Plenarprotokoll 16/73

Deutscher

Stenografischer Bericht

73. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Vizepräsi- c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: dentin Dr. h. c. Susanne Kastner, des Abge- Präsidentschaftsprogramm 1. Januar ordneten Erich G. Fritz und des Bundes- bis 30. Juni 2007 – Europa gelingt ge- ministers ...... 7207 A meinsam (Drucksache 16/3680) ...... 7209 C Wahl des Abgeordneten zum Schriftführer ...... 7207 B in Verbindung mit Wahl des Abgeordneten Dr. Hakki Keskin in die Parlamentarische Versammlung des Euro- parates ...... 7207 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Antrag der Abgeordneten Markus Löning, nung ...... 7207 B , Michael Link (Heil- Streichung der Aktuellen Stunde auf Verlan- bronn), weiterer Abgeordneter und der Frak- gen der Fraktion Die Linke zur Armutsstatis- tion der FDP: Mehr Ehrgeiz für die deut- tik und der Aktuellen Stunde auf Verlangen sche Ratspräsidentschaft – eine EU der der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Erfolge für die Bürger GRÜNEN zum Nichtraucherschutz ...... 7208 C (Drucksache 16/3832) ...... 7209 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 7208 D Dr. , Bundeskanzlerin ...... 7210 A Dr. (FDP) ...... 7214 A Tagesordnungspunkt 4: (SPD) ...... 7216 A a) Abgabe einer Erklärung durch die Bun- (DIE LINKE) ...... 7218 C deskanzlerin: zum Europäischen Rat in Brüssel am 14./15. Dezember 2006 und Dr. (CDU/CSU) ...... 7220 A den bevorstehenden deutschen Präsi- Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) ...... 7223 A dentschaften im Rat der Europäischen Union und in der G 8 ...... 7209 A Renate Künast (BÜNDNIS 90/ b) Antrag der Abgeordneten Michael DIE GRÜNEN) ...... 7223 C Stübgen, , Thomas Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 7225 B Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Dr. (DIE LINKE) ...... 7226 D ordneten Axel Schäfer, Dr. Lale Akgün, , weiterer Abgeordneter und Dr. (CDU/CSU) . . . . 7227 C der Fraktion der SPD: Die deutsche Prä- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ sidentschaft der Europäischen Union DIE GRÜNEN) ...... 7230 A zum Erfolg führen (Drucksache 16/3808) ...... 7209 B Dr. Lale Akgün (SPD) ...... 7230 D II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Tagesordnungspunkt 5: h) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Lagebericht der Bundesregierung über a) Erste Beratung des von den Fraktionen der die Alterssicherung der Landwirte 2005 CDU/CSU und der SPD eingebrachten (Drucksache 16/907) ...... 7233 A Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse- rung der Beschäftigungschancen älterer Franz Müntefering, Bundesminister Menschen BMAS ...... 7233 A (Drucksache 16/3793) ...... 7232 A Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 7235 A b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Dr. (CDU/CSU) ...... 7237 A Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 7240 A der Regelaltersgrenze an die demografi- sche Entwicklung und zur Stärkung der Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) ...... 7240 D Finanzierungsgrundlagen der gesetzli- chen Rentenversicherung (RV-Alters- Dr. (DIE LINKE) ...... 7241 A grenzenanpassungsgesetz) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/3794) ...... 7232 B DIE GRÜNEN) ...... 7244 A c) Antrag der Abgeordneten Kornelia Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . 7245 C Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wolfgang Grotthaus (SPD) ...... 7246 C der LINKEN: Beschäftigungspolitik für Ältere – für ein wirtschafts- und ar- (FDP) ...... 7247 D beitsmarktpolitisches Gesamtkonzept Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . 7248 D (Drucksache 16/3027) ...... 7232 B Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ d) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. DIE GRÜNEN) ...... 7250 B Kolb, Christian Ahrendt, (Münster), weiterer Abgeordneter und der (SPD) ...... 7251 B Fraktion der FDP: Den Rentenversiche- rungsbericht im Interesse der Versi- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 7252 C cherten realistischer gestalten Anton Schaaf (SPD) ...... 7254 A (Drucksache 16/3676) ...... 7232 C e) Antrag der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), , Tagesordnungspunkt 29: , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Stichtagsrege- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- lung für die Altersteilzeit im RV-Alters- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- grenzenanpassungsgesetz (Rente mit zes über die Umweltverträglichkeit von 67) verlängern Wasch- und Reinigungsmitteln (Wasch- (Drucksache 16/3815) ...... 7232 C und Reinigungsmittelgesetz – WRMG) (Drucksache 16/3654) ...... 7255 D f) Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Markus b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Kurth, weiterer Abgeordneter und der rung eingebrachten Entwurfs eines … Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Strafrechtsänderungsgesetzes zur Be- GRÜNEN: Neue Kultur der Alters- kämpfung der Computerkriminalität arbeit – Anpassung der gesetzlichen (… StrÄndG) Rentenversicherung an längere Renten- (Drucksache 16/3656) ...... 7255 D laufzeiten (Drucksache 16/3812) ...... 7232 C c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- g) Unterrichtung durch die Bundesregierung: ten Gesetzes über die Bereinigung von Bericht der Bundesregierung über die Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich gesetzliche Rentenversicherung, insbe- des Bundesministeriums für Wirtschaft sondere über die Entwicklung der und Technologie und des Bundesminis- Einnahmen und Ausgaben, der Nach- teriums für Arbeit und Soziales haltigkeitsrücklage sowie des jeweils (Drucksache 16/3657) ...... 7256 A erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren (Renten- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- versicherungsbericht 2006) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- und zes über die elektromagnetische Gutachten des Sozialbeirats zum Ren- Verträglichkeit von Betriebsmitteln tenversicherungsbericht 2006 (EMVG) (Drucksache 16/3700) ...... 7232 D (Drucksache 16/3658) ...... 7256 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 III e) Erste Beratung des von der Bundesregie- b) Antrag der Abgeordneten Katrin Göring- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Eckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin zes zu dem Internationalen Überein- Andreae, weiterer Abgeordneter und der kommen vom 19. Oktober 2005 gegen Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Doping im Sport GRÜNEN: Vermittlung in Selbststän- (Drucksache 16/3712) ...... 7256 A digkeit durch Bundesagentur für Arbeit f) Erste Beratung des von der Bundesregie- ermöglichen – Künstlerdienste sichern rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 16/3779) ...... 7256 D zes zu dem Protokoll vom 21. Mai 2003 über Schadstofffreisetzungs- und -ver- Tagesordnungspunkt 30: bringungsregister (Drucksache 16/3755) ...... 7256 B a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- g) Erste Beratung des von der Bundesregie- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Übereinkommen vom 11. April 1997 über zes zur Ausführung des Protokolls über die Anerkennung von Qualifikationen Schadstofffreisetzungs- und -verbrin- im Hochschulbereich in der europäi- gungsregister vom 21. Mai 2003 sowie schen Region zur Durchführung der Verordnung (Drucksachen 16/1291, 16/3669) ...... 7257 A (EG) Nr. 166/2006 (Drucksache 16/3756) ...... 7256 B b) Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines h) Antrag der Abgeordneten Birgit Gesetzes zur Stärkung der Selbstver- Homburger, , Angelika waltung der Rechtsanwaltschaft Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und (Drucksachen 16/513, 16/3837) ...... 7257 B der Fraktion der FDP: EU-Abfallrah- menrichtlinie ökologisch wirksam, c) Zweite und dritte Beratung des von der unbürokratisch und marktwirtschaft- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs lich gestalten eines Gesetzes zur Änderung des Aner- kennungs- und Vollstreckungsausfüh- (Drucksache 16/3318) ...... 7256 B rungsgesetzes i) Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen (Drucksachen 16/2857, 16/3833) ...... 7257 C Gehb, , , weiterer d) Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Bundesregierung eingebrachten Entwurfs CSU sowie der Abgeordneten Fritz Rudolf eines Gesetzes zu dem Budapester Über- Körper, Joachim Stünker, Dr. Carl- einkommen vom 22. Juni 2001 über den Christian Dressel, weiterer Abgeordneter Vertrag über die Güterbeförderung in und der Fraktion der SPD: Ächtung des der Binnenschifffahrt (CMNI) Gesetzes zur Verhütung des erbkran- (Drucksachen 16/3225, 16/3834) ...... 7257 D ken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 (Drucksache 16/3811) ...... 7256 C e) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- j) Antrag der Abgeordneten Dorothee ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Haager Übereinkommen vom 13. Ja- Höll, weiterer Abgeordneter und der Frak- nuar 2000 über den internationalen tion der LINKEN: Börsengang der Bahn Schutz von Erwachsenen stoppen (Drucksachen 16/3250, 16/3836) ...... 7258 A (Drucksache 16/3801) ...... 7256 C f) Zweite und dritte Beratung des von der k) Antrag der Abgeordneten Dorothee Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar eines Gesetzes zur Umsetzung des Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Haager Übereinkommens vom 13. Ja- Fraktion der LINKEN: Deutsche Flug- nuar 2000 über den internationalen sicherung europarechtlichen Rahmen- Schutz von Erwachsenen bedingungen anpassen (Drucksachen 16/3251, 16/3836) ...... 7258 B (Drucksache 16/3803) ...... 7256 C g) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- Zusatztagesordnungspunkt 4: entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten , Dr. Barbara a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Höll, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Abgeordneter und der Fraktion der LIN- zes zu dem Übereinkommen vom KEN: Grunderwerbsteuerbefreiung bei 20. Oktober 2005 über den Schutz und Fusionen von Wohnungsunternehmen die Förderung der Vielfalt kultureller und Wohnungsgenossenschaften in den Ausdrucksformen neuen Ländern (Drucksache 16/3711) ...... 7256 D (Drucksachen 16/2079, 16/3213) ...... 7258 C IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 h) Beschlussempfehlung und Bericht des Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- (FDP) ...... 7261 B entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten (Bayreuth), Jan Andreas Schmidt (Mülheim) Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeord- (CDU/CSU) ...... 7262 B neter und der Fraktion der FDP: Qualität Ulrich Maurer (DIE LINKE) ...... 7263 C der Mauterfassung durch unabhängi- gen Versuch nachweisen und Kontroll- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär verfahren zertifizieren BMJ ...... 7264 D (Drucksachen 16/1680, 16/3264) ...... 7258 D (BÜNDNIS 90/ i) Beschlussempfehlung und Bericht des DIE GRÜNEN) ...... 7266 B Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- , Parl. Staatssekretär entwicklung zu der Unterrichtung durch BMI ...... 7267 C die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäi- (FDP) ...... 7269 A sche Parlament, den Europäischen Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 7270 B Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über die Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) ...... 7271 C Verbesserung der Sicherheit der Liefer- Dr. (SPD) ...... 7272 C kette Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Tagesordnungspunkt 6: Rates zur Verbesserung der Sicherheit der Lieferkette (inkl. 6935/06 ADD 1) Antrag der Abgeordneten , KOM (2006) 79 endg.; Ratsdok. 6935/06 Dr. , Christian Ahrendt, weiterer (Drucksachen 16/1101 Nr. 2.12, 16/3554) 7259 A Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Wachstumsschädliche Mehrwertsteuer- j) Dritte Beschlussempfehlung des Wahlprü- erhöhung rückgängig machen fungsausschusses: zu 44 gegen die Gül- (Drucksache 16/2520) ...... 7273 C tigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahlein- Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 7273 D sprüchen (Drucksache 16/3600) ...... 7259 A (FDP) ...... 7274 A (CDU/CSU) ...... 7275 D k)–s) Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 7277 A Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 144, 145, Lydia Westrich (SPD) ...... 7278 C 146, 147, 148, 149, 150, 151 und 152 zu Petitionen Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 7278 D (Drucksachen 16/3625, 16/3626, 16/3627, (DIE LINKE) ...... 7280 A 16/3628, 16/3629, 16/3630, 16/3631, 16/ 3632, 16/3633) ...... 7259 B Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7281 D Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 7282 D Zusatztagesordnungspunkt 5: (CDU/CSU) ...... 7283 D a)–h), j) Gabriele Frechen (SPD) ...... 7285 C Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 153, 154, Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 7285 D 155, 156, 157, 158, 159, 160 und 161 zu Petitionen (Drucksachen 16/3817, 16/3818, 16/3819, Tagesordnungspunkt 7: 16/3820, 16/3821, 16/3822, 16/3823, a) Zweite und dritte Beratung des von der 16/3824, 16/3825) ...... 7260 B Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umge- Zusatztagesordnungspunkt 1: bung von Flugplätzen (Drucksachen 16/508, 16/3813, 16/3814) 7287 D Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Rechtsstaatliche Anforderungen b) Beschlussempfehlung und Bericht des an eine ordnungsgemäße Gesetzgebungs- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und arbeit ...... 7261 A Reaktorsicherheit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 V

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. (FDP) ...... 7313 B Michael Kauch, Horst Friedrich (Bay- Peter Rzepka (CDU/CSU) ...... 7314 C reuth), Birgit Homburger, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP: Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Das Fluglärmgesetz unverzüglich DIE GRÜNEN) ...... 7316 B und sachgerecht modernisieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 10: , Peter Hettlich, , weiterer Abgeordneter Zweite und dritte Beratung des von der Bun- und der Fraktion des BÜNDNIS- desregierung eingebrachten Entwurfs eines SES 90/DIE GRÜNEN: Den Schutz Gesetzes zur Änderung des Wohnungs- der Anwohner vor Fluglärm wirk- eigentumsgesetzes und anderer Gesetze sam verbessern (Drucksachen 16/887, 16/3843) ...... 7317 A (Drucksachen 16/263, 16/551, 16/3813) 7288 A Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ ...... 7317 A Marko Mühlstein (SPD) ...... 7288 B Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 7318 A Michael Kauch (FDP) ...... 7290 B Norbert Geis (CDU/CSU) ...... 7318 D Ulrich Petzold (CDU/CSU) ...... 7291 B Heidrun Bluhm (DIE LINKE) ...... 7320 B Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 7293 A Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7321 B DIE GRÜNEN) ...... 7294 B Dirk Manzewski (SPD) ...... 7322 A Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 7295 C (SPD) ...... 7296 D Tagesordnungspunkt 11: Norbert Königshofen (CDU/CSU) ...... 7298 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit Tagesordnungspunkt 8: und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten Thilo Hoppe, Ulrike Höfken, Ute Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei- Koczy, weiterer Abgeordneter und der Frak- digungsausschusses zu der Unterrichtung tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht Den Hunger in Entwicklungsländern wirk- 2005 (47. Bericht) sam bekämpfen – das Recht auf Nahrung (Drucksachen 16/850, 16/3561) ...... 7300 B umsetzen und ländliche Entwicklung för- Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter dern des Deutschen Bundestages ...... 7300 C (Drucksachen 16/3019, 16/3835) ...... 7323 C Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) ...... 7302 B Dr. (SPD) ...... 7323 D (FDP) ...... 7304 B Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 7325 B Hedi Wegener (SPD) ...... 7305 B Dr. (CDU/CSU) ...... 7326 C Katrin Kunert (DIE LINKE) ...... 7306 D Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 7328 B (BÜNDNIS 90/ Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7307 D DIE GRÜNEN) ...... 7329 A Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 7308 D (SPD) ...... 7309 C Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Kultur und Medien Tagesordnungspunkt 9: – zu dem Antrag der Abgeordneten Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, , Wolfgang Börnsen Dr. , Oskar Lafontaine und der (Bönstrup), , weiterer Abge- Fraktion der LINKEN: Aufhebung der Steu- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU erfreiheit von Veräußerungsgewinnen sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, (Drucksache 16/2523) ...... 7310 C , Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 7310 D der SPD: Die Schaffung eines kohären- Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) ...... 7311 D ten europäischen Rechtsrahmens für VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

audiovisuelle Dienste zu einem Schwer- Johann-Henrich Krummacher (CDU/CSU) . . 7338 D punkt deutscher Medien- und Kommu- Jörg Tauss (SPD) ...... 7340 A nikationspolitik in Europa machen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 13: Christoph Waitz, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Jens Ackermann, weiterer Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Birgit Homburger, Dr. Karl Addicks, weiterer Für einen zukunftsfähigen europäi- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: schen Rechtsrahmen audiovisueller Me- Mehr Wettbewerb im Schornsteinfeger- diendienste – den Beratungsprozess der wesen EU-Fernsehrichtlinie aktiv begleiten (Drucksache 16/3344) ...... 7342 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, wei- Tagesordnungspunkt 14: terer Abgeordneter und der Fraktion des Zweite und dritte Beratung des von der Bun- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für desregierung eingebrachten Entwurfs eines eine verbraucherfreundliche und Quali- Gesetzes zum Pfändungsschutz der Alters- tät sichernde EU-Richtlinie für audio- vorsorge und zur Anpassung des Rechts visuelle Mediendienste der Insolvenzanfechtung (Drucksachen 16/3297, 16/2675, 16/2977, (Drucksachen 16/886, 16/3844) ...... 7342 D 16/3791) ...... 7330 C Tagesordnungspunkt 15: in Verbindung mit Antrag der Abgeordneten Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll, Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Zusatztagesordnungspunkt 6: Gysi und der Fraktion der LINKEN: Für ei- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- nen starken öffentlich-rechtlichen Sparkas- schusses für Kultur und Medien sensektor – Keine Kompromisse beim Sparkassen-Bezeichnungsschutz – Parla- – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- mentswillen respektieren Joachim Otto (Frankfurt), Christoph (Drucksache 16/3797) ...... 7343 C Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Keine in Verbindung mit Rundfunkgebühr für Computer mit Internetanschluss – die Gebühren- finanzierung des öffentlich-rechtlichen Zusatztagesordnungspunkt 7: Rundfunks grundlegend reformieren Antrag der Abgeordneten Dr. Michael – zu dem Antrag der Abgeordneten Meister, Otto Bernhardt, , wei- Dr. , Dr. Lukrezia Jochimsen, terer Abgeordneter und der Fraktion der Dr. , weiterer Abgeordneter und CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reinhard der Fraktion der LINKEN: Moratorium Schultz (Everswinkel), Bernd Scheelen, für PC-Gebühren – sofortige Neuver- Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter handlung des Rundfunkgebühren- und der Fraktion der SPD: Bezeichnungs- staatsvertrages schutz für Sparkassen gesichert (Drucksache 16/3805) ...... 7343 C – zu dem Antrag der Abgeordneten , Grietje Bettin und der Fraktion Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 7343 C des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: (CDU/CSU) ...... 7344 C PC-Gebühren-Moratorium verlängern Frank Schäffler (FDP) ...... 7346 B (Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793, 16/3792) ...... 7330 D Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 7347 A Reinhard Grindel (CDU/CSU) ...... 7331 B Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 7347 C Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . 7332 B Frank Schäffler (FDP) ...... 7349 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 7332 D DIE GRÜNEN) ...... 7349 C Christoph Waitz (FDP) ...... 7333 C Tagesordnungspunkt 16: Monika Griefahn (SPD) ...... 7335 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE) ...... 7336 C schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/ torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- DIE GRÜNEN) ...... 7337 C ten Marie-Luise Dött, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 VII

