ISSN 0948–2407 | 67485 | 2,00 Euro DISPUT Januar 2012

Raus aus der Krise – gerecht, demokratisch und europäisch! Landesverband Sachsen: Futter für die Köpfe! Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalen: Realistisch gegen Kapitalismus Zu Besuch bei Freunden: Erfahrungen in Brasilien, Uruguay und Argentinien Braune Wurzeln – faule Früchte: Zum staatsoffi ziellen Umgang mit der NS-Vergangenheit

Kulturvoll und kämpferisch: DIE LINKE startet ins neue Jahr. Siehe Seiten 4, 6, 10 und 17. © Erich Wehnert 4 PARTEI 3 4 PRESSEDIENST Der politische Jahresauftakt 3 5 DEMNÄCHST 6 GEDENKEN 3 6 GESCHICHTE Bei Rosa und Karl Die Wannsee-Konferenz 7 PARTEI 3 7 ZEITGESCHICHTE Werner Dreibus: Zur strategischen Jan Korte: Braune Wurzeln – faule Ausrichtung Früchte ZITAT 8 PARTEI 3 8 UMWELT Claudia Gohde: Was tun, damit Zur alternativen Klimakonferenz in DIE LINKE bleibt und wirkt? Durban Der Winter ist keine Jahreszeit, sondern eine Aufgabe. 1 0 WIDERSTAND 3 9 LATEINAMERIKA Sinclair Lewis (1885–1951) Gegen Bankenmacht »Unser Amerika« und DIE LINKE 1 2 LANDESVERBAND 4 0 ANTIFASCHISMUS Rico Gebhardt und Stefan Vor 70 Jahren wurde die Bewegung Hartmann (Sachsen): Futter für die Freies Deutschland in Mexiko Köpfe! gegründet 1 4 DAS GESPRÄCH 4 2 RECHTSEXTREMISMUS Ruth Fritzsche, die gute Seele in Horst Helas: Eine Wortmeldung Freiberg © Jakob Huber Jakob © zum Begriff 1 7 KULTUR 4 4 GESCHICHTE Fest der Musik Abel gegen Powers 1 8 PORTRÄT 4 5 SACHBUCH Aus Wut wurde Mut: Elke Bauer »China – Zwischen Tradition und (Ludwigshafen) Herausforderung« (Henry Kissinger) 2 0 FRAKTION 4 6 BÜCHER Bärbel Beuermann, Wolfgang Zimmermann (Nordrhein- 4 7 JANUARKOLUMNE Westfalen): Realistisch gegen 4 8 SEITE ACHTUNDVIERZIG Kapitalismus 2 2 PROGRAMM Warum dieses Foto DISPUT zu einer Mitgliederentscheid mit klarem ungewöhnlich aktiven Genossin Votum führte. Seite 14 2 3 FEUILLETON 2 4 ÖKOLOGIE

Eva Bulling-Schröter: UN-Klima- © DIE LINKE.Sachsen prozess gescheitert 2 5 ANTIFASCHISMUS Petra Pau: Grundsätzliche Probleme im Kampf gegen Rechts- extremismus 2 6 BRIEFE 2 8 PARTEI ZAHL DES MONATS Gelebte Geradlinigkeit: Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer 22,8 2 9 NACHBELICHTET 3 0 INTERNATIONAL In Deutschland erhielten 22,8 Prozent der Zu Besuch bei Freunden: Vollzeitbeschäftigten im Jahr 2010 einen Klaus Ernst in Brasilien, Uruguay Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle und Argentinien von 1.802 Euro. In Ostdeutschland waren das laut Bundesagentur für Arbeit rund 3 2 ZEITGESCHICHTE 40 Prozent, im Westen knapp 19 Prozent Wolfgang Gehrcke: 40 Jahre Konsequent gegen Nazis. Der Landes- der Vollzeitbeschäftigten. Berufsverbote verband Sachsen. Seite 12

IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monat ich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH, Weydingerstraße 14 – 16, 10178 VERÖFFENTLICHUNG gem. § 7A Berliner Pressegesetz Gesellschafter der NDZ GmbH: Föderative Verlags-, Consu ting- und Handelsgesellschaft mbH – FEVAC –, Gesellschafter der FEVAC GmbH: Uwe Hobler, Diplom-Agraringenieur, Ber in (40 Prozent), Dr. Ruth Kampa, Rechtsanwältin, Ber in (30 Prozent), Joachim Philipp, Rechtsanwa t, Ber in (30 Prozent) REDAKTION Stefan Richter, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: (030) 24 00 95 10, Fax: (030) 24 00 93 99, E-Mail: disput@die- inke.de GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell DRUCK MediaService GmbH BärenDruck und Werbung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin ABOSERVICE , Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Ber in, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407 REDAKTIONSSCHLUSS HEFT 1 16. Januar 2012 DER NÄCHSTE DISPUT 16. Februar 2012

INHALT DISPUT Januar 2012 2 NILS EXNER

Nils ist 19 Jahre alt und lebt derzeit in Saarbrücken. Er ist seit November 2011 Landesvorsitzender der saarländischen Linksjugend ['solid] und wird in diesem Jahr voraussichtlich in Berlin ein Politikwissenschaft- und Amerikanistik-Studi- um beginnen.

Was hat dich in letzter Zeit am meisten überrascht? Dass die SPD im Gespräche mit der CDU einging, obwohl man wenige © privat Wochen zuvor noch Neuwahlen gefordert hatte.

Was ist für dich links? Einen Begriff von Gerechtigkeit zu haben und emanzipatorisch zu denken.

Worin siehst du deine größte Schwäche, worin deine größte Stärke? Ich kann andere sehr gut für meine Gedanken und Ideen gewinnen, aber auch sehr dickköpfi g sein.

Was war dein erster Berufswunsch? Kameramann, bis ich mich mit 13 entschloss, Basketballprofi zu werden. Allerdings habe ich diesen Gedanken wegen meiner Größe schnell wieder verworfen.

Wie sieht Arbeit aus, die dich zufrieden macht? Arbeit, bei der ich selbst entscheiden kann, was, wann, wo und wie lange ich arbeite. Am besten keine Festanstellung.

Wenn du Parteivorsitzender wärst ...... würde ich versuchen, innerparteiliche Entscheidungen möglichst demokra- tisch und transparent zu gestalten.

Was regt dich auf? Laute Handymusik in der Straßenbahn und ewig gestrige Weltbilder.

Wann und wie hast du unlängst Solidarität gespürt? Beim letzten starken Regen, als ein Kneipenbesitzer nochmal seinen Laden aufgesperrt hat und die Getränke bis Regenende aufs Haus gingen.

Wovon träumst du? Ich träume ziemlich viel, kann mich aber meistens an nichts erinnern.

Wofür gibst du gerne Geld aus? Für Schallplatten, Bücher und Billard.

Müssen Helden und Vorbilder sein? Von Heldentum halte ich nichts. Ich denke, Vorbilder entstehen auf gewisse Weise automatisch. Man sollte aber nie versuchen, es jemandem gleich zu tun, sondern seinen eigenen Weg gehen.

Wann fühlst du dich gut? Wenn ich mit meiner Freundin zusammen bin.

Wovor hast du Angst? Wirklich Angst habe ich vor nichts. Es gibt aber viele Dinge, die ich mit Sorge betrachte: zum Beispiel das Erstarken des globalen Antisemitismus oder die zunehmende Parteienverdrossenheit in Deutschland.

Welche Eigenschaften schätzt du an Menschen besonders? Die Fähigkeit, jemanden zwar scharf und treffend zu kritisieren, sodass sich diese/r jedoch nicht beleidigt abwendet.

Wie lautet dein Lebensmotto? »Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.« (Theodor W. Adorno)

3 DISPUT Januar 2012 FRAGEZEICHEN Auf geht’s! Vom politischen Jahresauftakt der Partei 2012 am 16. Januar in Berlin

Im einstigen Filmtheater »Kosmos« in sen, Kinder, der kleinen Mittelständler, Berlin vollzog DIE LINKE am 16. Janu- der Auszubildenden und Studierenden ar ihren politischen Jahresauftakt. Mit kümmert. Promis und mit Basis, zumindest – an- Unsere Aufgabe ist es nach wie vor, gesichts der Mittagsstunde – einem die Achse der Politik nach links zu ver- Teil von ihr. schieben. Dafür brauchen wir ein kla- Den Ritt durch europäische Poli- res inhaltliches Profi l, das haben wir, tik und die Verantwortung der Linken nicht zuletzt durch unser Programm. unternahmen die Parteivorsitzenden Wir brauchen aber Glaubwürdigkeit. Klaus Ernst und Gesine Lötzsch, Frak- Die werden wir gewinnen, wenn wir tionsvorsitzender Gregor Gysi sowie, konsequent unseren Weg gehen. Da- herzlich begrüßt, Alexis Tsipras von der zu brauchen wir auch Geschlossen- griechischen Synaspismos. heit, aber nicht die Art Geschlossenheit Was wer sagte, kann hier nur als der Friedhofsruhe der Post-Schröder- (knapper) Auszug stehen, mehr gibt’s Müntefering-SPD. Nein, wir brauchen im Internet. eine Geschlossenheit, die den fairen Wettstreit um die richtigen Lösungen Klaus Ernst: Das Jahr 2012 wird bejaht und auf einem großen Maß der auch eine Bewährung für DIE LINKE, ei- Gemeinsamkeit der politischen Grund- ne Bewährungsprobe für uns selber. sätze beruht. Ich glaube, es gibt keinen Zweifel da- ran, dass wir gebraucht werden, dass Gregor Gysi: Wenn die SPD ernst- unsere Positionen die richtigen sind. haft mit uns darüber reden will, wie Schaut euch doch um! Wer Grün wählt, man die Gesellschaft verändern könn- muss länger arbeiten; wer SPD wählt, te, dann will ich hier klipp und klar sa- bekommt wieder einen Kandidaten für gen: Wir sind ja zu vielem bereit, man die nächste Agenda – egal welcher; wer muss auch Kompromisse machen, das Merkel wählt, verliert Europa und mög- weiß ich. Aber ich sage auch, das gilt licherweise auch sein Geld; wer FDP zumindest für mich: Ohne einen unver- wählt, hat wahrscheinlich eh schon züglichen und vollständigen Abzug der den Verstand verloren oder ist ein Zo- Bundeswehr aus Afghanistan, ohne ei- cker. nen sicheren Verzicht auf neue Kriegs- Nur eine starke LINKE macht einsätze, ohne Rentengerechtigkeit, Deutschland sozialer und gerechter. ohne Ost-West-Angleichung bei Löh- Leider gelingt es uns aber nicht, mit nen, Gehältern und Renten, ohne ei- diesen Botschaften zurzeit in der Öf- nen gesetzlichen flächendeckenden haben, verändert nicht die Welt. Das fentlichkeit durchzudringen. Und des- Mindestlohn, mit dem man in Würde weiß ich sehr wohl, aber es verändert halb noch einmal mein Appell: Lasst leben kann, ohne eine Gesundheitsre- die anderen Parteien. Das einzige, uns nicht über Personen, sondern lasst form, die alles bezahlbar macht, ohne worauf sie reagieren, ist auf Stärke. uns über Inhalte reden! Verzicht auf Hartz IV und ohne Herstel- Immer, wenn wir stärker werden, ge- DIE LINKE wird 2012 fünf Jahre alt, lung des Primats der Politik über die ge- hen sie unseren Vorstellungen nach. und in diesem fünften Jahr schlägt für samte Finanzwelt und die Wirtschaft ist Und immer, wenn wir schwächer wer- uns eine Stunde der Bewährung. Wenn mit uns nichts zu machen. den, gehen sie davon aus, dass die- wir nicht Nein zu Lohnraub, Rentenkür- Wir müssen in unserer Politik kon- se Vorstellungen sowieso keinen inte- zungen und Sozialabbau sagen, dann kreter werden. Wir müssen Angebote ressieren. Gerade die SPD reagiert be- tut es außer uns keine Partei. Wenn machen. Wir müssen wieder näher an sonders empfi ndlich auf unsere Wahl, wir Ja zu einer Lohn- und Sozialoffen- die Bürgerinnen und Bürger heran. Wir und ich gönne ihr eine der stärksten sive sagen, dann tut es außer uns kei- müssen nicht immer nur auf die Me- Linken. Das sind wir in Europa zurzeit. ne Partei. Wenn wir nicht gegen Kriegs- dien meckern, dann müssen wir eben Aber ich weiß nicht, ob wir es bleiben. einsätze im Ausland sind, dann tut es andere Wege fi nden, das ist uns doch Wir müssen sehr viel tun. Wir müs- außer uns keine Partei. Das ist der Sinn früher auch gelungen. Also muss es sen hart arbeiten. Und darum bitte ich der LINKEN. uns doch jetzt auch gelingen. Wenn euch. Das Jahr 2012 wird nicht einfach, Wir müssen wieder zu einer echten wir diesen Weg gehen, dann werden aber wenn wir es endlich politisch ge- Kümmererpartei werden, einer Partei, wir uns verankern und dann werden stalten, dann kann es auch erfolgreich die sich immer und konsequent für die wir auch wieder zulegen bei Umfra- werden. Und zwar nicht nur für uns, Belange der Beschäftigten, der Rent- gen. Ich sage auch ganz klar: Ob wir sondern erfolgreich für die Verände- nerinnen und Rentner, der Erwerbslo- zehn Abgeordnete mehr oder weniger rung der Gesellschaft.

PARTEI DISPUT Januar 2012 4 © Erich Wehnert

  Gesine Lötzsch: Auf unserer Ta- lange wird keiner warten wollen. Ich er- Politikverdrossenheit der Menschen re- gung mit den Landesvorsitzenden in innere an erfolgreiche Projekte wie die den, dann müssen wir uns doch überle- Elgersburg habe ich einen Vorschlag Abschaffung der unsozialen Studienge- gen, was wir konkret dagegen tun kön- gemacht: Jeder Landesverband soll ein bühren in Hessen und dann in NRW. Im nen. Wenn die Bürgerinnen und Bürger Referenzprojekt entwickeln. Stellt euch Osten gibt es sowieso keine Studien- merken, dass wir nicht die Flinte ins vor, wir hätten 16 erfolgreiche Referenz- gebühren. Da, wo DIE LINKE stark ist, Korn werfen, wenn unsere Anträge ab- projekte, Projekte, die die Gesellschaft da gibt es keine Studiengebühren! Das gelehnt werden, sondern außerparla- real verändern, mit denen wir nachwei- ist doch ein starkes Argument für un- mentarisch alles tun, um unsere richti- sen können: Dafür steht DIE LINKE! Wir sere Partei. gen Forderungen durchzusetzen, dann wurden doch nicht gewählt, um Regie- DIE LINKE in Mecklenburg-Vorpom- ist es der beste Weg gegen Politikver- rungspolitik zu beklagen, wir wurden mern hat aktuell eine Volksinitiative für drossenheit. gewählt, um Politik so zu verändern, einen 10-Euro-Mindestlohn gestartet. dass die Probleme der Menschen ge- Das ist ein Referenzprojekt, das Schule Ob das, was im einstigen Filmtheater löst werden. machen sollte. In Berlin und Branden- an Erwartungen und Aufgaben geäu- Der Verweis, dass wir in den Parla- burg wurde ein Mindestlohn für die Ver- ßert wurde, im neuen Jahr zu – im bes- menten nicht die Mehrheiten haben gabe von kommunalen Aufträgen durch ten Sinne, weil für die Interessen der oder der Koalitionspartner sich verwei- DIE LINKE durchgesetzt. Jetzt müssen Benachteiligten in der Gesellschaft – gert, ist für viele Menschen nicht befrie- die anderen Bundesländer nachzie- »großem Kino« der LINKEN wird, muss digend. Er macht sie wütend. Sollen sie hen, und auch der Bund steht in der die Partei zeigen. Dem Auftakt folgt der auf die Lösung ihrer Probleme so lange Pfl icht, Mindestlöhne bei öffentlichen Alltag. Auf geht’s! warten, bis wir die Mehrheiten in den Aufträgen zu zahlen. Parlamenten errungen haben? Nein, so Wenn wir heute immer wieder über Florian Müller

5 DISPUT Januar 2012 © ErichWehnert© (3)

Am 15. Januar, exakt 93 Jahre nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, ehrten wieder viele Tausend in der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin- Friedrichsfelde die großartigen Kämpfer gegen Krieg und Ausbeutung.

GEDENKEN DISPUT Januar 2012 6 Im Dreiklang Raus aus der Krise – gerecht, demokratisch und europäisch! Überlegungen zur strategischen Ausrichtung im Jahr 2012 Von Bundesgeschäftsführer Werner Dreibus

Die Krise wird auch zungen – jetzt auch für ganz Europa – klang ist die der Zeit angemessene In- 2012 die politische führen uns weiter in die Krise hinein terpretation unserer Idee sozialer Ge- Großwetterlage be- statt heraus. rechtigkeit. stimmen, jähe Wen- Wir müssen außerdem davon aus-

© DIE LINKE im im LINKE DIE © dungen eingeschlos- gehen, dass die in Nicht-Krisenzeiten Veränderte Bedingungen sen. Im weiteren Ver- dominanten sozialen und wirtschaftli- lauf erscheint alles chen Problemlagen (prekäre Beschäfti- Die bisherigen Kernthemen der Partei – möglich: von der Stabilisierung bis zum gung, selektives Bildungssystem, Pfl e- Hartz IV, Mindestlohn, Rente, Afghanis- Zusammenbruch des Euro-Raumes mit genotstand, Armutsrenten usw.) weiter tan – sollten wir vor dem Hintergrund ei- gravierenden sozialen und politischen an Bedeutung für Wahlentscheidungen ner Krisenverschärfung in ihrem Fokus Verwerfungen. In jedem Fall zu erwar- verlieren, wenn die Krise auf das All- und in der Kommunikation den verän- ten ist eine Zuspitzung der Verteilungs- tagsleben der Bevölkerung in Deutsch- derten Bedingungen anpassen. Beim kämpfe, begleitet von Auseinanderset- land durchschlägt. Mindestlohn müsste bei einem Durch- zungen um demokratische Teilhabe An Bedeutung gewinnen werden schlagen der Krise auf den deutschen und die Zukunft Europas. Fragen nach elementarer wirtschaft- Arbeitsmarkt dementsprechend der Die politischen Kräfteverhältnis- licher Stabilität und sozialer Sicher- »Schutz vor Lohnkürzungen« im Fokus se entscheiden darüber, in welcher heit (Schutz des Arbeitsplatzes, pri- stehen, die Kommunikation sich also Form und mit welchen Ergebnissen vater Ersparnisse und Rentenansprü- verschieben von »Niedriglohn abschaf- diese Kämpfe geführt werden: Bekom- che, Stabilität von Renten und Sozial- fen« auf »Barriere gegen Lohndumping men wir Kämpfe zwischen Deutschen leistungen usw.), möglicherweise auch errichten«. Bei der Rente kommen zur und »Pleite-Europäern«, zwischen ver- Fragen nach der demokratischen Be- Frage der sozialen Verteidigung weitere schiedenen Fraktionen der Lohnabhän- teiligung an grundlegenden Entschei- Fragen hinzu, etwa die nach Schutz von gigen (Beschäftigte gegen Arbeitslose, dungen (Hilfen für überschuldete Staa- privat erworbenen Rentenansprüchen Arbeitslose gegen Rentner/innen, Be- ten, Abgabe von Souveränitätsrechten und Lebensversicherungen. schäftigte gegen Rentner/innen) oder an die EU usw.). zwischen unten und oben (abhängig Die Ungewissheit darüber, wie es Außerparlamentarische Plattform Beschäftigte, Rentner/innen, Arbeits- weitergeht, ist ein Merkmal der Krise. lose gegen Vermögensbesitzer, Ban- Das erfordert von uns die Kunst, auf DIE LINKE kann als parlamentarische ken und Konzerne)? Sicht zu manövrieren und trotzdem Opposition im Gegensatz zur Bun- mögliche Entwicklungen gedanklich desregierung nicht mit (gesetzgeberi- Rhetorische Beruhigungspillen vorwegzunehmen. scher) Tatkraft bei der Lösung der Kri- von CDU/CSU Zum einen müssen wir insbesonde- se aufwarten. Wir können eine sozial re in Bezug auf Krisenverlauf, Themen- gerechte Lösung nur erkämpfen. Da- Griechische Verhältnisse sind für konjunkturen, Erwartungen unserer bei werden wir jedoch nur erfolgreich Deutschland nicht auszuschließen. Wähler/innen, das Agieren der Partei- sein, wenn es uns gelingt, gemeinsam Derzeit gibt die Bundesregierung je- en etc. in alternativen Szenarien den- mit den Gewerkschaften, der Occupy- doch vor, sich eher am gesellschaftli- ken, um uns auf mögliche Veränderun- Bewegung und anderen gesellschaftli- chen Zusammenhalt zu orientieren als gen einzustellen. chen Akteuren eine breite gesellschaft- an drastischen Kürzungs- und Umver- Zum zweiten sollten wir uns auf ei- liche Bewegung für einen Politikwech- teilungsmaßnahmen gegen die Mehr- ne Linie verständigen, an der wir unse- sel zu formieren. heit der Bevölkerung. CDU und CSU re gesamte Kommunikation ausrichten. In diesem Sinne sollten wir eine au- inszenieren Themen wie den Min- Wir brauchen eine Melodie, mit der wir ßerparlamentarische Plattform für das destlohn, Steuersenkungen oder die alle im Krisenprozess aufkommenden Handeln der Menschen selbst sein: mit Zuschussrente als rhetorische Beruhi- Themen aufgreifen. Diese Grundmelo- einer bundesweiten Kampagne, die in- gungspillen. In der Realität verbessert die besteht aus einem Dreiklang: haltlich auf zentrale Alltagsprobleme sich die Situation der Menschen aber (1) Löhne, Renten und Sozialleis- in der akuten Krisenphase (Schutz von nicht. tungen schützen (Bestandsgarantien – Löhnen, Renten, Sozialleistungen, Er- überall in Europa); sparnissen) und in ihrer Form auf eine Strategische Herausforderung (2) Diktatur der Finanzmärkte be- aktive Beteiligung der Parteimitglieder enden/Demokratie erneuern (Staatsfi - ausgerichtet ist (Unterschriften, Bun- Für DIE LINKE bedeutet dies eine gro- nanzen von privatem Kapitalmarkt ab- destagspetitionen, Bankenblockaden ße strategische Herausforderung: Wir koppeln; Regulierung); etc.). müssen den Wählerinnen und Wählern (3) Krisenlasten gerecht verteilen Dort, wo die Interessen der Bevölke- vermitteln, dass gerade die Beibehal- (Vermögensabgabe/Reichensteuer; rungsmehrheit von der Regierung miss- tung der schon lange laufenden schlei- europäischer Ausgleich). achtet und die demokratische Beteili- chenden Umverteilung von unten nach Immer geht es um Schutz/Bewah- gung verweigert wird, muss DIE LINKE oben das grundlegende Übel ist: Schul- rung einerseits und Veränderung/Ver- den Raum für die Artikulation dieser In- denbremse, Lohndumping, Sozialkür- besserung andererseits. Dieser Drei- teressen bieten.

7 DISPUT Januar 2012 PARTEI Wegweiser LINKE 2020 – Was tun, damit DIE LINKE bleibt und wirkt? Von Claudia Gohde

Keiner kann vorhersagen, wie unse- durch viele Seiten eng bedrucktes Pa- Jahr 2010 geht die Mitgliederzahl zu- re Partei im Jahr 2020 aussehen wird, pier. Über ihre Mitglieder bezieht un- rück. Die Ursachen dafür sind Austrit- welche Aufgaben sich ihr stellen wer- sere Partei aber auch ihr Wissen über te, Sterbefälle, Karteibereinigungen den und wie sie politisch tätig sein die Gesellschaft und ihre Probleme. und zu wenige Eintritte. Die Austritte wird. Aber dass eine starke linke Par- Darum ist es so wichtig, in vielen Be- fallen dabei am stärksten ins Gewicht tei noch gebraucht werden wird, mit en- reichen der Gesellschaft verankert zu und sollten am sorgfältigsten betrach- gagierten und gewandten Mitgliedern, sein, zum Beispiel bei den Eltern von tet werden: Erstens sind sie am ehes- mit kommunaler Verankerung und si- Schulkindern, unter den ALG-II-Bezie- ten zu beeinfl ussen, zweitens dürfte es cher auch mit Stützpunkten und Geld, henden, den GewerkschafterInnen, leichter sein, ein schon mal gewonne- das ist doch wohl recht wahrscheinlich. den RentnerInnen und Studierenden. nes Mitglied zu halten, als jemanden Darum hatte der Parteivorstand im Ok- Darüber hinaus sind die Mitglieder erst neu für einen Eintritt zu überzeu- tober 2010 eine Projektgruppe beauf- die wichtigste Ressource der Partei: Sie gen. Drittens könnte es auch im Inter- tragt, die Parteientwicklung bis ins Jahr stellen die Kandidatinnen und Kandi- esse der verbliebenen Mitglieder sein, 2020 zu projizieren – unter den gege- daten für Wahlen, sie speisen den Ide- Missstände zu beheben, die andere benen heutigen Umständen – und enpool für die Lösungen vielfältiger po- zum Austritt veranlassen. Allerdings ist Maßnahmen vorzuschlagen, wie die litischer Probleme, sie engagieren sich relativ wenig über die Gründe für Aus- Funktionsfähigkeit der Partei bis dahin in Kampagnen und Wahlkämpfen und tritte zu erfahren, weil die Ausgetrete- erhalten oder verbessert werden kann. sie sind in ihrem Umfeld Botschafterin- nen sich dazu in der Regel nicht mehr nen und Botschafter ihrer Partei. Und äußern. Nur etwa sechs Prozent bekla- Im Mittelpunkt stehen nicht zuletzt sorgen sie mit ihren Mit- gen die falsche politische Ausrichtung, die Mitglieder gliedsbeiträgen für das materielle Fun- informell werden häufi g persönliche dament der Partei. Denn die staatli- Zerwürfnisse auf der lokalen Ebene als Gemeinhin werden die Parteien an ih- chen Zuschüsse fußen zu einem gro- Ursache ausgemacht. Solche Zerwürf- rer Mitgliederzahl und an ihren Wähler- ßen Teil auf den Mitgliedsbeiträgen. nisse gewinnen immer dann die Ober- stimmen gemessen. Für DIE LINKE war Eines der wichtigsten Ziele der Partei hand, wenn das gemeinsame und ei- die Mitgliederzahl bislang nicht nur ein sollte daher sein, möglichst viele Mit- nigende Band nur unzureichend spür- äußeres Merkmal, sondern auch ein glieder zu haben. bar ist. Anspruch: Über ihre Mitglieder, nicht Mitglieder der LINKEN geben drei nur über Plakate, Handzettel und Talk- Mitglieder halten und gewinnen wesentliche Gründe für ihre Mitglied- show-Auftritte, wirkt die Partei in die schaft an: politische Veränderung er- Gesellschaft hinein. Jedes Mitglied, Die Mitgliederentwicklung der vergan- reichen, altruistische Motive und die das persönlich für die politischen Zie- genen Jahre ist höchst widersprüch- Unterstützung der Partei oder heraus- le der Partei eintritt, bezeugt mit seiner lich. In den ersten beiden Jahren ih- gehobener Personen der Partei. Wenn Existenz Glaubwürdigkeit. Daraus ent- res Bestehens erfuhr DIE LINKE ein diese Motive vor Ort nicht mehr zum steht eine nachhaltigere Wirkung als stürmisches Wachstum. Aber seit dem Tragen kommen, dann hat der kleintei- lige Streit um persönliche Macken sei- ne große Stunde. Und umgekehrt: Wer Letzteres verhindern will, muss dafür sorgen, dass die großen Ziele der Par-

© ErichWehnert© tei, sprich Programm und zentrale po- litische Themen, auch im Parteialltag stattfi nden. Damit wären dann auch neue Mit- glieder zu gewinnen und zu halten. Die meisten Mitglieder hat DIE LINKE in den Kampagnen – auch in den Wahl- kampagnen – gewonnen. Darum soll- te keine Kampagne, kein Wahlkampf, keine Aktion stattfi nden, ohne dass da- bei um neue Mitglieder geworben wird. Zur freundlichen Aufnahme neuer Mit- glieder gehört eine Willkommenskul- tur, die Beteiligungsmöglichkeiten auf- zeigt und auf die Angebote politischer Bildung hinweist. Nicht weil die Neuen erst mal »geschult« werden müssen, sondern weil die Veranstaltungen der Der Partei-Alltag ist mehr als noch so spannende Debatten auf einem Parteitag. politischen Bildung in besonderer Wei-

