.ch BITTER MOON von Roman Polanski Hoiiii v soit qui mal voit

Hitchcocks voyeuristisch zugespitzter spann und Eröffnungseinstellung seines Das Depressive des Bildes wird Blick zu Beginn von PSYCHO, die neuen Films BITTER MOON werden konterkariert (und unterstrichen) durch blickfeldverengende Kamerafahrt über in einfachster Bösartigkeit zum jene Bewegung, welche Alex in die Dächer der Stadt bis ins Zimmer Programm: Der Kamerablick auf die Kubricks A CLOCKWORK ORANGE des Liebespaars hinein, hat so penetrant bleischwere Grauheit eines Ozeans treffend als "the old in-out" bezeichnete. Schule gemacht, dass selbst der verengt sich in einer Rückwärtsbewegung, Polanski ist mit diesem Film beliebte Helikopteranflug auf Manhattan bis das Bullauge des Schiffs dem Alex wohl näher gekommen als nur noch als Eröffnungsroutine einen ironischen Rahmen für die mit all seinen früheren, stets eher erlebt werden kann. Titelschrift abgibt, und weitet sich gleich bösartigen Werken. Würde es jemandem gelingen, Funktion darauf wieder aus. BITTER MOON vollzieht über die und Metaphorik einer solchen gesamte Länge des Films genau diesen Eröffnungsbewegung auf das abstrakte Akt des "in-out", die Kamera schaut Minimum zu reduzieren, ohne dabei hin und zieht sich zurück, die auf ein langweiliges Bild zu stossen, Protagonisten geben sich hin und verweigern müsste ihm das Gelächter und die sich, die Perspektive wird mit Dankbarkeit seines Publikums eigentlich hämischer Systematik immer wieder gewiss sein. gewendet wie ein alter Handschuh (sie ist ein alter Handschuh - in erfahrenen Händen). Das ist alles Eindringen und Ausfahren ausgesprochen komisch, es sei denn, es wäre peinlich. Roman Polanski hat die Virtuosität Die Krux und der Witz des Films und die Hinterhältigkeit; Titelvor¬ liegen genau in dieser Gratwanderung:

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Wer bereit ist, den zynischsten aller der Bus drapiert mit einer Reklame für keit und erregt von der gesteigerten Blicke zu wählen, dem wird das Telefonsex («ULLA - Honny soit qui erotischen Ausstrahlung, welche grösste Vergnügen geboten. Wer sich mal y pense»), die zum Mimi-Leitmo- Mimi durch die Erzählung bekommt. allerdings auf den Schauwert der tiv in den Pariser Strassen wird. Bilder versteift, wird - nicht zu unrecht - Viel später wird der verwirrt-verliebte Mit jeder weiteren Rate, welche Oscar dauernd betrogen. Engländer Nigel herausfinden, dass dem widerwillig faszinierten Engländer seine französische Sex-Göttin Mimi in im Verlaufe der nächsten Tage der Schiffskabine "DS 1" nächtigt. erzählt, wechseln dessen Gefühle Vierer mit Steuermann Und noch etwas später, beim Auftakt gegenüber Oscar und Mimi. Entbrennt zum Finale, beim Tanz in der er nach der ersten Erzählung schon in Auf dem durch den Bullaugenblick Sylvesternacht, wenn Nigel seine Liebeserklärung Leidenschaft, entsetzt ihn dann das spezifizierten Schiff treffen sich zwei stammelt, lacht Mimi: «Corne Sado-Maso-Kapitel der zweiten Rate Paare. Nigel und Fiona sind ein on - I am just a fantasy!» über Gebühr. Nur über Mimis erotische englisches Ehepaar auf einer Ehekrise- Faszination bringen ihn die beiden Rettungsreise. Der an den Rollstuhl dazu, sich weitere Teile der gebundene Amerikaner Oscar und Kalte Fiisse - heisser Kopf Geschichte anzuhören. Die dritte Rate seine französische Ehefrau Mimi sind bringt eine erste Klimax. Nachdem zunächst einmal vor allem eigenartig. Dazwischen liegt aber eine wahre ihm Oscar erzählt hat, wie er die ihm Sie gibt sich faszinierend schön und Kneipp-Kur für Nigel und das Publikum. hörige Mimi nach dem Niedergang provozierend geheimnisvoll, er lässt Oscar erzählt nämlich seine der Beziehung sadistisch quälte, zu Zynismen regnen. Geschichte von Liebe, Leidenschaft und einer Abtreibung zwang und sie Mimi provoziert den dümmlich-steifen Perversion in fünf Teilen, unterbrochen schliesslich auf einem Flug in die Nigel an der Schiffsbar und lässt ihn von Szenen auf dem Kreuzfahrtschiff. Karibik sitzen liess, ist Nigel überzeugt, dann knallhart abblitzen. Und während Damit bekommt der Begriff zum Ritter dieser geschundenen Frau der Ärmste sich an der frischen "Binnenhandlung" die gleiche eindeutig auserkoren zu sein. Luft von der