(Potsdam), Michael Brand, weiterer Abgeord- Für ein ökologisch und finanziell nachhal- neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie tiges Verkehrskonzept der Abgeordneten , Marco Bülow, (Drucksache 16/3798) ...... 7353 C , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Integriertes Küsten- Tagesordnungspunkt 20: zonenmanagement kontinuierlich fortent- wickeln Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von (Drucksachen 16/2502, 16/3143) ...... 7350 C Neuforn, (Köln), Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des (CDU/CSU) ...... 7350 D BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Einrich- tung einer Polizeireformkommission Tagesordnungspunkt 17: (Drucksache 16/3704) ...... 7353 C Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Ekin in Verbindung mit Deligöz, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den kostenfreien Empfang von Zusatztagesordnungspunkt 10: Rundfunk via Satellit sicherstellen Antrag der Abgeordneten Dr. , (Drucksache 16/3545) ...... 7352 C Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP: Not- wendigkeit einer Defizitanalyse des beste- Zusatztagesordnungspunkt 8: henden Sicherheitssystems Antrag der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein, (Drucksache 16/3809) ...... 7353 D Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Nächste Sitzung ...... 7354 C sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Anlage 1 Chancen und Herausforderungen der Ost- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7355 A erweiterung der Europäischen Union (EU) für die Entwicklungszusammenarbeit der EU (Drucksache 16/3807) ...... 7352 D Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 18: Elisabeth Winkelmeier-Becker, Ute Granold, Josef Göppel und Siegfried Kauder (Villin- Antrag der Abgeordneten Jens Ackermann, gen-Schwenningen) (alle CDU/CSU) zur Ab- Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Daniel Bahr stimmung über den Entwurf eines Gesetzes (Münster), weiterer Abgeordneter und der zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm Fraktion der FDP: Dem Beruf des Rettungs- in der Umgebung von Flugplätzen (Tagesord- assistenten eine Zukunftsperspektive nungspunkt 7 a) ...... 7355 B geben – Das Rettungsassistentengesetz novellieren Anlage 3 (Drucksache 16/3343) ...... 7353 A Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) zur Tagesordnungspunkt 19: Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Verbesserung des Schutzes vor Flug- Antrag der Abgeordneten Lutz Heilmann, lärm in der Umgebung von Flugplätzen (Ta- Dorothée Menzner, Heidrun Bluhm, weiterer gesordnungspunkt 7 a) ...... 7355 D Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que- rung – Fährkonzept verbessern Anlage 4 (Drucksache 16/3668) ...... 7353 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Mehr Wettbewerb im Schorn- in Verbindung mit steinfegerwesen (Tagesordnungspunkt 13) Lena Strothmann (CDU/CSU) ...... 7356 A Zusatztagesordnungspunkt 9: Christian Lange (Backnang) (SPD) ...... 7357 A Antrag der Abgeordneten Rainder Birgit Homburger (FDP) ...... 7358 B Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der 7358 D Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/ NEN: Statt fester Fehmarnbelt-Querung – DIE GRÜNEN) ...... 7359 C VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Anlage 5 Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 7376 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ des Entwurfs eines Gesetzes zum Pfändungs- DIE GRÜNEN) ...... 7377 B schutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung (Tages- ordnungspunkt 14) Anlage 9 Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 7359 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Dem Beruf des Rettungsassis- Dirk Manzewski (SPD) ...... 7361 A tenten eine Zukunftsperspektive geben – Das Rettungsassistentengesetz novellieren (Tages- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) 7361 D ordnungspunkt 18) Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 7362 C Dr. (CDU/CSU) ...... 7377 D Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Dr. Margrit Spielmann (SPD) ...... 7379 A DIE GRÜNEN) ...... 7363 B Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Jens Ackermann (FDP) ...... 7379 D BMJ ...... 7363 D Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 7381 A Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Anlage 6 DIE GRÜNEN) ...... 7381 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Anlage 10 Integriertes Küstenzonenmanagement konti- nuierlich fortentwickeln (Tagesordnungs- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung punkt 16) der Anträge: Dirk Becker (SPD) ...... 7364 C – Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que- rung – Fährkonzept verbessern (FDP) ...... 7365 B – Statt fester Fehmarnbelt-Querung – Für Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 7365 D ein ökologisch und finanziell nachhaltiges Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Verkehrskonzept DIE GRÜNEN) ...... 7366 C (Tagesordnungspunkt 19 und Zusatztagesord- nungspunkt 9) Anlage 7 (CDU/CSU) ...... 7382 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Hans-Joachim Hacker (SPD) ...... 7383 C des Antrags: Den kostenfreien Empfang von Rundfunk via Satellit sicherstellen (Tagesord- Patrick Döring (FDP) ...... 7384 D nungspunkt 17) Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 7386 B Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 7367 C Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Philipp Mißfelder (CDU/CSU) ...... 7367 D DIE GRÜNEN) ...... 7387 B Christoph Pries (SPD) ...... 7368 C Anlage 11 Jörg Tauss (SPD) ...... 7369 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Christoph Waitz (FDP) ...... 7370 C der Anträge: Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE) ...... 7371 C – Einrichtung einer Polizeireformkommis- Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/ sion DIE GRÜNEN) ...... 7372 B – Notwendigkeit einer Defizitanalyse des bestehenden Sicherheitssystems Anlage 8 (Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesord- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung nungspunkt 10) des Antrags: Chancen und Herausforderungen Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 7388 B der Osterweiterung der Europäischen Union (EU) für die Entwicklungszusammenarbeit Wolfgang Gunkel (SPD) ...... 7389 B der EU (Zusatztagesordnungspunkt 8) Dr. Max Stadler (FDP) ...... 7390 A Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 7373 B (DIE LINKE) ...... 7390 C Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 7374 B (BÜNDNIS 90/ Hellmut Königshaus (FDP) ...... 7375 A DIE GRÜNEN) ...... 7391 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7207

(A) (C) Redetext

73. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Überweisungsvorschlag: Die Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle Innenausschuss Rechtsausschuss herzlich, wünsche Ihnen einen guten Morgen und uns in- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie tensive, gute Beratungen. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Vizepräsidentin Dr. Susanne Kastner und der Kollege Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Erich Fritz haben vor einigen Tagen jeweils ihren Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des ganzen Hauses Entwicklung gratuliere ich dazu nachträglich herzlich und wünsche ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren alles Gute. (Ergänzung zu TOP 29) (Beifall – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Un- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- (B) ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen (D) fassbar! Das sieht man nicht!) vom 20. Oktober 2005 über den Schutz und die Förde- Die Kollegin Miriam Gruß hat ihr Amt als Schriftfüh- rung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen rerin niedergelegt. Das ist kein Anlass zum Jubeln. Als – Drucksache 16/3711 – Nachfolger schlägt die Fraktion der FDP den Kollegen Überweisungsvorschlag: Florian Toncar vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich Ausschuss für Kultur und Medien (f) höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Auswärtiger Ausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Göring- Die Fraktion Die Linke teilt mit, dass der Kollege Hü- Eckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, weiterer Ab- seyin-Kenan Aydin aus der Parlamentarischen Ver- geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ sammlung des Europarates ausscheidet. An seiner Stelle DIE GRÜNEN soll der Kollege Dr. Hakki Keskin neues ordentliches Vermittlung in Selbstständigkeit durch Bundesagen- Mitglied werden. Sind Sie auch damit einverstanden? – tur für Arbeit ermöglichen – Künstlerdienste sichern Das sieht sehr danach aus. Dann ist der Kollege – Drucksache 16/3779 – Dr. Keskin als ordentliches Mitglied in die Parlamentari- Überweisungsvorschlag: sche Versammlung des Europarates gewählt. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Kultur und Medien Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Haushaltsausschuss Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache führten Punkte zu erweitern: (Ergänzung zu TOP 30) ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Rechtsstaatliche Anforderungen an eine ordnungsgemäße schusses (2. Ausschuss) Gesetzgebungsarbeit Sammelübersicht 153 zu Petitionen ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- – Drucksache 16/3817 – SES 90/DIE GRÜNEN zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringli- b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- schusses (2. Ausschuss) chen Fragen Nr. 1 und 2 auf Drucksache 16/3790 Sammelübersicht 154 zu Petitionen ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Christian Ahrendt, Michael Link (Heilbronn), weiterer Abge- – Drucksache 16/3818 – ordneter und der Fraktion der FDP c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft – eine schusses (2. Ausschuss) EU der Erfolge für die Bürger Sammelübersicht 155 zu Petitionen – Drucksache 16/3832 – – Drucksache 16/3819 – 7208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Statt fester Fehmarnbelt-Querung – Für ein ökologisch (C) schusses (2. Ausschuss) und finanziell nachhaltiges Verkehrskonzept Sammelübersicht 156 zu Petitionen – Drucksache 16/3798 – – Drucksache 16/3820 – Überweisungsvorschlag: e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) schusses (2. Ausschuss) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Sammelübersicht 157 zu Petitionen Haushaltsausschuss – Drucksache 16/3821 – ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler, f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der schusses (2. Ausschuss) Fraktion der FDP Sammelübersicht 158 zu Petitionen Notwendigkeit einer Defizitanalyse des bestehenden Si- – Drucksache 16/3822 – cherheitssystems g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- – Drucksache 16/3809 – schusses (2. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Sammelübersicht 159 zu Petitionen Innenausschuss – Drucksache 16/3823 – ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. , h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter schusses (2. Ausschuss) und der Fraktion der FDP Sammelübersicht 160 zu Petitionen Für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit – Drucksache 16/3824 – im Nahen Osten (KSZNO) j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- – Drucksache 16/3816 – schusses (2. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Sammelübersicht 161 zu Petitionen Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 16/3825 – ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- Die zunächst vorgesehenen Aktuellen Stunden auf schusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) Verlangen der Fraktion Die Linke zur Armutsstatistik – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto und auf Verlangen der Fraktion des Bündnisses 90/Die (Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Grünen zum Nichtraucherschutz finden entgegen der ur- Abgeordneter und der Fraktion der FDP sprünglichen Ankündigung nicht statt. Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internet- anschluss – die Gebührenfinanzierung des öffentlich- Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll so- rechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren weit erforderlich abgewichen werden. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, (B) Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abge- Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus- (D) ordneter und der Fraktion der LINKEN schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste Moratorium für PC-Gebühren – sofortige Neuver- aufmerksam: handlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages – zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger, Der in der 67. Sitzung des Deutschen Bundestages Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem DIE GRÜNEN Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitbera- PC-Gebühren-Moratorium verlängern tung überwiesen werden. – Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793, 16/3792 – Berichterstattung: Antrag der Abgeordneten Dr. , Abgeordnete Reinhard Grindel Monika Grütters, , weiterer Jörg Tauss Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Dr. Lukrezia Jochimsen wie der Abgeordneten Monika Griefahn, Petra Grietje Bettin Hinz (Essen), Lothar Mark, weiterer Abgeordne- ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. , ter und der Fraktion der SPD Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Stärkung des Goethe-Instituts durch neues sowie der Abgeordneten Reinhard Schultz (Everswinkel), Konzept Bernd Scheelen, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD – Drucksache 16/3502 – Bezeichnungsschutz für Sparkassen gesichert Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/3805 – Auswärtiger Ausschuss (f) ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein, Ausschuss für Tourismus Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter Ausschuss für Kultur und Medien und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Haushaltsausschuss Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Der in der 71. Sitzung des Deutschen Bundestages Chancen und Herausforderungen der Osterweiterung der überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Europäischen Union (EU) für die Entwicklungszusam- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- menarbeit der EU schuss) zur Mitberatung überwiesen werden. – Drucksache 16/3807 – Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Kor- ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Winfried Hermann, Dr. , weiterer Abgeordne- nelia Möller, Cornelia Hirsch, weiterer Abgeord- ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN neter und der Fraktion der LINKEN Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7209

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ausbildungsplatzlücke schließen – Vorschlag c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (C) des DGB aufgreifen gierung – Drucksache 16/3540 – Präsidentschaftsprogramm 1. Januar bis überwiesen: 30. Juni 2007 – Europa gelingt gemeinsam Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/3680 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Haushaltsausschuss Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Sportausschuss Ich stelle Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlos- Rechtsausschuss sen. Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wir kommen nun zur Abgabe einer Erklärung durch Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat in Düssel- Ausschuss für Arbeit und Soziales dorf – Entschuldigung, in Brüssel. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Heiterkeit) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Stellen Sie sich vor, ich hätte dazu Einvernehmen fest- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gestellt. Dann wäre es richtig kompliziert geworden. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c so- Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und wie den Zusatzpunkt 3 auf: Entwicklung Ausschuss für Tourismus 4 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzle- Ausschuss für Kultur und Medien rin Haushaltsausschuss zum Europäischen Rat in Brüssel am ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus 14./15. Dezember 2006 und den bevorstehen- Löning, Christian Ahrendt, Michael Link (Heil- den deutschen Präsidentschaften im Rat der bronn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Europäischen Union und in der G 8 der FDP (B) (D) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsident- Stübgen, Gunther Krichbaum, Thomas Bareiß, schaft – eine EU der Erfolge für die Bürger weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Axel Schäfer, – Drucksache 16/3832 – Dr. Lale Akgün, Doris Barnett, weiterer Abge- Überweisungsvorschlag: ordneter und der Fraktion der SPD Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Die deutsche Präsidentschaft der Europäi- Innenausschuss schen Union zum Erfolg führen Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und – Drucksache 16/3808 – Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Auswärtiger Ausschuss Entwicklung Innenausschuss Sportausschuss Bevor ich dazu der Bundeskanzlerin das Wort erteile, Rechtsausschuss möchte ich dem Minister Michael Glos zu seinem heuti- Finanzausschuss gen Geburtstag herzlich gratulieren. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (Beifall) Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs- Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend antrag der Fraktion Die Linke vor. Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe rung anderthalb Stunden vorgesehen. – Auch dazu höre Ausschuss für Bildung, Forschung und ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Ausschuss für Tourismus die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 7210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Wir haben uns in diesen Tagen sehr stark mit der (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Frage der Türkei befasst. Es ging um die Umsetzung rund zwei Wochen beginnt die deutsche Doppelpräsi- des Ankaraprotokolls. Die Vorgeschichte ist bekannt. dentschaft: im Rat der Europäischen Union und in der Die Türkei hatte sich mit ihrer Unterschrift im Juli 2005 Gruppe der Acht. In wenigen Stunden beginnt der Euro- verpflichtet, das Ankaraprotokoll umzusetzen. Ich will päische Rat – wie gesagt – in Brüssel, noch einmal unter noch einmal sagen: Es geht hier um keine Kleinigkeit, finnischem Vorsitz. sondern um die Selbstverständlichkeit, dass Beitrittskan- didaten und EU-Mitgliedstaaten einander politisch und Weil sich die finnische EU-Präsidentschaft dem Ende diplomatisch anerkennen. zuneigt, möchte ich ihr an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön sagen. Sie hat unter schwierigen Bedingun- Die finnische Präsidentschaft – das will ich hier aus- gen vieles erreicht. drücklich hervorheben – hat bis zur letzten Minute alles unternommen, um der Türkei die Umsetzung des Anka- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP raprotokolls zu erleichtern. Aber wir müssen heute fest- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie stellen: Die Türkei hat das Protokoll nicht umgesetzt. bei Abgeordneten der LINKEN) Die EU hat darauf reagiert, und zwar, wie ich meine, Der morgen stattfindende Rat wird sich vor allen Din- gleichermaßen entschlossen wie besonnen. Sie hat be- gen mit dem Thema Erweiterungspolitik befassen. sonnen reagiert, indem der Türkei stets deutlich gemacht Wenn man sich an die Anfänge der Europäischen Union wird, dass es sich für sie lohnt, weiter an Reformen zu erinnert – damals waren es sechs Mitgliedstaaten –, so arbeiten. Damit meine ich nicht nur das Ankaraproto- kann man heute sagen: Diese Erweiterungspolitik ist koll, sondern genauso meine ich tief greifende innenpo- eine Erfolgsgeschichte Europas. Denn heute umfasst die litische Reformen, bei denen es um Menschenrechte Europäische Union fast das gesamte kontinentale Europa geht, bei denen es um die Freiheit der Bürgerinnen und in Demokratie und Freiheit. Bürger geht. Entschlossen hat die Europäische Union re- agiert, indem die Europäische Kommission am 29. No- Mit Rumänien und Bulgarien werden am 1. Januar vember dieses Jahres deutlich gemacht hat, dass es ein 2007 zwei weitere Mitglieder in die Europäische Union einfaches „Weiter so!“ nicht geben kann. Sie hat die kommen. Beide Staaten haben zusätzliche Verpflichtun- Empfehlung abgegeben, acht Verhandlungskapitel aus- gen zu weiteren Reformen nach dem Beitritt übernom- zusetzen und kein Kapitel zu schließen, solange das An- men. Mit Kroatien und mit der Türkei laufen Verhand- karaprotokoll nicht umgesetzt ist. lungen. Auch die Staaten des westlichen Balkans – Sie wissen das – haben eine Beitrittsperspektive. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) neten der SPD – Beifall bei der FDP) (D) Man sieht also: Es ist viel in Bewegung und natürlich kommen die Fragen auf, wohin das führt und wie, also Genau dies haben die Außenminister am Montag die- nach welchen Prinzipien die Europäische Union wach- ser Woche als Grundlage für die Beratungen, die heute sen will. Genau darüber werden wir auf diesem Rat spre- und morgen stattfinden, vereinbart. Ich bin sehr dankbar, chen. Denn der Erfolg der Erweiterungspolitik muss da- dass es gelungen ist, diese Vereinbarung zu treffen. Die rin liegen, dass die Europäische Union attraktiver und Außenminister haben damit gezeigt, dass auf Worte Ta- handlungsfähiger wird, und zwar sowohl nach außen als ten folgen. Aber ich sage noch einmal: Die EU hat glei- auch nach innen. chermaßen besonnen und entschlossen reagiert. Das Wir alle wissen, dass die Perspektive zum Beitritt Ganze wird dadurch ergänzt und präzisiert, dass die noch kein Garantieschein für eine spätere Mitgliedschaft Kommission dem Rat jährlich, also 2007, 2008 und ist. Es müssen die Kriterien eingehalten werden, auf die 2009, berichten wird, ob und inwieweit die Türkei ihren sich der EU-Vertrag gründet, und es müssen die Bei- Verpflichtungen nachgekommen ist. Auch diesen Über- trittskriterien eingehalten werden, die durch die Be- prüfungsmechanismus begrüße ich sehr. Denn es ist der schlüsse der Staats- und Regierungschefs der Europäi- Rat, der immer wieder einstimmig entscheiden muss, schen Union festgelegt sind. Dies sage ich nicht als wie es mit den Beitrittsverhandlungen weitergeht. Drohung, sondern ich sage es eher als Ansporn für die Meine Damen und Herren, es besteht die Notwendig- Länder, die beitreten wollen, und auch als Ansporn für keit – das wird auch während unserer Präsidentschaft die Gemeinschaft, die natürlich dafür sorgen muss, dass eine Rolle spielen und an Bedeutung gewinnen –, Staa- sie die notwendige Aufnahmefähigkeit hat. ten enger an die Europäische Union zu binden, ohne ih- Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Mon- nen bereits die Vollmitgliedschaft oder überhaupt etwas tenegro und Serbien haben eine solche Beitrittsperspek- zusagen zu können. Das gilt im Hinblick auf die tive. Aber bei aller Richtigkeit dieser Entscheidung wis- Ukraine, die Schwarzmeerregion und andere Regionen. sen wir, dass die Perspektive eine mittlere ist und dass Deshalb brauchen wir eine attraktive und dauerhafte noch viele Vorbereitungen zu treffen sind, damit aus die- Nachbarschaftspolitik, mit der wir die Länder enger an ser Perspektive eine Aufnahme werden kann. Ich nehme die Europäische Union heranführen, die selbst nicht Mit- Kroatien hier ausdrücklich aus. Die EU führt mit diesem glied werden können. Ich bin sehr dankbar für die Initia- Land bereits erfolgreiche Beitrittsverhandlungen. Aber tiven des Auswärtigen Amtes, die sich sehr intensiv mit auch hier ist es noch zu früh, um ein Datum für die Auf- der Entwicklung einer solchen Nachbarschaftspolitik be- nahme nennen zu können. schäftigen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7211