PARTEI DISPUT Januar 2012 8 se Orte der kollektiven Erarbeitung von bei einer geringfügigen Senkung der LINKE 2020 Identität und der Gemeinschaftserfah- Beitragshöhen das Beitragsaufkom- rung sind. men spürbar zurückging. Dies gilt für die Mehrheit der Parteimitglieder im Strukturen und Finanzen stärken Osten, die mit ihren hohen Beiträgen für die fi nanzielle Substanz der Partei Die Partei zu erhalten und aufzubauen sorgt. braucht Organisation. Traditionell ver- langt diese Organisation auch die Form Fragen am Schluss von Geschäftsstellen und Hauptamtli- 1. Der Parteivorstand dankt der Pro- chen. Allein die gesetzlichen Anforde- Was tun, wenn immer weniger Men- jektgruppe LINKE 2020, nimmt den rungen an eine Partei verlangen mini- schen in Parteien gehen wollen? Die- Abschlussbericht zur Kenntnis und male hauptamtliche Funktionen wie ses Phänomen trifft nicht nur DIE LIN- gibt ihn als Diskussions- und Ar- Buchhaltung, Mitgliederverwaltung, KE. Andere Parteien funktionieren auch beitsgrundlage in die Partei. Dokumentation und Archiv. Und Wahl- mit weniger Mitgliedern. Viele wollen 2. Der Abschlussbericht der Projekt- kampf, politische Bildung, Meinungs- sich heutzutage besser für ein konkre- gruppe LINKE 2020 wird dem Bun- bildung und die Bereitstellung von po- tes Anliegen oder Projekt engagieren, desausschuss, den Gliederungen litischem Personal für kleine und große ohne Mitglied zu werden. Wird die Par- und Zusammenschlüssen zur Dis- Ämter brauchen nicht nur professionel- tei der Zukunft etwa mit einem kleine- kussion und Auswertung übergeben. les Wissen, sondern auch Orte, an de- ren Mitgliederstamm größere Mengen 3. Die Bundesgeschäftsführung und nen beraten werden kann, wo Ordner an Aktiven für einzelne Kampagnen der Bundesschatzmeister werden und Flugblätter zugänglich aufbewahrt mobilisieren? gebeten, den Bericht in der Bundes- werden und wo der oder die interes- Wie viele Büros und Hauptamtliche geschäftsstelle auszuwerten und bis sierte Bürger/in die Partei fi nden kann. braucht DIE LINKE? Und wofür? Die Min- Mitte Januar daraus resultierende Wie viele Orte das sein müssen, ori- destorientierung ist aus dem Parteien- Maßnahmen zu erarbeiten. entiert sich zunächst daran, wie viel es gesetz herzuleiten: Wenigstens eine 4. Der Parteivorstand berät im Janu- schon mal gab und wie viel man sich ordentliche Abrechnung und Mitglie- ar über Schlussfolgerungen auf Bun- leisten kann. Wer erlebt hat, mit wel- derverwaltung ist nötig. Dazu braucht desebene und Kampagnen 2012. Im chem Engagement und Stolz ein Kreis- es wenigstens Landesgeschäftsstellen April wertet er die Zielvereinbarung verband eine Büroeröffnung betreiben und die Bundesgeschäftsstelle. Aber zwischen den Landesverbänden kann, hat eine Vorstellung davon, dass ob es darüber hinaus die Regional- und die vorliegenden Stellungnah- die »Parteiwerdung« mit der Einrich- geschäftsführerin braucht, die in Pro- men (unter anderem des Bundes- tung von Büros ebenso viel zu tun ha- gramm- und Satzungsfragen fi rm ist, ausschusses) aus. ben kann wie mit einem medienwirk- die die Buchhaltung beherrscht und 5. Der Bundesausschuss wird gebe- samen Parteitag oder dem erstmali- die Internetseite aktualisiert, zu den ten, bis Ende Februar den Bericht zu gen Einzug ins Kommunalparlament. Bündnistreffen mit Occupy- und An- beraten und eine Stellungnahme ab- Und da eine wirkungsvolle Pressear- ti-Castor-Aktiven geht und die Genos- zugeben. beit, eine akribische Finanzarbeit und sen zu ihrem Geburtstag besucht, oder 6. Die Landesvorstände werden ge- eine motivierende Mitgliederbetreu- ob diese Aufgaben nicht lieber fachge- beten, bis Ende Februar die Ergeb- ung das Parteileben enorm aktivieren recht jeweils für den ganzen Landesver- nisse des Abschlussberichtes auf ei- kann, aber kaum ehrenamtlich neben- band von einem Internetredakteur, von ner Landesvorstandsberatung aus- bei zu machen ist, werden – neben ei- einer Finanzfachkraft, von einer Beauf- zuwerten und das Ergebnis der Bun- ner fünfköpfi gen Besetzung von Lan- tragten für Politische Bildung, Bündnis- desgeschäftsführung zu übermitteln. desgeschäftsstellen – auch regional arbeit oder Parteileben jeweils für alle 7. Es wird angestrebt, sich auf einer stationierte Hauptamtliche, zuständig Kreisverbände absolviert werden, soll- gemeinsamen Beratung der Landes- für mehrere Kreisverbände, zur Unter- ten, oder ob alle diese Aufgaben Abge- geschäftsführer/innen und Landes- stützung des Ehrenamtes beziehungs- ordnetenbüros übergeholfen werden schatzmeister/innen im März über weise der Freiwilligen empfohlen. ist offen. folgende Maßnahmen zu verständi- Wenn DIE LINKE ihr fi nanzielles Ni- Je mehr die Partei in die Parlamente gen: veau halten will, dann müssen die eindringt, desto mehr wird sie von ih- • regelmäßige Berichterstattung durchschnittlichen Mitgliedsbeiträ- nen geprägt. Die Abgeordneten unter- über die Mitglieder- und Beitrags- ge deutlich steigen. Derzeit liegen sie halten mehr Büros als die Partei, die entwicklung auf allen Ebenen zwischen ca. 16 Euro (Berlin, Branden- Einnahmen durch Mandatsträgerbei- • Verständigung über Kampagnen burg, Mecklenburg-Vorpommern) und träge sind in manchen Kreisverbänden 2012 ca. fünf Euro (Nordrhein-Westfalen, bedeutender als die aus Beiträgen. Die • Vereinbarung über Zielzahlen bei Rheinland-Pfalz, Saarland) monatlich. mediale Wirksamkeit einer Abgeordne- der Mitgliederentwicklung Die Beitragsrichtlinie bleibt umstritten: ten ist höher als die eines Parteifunk- • Vereinbarung über eine Geschäfts- Die einen plädieren für eine deutliche tionärs der gleichen Ebene. Und der stellenstruktur Senkung, weil die jetzige Beitragsta- Antrag im Parlament fi ndet in der Re- • Vereinbarung über die Erhöhung belle abschreckend hohe Beiträge vor- gel mehr Aufmerksamkeit als der Be- der Mindestbeiträge. sieht und dazu einlädt, die Richtlinie zu schluss eines Parteitages. unterlaufen. Wäre die Richtlinie gemä- Mehr zum Thema im Internet unter: Der Abschlussbericht und der Be- ßigter, dann könne man auch für deren www.die-linke.de/mitgliedschaft/lin- schluss werden in den Medien der Einhaltung eintreten und damit für hö- ke2020 Partei veröffentlicht. here Beiträge sorgen. Die anderen plä- dieren für die Beibehaltung der Richt- Claudia Gohde ist Leiterin der Bundesge- Beschluss des Parteivorstandes vom linie, weil in der Vergangenheit selbst schäftsstelle. 19. und 20. November 2011

9 DISPUT Januar 2012 Millionäre zur Kasse! »GegenBANKENmacht« am 15. Januar

Eine mitreißende Begegnung von linker europäischer Politik und Kultur

Balzac war auch da: am 15. Januar in der Pierre Laurent, Vorsitzender der EL Berliner Volksbühne. Den französischen und der Französischen Kommunisti- Romancier zitierte mit schen Partei, forderte, nicht zuzulas- den Worten: »Hinter jedem großen Ver- sen, dass die Völker auseinanderge- mögen steht ein Verbrechen.« Der Satz, bracht werden, ihre Solidarität sei drin- so Lafontaine, sei noch niemals so rich- gend notwendig zum Widerstand gegen tig gewesen wie in diesen Tagen. Die alle Pläne des Sozialabbaus. Der Vor- Veranstaltung »GegenBANKENmacht«, stand der EL habe auf seiner Tagung in auf die Beine gestellt durch die Partei Berlin die Einberufung eines Europäi- der Europäischen Linken (EL) und DIE schen Konvents beschlossen, auf dem LINKE und wortstark moderiert durch sich Linke, Gewerkschaften und andere Diether Dehm, bot Gelegenheit, insbe- über Alternativen verständigen sollten. sondere die wahren Verursacher der Kri- Von mehr als fünf Millionen Arbeits- sen zu benennen und die dramatischen losen in ihrer spanischen Heimat und Auswirkungen von Sozial- und Demo- von einer Jugendarbeitslosigkeit von kratieabbau in den Staaten der Europä- über 50 Prozent berichtete Maite Mo- ischen Union zu beschreiben. la, die Vize-Vorsitzende der EL. Beson- Und wenn Gesine Lötzsch eingangs ders hart betroffen seien Frauen und Mi- die Solidarität als den Kerngedanken granten. Die Linke in Spanien sei jetzt der Linken benannte, so war die interna- die drittstärkste Partei und werde hart tionale Solidarität eben auch der Kern- arbeiten, in den Parlamenten und auf gedanke dieses zweistündigen kämpfe- der Straße, an der Seite der Entrechte- risch-kulturellen Treffens gleich neben ten, der Empörten, der Gewerkschaf- dem Karl-Liebknecht-Haus. Politiker/ ten. »Wir kämpfen für ein anderes Wirt- innen wie Musiker stellten dies immer schaftssystem«. wieder voran. Stürmisch begrüßt, be- Griechenland sei das Versuchska- gann Quilapayún, wie jedes seiner Kon- ninchen der neoliberalen Barbarei ge- zerte, mit einem Lied von Victor Jara – wesen, schilderte EL-Vize Alexis Tsipras, ihres Mitbegründers und eines der ers- Vorsitzender von Synaspismos. Ein gan- ten Opfer der Militärdiktatur in Chile zes Volk sei für die Schulden verantwort- 1973. Bei »El Pueblo unido, jamás será lich gemacht und in Haftung genommen vencido« (Das vereinte Volk wird nie- worden, heute herrschten Verzweifl ung mals besiegt werden), später gleichsam und Ausweglosigkeit. Aber das »Ver- die Hymne des Widerstandes gegen Pi- suchskaninchen« habe sich gewehrt. nochet, sangen nicht wenige im Saal »Für ein Europa der Solidarität!« den Refrain mit, wurden Fäuste empor Dies ist schon seit Jahrzehnten der gereckt. niederländischen Gruppe »Bots« ein

WIDERSTAND DISPUT Januar 2012 10 © ErichWehnert© (7)

besonderes Anliegen: gegen Nazis, ge- pa zu zerschlagen, rief Klaus Ernst auf. LINKE sich endlich als demokratische gen Kriege und Kriegstreiber. Nach ih- In ganz Europa den außerparlamenta- Erneuerungsbewegung begreifen. rem altbekannten »Weiches Wasser rischen Kampf zu verstärken, sei das Schulden seien nicht nur Schul- bricht den Stein« sangen sie eine Erst- Gebot der Stunde. den, sondern auch Vermögen. Und aufführung: »Wenn wir uns näher kom- Noch nie, so Oskar Lafontaine, sei weil Schulden das Vermögen der gro- men, dann sind die Banken reif …« es so deutlich gewesen: Geld regiert ßen Geldbesitzer sind, müssten die Mil- Sich zu wehren gegen alle Versu- die Welt. Die Demokratie in Europa sei lionäre zur Lösung des sogenannten che, das Sozialstaatssystem in Euro- längst abgeschafft. Deshalb müsse DIE Schuldenproblems herangezogen wer- den. Deshalb: Vermögensabgabe, Milli- onärssteuer in ganz Europa! Die Banken führten Krieg gegen die Völker. Abgewehrt werden müsse der Versuch Merkels, die Völker Europas, die unter den Verbrechen der Banken zu leiden haben, gegeneinander aufzu- bringen, anstatt dafür zu werben, dass die Völker zusammenstehen, um die- sen Krieg der Banken gegen die Völker abzuwehren. DIE LINKE fordere, dass die Parteien losgekoppelt werden von der Finanzindustrie. »Wir wollen Spen- den von Banken und Versicherungskon- zernen an politische Parteien verbieten. Wir wollen keine gekaufte Politik.« Der Neoliberalismus habe die Hirne verändert und auch die Herzen. Dies sei das größte Verbrechen des Neolibera- lismus. Verloren gegangen sei die Lie- be zum Mitmenschen, die Mitmensch- lichkeit. An diesem 15. Januar in der vollbe- setzten Volksbühne waren sie an Bei- fall und Zwischenrufen unüberhörbar: Mitmenschlichkeit, Solidarität, Wider- standswillen.

Florian Müller

11 DISPUT Januar 2012 »Futter für die Köpfe!« Was Sachsens LINKE im Jahr 2012 bewegen wird Von Rico Gebhardt, Landesvorsitzender, und Stefan Hartmann, stellvertretender Landesvorsitzender

Ein Vorgänger im Amt des Landesvor- legte Sozialpolitische Leitlinien in die zepte als alternativlos anpreisen, gibt sitzenden, Prof. Peter Porsch, bemerkte öffentliche Debatte geben. Darüber hi- es bereits genug! Wir LINKEN haben die vor einigen Jahren einmal sinngemäß, naus liegen Arbeitspapiere zu den bil- Möglichkeit, anders zu sein. Nämlich dass Linke statt großer Posten, Ämter dungspolitischen und den kulturpo- eine Partei mit offenen Augen und Oh- oder Geldsäcke vor allem ihre Köpfe litischen Politikangeboten der säch- ren, die bereit ist, die Interessen und haben – zum Denken, zum Diskutie- sischen LINKEN vor. Thesen zur Wirt- Bedürfnisse der Mehrheit, die wir ver- ren, zum Gestalten. Deshalb spielt in schafts- und Arbeitsmarktpolitik, unser treten wollen, nicht im Elfenbeinturm linken Parteien Kopfarbeit eine so gro- »Plan demokratisches Sachsen« und zu formulieren, sondern aus dem Ge- ße Rolle und bereitet manchmal auch die Überarbeitung der kommunalpoli- spräch, dem öffentlichen Dialog zu er- einige »Kopfschmerzen«, dann näm- tischen Leitlinien vervollständigen das arbeiten. lich, wenn der konstruktive Streit und Diskussionsangebot. Aber auch die Er- Wenn alles nach unseren Vorstellun- die Kritik umschlagen in Rechthaberei arbeitung von Sucht- und Drogenpoliti- gen läuft, werden wir ab Februar unse- und Gezänk! schen Leitlinien stehen 2012 an. re Sozialpolitischen Leitlinien auch im Deshalb konzentrieren wir uns im Das ist eine ganze Menge Arbeit, die Netz diskutieren, mit einer für uns neu- Landesverband Sachsen seit einiger wir vor uns haben. Aber der Anspruch en Plattform, die unter dem Namen Zeit darauf, unsere politischen Ideen darf unserer Meinung nach nicht klei- »adhocracy« vielleicht einigen von der und Konzepte lang und breit in der Par- ner sein, wenn wir Politik für die Mehr- elektronischen Programmdebatte be- tei, aber auch außerhalb zu diskutie- heit machen wollen. Unser Programm kannt ist. Damit wollen wir auch dieje- ren. Es geht nicht darum, in möglichst setzt sich ja auch nicht dadurch um, nigen für uns gewinnen, die vorrangig vielen Orts- und Kreisverbänden zu ver- dass wir es rauf und runter lesen und im Netz aktiv sind. Selbstverständlich künden, wie toll und richtungsweisend »Parteilehrjahre« dazu veranstalten. Es stellt dies für uns eine Herausforderung ein Vorstand, eine Fraktion oder eine ist viel wichtiger, dies nun in die politi- dar, von der wir noch nicht wissen, ob Funktionärin, ein Funktionär gewirkt sche Praxis zu übersetzen. Der Gedan- wir sie umfassend gut bewältigen wer- hat. Aus dem repräsentativen Reden ke von Marx aus seiner zweiten Feu- den. Aber eine zeitgemäße, eine mo- über Politik wird erst dann Beteiligung, erbachthese sollte auch für das Pro- derne LINKE kommt um diese Aufgabe wenn die Genossinnen und Genossen gramm der LINKEN gelten: »Die Frage, nicht herum. mitbestimmen können. Dann nämlich ob dem menschlichen Denken gegen- In Zeiten der Krise ist die Planung erst können wir die vielen Kompeten- ständliche Wahrheit zukomme – ist politischer Prozesse eine schwieri- zen und Stärken unserer Mitglieder, keine Frage der Theorie, sondern eine ge Angelegenheit. Beim besten Willen von denen die Bundesgeschäftsführe- praktische Frage. In der Praxis muß der können wir die Wendungen, die even- rin Caren Lay vor Kurzem geschrieben Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklich- tuell 2012 und 2013 vor uns liegen, hat, für unsere Partei nützlich machen. keit und Macht, Diesseitigkeit seines nicht vorhersagen. Aber wir können uns Beteiligung und Mitbestimmung gehö- Denkens beweisen. Der Streit über die wappnen und vorbereiten. Die Heraus- ren eng zusammen! Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des forderung besteht darin, glaubwürdig Bereits in der Programmdebatte ha- Denkens – das von der Praxis isoliert und kompetent das Vertrauen der Bür- ben wir uns viele Diskussionsformen ist – ist eine rein scholastische Frage.« ger/innen dafür zu gewinnen, dass die erarbeitet, die wir nun weiter nutzen. sächsische LINKE für soziale Sicherheit Wenn nun Gesine Lötzsch zum »so- Mit offenen Augen und Ohren und Gerechtigkeit steht. Wir müssen zialistischen Wettbewerb« der Refe- zeigen, dass soziale Sicherheit unsere renzprojekte zum Programm aufruft, Deshalb führen wir all diese wichti- Kernkompetenz ist und unsere Konzep- haben wir etliches im Angebot. Paral- gen inhaltlichen Debatten nicht nur te auch umsetzbar sind. Wer verspricht, lel zur Programmdebatte diskutierten in der Partei, sondern starten im Früh- was nicht umsetzbar ist, ist auch nicht und verabschiedeten wir im November jahr dieses Jahres mit unserem »Dialog glaubwürdig. Dafür haben die Wähle- 2010 unsere »Energiepolitischen Leit- für Sachsen«, inspiriert von den Bran- rinnen und Wähler ein feines Gespür. linien«, wichtiger Baustein für den so- denburger GenossInnen. Mit all unse- Nachdem wir all die verschiedenen zial-ökologischen Umbau in Sachsen. ren Ideen werden wir mit Vereinen, Ver- Leitlinien diskutiert und beschlossen Dafür konnten wir große öffentliche bänden, Gewerkschaften und anderen haben, erarbeiten wir auf deren Grund- Aufmerksamkeit im besten Sinne des zivilgesellschaftlichen Organisationen lage ein integriertes Landesentwick- Wortes ernten. Zugleich wurden damit ins Gespräch kommen. Damit reali- lungskonzept für Sachsen. Im Bundes- einige inhaltliche Konfl ikte in unserer sieren wir unseren programmatischen tagswahljahr 2013 werden wir damit sächsischen Partei kulturvoll bearbei- Anspruch, eine lernende Partei zu in der öffentlichen Debatte auftreten, tet. Bereits vor zwei Jahren haben wir sein. Der gesellschaftliche Dialog mit um uns unmittelbar im Anschluss an mehrere Arbeitsgruppen mit der Aufga- den Einwohnerinnen und Einwohnern die Bundestagswahlen auf die Land- be berufen, weitere inhaltliche Papiere Sachsens, mit denen wir entsprechend tags- und Kommunalwahlen 2014 zu für die Diskussion in der Partei und für dem Erfurter Programm gemeinsam Po- konzentrieren. Bis 2004 galt Sachsen die öffentliche Debatte vorzubereiten. litik gestalten wollen, ist zugleich po- ja ein wenig als das »Bayern« des Os- Daher konnten wir auf dem November- litisches Handeln und Lernprozess für tens, da die CDU bis dahin immer weit parteitag 2011 sehr umfassend ange- uns. Agitierende Parteien, die ihre Kon- über 50 Prozent der Stimmen erhielt.

LANDESVERBAND DISPUT Januar 2012 12 © DIE LINKE.Sachsen DIE ©

Öffentlichkeit schaffen für wirksamen Protest und realistische Alternativen.

Der Einbruch der Union im Jahr 2004, Das Motto unseres Landespartei- sächsische LINKE Neuland und würde der einen Bergrutsch von über 15 Pro- tages im November 2011 lautete: »Es ein weiteres qualifi ziertes Angebot zur zent bedeutete, hat sich als bis heu- sind die Verhältnisse, die wir ändern im Jahr 2011 erstmalig durchgeführten te andauernd erwiesen. Die Parteien müssen.« Es geht uns dabei nicht al- Sommerakademie darstellen. links von der Union werden kontinuier- lein darum, als Partei die gesellschaft- Vor allem im Zusammenhang mit lich um oder über 40 Prozent gezählt, lichen Verhältnisse ändern zu wollen, der Zukunftsfähigkeit des Landesver- die Piraten nicht eingerechnet. Rech- sondern auch darum, dass sich unsere bandes muss die Öffentlichkeitsarbeit nerische Mehrheiten sind jedoch kei- Partei ändern muss. Deswegen ist uns intensiviert werden. Jenseits von bis- ne politischen Mehrheiten. Unser »Di- diese Aufgabe als sächsischer Landes- herigen, vor allem klassisch genutz- alog für Sachsen« soll auch eine ge- verband genauso wichtig wie das »Fut- ten Medien müssen neue Wege ge- sellschaftliche Debatte für linke Al- ter für die Köpfe«. funden werden, sowohl für die interne ternativen zur schwarz-gelben Politik Weil Organisation und Struktur die als auch für die externe Kommunikati- verstärken. Noch nie war in den letzten halbe Miete des Erfolges sind, arbei- on. Das bedeutet neben der weiteren zweieinhalb Jahrzehnten die Möglich- ten wir weiter an der Parteientwicklung Qualifi zierung der neuen Landeszei- keit einer Ablösung der Union aus der und setzen die im Jahr 2011 beschlos- tung, diese noch stärker als Kommuni- Regierung so groß wie jetzt. Es bedarf senen Personalentwicklungskonzepte kationsmittel für die Mitgliedschaft zu jedoch einer Menge Arbeit, um aus die- praxisnah um. So hat der Landespar- nutzen. Auch der Webauftritt und die ser Möglichkeit eventuell eine Wirklich- teitag beschlossen, dass im Sinne ei- Möglichkeiten des Web 2.0 sowie sozi- keit zu machen. ner ganzheitlichen und untereinander ale Netzwerke im Internet sind weiter- Selbstverständlich sind all unsere abgestimmten Personalentwicklung hin qualitativ so auszubauen, dass der Aktivitäten nicht auf das parlamenta- im Landesverband die drei Stadt- und Landesverband für die anstehenden rische Wirken fi xiert. Vielmehr stehen zehn Kreisvorstände und der Jugend- Wahljahre ein breites, attraktives und die gesellschaftlichen Debatten und verband dem Landesvorstand bis En- spannendes Angebot offerieren kann. Aktivitäten im Vordergrund, für die wir de Februar 2012 jeweils zwei Personen Bedeutet, wir müssen mehr als bisher eng mit unseren VertreterInnen in Par- (quotiert) vorschlagen sollen, für die auch darüber öffentlich informieren, lamenten und den kommunalen Vertre- ab Sommer 2012 ein Fortbildungs- und was wir anzubieten haben: Tue Gutes tungskörperschaften zusammenarbei- Entwicklungsprogramm gestaltet wird, und rede darüber! ist eine Aufgabe im ten. Reibungslos ist das nirgends, aber welches auf die Übernahme von par- Jahr 2012. die Orientierung auf gemeinsam zu er- lamentarischen Mandaten und öffent- füllende Aufgaben und die immer grö- lichen Ämtern vorbereitet. Dabei sol- DIE LINKE. Sachsen ßer werdenden Herausforderungen un- len insbesondere politische Weiterbil- Großenhainer Straße 101, 01127 Dresden serer nicht nur zahlenmäßig schwächer dung, Kommunikationstraining und An- Telefon: 0351/853270 werdenden Mitgliedschaft hilft oft, Dif- eignung von Abläufen in Parlamenten [email protected] ferenzen gedeihlich beizulegen. im Mittelpunkt stehen. Das ist für die www.dielinke-sachsen.de

13 DISPUT Januar 2012 Ich bin immer optimistisch geblieben Ruth Fritzsche, die gute Seele in Freiberg (Sachsen)

denlanges Stehen, mitunter mieses Wofür warst du verantwortlich? Wetter … Warum tust du dir das an, Es ging um Krippenplätze, um lei-

© Jakob Huber Jakob © warum gehst du zu solchen Protesten? tende Funktionen für Frauen … – da Weil die Partei dazu aufruft, weil du bin ich dann zu den Parteisekretären als Jugendliche den Krieg erlebt hast, gegangen und habe mit ihnen geredet. weil du antifaschistisch erzogen wor- Das war an und für sich eine schöne Ar- den bist? beit, eine selbstständige Funktion. Ich Mich bewegt vor allem meine anti- war nur dem 2. Sekretär rechenschafts- faschistische Einstellung. Ich bin ge- pfl ichtig, und der hat mich machen las- gen die Nazis erzogen worden; meine sen. Eltern waren beide in der Kommunis- Es ist so etwas wie eine Premiere für tischen Partei, mein Vater war da sehr Gleich von mehreren hörte ich: Ja, die mich: Zuerst war da dieses – wie ich aktiv, bis ’33 und auch danach. Ruth, die ist die gute Seele in der Ge- finde – besondere Foto und damit Ich bin 1945 mit meinem Vater ins schäftsstelle im Kreisverband, ist je- dann der Wunsch, mehr über die Ab- Polizeipräsidium Chemnitz gegangen – den Tag dort. Im Internet lese ich, dass gebildete zu erfahren. Jetzt sitzen wir, ich als Schreibkraft –, und viele Genos- du seit vielen, vielen Jahren das Linke- an einem stürmisch-nassen Vormittag sen kamen aus Waldheim, dem Zucht- Blatt mit herstellst. Du fährst zu Par- im Januar, in der Freiberger Geschäfts- haus. Da haben wir die Nazis verhaf- teitreffen und Demonstrationen weit stelle, du warst bereits heute früh hier tet. Der Mutzschmann, der Nazi-Gau- weg von Freiberg, hast dich 2007 so- nach dem Rechten sehen und anschlie- leiter von Sachsen, stand vor mir und gar gegen das G8-Treffen in Heiligen- ßend einem 81-Jährigen zum Geburts- ich musste ihn fragen, wie er heißt. Das tag gratulieren. Das gehört, wie ich er- sind solche Episoden ... fuhr, zu deinem ganz normalen Partei- Und jetzt, jetzt sind die Nazis wieder Alltag. Doch zunächst möchte ich dich da. Es ist für mich unfassbar, wie die nach eben diesem Foto fragen. Wann sich wieder breit machen konnten. Wie Richter Stefan © und wo genau ist es entstanden? in der Vergangenheit viele im Westen Am 19. Februar 2011 in Dresden, zu den Nazi gestanden haben, wuss- bei den Protesten gegen den Nazi-Auf- ten wir ja. Es war ja nicht unbekannt, marsch. Wir waren mit dem Omnibus wer Globke war, wer Lübke war, wer hingefahren. In der Nähe vom Bahn- Gehlen war; wir wussten, dass ehema- hof Mitte mussten wir eine Weile ste- lige SS-Leute sich immer wieder treffen hen. Ich hatte mir da die Fahne umge- und die Gebirgsjäger und, und, und. legt und einer, dem das wahrscheinlich Aber dass es soweit kommt, dass die imponierte, kam und hat mich fotogra- uns hier überschwemmen … fi ert. Das ging alles blitzschnell. Später habe ich mich gewundert, Es sind doch nicht nur »Importe« … dass ich mein Bild im Internet fand und Ja. Bestimmt gab es auch in der DDR auch im DISPUT. Ich dachte, ach du lie- welche, die Nazis geblieben sind, aber ber Gott! Na ja, da freut man sich. direkt habe ich die nicht kennenge- lernt. Warst du zum ersten Mal bei der Blo- ckade gegen die Nazis in Dresden? Du stammst aus Chemnitz. Seit wann Ne. 2010 waren wir an der Hansa- lebst du in Freiberg, was hast du be- straße, wo auch unsere (sächsische) rufl ich gemacht? Fraktion mit der hessischen Fraktion Mit einigen Jahren Unterbrechung und der thüringischen Fraktion war. bin ich seit 1946 in Freiberg. Ich hatte Und 2009 gab’s am Schlossplatz ei- kaufmännische Angestellte gelernt und ne Kundgebung, bei der am Anfang der arbeitete in der Staatlichen Kontrolle, Müntefering gesprochen hat und am der späteren Arbeiter- und Bauern-Ins- Ende der Gregor Gysi. pektion. Als ich meinen Abschluss für Dieses Jahr wollen wir wieder fah- Ökonomie und Planung im Fernstudium ren. Ich kümmere mich um den Omni- an einer Fachschule gemacht hatte, kam bus für Freiberg und Umgebung; das gerade vom Politbüro ein Beschluss heißt: Ich habe schon die Genossen in »Frauen in leitende Funktionen« und Brand-Erbisdorf angesprochen, die in so wurde ich Kaderleiterin im Papier- Flöha und in Frankenberg. maschinenwerk Freiberg, war danach in der SED-Kreisleitung und dort viele Jah- Hin- und Rückfahrt, manchmal stun- re Vorsitzende der Frauenkommission.

