MARIA MOOG-GRÜNEWALD ‚Der Dichter hört im Sehen‘: Paul Claudel und

Am Sonntag, dem 11. Juni 1939, gegen 15:30 Uhr, ereignet sich im Musée du ein in jeder Hinsicht spektakulärer Diebstahl: Aus der Abteilung „Französische Gemälde des 18. Jahrhunderts“1 wird ein kleinformatiges Bild – 25,5 cm hoch, 18,7 cm breit, 3 mm dick, Öl auf Eichenholz, parkettiert – ent- wendet; Antoine Watteau ist der Maler, und dargestellt ist – um es zunächst in dürren Worten zu sagen – ein junger Mann in einer lichten Landschaft; das Bild trägt den Titel L’Indifférent; man datiert es auf das Jahr 1717. Spektaku- lär war der Diebstahl nicht allein deswegen, weil Diebstähle aus dem Louvre eher selten sind2 und daher stets großes Aufsehen erregen; spektakulär war der Diebstahl, weil der Dieb, der junge Zeichner Serge Claude Bogousslavsky, Beute zwei Monate später wieder zurückbrachte: ans Gericht und in Anwesenheit der Presse, die er selbst vorab informiert hatte. Seine Erklärung ist ebenso einfach wie außergewöhnlich: Er habe das Gemälde restaurieren, in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen wollen, „effaçant le diabolo qu’il affirme n’avoir pas été peint par Watteau“3. Und: „[…] j’ai acquis la cer- titude que L’Indifférent avait été retouché d’une manière scandaleuse … J’ai donc décidé de m’approprier L’Indifférent et de le remettre dans son état pri- mitif.“4 Nun könnte man den Vorfall unter der Rubrik ‚fait divers‘ verbuchen und ihn auf sich beruhen lassen. Doch er hatte Folgen, für Kunst und Literatur. Mit Datum vom 18. Dezember 1939 verfasste Paul Claudel einen kleinen Text – sein Gegenstand oder sollte man sagen: sein Thema war eben jenes kleine Gemälde Watteaus:

 1 Genauer: aus dem der Flora (damals Schlichtingsaal genannt). 2 Es war seit 28 Jahren der erste: 1911 wurde die gestohlen – Picasso und Apolli- naire wurden verdächtigt! Doch dies ist Teil der Geschichte der Gioconda. 3 Diese und die weiteren Informationen entnehme ich dem vorzüglichen Katalog Watteau 1684 – 1721. Wiss. Erarbeitung von Margaret Morgan Grasselli und mit Unter- stützung von Nicole Parmantier, : Nicolai 1985, hier: S. 391 (der Katalog begleitete die Ausstellungen in der of , Washington, 17. Juni – 23. September 1984; in den Galeries nationales du , , 23. Oktober 1984 – 28. Januar 1985; im , Berlin, 23. Februar – 27. Mai 1985). 4 Ibid. – Hier auch weitere Einzelheiten zu Diebstahl, Dieb und Strafe; zum konservatorischen Zustand des Gemäldes vor und nach der ‚Restaurierung‘ durch Bogousslavsky siehe insbesondere Watteau – Catalogue raisonné publié sous la direction de Jean Ferré, Bd. I: Cri- tiques. L’œuvre de Watteau par Saint-Paulien, Madrid: Athéna 1972, S. 158-162. Für unsere weiteren Überlegungen sind diese Einzelheiten nicht von Belang. 260 MARIA MOOG-GRÜNEWALD

Watteau L’Indifférent Non, non ce n’est pas qu’il soit indifférent, ce messager de nacre, cet avant- courrier de l’Aurore, disons plutôt qu’il balance entre l’essor et la marche, et ce n’est pas que déjà il danse, mais l’un de ses bras étendu et l’autre avec ampleur déployant l’aile lyrique, il suspend un équilibre dont le poids, plus qu’à demi conjuré, ne forme que le moindre élément. Il est en position de départ et d’entrée, il écoute, il attend le moment juste, il le cherche dans nos yeux, de la pointe frémissante de ses doigts, à l’extrémité de ce bras étendu il compte, et l’autre bras volatil avec l’ample cape se prépare à seconder le jarret. Moitié faon et moitié oiseau, moitié sensibilité et moitié discours, moitié aplomb et moitié déjà la détente! sylphe, prestige, et la plume vertigineuse qui se prépare au para- graphe! L’archet a déjà commencé cette longue tenue sur la corde, et toute la rai- son d’être du personnage est dans l’élan mesuré qu’il se prépare à prendre, effa- cé, anéanti dans son propre tourbillon. Ainsi le poète ambigu, inventeur de sa propre prosodie, dont on ne sait s’il vole ou s’il marche, son pied, ou cette aile quand il le veut déployée, à aucun élément étranger, que ce soit la terre, ou l’air, ou le feu, ou cette eau pour y nager que l’on appelle éther! Paris, le 18 décembre 1939.5 Die öffentliche Aufmerksamkeit, die das gestohlene und restituierte Gemälde erregte, war nurmehr Anlass, nicht Grund dieses poème en prose. Claudel hat sich zeitlebens intensiv mit den Bildenden Künsten auseinandergesetzt, ein großer Teil Œuvre reiht sich ein in die französische Tradition der Kunstkritik.6 Indes sind deren Motivation und die Weisen des Ausdrucks durchaus verschieden: Die Beschreibung, descriptio, intendiert, dem Bild zu dienen, von ihm eine möglichst genaue Darstellung zu geben und damit Vor- stellung zu vermitteln – ohne jeden poetischen Anspruch. Die Ekphrasis sucht, sprachlich-rhetorisch mit dem Bild zu wetteifern, es hinter der Anschaulich- keit des Textes selbst zum Verschwinden zu bringen, ja sich an dessen Stelle zu setzen. Die poésie critique schließlich geht mit dem Kunstwerk eine eigen- artige Beziehung ein: Sie ist weder deskriptiv noch ekphrastisch, vielmehr hermeneutisch. Der Text tritt mit dem Kunstwerk in einen ‚Dialog‘, in dessen Verlauf es zur ‚wechselseitigen Erhellung‘7 kommt: Das Kunstwerk erhält  5 Paul Claudel: „WATTEAU – L’Indifférent“, in: id.: Œuvres en prose. Préface par Gaëtan Pi- con, textes établis et annotés par Jacques Petit et Charles Galpérine, Paris: Gallimard 1965 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 241. 6 Der kleine Text zu Watteaus L’Indifférent ist Teil der Sammlung L’Œil écoute, Abhandlungen zur Kunst und Kunstkritiken. Zur Bedeutung der europäischen Malerei für das Werk Claudels siehe die umfängliche Studie von Emmanuelle Kaës: „Cette muse silencieuse et immobile…“ – Claudel et la peinture européenne, Paris: Champion 1999, sowie die vornehmlich auf die Interpretation von L’Œil écoute konzentrierte Arbeit von Marie-Thérèse Killiam: The Art Criticism of Paul Claudel, New York/Bern/Frankfurt am Main/Paris: Lang 1990 (= American University Studies. Series XX, Fine ; vol 11). 7 Dieser Begriff scheint auf Oskar Walzels Wechselseitige Erhellung der Künste (1917) anzuspielen; doch während Walzel mit Begriff und Sache ganz allgemein einen interdisziplinären Ansatz in den Geisteswissenschaften anzuregen suchte, gebrauchen wir den 