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Wir werden auf dem Rat auch über die Innen- und besondere Impulse in den Bereichen geben, die für die (C) Justizpolitik sprechen, vor allen Dingen über das Thema Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, für die Be- Migration. Wir alle kennen die Bilder verzweifelter schäftigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Menschen und afrikanischer Flüchtlinge auf brüchigen und für die Entwicklung unseres Wohlstands wichtig Booten. Wir können dem nicht einfach zusehen, sondern sind. Wir wissen, dass die Bürgerinnen und Bürger Euro- wir müssen ein kohärentes und gemeinsames Handeln pas natürlich nicht den Sonntagsreden trauen, sondern der Europäischen Union hinbekommen. Das bedeutet, dass sie sich fragen: Bringt mir diese Europäische Union dass wir auf der einen Seite mit Entschiedenheit gegen für mein eigenes Leben ein Stück Sicherheit, ein Stück illegale Migration vorgehen müssen, dass wir aber auf Wohlstand? Deshalb müssen wir genau die Dinge, die der anderen Seite auch die Ursachen der illegalen Migra- damit zusammenhängen, weiterentwickeln oder neu an- tion bekämpfen und uns mit der Situation in den afrika- gehen. nischen Ländern auseinander setzen müssen. Beides ge- hört zusammen und bei beidem liegt noch sehr viel Da nenne ich das Thema Bürokratieabbau – oder Arbeit vor uns. „bessere Rechtsetzung“, wie das in der europäischen Sprache heißt. Hier gibt es in der letzten Zeit einen Men- Wir haben heute nicht nur über den aktuell stattfin- talitätswandel und wir wollen ihn fördern. Ein Mehr an denden Rat zu sprechen, der heute und morgen zusam- Richtlinien bedeutet nicht in jedem Fall ein Mehr an mentritt, sondern auch darüber, dass Deutschland in gut wirtschaftlicher Prosperität für die Europäische Union. zwei Wochen die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Wir haben unsere Präsidentschaft unter das Motto „Eu- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ropa gelingt gemeinsam“ gestellt, aber man könnte auch bei Abgeordneten der FDP) sagen: Europa gelingt nur gemeinsam. Wir haben es er- Deshalb werden wir den deutschen Kommissar, Herrn lebt: Ein gespaltenes, ein uneiniges Europa – sei es in Verheugen, bei diesen Dingen unterstützen. außenpolitischen Fragen, sei es in innenpolitischen Fra- gen – macht die Stärke der Europäischen Union nicht Wir werden auch eine Diskussion über die Frage der deutlich. Deshalb gilt für die Außenpolitik wie für die Einführung eines Diskontinuitätsprinzips in der Euro- innere Politik der Europäischen Union: Europa gelingt päischen Union führen. Das hat etwas zu tun mit dem nur gemeinsam. Verhältnis der Institutionen in Europa: Kommission, Parlament und Rat. Für uns, in einem nationalen Parla- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ment, ist es selbstverständlich, dass mit dem Ende einer bei Abgeordneten der FDP) Legislaturperiode Gesetzentwürfe verfallen. Auf europäi- Das sage ich vor allen Dingen mit Bezug auf das, was scher Ebene gibt es so etwas nicht. Wir sollten darüber (B) ich das Zukunftsmodell der Europäischen Union nennen reden, dass es doch nicht sein kann, dass ein neues Parla- (D) würde: das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell. ment gewählt wird, eine neue Kommission bestellt wird, Die Bundesregierung fühlt sich der Weiterentwicklung aber das Einzige, was konstant bleibt, die nicht bearbei- des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells ver- tete Richtlinie ist. Das wird ein langer Prozess, das wird pflichtet. Denn wenn wir wirtschaftlich nicht stark sind, nicht schnell gehen; ich weiß, welches dicke Brett wir da wenn wir den Menschen keine Perspektive geben kön- bohren. Aber wir sollten darüber sprechen, weil es für nen, dann wird Europa, dann wird die Europäische das Selbstverständnis von Parlament, Kommission und Union nach außen hin nicht stark auftreten können. Rat ganz wichtig ist. Wir brauchen eine erfolgreiche Politik in Brüssel. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bedeutet aber – das möchte ich an dieser Stelle nur kurz bei Abgeordneten der FDP) einschieben –, dass auch die Mitgliedstaaten stark sein müssen. Die Bundesregierung wird den Weg der Refor- Die Vollendung des Binnenmarktes wird ein weite- men während ihrer EU-Ratspräsidentschaft entschieden rer Schwerpunkt sein. Wir müssen uns noch einmal ver- weitergehen. Die Dinge gehören zusammen: Einfluss auf gegenwärtigen – ich glaube, die Zahlen der Kommission die Entwicklung der Europäischen Union haben wir nur sind da sehr eindrücklich –, dass der Binnenmarkt seit dann, wenn bei uns die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn wir Anfang der 90er-Jahre ein Mehr von über 2,5 Millionen auf dem Pfad des Wirtschaftswachstums bleiben und Arbeitsplätzen gebracht hat. Das muss man den Men- wenn unsere Unternehmen prosperieren. Innen- und Au- schen immer und immer wieder sagen: Freiheitliche Re- ßenpolitik gehören an dieser Stelle sehr eng zusammen. geln im einheitlichen Binnenmarkt in der Europäischen Union und gemeinsame Standards bringen ein Mehr an (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Beschäftigung und machen uns insgesamt stärker. Wenn wir vorausschauend auf unsere Präsidentschaft Wir werden einen Schwerpunkt setzen bei Forschung blicken, müssen wir uns bewusst sein, dass in dieser Zeit und Bildung. Das 7. Forschungsrahmenprogramm wird unerwartete Ereignisse eintreten können. Alle vergange- während unserer Präsidentschaft starten. Das, was uns nen Präsidentschaften haben das erlebt. Selbstverständ- der Bundespräsident immer wieder gesagt hat – wir müs- lich haben wir für unsere Präsidentschaft dennoch sen so viel besser sein, wie wir teurer sind –, müssen wir Schwerpunkte gesetzt. So wollen wir insbesondere die dadurch umsetzen, dass wir innovativ sind, dass wir for- wirtschafts- und sozialpolitische Zukunft Europas in schungsstark sind, dass Europa an der Spitze ist. Das den Mittelpunkt unserer Präsidentschaft rücken. Auf muss das Credo sein, das sich auch sich hinter dem tro- dem Frühjahrsgipfel im März 2007 wollen wir deshalb ckenen Ziel des Lissabonprozesses verbirgt. 7212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (C) neten der SPD) FDP) Ein weiterer Schwerpunkt wird die Energiepolitik Aber wir haben die Aufgabe, zum Ende unserer Ratsprä- sein. Die Kommission wird hier eine Reihe von Mittei- sidentschaft hin einen Fahrplan vorzulegen, wie es wei- lungen machen. Deshalb wollen wir beim Frühjahrsgip- tergehen kann. Ich hielte es für ein historisches Ver- fel einen Aktionsplan für eine Energiepolitik für Europa säumnis – das will ich hier ganz klar sagen –, wenn wir verabschieden. Wir brauchen einen echten Binnenmarkt es nicht schaffen würden, bis zur nächsten Europawahl für Strom und Gas. Wir wollen natürlich die Klima- mit der Substanz dieses Verfassungsvertrages so umzu- schutzziele erfüllen und müssen deshalb der Energieeffi- gehen, dass wir wirklich ein Ergebnis abliefern können. zienz eine besondere Bedeutung beimessen. Wir wollen Ich werde mich während unserer Präsidentschaft jeden- die erneuerbaren Energien ausbauen. Wir wollen die En- falls intensiv dafür einsetzen – das gilt auch für die ergieforschung entwickeln. Wenn wir als Europa beim gesamte Bundesregierung –, dass auf Grundlage der Klimaschutz weiter eine Vorreiterrolle spielen wollen, Gemeinsamkeit unserer Werte ein solcher Verfassungs- müssen wir auch Ziele für die Zeit nach 2012, also nach vertrag zustande kommt. dem Auslaufen des Kiotoprotokolls, festlegen. Eine ge- meinsame Verhandlungslinie der Europäischen Union (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der wäre sehr gut, gerade mit Blick auf unsere G-8-Präsi- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- dentschaft. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) In den Außenbeziehungen der Europäischen Union wird uns – das spüren wir alle – immer mehr Gemein- Natürlich möchten wir, dass der 50. Jahrestag der Un- samkeit abverlangt. Wir sind als Mitgliedstaat alleine gar terzeichnung der Römischen Verträge am 25. März zu nicht in der Lage, den Bedrohungen durch Massenver- einem Höhepunkt unseres Ratsvorsitzes wird. Es ist his- nichtungswaffen und internationalen Terrorismus zu be- torisch beachtlich – um es ganz vorsichtig zu sagen –, gegnen. Deshalb tun wir das im Verbund mit unseren dass es 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römi- Partnern in der Europäischen Union und in der NATO. schen Verträge möglich ist, in einem wiedervereinigten Wir müssen in unserer Präsidentschaft natürlich dafür Deutschland, in einer nicht mehr geteilten Stadt Berlin sorgen, dass in all den aktuellen Fällen mit einer und mit ein Europa zu feiern, das auch die mittel- und osteuro- einer starken Stimme gesprochen wird. päischen Länder umfasst. Dafür kann man gar nicht dankbar genug sein. Ich glaube, sagen zu können, dass es in den letzten Jahren große Fortschritte bei der europäischen Außen- (B) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der und Sicherheitspolitik gegeben hat. Die Europäische (D) FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Union hat – wenn wir uns das einmal vergegenwärtigen – SES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Oskar erfolgreich dazu beigetragen, die Krise in Mazedonien zu Lafontaine [DIE LINKE]) entschärfen, in Indonesien einen Friedensprozess einzu- leiten und im Kongo einer neuen Krise vorzubeugen. Dieser 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römi- schen Verträge und die Verabschiedung einer Berliner Was haben wir nicht gerade im Zusammenhang mit Erklärung werden uns noch einmal daran erinnern, dass dem Einsatz im Kongo über hohe Risiken diskutiert. Ich wir natürlich ein gemeinsames Selbstverständnis und ein glaube aber, dass es besser ist, über die Risiken vorher gemeinsames Werteverständnis brauchen. Europa grün- zu diskutieren, damit sie einen nicht unerwartet treffen. det sich auf geschichtliche Erfahrungen, die wir zusam- Aber ich finde, die Europäische Union hat ihren Auftrag men gemacht haben; häufig waren dies sehr leidvolle Er- an dieser Stelle großartig erfüllt. fahrungen. Europa gründet sich auf dem Willen, die Zukunft gemeinsam besser zu gestalten. Europa gründet (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem sich aber vor allem auf Werten, die wir alle teilen: Frei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heit und Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit Ich bin froh, dass unsere Soldatinnen und Soldaten nach und Achtung der Menschenrechte. Hause kommen können. Der Prozess im Kongo im Zu- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Soziale sammenhang mit der Wahl hat das Land ein Stück weiter Bindungen!) gebracht. Das heißt aber nicht, dass unser Engagement für den Kongo jetzt aufhört. Wir werden dort weiterhin Nur auf der Grundlage dieser Wertegemeinschaft konnte Polizisten ausbilden. Die UNO wird sich weiterhin enga- nach dem Zweiten Weltkrieg ein historisch neues Mit- gieren. Wir haben in Bosnien-Herzegowina Verantwor- einander von größeren und kleineren Mitgliedstaaten tung übernommen und sind auch im Gazastreifen aktiv entstehen. Das heißt, europäische Integration muss auch tätig. in Zukunft wertegebunden sein. Die Europäische Union ist sich ihrer wachsenden Ver- Das führt unweigerlich zum Verfassungsvertrag. antwortung also nicht nur bewusst, sondern sie nimmt Die Verantwortung, die wir haben, ist uns klar. Ich will sie auch wahr. Aber sie weiß auch: Sie ist nur Teil der aber an dieser Stelle auch deutlich sagen: Das wird ein Zusammenarbeit mit der NATO und in den Vereinten Prozess sein, der während unserer Präsidentschaft nicht Nationen. Die Handlungsfähigkeit der Europäer muss beendet werden wird. Wir wissen: Nizza ist nicht genug. sich in jedem einzelnen Fall, in jeder Krise wieder neu Wir brauchen einen Verfassungsvertrag. bewähren. Die Stabilisierung des westlichen Balkans Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7213

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) wird dabei in den kommenden Monaten mit Sicherheit nausreichende Dinge planen, um eine gewisse Kontinui- (C) ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein. In Serbien wird es tät zu erreichen. Dazu wird zum Beispiel die Vorberei- Wahlen geben. Wir werden danach vom Sondergesand- tung eines EU-Afrika-Gipfels im zweiten Halbjahr des ten Ahtisaari einen Vorschlag bekommen, wie es mit Jahres 2007 gehören, bei dem wir Portugal unterstützen dem Kosovo weitergeht. Wir wissen schon heute, dass werden. dann die größte zivile Mission im Rahmen der Europäi- Wir sind natürlich gut beraten, über das halbe Jahr hi- schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Ent- naus zu denken und über den Tellerrand Europas hinaus wicklung im Kosovo begleiten muss und dass es dort zu zu schauen. Deshalb werden die Programme, die wir einer völlig neuen Qualität bei der Zusammenarbeit von während der EU-Präsidentschaft durchführen, und die Europäischer Union und NATO kommen muss. Arbeiten im Rahmen unserer G-8-Präsidentschaft natür- Wir sind parallel zur Stabilisierung des Balkans natür- lich verknüpft. Das bedeutet ganz elementar, dass wir lich mit Afghanistan beschäftigt, mit dem Nachbarkonti- unsere Partnerschaft mit den östlichen Nachbarn der EU, nent Afrika und dessen Konflikten und vor allen Dingen zum Beispiel mit Russland, und unser Verhältnis zu Zen- mit dem Nuklearprogramm des Irans. Wir wissen: tralasien sowie zu China und Indien entwickeln. Deutschland und auch die Europäische Union dürfen Ich begrüße es außerordentlich, dass der Bundes- und werden sich nicht überheben. Deutschland kennt außenminister die zentralasiatische Region und auch die seine Möglichkeiten, aber auch seine Grenzen. Wir soll- nordafrikanische Region besucht hat. Ich glaube, wir ten jedoch nicht übersehen, dass wir durch die Doppel- müssen verstehen, dass diese Regionen auch für die Zu- präsidentschaft natürlich ein zusätzliches Maß an Ver- kunft der Europäischen Union von zentralem Interesse antwortung tragen. sind. Wenn man sich einmal anschaut, mit welcher Vehe- Ich habe in den letzten Tagen mit Präsident Mubarak menz Länder wie China heute eine sehr bewusste Au- und Ministerpräsident Olmert gesprochen; denn wir wis- ßenpolitik betreiben, dann wird klar, dass die EU gut be- sen, dass wir gerade im Nahen Osten vor riesigen Pro- raten ist, auch diese Regionen immer wieder im blemen stehen. Bei der Verabschiedung des Libanon- Blickfeld zu haben und sich um sie zu kümmern. mandats waren wir uns alle hier einig: Die militärische (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Option, die Präsenz unserer Soldaten vor der libanesi- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ schen Küste, ist nur eine Facette des notwendigen politi- DIE GRÜNEN) schen Prozesses. So schwierig dies ist, so einig ist sich die Bundesregierung darin, dass der Weg über eine Bele- Meine Damen und Herren, auch während unserer bung des Nahostquartetts führen muss. Dazu gehören G-8-Präsidentschaft setzen wir einen Schwerpunkt: Wir wollen zeigen, dass es in unserer Bundesregierung (B) immer wieder auch ungewöhnliche Schritte, wie zum (D) Beispiel die Reise des Außenministers nach Syrien. den unbedingten Willen zur politischen Gestaltung der Globalisierung gibt. Die Globalisierung muss fairen Ich sage ganz deutlich: Diese Reise war ein Risiko – Regeln verpflichtet sein. Ich sage das ausdrücklich: kein Zweifel. Wir wissen auch, dass durch diese Reise Dazu gehören auch Sozial- und Umweltstandards. Widerspruch ausgelöst wurde. Kurzfristig hat sie auch noch nicht den Erfolg gebracht, den wir uns wünschen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich sage aber auch: Diese Reise steht geradezu symbo- der SPD sowie des Abg. Oskar Lafontaine lisch für das Verständnis der Außenpolitik der gesamten [DIE LINKE]) Bundesregierung. Natürlich – das ist vielleicht unser größtes Problem – (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP bezweifeln viele Menschen heute, dass das überhaupt und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) noch gelingen kann. Ich glaube aber, wir dürfen diesen Anspruch nie aufgeben. In der Globalisierung bedeutet Dieses Verständnis beinhaltet Dialogbereitschaft auch das natürlich eine Gemeinsamkeit mit vielen Partnern dort, wo sie nicht selbstverständlich ist – aber immer auf auf der Welt und zum Teil auch das Bohren sehr dicker der Grundlage klarer Prinzipien und Werte. Dialogbe- Bretter: Wir müssen Barrieren für internationale Investi- reitschaft und klare Prinzipien und Werte – das gehört tionen abbauen, wir müssen die Kapitalmärkte transpa- für uns zusammen und das wird auch weiterhin so sein. renter machen, wir wollen das geistige Eigentum effekti- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der ver schützen, wir wollen die Produktpiraterie bekämpfen FDP) und wir müssen vor allen Dingen – dazu ist die G-8-Prä- sidentschaft auch geeignet – im Klimaschutz weiterkom- Dies werden wir auch im Zusammenhang mit Syrien, men, nämlich durch eine Verbesserung der Energieeffi- mit dem Iran und mit den Konflikten in allen anderen zienz und durch eine erhöhte Sicherheit hinsichtlich der Ländern so handhaben. Energieversorgung. Schließlich wollen wir während un- serer G-8-Präsidentschaft auch Afrika eine Perspektive Meine Damen und Herren, eine sechsmonatige Präsi- geben, was wir zu einem besonderen Schwerpunkt ma- dentschaft beinhaltet immer die Gefahr einer gewissen chen werden. Kurzatmigkeit bei der Bewältigung riesiger Aufgaben. Deshalb finde ich es richtig, dass sich die Europäische Meine Damen und Herren, die Doppelpräsidentschaft Union zu Dreierpräsidentschaften entschlossen hat. im Rat der EU und in der G 8 wird uns alle fordern. Des- Das heißt, gemeinsam mit Portugal und Slowenien wer- halb bitte ich bei der Umsetzung auch um die Unterstüt- den wir auch über die Zeit unserer Präsidentschaft hi- zung aller. Die Regierung alleine kann das nicht 7214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) schaffen. Es kommt deshalb auf die Zusammenarbeit einem wesentlichen Punkt eine wohltuende Korrektur (C) von Bundesregierung, Bundestag, sowohl mit den Koali- gegenüber der rot-grünen Regierungszeit erfahren hat. tionsfraktionen als auch mit den Oppositionsfraktionen, und auf die Zusammenarbeit mit den Ländern an. Ma- (Beifall bei der FDP) chen wir diese Präsidentschaften zu einem gemeinsa- Meine Damen und Herren in der Bundesregierung, men nationalen Anliegen. Sie haben gegenüber der Vorgängerregierung zwei In diesem Jahr war die Welt für einige wunderbare Dinge korrigiert, nicht laut angekündigt, aber doch spür- Wochen im Sommer in unserem Land wahrlich zu Gast bar. Es ist nicht mehr die Rede von der Achsenbildung, bei Freunden. Nächstes Jahr können wir ganz anders, es ist nicht mehr die Rede von einer Achse Paris-Berlin, aber jeder an seinem Platz dazu beitragen, das Wachstum gar Moskau. Vor allen Dingen hat die Ignoranz in der und die Verantwortung in der Welt zu fördern und Eu- Europapolitik gegenüber den kleineren und mittleren ropa gemeinsam gelingen zu lassen. Denn ich glaube, ei- Staaten der Europäischen Union weitestgehend ein Ende nes ist gewiss: Europa war und Europa bleibt die Frie- gefunden. Das begrüßen wir ausdrücklich. Es war immer densidee des 20. Jahrhunderts und Europa bleibt die Zu- beste Tradition deutscher Außen- und Europapolitik, kunftsidee des 21. Jahrhunderts. Dafür lohnt sich die nicht nur die Großen in Europa zu sehen, sondern auch Mühe, dafür lohnt sich auch die Arbeit an Kompromis- die kleinen und mittleren Völker in Europa als Verbün- sen. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. Dann dete zu betrachten. können wir etwas schaffen. (Beifall bei der FDP) Herzlichen Dank. Wir erinnern uns noch, wie die Regierung Schröder/ (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Fischer zu Beginn ihrer Amtszeit sogar mit Sanktionen der SPD) gegen unser Nachbarland Österreich arbeitete, weil dort eine Regierungsbildung zustande kam, die aus Sicht der Präsident Dr. Norbert Lammert: rot-grünen Bundesregierung nicht gewünscht war. Des- wegen ist es wohltuend, dass die Regierung Merkel/ Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Guido Wes- Steinmeier dies offensichtlich korrigiert. terwelle für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Wir alle werden als Volksvertreter immer wieder in unseren Veranstaltungen gefragt, was uns Europa bringt. Ich kann nur das aufgreifen, was die Bundeskanzlerin im Dr. Guido Westerwelle (FDP): Kern als ihre Begründung genannt hat. Selbst wenn uns (B) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Europa nicht mehr gebracht hätte als jahrzehntelangen (D) ren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben um die Unterstüt- Frieden für unser Land und in Europa selbst, dann hätte zung für die wichtige EU-Ratspräsidentschaft aus dem sich der europäische Integrationsprozess längst ge- ganzen Hohen Haus gebeten. Sie haben ausdrücklich lohnt. nicht nur um die Unterstützung der Koalitionsfraktio- nen gebeten, sondern sich auch an die Opposition ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie wandt. Ich kann Ihnen jedenfalls für die liberale Opposi- bei Abgeordneten der SPD) tion in diesem Hause sagen: Wir werden Sie bei Ihrem Deswegen ist es richtig, dass die europäische Erweite- wichtigen Anliegen, die EU-Ratspräsidentschaft zu ei- rung und die Erweiterung des Integrationsprozesses nem Erfolg im Interesse unseres Landes zu führen, mit – dazu zählt auch die Aufnahme von Bulgarien und Ru- Sicherheit unterstützen. Darauf können Sie sich verlas- mänien – zunächst als Friedenschance gesehen wird. sen. Wir werden mit Sicherheit Ihre Arbeit begleiten, Wann hat es das jemals in unserer Geschichte gegeben, auch kritisch, aber es gibt überhaupt keinen Zweifel da- dass wir Deutschen gewissermaßen von Freunden und ran: Hier geht es um deutsches Interesse und nicht um Verbündeten umzingelt waren? Das sollten wir uns sehr Opposition oder Koalition, meine sehr geehrten Damen genau einprägen. Es ist ohne jeden Zweifel eine wunder- und Herren. bare Entwicklung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Andere fürchten sich vor dem Wettbewerb, der mit dem Beitritt der ost- und südosteuropäischen Länder ein- Wir haben mit dieser EU-Ratspräsidentschaft eine he- hergeht. Wer sich vor dem Wettbewerb aus Rumänien rausragende Chance für Deutschland. Wir haben eine he- und Bulgarien fürchtet, den müssen wir realistischer- rausragende Chance für Europa. Ich bin deswegen übri- weise darauf hinweisen, dass das erst der Anfang ist. Es gens auch ein wenig verwundert, wie wenig ausgeprägt ist die Ouvertüre. Der eigentliche Wettbewerb kommt das Interesse seitens der Kolleginnen und Kollegen ge- noch auf uns zu, und zwar durch China, Indien und den genüber dieser ersten Regierungserklärung der Bundes- unterschätzten südamerikanischen Kontinent. Wer regierung zur EU-Ratspräsidentschaft ist. meint, er könne den Wettbewerb schon innerhalb Euro- pas nicht bestehen, der ist augenscheinlich auch mental Aber, meine Damen und Herren, wir alle wollen den nicht hinreichend für die Herausforderungen der welt- Erfolg Ihrer Präsidentschaft. Deswegen will ich zu Be- weiten Globalisierung gewappnet. ginn erst einmal darauf aufmerksam machen, dass die bisherige Außen- und Europapolitik Ihrer Regierung in (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7215