MITGLIED DISPUT Januar 2012 14 damm gestellt. Warum das alles? Du mer Politik. Selbst in der Nazizeit – zu Wenn dir heutzutage jemand sagen wirst doch nicht etwa ‘ne feuchte Woh- uns in die Wohnung kamen nur Leu- würde, den Kreisvorstand kritisiert nung haben? te, mit denen man offen reden konnte. man nicht … Ne, ne. Im Großen und Ganzen ist »Quatscht draußen bloß nicht rum«, Wo leben wir denn? Wir sind doch das meine politische Überzeugung. hieß es für meinen Bruder und mich, nicht mehr in der SED. Ich meine, ich Weißt du, als 1989 alle austraten »sonst kommt Vater ins Kittchen.« kritisiere nun nicht um der Kritik willen, aus der SED, war das nicht einfach. Natürlich haben wir uns, wenn wir aber wenn es was zu sagen gibt, sage Wenn du da gehört hast, was zusam- ehrlich sind, auch geirrt. Vieles hat man ich das auch. mengetragen worden war ... Damals über sich ergehen lassen bei der SED, habe ich mir gedacht: Austritt? Ne, geht leider. Ich habe mich dann oft gefragt: Du hast so eindrücklich deine Grund- nicht. Ich habe immer gesagt. Ich war Warum haben wir das alles verspielt. haltung erläutert. Trotzdem, oder den- Sozialist, ich bleibe Sozialist und wer- Da bin ich traurig und könnt‘ heulen. noch, möchte ich dich fragen, inwie- de als Sozialist sterben. Das ist meine weit du dich in den vergangenen – sa- volle Überzeugung. Was waren solche Irrtümer? gen wir gut zwanzig – Jahren verändert Ich kenne das auch von meiner Fa- Vor allem das Statut und was dar- hast. milie nicht anders. Politik war bei uns aus gemacht wurde. Ich habe mal den Ich habe von Anfang an gesagt, ich immer das A und O. Ich komme aus so 2. Sekretär gefragt: Bei uns im (SED-) kritisiere an der DDR, was kritikwür- einer Familie, väterlicherseits. Bei mei- Statut steht, du hast das Recht, unab- dig ist. Zum Beispiel die Defi zite in der nem Urgroßvater übernachtete mal der hängig von der Person Kritik zu üben – Demokratie und die politische Einmi- August Bebel, der hier seinen Wahl- Und warum können wir dann das Se- schung in fachliche Entscheidungen. kreis hatte. Meine Großmutter war So- kretariat der Kreisleitung nicht kritisie- Um alles Mögliche hat sich die Kreislei- zialdemokratin. Sie gingen dann zur ren? Da hat er geantwortet: Merke dir: tung gekümmert, anstatt dass wir Poli- Spartakusgruppe von Karl Liebknecht Das Sekretariat ist das Führungsorgan tik gemacht haben. Unmöglich. und Rosa Luxemburg, und nach der des Kreises und das wird nicht kriti- Unsere Partei hat sich grundlegend Gründung der KPD ist die ganze Fami- siert, das kritisiert sich selber. geändert. Deswegen habe ich mich lie in die Partei eingetreten; mit der re- Das war auch eine Antwort. Mit so auch von Anfang an zu ihr hingezogen formistischen Sozialdemokratie woll- was haben wir uns selbst geschadet. gefühlt: zuerst zur PDS, jetzt zur LIN- ten die alle nichts mehr zu tun ha- Ich empfi nde das als eine ganz schlim- KEN. Die Atmosphäre war auf einmal ben. In der Beziehung war bei uns im- me Sache. eine ganz andere.

15 DISPUT Januar 2012 Ich bin für Offenheit. Klar, manch- meistens aus Gesundheitsgründen. Was heißt: besonders wichtig? Ich mal wird auch bei uns im Land ge- Jetzt ist eine 93-Jährige ausgetreten. nehme da keine Wertung vor. Mich in- tratscht … Na ja, da sage ich: Mensch, teressiert die Gesamtpolitik der Partei. hört auf mit eurem Käse, das interes- Schmerzt es sehr, wenn du den Trend Ein spezielles Gebiet habe ich nicht, siert mich überhaupt nicht! Wenn’s bei der Mitgliederzahl siehst? ich gehöre auch zu keiner Plattform zum Beispiel um Kandidaturen für den Ja, das tut mir weh. Wir haben zu we- oder so. Mich bewegt die Politik der Landtag geht: Da gönnen sie sich ge- nige junge Leute, und auch das Mittel- gesamten Partei. Und ich informiere genseitig die Luft nicht. Ich möchte gar alter fehlt. Manche Genossen ziehen mich täglich im Internet darüber, was nicht in dem Landtag sitzen, den Streit arbeitsmäßig in den Westen. anliegt. Ich hab das Neue Deutschland dort immer anhören … Klar, ab und zu bringt [‘solid] mal ei- abonniert, die Freie Presse und den nen, zum Beispiel in Geringswalde. DISPUT, und ich bekomme die »Clara« Ohne dich wäre das Leben der Frei- von der Bundestagsfraktion. berger LINKEN um einiges ärmer, wür- Welchen Platz hat DIE LINKE in Frei- de manches unerledigt liegen bleiben. berg? Wie seid ihr spürbar? Hast du nach 1990 mal über einen Par- Auch weil’s zu wenige gibt, die einen Wir sind die zweitstärkste Partei, in teiaustritt nachgedacht? Teil der Aufgaben übernehmen könn- der Stadt wie im Kreis, nach der CDU. Ne. Ich habe die Höhen und Tiefen ten? Klar, wir gehen in die Öffentlichkeit. der PDS mitgemacht. Wenn’s schlimm Ja, ja, es könnten mehr sein. Zum Beispiel haben wir 2011 ein Bür- war, hab ich mir gedacht: Das gibt sich gerforum gemacht zum Straßenaus- wieder. Ich bin immer optimistisch ge- Deine junge Mitstreiterin Susann Mar- bau, zu einer möglichen Umgehungs- blieben. tin erzählte mir, wie es sie freut, nicht straße. Das kam sehr gut an. Vorher allein deine Geschichten hören zu kön- hatten wir mal eine Veranstaltung zum Welche Lehren hast du von anderen nen, sondern auch, wenn sie dir am Grundeinkommen, auch mit viel Publi- übernommen? Gab es Vorbilder oder Computer etwas erklären kann. Wie kum. Ereignisse, die dich geprägt haben? bist du denn an den PC geraten? Die »Freie Presse« kann uns nicht Dass ich mich nach jemandem rich- Ich kann Schreibmaschine schrei- ganz umgehen. Natürlich müssen wir te, kann ich eigentlich nicht sagen. Im- ben. Also habe ich mir gedacht: Das uns der Presse anbieten, man kann ponieren tun mir einige. Zum Beispiel musst du lernen! Da habe ich mich rein ja nicht erwarten, dass die immer von die Sahra Wagenknecht oder der Gre- gelebt in das Zeug. Manchmal weiß sich aus angebraust kommen. gor Gysi. Bestärkt hat mich, wenn wir ich selber nicht, wie wir das geschafft Bekannt sind wir in Freiberg auch in den Wahlen an Stimmen zugelegt haben. Na ja, ein Softwareprogramm durch unsere regelmäßigen Infostän- haben. In Sachsen fi ngen wir 1990 mit kann ich nicht entwickeln. Doch wenn de. An der Petersstraße oder am Ober- zehn Prozent an, bei der nächsten Wahl ich morgens in die Geschäftsstelle markt. Zu Afghanistan und zu den an- lagen wir schon bei 16 Prozent. Bei der komme, gucke ich als erstes nach den deren Themen. Dort sammeln wir auch vorigen Landtagswahl wollten wir 25 E-Mails. Jetzt machen wir das Mitglie- Unterschriften. Im Winter geht das na- Prozent erreichen, das haben wir lei- derprogramm. türlich schlechter. der nicht geschafft. Und nochmal wegen der »feuch- Klar, viele gehen am Infostand vor- ten Wohnung«: Also, ehrlich: Die Woh- Wer mehr über euren Kreisverband er- bei, aber das stört uns nicht, wir sind nung halte ich in Ordnung. Aber wenn fahren möchte, darüber, was euch und eben da und die müssen uns zur Kennt- ich den ganzen Tag daheim hocken soll was bei euch wichtig ist, schaut am nis nehmen. Und dann sagen uns man- und den Mist im Fernsehen anschauen besten via Internet in eure LINKE-Zei- che: Das ist gut, ihr seid wenigstens – um Gottes willen! tung. Die gibt es seit 1990 – toll! hier, ihr redet mit uns. Man freut sich, Anfangs war das ein Informations- wenn man bei welchen feststellt, die Gibt’s wirklich nichts anderes als die blatt und hatte kein Niveau, wir verteil- steh’n zu uns, die wähl‘n uns. Das sind Partei? ten es trotzdem. Inzwischen haben wir so Sachen, wo man sich sagt, die Ar- Ich bin immer ins Theater gegan- fast 300 Ausgaben geschafft und jetzt beit lohnt sich. gen, das war sonntags und das war eine Aufl age von 800 Stück; die Auf- gut. Aber nun haben sie den Zyklus lagenhöhe ist für uns auch eine Frage Was ärgert dich? auf den Dienstag gelegt. Ich will aber des Geldes. Als Redaktion wünschten Ich lasse mir das zwar nicht anmer- nicht dienstags ins Theater. Da habe wir uns oft mehr Resonanz. Aber glück- ken, aber mich ärgern blöde Diskussi- ich mich erst mal zurückgezogen. licherweise erlebe ich auch, dass mich onen. Seit 1990 verreisen wir in einer Trup- Nichtmitglieder ansprechen: Ich habe pe: zuerst ausschließlich Genossinnen, Ihre Zeitung gelesen, Ihr Artikel hat das Du bist, was man kaum glauben mag, Genossen und Sympathisierende, jetzt auf den Punkt gebracht. 85. Vor gut einem Monat, am 1.12., war auch andere. Wir waren schon überall, Die Basisgruppen holen jeden Mo- das Jubiläum. Herzlichen Glückwunsch wir waren in Slowenien, in den Masu- nat die aktuelle Ausgabe hier in der Ge- nachträglich und für heute eine letzte ren, in Görlitz, in Koblenz … schäftsstelle ab. Ich nehme immer 50 Frage: Hast du noch Träume? Stück mit; ich habe eine ganze Reihe Was heißt Träume? Ich darf gar nicht Wie viele Mitglieder hat euer Kreisver- Sympathisanten im Wohngebiet, und an das Alter denken, sonst denke ich: band? die werden alle von mir bedient. Um Gottes willen! In Mittelsachsen zurzeit 797. Übrigens: Lange Sätze kann ich Mein größter Traum ist, lange ge- nicht leiden – wenn man am Ende nicht sund zu bleiben und dass ich noch ei- Das hört sich gut an, aber ihr ward si- mehr weiß, was vorn drin steht. nige schöne Zeit miterlebe und dass wir cherlich schon mehr? wieder mehr Prozente kriegen. Das ist, Nach der Kreisneubildung waren Was ist dir politisch besonders wich- was mich bewegt. wir fast tausend. Viele sind gestorben. tig, was vor allem möchtest du ande- Nur wenige treten aus, und wenn, dann ren vermitteln? Gespräch: Stefan Richter

MITGLIED DISPUT Januar 2012 16 Umjubelt in der Berliner Volksbühne beim abendlichen Kulturfest am 15. Januar: die holländische Gruppe Bots (unten), der Kabarettist Henning Venske, die Gruppe Neues Glas aus alten Scherben und Quilapayun mit Camila Moreno. © ErichWehnert© (3)

17 DISPUT Januar 2012 KULTUR Aus Wut wurde Mut Elke Bauer gibt im Stadtrat von Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz) den Benachteiligten eine Stimme Von Harald W. Jürgensonn

seren Vorschlag auf Übernahme der Ki- Ausschüssen sitzen. Von den übrigen ta-Mittagessenkosten für Kinder aus 58 Ratsmitgliedern geduldet, belä- Hartz-IV-Familien in Höhe von 240.000 chelt, ignoriert. »Aber sie müssen sich Euro ab. Gleichzeitig bekommt ein Un- mit meinen Wortmeldungen beschäfti- ternehmer 260.000 Euro Zuschuss, um gen«, sagt Elke, »das ist wenigstens et- teure Penthouse-Wohnungen hier hin- was. Im Jugend- und Sozialausschuss © privat, DIE LINKE.Rheinland-PfaDIE privat, © z zusetzen. Das macht mich wütend!« kommen sie nicht an mir vorbei.« Ab Politisch interessiert war sie schon und an steht sogar etwas über Elke, immer, aber nie Mitglied in einer Partei. DIE LINKE und vor allem die Themen »Ich habe mich im Verband alleinerzie- der LINKEN in der lokalen »Rheinpfalz«, hender Mütter und Väter engagiert. Da dem Zeitungs-Platzhirsch der »Medien- sprach mich Ingrid Aigner an, ob ich Union«. »Aber richtig groß berichten »Das macht mich wütend!«, sagt sie, nicht mal bei der LINKEN vorbeikom- die über uns nur, wenn es kracht in der wenn sie meint, dass etwas ungerecht men wollte.« Das war im Spätsommer Partei. Das macht mich wütend.« sei. Um dann gleich noch anzuhängen: 2008, und im Dezember schlug Aigner, Elke Bauer hält nichts davon, Inner- »Da muss man doch was tun!« die Kreisvorsitzende der Partei in Lud- parteiliches öffentlich auszutragen. Elke Bauer wurde schon oft wütend wigshafen, Elke für die Kommunalwahl- »Ich bin bei LISA aktiv, arbeite in einer in ihrer Heimatstadt Ludwigshafen. liste vor – auf Platz 1. »Als DIE LINKE Kommunalpolitik-Landesarbeitsge- Und seit Sommer 2009 tut sie noch dann mit 3,9 Prozent in den Rat gewählt meinschaft mit – da hab‘ ich genug zu mehr als zuvor: Die 52-jährige Versi- wurde, dachte ich: Jetzt kann ich end- tun«, versichert sie und bedauert, dass cherungskauffrau sitzt für DIE LINKE im lich umsetzen, wofür ich bislang immer es die LAG Kinder, Jugend und Soziales Stadtrat der knapp 170.000 Einwohner erst Politiker begeistern musste.« nur noch auf dem Papier gibt: »Wir sind zählenden Arbeiterstadt, die nicht nur Nicht so einfach. Die Zusammenar- doch eine Kümmerer- und Mitmachpar- in den Tatort-Krimis mit Ulrike Folkerts beit mit dem zweiten in den Rat gewähl- tei, und das Soziale gehört zum Kern und Andreas Hoppe so grau dasteht. ten Genossen gestaltete sich von Anbe- unserer Politik.« »Wir haben hier eine Kinderarmut von ginn an schwierig, die Fraktion hielt nur Große Unterstützung bekommt sie 26 Prozent«, berichtet Elke Bauer, »und ein Jahr. Mit dem Ergebnis, dass für DIE von Kathrin Senger-Schäfer, der pfl e- dann lehnen die anderen Parteien un- LINKE jetzt zwei Einzelkämpfer in den gepolitischen Sprecherin der Bun-

In Aktion: Elke Bauer – hier beim Gründungskongress der LINKEN 2007. Oft auch bei Veranstaltungen und Demonstrationen.

MITGLIED DISPUT Januar 2012 18 destagsfraktion. »Sie unterstützt den sen in der Öffentlichkeit miteinander Kreisverband, wo sie nur kann, holt umgehen oder über andere herziehen, Ich abonniere Referenten wie Harald Weinberg, An- um selber in besserem Licht zu glän- drej Hunko und Michael Schlecht in die zen, macht mich das wütend.« DISPUT Stadt. Lothar Bisky, Oskar Lafontaine – Auch die Personaldebatte vor dem das sind Namen, die auch Nichtmitglie- Bundesparteitag macht sie – mal wie- der zu unseren Veranstaltungen brin- der – wütend. »Das lenkt in den Me- gen.« Und wenn sie mal wieder beson- dien von unseren Inhalten ab. Überall ders wütend ist, geht sie auch zu Ka- werde ich gefragt, wer denn der oder thrin, »um mir Rat zu holen oder mich die nächste Vorsitzende wird. Was ich einfach mal auszuquatschen. Wenn sie im Rat vorhabe, interessiert dann kei- Name, Vorname dann von ihrer Arbeit in Berlin erzählt, nen mehr.« Nach außen, so die ruhi- werden meine Probleme schon wieder ge, aber politisch streitbare Politikerin, etwas kleiner …« »gehören unsere Kernthemen. Und das Straße, Hausnummer Neben Ratstätigkeit und Beruf in ist das Soziale in unserem Programm.« Vollzeit füllen Veranstaltungen und Was wünscht sie sich zur Halbzeit

Gespräche ihren Terminkalender. Bei der Ratsperiode? »Dass es mir gelingt, PLZ, Ort der großen Anti-Atom-Demo zwischen in Ludwigshafen Themen anzustoßen, Mannheim und Ludwigshafen lief sie die sowohl in der rot-schwarzen Koali- in erster Reihe mit, an Infoständen tion als auch bei Grünen, FDP und Frei- Ich bestelle ab sofort Exemplar(e) wirbt sie für DIE LINKE, erklärt, wie es er Wählergruppe bisher keine Themen der Zeitschrift DISPUT im menschlicher zugehen könnte in der waren: Was machen wir gegen Kinder- vom Megakonzern BASF beherrschten armut? Wie helfen wir den Menschen, Halbjahresabonnement zum Preis von Stadt. Ihre 21-jährige Tochter, auch LIN- die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Si- 12,00 Euro inkl. Versandkosten KE-Mitglied, ist oft dabei. »Und dann tuation vom gesellschaftlichen Leben bin ich auch noch im Kreisvorstand, um weitestgehend ausgeschlossen sind? Jahresabonnement zum Preis von bei aller politischen Arbeit den Kontakt Wir müssen denen eine Stimme ge- 21,60 Euro inkl. Versandkosten zur Basis nicht zu verlieren.« Viel Frei- ben, denen sie von den anderen Par- zeit und ein Teil des Urlaubs 2009 gin- teien genommen wurde.« und nutze den vorteilhaften Bankeinzug gen für den eigenen Wahlkampf drauf, Und über die Grenzen von Ludwigs- 2011 klebte sie mit einem harten Kern hafen hinaus, das vor allem von den von einem Dutzend Genossinnen und Mannheimern gerne »Lumpenhafen« Genossen in und um Ludwigshafen Pla- genannt wird (ein Name, den die Ar- Geldinstitut kate, warb an Infotischen für den Ein- beiterbevölkerung immer mit Stolz an- zug der LINKEN in den Landtag. Solida- nahm)? »Die Hedgefonds müssen ver- risch, an sieben Tagen in der Woche. schwinden, die Finanzhaie müssen Mit dem Einzug der Partei in den Land- weg. Und vor allem – da werd‘ ich rich- Bankleitzahl tag hat’s dann doch nicht geklappt. El- tig wütend – darf es weltweit keine ke ist sich sicher: »Mit ein bisschen Spekulationen mit Lebensmitteln mehr mehr Solidarität quer durchs Land hät- geben. Das ist doch nichts anderes als Kontonummer ten wir was reißen können. Aber ich legalisierter Massenmord.« karte da nicht nach – beim nächsten Aber besonders im unmittelbaren oder Mal sind wir drin.« Sie auch? »Nee, Umfeld sieht sie die Möglichkeit, die keine Ambitionen. Hier in Ludwigsha- Politik der LINKEN voranzubringen: bitte um Rechnungslegung (gegen fen gibt’s genug zu tun.« »Wir haben unsere sozialen Kernthe- Gebühr) an meine Adresse. Rheinland-Pfalz ist ein Flächen- men. Sie sind das Fundament für den land. Zu überregionalen Veranstaltun- Aufbau der Partei, für die Entwicklung gen und Terminen muss man oft mehr- weg vom menschenverachtenden Ka- stündige Autofahrten einkalkulieren. pitalismus zu einer sozial gerechten, Das Abonnement verlängert sich automatisch um den »Deshalb kann ich nicht oft an den öf- einer sozialistischen und demokrati- angegebenen Zeitraum zum gültigen Bezugszeitraum, falls ich nicht 15 Tage (Poststempel) vor dessen Ablauf fentlichen Landesvorstandssitzungen schen Welt. Auf immer wieder andere schriftlich kündige. teilnehmen oder Einladungen ande- Themen zu springen, nur weil eine an- rer Kreisverbände annehmen. Aber der dere Partei sie auf die Tagesordnung Kontakt und der Gedanken- und Erfah- setzt, halte ich für falsch. Wir müssen rungsaustausch mit Genossinnen und auf die Menschen zugehen, mit ihnen Datum, 1. Unterschrift Genossen aus dem ganzen Land – das reden. Wir sind die Kümmererpartei, ist mir schon wichtig«, betont sie. Ei- die zum Mitmachen einlädt. Unsere Ich habe zur Kenntnis genommen, dass ich die Bestellung ner Strömung gehört sie nicht an: »Das Auseinandersetzungen haben wir drin- innerhalb von 10 Tagen widerrufen kann. bringt nichts. DIE LINKE ist kein Wahl- nen zu führen, sie sind notwendig in ei- Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung des verein, um X oder Y zu Amt oder Man- ner lebendigen Partei. Aber nach drau- Widerrufs. dat zu verhelfen. Ich mach‘ meine po- ßen haben wir solidarisch unser Pro- litische Arbeit, und Inhalte sind mir gramm und keine Einzelinteressen zu wichtiger als stundenlange Gespräche vertreten. Dann bekommen wir auch Datum, 2. Unterschrift darüber, wie man Mehrheiten organi- mehr Mitglieder, mehr Wählerstimmen, Coupon bitte senden an: Parteivorstand DIE LINKE, siert oder wer wem wann was gesagt mehr Einfl uss.« Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin. oder nicht gesagt hat. Wenn ich sehe, So einfach ist das. Alles andere Bestellungen auch möglich unter: www.die-linke.de wie manche Genossinnen und Genos- macht sie wütend.

19 DISPUT Januar 2012 Realistisch gegen Kapitalismus DIE LINKE in Nordrhein-Westfalen Von Bärbel Beuermann und Wolfgang Zimmermann, Vorsitzende der Landtagsfraktion

Als DIE LINKE im Mai 2010 in den Land- tatur zu kennzeichnen. Selbstverständ- nicht überschritten. Zugleich erhöh- tag von Nordrhein-Westfalen einzog, lich war die DDR kein Rechtsstaat. Wer te die Minderheitsregierung die Aus- waren sich die meisten Medien einig: sich aber ernsthaft mit der Justiz der gaben im Bildungs- und Sozialbereich Das sind linke Chaoten. »Begründet« DDR beschäftigt, weiß, dass der ideo- sowie die Zuweisungen an die Kom- wurde dies mit aus dem Zusammen- logische Kampfbegriff »Unrechtsstaat« munen. Deshalb konnten und muss- hang gerissenen Versatzstücken unse- nicht die Wirklichkeit trifft. Aus gutem ten wir uns enthalten. Wir analysierten res Wahlprogramms. Wahr ist nur: Wir Grund hatte auch der letzte Minister- den Kurs von SPD und Grünen als eine LINKEN in NRW haben einen klar anti- präsident der DDR, Lothar de Maizière moderate Akzentverschiebung weg von kapitalistischen Kurs. Wir sind den In- (CDU), diesen Begriff stets zurückge- der Agenda-Politik. teressen der abhängig Beschäftigten, wiesen. Wir mussten aber nach etwa einem der Erwerbslosen, der Rentner/innen Jahr erkennen, dass diese Akzentver- und der benachteiligten Menschen in Besondere Herausforderung: schiebung an ihre Grenzen stößt. CDU diesem Land verpfl ichtet, und wir sind die Minderheitsregierung und FDP hatten gegen den Nachtrags- davon überzeugt, dass letztlich nur haushalt 2010 auf Grund der deutli- die Überwindung der kapitalistischen Am Ende der erfolglosen Sondierungen chen Erhöhung der Neuverschuldung Produktionsweise zugunsten einer de- auch mit der CDU und der FDP stand Verfassungsklage eingereicht und vom mokratischen sozialistischen Gesell- die Minderheitsregierung von SPD und Landesverfassungsgericht Recht be- schaft diesen Interessen gerecht wer- Grünen. Die Linksfraktion ist mit unse- kommen. Teile des Nachtragshaushalts den kann. ren 11 von 181 Abgeordneten die kleins- konnten daher nicht vollzogen werden. Das Ergebnis der Landtagswahl war te Fraktion im Landtag. Niemand konn- Unsere Fraktion sah diesen Eingriff des nicht nur in dem Sinne bemerkens- te und kann von uns erwarten, dass wir Verfassungsgerichts in das Budget- wert, dass DIE LINKE in diesem west- angesichts dieses Kräfteverhältnisses recht des Parlaments ausgesprochen deutschen Bundesland mit 5,6 Pro- entscheidende Teile unseres Wahlpro- kritisch. Unter dem Druck der Presse zent der Stimmen die 5-Prozent-Hürde gramms durchsetzen. Dennoch stan- schwenkte das Pendel in NRW nach geknackt hatte. Darüber hinaus wur- den und stehen wir vor einer besonde- dem Urteil wieder stärker in Richtung de die CDU-/FDP-Regierung abgelöst ren Herausforderung, weil es in NRW Haushaltskonsolidierung. Der Großteil und SPD und Grünen fehlte ein Man- eben die Minderheitsregierung von der Steuermehreinnahmen des Jahres dat zur Mehrheit. Aus diesem Grund SPD und Grünen gibt. Diese beiden 2011 fl oss daher in die Reduzierung gab es auch Sondierungsgespräche Parteien mussten sich aus wahlpoli- der Neuverschuldung. Wichtige soziale von SPD und Grünen mit der LINKEN. tischen Gründen von der Schröder/Fi- und ökologische Zukunftsinvestitionen Aber was stellte sich schließlich he- scher/Müntefering-Politik, von der Po- unterblieben. Wir LINKE haben SPD und raus? SPD und Grüne waren offen- litik der Agenda 2010, von Hartz IV und Grüne dafür scharf kritisiert. sichtlich überhaupt nicht daran inte- von dem unsozialen Kurs des Einkni- Nicht umsonst hatten beide Partei- ressiert, mit uns über inhaltliche The- ckens vor dem neoliberalen Deregu- en auf Bundesebene der Verankerung men und die Schnittmengen der Wahl- lierungs- und Privatisierungswahnsinn der Schuldenbremse im Grundgesetz programme zu sprechen. Zum Beispiel absetzen – wenigstens optisch. zugestimmt. Demnach müssen die Lan- in der Schulpolitik, in der Sozialpoli- Das zeigte sich bei einzelnen Maß- deshaushalte bis 2020 eine Nettoneu- tik und in der Kommunalpolitik. Statt- nahmen, bei denen Forderungen von verschuldung von Null aufweisen. Und dessen verlangten SPD und Grüne von uns LINKEN aufgegriffen wurden – wie das, obwohl die Länder kaum Möglich- uns, die untergegangene DDR zum auch unsere Aufforderungen an SPD keiten haben, die Einnahmen zu stei- »Unrechtsstaat« zu erklären und der und Grüne, ihren eigenen Wahlverspre- gern. Ohne eine angemessene Belas- fi nanziellen Ausstattung des Verfas- chen Taten folgen zu lassen. Eines der tung der Vermögenden, Erben und Ein- sungsschutzes zuzustimmen. ersten Beispiele war die Abschaffung kommensmillionäre, die auf der Bun- Mit Sicherheit ist heute mehr Men- der Studiengebühren, das jüngste ein desebene beschlossen werden muss, schen als damals klar, dass wir LINKEN Tariftreue- und Vergabegesetz, das ei- können die Haushalte von Bund, Län- den Verfassungsschutz ablehnen, der nen wirklichen Fortschritt darstellt. In dern und Gemeinden nicht gestärkt seit Gründung strukturell auf dem rech- allen diesen Fällen haben wir im Ein- werden. Die beste Schuldenbremse ist ten Auge blind ist. Wir LINKEN werden klang mit den sozialen Bewegungen deshalb die Vermögenssteuer. Das gilt selbst vom Verfassungsschutz beob- und den Gewerkschaften mehr gefor- auch für die Europäische Union, der achtet, und zwar deshalb, weil wir den dert und doch für das gestimmt, was die Bundesrepublik gerade das wahn- antifaschistischen Auftrag des Grund- im Interesse der Studierenden und der sinnige Prinzip der Schuldenbremse gesetzes ernst nehmen und den Wider- abhängig Beschäftigten in die richti- zwangsverordnet hat. spruch zwischen dem Verfassungsan- ge Richtung wies. Das zeigte sich auch Die Fraktionen von SPD und Grünen spruch – nach dem die Würde des Men- beim Nachtragshaushalt 2010 und in NRW wollen die Schuldenbremse of- schen unantastbar ist – und der Verfas- beim Haushalt 2011. Unsere »roten fenbar nun auch in der Landesverfas- sungswirklichkeit anprangern. Haltelinien« – kein Sozialabbau, kein sung verankern. Sie setzen verstärkt Was die DDR betrifft, so waren wir Stellenabbau und keine Privatisierun- auf eine Politik der Haushaltskonsoli- bereit, ihr politisches System als Dik- gen öffentlichen Eigentums – wurden dierung, die wir LINKEN ablehnen. Der

FRAKTION DISPUT Januar 2012 20 Haushalt 2012 wird davon bereits ge- ter Internationaler Währungsfonds-Ma- tragungsnetze von RWE in Angriff zu prägt sein. Die Mehreinnahmen aus nier Zuschüsse mit unsozialen Sparvor- nehmen. Steuern sollen auf dem Altar dieser gaben. Wer nicht spurt, dem schickt die Ein wahres Lehrstück war die Ab- Konsolidierung geopfert werden. Wir Kommunalaufsicht einen Sparkommis- stimmung über neue Milliarden für die sagen dazu eindeutig Nein. Wir fordern sar. WestLB. Wir LINKEN sind da hart geblie- mehr Geld für den sozialen Bereich und Was die Einnahmeseite betrifft, so ben: kein weiterer Rettungsschirm für für die Kommunen sowie für ein sozi- hat diese Minderheitsregierung unter Banken ohne Geschäftsmodell. Gera- al-ökologisches Zukunftsinvestitions- unserem Druck die Zahl der Betriebs- de weil die WestLB sich im öffentlichen programm. prüfer und Steuerfahnder erhöht, aller- Eigentum befi ndet, ist auch eine Betei- Auch in der Schulpolitik gibt es kei- dings halbherzig und in viel zu geringer ligung der privaten Gläubiger der Bank ne Gemeinsamkeiten mehr, weil sich Anzahl. Auch die Erhöhung der Grund- unerlässlich. Was im Fall Griechenlands SPD und Grüne mit der CDU auf einen erwerbsteuer geht auf eine Forderung richtig ist, kann bei der WestLB nicht »Konsens« eingelassen haben, der unserer Fraktion zurück. Und obwohl falsch sein. Wir fordern daher ein öffent- weit hinter ihre Wahlversprechen vom die Landesverfassung von NRW in Arti- liches und transparentes Schulden-Au- »gemeinsamen Lernen« zurückfällt. kel 27 die Vergesellschaftung von gro- dit für die WestLB. Mittlerweile bereitet In der Kommunalpolitik sieht es nicht ßen Unternehmen fordert, die mono- sogar die EU-Kommission eine Richtlinie besser aus. Anstatt den Kommunen polartig wirken und ihre Macht miss- vor, die eine solche Beteiligung priva- mit deutlich höheren Zuweisungen aus brauchen, lassen SPD und Grüne die ter Gläubiger zukünftig zwingend vor- der Misere zu helfen, legt die Landesre- Energiekonzerne ungeschoren und ha- schreibt. Wir verbinden unsere Positi- gierung einen »Solidarpakt Stadtfi nan- ben sogar unseren bescheidenen An- on gegen weitere Milliarden für Zocker- zen« auf. Dieser verbindet in schlimms- trag abgelehnt, den Aufkauf der Über- Banken mit einem klaren Votum für eine Arbeitsplatzperspektive für die betroffe- nen Beschäftigten der Bank. Die zuneh- mende Einfl ussnahme der stark neoli- beral ausgerichteten EU-Politik auf die

© Michael Eckert Michael © Gesetzgebung der Nationalstaaten er- fordert eine enge Abstimmung mit un- seren VertreterInnen im Europarlament.