Demütigung zu erholen zweideutige Bedeutung wie der Seltsamerweise fragt er, im Gegensatz sucht, gerät er in die Fänge der ganze Film. Wenn der gelähmte Oscar zum Kinopublikum, zu diesem zweirädrigen Giftspritze Oscar. Oscar dem staunenden Nigel von den Zeitpunkt nicht danach, warum der eröffnet dem überrumpelten Engländer, ersten Leidenschaften zwischen sich bittere Oscar ihm die ganze dass er sehr wohl wisse, dass dieser und der französischen Kindfrau Geschichte vom Rollstuhl aus erzähle. von Mimi überaus angetan sei - alle erzählt, ist der Engländer zugleich Für die Zuschauer hingegen ist diese Männer seien es. Und indem er den schockiert über Oscars Schamlosig¬ Frage längst zum letzten Motor Gedanken an Mimi als Köder benutzt, geworden. lockt er den linkischen Engländer in Die ersten Szenen der Verliebtheit seine Kabine, um ihm dort den ersten und der Leidenschaft waren Teil der Liebesgeschichte von Mimi unterhaltsam durch ihre Schamlosigkeit. und Oscar zu erzählen. Wenn eine ohnehin schon überdrehte Die Kamera schwenkt auf die Fellatio-Szene ihren Höhepunkt darin Kabinenwand, Polanski überblendet nach findet, dass der Toaster seinen Inhalt Paris. Damit beginnt die Geschichte in die Höhe springen lässt, dann kann einer Leidenschaft, erzählt aus dem man sich nur entweder über die Off von Oscar und in den ausgewählt Abgegriffenheit des Bildes ärgern oder zudringlichen Bildern von Roman sich über seinen Grenzwert freuen. Polanski. Schon die Überblendung ist Andere dieser Sequenzen steigert von einem komischen Pathos Polanski gar zur Uber-Pose. Amerikanischer geprägt. Kinotradition folgend, erkunden Auf der Kabinenwand erscheint das die Verliebten zusammen die Gesicht von Polanskis Ehefrau Freuden des Rummelplatzes, er (ihr stets leicht schiesst ihr einen Schiessbudenbä- aufgesetztes Kindfrau-Gehabe hat ren, dann fahren sie Kettenkarussell, schon vor vier Jahren zu gleichen Teilen und im Schwung der riesigen Umdrehung das Publikum und den Hauptdarsteller finden sich ihre ausgestreckten Harrison Ford in Polanskis Zeigefinger zur sixtinischen Vereinigung. FRANTIC irritiert). Dazu evoziert Peter Auch da bleibt nur Würgen Coyotes Stimme die Romantik und oder Lachen - und Polanski ist sich das Elend des amerikanischen dessen überaus bewusst. Romanciers in Paris, von Hemingway bis Aber bei den folgenden Szenen des Miller, und Polanski buttert Bilder und "Niedergangs", des Sadismus, der Symbole nach. gegenseitigen Quälerei, bei den ironisch gebrochenen Latex-Sado-Per- versionen tut er sich schwer. Den Auftakt Wörtlichkeiten im Bild dazu belässt er in Oscars Erzählung, und dafür sind wir ihm Die Buslinie, auf welcher der leicht auch dankbar. Aber später muss er ja verlebte Amerikaner seine Kücken- doch zeigen, wie Oscar die arme Göttin zuerst findet und dann Mimi plagt, und wie sie leidet, und da leidenschaftlich sucht, ist natürlich Nummer glaubt man schon nur noch die Hälfte. 96. Und als ob das nicht genügte, ist

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Und als Mimi dann aus der Südsee tigung und Sadismus dominieren. Da zurückkehrt, sich als Rachegöttin zu wirkt die Komik nicht mehr befreiend, Oscars Nemesis macht, ihm im sondern eher peinlich. Spitalbett in einer Echoszene zum Karussell Aber BITTER MOON überrascht auch das Rückgrat bricht und sich mit ein paar meisterlichen Wendungen, fortan als des Krüppels satanische mit Subtilitäten, welche im dick Pflegerin gebärdet, da funktioniert aufgetragenen Drama fast verschenkt schon gar nichts mehr. All diese erscheinen. Da ist etwa die Szene auf Bosheiten sind eben auch nur "camp", dem Kettenkarussell, welche trotz die Sadismen kommen wie die unausweichlichem Aha-Effekt eine echte Brotscheiben aus dem Toaster gehüpft. Rührung verursacht. Da ist der traumverlorene Liebestanz der beiden Frauen, welcher ebenfalls das Lachen Aber er kommt zu einem für Sekunden verbietet. Ende Arn allerschönsten aber wirkt ein simpler Zwischenschnitt auf das vom Da hätte nun der Film seine letzte Schiff aufgewühlte Kielwasser: Die Triebfeder verloren; das Geheimnis Augen mögen täuschen - aber diese um Oscars Gelähmtheit ist gelüftet. Strömung, die fliesst doch in die Aber jetzt gelingt Polanski das falsche Richtung? Und schon