Dr. Guido Westerwelle (A) In Wahrheit ist die Globalisierung eine sichere Ent- hellung erleben, darf Sie nicht dazu bewegen, vom Kurs (C) wicklung. Die beste Antwort auf die Globalisierung ist der strukturellen Reformen in Deutschland abzugehen; die Schaffung eines großen europäischen Binnenmarktes denn in Wahrheit ist die Lage im Vergleich zu anderen und eine koordinierte europäische Außen- und Wirt- europäischen Ländern noch immer nicht komfortabel, schaftspolitik. Europa ist keine weitere Bedrohung für was allein ein Blick auf die Arbeitslosenstatistik und das Deutschland, sondern unsere Antwort auf den weltwei- Wirtschaftswachstum zeigt. ten Wettbewerb. Es ist in erster Linie kein Risiko, son- Sie haben die Energiepolitik in den Mittelpunkt ge- dern eine Chance für unser Land. stellt. Das ist klug; denn die Energiepolitik ist eine (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Schicksalsfrage nicht nur für Deutschland, sondern ge- der CDU/CSU) rade für das hoch entwickelte Europa insgesamt. Aber dann muss man von Ihnen erwarten, dass Sie in der Deswegen stellt der Binnenmarkt gewissermaßen ein Energiepolitik auch gegenüber solchen Ländern in Eu- Fitnessprogramm für diese Herausforderungen dar. Wir ropa gesprächsbereit sind, die nicht den törichten Aus- werden uns daran gewöhnen müssen, in Deutschland stiegskurs bei der Kernenergie mitmachen wollen. mehr über neue Chancen zu reden statt nur über Risiken. Warum überlassen wir es zum Beispiel Österreich, eine (Beifall bei der FDP) Investitionsbrücke nach Osteuropa zu bauen? Weil in Ihrer letzten Regierungserklärung zu Recht von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den Herausforderungen die Rede war, die durch den Kli- mawandel auf uns zukommen: Es ist ein Fehler, wenn Das könnte doch auch unser nationales Projekt in sich Deutschland in der Energiepolitik verhält wie der Deutschland sein. berühmte Geisterfahrer auf der Autobahn. Alle anderen (Beifall bei der FDP) Länder investieren in die nukleare Kerntechnologie und entwickeln sie weiter, während wir aussteigen wollen. Wenn wir über die Osterweiterung bzw. über die Er- Das ist die falsche Antwort. Wir müssen vielmehr bei weiterung insgesamt reden, dann ist neben all dem, was den Energietechnologien durch einen Mix aus regenera- im Zusammenhang mit Zahlungen und Finanzschlüsseln tiven und konventionellen Energien sowie der Kern- im Laufe der nächsten Monaten ohnehin zu beraten und energie Spitze sein. Wer das ignoriert, der schadet dem vielleicht auch kontrovers zu diskutieren sein wird, eine Klima; denn die CO2-Emissionen können in erster Linie kritische Anmerkung zu einem von Ihnen bereits ange- durch den Einsatz der Kernenergie reduziert werden. sprochenen Punkt erforderlich. Das Allermindeste, was der Deutsche Bundestag hinsichtlich der EU-Ratspräsi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dentschaft von der Bundesregierung erwarten kann, ist, Frau Bundeskanzlerin, im Forschungsbereich, insbe- (B) dass sie sich in wesentlichen Fragen der Europapolitik sondere bei der Bio- und der Gentechnologie, ist es nicht (D) – etwa in der Türkeifrage – innerhalb der Regierung ei- klug – Sie haben in der begrenzten Zeit Ihrer Regie- nig ist. rungserklärung dazu nicht so viel ausführen können; das (Beifall bei der FDP) ist verständlich –, wenn wir Deutschen beispielsweise bei der Stammzellforschung in Europa auf der Bremse Es bleibt ein einmaliger Vorgang, dass der deutsche stehen, anstatt die Chancen für neue Medikamente und Außenminister die eigene Bundeskanzlerin in der Tür- neue Technologien für unser Land zu begreifen. Es ist keipolitik öffentlich per Interview zur Ordnung ruft und nicht etwa das böse Europa, das uns in der Energiepoli- anschließend der Vorsitzende der Unionsfraktion wie- tik oder in der Forschungspolitik behindert. In Wahrheit derum Herrn Steinmeier kritisiert. So etwas verletzt die stehen wir in Deutschland auf der Bremse. Wir sind die- goldene Regel der deutschen Europa- und Außenpolitik. jenigen, die den europäischen Fortschritt behindern. Deswegen sage ich zu denjenigen, die immer davon re- In Wahrheit sind Sie sich nicht einig. Dabei sollte den, dass uns Europa nur Bürokratie bringt: In Wahrheit man von Ihnen Einigkeit erwarten können. Sie schwä- hat die Bundesregierung – beispielsweise beim Antidis- chen mit der Uneinigkeit in der Türkeifrage auch die eu- kriminierungsgesetz – bei dem, was aus Europa gekom- ropäische Verhandlungsposition gegenüber der Türkei. men ist, noch eines draufgesetzt. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Denn es ist völlig klar, dass das Ankaraprotokoll umge- Klagen wir also nicht über Europa, sondern machen wir setzt werden muss. Klar ist auch, dass niemand Mitglied unsere Arbeit in Deutschland! der Europäischen Union werden kann, der nicht wenigs- tens alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorher Sie haben mit der bevorstehenden Präsidentschaft im anerkannt hat. Das kann nicht anders gesehen werden. Rat der Europäischen Union eine große Chance. Es ist eine Chance nicht nur für die Regierung, sondern für un- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ser Land. Weil wir uns alle für unser Land verantwort- der CDU/CSU) lich fühlen, werden wir, die Opposition, Sie bei der EU- Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass man Ratspräsidentschaft nach besten Kräften und im Rahmen Europa nur glaubwürdig führen kann, wenn man selber unserer Möglichkeiten unterstützen. führend ist. Ich kann bei all dem, was Sie sich in Europa Vielen Dank. – zu Recht – vornehmen, nur an Sie appellieren, Ihre Hausaufgaben in der Innenpolitik nicht zu vernachlässi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen. Die Tatsache, dass wir nun eine konjunkturelle Auf- der CDU/CSU) 7216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: der Wirtschafts- und Finanzpolitik durchgängig die rich- (C) Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Eichel, SPD- tigen Entscheidungen getroffen hat. Das ist eine gute Ba- Fraktion. sis für die EU-Ratspräsidentschaft; denn die Erwartun- gen sind hoch. (Beifall bei der SPD) Das kommt auch daher, weil Sie, Frau Bundeskanzle- Hans Eichel (SPD): rin – das bestreitet niemand –, kurz nach der Amtsüber- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nahme geholfen haben, eine sehr schwierige Aufgabe in Herren! EU-Ratspräsidentschaft und G-8-Präsident- Europa, nämlich die Finanzielle Vorausschau von 2007 schaft im nächsten Jahr sind eine große Herausforde- bis 2013, zu lösen. Aber ich sage ausdrücklich – das rung. Dabei ist die Regierung gerade ein Jahr im Amt. müssen wir auch unseren europäischen Partnern sagen –: Ich erinnere mich, dass das bei Rot-Grün noch ein biss- Die Erwartungen könnten auch zu hoch sein, denn es chen knapper war. Die Regierung war erst ein Vierteljahr geht – hier haben Sie Recht, Frau Bundeskanzlerin – im Amt, als sie diese Doppelpräsidentschaft zu schultern künftig in Europa in zentralen Fragen nur gemeinsam, hatte. Frau Bundeskanzlerin, das geschieht in einer Zeit, mit allen 27, voran oder es geht gar nicht voran. Wir sind in der die europäische Lage – das kann Vorteile, aber in vielen Fragen, anders als wir es im Verfassungspro- auch Nachteile haben – durchaus unübersichtlicher ist. zess gewollt haben, in der Situation, dass Entscheidun- Es ist nicht erkennbar, wer von den großen Staaten von gen nur einstimmig getroffen werden können. Wir erle- sich aus eine Führungsrolle in der Europäischen Union ben es ja dieser Tage – ich will das im Moment gar nicht übernehmen könnte. Es ist erfreulich, dass Italien nach kritisieren –, es wird sich zeigen, ob am polnischen Veto einer Reihe von Jahren unter Berlusconi, als es euro- die Aufnahme der Verhandlungen mit Russland über ein päisch eine Nullnummer war, in die Mitte der europäi- Partnerschafts- und Kooperationsabkommen scheitert schen Politik zurückgekehrt ist, obwohl Italien noch eine oder nicht, ob angesichts der zyprischen Politik die wei- Reihe innerstaatlicher Probleme zu bewältigen hat. teren Verhandlungen – das ist Gott sei Dank zurzeit ab- gebogen worden, auch Zypern hat das begriffen – mit (Beifall bei der SPD) der Türkei abgebrochen werden oder nicht. Da zeigt sich Herr Westerwelle, es hat nie eine Achse Paris-Berlin- plötzlich, dass in diesem Europa auch ganz kleine Mit- Moskau gegeben, es war nicht einmal die Rede davon, glieder eine ganz große Rolle spielen können. Deswegen vielmehr hat es über längere Zeit – das gilt zurzeit nicht; ist die Behauptung falsch, Herr Westerwelle, dass sich das bedauere ich; das liegt nicht an Deutschland – einen die Vorgängerregierung nicht um die Kleinen bemüht relativ starken französisch-deutschen Motor in der euro- habe. Ich weiß, wie oft der Bundeskanzler und ich als päischen Integration gegeben. Finanzminister in den Nachbarstaaten der Bundesrepu- (B) blik, und zwar auch in den kleinen Nachbarstaaten, ge- (D) (Beifall bei der SPD) wesen sind. Es gab nämlich einen sehr klugen Satz einer Ich glaube nach wie vor, dass es gut wäre, nicht um hochrangigen Beamtin in diesem Hause, der lautete: andere auszuschließen, aber um Einigungen möglich zu Schaff dir deine Freunde, bevor du sie brauchst; wir machen – hier kann ich nur auf das hinweisen, was Jean- brauchen sie alle. – Das ist völlig richtig. Claude Juncker des Öfteren zu diesem Thema gesagt hat –, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wenn es einen Gleichklang zwischen Paris und Berlin in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zentralen Fragen der Europapolitik gäbe. Aber, meine Damen und Herren, alle müssen ihren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beitrag dazu leisten. Damit sind wir bei dem nächsten der LINKEN) schwierigen Thema, nämlich dem Verfassungsprozess. Deutschland – das ist ein großer Vorteil – ist den Ma- kel, den Stabilitätspakt nicht einhalten zu können, los. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sich ein hohes Ziel Das verbessert – hier hat die Bundeskanzlerin Recht – gesteckt, nämlich vor der Europawahl 2009 klarzuma- natürlich unsere Position in dieser Situation. chen, wie es mit der Verfassung weitergeht, und zwar ge- meinsam, sodass dann die Wähler in Europa wissen, wie Anders, Herr Westerwelle, als Sie sagen, ist inzwi- und unter welchen Bedingungen künftig Europa weiter schen die deutsche Wirtschaft, was das Wachstum be- gestaltet wird, weil es mit den jetzigen Regeln – darüber trifft, mit an der Spitze in der Eurozone und der Europäi- sind sich ja im Grunde alle einig – wohl auf Dauer nicht schen Union. Das kommt daher, weil anders als andere gehen kann. Das, meine Damen und Herren, bedeutet, in den letzten Jahren die deutsche Wirtschaft, aber auch dass alle mitmachen müssen. Bis heute haben 18 Länder die deutsche Politik eine Fülle von Entscheidungen ge- Ja und zwei Länder Nein gesagt. Offen stehen bislang troffen hat, die es jetzt möglich machen, die weltwirt- noch die Voten von sieben Ländern. Ich muss übrigens schaftlichen großen Chancen voll zu nutzen und in Eu- darauf hinweisen, dass von den 18 Ländern, die Ja ge- ropa nachhaltig nach vorne zu gehen, wenn uns nicht sagt haben, sieben Länder das in Kenntnis der negativen externe Probleme, die wir nicht beeinflussen können, Voten von Frankreich und den Niederlanden getan ha- wieder zurückwerfen. ben. Es ist also nicht so, dass der Ratifizierungsprozess danach abgebrochen worden wäre. Alle müssen ihren (Beifall bei der SPD) Beitrag leisten. Deswegen muss man denjenigen, die Es war sowohl die Vorgängerregierung als auch die Nein gesagt haben, auch sagen: Ihr müsst zur Kenntnis große Koalition, die im ersten Jahr ihres Bestehens in nehmen, dass zwei Drittel der Länder Ja gesagt haben, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7217