Kraftlos im Parlament ohne soziale Bewegungen im Land Wir LINKEN in NRW stimmen unsere Entscheidungen grundsätzlich mit den Gewerkschaften, den sozialen Bewe- gungen und – bezogen auf kommunale Entscheidungen, wie zum Beispiel bei Straßenbauprojekten – mit Bürgeriniti- ativen und den kommunalen Vertretun- gen ab. Hierbei hat sich gezeigt, dass ein kontinuierlicher Austausch mit der Bundestagsfraktion von Vorteil ist. Wir handeln im Parlament, aber vor allem auch außerparlamentarisch mit den Or- ganisationen und Initiativen der betrof- fenen Menschen, ohne deren Engage- ment und Mobilisierung wir nur wenig von Bedeutung durchsetzen können. Das gilt in besonderem Maße für das Jahr 2012: Mit der Umwelt- und Kli- maschutzbewegung, mit den Gewerk- schaften, mit den Flüchtlingsinitiativen und vielen anderen werden wir gemein- same Sache machen, wenn es darum geht, mit Demonstrationen, Streiks und vielfältigen Aktionen den Widerstand gegen die herrschende Politik zu orga- nisieren. Denn eines muss allen klar sein: Ohne starke soziale Bewegungen im Land werden wir im Parlament keine Kraft entfalten können.

Fraktion DIE LINKE im Landtag von Nordrhein-Westfalen Platz des Landtags 1 40221 Düsseldorf Wolfgang Zimmermann (Bildmitte) und Bärbel Scheuermann, am 3. Dezember in Bonn. www.linksfraktion-nrw.de

21 DISPUT Januar 2012 Klares Votum Fast 96 Prozent Zustimmung zum Parteiprogramm im Mitgliederentscheid

Ja, Ja, Ja … Nein … Ja, Ja … Das Ergebnis Genossinnen und Genossen. Das wa- Erfurter Programm der LINKEN durch des Mitgliederentscheides über das ren 48,86 Prozent der Mitglieder, de- einen Mitgliederentscheid beschlos- neue Parteiprogramm ist eindeutig. nen Abstimmungsunterlagen zuge- sen. Das große Auszählen am 18. Dezem- stellt wurden. »Wir haben damit«, schätzte Bun- ber 2011 im Berliner Karl-Liebknecht- Mit »Ja« für das neue Programm desgeschäftsführer Werner Dreibus Haus (siehe Foto) ergab 95,81 Prozent stimmten 32.728 Mitglieder. Mit ein, »ein mit einem breiten Mitglieder- Zustimmung. Am Mitgliederentscheid »Nein« votierten 668 Mitglieder, das willen getragenes Programm und kön- zwischen dem 17. November und dem sind 1,96 Prozent. Es gab 764 Enthal- nen gestärkt gute Politik für die Men- 15. Dezember beteiligten sich 34.199 tungen (2,24 Prozent). Damit ist das schen machen.« © Erich Wehnert

PROGRAMM DISPUT Januar 2012 22 tell Dir vor, der demokratische So- führen, wenn wir nicht die richtigen Ad- zialismus bricht aus und keiner ressen haben!« S weiß, wer das verzapft hat!« Somit lautet eine Schicksalsfra- Nun ja, die Antwort fällt leicht: Der ge der LINKEN im Jahr 2012: Wie kom- »entfesselte Kapitalismus« entfesselt men wir an die echten Adressen unse- eben auch seine Totengräber – alle Ver- rer echten Mitglieder? Dazu folgende dammten dieser Erde. Je ungezügelter Vorschläge: die Diktatur des Finanzkapitals, umso 1. Da DIE LINKE seit ihrer Geburt bun- unabwendbarer die demokratische Al- desweit vom Verfassungsschutz beob- ternative. Das entspringt dem uralten achtet wird, sollten wir unsere Adres- Selbsterhaltungstrieb der Menschheit senkartei mit den Aufpassern abglei- ebenso wie dem modernen Programm chen. Oft genügt ja der Hinweis, wer der LINKEN. rote Socken trägt. Was dieses Programm betrifft, so 2. Da die Schlapphüte auch eine sind das keine »fl iegenden Blätter im Hundertschaft V-Leute bei den Neona- Wind der Zeit«. Da wurde lange gegrü- zis installiert haben, könnten auch de- belt und debattiert, verglichen und ge- ren »Killer-Listen« zum Vergleich heran- strichen, beantragt und redigiert. Aber gezogen werden. nun steht es. Und was noch wichti- 3. Da auch Linke – wie Marx und En- ger ist: Die Mitglieder stehen dahinter. gels betonten – erst essen und trinken Die schriftliche Befragung ergab fast 96 müssen, ehe sie eine Weltrevolution Prozent Zustimmung. veranstalten, wäre eine Nachfrage bei Beteiligt waren im- einschlägigen Versandhändlern und Die Adressaten merhin 32.728 Köpfe Pizza-Diensten ratsam. und Herzen. 4. Da wegen permanenter Kritik an Nun gibt es aber den Bossen die Linken zuletzt geheuert Zwischenrufe, die sa- und zuerst gefeuert werden, müssten gen: Moment mal, es viele in Zahlungsschwierigkeiten ste- wurden aber 69.889 cken und in der Kartei der Schulden- Mitglieder ange- fahndung zu fi nden sein. Von Jens Jansen schrieben. Da hat 5. Da die Linken bei ihren Protest- sich doch die größe- aktionen gerne zu Trommeln und Tril- re Hälfte gar nicht geäußert? Das stimmt lerpfeifen greifen oder mit Schalmeien nur teilweise und hat vielerlei Ursachen, tröten, könnten auch die Lärmschutz- was aber die vereinbarte Gültigkeit des beauftragten der Umweltämter wertvol- Votums nicht in Frage stellt. Die Grün- le Hinweise geben. de für diese »Enthaltungen« kennt je- Übrigens: Da manche innerparteili- der Kreisvorstand: Viele haben in den chen Kritiker vor allem die herkömmli- Basisdebatten alles gesagt, was ihnen che Schlachtordnung und Disziplin ab- am Herzen lag. Manche konnten die lehnen, sollte man auch bei den Pira- Wirkung ihrer Änderungsanträge nach- ten nach »Überläufern« aus der Spon- lesen. Dann gibt es – wie in jeder Orga- ti-Fraktion fragen. nisation – »Karteileichen«, die gestri- In jedem Falle sollte aber in der ak- chen sein sollten. Andere haben – we- tualisierten Adressenkartei die An- gen Hartz IV – ihren Wohnsitz verlegt schrift von Angela Merkel nicht feh- und dem Parteibüro nicht mitgeteilt, in len, denn deren beachtlicher Anteil welcher Wohngemeinschaft sie jetzt le- an der Ossifi zierung des Westens ver- ben. Da reicht im Bayerischen Wald die langt am Tag der Einführung des demo- falsche Postleitzahl und schon kommen kratischen Sozialismus zumindest ein die Abstimmungsunterlagen bei einem kurzes Dankschreiben: für die erste wackeren Einzelkämpfer nicht an. Tau- Bankenverstaatlichung, für die Hand- sende Adressaten aus Ostdeutschland schellen gegen Finanzhaie, für die Ab- haben in den letzten Jahren bei der Job- schaffung der Wehrpfl icht, für die Ein- suche Asyl im Westen gefunden und richtung von Polikliniken und Gemein- sich nicht überall umgemeldet, weil kei- schaftsschulen, für den Grünen Pfeil ner weiß, wie lange das trägt. Und so und den vertrauten Benzinpreis, für weiter und so fort. Außerdem ist »Stim- die Rettung des »Rotkäppchen«-Sekts menenthaltung« auch eine Haltung. und der »F-6«-Zigarette, für die Wieder- Mancher, der die Richtung begrüßt, belebung der Montagsdemos und der zweifelt am Weg oder an den Lotsen. Stoffbeutel zum Einkauf. Kleine Schrit- Aber derlei lässt sich eben nur er- te sind oft wichtiger als große Program- gründen, wenn wir die richtigen Ad- me. Man könnte ihr dafür – nach dem ressen unserer Weggefährten kennen. Sieg des demokratischen Sozialismus Deshalb entfuhr der Ko-Vorsitzenden – die Umschulung des Personals im der LINKEN, Gesine Lötzsch, der denk- Kanzleramt als Sekretärin für Agitation würdige Seufzer: »Wir können nicht anbieten. Ihre entsprechenden Erfah- den demokratischen Sozialismus ein- rungen sind unvergessen.

23 DISPUT Januar 2012 FEUILLETON UN-Klimaprozess gescheitert Aus der Rede von Eva Bulling-Schröter am 16. Dezember 2011 im Bundestag

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und cher Weltregion von welchen Konzer- Kollegen! In Durban wurde wieder ein- nen und mit welchen Schranken zu- mal ein Fahrplan verabschiedet, aber, künftig Profi t gemacht werden kann. wie die Zeitung »Die Welt« schrieb, los- Es nützt nichts, wenn wir nur auf China Herbell Thomas © gefahren ist niemand. oder die USA schauen. Wir müssen vor Ich möchte der Bundesregierung der eigenen Haustüre kehren; nicht die gute Laune verderben; aber (Beifall bei der LINKEN und der SPD) was ist eigentlich 20 Jahre nach der denn Unternehmen aus Deutsch- Klimarahmenkonvention die Bilanz land verlagern seit Jahrzehnten ihre In- internationaler Klimapolitik? Für fünf dustrie in Entwicklungs- und Schwel- Jahre gab es mit dem Kyoto-Abkom- lenländer. Diese Länder produzieren men ein Einsparziel, aber diese Ver- nun für unsere Märkte. Zudem haben einbarung wurde gleich nach der Ver- die Industrieländer seit der Industria- abschiedung durchlöchert. So gab es lisierung die Atmosphäre mit Klimakil- Zugeständnisse an Russland bezüg- lern aufgefüllt: für den Wohlstand eines lich der Anrechnung der Wälder, und es Teils der Bevölkerung, für Firmenkas- waren die USA, die sich ganz aus dem sen, für einen zweifelhaften Konsum, Klimaschutz verabschiedet haben. für irrwitzige Verkehrskonzepte und Wenn das Ziel des Kyoto-Protokolls für größenwahnsinnige Infrastruktur- 2012 erreicht wird, dann wird der Min- projekte. Dafür wurde der globale Sü- Wasser steht. Sie werden verhungern; derungsbeitrag gerade einmal ein Pro- den ausgebeutet, und er wird es noch: auch Tiere werden verhungern. Das al- zent der weltweiten Emissionen aus- für Rohstoffe – dafür werden Kriege ge- les, was hier passiert, kann uns nicht machen. Ich rede noch nicht einmal führt – und billige Arbeitskräfte. egal sein. über die Schlupfl öcher, zum Beispiel Es ist doch kein Wunder, dass sich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Ab- über CDM, also die anrechenbaren Kli- die Schwellenländer nicht vorschrei- geordneten der SPD) maschutzprojekte in Entwicklungslän- ben lassen, wie sie sich entwickeln sol- Wir sind verantwortlich, und wir ha- dern. Diese sind noch gar nicht berück- len. Auch sie wollen Chancen, und das ben diese Verantwortung zu tragen. sichtigt. Im selben Zeitraum, also seit ist verständlich. Ich halte es für ziem- Wir haben mit betroffenen Men- 1990, sind die globalen Emissionen um lich verlogen, wenn Luxuskarossen schen gesprochen. Meine Kollegin Ge- fast 40 Prozent gestiegen. und Panzer in alle Welt exportiert wer- sine Lötzsch hat gesagt: In Durban wur- Ich wiederhole es, damit auch alle den und man dann den Leuten sagt: de allenfalls der Verhandlungsprozess es mitbekommen: Das Ergebnis aller Wir wollen, dass ihr euch nachhaltig gerettet, nicht aber das Klima. – Da hat UN-Klimaverhandlungen besteht da- entwickelt. sie recht. Wir müssen den Zusammen- rin, global einen Beitrag von maximal (Beifall bei Abgeordneten der LIN- hang der verschiedenen globalen Kri- einem Prozent Minderung in 20 Jahren KEN) sen sehen; denn sie haben dieselbe zu leisten. Gleichzeitig beträgt die rea- Das ist vor allem dann unglaub- Ursache. le Steigerung 40 Prozent. Der interna- würdig, wenn gleichzeitig Palmöl, Ag- Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau tionale Klimaprozess ist gescheitert. rosprit, Unmengen von Soja oder Sel- Kollegin! Das Ergebnis von Durban ändert dar- tene Erden aus Konfl iktgebieten im- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich an nichts. portiert werden, um so weitermachen sage: Es ist der ungezügelte Kapitalis- (Beifall bei der LINKEN und der SPD) zu können wie bisher. Der brasiliani- mus; wir müssen da etwas tun. Ich möchte aber den Sinn von UN- sche Regenwald wird abgeholzt, weil es (Beifall bei der LINKEN) Klimagipfeln explizit nicht infrage stel- bei uns eine Beimischungspfl icht gibt. Natürlich kann an dieser Stelle nie- len. Wir brauchen diese Beratungen. Im Meine Frage ist: Wie gedenken wir, da- mand außer der LINKEN klatschen; das Detail haben die Verhandlerinnen und mit weiter umzugehen? Ich meine, die- ist für Sie ein Reizwort. Aber ich bin ein Verhandler der EU und auch Deutsch- se Beimischungspflicht muss abge- optimistischer Mensch und habe nach lands gute Arbeit geleistet. Aber die schafft werden. wie vor die Hoffnung, dass diese Welt Formel »mehr war nicht drin« zeigt (Beifall bei der LINKEN) zu retten ist, dass sie eben nicht unter- doch, dass Klimaschutz offensicht- Ich frage mich: Ist dieses globali- geht und dass wir das 2-Grad-Ziel noch lich an die Grenzen des Gesellschafts- sierte profi t- und wachstumsorientier- erreichen. Dafür müssen wir gemein- systems stößt. Es ist tatsächlich so, te System jemals in der Lage, sich zu sam etwas tun, und zwar jetzt. Ich sage wie Herr Minister Röttgen neulich for- mäßigen? Es klappt ja nicht einmal bei immer: Es gibt stets Alternativen. Die- muliert hat: Die Klimaverhandlun- den Finanzmärkten. Welche Hoffnung se Alternativen müssen wir angehen gen sind im Kern Wirtschaftsverhand- soll ich da haben? Das auszubaden im Interesse der Menschen auf ande- lungen. Ich sage: Sie sind ein Ringen haben – Kollegen haben es geschildert ren Kontinenten. um die globale Verteilung von Wachs- – Menschen in Afrika, im Tschad, auf (Beifall bei der LINKEN sowie bei Ab- tumschancen. Aber nicht nur das: Sie den Fidschi-Inseln. Es gibt viele Men- geordneten der SPD und des Bündnis- sind auch ein Ringen darum, in wel- schen, deren Land demnächst unter ses 90/Die Grünen)

ÖKOLOGIE DISPUT Januar 2012 24 Vor Dresden Grundsätzliche Probleme im Kampf gegen Rechtsextremismus. Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestages, in einem Pressegespräch am 22. Dezember 2011

Untersuchungsausschuss des Bundes- Arbeit ein, weil nichts zu analysieren stand der Anständigen«. Die damalige tages: Anfangs war von einer Zelle die sei. Was heißt: Weder die Kriminaläm- rot-grüne Bundesregierung stellte sich Rede. Dann von einem Netzwerk. In- ter noch die Verfassungsschützer woll- an die Spitze, und Millionen Bürgerin- zwischen drängt die Frage, ob staatli- ten eine rechtsextreme Gefahr sehen. nen und Bürger beteiligten sich symbo- che Stellen dazu gehörten. Zu alledem 2006 wurde beim Bundesverfas- lisch. Unter Rot-Grün schien auch Kon- will ich heute nichts sagen. Außer: Man sungsschutz die Abteilung gegen sens zu werden: Rechtsextremismus, schaut in Abgründe. Rechtsextremismus aufgelöst. Ich be- Rassismus und Antisemitismus sind DIE LINKE fordert einen Untersu- haupte: Auch das war eine politische ein gesellschaftliches Problem, das chungsausschuss des Bundestages. Entscheidung, die sachlich durch letztlich nur zivilgesellschaftlich zu- Das staatliche Versagen lässt sich nicht nichts begründet war – im Gegenteil. rückgedrängt werden kann. auf Thüringen, Sachsen oder Nieder- Seit Frau Dr. Kristina Schröder Diese Einsicht wird seit Jahren tor- sachsen abwälzen. Es hat auch Bun- (CDU), vormals Köhler, das Familienmi- pediert. Einschlägige Programme wer- des-Dimensionen. nisterium führt, wird der politische Ab- den verstaatlicht. Gesellschaftliche In- Aktuell liegt es an der SPD, ob es ei- wehrfokus zunehmend von rechts nach itiativen werden verdächtigt. Antifa- nen Untersuchungsausschuss geben links verschoben. Das ist ein gefährli- schistisch Aktive werden von Staats wird. DIE LINKE ist dafür, die Grünen cher Eigensinn. wegen kriminalisiert. sind dafür, nun muss sich die SPD zwi- Das alles zeigt mir aber auch: Der Nach und vor Dresden: In diesem schen Auf-Klärung und Ver-Klärung ent- Bund hat keinerlei Grund, mit dem er- Zusammenhang muss ich über Dres- scheiden. hobenen Finger auf Länder wie Thürin- den reden. Während Nazis quer durch Innenpolitischer Aktionismus: Seit gen, Sachsen oder Niedersachsen zu die Republik morden und rauben, ver- das mordende Nazi-Duo vermeintlich zeigen. Er selbst ist Teil des rechtsex- folgt der Freistaat Sachsen weiterhin Selbstmord beging und die Dritte im tremen Problems. engagierte Bürgerinnen und Bürger. Bunde ihr Haus ansteckte, sind rund Das Problem Nummer II: Die Politik 15.000 verhinderten 2010, dass Na- sechs Wochen vergangen. Was ist seit- nimmt die Wissenschaft nicht ernst. Sie zis aus ganz Europa ihr Zeichen setzen her bundespolitisch geschehen? Es glaubt lieber ihren eigenen, parteipoli- konnten. 2011 waren es sogar 20.000 gab die üblichen Refl exe. Nahezu alle tischen Ideologien. Das ist nicht neu. Bürgerinnen und Bürger. Alle unterla- Parteien forderten erneut ein NPD-Ver- Aber im aktuellen Fall gefährdet es die gen einer staatlichen Funkzellenüber- botsverfahren. Es wurden eigenartige Demokratie, und zwar grundsätzlich. wachung. Damit wurden alle, die sich Aufklärungskommissionen berufen. Das wiederum spielt immer Rechts- antifaschistisch regten und bewegten, Und Innenminister fordern neue Be- extremen in die Fäuste. Vorige Woche einem Generalverdacht unterstellt. hörden mit neuen Befugnissen. Das ist haben Prof. Heitmeyer und sein Team Auch ich. Ich habe dagegen Klage ein- viel Aktionismus und wenig Substanz. den vorerst letzten Band ihrer Studie gereicht. Ich prozessiere also aktuell Ein NPD-Verbotsverfahren fordert über »Deutsche Zustände« vorgestellt. gegen den Überwachungsstaat Sach- auch DIE LINKE. Vorausgesetzt, alle V- Ihr Resümee über zehn Jahre Bundes- sen. Leute werden abgeschaltet. Solange politik: Das Soziale wird ökonomisiert, Am 18. Februar 2012 droht eine Neu- die Unions-Parteien aber bei ihrer V- die Demokratie wird entleert, Solidari- aufl age. Wieder wollen Nazis Macht de- Leute-Praxis bleiben, garantieren sie tät zerfällt. Hinzu kommt: Inmitten der monstrieren und die Geschichte fäl- der NPD das Parteien-Privileg. Gesellschaft wächst der Zuspruch zur schen. Und wieder rufen viele zu Ge- Bundesinnenminister Friedrich Gewalt. Kurzum: Was am extrem rech- geninitiativen auf, auch ich tue es. (CSU) hat ein internes Aufklärungstrio ten Rand der Gesellschaft eskaliert, ist Es gibt dazu einen Aufruf. Seine Ehemaliger berufen. Damit hat er den in der Mitte der Gesellschaft latent und Sprache ist nicht meine, nicht die von Bundestag düpiert und sich und seinen zunehmend präsent. Eine »gruppenbe- Wolfgang Thierse, auch nicht die von Aufklärungswillen diskreditiert. zogene Menschenfeindlichkeit« nimmt Katrin Göhring-Eckhardt. Aber wir drei Schließlich hat er alle ollen Kamel- zu, nicht nur gegen »Ausländer«. Vizepräsidenten des Bundestages ha- len wieder belebt, die bei jeder Gele- Das sind Alarmsignale wider die De- ben erneut unterzeichnet. genheit kommen – von verfassungs- mokratie. Die Bundespolitik, auch der Abschließend: Sie kennen sicher fremden Sonderkommissionen bis hin Bundestag, sollten sie endlich ernst den aktuellen 5-Punkte-Plan der Frakti- zur Vorratsspeicherung aller Telekom- nehmen. Auch deshalb plädiere ich für on DIE LINKE nach der Nazi-Mord-Serie. munikationsdaten. Ich kann dem liber- eine Enquete-Kommission zur »Revita- In Kurzfassung: tären Rest der FDP nur raten, dagegen lisierung der Demokratie«. 1. grundlegende, öffentliche und zu bleiben. Das Problem Nummer III: Im Jahr nachvollziehbare Aufklärung, Das Problem Nummer I: Zur Erinne- 2000 gab es einen Anschlag auf Ein- 2. weniger Geheimdienste, mehr De- rung: Schon 1992 hatte die Bundesre- wanderer in Düsseldorf. Der hatte mokratie, gierung eine »Informationsgruppe zur zwei Besonderheiten. Er betraf Jüdin- 3. sofortige Abschaltung aller V-Leute, Bekämpfung rechtsextremistischer, nen und Juden, und er fand im tiefen 4. eine unabhängige Beobachtungs- terroristischer und fremdenfeindlicher Westen statt. Das gern bemühte Ost- stelle und überhaupt Gewaltakte« eingerichtet. Diese Bund- Klischee traf also nicht. Über politi- 5. neue, verlässliche Strukturen für Länder-Kommission stellte 2007 ihre sche Umwege kam es zu einem »Auf- den Kampf gegen Rechtsextremismus.

25 DISPUT Januar 2012 ANTIFASCHISMUS BRIEFE

te. Ich hab mit ihr gewettet, dass es mir PS: Bis 15. Januar gab es 40 Städte- Wetten?! ab 2. Januar 2012 gelingt, am Samstag, Zusagen in fünf Bundesländern. Und Für DIE LINKE war 2011 ein schwieriges 3. März, bundesweit mindestens 400 In- dazu zwei »Wettpaten«: Bodo Ramelow Jahr. Nein, besser gesagt: ein schlech- fostände oder andere öffentlich wirksa- und Wolfgang Zimmermann. Die Bun- tes Jahr. Verluste bei Wahlen, Mitglie- me Aktionen der LINKEN zu mobilisie- desgeschäftsführung der LINKEN (Clau- der-Rückgang, deprimierender Streit in ren. dia Gohde) hat zugesagt, die Wette ak- den Führungsetagen, Rückzug der Ba- Sie hat schallend gelacht. Aber dann tiv zu unterstützen … sis. Gregor Gysi hat das im Interview mit die Zusage: Wenn ich die Aktion hinkrie- dem ND so ausgedrückt: »Wir sind nicht ge, berappt sie für jeden Infostand vier mehr die Kümmerer-Partei, wie wir es Euro für die Aktion »Milch für Kubas Kin- Courage! mal waren ... Neue Mitglieder gewinnen, der«. Sollte ich verlieren (hoffe ich na- Es ist ein Horrorszenario: Die braune die sich vor Ort um die Alltagsprobleme türlich nicht!), muss ich zwei Euro für Flut wird zurückkehren, wenn wir uns der Menschen kümmern. Man darf das den selben Zweck spenden. nicht entschieden dagegenstellen. Die jedenfalls nicht für unwichtig halten.« Ehrlich gesagt: Stunden nach Ab- täglichen Skandalmeldungen reißen Aber auch andere Genossen haben schluss der Wette habe ich tüchtig ge- nicht ab, und wir Bürger sollen mit der beklagt, dass DIE LINKE vielerorts keine schluckt. 400 Infostände – ist das über- Dunstglocke der Ahnungslosigkeit um- Rolle mehr spielt ... haupt zu schaffen? geben werden. Keiner aus den Reihen Aber das kann man natürlich auch Doch dann habe ich nachgerechnet: der staatstragenden Politiker und der ändern. Wir sollten das gemeinsam än- Wir haben 16 Landesverbände. Das be- Schlapphüte will etwas gewusst haben. dern. Und da kommt es gut, sehr gut, deutet: In jedem Landesverband 25 In- Tröpfchenweise kommen nicht mehr zu dass mich meine bekannte Wettpartne- fostände. Das ist doch machbar – oder? leugnende Tatsachen ans Licht der Öf- rin – die »Unternehmerin mit dem lin- Und: Der 3. März ist ja noch weit. fentlichkeit, und die zuständigen Politi- ken Herzen« (die in ihrer Jugend mal Mit- Aber die Vorbereitungen für den Info- ker begleiten dies mit einer Naivität, die glied unserer SDAJ war) – auf die Turbu- stand oder die Aktion sollten möglichst ans Lächerliche grenzt. Eine geheuchel- lenzen in der Linkspartei angesprochen bald schon beginnen. Schön wäre auch, te Betroffenheit von Merkel bis Tillich. hat. Etwa so: Na Klaus, deine LINKE geht wenn ihr mich mit Ideen, Zusagen oder Die Geheimdienste sind ihr Geld nicht wohl auch den Bach runter ... – Wieso? Vorbereitungen auf dem Laufenden hal- wert, denkt man dabei. Aber so unbe- – Ja, man sieht und hört von ihr ja nichts ten würdet ([email protected]). darft ist dort nicht jeder Mitarbeiter. Da mehr. Nur noch Streit ... – Ach, das wird Weitere Einzelheiten fi ndet ihr natürlich muss man schon an Methode denken, sich ändern. – Ja wie denn? Was willst auf unserer Homepage www.linksdemo- wenn Nazikiller 13 Jahre lang »unent- Du denn da machen? kraten.de. Auf geht’s! deckt« bleiben können und in dieser Herausgekommen ist eine neue Wet- Klaus H. Jann, Wülfrath Zeit mordend durchs Land ziehen. Die Heuchelei ist nahezu grenzen- los. Denn erst werden Hunderttausen- de DM/Euro durch die Geheimdienste in den Aufbau der faschistischen Struk- turen gesteckt und dann werden die Op- © Dietmar Treber © Dietmar fer entschädigt. Perverser geht es nicht. Den Opfern und ihren Angehörigen mein ganzes Mitgefühl und meine gan- ze Solidarität! Und meine Forderung: Po- litiker, verbietet die faschistische Partei (NPD) und die Nazi-Strukturen, so wie es die Alliierten beschlossen haben, und zeigt Courage, wie es Roman Herzog ge- fordert hat! Jens Heydecke, Chemnitz Lärm Am 5. Dezember demonstrierten erneut etwa 3.500 Menschen im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens gegen den zu- nehmenden Fluglärm. Das waren rund tausend Menschen mehr als in der Wo- che zuvor. Für DIE LINKE waren die Landtags- abgeordneten Hermann Schaus und