holt einen Unerwartete: Nach all den Geschichten der Strudel des Films wieder in die kommt überraschend ein stimmiges nächste Untiefe. Finale auf dem Schiff. «I deserve your hatred, I'm abominable!» Die Sylvesterballnacht führt alle giftelt Oscar grinsend aus Protagonisten zusammen, Oscar (gerade in solchen Szenen geht der seinem Rollstuhl zum langweiligen Nigel beobachtet mit boshafter Freude, wie Mimi Regisseur eher subtil mit seinem hinauf. Da hat er natürlich völlig recht Nigel abblitzen lässt und sich dessen Material um), sondern über die schlüpfrige - hat er nicht? Frau Fiona unter die lackierten Nägel Ironie. Es ist ja keineswegs reisst. Der erotische Tanz der beiden unangemessen, ein Bild wie den Michael Sennhauser von den Männern verratenen Frauen Orgasmus-Toaster einfach als unerträglich entwickelt noch einmal eine erstaunliche abgegriffen zu empfinden. Erst wenn Kraft aus dem kinomässig sich die Bereitschaft zum komplizen- abgegriffenen Lesbenklischee. Plötzlich haften Zynismus einstellt, entsteht ein gehört alle Unschuld den Frauen, aller dekadentes Derivat aus Spass und Ekel den Männern, und folgerichtig Häme. tötet denn auch Oscar seine Mimi, wie ein Verrückter im Louvre ein Bild zerstören würde: Was tun die da, Mama? Die wichtigsten Daten zu BITTER MOON: Nigel kommt auf der Suche nach Fiona Regie: Roman Polanski; Buch: Roman in Mimis Kabine. Dort sitzt bereits Dass die Darstellung des Polanski, Gérard Brach, , nach dem Roman «Lunes de Fiel» von Pascal Oscar und schaut sinnierend auf das Geschlechtsaktes und seiner Peripherie Bruckner; Kamera: Tonino Delli Colli, Bild der beiden nebeneinander auf der Leinwand grundsätzlich A.I.C.; Schnitt: Hervé de Luze; Produktions schlafenden nackten Frauen im Bett. komisch oder abstossend wirken muss, Design: Willy Holt, Gérard Viard; Kostüme: Einigermassen überraschend erschiesst ist eine alte Kinoerkenntnis, und die Jackie Budin; Choreographie: Redha; Musik: er die schlafende Mimi und gleich unzähligen Versuche, diese Klippen ; Ton: Daniel Brisseau. darauf sich selbst. zu umschiffen, wären eine eigene Darsteller (Rolle): Emmanuelle Seigner Peter Bereichert um ein paar bewusstseins- Untersuchung wert. Wenn Polanski also (Mimi), Coyote (Oscar), (Nigel), Kristin Scott Thomas Victor erweiternde Erinnerungen kehren Fiona auf die Komik setzt und diese mit (Fiona), Banerjee (Mr. Singh), Sophie Patel (Amrita), und in die Sicherheit der einer übersteigert, Nigel gewissen Bösartigkeit Patrick Albenque (Steward), Leo Eckmann, täglichen Die ihm Langeweile zurück. dann darf man dabei die Smilja Mihailovitch (Bridge Spieler), Luca Kreuz-Fahrt hat sich wohl gelohnt. kinematographische Souveränität Vellani (Dado), Richard Dieux (Partygänger), nicht absprechen. Danny Garcy (Bandleader), Daniel Dhubert In Frankreich (wo allerdings die Ins Schlingern gerät er mit dem (Bus-Kontrolleur), Nathalie Galan (Mädchen französische Synchronfassung sich Verfahren allerdings, wo die Leidenschaft aus Boutique), Eric Gonzales (Koch), Jim- zusätzlich schwer tat mit den ironischen in Grausamkeit umschlägt, wo Demü¬ Adhi Limas (Arzt), Boris Bergman (Oscars Olivia Zwischentönen) hat das Publikum Freund), Brunaux (Cindy), Heavon Grant (Basil), Shannon (Hausfrau), teilweise mit auf Polans- Finnegan Verärgerung Ciaire Lopez (Model), Frederique Lopez kis Film reagiert. Das ist verständlich (Brünette), Charlene (Prostituierte), Geoffrey und wird noch verständlicher, wenn Carey (Nachbar mit Hund), Robert Benmus- Polanski (in einem Interview mit Zoe sa (Steward), Yse Marguerite Tran (Eurasierin), Heller, Review-Section, «The Claude Bonnet (Bürgermeister). Independent» vom 4. Oktober 92) die Stirn Produktion: R.P. Productions, Timothy Bur- hat, zu behaupten, es sei wohl vor rill Productions in Zusammenarbeit mit Les Films Alain Sarde und Canal Plus. Produzent: allem die Darstellung tabubrechender Roman Polanski; ausführender Produzent: welche das Publikum Leidenschaft, Robert Benmussa. Frankreich, verunsichere. Grossbritannien 1992. Farbe, Dauer: 139 Min. Verärgerung entsteht in diesem Fall CH-Verleih: Monopole Pathé Films, Zürich; kaum über die primäre Provokation D-Verleih: Scotia, München.

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