Hans Eichel (A) und zwar die Hälfte davon in Kenntnis eures negativen Darum geht es, aber nicht darum, dass der eine Arbeit- (C) Votum s. nehmer dem anderen Arbeitnehmer – das betraf die Dienstleistungsrichtlinie – zum Beispiel durch Sozial- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dumping schadet. Es geht auch nicht darum, dass der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine Staat dem anderen Staat durch Steuerdumping das Es ist auch wahr, dass es in Irland und Dänemark Steuersubstrat entzieht. Deswegen sind wir nachdrück- zwei Voten gegeben hat. In diesen Ländern ist dieselbe lich für eine gemeinsame Besteuerungsgrundlage bei Frage nach dem ersten, negativen Referendum noch ein- den Unternehmen. mal gestellt und dann beim zweiten Referendum positiv (Beifall bei der SPD) beantwortet worden. Ich sage nicht, dass das die Lösung sein wird, aber ich denke schon, dass diejenigen, die Ich sage auch ausdrücklich: In der weiteren Entwicklung Nein gesagt haben – das ist ein kleine Minderheit –, das kann ich mir einen gemeinsamen Markt mit 27 unter- in ihre eigenen Erwägungen einbeziehen müssen. Hier schiedlichen Steuersystemen und mit 27 völlig unter- gilt in der Tat: Entweder machen alle mit oder es kommt schiedlichen Sozialsystemen nicht vorstellen. nicht zustande. Das ist die Voraussetzung für den Erfolg. An dem Willen der deutschen Präsidentschaft fehlt es (Beifall bei der SPD) ganz gewiss nicht. Es darf aber auch nicht an dem Willen Dann ist die Freiheit der Betriebe und die Freiheit der jedes einzelnen anderen fehlen. Menschen nicht gewährleistet. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben in der Regierungs- (Beifall bei der SPD) erklärung das europäische Wirtschafts- und Sozial- modell als einen Schwerpunkt der deutschen Präsident- Sie müssen in Europa perspektivisch und bei gleich gu- schaft angesprochen. Zum Sozialmodell wird nachher ter Entwicklung der Staaten auch gleiche Chancen vor- mein Kollege Axel Schäfer einiges sagen. Ich will mich finden. auf die wirtschaftliche Seite konzentrieren. Ja, wir wol- Zweitens. Wir müssen die Strategien zusammenfas- len ein wettbewerbsfähiges Europa, aber Wettbewerbsfä- sen. Es kann nicht sein, dass die Nachhaltigkeitsstrategie higkeit und sozialer Zusammenhalt gehören für uns und von Lissabon und der Stabilitäts- und Wachstumspakt auch für diejenigen, die die Lissabonstrategie erdacht unverbunden und zum Teil widersprüchlich nebeneinan- haben, untrennbar zusammen. der stehen. Das müssen die wirtschaftspolitischen Leitli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nien leisten. Wir haben die Instrumente in Europa und der CDU/CSU) wir haben die Gremien. Das sage ich unseren französi- schen Freunden. Die entscheidende Frage ist, ob die na- (B) Wettbewerb treibt uns nicht auseinander, sondern macht tionalen Staaten und Regierungen bereit sind, die euro- (D) uns gemeinsam stärker und gibt uns die Fähigkeit, auch päische Koordinierung in ihr jeweiliges nationales die Schwächeren mitzunehmen. Das ist die Zielsetzung. Handeln umzusetzen. Nun führen wir in der Tat eine sehr kritische Diskussion in Europa über die Koordinierung der Wirtschafts- und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Finanzpolitik, insbesondere ausgehend von Frankreich. Daraus ergibt sich der europäische Mehrwert, zum Bei- Das wird uns im nächsten Halbjahr auch in der deut- spiel die gemeinsamen Anstrengungen im Bereich For- schen Präsidentschaft erreichen. Dazu muss man einige schung und Entwicklung, die ein zentrales Element der Takte sagen: Lissabonstrategie darstellen. Erstens. Die Lissabonstrategie war am Anfang zu Drittens: Energiepolitik und Klimaschutz. Europa sehr zerfasert. Sie ist inzwischen auf vier Themen kon- muss dabei auch für die Zeit nach 2012 eine führende zentriert. Das ist richtig so. Diese sind: Wachstum und Rolle spielen. Aufgrund der Tatsachen, dass wir erstens Beschäftigung, Innovation, bessere Rechtsetzung und besonders stark vom Import abhängig sind – jetzt Energiepolitik. Man muss an dieser Stelle klarmachen, 50 Prozent, in der Perspektive 70 Prozent unserer Ener- dass die Lissabonstrategie, die Europa zu der wettbe- gie werden importierte Energie sein – und zweitens die werbsfähigsten Region der Welt machen will – ein sehr fossilen Energieträger zur Neige gehen, stehen wir vor hohes Ziel –, fundamental auf der Solidarität der Staaten riesigen Herausforderungen. Die erste Herausforderung aufbaut. Darauf baut Europa überhaupt auf. Das bedeutet haben wir im Innern zu bewältigen. Da ist die allerwich- auch, dass die Reicheren für die Ärmeren in Europa ein- tigste Aufgabe mehr Energieeffizienz. Mit Blick darauf stehen. Dies hat Konsequenzen, die wir klarmachen müssen wir riesigen Druck machen. Das muss eine ge- müssen. Es geht bei der Lissabonstrategie nicht um den meinsame europäische Anstrengung sein. Europa muss Wettbewerb der Staaten, sondern es geht um den Wettbe- an dieser Stelle Vorbild sein und anderen zeigen, wie es werb der Unternehmen. Es geht darum, dass wir alle vo- geht. rangehen. Dann können wir in der Tat sehen, wer der Bessere ist, dann können wir beispielsweise sehen, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir die beste Familienpolitik machen, die besten Schu- Die zweite Herausforderung liegt in der Nutzung der re- len und Hochschulen haben und dass wir die besten For- generativen Energien und dem gemeinsamen Binnen- schungsergebnisse und die beste Umsetzung dieser Er- markt für Gas und Strom. Darüber wird im Einzelnen gebnisse in neue Produkte erzielen. noch zu reden sein. Das bedeutet ausdrücklich auch (Beifall bei der SPD) Wettbewerb. Deswegen muss es möglich sein – das will 7218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Hans Eichel (A) der Bundeswirtschaftsminister, aber auch die Kommis- (Beifall bei der LINKEN) (C) sion –, darüber zu einem gemeinsamen Ergebnis zwi- schen der Bundesregierung und der Kommission zu Oskar Lafontaine (DIE LINKE): kommen. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ren! Die Linke will ein demokratisches und soziales Eu- ropa. Meine Damen und Herren, das hat auch Konsequen- zen nach außen. Wir müssen unsere Bezugsquellen (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ein sozia- diversifizieren: Russland, Norwegen, Nordafrika, der listisches!) Nahe Osten und auch Zentralasien. Das Thema Energie- Der Forderung nach einem demokratischen und sozialen politik ist zu Recht ein zentrales Element der Außenpoli- Europa wird wahrscheinlich jeder in diesem Hause zu- tik. Wir müssen die Beziehungen auf eine sichere Basis stimmen. Wenn ich aber sage, ohne ein soziales Europa stellen. Dazu brauchen wir unter anderem das Partner- gibt es kein demokratisches Europa, dann werden sich schafts- und Kooperationsabkommen mit Russland. Na- die Geister in diesem Hause scheiden. türlich ist uns nicht egal, wie Russland sich im Innern entwickelt; das ist wohl wahr. Aber wir müssen auch (Beifall bei der LINKEN) feststellen, dass Russland immer, die ganzen Jahrzehnte Beginnen wir mit der Demokratie. Es ist öfter über über, ein verlässlicher Partner in der Energiepolitik, bei den so genannten Ratifizierungsprozess gesprochen wor- der Energielieferung war. Zu keiner Zeit haben wir et- den. Aber noch keiner hat die Frage gestellt, wie denn ei- was anderes erlebt. gentlich die Verfassung in Europa verabschiedet werden (Markus Löning [FDP]: Das sieht die Ukraine soll. Ich sage in aller Klarheit, dass für uns nicht so sehr aber anders!) die Frage im Vordergrund steht, wie viele Länder sich wie entschieden haben, sondern die Frage, ob die Bevöl- Wir wollen, dass die Prinzipien der Energiecharta kerung an dem Verfassungsprozess beteiligt worden ist. auch in das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen Ich meine, wenn man ein demokratisches Europa will, aufgenommen werden. Ich denke, es ist vernünftig, eine dann sollte man zumindest bei der Verfassung eine Verflechtung zwischen Russland und der Westeuropäi- Volksabstimmung fordern; denn ohne Volksabstimmung schen Union auch bei der Energieversorgung herbeizu- gibt es kein demokratisches Europa. führen. Wir haben viel an Know-how und Kapital zu bie- ten, das die Russen für ihre Energiepolitik brauchen. Das (Beifall bei der LINKEN) muss auch umgekehrt gelten; eine solche Verflechtung Das gilt im Übrigen nicht nur für den Verfassungspro- (B) kann nie einseitig sein, sondern muss in beide Richtun- zess, sondern im Wesentlichen für alle Entscheidungen, (D) gen gelten. die in den letzten Jahren getroffen worden sind, ob das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Einführung des Euro, der Vertrag von Maastricht oder die Osterweiterung war. Meine Damen und Herren, Was Polen betrifft, müssen wir diesem Land garantie- wir sind der festen Überzeugung, dass man ein demokra- ren, dass es seine Gaslieferung, wenn nicht vom Osten, tisches Europa nicht undemokratisch bauen kann, indem vom Westen bekommt. Das kann überhaupt nicht streitig man ständig über die Köpfe der Bevölkerung hinweg sein. Ich hoffe, dass die finnische Präsidentschaft es entscheidet. noch schafft, das Problem zu lösen. Denn, meine Damen (Beifall bei der LINKEN) und Herren, auch das muss man den Polen sagen: Das Energiethema ist für uns alle zu wichtig, als dass diese Nun muss der Zusammenhang zwischen einem sozia- Frage durch das Veto eines einzelnen Landes über län- len und einem demokratischen Europa nicht unmittelbar gere Zeit verzögert werden könnte. Auch das muss klar einsichtig sein. In dem Verfassungsentwurf wird die atti- sein. sche Demokratie angesprochen. Ich zitiere Perikles, auf den im Verfassungsentwurf konkret Bezug genommen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird: der CDU/CSU) Der Name, mit dem wir unsere politische Ordnung Zum Schluss: Frau Bundeskanzlerin, Sie und das bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegen- ganze Kabinett – und alle anderen wollen sicher gerne heiten nicht im Interesse weniger, sondern der helfen – haben mit der Doppelpräsidentschaft eine rie- Mehrheit gehandhabt werden. sige Aufgabe vor sich. Ich wünsche Ihnen dazu alles Gute und sage ganz ausdrücklich: Die Unterstützung Wenn wir also ein demokratisches Europa bauen wol- ganz gewiss der SPD-Fraktion, aber nicht nur dieser, len, dann müssen wir die Verfassung so gestalten, dass werden Sie bei dieser Aufgabe haben. die Interessen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt werden und nicht die Interessen der Wirt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schaft und im Wesentlichen der Großkonzerne, wie das der CDU/CSU) in den letzten Jahren geschehen ist.

Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN) Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine für Der eine oder andere wird nun sagen, das sei einfach die Fraktion Die Linke. nur dahergesagt und nicht begründbar. Ich möchte ganz Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7219

Oskar Lafontaine (A) deutlich sagen, dass diese Regierung aufgrund ihrer Po- das Steuerdumping in Europa an; wir nötigen sozusagen (C) litik nicht daran mitwirkt, ein soziales und damit ein de- durch unsere verfehlte Politik die anderen europäischen mokratisches Europa zu bauen. Darüber muss geredet Staaten zum Abbau von Sozialleistungen und von öf- werden. fentlicher Leistung. Es gibt in Europa drei Fehlentwicklungen, die dazu (Beifall bei der LINKEN) geführt haben, dass immer mehr Menschen diesen Eini- gungsprozess ablehnen und weiterhin ablehnen werden, Wenn Sie sich die Unternehmensteuern anschauen wenn er wie bisher gestaltet wird. Wir sollten darauf ein- – Sie planen eine weitere Entlastung in Milliarden- gehen. Diese drei Fehlentwicklungen kann man bezeich- höhe –, dann werden Sie feststellen, dass wir zu den nen mit Lohndumping, Sozialdumping und Steuerdum- Ländern gehören, die immer wieder im so genannten ping. Wenn man auf diesem Wege weiter voranschreitet, Standortwettbewerb dafür Sorge tragen, dass die Unter- dann wird man kein soziales und damit kein demokrati- nehmensteuern nach unten gehen. Das hat zur Konse- sches Europa bauen können. quenz, dass die Steuern und Abgaben für die Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer nach oben gehen. Dieses (Beifall bei der LINKEN) Europa wollen wir nicht; wir lehnen es ab. Sie aber brin- Ich beginne mit dem Lohndumping. Hier spielt gen es immer stärker auf den Weg. Deutschland eine wirklich verheerende Rolle. Die letz- (Beifall bei der LINKEN) ten veröffentlichten Zahlen, die jedem zugänglich sind, haben gezeigt, dass die Tarifabschlüsse und die Lohn- Sie sind keinen Argumenten zugänglich. Schauen Sie entwicklung in Deutschland – das muss man unterschei- sich doch einmal die Lohnentwicklung und die Steuer- den – im Vergleich mit allen übrigen europäischen quote an. Unsere Steuer- und Abgabenquote liegt bei Staaten so nachteilig für die Arbeitnehmerinnen und Ar- 34 Prozent. In Europa liegt sie bei durchschnittlich beitnehmer sind, dass die Währungsunion wirklich ge- 40 Prozent. Das ist eine Differenz von 130 Milliarden fährdet ist. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Un- Euro. Ich sage es noch einmal: Wenn wir die Steuer- und sere Dumpingpolitik, die durch immer niedrigere Abgabenquote des europäischen Durchschnitts hätten, Lohnabschlüsse und durch die fortwährende relative wäre keine einzige der umstrittenen Maßnahmen zum Senkung der Lohnstückkosten gekennzeichnet ist, führt Sozialabbau in den letzten Jahren notwendig gewesen. in anderen europäischen Hauptstädten zu Diskussionen. So traurig ist die Wirklichkeit. Auf diese Art und Weise baut man kein gemeinsames (Beifall bei der LINKEN) Europa, sondern man macht eine Dumpingkonkurrenz auf, die zulasten der abhängig Beschäftigten geht. Das Ich komme zum letzten Punkt, zur Außenpolitik. Ich kann kein soziales Europa in unserem Sinne sein. (B) habe sehr erfreut gehört, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, (D) besondere Initiativen im Nahen Osten ergreifen wollen. (Beifall bei der LINKEN) Aber die Frage ist doch: mit welcher Stoßrichtung? Es Wenn man die Lohnkonkurrenz, die das Lohndum- gehört, wenn wir über Europa sprechen, dazu, sich in Er- ping letztendlich verursacht, bremsen wollte, dann innerung zu rufen, dass der Kontinent eine koloniale brauchte man einen Mindestlohn. Wenn Sie Europa Tradition hat, und zwar angefangen von Südamerika wirklich gemeinsam bauen wollen, dann müssen Sie sich bzw. den Conquistadores bis hin zu der Rolle verschie- der Mehrheit der europäischen Staaten anschließen, die dener Länder – auch Deutschlands – in Afrika und jetzt bereits einen Mindestlohn eingeführt haben. Gerade wir im Vorderen Orient. Diese koloniale Tradition ist nicht in Deutschland brauchen diesen Mindestlohn. zu Ende. Es ist nun einmal so, dass es im Vorderen Orient letztendlich nicht um Freiheit und Demokratie (Beifall bei der LINKEN) geht, sondern dass dort, wie beispielsweise John F. Kerry Das Sozialdumping ist ebenfalls seit einer ganzen im letzten Präsidentschaftswahlkampf wörtlich formu- Reihe von Jahren Mode geworden und insbesondere liert hat, amerikanische Soldaten wegen des Öls sterben. durch uns befördert worden, was den luxemburgischen Ministerpräsidenten veranlasste, mit Blick auf die Dis- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) kussion innerhalb der so genannten Christdemokraten zu Aber eine Außenpolitik, die auf Rohstoffimperialismus sagen: Europa kann man nicht bauen, wenn man einen fußt, kann niemals zum Weltfrieden beitragen. Wettbewerb veranstaltet, wer Arbeitnehmerrechte, ins- besondere den Kündigungsschutz, am schnellsten ab- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert baut. – Es wäre gut, wenn sich solche Einsichten auch Winkelmeier [fraktionslos]) einmal in der CDU/CSU-Fraktion durchsetzen würden. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir sind am (Beifall bei der LINKEN) Irakkrieg beteiligt. Man kann natürlich darüber lachen, dass man das Völkerrecht bricht und an einem solchen Neben Lohndumping und Sozialdumping haben wir Krieg beteiligt ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat Steuerdumping. Es ist aber nicht so – der Kollege Ei- festgestellt, dass wir an diesem Krieg beteiligt sind, weil chel hat dies so dargestellt –, dass wir die unschuldigen wir die Nutzung deutscher Flughäfen ermöglichen, In- Opfer dieser Entwicklung sind. Ich würde das zwar frastruktur bereitstellen, Geleitschiffe entsandt haben gerne feststellen, aber die Zahlen sagen etwas anderes: usw. usf. Unsere Steuerquote wird gerade noch von der eines klei- nen Staates unterboten. Ansonsten liegen wir hinsicht- (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Herr lich der Steuerquote ganz unten in Europa. Wir stoßen Präsident, bei welchem Thema sind wir?) 7220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Oskar Lafontaine (A) Frau Bundeskanzlerin, wir hätten gerne von Ihnen ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) hört, ob Sie im Vorderen Orient weiter Außenpolitik in neten der SPD – Beifall bei der FDP) dieser Tradition betreiben wollen oder ob Sie sich end- lich von einer verfehlten Außenpolitik lösen wollen, die Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns al- auf imperialen Zielen aufbaut und deshalb niemals im len in einer großartigen Regierungserklärung Nahen Osten zu Frieden führen kann. (Lachen bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Mut gemacht in Bezug auf das, was wir im kommenden Winkelmeier [fraktionslos]) Halbjahr während der deutschen Präsidentschaft für Eu- Man kann die Tatsachen, die Lohnentwicklung, die ropa und Deutschland bewegen wollen. Entwicklung der Sozialsysteme, die Entwicklung der (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Wie viele Steuersysteme und die Ergebnisse einer völlig verfehlten Blockflöten habt ihr denn?) Außenpolitik, ignorieren. Wir stimmen zu, dass Europa einen besonderen Auftrag hat. Die besondere Aufgabe Sie haben gesagt: „Europa gelingt gemeinsam.“ Ich füge besteht darin, ein Europa zu schaffen, das sozial und de- hinzu: Es gelingt gemeinsam, wenn wir den Menschen mokratisch ist und dem Frieden dient. Vertrauen und Verlässlichkeit als Grundlage eines gelin- genden Europas vermitteln können. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Fangen Sie mal an!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dass wir daran arbeiten müssen, lehren uns die Erfah- Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Peter Ramsauer, rungen, die wir mit dem europäischen Verfassungsver- CDU/CSU-Fraktion. trag gemacht haben. Die Bürgerinnen und Bürger in (Beifall bei der CDU/CSU) Frankreich und Holland haben in den jeweiligen Refe- renden nicht etwa deshalb Nein zum Verfassungsvertrag gesagt, weil sie den Entwurf von der ersten bis zur letz- Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): ten Seite durchstudiert haben. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon inte- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Doch! In ressant, Herr Kollege Lafontaine, Ihnen zuzuhören. Frankreich lag das auf jedem Schreibtisch! – Weitere Zurufe von der LINKEN) (Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE (B) LINKE]) Sie haben deshalb Nein gesagt, weil sie ein mulmiges (D) Gefühl hatten, weil Vertrauen und Verlässlichkeit nicht – Ja, es ist interessant; aber gleich werden Sie nicht mehr gewährleistet waren, weil für sie Europa nicht mit einer klatschen. – Lieber Herr Kollege Lafontaine, Sie sitzen glänzenden und guten Zukunft verbunden war, sie kei- mit den Nachfolgern von Sozialisten und Kommunisten nen Nutzen für den einzelnen Bürger sahen, wie Sie es, in einem Fraktionsboot Frau Bundeskanzlerin, angesprochen haben, und sie die (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie doch Europäische Union mit ausufernden Bürokratismen, Un- auch!) übersehbarkeiten und mit der unbeantworteten Frage in Zusammenhang gebracht haben, wie weit die Europäi- und kommen uns mit Belehrungen über Demokratie in sche Union eines Tages gehen wird, wo die Grenzen Deutschland und Europa. festgelegt werden. Das sind Fragen, mit denen wir uns (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- konstruktiv auseinander setzen müssen. neten der FDP – Oskar Lafontaine [DIE (Beifall bei der CDU/CSU) LINKE]: Heuchler! Wie viele Blockflöten habt ihr denn?) Dazu gehört auch die Frage, was mit der von uns vor wenigen Wochen im Deutschen Bundestag im Zusam- Ich möchte Ihnen etwas ins Stammbuch schreiben, was menhang mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens der Kollege Westerwelle vorhin vollkommen richtig ge- gestellten Forderung geschieht. Wir als Deutscher Bun- sagt hat: Sie haben nicht kapiert, dass es hier nicht um destag haben Ja zum Beitritt dieser beiden Länder zum die Koalition oder die Opposition geht, sondern um 1. Januar des kommenden Jahres gesagt. Aber wir haben deutsche und europäische Interessen und darum, dass auch klare Bedingungen formuliert. Ich möchte einen Europa eine gute Zukunft in der Welt hat. entscheidenden Satz aus der Entschließung vorlesen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben beschlossen: Noch etwas gehört gesagt – wenn ich an Ihre Person, Der Deutsche Bundestag … hält vom Beginn des Herr Lafontaine, anknüpfen darf –: Wenn Leute wie Sie, Beitritts an Schutzmaßnahmen für erforderlich, Herr Lafontaine, die wie sonst niemand die deutsche sollten die von der Kommission genannten Defizite Wiedervereinigung bekämpft haben, in Deutschland die nicht bis zum 1. Januar 2007 beseitigt sein. politische Oberhand behalten hätten, dann wären wir mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der europäischen Einigung nicht da, wo wir heute Gott sei Dank sind. Ich kann nur sagen: Wir meinen das ernst. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7221