DISPUT Januar 2012 26 Von Klaus Stuttmann GEDANKENSTRICH

Janine Wissler sowie der Fraktionsvor- Herrn Dr. Michael Löffl er, der mit sei- den gegeneinander ausgespielt und ih- sitzende der Römerfraktion Lothar Rei- nen Mitarbeitern eine Säuberung des re Uneinigkeit für die Machtausübung niger dabei. Denkmals vornehmen will. Das Staats- der Elite ausgenutzt. Die Stadt und der Flughafenbetrei- säckel reicht dazu nicht. Die Erinnerung Was bewegt die Menschen? Es ist ber Fraport hatten im Vorfeld »Lärmauf- an den Zwickauer Trabant soll eine gu- die falsche Umverteilung in unserem lagen« für die Demonstration festgelegt: te sein. Vielen Dank für diese Initiative. Lande. Die Profi te werden privatisiert Vuvuzelas und Trillerpfeifen waren ver- Dr. Siegfried Birkner, Berlin und die Verluste sozialisiert! Und was boten, die seien zu laut. Aber was ist der macht DIE LINKE? Sie streitet sich über Krach einer Trillerpfeife gegen ein star- Antisemitismus, Stalinismus, Mauer- tendes Flugzeug? Suche bau … Es wäre doch hilfreicher, viel of- Dietmar Treber, Mörfelden Wir suchen in Kiel für unsere noch recht fensiver die Ursachen der Probleme der neue Landesarbeitsgemeinschaft Ge- breiten Bevölkerung zu benennen und sundheit und Soziales Interessierte, überzeugende Alternativen anzubieten Initiative die sich mit uns für eine gerechte und und zu diskutieren. Das ist die Aufgabe betr.: DISPUT, »Trabi for ever« daher anders strukturierte Gesund- der LINKEN. Den Zwickauer Trabant gibt es im- heitspolitik einsetzen wollen. Kontakt- Ich fürchte mich nicht vor dem lang- mer noch. Davon zeugen Text und Bil- adressen: camargo-monika@t-online. samen Voranschreiten der Verände- der. Ronald Friedmann sei dafür ge- de und für Dr. Holger Weihe: hweihe@t- rungen in dieser Gesellschaft, aber ich dankt. Nun gibt es aber nicht nur in- online.de. fürchte mich, wenn wir stehen bleiben. ternationale Trabantfahrertreffen. In Monika Camargo, Kirchenweg 18, Stanislav Sedlacik, Weimar Zwickau steht auch ein Trabant-Denk- 24143 Kiel mal, das an den »legendären Zweitak- ter« erinnert. Aber in welchem unwür- Dank digen und miserablen Zustand sich Stillstand? Übrigens vielen Dank für die so offenen das Denkmal befi ndet, wurde uns bei »Divide et impera – teile und herrsche« und interessanten Beiträge. Ich freue einem Besuch der Schumannstadt vor ist ein uraltes Prinzip, das auf das rö- mich jeden Monat auf die neue Ausga- Augen geführt. Darum gilt ein Lob dem mische Imperium zurückgeht. Die ver- be. amtierenden Leiter des Kulturamtes, schiedenen Bevölkerungsgruppen wer- Katrin Freyer, Wallerfangen

27 DISPUT Januar 2012 Gelebte Geradlinigkeit Für Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer (11. Juli 1927–22. Oktober 2011), Rechtswissenschaftler und Sozialist Von Jochen Traut und Ekkehard Lieberam

gesamt doch positive Bewertung des Entwurfs war für die Entscheidungsfi n- dung aller antikapitalistischen Linken

© Gabriele Senft in der Partei sehr wichtig: »Der vorlie- gende Entwurf ist von einer starken an- tikapitalistischen Tendenz geprägt. Es zeichnet sich ein Programm ab, das sicherlich marxistische Züge hat, je- doch in wesentlichen Teilen Züge ei- nes ethisch-sozialistischen und sozi- aldemokratischen, bestenfalls links- sozialistischen Programms aufweist.« An dem Tag, an dem auf dem Erfurter Parteitag das Programm beschlossen wurde, verstarb Uwe-Jens Heuer. Es in praktische Politik umzusetzen, sollte in Wir haben einen außergewöhnlichen Diese Reihe entwickelte sich zu einem seinem Sinne unser aller Anliegen sein. Menschen verloren, unseren Freund wichtigen Forum des Erfahrungs- und Prof. Dr. Hermann Klenner nannte und Genossen Prof. Dr. Uwe-Jens Heu- Gedankenaustausches für marxisti- ihn in seiner Trauerrede »anpassungs- er. Er hat uns ein theoretisches Werk sches Denken heute. Das Heft 46 (Was resistent«. Man wünscht sich mehr hinterlassen, an dem niemand vorbei- erwarten wir vom 21. Jahrhundert? Wis- Linkspolitiker, die dieses Attribut ver- kommt, der sich mit den verfassungs- senschaft – Hoffnung – Traum) doku- dienen. Wir hatten mit Uwe-Jens Heu- rechtlichen, politischen und philoso- mentiert das Kolloquium der Rosa-Lu- er einen streitbaren und konsequenten phischen Eckpunkten der großen Aus- xemburg-Stiftung vom 11. Juli 2002, das Kämpfer an unserer Seite. Wir können einandersetzungen zwischen Sozia- aus Anlass des 75. Geburtstages von ihn leider nicht mehr persönlich befra- lismus und Kapitalismus im letzten Uwe-Jens Heuer stattfand. Wir empfeh- gen. Jedoch sein Leben, sein Werk und halben Jahrhundert beschäftigen will. len es all unseren Lesern. die von ihm gelebte Geradlinigkeit zu Er war Abgeordneter und Sprecher der In die Programmdebatten der PDS befragen, ist möglich. Das sollten wir PDS für Rechtspolitik in der letzten, 10. und der Partei DIE LINKE griff Uwe-Jens tun, auch als letzten Dank. Volkskammer der DDR und Abgeordne- Heuer bis zuletzt ein. Erinnert sei an Am Ende seines Schlusswortes ter des Deutschen Bundestages in der den Chemnitzer Programmparteitag auf der bereits genannten Konferenz 11., 12. und 13. Legislaturperiode. der PDS im Jahre 2003, wo er energisch sprach Uwe-Jens Heuer über Hoffnung: Er wirkte politisch in einer Zeit des die Anträge des Marxistischen Forums »Aber diese Hoffnung muss mit Analy- großen Umbruchs, da der Sozialismus- und anderer gegen den Parteivorstand se konfrontiert, darf kein Luftschloss versuch auf deutschem Boden zu Ende verteidigte. Der letzte öffentliche Auf- sein. Sie muss auch in unseren Hand- und der konservative Rachefeldzug so- tritt von Uwe-Jens Heuer war auf dem lungen wirksam werden. Analysen wie die »Abwicklung« der DDR über die Vereinigungsparteitag 2007. Er wandte kann ich, kann meine Generation noch politische Bühne gingen. Er war nicht sich leidenschaftlich gegen das Entsor- vorlegen, sollte sie auch. Ich denke ge- bloß Zeitzeuge, sondern Akteur, einer gen des Begriffs »Demokratischer So- genwärtig über ein Buch Marxismus der maßgeblichen Kontrahenten der zialismus« aus dem Namen der Partei. und Politik nach. Die Handlungen sind Kriminalisierung der DDR und der Ent- Als seine Kräfte für größere politi- schon weitgehend Sache der nächs- eignung bzw. Entrechtung ihrer Bürge- sche Auftritte nicht mehr reichten, be- ten, ja der übernächsten Generation. rinnen und Bürger. gann und vollendete er seine letzte Wie weit sie unser Erbe annehmen, ist Uwe-Jens Heuer wurde in den neun- wissenschaftliche Arbeit: die Ausein- ihre Entscheidung. Aber wir müssen es ziger Jahren quasi zum »marxistischen andersetzung mit dem rechtskonser- ihnen jedenfalls anbieten. Vielleicht Gewissen« der PDS. Er blieb auch in der vativen Staatstheoretiker Carl Schmitt. sind es auch die Enkel. Jedenfalls soll- Partei DIE LINKE ein ganz wichtiger Rat- Sie ist im Monat Dezember 2011 im Ver- ten wir unsere Reden und Schriften als geber aller derjenigen, die in und au- lag edition ost unter dem Titel »Glanz, Flaschenpost an die Zukunft auffas- ßerhalb der Linkspartei um eine taugli- Elend und Wiederkehr des Staatsden- sen.« (Marxistisches Forum, Heft 46, che Handlungsorientierung für eine an- kers Carl Schmitt« erschienen. GNN, 2003, Seite 35) tikapitalistische Politik rangen. Er war Ein letztes Mal diskutierte Uwe-Jens Verfasser des Aufrufs »In großer Sorge« Heuer am 15. Juli 2011 im Kreis der Ge- Die Texte, Trauerreden, Nachrufe, Wür- und langjähriger Sprecher des Marxisti- nossInnen des Marxistischen Forums digung der Lebensleistung von Uwe- schen Forums in der PDS, der Linkspar- den damals gerade vorgelegten Ent- Jens Heuer sowie eine Auswahlbiblio- tei.PDS und der Partei DIE LINKE. »Die wurf des Leitantrages des Parteivor- grafi e sind im Bulletin »Geraer Sozi- Gelbe Reihe – Marxistisches Forum«, standes an den Erfurter Parteitag für alistischer Dialog«, Sonderausgabe die der GNN-Verlag Schkeuditz bis heu- ein Programm der Partei DIE LINKE. Sei- Uwe-Jens Heuer, Dezember 2011, ver- te herausgibt, war seine Schöpfung. ne differenzierte Einschätzung und ins- öffentlicht.

PARTEI DISPUT Januar 2012 28 © Gert Gampe

NACHBELICHTET

Von Arthur Paul Das sieht aus wie Wenn man zum Beispiel hört, wer von Aber wenn Wissen zur Herrschaft ver- die Rumpelkammer eines Werbegrafi - den Wortführern in unserem Land im- hilft, gehört die Blockade des Her- kers oder wie der Hobby-Keller eines mer wieder verkündet, dass es zu un- schaftswissens zum Machterhalt. Das frustrierten Philosophen. Nackte Mau- serer derzeitigen Produktions- und Le- erklärt dann die Rolle der Meinungs- ern, alte Rahmen, kalte Leuchtstäbe, bensweise »keine Alternative« gibt, macher als Nebelwerfer. Es gehört getünchte Platten, kalter Tee – und mit- dann zeigt das, wie kümmerlich das viel Phantasie und Energie dazu, die- tendrin ein Plakat: der grübelnde Ein- Wissen und wie jämmerlich die Phan- se Wände im Interesse einer Wende zu stein, der Kenner der Bewegungsge- tasie dieser Denker und Lenker ist. durchbrechen. setze dieser Erde. Darüber der Seufzer Dabei ist die Phantasie der Banken Wer weiß, dass er verdammt we- dieses weisen Mannes: »Phantasie ist und Versicherungen schier unerschöpf- nig weiß, der weiß viel! Das gilt gera- wichtiger als Wissen. Denn Wissen ist lich, wenn es darum geht, die Bürger de hier und heute, wo die Parlamen- begrenzt.« zur Kasse zu bitten. Die Phantasie der te nicht mehr die Zentren der Macht Unser Wissen wohnt im Gehirn. Der Regierenden ebenso, wenn es um die sind, sondern die Spielbälle der wirk- Schädel ist eine räumliche Begrenzung. nötigen Handlangerdienste für die Su- lich Mächtigen. Einstein hätte gewiss Aber die größere Hälfte des Gehirns perreichen geht. Es fehlt aber das Wis- ein paar Kummerfalten mehr auf der liegt brach, sagen die Neurologen. sen, wann das Fass überlaufen wird. Stirn. Aber dahinter auch mehr Phan- Ob und wie die andere Hälfte genutzt Die Entrechteten rufen sich zu: »Wis- tasie! Wir müssen es ohne ihn schaf- wird, ist – je nach Träger – verschieden. sen ist Macht!« Da ist viel Wahres dran. fen. Vielleicht hilft der richtige Tee?

29 DISPUT Januar 2012 Zu Besuch bei Freunden Von Gesprächen und Erfahrungen. Der Parteivorsitzende Klaus Ernst in Argentinien, Uruguay und Brasilien Von Dietmar Schulz

Mitte Dezember 2011 unternahm der ein stabiles Wirtschaftswachstum erzie- gewählten Abgeordneten des argen- Parteivorsitzende Klaus Ernst eine kur- len können und waren mit den entspre- tinischen Parlaments Victoria Donda. ze Südamerika-Reise nach Argentini- chenden Einnahmen in der Lage, die Lö- Die Vorsitzende des Menschenrechts- en, Uruguay und Brasilien. Anliegen sung zahlreicher sozialer Probleme vo- ausschusses des Abgeordnetenhauses der Reise war der weitere Ausbau un- ranzutreiben. Soziale Hilfsprogramme ist eines jener Kinder, die während der serer traditionell sehr guten Beziehun- für die Ärmsten der Armen, Investitio- Militärdiktatur (1976–1983) in den Ge- gen zu den linken Kräften in diesen nen in die Bildung und in den sozialen fängnissen und geheimen Folterzent- Ländern und zum Forum von São Pau- Wohnungsbau sind nur einige Beispiele ren geboren wurden. Nach der Ermor- lo, einer Regionalorganisation der pro- für eine Politik, die zwar das kapitalisti- dung ihrer Eltern, wahrscheinlich wur- gressiven und linken Parteien Latein- sche System (noch) nicht in Frage stellt, den sie betäubt und gefesselt aus Flug- amerikas und der Karibik. Selbstver- aber immerhin Hundertausenden (Uru- zeugen ins Meer geworfen, wuchs sie, ständlich wollte sich Klaus Ernst auch guay) und sogar Millionen Menschen ohne es zu wissen, mit einer falschen ein Bild von den vielfältigen Verän- (wie in Brasilien) zu einem menschen- Identität in der Familie eines Militär- derungen machen, die sich unter der würdigeren Leben verholfen hat. angehörigen auf. Nur dem unermüdli- Führung von Mitte-Links-Parteien voll- Diese Entwicklung soll nicht durch chen Einsatz ihrer Großmutter hat sie ziehen. Und nicht zuletzt ging es dem den ungebremsten Profitdrang von es zu verdanken, dass ihre wahre Iden- jahrzehntelangen Gewerkschaftsfunk- Großbanken und Finanzjongleuren tität bekannt wurde. Ihre Großmutter tionär um das Kennenlernen der Ge- gefährdet werden. Immerhin sind die gehört zu den Mitbegründerinnen der werkschaftsbewegung in Argentini- Länder Lateinamerikas mit progressi- »Großmütter von der Plaza de Mayo«, en, Uruguay und Brasilien. Schließlich ven Regierungen im Allgemeinen bis- einer Organisation argentinischer Frau- kommt der ehemalige Präsident Brasi- her nicht wesentlich von der Finanzkri- en, die nach den als Opfer der Militär- liens, Lula da Silva, aus der Metallar- se beeinträchtigt worden, auch weil sie diktatur »verschwundenen« Kindern beitergewerkschaft, der uruguayische rechtzeitig auf Maßnahmen zur Kont- und Enkeln suchten und noch immer Gewerkschaftsdachverband pit-cnt rolle des Auslandskapitals und auf ei- suchen. Als Victoria Donda Gewissheit war ein tragender Pfeiler des Kampfes nen starken staatlichen Wirtschafts- über ihr bisheriges Schicksal erhielt, gegen die Militärdiktatur (1973-1985), sektor – darunter bei den Großbanken war die heute 34-Jährige schon 26 Jah- und auch in Argentinien schicken sich und im Finanzsektor – gesetzt haben. re alt. Jetzt sitzt sie für die Allianz »Fren- neue Gewerkschaften an, das bisher Die bisher steigenden Rohstoffprei- te Amplio Progresista« im Parlament, unerschütterlich erscheinende Quasi- se haben einer Reihe lateinamerika- und wir konnten ihr nicht nur zu ihrer Monopol der peronistischen Gewerk- nischer Länder außerdem zusätzlich Wiederwahl gratulieren, sondern auch schaften zu überwinden. Einnahmen verschafft. Dennoch macht dazu, dass der Präsidentschaftskandi- Allen Stationen der Reise, ja allen sich Sorge breit, eine große internatio- dat der FAP, Hermes Binner, mit 17 Pro- Treffen gemeinsam war das große In- nale Wirtschaftskrise könnte auch für zent Stimmenanteil bei der Wahl Ende teresse an der Einschätzung der LIN- Lateinamerika unheilvoll werden. Oktober 2011 einen geradezu sensatio- KEN zur Situation in Europa, zu den Ur- Speziell in Argentinien nutzte Klaus nellen zweiten Platz hinter der siegrei- sachen und Auswirkungen der Finanz- Ernst die Gelegenheit, sich mit nam- chen Präsidentin Cristina Fernandez de krise. Und natürlich an den möglichen haften Ökonomen über die Erfahrun- Kirchner belegt hat. Auswegen und Lösungsansätzen zur gen dieses südamerikanischen Landes Das Schicksal von Victoria Donda Überwindung der Krise. Auf der Grund- bei der Überwindung einer tiefen Wirt- warf auch ein Schlaglicht auf ein eng lage einer oft überraschend weitrei- schaftskrise, der sogenannten Tango- damit verbundenes Thema, mit dem chenden und präzisen Detailkenntnis Krise von 2001/2002, auszutauschen. wir in Argentinien mehrfach konfron- zur Finanzkrise in Europa teilten unse- Detailreich berichteten die Gesprächs- tiert wurden: die Unterstützung und re Partner unsere Einschätzungen und partner, wie über ein Schuldenmora- Zusammenarbeit deutscher Konzer- identifi zierten ihrerseits die Gier und torium, einen Schuldenschnitt und ne für bzw. mit der Militärdiktatur, wo- Casinomentalität des Finanzkapitals schließlich eine Umschuldung weitrei- bei dies sinngemäß auch für weite- als Ursachen der Krise, die letztendlich chende Zugeständnisse der Gläubiger re Länder und deren Militärdiktaturen nur durch eine weitreichende gesell- erreicht und letztendlich das Land aus gilt. Die Vorwürfe lauten auf Überga- schaftliche Kontrolle über die Banken der Krise herausgeführt werden konn- be von Namenslisten von »subversi- und das kapitalistische Finanzsystem te. ven Elementen«, gemeint waren akti- überwunden werden können. ve Gewerkschafter, die auch unter der Dem Interesse unserer Gesprächs- Beeindruckende Victoria Donda Militärdiktatur für die Interessen ihrer partner lag auch die Sorge zugrunde, Kollegen eintraten, und die daraufhin die Länder Lateinamerikas könnten in Die zahlreichen Begegnungen mit lin- verschleppt, gefoltert und nicht selten den Strudel der Ereignisse hineingezo- ken Politikern, Parlamentariern, Ge- ermordet worden sind, bis hin zur ille- gen werden. Die progressiven Regierun- werkschaftern und auch Journalisten galen Aneignung von neugeborenen gen der drei Länder haben während ih- lassen sich nicht alle aufzählen. Zu Kindern, wie im Fall Victoria Donda, rer Mandate (Argentinien und Brasili- den eindrucksvollsten Gesprächen ge- durch Angehörige des Managements en seit Jahre 2003, Uruguay seit 2005) hört sicher das mit der gerade wieder- deutscher Konzerne. Insgesamt darf

INTERNATIONAL DISPUT Januar 2012 30 das Kapitel der Zusammenarbeit deut- ganisationen wählen übrigens 50 Pro- der »eigenen« Regierung vertreten und scher Konzerne mit Militärdiktaturen zent der Mitglieder der Führungsstruk- diese auch durchzusetzen bereit sind. nicht vorschnell geschlossen werden. turen auf allen Ebenen durch eine Di- In Brasilien standen ein Besuch Zu Argentinien sei noch das sehr rektwahl, während die andere Hälfte beim Betriebsrat des Mercedes-Benz- herzliche Treffen von Klaus Ernst mit nach Parteienproporz besetzt wird. Ei- Werkes in São Bernardo do Campo in dem Vorstand des Gewerkschaftsdach- ne Mehrheit der Mitglieder der FA ge- der Nähe von São Paulo und ein Treffen verbandes »Central de Trabajadores de hört heute bereits keiner der Mitglieds- mit Sérgio Nobre, Vorsitzender der Me- la Argentina« (CTA) erwähnt. Dabei ha- parteien mehr an, sondern betrachtet tallarbeitergewerkschaft CNM in dieser ben wir eine äußerst aktive und kämp- sich ausschließlich als FA-Mitglied. Region, auf dem Programm. Immer wie- ferische Gewerkschaft kennengelernt, Durch Vermittlung von FA-Abgeord- der gab es besorgte Fragen nach den die sich nicht auf Lohn- und Tariffragen neten konnte Klaus Ernst vor dem Aus- Folgen der Finanzkrise in Europa. An- einengen lässt, sondern sich als politi- schuss für Arbeit und Soziales des uru- dererseits zeigten sich die brasiliani- sche Organisation begreift, deren Ziel guayischen Abgeordnetenhauses re- schen Gewerkschafter ob der gewach- die Veränderung der argentinischen den. Er nutzte die Gelegenheit, um senen Wirtschaftsstärke Brasiliens op- Gesellschaft hin zu mehr Demokratie über die Finanzkrise und ihre Ursa- timistisch. und soziale Gerechtigkeit ist. chen, aber auch über die sozialen Fol- Ihr Stolz auf das Erreichte, auf ihr Die nächste Station der Reise war gen für die arbeitenden Menschen zu Werk und auf ihren Beitrag zur Entwick- Uruguay, ein Land, in dem ebenfalls sprechen. Seiner Argumentation, dass lung ihrer Region war ebenso deutlich eine Mitte-Links-Koalition regiert, de- mit der kurzfristigen Verabschiedung spürbar wie das enge kollegiale Ver- ren durchaus beachtliche Erfolge leider immer größerer »Rettungsschirme« hältnis der Betriebsratsmitglieder und oft nicht wahrgenommen werden. Be- ohne ausreichende Zeit für Beratungen insbesondere des Betriebsratsvorsit- merkenswert ist die Tatsache, dass es und Diskussionen die Rechte der Par- zenden zur Belegschaft. Und ganz be- sich bei der regierenden Frente Amplio lamente ausgehöhlt und damit letzt- sonders stolz war man natürlich auf die (FA) um das älteste (seit 1971) progres- endlich die Demokratie gefährdet wird, Tatsache, dass einst der spätere Präsi- sive Parteienbündnis in Lateinamerika konnten sich auch die Vertreter der bür- dent Lula da Silva Gewerkschaftsvor- handelt. Ungeachtet einer sehr breiten gerlichen Parteien nicht entziehen. sitzender der Metallarbeiter von São und heterogenen Zusammensetzung, Bernardo do Campo war. die von progressiven Abspaltungen Sorgen, Stolz und Optimismus Weiter auf dem Brasilienprogramm bürgerlicher Parteien über Kommunis- stand ein Besuch des Regionalbüros ten und Sozialisten bis zur ehemaligen Beim Treffen mit Führungsmitgliedern der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Stadtguerilla der Tupamaros reicht, hat des uruguayischen Gewerkschafts- Paulo, wo uns die Büroleiterin Kathrin es die FA seit nunmehr 40 Jahren ver- dachverbandes pit-cnt lernten wir, wie Buhl ausführlich über die Arbeit in Bra- standen, Pluralität und Einheit mitein- schon in Argentinien, sehr selbstbe- silien, aber auch in Uruguay, Paragu- ander zu verknüpfen und zu bewahren. wusste Gewerkschafter kennen, die ay, Argentinien und Chile informierte. In einem ausführlichen Gespräch voller Stolz über den hohen Organisati- Valter Pomar, der Exekutivsekretär der mit der Internationalen Kommission onsgrad, wachsende Mitgliederzahlen Forums von São Paulo (FSP), erläuter- der FA haben die uruguayischen Ge- und sehr gute Tarifabschlüsse berichte- te ebenso ausführlich die Arbeit seiner nossen vor allem den Doppelcharak- ten. Und erneut war deutlich, dass sich Organisation und warb insbesondere ter der Frente Amplio erläutert, die ei- die Gewerkschaften als politische Or- für eine noch stärkere Zusammenar- nerseits Parteienkoalition und ande- ganisation verstehen, die die Interes- beit der LINKEN und der Europäischen rerseits eine Bewegung mit eigenen sen der arbeitenden Menschen auch Linken mit dem FSP. Zum Abschluss Basisorganisationen ist. Diese Basisor- mit politischen Forderungen gegenüber der Rundreise, die wie fast immer un- ter Zeitmangel litt, gab es ein sehr herz- liches Treffen mit der Sekretärin für In- ternationale Beziehungen der Arbeiter- partei Brasiliens (PT), Iole Iliade Lopes, die uns eine sehr gute Übersicht über © Dietmar Schulz © Dietmar die politische und wirtschaftliche Ent- wicklung Brasiliens, über Erfolge, Pro- bleme und zukünftige Herausforderun- gen an die politische Tätigkeit der Ar- beiterpartei gab. Die Reise vermittelte viele Einsich- ten und gab zahlreiche Anregungen für die weitere Zusammenarbeit mit un- seren politischen Freunden im Süden des lateinamerikanischen Kontinents. Gemeinsam voneinander lernen, Er- fahrungen austauschen, das Handeln noch stärker koordinieren und in So- lidarität zusammenstehen, das sind auch in Zukunft wichtige Prämissen für jede internationalistische Linke.

Dietmar Schulz ist Mitarbeiter des Bereiches Internationale Politik in der Zur Erinnerung an mehr als 30.000 Opfer der Militärdiktatur in Argentinien Bundesgeschäftsstelle.

31 DISPUT Januar 2012 Es ging wieder gegen links 40 Jahre Berufsverbote – 40 Jahre Kampf gegen Berufsverbote. In memoriam Horst Bethge Von Wolfgang Gehrcke

Am 28. Januar 1972, also vor 40 Jahren, Kampf gegen Radikale wurde zur Staats- Staatsamtsbewerbern verlangt werden gebar die Runde der Ministerpräsiden- aufgabe. müsse, »jederzeit für die freiheitliche ten der Länder unter Vorsitz von Bun- In Folge des Radikalenerlasses kam demokratische Grundordnung im Sinne deskanzler Willy Brandt auf Vorschlag es zu mehr als 11.000 Berufsverbots- des Grundgesetzes« einzutreten und der Innenministerkonferenz den »Radi- verfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, stets »Staats- und Verfassungstreue« kalenerlass«, die Berufsverbote. 1.250 Ablehnungen von Bewerberinnen zu üben. Es ging damit nicht mehr um Die Initiative zu dieser Demokratie- und Bewerbern sowie 265 Entlassun- die Konformität mit dem Grundgesetz, vernichtungsentscheidung, von der Wil- gen. 3,5 Millionen Bewerberinnen und mit Rechtsgrundlagen und Normensys- ly Brandt (SPD) später als einem schwe- Bewerber für den öffentlichen Dienst tem, sondern um Treue zum Staat und ren Fehler seiner Regierung sprechen wurden in Form einer Regelanfrage vom damit zu den Machtverhältnissen. Nicht wird, ging von den sozialdemokratisch Verfassungsschutz auf ihre »politische mehr das konkrete Grundgesetz, son- regierten Bundesländern (Ver- Zuverlässigkeit« überprüft. Was im öf- dern die »freiheitliche demokratische weigerung der Ernennung von Horst Hol- fentlichen Dienst begann, sprang rasch Grundordnung« wurde zur Prüfungsvor- zer zum Professor) und (Anti- über auf die private Wirtschaft. Sogar gabe. Bereits die bloße Mitgliedschaft kommunismus-Beschluss) aus. Gewerkschaften, namentlich die IG Me- in der Deutschen Kommunistischen Par- Kommunisten, Sozialisten, Linke im tall und die IG Chemie, fi ngen an, Ra- tei, einer legalen Partei, oder im Marxis- Allgemeinen, Radikale des Wortes und/ dikale unter ihren Funktionären auszu- tischen Studentenbund Spartakus, der oder der Tat sollten aus dem öffentli- sondern. Sozialistischen Deutschen Arbeiterju- chen Dienst entfernt werden. Der »Radi- Besonders bitter ist es, daran zu erin- gend, im Kommunistischen Bund oder kalenerlass« traf Postboten wie Eisen- nern, dass zu den ersten Berufsverbots- dem Bund Westdeutscher Kommunis- bahner, Zöllner, Sekretärinnen und Be- opfern Kinder von Widerstandskämp- ten oder, oder, oder … begründeten ei- amte im Bundesdienst ebenso wie Be- fern gegen den Faschismus gehörten. nen »Anfangsverdacht«. amte in den Ländern und Beschäftigte Die Tochter des von den Nazis ermor- Die vom Verfassungsgericht verord- in den Kommunen. deten Widerstandskämpfers Franz Ja- nete Einzelfallprüfung endete in der Re- Er war nicht auf den »Sicherheitsbe- cob, Ilse Jacob in Hamburg, und Silvia gelanfrage beim Verfassungsschutz und reich« beschränkt. Besonders im Visier Gingold, Tochter des jüdischen Wider- bei dem Recht, angehört zu werden. Die- der Berufsverbieter: Lehrerinnen und standskämpfers Peter Gingold in Hes- ses vermeintliche Recht als Schutz vor Lehrer, Beschäftigte an Hochschulen sen, wurden mit Berufsverboten belegt. Willkür wurde allerdings zum Instru- im Allgemeinen und der Justiz im Spe- Die tödliche Krankheit der Weima- ment der Willkür, zur Einrichtung der In- ziellen. rer Republik, die Verfi lzung von reakti- quisition. Was ‘68 begann, die Befreiung der onärer Beamtenschaft, antikommunis- Harald Werner, heute Mitglied des Republik vom Mief der Reaktion, sollte tischer Hysterie, wirtschaftlicher Macht Parteivorstandes der LINKEN, schildert ‘72 gewendet werden. Der von Teilen der und großdeutscher Außenpolitik, hat seine Anhörung: »Die Verhandlung dau- APO (Außerparlamentarische Oppositi- sich in Bonn nicht eins zu eins wieder- erte mehr als sieben Stunden und nahm on) propagierte »Marsch durch die Ins- holt, aber die Mixtur, die zum Ende von zuweilen kuriose Formen an, denn der titutionen« sollte, so die Herrschenden, Weimar führte, war angerührt. Es ging Vorsitzende und seine sechs Beisitzer in der Anpassung der Marschierenden wieder gegen links. Reaktionäre Beam- waren nicht nur schlecht vorbereitet, und nicht in der Umgestaltung der Insti- te, nicht einmal offene Sympathisanten sie zeigten auch erhebliche Wissenslü- tutionen enden. von NPD und anderen Rechtsextremis- cken. ›Sind sie der Meinung, dass dies ten wurden nicht wie Linke fl ächende- mit dem Grundgesetz der Bundesrepu- Wie im Namen der Demokratie ckend mit Berufsverboten behelligt. In blik Deutschland vereinbar ist?‹ – ›Aber Demokratie zerstört wurde diesem Klima der Denunziation wurden selbstverständlich, denn der Artikel 14 mit Berufsverboten auch andere »Rech- legt eindeutig fest, dass der Gebrauch Nota bene, in der Rückschau erwies sich nungen«, zum Beispiel die Reihenfolge des Eigentums zugleich dem Allgemein- das Angebot zur Anpassung durchaus bei Bewerbungen, der Kampf um die we- wohl dienen muss und dass zum Wohl als erfolgreich, wie nicht nur die Beispie- nigen hochdotierten Stellen, mit begli- der Allgemeinheit auch Enteignungen le Joseph Fischer und Gerhard Schröder chen. möglich sind. Was dann im Artikel 15 exemplarisch dokumentieren: Die Re- noch etwas genauer beschrieben wird.‹ volution integrierte einerseits ihre Kin- Treue zum Staat und nicht zur – ›Das stimmt nicht‹, protestierte einer der und zog andererseits für die Anpas- Verfassung – wie das Recht der Ministerialräte, und Henning Adler sungsverweigerer Grenzen. gebeugt wurde konterte: ›Ich beantrage, dass die Aus- Das »Eindringen« von Antikapitalis- sagen meines Mandanten an Hand ei- ten – spontanen wie studierten, »orga- Der Zweite Senat des Bundesverfas- nes Grundgesetzes überprüft werden.‹ nisierten« wie »freien« – in den Staats- sungsgerichts bestätigte mit seinem Zunächst herrschte Ratlosigkeit in der apparat mit der Verweigerung, sich an- Urteil vom 22. Mai 1975 die Praxis der Reihe des Vorsitzenden und seiner Bei- zupassen, und statt dessen mit der Ab- Berufsverbote und setzte zur »Demo- sitzer, doch dann bekam die Protokol- sicht, den Staat verändern zu wollen, kratisierung von Berufsverboten« als lantin den Auftrag zur Beibringung eines wurde zum Schreckensbild Nr. 1 und der Grundvoraussetzung fest, dass von Grundgesetzes. Es dauerte fast eine hal-

ZEITGESCHICHTE DISPUT Januar 2012 32 und anderen abforderte, heißt, alles

© Archiv © von der Wurzel her zu denken und ent- sprechend zu handeln. Die Wurzel, so wiederum Marx, ist der Mensch. Vom Menschen her denken und handeln ist auch die ethische Leitlinie des Grund- gesetzes, das postuliert, dass die Wür- de des Menschen unantastbar und sie zu schützen und zu achten Aufgabe aller staatlichen Gewalt sei. Für die Betroffe- nen war die Berufung auf das Grundge- setz allerdings eher be- als entlastend.

Die herrschende Klasse ist rachsüchtig – Aufarbeitung und Rehabilitierung stehen aus Nach über 40 Jahren ist keine staatliche Entschuldigung an die Opfer der Berufs- verbote, an die Bespitzelten, an die Ein- geschüchterten und Erschrockenen, an die, deren berufl iche Entwicklungswe- ge verbaut wurden, und an die, die ob der Angst um ihre berufl ichen Möglich- keiten auf ihre freie Meinungsäußerung verzichtet haben, erfolgt. Es soll ver- drängt werden, dass über die Republik West Wellen der Einschüchterung und der Verfolgung hinweg rollten. Nach dem KPD-Verbot gab es Tausende Kom- munisten-Prozesse und eine »Säube- rung« des öffentlichen Dienstes. Nach der 68er Rebellion kam die reaktionä- re Wende mit den Berufsverboten, und nach der deutschen Einheit wurde der Elitewechsel Ost zur Staatsräson. Stets sollte der Staatsapparat veränderungs- frei gehalten werden. Stets aber gab es auch Solidarität mit den Betroffenen, be Stunde, aber schließlich hatte sich fang an rechtswidrig, weil die Berufsver- neuen Widerstand und einen neuen An- im Innenministerium tatsächlich ein bote nur für Beamte und Beschäftigte lauf zur Veränderung. Auch heute. Grundgesetz gefunden. Der Vorsitzende des öffentlichen Dienstes galten. Nach- Berufsverbote waren Unrecht, und las, runzelte die Stirn und grummelte är- dem ich mich jahrelang erfolglos durch um sie durchzusetzen, musste das gerlich: ›Ja, steht da tatsächlich.‹« mehrere Instanzen zu klagen versuchte, Recht gebeugt werden. Das Prinzip des Die Folgen allerdings für Harald Wer- bekam ich nach sechs Jahren vor dem Rechtsstaates erfordert es, sich bei den ner und Tausende andere Betroffene Bundesverwaltungsgericht tatsächlich Opfern zu entschuldigen. Ihre vollstän- waren nicht so amüsant, wie sich die- auch Recht, ohne allerdings Anspruch dige Rehabilitierung steht immer noch se Anhörung in der Nachbetrachtung auf Entschädigung zu erhalten.« aus. Eine Entschuldigung bei den Op- liest. Harald Werner schrieb mir in ei- fern wäre Aufgabe des Bundestages und nem Brief: »Nach meiner Promotion, die »Berufsverbot« konnte nicht des Bundespräsidenten. übrigens mit Eins bewertet wurde, hat- übersetzt werden In der Bundesinitiative gegen die Be- te ich an der von mir mit geplanten Uni rufsverbote, deren Seele maßgeblich überhaupt keine Chance mehr, irgend Deutschland hat die französische und von Horst Bethge (1935–2011) geprägt eine Stelle zu bekommen. Über meh- die englische Sprache bereichert: Be- wurde, arbeiteten Menschen über die rere Jahre schlug ich mich mit schlecht rufsverbot und Radikalenerlass wa- Parteigrenzen hinweg zusammen. Ju- bezahlten und für jedes Semester vom ren nicht übersetzbar. In keinem ande- risten wie Wolfgang Abendroth und Hel- Kultusministerium neu zu genehmigen- ren europäischen Land, in keiner ande- mut Ridder, Pierre Kalda aus Frankreich, den Lehraufträgen in Oldenburg, Em- ren europäischen Sprache gilt »radikal« Rechtsanwälte und Richter trugen dazu den und Bremen durch. Schließlich be- als Vorwurf oder Schimpfwort. Damals bei, die Ära der Berufsverbote zu been- schloss die inzwischen von der CDU ge- wie heute ist das Gedrängel um die den. Die europäischen Urteile gegen Be- führte Landesregierung ein Exempel zu Mitte »der Gesellschaft«, um die Zen- rufsverbote schafften dann endlich, wo- statuieren und verweigerte mir grund- tren von Parteien groß, die Flügel dro- vor das Verfassungsgericht 1975 noch sätzlich die Lehre, was eigentlich nicht hen zu verwaisen. Der Begriff des Radi- versagte: zur Wiederherstellung von durch ein Berufsverbot notwendig ge- kalen erfordert Mut und Klarheit. Soviel Recht beizutragen. wesen wäre, sondern durch eine nicht Mut und Klarheit, dass ein Erlass gegen begründungsfähige Ablehnung der ein- ihn her musste. Radikal denken und ra- Wolfgang Gehrcke ist Mitglied des Partei- zelnen Lehraufträge. Das war von An- dikal handeln, wie es Marx sich selbst vorstandes und Bundestagsabgeordneter.

33 DISPUT Januar 2012 PRESSEDIENST

fontaine, am 6. Januar: »Es geht jetzt darum, eine stabile Mehrheit für ei- ne Politik zu fi nden, die die über zehn © Michael Horn Jahre andauernde Stagnation der saar- ländischen Landespolitik überwindet. Es dürfte der saarländischen SPD als Wunschpartnerin der amtierenden Mi- nisterpräsidentin schwerfallen, ihren Wählerinnen und Wählern und ihren Mitgliedern zu vermitteln, dass aus- gerechnet mit der abgewirtschafteten CDU ein politischer Neuanfang an der Saar möglich ist.« Die CDU Saar stehe für den Niedergang der Landespolitik in den letzten Jahren und das fi nanzi- elle Desaster, das die Handlungsfähig- keit des Landes immer weiter begrenzt und seine Existenz bedroht.

Thüringen: Gegen einen durch das Amtsgericht Dresden erlassenen Straf- befehl wegen des Vorwurfs der Störung einer Versammlung hat der Vorsitzen- Unmittelbar vor Weihnachten demonstrierte die LINKE-Fraktion in der Bremischen de der thüringischen Landtagsfraktion, Bürgerschaft in Bremen und in Bremerhaven ihre Forderung nach einem gesetzlichen Bodo Ramelow, durch seinen Rechts- Mindestlohn. anwalt am 6. Januar Einspruch einge- legt. Das Amtsgericht Dresden hat An- fang des Jahres einen Strafbefehl über Mitgliederentscheid: Der Ge- sowie dem Parteivorstand eine Reihe 20 Tagessätze zu je 170 Euro erlassen. schäftsführende Parteivorstand hat auf von Vorschlägen zum weiteren Verfah- Das Gericht wirft Ramelow vor, am 13. seiner Sitzung am 12. Januar entspre- ren unterbreitet wird, die bei den an- Februar 2010 eine Blockade gegen den chend § 2 Abs. 1 der Ordnung für Mit- stehenden Wahlen zum Parteivorstand Aufmarsch der rechtsextremistischen gliederentscheide der Partei DIE LINKE eine breitere Einbindung der Basis er- Jungen Landsmannschaft Ostpreußen über den vom Landesverband Mecklen- möglichen. Dazu zählen die Durchfüh- in Dresden maßgeblich initiiert zu ha- burg-Vorpommern und anderen Gliede- rung von Regionalkonferenzen und die ben und damit eine grobe Störung rungen der Partei eingereichten Antrag rechtzeitige Bekanntgabe von Kandida- im Sinne des § 21 Versammlungsge- auf Durchführung eines Mitgliederent- turen. setz verursacht zu haben. Dazu erklär- scheids zur Besetzung der Position der te Ramelow: »Es ist nicht zu akzeptie- beiden Parteivorsitzenden beraten. Der Frauenpreis: In diesem Jahr wird ren, dass diejenigen durch die Justiz in Geschäftsführende Parteivorstand hat der Clara-Zetkin-Preis der Partei DIE Sachsen kriminalisiert werden, die mit sich mit sechs gegen vier Stimmen der LINKE zum zweiten Mal verliehen. Der ihrer Teilnahme an friedlichen Protes- im Rechtsgutachten von Prof. Dr. Mar- Preis soll an ein Projekt oder eine Initi- ten gemeinsam mit Tausenden Men- tin Morlok dargelegten Rechtsauffas- ative vergeben werden, welche/s sich schen verhindert haben, dass der größ- sung angeschlossen und festgestellt, in besonderer Weise um feministische, te Naziaufmarsch in Europa in Dresden dass der Antrag nicht zulässig ist. Frauen- oder Genderpolitik verdient ge- seine menschenverachtende Ideologie Der Geschäftsführende Parteivor- macht hat. Verliehen wird der mit 3.000 durch die Straßen tragen kann.« stand strebt an, dass der Parteivor- Euro dotierte Preis in einem Festakt am stand eine Diskussion darüber führt, 10. März. Die Ausschreibung ist nach- Mecklenburg-Vorpommern: Am ob er dem Parteitag der LINKEN ei- zulesen im Internet unter www.die-lin- 5. Januar wurde die Volksinitiative »Für ne Satzungsänderung vorschlägt, die ke.de/politik/frauen/clarazetkinfrau- einen Mindestlohn von zehn Euro pro künftig den Mitgliedern eine Beteili- enpreis. Bewerbungsschluss ist der 20. Stunde« gestartet. Ziel dieser Volksin- gung bei Personalfragen ermöglicht. Februar 2012. itiative ist, dass Mecklenburg-Vorpom- Darüber hinaus hat sich der Ge- mern im Bundesrat unverzüglich eine schäftsführende Parteivorstand mit Saarland: Das Auseinanderbre- Initiative mit dem Ziel einleitet, einen den anwesenden Vertrauensleuten chen der Jamaika-Koalition biete die bundesweit einheitlichen fl ächende- der Antragssteller/innen darauf ver- Chance für einen politischen Neuan- ckenden gesetzlichen Mindestlohn in ständigt, dass den Vorsitzenden und fang, erklärte der Vorsitzende der saar- Höhe von zehn Euro pro Stunde einzu- SprecherInnen der Landesverbände ländischen Landtagsfraktion, Oskar La- führen. Außerdem soll der Landtag un-

DISPUT Januar 2012 34 DEMNÄCHST

verzüglich die rechtlichen Vorausset- zungen dafür schaffen, dass bei der Vergabe öffentlicher Aufträge durch Jubiläen und Jahrestage 12. Februar das Land die Einhaltung von Tarifver- Internationaler Tag gegen den Einsatz trägen gewahrt, mindestens aber ein 20. Januar 1942 von Kindersoldaten »Wannsee-Konferenz« beschließt Arbeitsentgelt in Höhe von zehn Euro 13. Februar 1937 pro Stunde gezahlt wird. systematische Ermordung der euro- päischen Juden (siehe Seite36). Sigmund Jähn, erster deutscher Kosmonaut, wird geboren Anschlag: Auf das Büro des Bür- 22. Januar (75. Geburtstag). gerschaftsabgeordneten Tim Golke in Tag der deutsch-französischen der Borgfelder Straße in Hamburg ist Freundschaft (seit 2003) 15. Februar 1992 in der Nacht zum 26. Dezember ein PDS-Bundestagsabgeordneter Anschlag verübt worden. Unbekannte 24. Januar 1952 Prof. Dr. Gerhard Riege scheidet aus warfen das Fenster mit einem Stein ein. Mutterschutzgesetz tritt in der BRD dem Leben – er war den Anfeindun- in Kraft. gen nicht mehr gewachsen. Ein politischer Hintergrund ist wahr- scheinlich. Der 29 Jahre alte Famili- 24. Januar 1962 20. Februar envater Tim Golke, erst kürzlich in die DDR-Volkskammer beschließt allge- Welttag der sozialen Gerechtigkeit Bürgerschaft nachgerückt, will sich von meine Wehrpfl icht. Steinewerfern nicht einschüchtern las- sen. An die unbekannten Angreifer ad- 26. Januar 1982 In Gorleben (Niedersachsen) begin- ressiert, sagte er: »Wir zeigen uns offen Termine nen Bauarbeiten für ein atomares und erwarten das auch von denen, die bis 19. Januar Zwischenlager. uns ablehnen. Wir sind bereit für jede Sitzungswoche im Europaparlament politische Auseinandersetzung. Und 27. Januar bis 20. Januar eins ist sicher: Mit Gewalt werdet ihr Holocaust-Gedenktag Sitzungswoche im Bundestag, uns nicht los.« Dresden Anschläge auf Geschäftsstellen 28. Januar 1972 Sogenannter Radikalenerlass wird und Abgeordnetenbüros der LINKEN in 21. Januar beschlossen (siehe Seite 32). mehreren Bundesländern häuften sich Kleiner Parteitag Sachsen in den vergangenen Monaten. 28. Januar 21. und 22. Januar Europäischer Datenschutztag Sitzung Parteivorstand 29. Januar 2002 23. bis 27. Januar US-Präsident Bush bezeichnet Irak, Sitzungswoche im Bundestag Iran und Nordkorea als »Achse des

© DIE LINKE.Hamburg Bösen«. 28. Januar Vertreter/innenversammlung 30. Januar 1937 Schleswig-Holstein und Listenauf- Wegen der Verleihung des Friedens- stellung für die Landtagswahl, nobelpreises an Carl von Ossietzky Neumünster, »Kiek in!« verbieten die Nazis allen Deutschen die Annahme eines Nobelpreises. 1. und 2. Februar Sitzungstage im Europaparlament 3. Februar 1947 CDU verabschiedet Ahlener Wirt- 4. und 5. Februar schaftsprogramm (in der britischen Bundesausschusssitzung, Dresden Zone). Bayern: Der Landesvorstand Bay- 5. Februar ern sprach sich in einem Beschluss am 6. Februar Oberbürgermeister/in-Wahl in 17. Dezember 2011 entschieden ge- Internationaler Tag gegen weibliche Rostock gen Faschismus, Rassismus, Fremden- Genitalverstümmelung 6. Februar feindlichkeit und Antisemitismus aus: Sitzung Geschäftsführender Partei- 7. Februar 1992 »Wir werden auch 2012 antifaschisti- vorstand sches Engagement und antifaschisti- Vertrag von Maastricht wird unter- zeichnet und damit die Europäische sche Bündnisse aktiv unterstützen. Wir 6. bis 10. Februar Union gegründet. unterstützen aktiv die Blockade-Aktio- Sitzungswoche im Bundestag nen gegen den Naziaufmarsch am 18. 10. Februar 1992 10. Februar Februar 2012 in Dresden.« Prozess gegen Erich Mielke wegen Plenarsitzung Bundesrat des Mordes an zwei Polizisten im Zusammenstellung: Florian Müller Jahr 1931 beginnt. Zusammenstellung: Daniel Bartsch

35 DISPUT Januar 2012 Die Konferenz Vor 70 Jahren wurde am Berliner Wannsee der Mord an den europäischen Juden geplant Von Ronald Friedmann

Der 20. Januar 1942 war ein klarer und nachfolgenden Maßnahmen abzustim- mann weiter berichtete, »mit beträcht- sonniger Wintertag in Berlin. Gegen 11 men. Etwa elf Millionen Juden aus dem lichen Stolpersteinen und Schwierig- Uhr trafen zahlreiche schwere Limousi- gesamten deutschen Macht- und Ein- keiten gerechnet«, doch statt dessen nen an der Villa am Großen Wannsee fl ussbereich in Europa, und dazu zähl- stieß er nicht nur auf »Zustimmung von im Südwesten der deutschen Haupt- ten im Verständnis der Konferenzteil- Seiten der Teilnehmer, sondern mehr stadt ein, die seit dem Vorjahr als Gäs- nehmer auch der unbesetzte Teil Frank- noch auf eine Zustimmung von uner- tehaus des Sicherheitsdienstes der SS reichs, aber auch das nach wie vor un- warteter Form.« Die deutschen Beam- diente. Insgesamt dreizehn Männer besiegte Großbritannien, sollten noch ten zeigten »größten Eifer«, die ihnen entstiegen den Wagen – sie waren An- vor dem Kriegsende »in den Osten eva- zugedachte Rolle beim Massenmord fang Dezember von Reinhard Heydrich, kuiert« und dort einer »Sonderbehand- an den europäischen Juden zu spielen. dem Leiter des sogenannten Reichs- lung« unterzogen, also ermordet wer- Insgesamt wurden dreißig Exemp- sicherheitshauptamtes, zu einer »Be- den. Mit bösartiger, also typisch deut- lare des 15 Seiten umfassenden Pro- sprechung mit anschließendem Früh- scher Gründlichkeit wurde beraten, tokolls angefertigt und als »Geheime stück« eingeladen worden. wie mit »Mischlingen 1. Grades« und Reichssache« deklariert. Nur ein einzi- Heydrich und sein Gehilfe Adolf »Mischlingen 2. Grades« sowie Juden ges Exemplar, die Kopie mit der Num- Eichmann, der Leiter des »Judenrefe- in »Mischehen« zu verfahren sei. mer 16, hat das Ende des Dritten Rei- rats« im Reichssicherheitshauptamt, Mit der Anfertigung des offi ziellen ches überstanden. Es handelt sich um erwarteten ihre Gäste im Foyer und Protokolls wurde Eichmann beauftragt. das Exemplar von Martin Luther, der geleiteten sie in den Beratungsraum. Vor einem israelischen Untersuchungs- als Unterstaatssekretär im Auswärti- Pünktlich um 11 Uhr begann die Kon- richter bestätigte er knapp 20 Jahre gen Amt an der Konferenz teilgenom- ferenz. Alle wichtigen Ministerien der später, dass er den Entwurf mehrmals men hatte. Im Februar 1943 war Luther Hitlerregierung sowie die einschlägi- überarbeiten musste, weil Heydrich auf nach einer gescheiterten Palastrevol- gen Dienststellen der SS waren durch Formulierungen bestand, die das An- te gegen seinen Chef Joachim von Rib- hochrangige Beamte vertreten, denn liegen der Wannseekonferenz ausrei- bentrop verhaftet und als prominen- es ging bei dieser Zusammenkunft um chend verschleierten, aber gleichzeitig ter Häftling in das Konzentrationsla- eine Frage von höchster Priorität: Wie so deutlich machten, dass sich keiner ger Sachsenhausen gebracht worden, war der bereits im Jahr zuvor begon- der Teilnehmer später auf Unkenntnis wo er das Kriegsende unter privilegier- nene systematische Mord an den eu- berufen konnte. Doch diese Sorge war ten Bedingungen – er wohnte mit sei- ropäischen Juden zu organisieren, um unbegründet: Heydrich hatte, wie Eich- ner Familie in einem eigenen Haus – er- in möglichst kurzer Zeit die »Gesamtlö- lebte. Allerdings hatte er im Gegensatz sung der Judenfrage im deutschen Ein- zu anderen Funktionären des Nazire- fl ussgebiet in Europa« zu erreichen. gimes keine Gelegenheit mehr gehabt, Bereits im Juli 1941 hatte sich Hey- seine Akten zu säubern. Gefunden wur- drich von Hermann Göring, dem nach de das Dokument schließlich im März Hitler zweiten Mann in der Führung 1947 von Mitarbeitern Robert Kemp- des faschistischen Deutschlands, die ners, der in den Jahren 1945 und 1946 Vollmacht erteilen lassen, den Mas- stellvertretender Hauptankläger der senmord zu organisieren. Dabei hat- Vereinigten Staaten beim Nürnberger te Göring in einem von Heydrich selbst Prozess gegen die Hauptkriegsverbre- entworfenen Brief festgelegt: »Sofern der Nation, 1981 © Deutsche Chronik, Verlag cher gewesen war und 1948 in gleicher hierbei die Zuständigkeiten anderer Funktion beim sogenannten Wilhelm- Zentralinstanzen berührt werden, sind straßen-Prozess gegen Spitzenbeamte diese zu beteiligen.« Um keine Zweifel des hitlerdeutschen Auswärtigen Am- aufkommen zu lassen, in wessen Hand tes tätig war. die maßgebliche Kompetenz lag, hat- Eine ursprünglich geplante zweite te Heydrich Kopien dieses Göring-Brie- Konferenz auf Staatssekretärsebene fes den Einladungen zur »Staatssekre- kam nicht mehr zustande, weil Heyd- tärskonferenz«, wie das Treffen am Gro- rich am 27. Mai 1942 bei einem Atten- ßen Wannsee intern genannt wurde, tat tschechischer Widerstandskämpfer beigefügt. tödliche Verletzungen erlitt und weni- Heydrich selbst hielt das Einfüh- ge Tage später starb. Doch der Massen- rungsreferat, die dazu notwendigen Zu- mord an den europäischen Juden ging arbeiten hatte Eichmann geleistet. weiter und endete erst, als sich sowje- In der einstündigen Diskussion ging tische Truppen im Winter 1944/45 an es in erster Linie darum, die Zustän- allen Fronten immer mehr dem deut- digkeiten für die begonnenen Depor- schen Reichsgebiet näherten: Das Ver- tations- und Vernichtungsaktionen zu »Die deutschen Beamten zeigten ›größ- nichtungslager Auschwitz wurde am 27. klären und den zeitlichen Ablauf der ten Eifer‹ …« Januar 1945 befreit.

GESCHICHTE DISPUT Januar 2012 36 Braune Wurzeln – faule Früchte Zum staatsoffi ziellen Blick auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit Von Jan Korte

Ralph Giordano stellte 2007 auf hätten »diese Aufarbeitung von Beginn onen und geplanten Forschungsvorha- dem Eröffnungskolloquium »Aufbau an nachhaltig unterstützt«, ist dreist. ben zu den Ministerien und ihrem Um- des BKA – Kalte Amnestie auf demo- Nach wie vor bewegt sich an vielen gang mit der Vergangenheit. Auffallend kratischer Grundlage« sehr prägnant Stellen nichts. Immer nur dort, wo es ist hier die relative Lücke beim Innen- fest: »Wir leben in einem Land, wo dem gesellschaftlichen Druck gibt, passier- ministerium, das bis heute offensicht- größten geschichtsbekannten Verbre- te und passiert überhaupt etwas in Sa- lich keinerlei Notwendigkeit sieht, sich chen mit Millionen und aber Millionen chen NS-Aufarbeitung. mit seinem Vorläufer in der NS-Zeit zu Opfern, die wohlbemerkt hinter den befassen. DIE LINKE bleibt hier aktiv. Fronten umgebracht worden sind wie Massenhafte »Resozialisierung« Historisch aufschlussreich für den Insekten, das größte Wiedereingliede- Umgang der einzelnen Ressorts der rungswerk für Täter folgte, das es je ge- Die Antwort illustriert die unüberseh- Bundesregierung mit NS-belasteten geben hat. Von wenigen Ausnahmen bare Präsenz ehemaliger NS-Funktions- Personen ist auch die Übersicht zur abgesehen, sind sie nicht nur straffrei eliten in den Ministerien und Behörden Reintegration dieser Personen nach davon gekommen, sondern konnten der frühen Bundesrepublik. Von ganz dem 131er Gesetz. So waren bis zum ihre Karrieren auch unbeschadet fort- wenigen Ausnahmen abgesehen, sind 31. März 1955 77,4 Prozent der Beset- setzen.« Giordano hat diesen Geburts- die Täter nicht nur straffrei davonge- zungen im Verteidigungsministerium fehler der Bundesrepublik »die zweite kommen, sondern konnten ihre Karri- sogenannte 131er, im Vertriebenenmi- Schuld« genannt. Dieser sei viel mehr eren in der Bundesrepublik unbescha- nisterium waren es 71 Prozent, beim als nur eine rhetorische oder morali- det fortsetzen. Im gesamten Auswärti- Wirtschaftsministerium 68,3 Prozent sche Kategorie, sondern tief verankert gen Amt zum Beispiel, in dessen höhe- und beim Presse- und Informations- im »Großen Frieden mit den Tätern«. rem Dienst 1952 noch rund 34 Prozent amt 58,1 Prozent. Ob man dies wirk- Den moralischen und politischen ehemalige NSDAP-Mitglieder tätig wa- lich als gelungene Aufarbeitung der Preis, den die »Resozialisierung« der ren, gab es gerade einmal drei Entlas- NS-Vergangenheit bezeichnen soll, ist Täter forderte, zu ergründen, bleibt bis sungen wegen Tätigkeit im »Dritten äußerst zweifelhaft. Während die Sta- heute Aufgabe einer kritischen Öffent- Reich«. Dieses, durch den Kalten Krieg si-Unterlagen-Behörde 20 Jahre nach lichkeit. DIE LINKE im Bundestag stell- begünstigte Ausmaß kann man im Ende der DDR 1.687 Mitarbeiter hatte, te im Dezember 2010 eine Große An- Rückblick nur als eine beispiellose mo- hatte die »Zentrale Stelle der Landes- frage zum »Umgang mit der NS-Ver- ralische Katastrophe bezeichnen. Die justizverwaltungen zur Aufklärung na- gangenheit« an die Bundesregierung massenhafte »Resozialisierung« der tionalsozialistischer Verbrechen« im (Drucksachennummer 17/8134). Über NS-Täter in der frühen Bundesrepublik schwäbischen Ludwigsburg 20 Jahre ein Jahr feilte diese an ihrer Antwort, forderte aber nicht nur in moralischer, nach Kriegsende 121 Mitarbeiter. Nie doppelt so lang wie üblich. Ersicht- sondern auch in politischer Hinsicht in ihrer Geschichte hatte die Zentral- lich ist das Bemühen der Bundesregie- einen hohen Preis. Die jüngste Studie stelle, die derzeit mit ganzen 16 Mit- rung, durch umfassende und ausführli- über die braunen Wurzeln des Bundes- arbeitern auskommen muss, auch nur che Antworten die Selbsteinschätzung kriminalamtes belegt, dass sich in den annähernd ausreichende Mittel oder der Bundesrepublik zu unterstreichen, Behörden über Jahrzehnte hinweg Res- genügend Personal, um ihrer Aufgabe die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sentiments und Feindbilder, die in der gerecht zu werden. Brisante neue Ent- sei alles in allem eine Erfolgsgeschich- Zeit des Nationalsozialismus geprägt hüllungen sucht man also in der Ant- te gewesen und könne als weltwei- worden waren, konservieren konnten. wort vergebens. tes Vorbild für den Umgang mit staat- Allein die Beantwortung von Fra- Ein erster Schritt in die richtige Rich- lichen Verbrechen angesehen werden. ge 1, in der es um NS-belastete Per- tung ist dennoch an vielen Stellen ge- Erkennbar ist, dass die Bundesregie- sonen in den Institutionen des Bun- tan. Hier hat sich auch die jahrzehn- rung Ministerien und Bundesländer in- des geht, beansprucht in der Beant- telange Beharrlichkeit von vielen kriti- tensiv in die Beantwortung der Anfrage wortung zehn Seiten. Das Ergebnis ist schen Bürgern, Historikern, Intellektu- eingebunden hat. jedoch dürftig, was wiederum deut- ellen und Journalisten ausgezahlt. Jetzt Wollte man eine Gesamtbewertung lich macht, dass eben die Frage nach muss es darum gehen, dass insbeson- der 85 Seiten umfassenden Antwort den NS-Belastungen des Personals des dere die Sicherheitsbehörden ihre Ver- vornehmen, so ließe sich folgendes Re- neuen Staates keine oder nur eine un- gangenheit konsequent offenlegen und sümee ziehen: Viele inhaltliche Lücken tergeordnete Rolle spielte. Interessant den freien Zugang zu Akten und Daten wurden durch viele Worte überdeckt – ist die Übersicht der Minister und Kanz- sowohl für die Betroffenen als auch für wobei die Inhaltsleere in zahlreichen ler, die NSDAP -Mitglieder bzw. Mitglie- Forschung und Medien eröffnen. Dann Bereichen nicht in die Verantwortung der anderer schwer belasteter NS-Or- böte sich die Chance, endlich eine ob- der Bundesregierung fällt, sondern ganisationen waren. Darin werden 26 jektive Geschichte des Kalten Krieges Ausdruck des verfehlten Umgangs mit Bundesminister und ein Bundeskanz- und der Politik der beiden deutschen der NS-Vergangenheit in der frühen ler genannt, unter ihnen Horst Ehmke, Staaten zu schreiben. Bundesrepublik ist. Dass die Bundes- Walter Scheel, Friedrich Zimmermann regierung weiter auf der falschen Be- und Hans-Dietrich Genscher. Informa- Jan Korte ist Mitglied im Fraktionsvor- hauptung beharrt, »Bund und Länder« tiv auch die lange Liste der Publikati- stand DIE LINKE. im Bundestag.