Dr. Peter Ramsauer (A) Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, trittsverhandlungen eingeleitet worden sind, obwohl (C) dass Sie dies gleich danach in einem Brief dem Präsiden- diese Vorbedingung nicht erfüllt war, dann muss das ent- ten der Europäischen Kommission, Barroso, mitgeteilt sprechend Berücksichtigung finden. haben. Wir sind alle auf die Antwort gespannt. Ich Wir nehmen natürlich zur Kenntnis, dass es im Inne- möchte mir das ganz genau ansehen. Barroso muss na- ren der Türkei Widerstände gibt, dass es unglaublich türlich dazu Stellung nehmen, ob die Beitrittskriterien schwierig ist, diese Nation nach Europa zu führen. Die jetzt erfüllt sind oder nicht. Wenn in dem Antwortbrief Türkei befindet sich nämlich in einem großen Dilemma: festgestellt wird, dass die Beitrittskriterien erfüllt sind, In der Türkei gibt es nicht nur eine horizontale kultu- dann ist es gut. Wenn aber in ihm steht, dass die Bei- relle Vielfalt – das ist für europäische Länder normal –, trittskriterien nicht erfüllt sind, dann müssen nach unse- sondern auch eine vertikale kulturelle Vielfalt im histori- rer Auffassung diese Schutzmechanismen aktiviert wer- schen Längsschnitt. Ich kenne die Türkei gut genug, um den. Wenn Barroso sagen sollte, dass die Kommission sagen zu können, dass dort – zwischen Istanbul im Wes- die Schutzmechanismen trotzdem nicht einleitet, dann ten und Ostanatolien – die Kulturen verschiedener Jahr- riskiert die Kommission ein Vertrauenszerwürfnis zwi- hunderte wie im Zeitraffer im Hier und Jetzt nebeneinan- schen ihr auf der einen Seite und dem Deutschen Bun- der stehen. Für die Türkei ist es ungeheuer schwierig, destag auf der anderen Seite. alles, was damit zusammenhängt, zu bewältigen. (Beifall bei der CDU/CSU – (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das geht den [SPD]: Das ist reine Spekulation!) Bayern doch genauso!) Wir müssen hier eine klare Sprache sprechen, wenn wir Es wäre aber vollkommen falsch, wenn die Europäische uns selbst ernst nehmen wollen und wenn wir den Bür- Union das als Begründung dafür heranziehen würde, in gern in Europa Vertrauen und Verlässlichkeit vermitteln ihrem Verhandlungsgebaren nachgiebiger zu werden. wollen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Etwas Ähnliches gilt für die Türkei. Auch die Türkei muss wissen, dass wir auf der Grundlage von Vertrauen Dieses Unvermögen der Türkei bzw. das Dilemma, in und Verlässlichkeit handeln. Die Türkei muss sich auf dem sie steckt, darf nicht zur Forderung nach einer Ver- das Verhandlungsgebaren der Europäischen Union ver- handlungsnachgiebigkeit führen. Es muss vielmehr zu lassen können. der Frage führen, ob eine Vollmitgliedschaft der Türkei angesichts dessen überhaupt – auch für die Türkei – die (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das ist ein Ver- adäquate Lösung ist, ob eine andere Form der allerengs- sprechen seit 40 Jahren!) ten Anbindung an Europa nicht im ureigenen Interesse (B) – Das, was ich hier sage, haben wir bei allen so gehalten, der Türkei liegt. Wir stoßen die Türkei nicht zurück, wir (D) die, von den ursprünglichen sechs abgesehen, der EU strecken die Hand zu einer ganz besonders engen Part- beigetreten sind. nerschaft aus. Ich glaube, die Türkei täte sich im Hin- blick auf ihren inneren Frieden, auf das Bewahren ihrer Wenn ich Bulgarien und Rumänien hinzunehme, sind inneren Kohäsion und ihrer kulturellen Traditionen ei- es 21 Länder, die beigetreten sind. Sie alle haben das nen Gefallen, wenn sie nicht sofort dem Acquis com- Rechtsstatut, den so genannten Acquis communautaire, munautaire beitreten würde; denn eine Vollmitglied- immer eingehalten bzw. es gab gewisse festgelegte schaft verlangt einem Staat viel ab. Übergangsfristen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Natürlich muss sich auch die Türkei als verlässlicher Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und vertrauenswürdiger Verhandlungspartner erweisen NEN]: Was heißt denn das, was Sie da erzäh- und die Zusagen einhalten, die sie gegeben hat. len, Herr Ramsauer? – Klaus Uwe Benneter (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) [SPD]: Hier ist aber eine andere Debatte ange- sagt!) Ich bin deshalb froh, dass die Außenminister am vergan- Wir müssen bei der Erweiterung der EU natürlich da- genen Montag konsequent Schlussfolgerungen daraus rauf achten, dass sie auf lange Sicht sinnvoll und sinn- gezogen haben, dass das Ankaraprotokoll, zu dessen stiftend ist und das erfüllt, was die Bürger in Europa er- Einhaltung sich die Türkei verpflichtet hat – das hat die warten. Dazu gehört auch die Frage, wie es auf dem Bal- Frau Bundeskanzlerin ausgeführt –, nicht erfüllt worden kan weitergeht. Ich möchte hier ausdrücklich feststellen, ist. Die Konsequenzen, die die Außenminister beschlos- dass es jetzt vollkommen klar ist, dass die Beitrittsver- sen haben, sind aus unserer Sicht das Mindeste, was als handlungen mit Kroatien abgekoppelt sind und nicht Antwort erforderlich war. mehr, wie es einmal versucht worden ist, im Gleich- Noch einmal zur Klarstellung: Die Erfüllung des An- schritt mit den Verhandlungen mit der Türkei laufen. karaprotokolls allein reicht noch nicht für eine Vollmit- Kroatien hat eine exzellente Beitrittsperspektive. gliedschaft. Klarer ausgedrückt: Ohne die Einhaltung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) des Protokolls ist die Mitgliedschaft nicht möglich. Die Einhaltung des Ankaraprotokolls war überhaupt die Vor- Wir müssen aber klar machen – vielleicht muss das bedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlun- im Rahmen des Verfassungsvertrages in nicht allzu fer- gen. Wenn entgegenkommenderweise – ich verweise ner Zeit beschlossen werden –, dass es auf Dauer nicht noch einmal auf Verlässlichkeit und Vertrauen – die Bei- angeht, dass kleine Länder eine x-beliebige staatliche 7222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Peter Ramsauer (A) Zellteilung betreiben – auf dem Balkan gab es jüngst ein Wenn man es mit dem Unterbinden der Bürokratie (C) solches Referendum – und trotzdem die vollen Rechte ernst meint, dann muss man dies an ganz konkreten eines souveränen Staates in der Europäischen Union in Punkten festmachen, so wie wir dies jetzt mit der Ableh- Anspruch nehmen wollen. Dafür haben die Menschen in nung der Umsetzung der verrückten Feuerzeugverord- Europa auf Dauer kein Verständnis. nung in deutsches Recht getan haben. Wer selbst Erfah- rungen mit Kindern hat, der weiß, dass man noch so (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) viele Versuche mit Hundertschaften von Kindern und Wenn wir über den Verfassungsvertrag sprechen, ist Feuerzeugen machen kann: Die Kinder sind nicht so es wichtig, Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dafür zu dan- dumm, ken, dass Sie vor wenigen Wochen noch einmal voll- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Arbeitgeber auch kommen unmissverständlich klar gemacht haben, dass nicht beim Antidiskriminierungsgesetz!) wir – ich spreche hier für meine Fraktion – einen Got- tesbezug in der Präambel des Verfassungsvertrages als dass sie damit nichts anrichten könnten. – Hier ist wollen. Dazu stehen wir und daran lassen wir uns mes- Vernunft angesagt. Denen in Brüssel, die an den Normen sen. arbeiten, möchte ich eines ins Stammbuch schreiben: Meine Damen und Herren in Brüssel, spart euch etwas (Beifall bei der CDU/CSU) von der intellektuellen Kälte! Mit mehr Herz und Ver- Im kommenden Halbjahr stehen viele wichtige Pro- stand gewinnt ihr eher das Vertrauen der Menschen in jekte auf der Tagesordnung: die Entscheidungsverfahren Europa als mit bürgerferner intellektueller Kälte. verbessern, eine glaubhafte Subsidiaritätsstruktur entwi- (Beifall bei der CDU/CSU) ckeln und vor allen Dingen die Liberalisierung der Energiemärkte weiterbetreiben. Hier haben wir einen er- In wenigen Monaten feiern wir in Deutschland das heblichen Nachholbedarf. Ich danke dem Bundeswirt- Jubiläum der Römischen Verträge. Dieses Ereignis im schaftsminister an seinem heutigen Geburtstag vielmals wiedervereinigten Deutschland und gerade hier in Berlin dafür, mit welch unglaublicher Energie er auf die weitere unterstreicht wie kein anderes Symbol, wie sehr Europa Liberalisierung der Energiemärkte in Europa, aber auch einig geworden ist. Es zeigt auch, dass wir in diesen in weltweiten Zusammenhängen hinwirkt. sechs Monaten eine ganz exzellente Chance haben – vor allem durch die Koppelung von EU-Ratspräsidentschaft (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast und G-8-Präsidentschaft –, das Vertrauen in uns und un- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von wem re- sere Verlässlichkeit den Sie?) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Endlich einmal (B) Ich habe gesagt, dass wir auf diesem Gebiet einiges etwas Positives!) (D) nachzuholen haben. Ich kann mich gut an die Zeit vor zehn Jahren erinnern, als wir die Liberalisierung der in den Augen unserer Bürger wieder zu fördern und zum Energiemärkte in Europa auf Grundlage der Liberali- Teil wiederherzustellen, aber auch das Vertrauen und die sierungsrichtlinie angegangen sind. Ich habe damals im- Verlässlichkeit zwischen Deutschland, Europa und der mer gesagt: Wir können nur Ja zur Liberalisierung sagen übrigen Welt. – wir Deutsche haben sie übrigens als Allererste konse- Vielen herzlichen Dank. quent durchgeführt, und zwar auf allen Spannungsebe- nen, energiewirtschaftlich betrachtet – unter der Vorbe- (Beifall bei der CDU/CSU) dingung, dass Frankreich ein Entflechtungskonzept für die EDF vorlegt. Das ist bis heute nicht geschehen. Es Präsident Dr. Norbert Lammert: wäre richtig gewesen, wenn wir das damals wesentlich Bevor ich dem Kollegen Keskin das Wort zu einer konsequenter eingefordert hätten. Jetzt müssen wir die Kurzintervention erteile, möchte ich dazu ermahnen, bei Hausaufgaben erledigen. Zwischenrufen, die hier oben nicht immer zweifelsfrei zu identifizieren sind – schon gar nicht, wenn sie alle Wir müssen das Problem der Produktpiraterie ange- gleichzeitig erfolgen –, bewährte parlamentarische Um- hen und Entbürokratisierung durchsetzen. Dies be- gangsformen einzuhalten. Gelegentlich, Herr Kollege ginnt damit, dass das Entstehen neuer Bürokratie in Lafontaine, gibt es Formulierungen, die wir hier eher zu Brüssel unterbunden wird. vermeiden bemüht sind. (Beifall bei der CDU/CSU) (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Herr Präsi- In dieser Hinsicht verspreche ich mir viel von den neuen dent, wir müssen mal über Ihre Geschäftsfüh- Verzahnungen der Informationsstränge; dadurch wird rung reden! – Dr. Diether Dehm [DIE uns dies besser gelingen. LINKE]: Sie haben immer den Herrn Lafon- taine auf dem Kieker!) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Es sind nur sechs Monate, keine sechs Jahre!) – Noch vorsichtiger ließ sich das kaum formulieren, als ich es gerade getan habe. – Man kann zumindest Zeichen setzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Im Zeichen- neten der FDP – Hartmut Koschyk [CDU/ setzen seid ihr groß!) CSU]: Getroffene Hunde bellen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7223

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Nun hat der Kollege Keskin Gelegenheit zu einer (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Redne- (C) Kurzintervention. rin ist zu klein! – Gegenruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist ja un- Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): glaublich!) Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Dr. Ramsauer, Sie haben in Bezug auf das Verhalten der Türkei gegen- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): über der EU von Verlässlichkeit und Vertrauen gespro- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun- chen. Hier gebe ich Ihnen Recht. Aber meinen Sie nicht, deskanzlerin, die Herausforderungen angesichts der EU- dass dies nicht auch für Ihre Verlässlichkeit, für die Hal- Ratspräsidentschaft, die Deutschland ab dem 1. Januar tung Ihrer Partei und die des Vorsitzenden der CSU, 2007 innehaben wird, sind groß. Deutschland erwartet Herrn Stoiber, zu gelten hat, der sich trotz der vertragli- und wir erwarten von Ihnen, dass Sie konkret sagen, in chen Vereinbarung, dass mit der Türkei Beitrittsverhand- welche Richtung Sie gehen wollen, welche Instrumente lungen geführt werden, immer wieder gegen einen EU- Sie nutzen wollen, mit wem Sie Bündnisse schließen Beitritt der Türkei ausspricht und dieses Vertrauen und wollen und wie Sie Ihre Ziele erreichen wollen. Aber ich diese Verlässlichkeit somit in hohem Maße verletzt? muss Ihnen, Frau Merkel, sagen: Sie haben Ihre Ziele nicht konkret benannt. Ihre Rede war seltsam, blutleer Zur Verlässlichkeit gehört auch, dass die EU ihre Zu- und dürftig. sicherungen gegenüber der Türkei erfüllen muss. Die Frau Bundeskanzlerin und Herr Westerwelle haben in ih- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren Reden aber nur den einen Teil der Wahrheit gesagt. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zum anderen Teil der Wahrheit gehört, dass im Gegen- Sie reden immer im Ungefähren. Man kann heute zug zur Zusicherung der Türkei, das Ankarazusatzproto- feststellen, dass Sie im Hinblick auf die deutsche EU- koll auf Südzypern auszudehnen, die EU direkte Han- Ratspräsidentschaft, die in den nächsten Tagen beginnt, delsbeziehungen mit Nordzypern, dem türkischen Teil nicht gut aufgestellt sind. Warum? Üblicherweise trägt Zyperns, aufnimmt und das Embargo bzw. die Isolation jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union, bevor er die dieses Teils Zyperns beendet. Hiervon ist aber überhaupt EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, dafür Sorge, dass er keine Rede. Die Umsetzung dieser Vereinbarung ist bis- selbst in keine Konflikte verwickelt ist, seine eigenen lang ausgeblieben. Diese Umsetzung aber hat die Türkei Probleme gelöst hat und seine Hausaufgaben gemacht verlangt. hat. Sie aber übernehmen die Präsidentschaft vor dem Die linke Fraktion legt sehr großen Wert auf Gerech- Hintergrund eines blauen Briefs aus Brüssel zum Emis- tigkeit. sionshandel, einer Abmahnung bezüglich der Reduzie- (B) rung der Treibhausgasemissionen und einer, wie ich (D) (Widerspruch bei der CDU/CSU – Gunther finde, wirklich unnötigen Eskalation bei den Verhand- Krichbaum [CDU/CSU]: So wie mit den Ar- lungen mit der Türkei, zu der Sie persönlich beigetragen meniern, indem Sie den Genozid leugnen?) haben. Ich meine, Sie haben einen Klotz am Bein und Dazu gehört nicht nur Gerechtigkeit gegenüber Men- genau an der Stelle müssen Sie nachbessern. schen, sondern auch Gerechtigkeit gegenüber anderen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ländern. In Ihrer Rede fehlte es an Konkretisierung. Ich will Danke sehr. Ihnen einmal sagen, was wir erwarten, und dabei von au- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – ßen nach innen gehen. Frau Merkel, Sie sagen hier mit Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Was ist großer Weltsicht: Wir müssen Afrika helfen, sich zu ent- denn mit Armenien und dem Genozid? – Ge- wickeln in Frieden und Wohlstand. – Wie kann man Af- genruf des Abg. Dr. Hakki Keskin [DIE rika helfen wollen, ohne heute hier das Wort „Darfur“ LINKE]: Darüber können wir reden! – auszusprechen? Eine Lösung für diesen Konflikt gehört Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Herr Lam- doch zu einem solchen Konzept dazu. mert, das mit dem Genozid in Verbindung zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bringen, wäre auch einmal eine vorsichtige Formulierung wert!) Wir können – das wissen wir doch – Afrika nur helfen, wenn wir ihm helfen, sich wirtschaftlich zu entwickeln, sich politisch weiter zusammenzuschließen. Wir können Präsident Dr. Norbert Lammert: Afrika nicht helfen, indem wir einfach zur Kenntnis neh- Ich sehe mir das gerne im Protokoll an. men, dass pro Jahr mehr als tausend Menschen an den eu- Besteht der Wunsch zu einer Erwiderung? – Das ist ropäischen Außengrenzen oder auf hoher See versterben, nicht der Fall. ertrinken. Wir können als Antwort nicht die Polizeifes- tung Europa dagegensetzen, sondern da müssen Sie, Frau (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Worauf soll Merkel, ein Konzept zur Entwicklung Afrikas vorlegen. man denn hier erwidern, Herr Präsident?) Sie müssen aber auch sagen, wie die Migrations- und Flüchtlingspolitik für Europa aussehen soll. Das wäre Dann erteile ich als nächster Rednerin der Kollegin eine Antwort und nicht nur das Ungefähre. Renate Künast für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 7224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Renate Künast (A) Wir erwarten von Ihnen auch, dass das Gerede über und ihnen eine Perspektive geben. Deutschland ist spät (C) die Türkei endlich aufhört. Ich muss ehrlich sagen, ich genug dran. wundere mich über die Rede von Herrn Ramsauer. Herr Ramsauer, wie kann man eigentlich bei weit mehr als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zehn Minuten Redezeit der draußen staunenden Öffent- Ich will noch zwei Dinge nennen, die wir erwarten. lichkeit immer nur Bedenken und Kritik im Hinblick auf Wir erwarten, dass im Bereich Klima- und Energiepoli- einen Beitritt der Türkei vermitteln? tik in dieser Dekade tatsächlich Schritte unternommen (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das war die werden. Obwohl Sie viele allgemeine Punkte benannt ausgestreckte Hand! Sie haben nicht aufge- haben, Frau Merkel, ist mir nach Ihrer Rede immer noch passt!) unklar, wen Sie eigentlich unterstützen. Unterstützen Sie , der 30 Prozent weniger Emissionen Das ist ein Fehler, das ist populistisch und das ist das Ge- will? Oder unterstützen Sie Günter Verheugen, der genteil von dem, was Ihr früherer Bundeskanzler Helmut 15 Prozent weniger Emissionen will? Kohl einmal als Perspektive für die Türkei eröffnet hat, (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Bei im deutschen Interesse und im europäischen Interesse. was?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genau davon hängt ab, ob Europa seine Klimaziele er- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) reicht, ob Europa eine Vorreiterrolle haben kann. Nur Sie haben sich selber entlarvt – nicht dass wir es nicht wenn Sie endlich aussprechen: „Minus 30 Prozent bei schon vorher gewusst hätten –, indem Sie, nachdem Sie den Emissionen“, sind Sie überhaupt in der Lage, in so breit die Probleme eines Beitritts der Türkei erörtert Europa oder auf dem G-8-Gipfel eine Vorreiterrolle ein- haben, bei Kroatien als guter Katholik gleich Ja gesagt zunehmen. haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Michael Glos [CDU/CSU]: Ist das eine Stattdessen stehen Sie hier mit einem blauen Brief und Schande, ein guter Katholik zu sein?) haben ein Abmahnungsverfahren am Hals. Und da sagen Ich will gar nicht negieren, dass Kroatien weit entwi- Sie uns, man müsse auch weitere Schritte einleiten! In ckelt ist. Aber, Herr Ramsauer, so kann man Europa, die der Tat, Frau Merkel, wir brauchen weitere Schritte. Erweiterung der Europäischen Union und eine europäi- Doch um diese Schritte überhaupt machen zu können, sche Nachbarschaftspolitik nicht entwickeln; damit müssen wir den Verkehr in den Emissionshandel einbe- kommen Sie den europäischen Interessen nicht nach. ziehen und wir müssen überlegen, ob Europas internes (B) Kontrollsystem in Sachen Klima und Ökologie hinrei- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chend ist. sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So, so!) Nach vielen Jahren gegenteiliger Arbeit durch die CDU/CSU-Fraktion hat Frau Merkel heute hier gesagt Frau Merkel, Sie haben meines Erachtens ordentlich – ich freue mich, dass Sie das angesprochen haben –, auf den Tisch geschlagen – allerdings in einem negati- auch im internationalen Welthandel müssten soziale und vem Sinne –, als es um die Türkei ging. Wir sind, ehrlich ökologische Kriterien verankert werden. gesagt, froh, dass sich an dieser Stelle nicht Sie in Brüs- sel durchgesetzt haben, sondern Ihr Außenminister, Herr (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das Steinmeier. haben wir immer gesagt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Darauf kann ich nur sagen: Sie sind endlich angekom- Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das wusste der men. Aber wenn Sie das erreichen wollen, dann müssen Steinmeier noch gar nicht! Dem Steinmeier ist Sie erst einmal einen großen Schritt in Europa gehen. neu, dass er sich durchgesetzt hat!) Danach gehen wir mit Ihnen gerne einen Schritt weiter, wenn es darum geht, dass im WTO-Handel ökologische Wir erwarten von der deutschen Präsidentschaft ein und soziale Kriterien verankert werden. Das fehlt bisher. aktives Engagement hinsichtlich des Nahen Ostens. Die WTO legitimiert in Wahrheit nur Raubbau. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Gibt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es auch ein passives Engagement?) Wir erwarten von Ihnen, Frau Merkel, dass Sie bei der Wir erwarten, dass Europa seiner Verpflichtung nach- Weiterentwicklung der Bereiche Justiz und Inneres kommt, zum Frieden im Nahen Osten beizutragen. Es darauf achten, dass es auch in Zukunft noch Daten- darf hier nicht passieren, dass man sich hinter dem inter- schutz- und Verteidigungsrechte gibt. Dazu haben Sie nationalen Desinteresse, zum Beispiel der USA, ver- kein Wort gesagt. Wir reden hier über eine Weiterent- steckt. Deutschland muss an dieser Stelle mehr als koor- wicklung im Asylbereich, was das Thema Migranten be- dinieren. Deutschland darf nicht einfach sagen, der trifft, und über eine Zusammenarbeit in den Bereichen Besuch von Herrn Steinmeier in Syrien sei eine unge- Inneres und Justiz. Aber Sie haben am Ende nur einen wöhnliche Maßnahme gewesen. Das hört sich an wie internationalen Datenaustausch zu bieten, der Zugriff auf eine Distanzierung Frau Merkels. Wir sagen ganz klar: sämtliche nationale Datenbanken innerhalb der Europäi- Man muss mit diesen Ländern reden, auch mit Syrien, schen Union ermöglicht. Dazu kann ich nur sagen: Es ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7225