37 DISPUT Januar 2012 ZEITGESCHICHTE C17 bot Alternativen Zur alternativen Klimakonferenz in Durban (Südafrika) Von Katrin Voß

Vom 28. November bis zum 10. Dezem- sity KwaZulu-Natal in Durban sowie in den reduziert wird durch die Konst- ber 2011 fand in Durban (Südafrika) Gewerkschaftszentralen in verschiede- ruktion von neuen oder den Umbau zu die alljährliche Vertragsstaatenkonfe- nen Stadtteilen statt. Ziel war es, die energieeffi zienten Gebäuden, renz der UN-Klimarahmenkonvention, Interessen verschiedener Menschen • der Verbrauch des Erdöls durch die kurz die COP17, statt. Die Erwartungen im Kampf für Klimagerechtigkeit mitei- Verbesserung und den Ausbau des öf- an mögliche Ergebnisse der Konferenz nander zu verknüpfen, Wissen auszu- fentlichen Nahverkehrs reduziert wird, wurden bereits im Vorfeld allgemein tauschen und für gemeinsame Kampa- • Nahrungsmittel durch biologischen als sehr gering beschrieben, was dann gnen und Initiativen nationale und in- regionalen Kleinanbau produziert wer- auch den Tatsachen entsprach. So wur- ternationale Verbindungen zu schaffen. den, de zum Beispiel keine Verlängerung Auf Veranstaltungen und Seminaren • Wasser, Böden und Biodiversität ge- des Kyoto-Protokolls ausgehandelt. Es wurde über Auswirkungen der Erder- schützt werden. läuft im Jahr 2012 aus und stellt derzeit wärmung in der Welt informiert, alter- das weltweit einzige Vertragswerk zum native Modelle zur Klimapolitik wurden Die dadurch entstehenden Arbeitsplät- Klimaschutz dar. Ebenso wurde es ver- vorgestellt und diskutiert. ze sollen ökologisch nachhaltig und so- passt, die schnell wachsenden Volks- Es kristallisierte sich deutlich her- zial gerecht sein und staatlichen Inter- wirtschaften, wie die der sogenannten aus: Die ärmere ländliche Bevölkerung ventionen unterliegen. Damit könn- Schwellenländer, zum Klimaschutz zu in den Entwicklungs- und Schwellen- ten allein im Transportwesen 460.000 verpfl ichten. Eine Entscheidung dazu ländern hat schon jetzt mit massiven neue Beschäftigungsverhältnisse ge- wurde aufgeschoben. Problemen aufgrund der Klimaverände- schaffen werden. Bei einer offi ziellen Das Gastgeberland Südafrika hat die rung zu kämpfen. So war es nicht ver- Arbeitslosenquote in Südafrika von 25 zwölfthöchste CO2-Emission weltweit wunderlich, dass insbesondere Frauen- Prozent – die Dunkelziffer liegt bei ca. und den höchsten CO2-Ausstoß in Af- organisationen aus ländlichen Gebie- 40 Prozent – wäre das ein enormer Ge- rika. Ca. 90 Prozent des gesamten süd- ten des südlichen Afrikas mit starker winn, von dem sich nicht nur eine Ver- afrikanischen Strombedarfs werden in Stimme präsent waren. ringerung der Armut, sondern auch ein Kohlekraftwerken produziert, einer be- Die Vertreter der Gewerkschaften Absinken der Kriminalitätsrate verspro- sonders emissionsintensiven Energie- verdeutlichten, dass die Kosten von chen wird. gewinnung. Der Stromverbrauch Süd- klimatischen Veränderungen durch die Das sogenannte Klima-Flüchtlings- afrikas ist in den letzten Jahren ange- Gesellschaft getragen werden, die Ver- Lager war, neben den vielen Veranstal- stiegen. Eine häufi ge Überlastung des ursacher jedoch überwiegend im pri- tungen, ein wichtiger Bestandteil von Stromnetzes und damit einhergehende vaten Sektor liegen. Es ist somit eine C17. Dieses symbolische Zeltlager bot Stromausfälle sind die Folge. Um dem Aufgabe der Gewerkschaften, die Mit- ca. 600 Menschen aus Südafrika und wachsenden Bedarf gerecht zu werden, glieder über diese Zusammenhänge anderen Ländern des südlichen Afri- ist nun der Bau von sechs neuen Atom- aufzuklären und gleichzeitig Druck auf kas die Möglichkeit, in Durban dabei kraftwerken geplant. Parallel dazu gab die Arbeitgeber auszuüben, klimascho- zu sein. Ein weiterer Höhepunkt war es jedoch keine grundlegenden Ver- nend zu produzieren. der Global Action Day am 3. Dezem- änderungen in der energiepolitischen ber. Unter dem Motto »united against Ausrichtung. Alternative Formen der Eine Million Klimaarbeitsplätze the climate change« zogen 10.000 bis Energieproduktion, wie die Nutzung 15.000 Demonstranten in einem bun- erneuerbarer Energien, sind kaum ge- Ein großes Ereignis von C17 war die ers- ten Aufzug mit ihren Forderungen fried- plant. te öffentliche Präsentation der südaf- lich durch die Innenstadt von Durban. Als Gastgeber der Klimakonferenz rikanischen Kampagne »One Million Die Demonstration endete in einer und wegen der damit verbundenen Climate Jobs«. Diese Kampagne wird Großveranstaltung mit Rednern und Aufmerksamkeit für deren Themen bot von 40 Organisationen, darunter Ge- Konzerten am Strand. sich für Südafrika die Möglichkeit, ein werkschaften, sozialen Bewegungen Insgesamt stießen die Veranstaltun- gesamtgesellschaftliches Bewusstsein und die Rosa-Luxemburg-Stiftung, un- gen von C17 auf große Resonanz. Gleich- für Probleme der Energie- und Klima- terstützt. Sie verfolgt einen komplexen zeitig konnte das Interesse der Medien politik zu entwickeln. Zivilgesellschaft- Ansatz der Klimapolitik. Es werden öko- geweckt werden. liche Organisationen, die am Rande logische mit ökonomischen Forderun- C17 konnte aufzeigen, dass es Alter- von COP17 einen alternativen Klimagip- gen verbunden. Eine der Hauptaussa- nativen zur bestehenden Energie- und fel veranstalteten, nutzten diese Chan- gen ist, dass eine Million neue Klima- Umweltpolitik in Südafrika gibt. Den ce. Ein Zusammenschluss aus 16 Orga- arbeitsplätze geschaffen werden kön- südafrikanischen zivilgesellschaftli- nisationen und sozialen Bewegungen nen, indem chen Organisationen ist bewusst, Süd- bot mit der alternativen Konferenz C17 afrika allein stoppt den Klimawechsel eine Plattform für eine Vielzahl von na- • die Elektrizität von Wind- und Solar- nicht. Aber es kann ein Modell mit Lö- tionalen und internationalen Klimaak- kraft produziert wird, sungsvorschlägen für die Energie- und tivistinnen und -aktivisten. C17 war of- • die Energievergeudung reduziert wird Umweltpolitik geschaffen werden, das fen für alle Interessierten und fand auf durch eine energieeffi ziente Industrie, dann durch andere afrikanische Staa- dem Universitätsgelände der Univer- • die Energie in Häusern und Gebäu- ten übernommen werden kann.

KLIMAPOLITIK DISPUT Januar 2012 38 »Unser Amerika« und DIE LINKE Lateinamerika bricht mehr und mehr mit dem neoliberalen Wirtschaftssystem Von Jörg Rückmann

ren. »Lateinamerika ist derzeit die Regi- on der Erde«, schreibt Ignacio Ramonet, © Cuba Sí Cuba Sí »in der die meisten Erfahrungen linker hilft Politik gesammelt werden. Wenn wir konkret. den sozialen Fortschritt in anderen Tei- len der Erde voranbringen wollen, müs- sen wir uns über dieses Geschehen in- formieren.« Zu diesem Geschehen gehört ein wichtiger Fakt: Die lateinamerikanische Integration wäre nicht denkbar ohne Ku- ba. Der Inselstaat symbolisiert für die Länder der Region – aber auch für alle Länder des globalen Südens – die er- folgreiche Verteidigung des Rechtes der Völker, ihren Entwicklungsweg selbst zu bestimmen. Dieser Zusammenhang wird von einigen LINKEN gelegentlich Lateinamerika verstört die neoliberale tur – das »Einheitliche System für den übersehen. Welt. Seit dem Wahlsieg von Hugo Chá- regionalen Zahlungsaustausch« (SU- Seit 1959 stellt Kuba seine Souverä- vez 1998 in Venezuela spricht man von CRE). Mit dem SUCRE soll der Außen- nität, die soziale Entwicklung und die einem »« in dieser Region – handel der Länder Lateinamerikas vom Nutzung der natürlichen Reichtümer aber es ist mehr als das: Die politischen US-Dollar abgekoppelt und die Region des Landes in den Mittelpunkt seiner Entwicklungen in Lateinamerika ha- vor globalen Finanzschocks bewahrt Politik. Heute gestalten mehrere Län- ben etwas von dem, was José Martí als werden. Er soll helfen, Devisen einzu- der Lateinamerikas in diesem Sinne »Unser Amerika« (Nuestra América) be- sparen und lokale Wirtschaftskreisläu- tiefgehende Transformationsprozes- zeichnete. Er rief die Völker Lateiname- fe zu stärken. Die Präsidenten Venezu- se und schließen sich zusammen. Und rikas auf, sich der eigenen Kultur zu be- elas und Argentiniens verständigten sie geraten – so wie Kuba seit über 50 sinnen, gemeinsam für ihre Interessen sich 2006 auf die Gründung einer Ent- Jahren – ins Fadenkreuz des Westens. zu kämpfen und Streitigkeiten unterei- wicklungsbank, der »Bank des Südens« Erinnert sei hier an den Putsch in Vene- nander beizulegen. (Banco del Sur). Unabhängig von sei- zuela (2002), die Aktionen gegen die Anfang Dezember 2011 schaute die ner Größe und seiner Geldeinlage wird Einheit Boliviens (2008), die Putsche in Welt nach Caracas zum Gründungskon- jedes Land das gleiche Stimmrecht ha- Honduras (2009) und Ekuador (2010). gress der »Gemeinschaft Lateiname- ben, und es besteht ein Konsensprinzip DIE LINKE beschreibt sich in ihrem rikanischer und Karibischer Staaten« bei Geschäftsentscheidungen. neuen Programm als »internationalis- (CELAC). Ihr gehören 33 Staaten mit un- Einige Länder Lateinamerikas haben tische Friedenspartei« und strebt »eine terschiedlicher politischer Ausrichtung große Industrien vergesellschaftet oder solidarische Weltwirtschaftsordnung« an; Kuba ist gleichberechtigtes Mitglied. mit ausländischen Konzernen neue Ver- an, »die nachhaltige Entwicklungs- Die CELAC ist ein lateinamerikanisches träge ausgehandelt. Die Einnahmen perspektiven für die ärmeren Länder Bündnis ohne die USA und Kanada, das zum Beispiel aus dem Abbau von Roh- schafft, globale und soziale, ökologi- sich die regionale Kooperation und In- stoffen können für Infrastrukturprojekte sche und demokratische Rechte durch- tegration sowie die Solidarität auf seine und Sozialprogramme verwendet wer- setzt ...« Fahnen geschrieben hat. den. Eine enge wirtschaftliche Zusam- Lateinamerika bricht mehr und Schon seit 1998 beschreiten mehre- menarbeit existiert auch im Rahmen mehr mit dem neoliberalen Wirt- re lateinamerikanische Länder neue po- des Petrocaribe-Abkommens von 2005. schaftssystem; CELAC, Unasur und AL- litische Wege, um der neoliberalen Um- Venezuela liefert 15 Staaten der Regi- BA demonstrieren, wie eine friedliche, klammerung und den Schocktherapi- on Erdöl zu Vorzugspreisen. Ein weite- gleichberechtigte und solidarische Zu- en von Internationalem Währungsfonds res Beispiel für die lateinamerikanische sammenarbeit auf unserem Planeten und Weltbank zu entkommen. Gleichzei- Integration ist die Gründung der »Union funktionieren kann. Für die Mitglieder tig wollen diese Länder ihre gemeinsa- Südamerikanischer Nationen« (Unasur) der LINKEN bedeutet das: Solidarität men Interessen gegenüber dem reichen 2008. Unasur spielte eine wichtige Rol- mit dem Linksprozess in Lateinameri- Norden vertreten. Im Dezember 2004 le bei der Beilegung des Konfl ikts zwi- ka, Solidarität mit Kuba – Solidarität unterzeichneten Venezuela und Kuba schen Venezuela und Kolumbien im Ju- mit »Unserem Amerika«! eine Erklärung zur Gründung der »Boli- li 2010. varischen Allianz für die Völker Unseres Lateinamerika entwickelt ein neues Jörg Rückmann ist aktiv in der Arbeitsge- Amerika« (ALBA). Im Oktober 2009 be- Selbstbewusstsein, und die Linksent- meinschaft Cuba Sí (www.cuba-si.org). Der schlossen die ALBA-Länder den Aufbau wicklungen tragen dazu bei, das ökono- Artikel ist die gekürzte Fassung eines Bei- einer neuen regionalen Finanzarchitek- mische System der Welt neu zu justie- trages in: Cuba Sí-Revista, 1/2012.

39 DISPUT Januar 2012 LATEINAMERIKA Gemeinsam in der Ferne Vor 70 Jahren wurde die Bewegung Freies Deutschland in Mexiko gegründet Von Günter Buhlke

Im Januar 2012 jährt sich der Grün- des »Lateinamerikanischen Komitees kanischen Parteien, den Gewerkschaf- dungstag der Bewegung Freies der freien Deutschen« in Mexiko-Stadt. ten und in Kreisen der Kulturschaffen- Deutschland (BFD) zum siebzigsten Die BFD erhob keinen organisatori- den, so bei Diego Rivera, Frida Kahlo, Mal. Oftmals unter lebensbedrohen- schen Führungsanspruch für alle deut- David Alfaro Siqueiros. den Umständen waren die Emigran- schen Emigranten in Lateinamerika. ten nach Mexiko gelangt, wo sie mit ih- Sie war Sammelpunkt verschiedener Zahlen und Fakten zur Bewegung ren Mitteln den Widerstand gegen den Gruppen wie dem Heinrich Heine Klub, Freies Deutschland: Faschismus fortführten. Die deutsche dem Komitee Pro intercambio cultural Kulturnation ist diesen Emigranten ein Mexicano-Alemán und der Taller Gráfi - • 1940 und 1941: Sammlung und For- Denkmal schuldig. Beide deutschen ca Popular. Engen Kontakt hielt sie zu mierung der Bewegung Staaten haben ihre Lebensleistungen den spanischen und italienischen Emi- • 5. November 1941: erste Ausgabe der noch nicht in angemessener Form ge- grantengruppen in Mexiko. Emigrantenzeitschrift »Freies Deutsch- würdigt. In Lateinamerika wurden Emigran- land«, später mit Korrespondenzen ten aus 19 europäischen Ländern regis- nach Südamerika, den USA (zu Brecht, Die BFD wurde 1942 von politisch en- triert. Für viele waren Mexiko oder an- den Gebrüdern Mann, Feuchtwanger gagierten Männern und Frauen aus dere lateinamerikanische Länder nicht und anderen) und weltweit. Der ers- Deutschland und weiteren Ländern als die erste Station ihres gefahrvollen We- te Chefredakteur war der Österreicher Sammelpunkt und Ort des Meinungs- ges. Davor lagen Fluchtstationen in der Bruno Frei. Die Zeitschrift erhielt Janu- austausches im Kampf gegen die Nazi- Tschechoslowakei, in Frankreich, Eng- ar 1946 den Namen »Neues Deutsch- ideologie gegründet. Und auch, um land, Skandinavien, in Spanien oder in land«. sich gegenseitig zu unterstützen. Denn den USA, die sich oft reserviert verhielt. • November 1941: Gründung des Hein- die Sorgen um das tägliche Überleben In Mexiko fanden die Emigranten güns- rich Heine Klubs mit Anna Seghers als und um das Schicksal der in der Hei- tige Bedingungen vor: Präsidentin. Als Stätte des deutschen mat Verbliebenen bedrückten die Emi- Antifaschismus entwickelte er sich zu granten, auch die klimatischen Bedin- • Die mexikanische Regierung verfolg- einer international beachteten Einrich- gungen und das andere kulturelle Um- te eine traditionell offene Asylpolitik, tung. feld waren zu verkraften. Die Frauen die bis zur Gegenwart anhält; mit Sor- • Januar/März 1942: Gründung der Be- der Emigrantenfamilien hatten schwe- ge betrachtet sie die Mauer der USA. wegung Freies Deutschland in Mexiko re Lasten zur Ernährung der Familien • Staatspräsident Lázero Cardenas gab • Anfang 1943: Gründung des »Latein- und mit der schulischen Erziehung ih- seinem Generalkonsul in Marseille, Gil- amerikanischen Komitees der Freien rer Kinder zu schultern. Maßgebend berto Bosques, die Vollmacht, sofort Vi- Deutschen« als Zentrum der Länderko- für die Gründung der Bewegung Freies sa zu erteilen. Innerhalb von zwei Jah- mitees. Ludwig Renn wurde sein Präsi- Deutschland war die Erfahrung, dass ren stellte er Visa in einer fünfstelligen dent, Paul Merker sein Generalsekre- Gemeinsamkeit stark macht. Zahl aus. Damit rettete er viele Men- tär. Der gemeinsame Wille, den Hit- Hauptträger der BFD waren huma- schen vor dem Zugriff deutscher Nazis. lerfaschismus zu bekämpfen, war der nistisch gesinnte Menschen, viele An- Mit ihrem Roman »Transit« setzte Anna einigende Schwerpunkt. So konnten hänger der kommunistischen und so- Seghers Generalkonsul Bosques ein li- differierende politische Standpunkte zialdemokratischen Parteien. Dazu ka- terarisches Denkmal. zwischen der DAD und der BFD über- men die wegen ihres Glaubens ver- • Ein Teil der Emigranten hatte in Spa- wunden werden. folgten jüdischen Emigranten. Die nien gegen Franco aufseiten der legiti- • 1942: Gründung des Verlages »Das politische Aufklärungsarbeit, soweit men spanischen Regierung gekämpft; Freie Buch« (el libro libre). Hier erschie- sie unter den Bedingungen der Emigra- sie waren im Besitz spanischer Reise- nen als deutsche Erstveröffentlichung tion möglich war, wurde in Mexiko von pässe. »Das siebte Kreuz« von Anna Seghers, kommunistischen Führungspersön- • Die mexikanische Politik war und ist »Marktplatz der Sensationen« von lichkeiten wie Paul Merker, Erich Jung- gegen jede Rassenideologie gerichtet. Egon Erwin Kisch, »Feindliches Frau- mann, Alexander Abusch, Georg Stibi, Die Regierung hatte sich frühzeitig auf enland« von Lion Feuchtwanger und Bruno Frei und Leo Katz (André Simo- die Seite der Anti-Hitler-Koalition ge- »Der Irrweg einer Nation« von Alexan- ne) geleistet. Zum Kern der BFD gehör- stellt. der Abusch. ten Künstler, Wissenschaftler, Huma- • Die Männer und Frauen der BFD nisten wie Anna Seghers, Egon Erwin konnten sich auf das humanistische Die Emigranten bestritten in Mexiko ih- Kisch, Ludwig Renn, Bodo Uhse, Kurt Erbe Alexander von Humboldts stüt- ren Lebensunterhalt als Lehrer, Dozen- Stern, Steffi Spira, Walter Janka, Laszlo zen, das in Mexiko unvermindert prä- ten, Übersetzer, Fotografen, Berater, Radvanyi und Gertrude Düby. sent war. als Organisatoren, Autoren, Journalis- Etwa zeitgleich gründeten politisch • Emigranten erhielten von der Arbei- ten, im Handel und mit einfachen Bü- orientierte Emigranten in Argentinien teruniversität, dem Polytechnischen In- ro- und Hilfsarbeiten. die Organisation »Das Andere Deutsch- stitut, von der Landwirtschaftsschule in Der Historiker Wolfgang Kießling land« (DAD) mit ähnlichen Zielen. Zu ei- Chapingo und der Universität in More- summierte die Zahl der Flüchtlinge, ner Zusammenarbeit beider Bewegun- lia Unterstützung. die ab 1933 nach Lateinamerika gin- gen kam es 1943 nach der Gründung • Unterstützung fand die BFD bei mexi- gen, auf insgesamt etwa 10.000. Kom-

ANTIFASCHISMUS DISPUT Januar 2012 40

Wer hat’s erfunden? Ein Beitrag zur Debatte mit dem Parteiprogramm der LINKEN. Zum Begriff Rechtsextremismus Von Horst Helas

Vielleicht ist nur das der Unterschied am längsten mit dem Begriff Rechtsex- ein sozialwissenschaftlicher Begriff ist, zwischen bestimmten Bonbons und tremismus beschäftigt. Seine im Jah- der sich von anderen Begriffssetzun- Begriffen. Auch Letztere können un- re 2000 vorgelegte Defi nition hat mei- gen unterscheidet und abgrenzt. Elf So- terschiedlichen Geschmack haben. Je nes Erachtens Bestand; anlässlich ei- ziologen hatten dazu extra eine »Kon- nach Empfi nden oder Sichtweise. Da ner Ehrung zu seinem 80. Geburtstag sensuskonferenz« durchgeführt und fällt mir zum Begriff Rechtsextremis- im Juli vorigen Jahres wurde das bestä- eine einheitliche Rechtsextremismus- mus Verschiedenes ein. tigt. »Der Begriff Rechtsextremismus Defi nition erarbeitet, die seither ihrer Ziemlich am Beginn meiner Beschäf- wird als der umfassendste Sammelbe- Forschungsmethodik wie Ergebnisin- tigung mit Politik, den Unterschieden griff für alle Kräfte, politischen Parteien terpretation zugrunde gelegt wurde.4 zwischen den Standpunkten verschie- und Gruppierungen, Theorien und Ak- 3. Ausländische Kollegen hatten dener Parteien, beeindruckte mich eine tionen am äußersten rechten Rand der und haben nach meiner Erfahrung kei- Positionsbestimmung von Franz Josef Gesellschaft verwandt. Zum Rechtsex- ne Schwierigkeiten damit, wenn für Strauß für die CSU: Rechts von uns ist tremismus werden alle extrem rech- Deutschland bei NPD, DVU oder Repu- nur noch die Hauswand. Erst später ha- ten Ideen, politischen Aktivitäten, al- blikanern von rechtsextremistischen be ich gelesen, dass die plakative Un- le Spielarten von Nationalismus, Ras- Parteien die Rede ist, während in ande- terscheidung in »links« oder »rechts« sismus, Antisemitismus, Antipluralis- ren Ländern etwa den Parteien von Le auf die Festlegung der Sitzordnung in mus und ähnliche antidemokratische Pen oder Geerd Wilders von Rechtspo- der Französischen Nationalversamm- Gesinnungen, alle Parteien, Organisa- pulismus die Rede ist. Jeder weiß vom lung seit 1789 zurückgehen würde. tionen, Gruppierungen, Kameradschaf- anderen, wer und was gemeint ist. Bei meinen Forschungen über ge- ten, Cliquen, Sekten, Theorie-Zirkel, al- 4. Viele der langjährigen Partner der sellschaftliche Prozesse im Deutsch- le äußerst rechts orientierten Skin- LINKEN in der Auseinandersetzung mit land des 20. Jahrhunderts gab mir head-Gruppen und Skin-Bands, alle Rechtsextremismus sahen bislang kei- dann eine grobe Unterscheidung cha- Gesprächsrunden, Bündnisse und Ein- nerlei Grund, ihren Namen bzw. ihre rakteristischer gesellschaftlicher zelpersonen, alle Zeitungen, Zeitschrif- Satzungen zu ändern, denn die Ziel- Grundströmungen eine gute Orientie- ten, Verlage und Vertriebsstrukturen richtung ihrer Aktivitäten hat sich ja rung, wie sie Rainer Rillung vorgenom- der extrem Rechten gezählt. In diesen nicht geändert. Gerade in der politi- men hatte: »Faschismus, Rechtsextre- Begriff sind auch der Geschichtsrevisi- schen Auseinandersetzung mit der so- mismus und die völkischen Richtungen onismus, wesentliche Teile des Milita- genannten Extremismustheorie und sind keine rasch vorübergehenden Er- rismus, der Sexismus, äußerst rechte der entsprechenden politischen Pra- scheinungen, sondern ein Jahrhundert- ökologische Strömungen, neuheidni- xis gibt es bei den Akteuren wohl we- phänomen. Sie sind eine große und sche religiös-fundamentalistische und nig Handlungsbedarf – bei allen sons- mächtige Grundströmung des entwi- zum Teil esoterische Gruppierungen tigen Unterschieden. ckelten Kapitalismus – überall auf der einbezogen. Rechtsextremismus ist Welt und gemeinsam mit den drei an- somit weit mehr und umfassender als Eine gewisse Gelassenheit deren bedeutsamen politischen Rich- seine faschistische bzw. neofaschisti- tungen des Liberalismus, Sozialismus sche, neonazistische Erscheinungswei- 5. So sehr der massive Protest gegen und Konservatismus. Und ebenso wie se, wobei es sich hier aber um die ge- die Theorie und Praxis der sogenann- diese verändert sich die Rechte – und fährlichste Version des Rechtsextremis- ten Extremismustheorie geboten ist, bleibt sich aber doch gleich.«1 Mei- mus handelt.«3 so sehr ist auch eine gewisse Gelas- ner Meinung nach kann dieses Raster Was den Begriff Rechtsextremismus senheit gefragt. Viele in der Partei DIE auch im 21. Jahrhundert noch orientie- betrifft, sollten folgende Aspekte be- LINKE und im Kreise ihrer Sympathisan- rend wirken. achtet werden. ten wie Partner in der täglichen Ausei- Womit wir beim Begriff Rechtsextre- 1. Es ist eine Legende, dass der Be- nandersetzung mit dem Rechtsextre- mismus wären. Ich halte ihn für einen griff Rechtsextremismus eine Erfin- mismus waren wohl überrascht von der übergeordneten klaren Begriff, unter dung des deutschen Verfassungsschut- Wucht und Hartnäckigkeit dieser Kam- dessen Dach ganz verschiedene Ein- zes ist. Nur weil in den Inhaltsverzeich- pagne, die zur Zeit eher noch an Ag- zelphänomene, Altbekanntes und Neu- nissen der bekannten Jahresberichte gressivität (und auch Primitivität!) zu- es, ihren Platz fi nden konnten und kön- seit Jahren von Rechtsextremismus, nimmt. nen. Linksextremismus und Ausländerext- Die Rigorosität im Vorgehen liegt Defi nitionen für den Begriff Rechts- remismus die Rede ist, muss man die- voll im »Zeitgeist« und ist mit Anti- extremismus fi nden sich viele in der sem Herangehen nicht folgen. Diesen kommunismus nur unzureichend be- Fachliteratur. Ebenso häufi g wird da- – auch als »amtlich« bezeichneten – schrieben. Dieser massiv vorgetragene bei auf die Unschärfe dieses Begriffs Umgang mit einem Begriff sollte man Grundangriff auf demokratisches, zivil- verwiesen.2 genau kennen, ohne diese Sicht unbe- gesellschaftliches Engagement gegen Für die Bundesarbeitsgemeinschaft dacht in den Rang einer Defi nitionsho- Rechtsextremismus stellt dennoch ei- Rechtsextremismus/Antifaschismus heit zu erheben. ne neue Qualitätsstufe gesellschaftli- der Partei DIE LINKE hat sich Norbert 2. Zumindest bedenkenswert sollte cher Auseinandersetzung dar, der of- Madloch am umfassendsten und auch es sein, dass Rechtsextremismus auch fensiv begegnet werden muss. Auch

DEBATTE DISPUT Januar 2012 42 © Thorsten Zopf © Thorsten

Auf der Meile der Demokratie in Magdeburg am 14. Januar wenn aktuell wieder sehr oft in den extreme Rechte, modernisierte extreme oder politische Absichten? Und: Warum Medien der Rechtsextremismus-Begriff Rechte mit rechtspopulistisch moder- verwende ich bestimmte Begriffe eben auftaucht, ist die sogenannte Extremis- nisiertem Stil, modernisierte Rechts- auch – freilich aus ganz anderen Grün- mus-Theorie damit nicht in Vergessen- außenparteien, nationalkonservati- den und in ganz anderer Absicht. heit geraten. ver Rechtspopulismus, extreme Rech- Für die klare Zielrichtung des 6. In der politischen Debatte wie im te, braunes Schreckgespenst, profaner Kampfes gegen rechts gibt es keiner- theoretischen Disput tauchen an sich Neofaschismus, klassischer Neofa- lei erkennbaren Grund, auf den Begriff neutrale Begriffe in bestimmten Zu- schismus, Protofaschismus usw. Dem Rechtsextremismus zu verzichten. sammenhängen auf: populistisch, de- sollten wir konsequenter entgegentre- magogisch, autonom, radikal – oder ten, auch wenn jungen Journalisten na- eben extrem bzw. extremistisch. Auch hegelegt wird, für jeden Artikel Synony- 1 Siehe: Rainer Rilling: Die Rechte ist hier halte ich es für notwendig, wert- me zu suchen, ja keine Begriffswieder- auch nicht mehr, was sie mal war. In: neutrale Begriffe nicht selbst bestimm- holungen zuzulassen. Standpunkte der Rosa-Luxemburg-Stif- ten politischen Gruppierungen plakativ Dies sollten wir auch tun, wenn tung 15/2004, S. 1. zuzuordnen. scheinbar ganz neue Begriffe wie 2 Siehe exemplarisch: Gero Neuge- Ich bin von Beruf Historiker und ha- Rechtsterrorismus auftauchen. bauer: Extremismus – Rechtsextremis- be deshalb ein zwiespältiges Verhält- Ich verstehe nicht, wenn einzelne mus – Linksextremismus: Einige An- nis gegenüber langatmigen, mit viel Genossen und ganze Gruppierungen merkungen zu Begriffen, Forschungs- Leidenschaft geführten Begriffsdebat- in der Partei DIE LINKE von sich in al- konzepten, Forschungsfragen und For- ten. Relativ gelassen erlebe ich auch ler Öffentlichkeit meinen: Ich lehne die- schungsergebnissen. http://www. den häufi gen synonymen Gebrauch ei- sen oder jenen Begriff ab! Da ersetze extremismus.com/texte7extl.pdf, S. 3. nander nur ähnlicher Begriffe, die ei- ich gedanklich dann den Begriff, um 3 Siehe: Norbert Madloch: Lexikali- gentlich recht Unterschiedliches mei- den es gerade geht, durch einen ande- sche Erläuterungen zu den im Rechts- nen. Nicht nur im ND oder der »jungen ren – und habe nur noch Fragen. extremismus-Teil verwandten Haupt- Welt«, auch in vielen sogenannten bür- Und: Moralisierende Positionen, begriffen. In: Klaus Kinner/Rolf Richter gerlichen Medien kann man manchmal dass man diesen oder jenen Begriff de- (Hrsg.): Rechtsextremismus und Antifa- schon in einem einzigen Beitrag auf magogisch oder verlogen fi ndet, auch schismus, Berlin 2000, S. 253. den verwirrenden Gebrauch von Be- damit kann ich nichts anfangen. 4 Siehe: Oliver Decker/Marliese Weiß- griffen stoßen: Nazis, Neonazis, Fa- Ich bemühe mich eher darum zu mann/Johannes Kiess/Elmar Brähler: schisten, Neofaschisten, Rechte, neue schauen, warum und wie verwendet die- Die Mitte der Krise. Rechtsextreme Ein- Rechte oder auch – um es etwas kom- ser oder jener bestimmte Begriffe. Was stellungen in Deutschland 2010, Berlin plizierter auszudrücken – traditionelle sind deren theoretische Begründungen 2010, S. 10–20.