Renate Künast (A) nicht unsere Vorstellung von Europa, dass wir den glä- Wir stehen auch in der Kontinuität zur Politik von (C) sernen europäischen Bürger bekommen. Bundeskanzler 1994. Damals haben wir er- hebliche Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sicherheitspolitik erreicht. An Gesetzen wurde die Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum Thema Richtlinie über Europäische Betriebsräte verwirklicht. Römische Verträge sagen. Wir werden im März des Es wurde das gemeinsame kommunale Wahlrecht für kommenden Jahres die Feierlichkeiten zu 50 Jahren Rö- alle Bürgerinnen und Bürger realisiert. – Die Ratspräsi- mische Verträge und Euratom begehen. Wir müssen der dentschaften 1994 und 1999 waren Erfolge, auf denen Europäischen Union einen Sinn einhauchen. Die Men- wir aufbauen werden. schen im Lande fragen sich, wozu sie die Europäische (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Union brauchen. Keiner glaubt heute mehr, dass diese der CDU/CSU) Europäische Union dazu da sein soll, der „Subventioni- tis“ zu frönen. Keiner glaubt heute mehr, dass sie dazu Dazwischen liegen 13 Jahre. Bis 2007 wird die Zahl da ist, dass weiterhin Kohle produziert und verwendet der Mitgliedsländer der EU von zwölf auf 27 wachsen. wird. Keiner glaubt heute mehr – das richte ich beson- Wir haben eine gemeinsame Währung und entscheiden ders an Sie, Herr Westerwelle –, dass unsere Zukunft in gleichberechtigt im Europäischen Parlament. Diese Er- der Atomenergie liegt. folge und diese Dimension müssen wir uns deutlich ma- chen, auch wissend, dass die darauf folgende Ratspräsi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu- dentschaft – das ist die Dimension – erst wieder in ruf des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP]) 13 Jahren, nämlich 2020, sein wird. – Bis auf einen Geisterfahrer, sage ich Ihnen. Was sind nun die besonderen Herausforderungen während unserer Ratspräsidentschaft? Frau Merkel, wir brauchen eine gemeinsame Außen- politik, um die Weltwirtschaft und den Weltmarkt beein- Erstens wird es darum gehen, Wirtschaft, Soziales flussen zu können. Wir brauchen in der EU ein Zusam- und Ökologie zusammenzuführen. Wir als Sozialdemo- menleben der Religionen. Darüber müssen wir reden kratinnen und Sozialdemokraten sagen: Entscheidend und dürfen niemanden ausgrenzen. Wir brauchen eine ist, dass wir das europäische Sozialmodell weiterentwi- öffentliche Debatte über Europa im Bundestag und in ckeln. der Gesellschaft. Frau Merkel, Sie haben in Ihrem letz- ten Satz gesagt, dass Sie genau das anbieten. Ich sage in (Beifall bei der SPD) meinem letzten Satz: Wir sind bereit, über ein offenes Wir müssen das noch einmal ins Bewusstsein rücken: Europa zu diskutieren, das seine Aufgaben beim Thema (B) Das europäische Sozialmodell basiert auf starken Ge- (D) Klimaschutz und Soziales erledigt. Aber dann dürfen Sie werkschaften – Ordnungsfaktor und Gegenmacht –, auf nicht in einer Art klandestiner Politik eine Berliner Er- Gleichberechtigung – Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf klärung vorbereiten, bei der nicht einmal der Deutsche gleicher Augenhöhe –, auf Solidarität und auf staatlicher Bundestag einbezogen wird. Lassen Sie uns gemeinsam Mitverantwortung. Es ist das Gegenteil von kalter Glo- daran arbeiten! Aber dazu gehört auch eine offene Dis- balisierung und Ellenbogengesellschaft. Europa funktio- kussion. niert nur als Sozialgemeinschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Deshalb ist das, was sich die Bundesregierung kon- Präsident Dr. Norbert Lammert: kret in diesem Bereich vorgenommen hat, gut: Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die SPD-Fraktion. Erstens. Wir fordern die Kommission auf, sicherzu- stellen, dass die Gesetze auch auf ihre sozialen Auswir- (Beifall bei der SPD) kungen hin und nicht nur hinsichtlich einer allgemeinen Realisierung des Binnenmarktes konzipiert werden. Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Zweitens. Wir setzen die Beschäftigungsstrategie fort. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu- Drittens. Wir werden dort weiterhin erfolgreich sein, wo ropa gelingt gemeinsam in der deutschen Ratspräsident- wir bisher schon am meisten geleistet haben, nämlich im schaft mit dieser großen Koalition. Gesundheits- und Arbeitsschutz. Viertens. Mit einem Programm für die Jahre 2006 bis 2010 entwickeln wir Wir werden uns dabei in die Tradition deutscher Rats- weitere Konzepte für die Gleichstellung von Männern präsidentschaften stellen. Ich möchte kurz die beiden und Frauen. letzten nennen: (Beifall bei der SPD) Während der Ratspräsidentschaft 1999 unter Bundes- Fünftens. Wir sind auch mit speziellen Maßnahmen zur kanzler Gerhard Schröder waren wir außergewöhnlich Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit aktiv. erfolgreich. Ich denke nur an die Beauftragung eines Konvents zur Ausarbeitung der Grundrechtecharta, an Das alles sind wichtige und zentrale Bereiche für uns die Lösung des Kosovokonflikts, an die Bewältigung der und das werden auch die Sozialdemokraten in der Bun- Kommissionskrise und an die Einigung über die Agenda desregierung, ihre Ministerinnen und Minister tragen. 2000. Möglich wurde das erst, weil wir es unter deutscher 7226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Axel Schäfer (Bochum) (A) Mitwirkung bei der Gestaltung der Finanzvoraus- sein – indem wir zu einem Interessenausgleich kommen (C) schau 2013 im letzten Jahr geschafft haben, dass in die- und indem wir nicht das scheinbare nationale Interesse sen europäischen Haushalt enorme Mittel eingestellt gegen die Europäische Gemeinschaft richten. Das muss wurden, um diese Herausforderungen – soziale Gerech- unsere gemeinsame Verpflichtung in dieser Koalition tigkeit, Beschäftigungsförderung, Bekämpfung von Be- und auch im Deutschen Bundestag sein. nachteiligungen und Förderung von strukturschwachen Regionen – erfolgreich bewältigen zu können, anstatt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wie in früheren Zeiten, lediglich den Agrarsektor zu sub- der CDU/CSU) ventionieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa gelingt ge- (Beifall bei der SPD) meinsam. Es gelingt auch aufgrund von Regierungskon- tinuitäten, die in den Personen anzuschauen sind. Schon Kolleginnen und Kollegen, zweitens werden wir den in der Ratspräsidentschaft 1994 war die jetzige Kanzle- Verfassungsprozess voranbringen und einen erfolgrei- rin Ministerin. Schon in der Ratspräsidentschaft 1999 chen Pfeiler setzen, der eine Brücke über die portugiesi- war die jetzige Entwicklungsministerin im Amt und der sche und slowenische bis hin zur französischen Präsi- jetzige Außenminister hatte eine wichtige Verantwor- dentschaft tragen wird, sodass wir zu neuen Grundlagen tung. Die haben sie wahrgenommen. Oskar Lafontaine – auch verfassungsrechtlichen – in dieser Europäischen hat damals seine Verantwortung nicht wahrgenommen. Union kommen werden. Deshalb ist es ihm so leicht, hier verantwortungslose Re- den zu halten. Liebe Bundesregierung, hier haben wir eine ganz klare Erwartung. 18 Länder haben den Verfassungsver- (Widerspruch bei der LINKEN) trag ratifiziert. Wir sagen selbstbewusst, dass das ein ge- Ich glaube, wir machen die Präsidentschaft zu einem meinsamer Erfolg ist. Nicht wir müssen uns bewegen, Erfolg im blochschen Sinne, nämlich getragen von der sondern die neun Länder, die noch nicht ratifiziert haben Hoffnung, ins Gelingen verliebt. Deshalb wird diese oder in denen die Referenden – in zwei Fällen – negativ europäische Ratspräsidentschaft gemeinsam gelingen. ausgefallen sind. Sie sind jetzt in der Bringschuld. Wir müssen Brücken bauen und sie mitnehmen, aber diese (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Länder müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Mit der CDU/CSU) der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages sind sie nämlich die Verantwortung eingegangen, den Verfas- Präsident Dr. Norbert Lammert: sungsvertrag auch zu ratifizieren. Anstatt dass diese Ich erteile dem Kollegen Dr. Diether Dehm, Fraktion (B) Länder und Regierungen – teilweise sind die Personen (D) identisch mit denen, die ihn 2003 unterschrieben haben – Die Linke, das Wort. dieses Werk beiseite stellen, sich zurücklehnen und die (Beifall bei der LINKEN) Entwicklung von außen betrachten, müssen sie von uns in die Verantwortung genommen werden. Das werden wir auch tun. Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Lieber Kollege Ramsauer, am Anfang zwei Tipps: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schauen Sie sich einmal die Protokollstelle an, an der Sie davon sprechen, dass Sie es mit dem Unterbinden Ein Drittes. Wir betreiben eine europäische Politik von Demokratie ernst nehmen wollen. Korrigieren Sie für die Menschen – Politik, um das Leben der Men- das, damit es nicht so stehen bleibt. Anstatt anderen De- schen zu verbessern. Deshalb ist es wichtig, auch einmal mokratiedefizite vorzuhalten und sie für ungebildet zu die Erwartungen der Menschen an uns in den Blick zu erklären, sollten Sie die Mehrheit der Menschen, die in nehmen. Über 80 Prozent sagen, dass wir eine starke Eu- Frankreich den EU-Verfassungstext abgelehnt haben, ropäische Union im Bereich der wirtschaftlichen Ent- endlich ernst nehmen. wicklung und für die äußere und innere Sicherheit brau- chen. Dieser Erwartung der Menschen, die ein (Beifall bei der LINKEN) Stückchen skeptischer als früher geworden sind, ob wir das tatsächlich gemeinsam schaffen, müssen wir gerecht Wer, wie wir, einen besseren EU-Verfassungsvertrag werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesregie- will, darf über die deutsche Verfassung, das Verhältnis rung hierbei nicht nur eine – wenn auch notwendige – der EU-Verfassung zu unserem Grundgesetz nicht Kommunikationsstrategie fährt, sondern dass sie mit all schweigen. Auch durch eine europäische Verfassungs- ihrem Handeln auch deutlich macht: Deutsche Interessen ordnung dürfen Art. 1 und 20 des Grundgesetzes in ih- werden am besten in Europa vertreten und Erfolge in Eu- rem Wesen nicht beeinträchtigt werden. Das lässt Art. 79 ropa sind Erfolge auch für unser Land. Wir müssen ein Abs. 3 nicht zu. bewusstes Gegenbild zu manchen Regierungen setzen Mit diesen unabänderlichen Bindungen ist eine Ord- – ersparen Sie mir, dass ich sie namentlich nenne –, die nung unvereinbar, die, dem neoliberalen Zeitgeist fol- nur nach dem Motto verfahren: „Europa ist uns eigent- gend, die Menschen als Humankapital der Herrschaft lich egal und alles Schlechte kommt aus Brüssel. Es ist des Profits unterwirft, ihnen also den Eigenwert als entscheidend, dass wir uns national gegen andere durch- Menschen nimmt. setzen.“ Nein, das ist ein falsches Europabild. Richtig ist: Wir können in Europa nur gemeinsam erfolgreich Hierzu ein Zitat, Kollege Schäfer: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7227

Dr. Diether Dehm (A) In der vom Gewinn- und Machtstreben bestimmten Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Wirtschaft und Gesellschaft sind Demokratie, so- Herr Kollege! ziale Sicherheit und freie Persönlichkeit gefährdet. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): hat Lafontaine schon gesagt!) – ich komme zum Schluss –: Wir wollen einen ande- ren EU-Verfassungsvertrag. Dabei wollen wir aber nicht Der demokratische Sozialismus erstrebt darum eine das Grundgesetz auf dem Altar des neoliberalen Zeit- neue Wirtschafts- und Sozialordnung. geistes opfern lassen. In dieser Hinsicht bleiben wir Ver- Kollege Schäfer, das steht so nicht im Manifest von fassungspatrioten, auch wenn wir die Einzigen in diesem Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, das steht auch nicht Hause wären. in Ihrem gültigen SPD-Parteiprogramm, das immer noch (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert die Unterschrift von Oskar Lafontaine trägt, sondern das Winkelmeier [fraktionslos] – Lachen bei der ist ein Zitat aus dem Godesberger Programm. CDU/CSU und der SPD) Wer aber die Würde der Menschen, wer ihre Bedürf- nisse als Ausgangspunkt allen staatlichen und auch allen Präsident Dr. Norbert Lammert: abgeleiteten supranationalen Handelns ernst nimmt, der Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dr. Andreas kann eine Verengung auf die geltende ungerechte Wirt- Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion. schaftsordnung nicht wollen. Jede Wirtschaftsordnung (Beifall bei der CDU/CSU) muss sich in ihren konkreten Auswirkungen auf die Würde der Menschen immer wieder von neuem an den genannten Grundprinzipien messen lassen. Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt nach- neten der SPD – Klaus Uwe Benneter [SPD]: drücklich, dass die EU-Außenminister in der Frage der Richtig!) Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eine Einigung ge- Und sie muss erforderlichenfalls auch abgewählt werden funden haben. Jetzt herrscht Klarheit, wie der Prozess dürfen. Das meint das Grundgesetz auch mit der Freiheit weitergehen soll. Es ist auch zu begrüßen, dass Zypern der Wähler, und zwar in seinen Vorschriften über die Ei- nicht länger die Freigabe der Finanzmittel für den nördli- gentumsordnung in den Art. 14 und 15. Hier gibt es die chen Teil der Insel blockieren will. Auch das war über- Gewährleistung des Eigentums, aber auch seine verbind- fällig und hat die Beziehungen zur Türkei zu lange unnö- tig belastet. (B) liche Verpflichtung auf das Gemeinwohl. Es gibt die (D) Möglichkeit der Enteignung der Deutschen Bank und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) anderer Konzerne im Interesse der Allgemeinheit und auch die Möglichkeit der Vergesellschaftung von Pro- Ich will in aller Deutlichkeit feststellen: Wir haben duktionsmitteln durch ihre Überführung in Gemein- ein nachdrückliches Interesse daran, dass die Türkei den eigentum. begonnenen Reformprozess fortsetzt. Die Beitrittsver- handlungen sind dafür ein Katalysator. Niemand will (Klaus Uwe Benneter [SPD]: So steht es aber also die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbre- nicht im Godesberger Programm!) chen. Damit zielt das Grundgesetz zwar nicht auf eine andere (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wirtschaftsordnung, aber es gibt den Wählerinnen und NEN]: Das klang bei Herrn Ramsauer anders!) Wählern die Freiheit, den Kapitalismus abzuwählen. Das hat das Bundesverfassungsgericht 1954 in seiner Ent- Wir müssen aber – ich denke, auch darin sind wir uns ei- scheidung zum Investitionshilfegesetz ausdrücklich dar- nig – weiter auf die Erfüllung der politischen Vorausset- gelegt und das ist bis heute gültig. zungen wie die Religionsfreiheit oder die Abschaffung des Strafrechtsparagrafen 301 drängen, der die Beleidi- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Denken Sie an gung des Türkentums unter Strafe stellt. Denn das sind das Ahlener Programm der CDU!) Voraussetzungen – Kollege Ramsauer hat zu Recht da- rauf hingewiesen –, die nach den Kopenhagener Krite- Wenn die FDP beispielsweise in einem Antrag for- rien eigentlich vor Beginn der Beitrittsverhandlungen dert, ausgerechnet Art. 15 aus dem Grundgesetz zu strei- hätten erfüllt sein müssen. chen, so zeigt dies, dass sie den Wählern die Freiheit nehmen will, den Kapitalismus abzuwählen. Freiheit ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aber gerade hier auch die Freiheit der Andersdenkenden. Dazu gehört auch die Erfüllung des Ankaraprotokolls, (Beifall bei der LINKEN) zu der sich die Türkei schon im September letzten Jahres verpflichtet hat. Erfüllung heißt, dass die Häfen und Auch dass die EU-Verfassung diese Freiheit ein- Flughäfen in der Türkei – also nicht nur ein Hafen und schränken will, sodass die Abwahl des Kapitalismus ein Flughafen – auch für Schiffe und Flugzeuge Zyperns nicht mehr möglich sein soll, ist mit der Würde der Men- offen sein müssen. schen und ihrer Unantastbarkeit ebenso wenig vereinbar wie mit den Prinzipien der Demokratie und der Sozial- Dass die Türkei bisher nicht bereit ist, alle Mitglieder staatlichkeit. In diesem Sinne wiederhole ich – der EU gleichermaßen anzuerkennen und die vereinbarten 7228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Andreas Schockenhoff (A) Regeln einzuhalten, kann nicht ohne Konsequenzen sein. Ein wichtiger Schwerpunkt der deutschen Präsident- (C) Deswegen ist die Vereinbarung, acht Verhandlungskapi- schaft wird die Vertiefung der Beziehungen zwischen tel einzufrieren und bei keinem der übrigen Kapitel die der Europäischen Union und Russland sein. Wir wollen Verhandlungen abzuschließen, bis das Ankara- die strategische Partnerschaft mit Russland weiter abkommen erfüllt ist, eine Maßnahme, die Konsequen- ausbauen. Strategische Partnerschaft bedeutet, dass sich zen hat, die aber auch unserem Interesse an der Fortset- die enge Zusammenarbeit mit Russland nicht nur an ge- zung des Reformprozesses in der Türkei Rechnung trägt, meinsamen Interessen orientiert, sondern dass sie auch und zwar besonnen und entschlossen, wie es die Bundes- auf gemeinsamen Werten basiert, zu denen wir uns ver- kanzlerin ausgeführt hat. pflichtet haben. Die Erneuerung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und Russ- (Beifall bei der CDU/CSU) land bietet dafür eine gute Gelegenheit. Es ist deshalb sehr zu bedauern, dass es bislang keine Einigung über Wir halten es auch für erforderlich, dass die EU nicht das Verhandlungsmandat gibt. nur zur Verhandlungsroutine übergeht und wir abwarten, wann die Türkei das Ankaraprotokoll erfüllt. Wir wollen (Beifall des Abg. Hans Eichel [SPD]) vielmehr, dass diese Frage als politisches Thema auf der Agenda der Staats- und Regierungschefs steht, dass sie Denn das Nachfolgeabkommen liegt im gemeinsamen sich selbst darum kümmern und dies nicht den Beamten Interesse, auch im Interesse Polens und auch im Inte- der Kommission überlassen. resse Russlands. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deshalb begrüßen wir nachdrücklich, dass sich die neten der SPD) Staats- und Regierungschefs dementsprechend in den Jahren 2007, 2008 und 2009 auf der Grundlage eines Be- Polen hat unsere Solidarität und Unterstützung bei der richts der Kommission mit dieser Frage befassen und Aufhebung des russischen Importverbots für polnisches den weiteren Prozess überprüfen werden. Das ist für die Fleisch, weil wir dieses Verbot für nicht gerechtfertigt Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des Erweiterungspro- halten. Aber genauso wenig gerechtfertigt ist eine Ver- zesses unverzichtbar. Deshalb war es gut, dass die Initia- knüpfung dieser Frage mit dem Verhandlungsmandat für tive der Bundeskanzlerin vereinbart und der Kommis- ein Nachfolgeabkommen mit Russland. sionsvorschlag nachgebessert wurde. Angesichts der Rückschläge bei Demokratie und Im Übrigen entspricht dieser Beschluss genau dem, Rechtsstaatlichkeit in Russland ist es wichtig, dass wir was sich die Staats- und Regierungschefs zur Frage der im Nachfolgeabkommen, vor allem aber auch in der Integrationsfähigkeit der EU auf dem morgigen EU-Gip- praktischen Zusammenarbeit immer wieder auf die Re- (B) (D) fel vorgenommen haben. Denn beim künftigen Erweite- spektierung der Werte drängen, zu denen sich Russland rungsprozess soll es keinen Automatismus geben. Es bei seinem Beitritt zum Europarat verpflichtet hat. Ich sollen keine Beitrittsdaten mehr genannt werden und es sage ganz offen: Die innere Entwicklung Russlands soll auf die strikte Erfüllung der Kriterien und der einge- bereitet uns große Sorgen. Die Ermordung von Frau gangenen Verpflichtungen geachtet werden. Nur wenn Politkowskaja stellt einen Verlust für Russland dar. Ihr die Bürger der Europäischen Union das Gefühl bekom- unparteiisches Engagement für Menschenrechte und De- men, dass die Staats- und Regierungschefs auf die strikte mokratie war für die Entwicklung der russischen Gesell- Einhaltung der Beitrittskriterien achten und dass sie vor schaft wichtig. einer Erweiterung sorgfältig die Auswirkungen eines (Beifall im ganzen Hause) Beitritts auf die EU und ihre Handlungsfähigkeit prüfen, werden wir die Akzeptanz für künftige Beitritte be- Dieser Mord und vor allem die zunehmenden Ein- kommen. Diese Akzeptanz brauchen wir; denn die EU- schüchterungen der wenigen noch verbliebenen kriti- Perspektive etwa für die Staaten des westlichen Balkans schen Journalisten sind beispielhaft für den Niedergang liegt in unserem Sicherheitsinteresse. der Pressefreiheit in Russland. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wer immer für den Mord an Litwinenko oder für die neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ zunehmend länger werdende Liste von politisch oder DIE GRÜNEN) wirtschaftlich motivierten Morden in Russland verant- wortlich ist: Es drängt sich die Frage nach der Autorität Wenn diese Staaten ihre inneren und zwischenstaatli- der russischen Regierung auf. Beunruhigend ist es vor chen Konflikte überwinden, sodass EU und NATO ihre allem für diejenigen, die sich in Russland selbst engagie- Streitkräfte dort vollständig zurückziehen können, und ren. Auch wenn man ein Urteil über die Anwendung des wenn sie alle Beitrittskriterien, insbesondere bei der Gesetzes über die Nichtregierungsorganisationen erst Rechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung der organisier- nach dem Ende der Registrierungspflicht im April ten Kriminalität, strikt erfüllen, dann werden wir alle, nächsten Jahres fällen kann, muss man anhand der bishe- die derzeitigen Mitglieder der Europäischen Union, ei- rigen Praxis eines schon heute feststellen: Das NGO-Ge- nen erheblichen Sicherheitsgewinn haben. Deshalb ist es setz überfordert mit seinem bürokratischen Aufwand wichtig und richtig, dass die Staats- und Regierungs- nicht nur die Behörden und führt damit zu willkürlichen chefs bei ihrem morgigen Gipfel Grundsätze für die Inte- Auslegungen, sondern es belastet vor allem auch kleine grationsfähigkeit der EU vereinbaren, damit die EU er- NGOs erheblich. Damit schadet sich Russland selbst; weiterungsfähig bleibt. denn viele dieser kleinen NGOs leisten humanitäre Hilfe Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7229