43 DISPUT Januar 2012 Abel gegen Powers Vor 50 Jahren fand auf der Glienicker Brücke der erste Agentenaustausch statt Von Ronald Friedmann

Sie ist nicht so berühmt wie die Tower hatte er als sogenannter Illegaler un-

Bridge in London oder die Golden Gate Archiv © ter verschiedenen Namen und mit ver- in San Francisco. Doch sie fehlt in kei- schiedenen Identitäten in den USA ge- ner Geschichte der Spionage während lebt und dort ein höchst effektives Spi- des Kalten Krieges: die Glienicker Brü- onagenetz aufgebaut, das nicht nur cke im Südwesten . Denn vor ge- auf dem Territorium der USA operierte, nau 50 Jahren war diese Brücke Schau- sondern Kontakte bis nach Mittel- und platz eines aufsehenerregenden Agen- Südamerika unterhielt. Wichtigste Auf- tenaustausches. Nach monatelangen, gabe dieses Netzes war die Beschaf- streng vertraulichen Verhandlungen, fung von politischen, militärischen und bei denen der DDR-Rechtsanwalt Wolf- wissenschaftlich-technischen Informa- gang Vogel eine maßgebliche Rolle tionen über die Atomrüstung der USA. spielte, ging das Spektakel – gut abge- Im Juni 1957 wurde der Mann verhaf- schirmt vor den neugierigen Augen der tet, nur durch den Verrat seines engs- Öffentlichkeit – über die Bühne. ten Mitarbeiters war es dem FBI gelun- In den frühen Vormittagsstunden gen, ihm auf die Spur zu kommen. Bei des 10. Februar 1962, um genau 8.44 seiner Verhaftung gab er den Namen Uhr, wurde zunächst der US-Amerika- Rudolf Abel an. Der sowjetische Ge- ner Francis Gary Powers von sowjeti- heimdienst wusste so, dass sein wich- schen Geheimdienstoffi zieren zur Mit- tigster Mitarbeiter in den USA keine te der Brücke begleitet und dort den Aussagen machen würde. Denn der tat- offi ziellen Vertretern der US-Regierung sächliche Rudolf Abel, der ebenfalls für übergeben. den sowjetischen Geheimdienst gear- Powers war knapp zwei Jahre zu- beitet hatte, war bereits seit vielen Jah- vor, am 1. Mai 1960, bei einem Spio- ren tot, er war der beste Freund von Wil- nagefl ug über der Sowjetunion in der liam Fischer gewesen. Nähe von Swerdlowsk abgeschossen Rudolf Abel, der eigentlich William Im Oktober 1957 wurde in New York worden. Er war mit seiner speziell für Fischer hieß. Anklage gegen Rudolf Abel erhoben, diesen Zweck gebauten und ausge- vier Wochen später fand der Prozess rüsteten U-2 im pakistanischen Pes- statt. Belastbare materielle Beweise hawar gestartet und sollte im norwegi- sam der aussagebereite Pilot und zahl- gab es nicht, schon gar kein Geständ- schen Bodø, nach einem Flug von et- reiche Ausrüstungsgegenstände prä- nis. Trotzdem verurteilte ihn das Ge- wa 5.500 Kilometern, landen. Während sentiert, die an einer Spionagemissi- richt auf der Grundlage zahlreicher In- des mehrere Stunden dauernden Über- on keinerlei Zweifel ließen. Am 11. Mai dizien zu einer Haftstrafe von 30 Jah- fl uges über das Territorium der Sowjet- übernahm US-Präsident Eisenhower ren. union sollte er Fotos von streng gehei- persönlich die Verantwortung für den Powers arbeitete nach seiner Rück- men militärischen Einrichtungen anfer- Einsatz der U-2, doch er lehnte eine kehr in die USA zunächst als Testpilot, tigen. Solche Spionagefl üge gehörten förmliche Entschuldigung bei der So- dann als Hubschrauberpilot für einen in der Zeit des Kalten Krieges zum All- wjetunion ab. Der sowjetische Partei- Fernsehsender in Los Angeles. 1977 tag. und Regierungschef Nikita Chruscht- kam er bei einem Hubschrauberabsturz Mit einer Flughöhe von nicht weni- schow sagte deshalb ein für den 16. ums Leben. Zwar wurde er auf dem Na- ger als 22 Kilometern galten die U-2- Mai in Paris geplantes Gipfeltreffen tionalfriedhof in Arlington beigesetzt, Spionagefl ugzeuge aus US-amerikani- kurzfristig ab. Wieder war eine Chance doch wirklich verziehen hat man ihm in scher Sicht als unerreichbar für die so- für die Entspannung vertan. den USA seine Rolle bei dem Zwischen- wjetische Luftabwehr. Doch an diesem Wenige Monate später, am 19. Au- fall mit der U-2 nie. 1. Mai 1960 kam erstmals eine neuent- gust 1960, wurde Powers in Moskau Rudolf Abel, eigentlich William Fi- wickelte Boden-Luft-Rakete zum Ein- wegen Spionage zu zehn Jahren Haft scher, arbeitete bis zu seiner Pensio- satz: Die U-2 wurde getroffen und stürz- verurteilt. nierung weiter für den sowjetischen te ab. Powers konnte sich mit dem Fall- Sechs Minuten nach Powers, um Geheimdienst. Hochgeehrt starb er schirm retten, doch er versäumte es, genau 8.50 Uhr, betrat ein Mann, der 1971 in Moskau. Sein Grabstein auf befehlsgemäß den Selbstzerstörungs- sich selbst Rudolf Abel nannte, die Gli- dem Donskoi-Friedhof trägt beide Na- mechanismus seiner Maschine auszu- enicker Brücke und ging, von mehre- men: Rudolf Abel und William Fischer. lösen. In den USA nahm man an, Po- ren US-Offi ziellen eskortiert, zu sei- Entgegen der wiederholten Darstel- wers sei getötet und das von ihm ge- nen Genossen vom sowjetischen Ge- lung in einschlägigen Spionagefi lmen steuerte Flugzeug vollkommen zerstört heimdienst. Erst Jahre später wurde trafen sich Abel und Powers übrigens worden. Daher versuchte die US-Regie- bekannt, dass dieser Mann, ein sow- nicht beim Überqueren der Glienicker rung zunächst, den Zwischenfall her- jetischer Staatsbürger, 1903 in Groß- Brücke und tauschten dort gedanken- unterzuspielen. Doch am 7. Mai 1960 britannien geboren worden war und ei- schwere Blicke aus, sie haben sich bes- wurden in Moskau öffentlichkeitswirk- gentlich William Fischer hieß. Seit 1949 tenfalls aus der Ferne gesehen.

GESCHICHTE DISPUT Januar 2012 44 China in der Weltpolitik USA-Außenminister a. D. Henry Kissinger schrieb ein Buch über »China – Zwischen Tradition und Herausforderung« Von Wolfgang Triebel

Die Volksrepublik China erfreut sich Kissinger gibt Einblicke in Verhand- im Mai 1994 den NGO in China Unter- in den Medien gewachsener Aufmerk- lungen mit Mao Tsetung, Tschu En-Lei, stützung durch die USA. Außerdem samkeit. Leider tragen bestimmte Me- Deng Xiaoping bis zu den heutigen Füh- wären »die Chinesen der US-Regierung dien eifrig dazu bei, naives Denken rungspersönlichkeiten. Auszüge aus ›schuldig‹…, Zugeständnisse in Men- über das »Reich der Mitte« zu vertiefen den Gesprächsprotokollen sind wegen schenrechtsfragen zu machen…« und exakte Kenntnisse über das quel- vieler bisher unbekannter Details auf- Der 88-jährige, heute altersweise lende Leben dieses Volkes zu verheim- schlussreich. In den Gesprächen meist Kissinger sieht das anders: »Solange lichen. Blasierte Ansichten gibt es in gebrauchte Stichworte waren Versöh- das Thema Menschenrechte wichtigs- Henry Kissingers Buch »China – Zwi- nung, Abwehr sowjetischer Aggressi- ter Gegenstand des amerikanisch-chi- schen Tradition und Herausforderung« on, Friedenserhaltung, Sicherheit im nesischen Dialogs blieb, solange war nicht. Er und USA-Präsident Nixon hat- pazifi schen Raum und ähnliche mehr. völliger Stillstand in den Gesprächen ten als Realpolitiker Chinas Rolle in In Wirklichkeit ging es um Abgrenzung unvermeidlich. All jene, die heute eine Asien und als Großmacht im 21. Jahr- von Machtinteressen. Man ließ »die konfrontative Politik favorisieren, soll- hundert erkannt. Nixon erklärte 1967: Rhetorik zweier Jahrzehnte fallen« (ge- ten diese leidvollen Erfahrungen sorg- »Wir können es uns nicht leisten, Chi- meint 1949 bis 1969 – W.T.) und kon- fältig analysieren und daraus ihre Leh- na auf ewig außerhalb der Staatenfa- zentrierte sich auf das »strategische ren ziehen.« (483) milie zu lassen …« (Seite 215) Als Au- Ziel eines geopolitischen Dialogs…, der Nicht alle seine Bewertungen chine- ßenminister führte Kissinger ab 1971 zur Neugestaltung der internationalen sischer Politik muss man teilen, aber die Verhandlungen über völkerrechtli- Ordnung … führen sollte.« Dennoch: Ni- nachdenkenswert sind sie allemal. che Beziehungen zur Volksrepublik. Er xon wollte China erst besuchen, »wenn Chinesische Politiker haben Kissinger sieht sich als »Schmied amerikanisch- es sich irgendwie in die Völkergemein- mehrfach auch ohne offi zielles Amt chinesischer Freundschaft«. schaft einfüge und ›die Regeln des in- nach Peking eingeladen, um abzumil- Der Hauptteil des Buches umfasst ternationalen Rechts‹ respektiere«. dern, wenn Politiker aus Washington die Jahre 1971 bis zum Tod Maos 1976 (245/246) durch mangelhaften Respekt vor Chi- und dann bis 1991. China war interna- nas Souveränität politisches Porzellan tional isoliert nach dem Bruch mit der Wie ein fordernder Partner zerschlagen hatten. UdSSR durch Dogmatismus, aber auch Interessant sind die ersten histo- durch gehässige USA-Blockadepolitik. Während in Washington mancher Hitz- rischen Kapitel des Buches über chi- Vor dem Hintergrund des Kalten Krie- kopf auch heute noch Chinas Politi- nesische Außenpolitiker im 19. Jahr- ges, des militärischen Fiaskos der USA ker diffamiert, spricht Kissinger stets hundert. Hier ist Kissinger manchmal in Vietnam und der Debakel von Gro- mit Hochachtung von allen seinen Ge- mystisch in der Beschreibung traditio- ßem Sprung und Kulturrevolution in sprächspartnern. Er bewunderte die neller strategischer Überlegungen kai- China gab es für beide Seiten materiel- strategischen Fähigkeiten von Minis- serlicher Mandarine. Realistisch sieht le Zwänge, ihr Verhältnis friedfertig neu terpräsident Zhou Enlai und seine »ak- er: »Beide Mächte sind zu groß, um von zu regeln. China brauchte gegen inne- ribische Analyse langfristiger Trends, der jeweils anderen beherrscht zu wer- re Nöte Hilfe von außen, die USA hatten das sorgfältige Studium der taktischen den …« (540) in Asien politisches Ansehen verloren. Operationen und eine davon getrenn- Über andere internationale Tätigkei- Das Zerwürfnis zwischen Sowjetunion te Prüfung der operativen Entscheidun- ten dieses amerikanischen Außenpoli- und China war der ideologische Nähr- gen«. (S. 149) Über die chinesische Di- tikers ist viel Kritisches zu sagen, aber boden, auf dem ein feindliches Drei- plomatie schrieb Kissinger, sie habe an der Herstellung rationaler Beziehun- eck USA und China gegen die UdSSR »aus den Erfahrungen von Jahrzehnten gen zwischen der VR China und den errichtet wurde, in dem die UdSSR Ag- gelernt, dass bei internationalen Fra- USA hat er einen beträchtlichen Anteil, gressor war. »Nixon und ich wollten gen jede erkennbare Lösung den Zu- was er nicht ohne Eitelkeit hervorhebt. die strategische Situation erkunden, gang zu weiteren, ähnlich gelagerten Bedauerlich nur, dass gegenwärtig in die das Dreiecksverhältnis zwischen Problemen eröffnet«. (257) Mit Deng Washington Regierende nichts aus der der Sowjetunion, China und den Ver- Xiaoping veränderten sich die Bezie- Vergangenheit gelernt haben. Obamas einigten Staaten hervorgebracht hatte. hungen, er trat dem USA-Vertreter »wie Rede vor dem australischen Parlament Wir wollten nicht Ärgernisse beseiti- ein fordernder Partner« entgegen, wäh- am 16. November 2011 und Frau Clin- gen, sondern suchten nach einer Chan- rend Mao »wie ein frustrierter Lehrer« tons (!) Reiseaktivitäten durch asiati- ce, einen geopolitischen Dialog zu be- gehandelt hatte. (360) sche Staaten, um antichinesische Ko- ginnen.« (237) Die USA wollten Krisen Nach dem Zusammenbruch der So- alitionen zu organisieren, sind keine nicht beseitigen, sondern vertiefen. wjetunion und der Beendigung der Ost- Friedensaktivitäten, sondern Provoka- Anfang der siebziger Jahre zeichnete West-Konfrontation in Europa zerbrach tionen. sich die Konferenz für Sicherheit und auch die bisherige Dreieckskonstella- Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ab. tion in Fernost. Präsident Clinton er- Henry Kissinger: China. Zwischen China unterstellte der UdSSR Hegemo- nannte 1993 »die ›Ausdehnung‹ von Tradition und Herausforderung. nieansprüche. China und die USA woll- Demokratien zum vorrangigen Ziel sei- C. Bertelsmann Verlag, München 2011, ten die KSZE verhindern. ner Außenpolitik« (475) und versprach 606 Seiten, 26,00 Euro

45 DISPUT Januar 2012 SACHBUCH BÜCHER

glied der Dorfgemeinschaft zu werden bewusste Berührungspunkte haben. Unglaubliche scheint, das geheimnisvoll Bedrohliche Der Stadtplan breitet sich wie ein Netz- Provinzen bleibt – und dann überschlagen sich werk aus. Dabei macht das, was an Ge- förmlich die Ereignisse in dem sonst schichten drum rum zu erfahren ist, Zwei glänzende Romane, die alles an- still und dumpf in gewohnten Bahnen den ganz besonderen Reiz aus. Als dere als provinziell sind. Gelesen von verlaufenden Dorfl eben. Moto steht dem Ganzen ein Fontanezi- Ingrid Feix Zwischendrin wird eine Geschich- tat voran: Vor Gott sind alle Menschen te in Rückblenden mit verschiedenen Berliner. er Debütroman des 1969 gebo- Zeitebenen erzählt, die sich schließlich Da ist zunächst Alex, ein Stadtstrei- renen und in München lebenden mit der aktuellen Geschichte verbindet. cher, der sich besonders an den unbe- D Kulturjournalisten Thomas Will- Der Leser ahnt einiges und bleibt doch kannten Orten auskennt und im frühe- mann zieht einen förmlich in eine un- in Spannung, bis das Unglaubliche sich ren, im DDR-Leben ein Stasi-Offi zier glaubliche Geschichte, von der hier aufl öst. war. Er wird Mitternacht von einer Po- nicht allzu viel verraten werden soll, Es ist die Geschichte, die einen ge- lizeistreife an der Weltzeituhr aufge- denn die Überraschung gehört mit zum fangen nimmt, aber es ist auch die griffen und nach Grunewald verfrach- Lesesog, dem man unweigerlich nach Sprache, die der Autor gefunden hat, tet. Deshalb verspätet er sich bei Ann- wenigen Seiten verfällt. Ein abgelege- Stimmungen auszudrücken und aus- ja Kolbe (schon bekannt aus Grösch- nes, schwer zugängliches Alpendorf ist zureizen. Die Sprache und die Ge- ners erstem Roman »Moskauer Eis«), der enge Schauplatz. Dass es im Buch schichte haben etwas Filmisches, und die mit ihrem seit zehn Jahren in der nichts von den »technischen Segnun- während der Roman auch tatsächlich Kühltruhe konservierten Vater in ei- gen« der Neuzeit, also Autos, Fernse- schon im Zusammenhang mit dem nem bis vor Kurzem unbeachteten Bun- her, Handys usw., gibt, weist auf eine Western »Spiel mir das Lied vom Tod« ker in der Nähe des Alex lebt und nun vergangene Zeit, ein anderes Jahrhun- genannt wurde, wäre auf jeden Fall der umziehen muss. Auch Gerda Schwei- dert. Also eine historische Geschich- Film »Das weiße Band« zu nennen. Für ckert steht vor einem Umzug und kann te, aber auch ein Krimi, der wie ein be- diese Abgründe, wie sie sich hier in der nicht schlafen, ihr Haus in einem ehe- schreibender Heimatroman beginnt Provinz auftun, braucht es letztlich we- mals klassischen Arbeiterviertel im und in Wildwestmanier endet, und ein der Berge noch Alpenglühen, es sind Prenzlauer Berg soll saniert und spä- bisschen auch eine Parabel auf das menschliche Abgründe, die zum Ge- ter teuer wiedervermietet werden. Den Leben in einer geschlossenen Gesell- meinschaftsprinzip erhoben wurden. Geist der einstigen Nachbarn packt sie schaft mit monarchischer bzw. diktato- Sehr gruslig. in ihre Umzugskisten. Der ehemalige rischer Struktur. Kreuzberger Hausbesetzer Micha Trep- m Provinz kann es bei Annett Gröschners Buch ja nun eigent- lich nicht gehen, schließlich hat U (2) © Repro sie einen sehr bemerkenswerten Ber- Thomas Willmann linroman geschrieben, und Berlin ist ei- Annett Gröschner Das fi nstere Tal ne Großstadt. Allerdings eine, die sich Walpurgistag Roman ganz offensichtlich aus vielen kleinen Roman Ullstein Taschenbuch Dörfern, Provinzen, zusammensetzt, DVA 320 Seiten wie sich wieder einmal offenbart. An- 446 Seiten 9,99 Euro nett Gröschner, Jahrgang 1964, hat sich 21,99 Euro mit verschiedenen Veröffentlichungen Ein Fremder kommt vor Winteran- schon als sensible Beobachterin und te trifft sich mit seinem Freund in einem bruch auf seinem vollgepackten Maul- Rechercheurin ausgewiesen. Sie hat Schwulenladen, um von seinen sexuel- tier über den mühevollen Anstieg ins ein feines Gespür für das Besondere len Abenteuern mit einer Unbekannten Dorf geritten. Noch bevor ein Wort fällt des Alltäglichen. Und sie hat eine ge- zu berichten und dabei nicht von sei- oder etwas passiert, ist eine geheim- sunde Portion Humor und Fantasie, die ner Frau oder ihren Freundinnen über- nisvolle Bedrohung zu spüren. Als er Realität einzufangen. Der beschriebene rascht zu werden. Und so weiter, ein verkündet, dass er im Dorf zu überwin- Walpurgistag ist der 30. April 2002. Die ganzer Tag, 24 Stunden lang. tern beabsichtigt, wird ihm sofort be- Autorin hatte zuvor die Tageserlebnis- Auch hier ist es so, dass die Art und deutet, dass er unerwünscht ist wie al- se ganz verschiedener Berlinerinnen Weise des Erzählens, wodurch ein- les Fremde, und es gibt hier eine Fami- und Berliner und ihre Geschichten ge- drucksvoll die Stimmungen, das Un- lie, die das Sagen hat, während die an- sammelt. Der Roman nun erzählt quasi ausgesprochene einfangen sind, an- deren feindselig schweigen. Für Geld im Minutentakt Episoden rund um den spricht. Ein unheimlich gut gebauter und mit der Eröffnung, dass er ein Ma- Alexanderplatz, kreuz und quer durch und erzählter Roman über die Provin- ler ist, also harmlos, wird er bei einer die Stadt. Es gibt mehrere Protagonis- zen in der Großstadt Berlin, eines Mili- Witwe und ihrer Tochter auf Zeit ein- ten, deren Tagesablauf im Mittelpunkt eus, das eigentlich die Stadt ausmacht, quartiert. Auch wenn er nach und nach steht und die untereinander irgendwie aber in den Hochglanzbroschüren nicht ein zwar weitgehend gemiedenes Mit- auch immer wieder bewusste oder un- vorkommt.

DISPUT Januar 2012 46 er heftige Konjunktureinbruch politik (nicht Tarifpolitik!) ist erschre- 2008 hatte einen Anstieg der Ar- ckend: Mehr als ein Fünftel der Be- D beitslosenzahlen auf bis zu fünf schäftigten müssen für weniger als Millionen erwarten lassen. Die regis- 8,50 Euro pro Stunde arbeiten. Auch trierte Arbeitslosigkeit ist jedoch nur deshalb sind die Tarifrunden 2012 ein sehr moderat gestiegen. wichtiger Meilenstein für mehr Geld Mit der gewerkschaftlichen Kampa- und mehr soziale Gerechtigkeit. gne »Keine Entlassungen in der Krise« Die Auseinandersetzungen 2012 ist es insbesondere in der Metall- und werden in trüben Konjunkturaussich- Elektroindustrie gelungen, die Auswir- ten geführt werden müssen. Die Un- kungen der Krise zu minimieren. Vor ternehmer werden sich – wie immer – allem Entnahmen aus Zeitkonten und von dem Argument kaum beeindrucken Kurzarbeit mit teilweisen Aufzahlungen lassen, sie hätten in den letzten Jahren – Arbeitszeitverkürzung mit teilweisem stark profi tiert, Gewinne seien vor al- Lohnausgleich also – haben zahlreiche lem in der Exportwirtschaft ins Uner- Arbeitsplätze gerettet. messliche gestiegen. Wieder werden Dennoch: Die Beschäftigten ha- wir hören: Die »unerhört hohen« Lohn- ben in der Krise nicht nur massiv Ein- forderungen der Gewerkschaften wür- kommen verloren – mit allen ökono- den die schwächere Konjunktur noch in mischen und sozialen Folgen; Haupt- den völligen Absturz treiben. Das Ge- verlierer waren die Beschäftigten in genteil ist aber bewiesen: Arbeitsplatz-

Leiharbeit und in sicherung in der Krise war auch Kauf- Aris© anderen prekären kraftsicherung. Nach der Krise ist vor Beschäftigungsfor- Und: Angesichts der schlechtes- der Krise – Tarifrunde men. Ungeschütz- ten Reallohnentwicklung aller europä- te Arbeitsverhältnis- ischer Staaten in den letzten Jahren 2012 se waren in Folge der wächst die Notwendigkeit einer mas- neoliberalen Arbeits- siven Stärkung der Binnenkaufkraft marktderegulierung und auch eines Ausgleichs der europä- unter Rot-Grün regel- ischen Handelsbilanzen. Von Anny Heike recht explodiert. Sie Die Gewerkschaften können in den waren nun trotz häu- Tarifrunden Zeichen setzen: mehr Ein- fi gem Widerstand von Gewerkschaften kommen, die unbefristete Übernahme und Betriebsräten schutzlose Manö- der Ausgebildeten, Tarifregelungen zu vriermasse. Rot-Grün schämt sich bis Leiharbeit und Werkverträgen werden heute nicht für ihre sogenannten Ar- diskutiert. Bislang ist der Versuch der beitsmarktreformen. IG Metall, qualitative Themen im Vor- Der folgende Beschäftigungsauf- feld zu verhandeln, am Widerstand der bau erfolgte wiederum weitgehend Arbeitgeber gescheitert. Bei der Über- über prekäre Arbeitsverhältnisse. Im nahme der Ausgebildeten ist den Ar- Jahr 2010 hat die Anzahl der schlecht beitgebern keine Argumentation zu bezahlten Leiharbeitsverhältnisse das blöd. Vom »fl ächendeckenden tarifl i- Vorkrisenniveau überschritten. Prekä- chen Zwang, Fünfzehnjährige zu verbe- re Arbeits- und Lebensverhältnisse dro- amten«, vom »Ausbildungskiller« und hen zur prägenden Erfahrung der jun- vom »fehlenden Ansporn der Auszubil- gen Generation zu werden; mehr als denden, die Prüfung zu bestehen« wird die Hälfte der unter 30-Jährigen hat gefaselt. Vom vielbejammerten Fachar- noch nie eine Anstellung auf Dauer er- beitermangel keine Rede mehr. leben dürfen. Mehr Mitbestimmung der Betriebs- Die zunehmende Prekarisierung ist räte beim Einsatz von Leiharbeitern, auch Ausdruck einer gespaltenen Wirt- die Einsatzdauer und Branchenzu- schaft. Während das Wirtschaftswachs- schläge sind bei den Arbeitgebern bis- tum vor allem auf die gestiegenen Ex- her ein »no go«. Billige Arbeit ist nach porte zurückzuführen ist, gehen vom wie vor ihre Ideologie. Ohne Tarifrege- Binnenmarkt kaum Impulse aus. lungen zu Leiharbeit und Werkverträ- Die von den Neoliberalen über Jahr- gen wird der Druck auf das Lohnniveau zehnte betriebene Strategie, mit dem weiter anhalten. Vorwurf »fehlender Wettbewerbsfä- Die Tarifrunde wird zeigen, ob die IG higkeit« Lohnzurückhaltung, Lohnsen- Metall mit ihrer Flaggschiff-Funktion für kung und Sozialabbau zu erzwingen, die Tarifauseinandersetzungen 2012 konnten selbst temporäre Erfolge der mobilisieren kann, um einen grundle- Lohnpolitik der Gewerkschaften nicht genden Kurswechsel in der Lohnpolitik wirksam verhindern. Lohndumping ins- einzuleiten. Es wäre ein erster Schritt, besondere in tarifl ich nicht – mitunter den auf ihrem jüngsten Gewerkschafts- auch in tarifl ich – geschützten Sekto- tag geforderten »grundlegenden Kurs- ren wiegt schwer. wechsel in Wirtschaft, Politik und Ge- Die Bilanz der innerdeutschen Lohn- sellschaft« einzuleiten.

47 DISPUT Januar 2012 JANUARKOLUMNE Auslese

Matthias Nöllke

Schlagfertig – die 100 besten Tipps

© Rudolf Haufe Verlag, 2007 256 Seiten, 6,90 Euro ISBN 978–3–448– 07985–2

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