Dr. Andreas Schockenhoff (A) für die Menschen in Russland. Sie brauchen ihre Zeit, keine bzw. auf absehbare Zeit keine EU-Perspektive ha- (C) um den Menschen zu helfen, und nicht für das Ausfüllen ben, stärker in die EU-Politik einbezogen werden, ohne nutzloser Berichte. dass sich damit gleich die Frage einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellt. Gerade mit Blick auf die (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Beitrittswünsche von Ländern wie der Ukraine ist das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Signal wichtig, dass sie als europäisches Land nicht zu- Haben also nicht diejenigen Recht, die das langfris- rückgewiesen werden, dass sie als europäisches Land tige Ziel einer Wertepartnerschaft mit Russland aufge- enger in die verschiedenen Bereiche der EU-Politik ein- ben und das Verhältnis nur auf eine an gemeinsamen In- gebunden werden, als dies durch die bilaterale Nachbar- teressen orientierte Zusammenarbeit reduzieren wollen? schaftspolitik möglich ist. Wir sagen dazu ganz klar Nein. Das wäre ein strategi- (Beifall bei der CDU/CSU) scher Fehler. Wir beraubten uns unserer Einflussmög- lichkeiten zur Stärkung von Demokratie und Rechts- Deshalb halten wir es für notwendig, in Ergänzung zur staatlichkeit. Wir ließen vor allem die Menschen, die bilateralen Nachbarschaftspolitik und zur Zusammenar- sich mitunter unter Einsatz ihres Lebens in Russland en- beit mit Russland eine EU-Schwarzmeerpolitik als re- gagieren, im Stich. gionale Nachbarschaftspolitik zu entwickeln, vergleichbar (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der „Nördlichen Dimension“ oder dem Barcelona-Prozess. der SPD) Schwerpunkte einer solchen Schwarzmeerpolitik sollten sein: die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Nein, das Gegenteil muss der Fall sein. Wir müssen jede Kriminalität, die schrittweise Vertiefung der wirtschaftli- Gelegenheit nutzen, um Einfluss zu nehmen und mit chen Zusammenarbeit, der Umweltschutz, Fragen der Russland im Rahmen der „vier Räume“ in der G 8 – bald Energiezusammenarbeit und des Energietransports. Un- auch in der WTO – zusammenzuarbeiten. verzichtbar ist auch die Vertiefung der zivilgesellschaftli- chen Zusammenarbeit zur Stärkung von Demokratie, Das alles sind Möglichkeiten, um die Entwicklung in Rechtsstaatlichkeit, Bildung und Wissenschaft. Russland zu beeinflussen, weil wir den Anspruch erhe- ben, dass Russland in Einklang mit den Werten dieser Allerdings werden wir uns dann auch an heiße Eisen Institutionen leben muss. heranwagen müssen. Denn eine Vertiefung der Zusam- menarbeit in der Schwarzmeerregion erfordert auch ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen aktiveren europäischen Beitrag zur Schlichtung der neten der SPD) so genannten Frozen Conflicts. Ich finde, hier kann die Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir begrü- EU mehr leisten. Sie hat Vertrauen bei den Konfliktpar- (B) ßen nachdrücklich, dass der EU-Gipfel in Helsinki die teien. Selbstverständlich ist dabei eine enge Abstim- (D) Bitte an die deutsche Präsidentschaft richtet, eine Zen- mung mit den USA unverzichtbar. Auch in den Gesprä- tralasienstrategie zu erarbeiten. Die EU muss die He- chen mit Russland müssen die Frozen Conflicts stärker rausforderungen, die sich für die Sicherheit und Stabilität thematisiert werden. Europas aus dieser Region heraus ergeben, strategisch angehen. (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eck- ardt) Das gilt allerdings genauso für die Schwarzmeerre- gion. Denn mit Beginn der deutschen Präsidentschaft am Zu einer strategischen Partnerschaft gehört auch die 1. Januar wird die Europäische Union durch den Beitritt Zusammenarbeit bei den Regionalkonflikten in der ge- Rumäniens und Bulgariens eine gemeinsame Außen- meinsamen Nachbarschaft. Es ist jedenfalls nicht akzep- grenze mit den Ländern der Schwarzmeerregion haben. tabel, dass Russland hier eine Politik der kontrollierten Damit werden die Probleme dieser Region noch unmit- Unsicherheit verfolgt und sich gemeinsamen Bemühun- telbarer auch zu unseren Problemen werden. Durch diese gen für eine Konfliktregelung verweigert. Region laufen nicht nur wesentliche Energierouten, son- Meine Damen und Herren, den Menschen in Deutsch- dern dort spielen auch organisierte Kriminalität sowie land wird während unserer Präsidentschaft in der Euro- Menschen- und Drogenhandel eine große Rolle. Mit den päischen Union und der G 8 immer wieder bewusst wer- Konfliktherden Transnistrien, Abchasien und Südosse- den, dass wir unseren Platz in der Welt, unsere Werte nur tien hat diese Region gleichzeitig ein erhebliches Krisen- in einem politisch integrierten Europa behaupten kön- potenzial. Die jüngsten Entwicklungen in Georgien ha- nen. Ich bin mir sicher, dass die deutsche Präsidentschaft ben das deutlich sichtbar gemacht. Deshalb liegt es im in diesem Sinne ein guter Beitrag zu einer europäischen Interesse der EU, einen aktiveren Beitrag zur Stabilisie- Identität wird. rung der Schwarzmeerregion und zur Stärkung von De- mokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Pros- Vielen Dank. perität zu leisten, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) neten der SPD) auch mit Blick auf die Energiezusammenarbeit und wei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tere alternative Energieversorgungsrouten. Nicht zuletzt Für das Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Jür- können durch eine EU-Schwarzmeerpolitik Staaten, die gen Trittin das Wort. 7230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Wer war (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will denn sieben Jahre dran?) mit einer Bemerkung zu Ihrem Vorschlag, Frau Bundes- Wir sind eines der wenigen Länder, die es bis heute nicht kanzlerin, anfangen. Wenn Sie sagen, wir müssten in Eu- fertig gebracht haben, Regelungen einzuführen, damit ropa das Prinzip der Diskontinuität einführen, dann jemand, der Vollzeit arbeitet, nicht unter die Armuts- muss man sich auch über die Folgen klar werden. Manche grenze sinkt. Wenn Sie Europa akzeptabler machen wol- würden sich freuen und sagen: Dann hätten wir letztens len, dann müssen Sie hier anfangen und dafür sorgen, im Parlament nicht REACH verabschiedet. – Denken Sie dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, nicht trotz ihrer an Ihr eigenes Präsidentschaftsprogramm, insbesondere Arbeit arm bleiben. Deswegen brauchen wir so etwas an die vollständige Liberalisierung der Gas- und Strom- wie einen gesetzlichen Mindestlohn, wie wir ihn in märkte. Das ist ein Dossier, das mittlerweile ein Parla- Frankreich, in Großbritannien, in Luxemburg, in den ment und eine Kommission schon in der dritten Amtszeit Niederlanden und in vielen anderen Ländern haben. beschäftigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweite Bemerkung. Wenn davon geredet wird, dass Deutschland versuchen möchte, in Sachen Bürokratie- abbau weiterzukommen, dann muss doch die Frage er- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: laubt sein, ob die Bundesrepublik Deutschland unter die- Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. ser Koalition und in dieser Verfassung nach der Föderalismusreform überhaupt in der Lage ist, anderen Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bürokratieabbau beizubringen. Frau Präsidentin, ich komme zum Schlusssatz. – Wenn Sie Lust auf Europa machen wollen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Sieben Jahre Was ist das eigentlich für ein Bild, das die Bundesregie- Trittin!) rung abgibt? Einerseits redet sie über Bürokratieabbau, andererseits aber wird man statt eines Nichtraucherge- wenn Sie Begeisterung für Europa wecken wollen, dann setzes 15 oder 16 Nichtrauchergesetze haben, vielleicht dürfen Sie eines nicht zulassen, nämlich dass hier solche auch nur zwölf, und man baut im Rahmen der Gesund- Reden wie die, die vorhin Herr Ramsauer vorgetragen heitsreform völlig neue bürokratische Strukturen auf, die hat, gehalten werden. Das macht nicht Lust auf Europa, unsere Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber noch gehörig sondern das macht Angst vor Europa. Das ist der Grund, quälen werden. wenn Sie bei Ihrem Ziel, bis 2009 in der Verfassungsver- tragsfrage voranzukommen, keinen Schritt weiterkom- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – men. Wenn Sie das nicht schaffen, dann können Sie sich (D) Norbert Schindler [CDU/CSU]: Wer war denn bei Herrn Ramsauer und bei Herrn Stoiber für ihre Re- sieben Jahre dran?) den bedanken. Dritte Bemerkung zu Ihrer Rede. Sie drücken sich vor (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Festlegung Ihres Umweltministers und davor, zu sa- gen: Wir wollen dafür sorgen, dass sich Europa bis zum Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jahre 2020 verpflichtet, 30 Prozent der Treibhausgase Die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die einzusparen. – Was hindert Sie eigentlich daran, diese Kollegin Lale Akgün. Frage in vernünftiger Art und Weise mit der Minderung der Energieabhängigkeit zu verknüpfen? Dies hätte (Beifall bei der SPD) nämlich eines zur Folge: die Umsetzung dieses Ziels. Es hätte zur Folge, dass die Energieimporte – die Europäi- Dr. Lale Akgün (SPD): sche Union importiert heute noch 74 Prozent der Ener- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau gie – auf unter 50 Prozent sinken würden. Auch das ist Kanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Vor- übrigens nicht nur ein Argument für Klimaschützer, son- abend der deutschen Ratspräsidentschaft gibt es eine dern auch und gerade ein ökonomisches Argument. Das Fülle von Themen, über die wir hier sprechen könnten. würde dazu führen, die Abhängigkeit der europäischen Ich möchte mit einem unserer Lieblingsthemen anfan- Wirtschaft zu reduzieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit gen, nämlich der Entscheidung der EU über den Beitritt zu stärken. der Türkei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die EU hat mit dem Aussetzen von acht Kapiteln die sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) notwendige Konsequenz aus der Tatsache gezogen, dass die Türkei ihrer Verpflichtung zur Unterzeichnung des Letzte Bemerkung: Wenn Sie sagen, Sie wollten die Ankaraprotokolls und damit der Anerkennung Zyperns Akzeptanz für Europa verbessern, dann werden Sie in- nicht nachgekommen ist. Aber sie hat das rechte Maß nerhalb Europas dieses Land europakompatibler machen bewahrt. Ein Abbruch der Verhandlungen wäre übereilt müssen. Wenn Sie sagen, Europa sei eine Antwort auf gewesen und den ureigensten Interessen der EU zuwi- Globalisierung, dann erwarten die Menschen zunächst dergelaufen. eine Antwort, die ihnen mehr Sicherheit, mehr soziale Sicherheit verspricht. Da hat Deutschland nun einmal ei- Die SPD-Fraktion begrüßt die Entscheidung aus- nen Nachholbedarf. drücklich. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7231

Dr. Lale Akgün (A) (Beifall des Abg. Klaus Hagemann [SPD]) (Beifall bei der SPD) (C) Es ist eine Entscheidung mit Augenmaß, die beiden Sei- Aber – das ist genauso wichtig – die Verhandlungen ten gerecht wird, der Türkei und der EU. müssen jetzt mit größter Sorgfalt weitergeführt werden. Das Einfrieren darf nicht zum Synonym für ein schlei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chendes Ende der Verhandlungen werden, auch wenn der CDU/CSU) sich das einige vielleicht wünschen sollten. Ein schlei- Die Türkei weiß um ihre Hausaufgaben. Jetzt muss chendes Ende würde den Interessen der Europäischen die EU ihrerseits gegebene Zusagen einhalten. Die Isola- Union zuwiderlaufen. Diejenigen, die am lautesten nach tion Nordzyperns muss aufgehoben und die durch die einem sofortigen Abbruch der Verhandlungen gerufen EU versprochenen wirtschaftlichen Hilfen müssen end- haben, waren wieder einmal die, die eben nicht die Inte- lich geleistet werden. ressen der EU im Sinn hatten, sondern ihr innenpoliti- sches Süppchen weiter am Köcheln halten wollten. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Ich freue mich, dass die EU sich bewegt, was die Zy- pernfrage angeht. Ich möchte in diesem Zusammenhang Herr Kollege Ramsauer, die EU führt mit der Türkei erwähnen, dass Estland und Schweden Überlegungen Beitrittsverhandlungen. An dem Wort „Beitrittsverhand- anstellen, in Nordzypern Büros einzurichten. Großbri- lungen“ ist deutlich zu erkennen, dass diese Verhandlun- tannien erwägt Berichten zufolge, Direktflüge zum nord- gen mit dem Ziel des Beitritts geführt werden. zypriotischen Flughafen Ercan aufzunehmen. Das sind (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Da täuschen Sie wichtige Signale. sich! Das Ergebnis ist offen!) Genauso aber muss sich in der Republik Zypern Man sollte diesen Begriff doch einmal wörtlich nehmen. noch einiges tun. Auch hier sind erste Bewegungen be- reits zu verzeichnen. Daher gibt es berechtigte Hoff- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Sprachklarheit nung, dass Zypern bereits beim ersten Außenminister- ist nicht die Stärke der Bayern!) treffen im Januar seine Blockade aufgeben wird und die EU Gelder für den türkischen Norden freigeben kann. Meine Redezeit reicht nicht aus, um Ihnen alle Auch das Veto für den Direkthandel mit Zypern wird Gründe für einen Beitritt der Türkei noch einmal darzu- nicht mehr lange aufrechterhalten werden können. Da- legen. Deshalb sei nur so viel gesagt: Wenn die EU auch von bin ich überzeugt. im 21. Jahrhundert ihre Rolle als Friedensmacht ausfül- len will, so muss sie sich den neuen Herausforderungen Aus all diesen Gründen ist es richtig, dass die EU stellen: dem Islam, dem Terrorismus, aber auch den (B) durch das Einfrieren zwar Konsequenzen zieht, dass neuen Nationalismen. Deshalb sage ich ganz deutlich: (D) aber ansonsten business as usual gilt – keine Fristen, Perspektivisch brauchen wir eine EU mit 30 und mehr keine Sanktionen und keine Revisionsklausel für die Mitgliedern, wozu auch die Staaten des westlichen Bal- Türkei. Eine Entscheidung mit Augenmaß, wie gesagt. kans gehören. Auch im Verhältnis zu den Staaten des Westbalkans muss die EU glaubhaft bleiben und ihre Für dieses Verhandlungsergebnis möchten wir noch Versprechungen einhalten. einmal Außenminister Frank-Walter Steinmeier danken, der diese klare Linie in Brüssel durchsetzen konnte. Das gilt natürlich auch für alle anderen anstehenden Themen der deutschen Ratspräsidentschaft. Wenn (Beifall bei Abgeordneten der SPD) man sich die Agenda der deutschen Ratspräsidentschaft Damit haben wir eine unnötige Verschärfung der ohne- anschaut, dann muss man sagen, dass das nicht gerade hin sehr angespannten Lage vermieden. wenige Themen sind. Es ist keine Frage, dass alles, was wir uns für die nächsten sechs Monate vorgenommen ha- Meine Damen und Herren, entgegen vielen Annah- ben, dabei von großer Bedeutung ist. Energiepolitik, men wird diese Entscheidung auch in der Türkei akzep- Wirtschaftswachstum, Klimaschutz, Verfassungspro- tiert. Darauf möchte ich hier noch einmal hinweisen. Es zess, Nachbarschaftspolitik sowie die Gemeinsame Si- ist mitnichten so, dass in der Türkei nur Zeter und Mor- cherheits- und Außenpolitik sind große Themen, mit de- dio geschrien wird. Wichtig für die Türkei und für die nen wir uns beschäftigen müssen. Bevölkerung ist die Tatsache, dass in Brüssel die Ver- handlungen weitergehen und nach innen die Reformen Wichtig ist allerdings, dass wir am Ende dieser sechs fortgesetzt werden können. Monate tatsächlich Erfolge aufweisen können und dass wir unsere Versprechen gegenüber den Beitrittskandida- Das Massenblatt „Sabah“ schreibt gestern: Es ist gut, ten und Nachbarn, aber auch gegenüber den Bürgerinnen dass der Zug zum EU-Beitritt eben nicht entgleist ist. – und Bürgern der europäischen Mitgliedstaaten eingehal- Auch das Massenblatt „Hürriyet“ zählt ganz sachlich ten haben. Nur so können wir das größte Problem Euro- und differenziert positive und negative Aspekte des Ein- pas, nämlich den Verlust an Akzeptanz, wettmachen. Für frierens auf. Die türkische Börse reagierte wie ein Seis- neuen Schwung, neue Legitimität und neue Begeiste- mograf. Die Kurse sind seit vorgestern enorm gestiegen rung für die EU zu sorgen, ist die Hauptaufgabe für die und die türkische Lira hat gegenüber Euro und Dollar an deutsche Ratspräsidentschaft. Wert gewonnen. Das zeigt einmal mehr, dass die Ent- scheidung der EU-Außenminister richtig war und auch Ich wünsche mir von der deutschen Ratspräsident- in der Türkei akzeptiert wird. schaft echte Antworten auf die Sorgen der Menschen. 7232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Lale Akgün (A) Erweiterung, vertiefte politische Integration und das so- Überweisungsvorschlag: (C) ziale Europa sind in diesem Zusammenhang die Stich- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie worte. Leitmotiv der deutschen Ratspräsidentschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sollte sein: Europa neu denken vor den Herausforderun- gen des 21. Jahrhunderts. d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Christian Ahrendt, Daniel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der der CDU/CSU) Fraktion der FDP Den Rentenversicherungsbericht im Interesse Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Versicherten realistischer gestalten Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 16/3676 – Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Überweisungsvorschlag: den Drucksachen 16/3808, 16/3680 und 16/3832 an die in Ausschuss für Arbeit und Soziales der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/3796 e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Druck- Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Karin Bin- sache 16/3680 zu Tagesordnungspunkt 4 c, jedoch nicht der, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der an den Tourismusausschuss und den Haushaltsausschuss LINKEN überwiesen werden. – Damit sind Sie ganz offensichtlich Stichtagsregelung für die Altersteilzeit im RV- einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Altersgrenzenanpassungsgesetz (Rente mit 67) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 h auf: verlängern a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ – Drucksache 16/3815 – CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Gesetzes zur Verbesserung der Beschäfti- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gungschancen älterer Menschen Haushaltsausschuss – Drucksache 16/3793 – f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmin- Überweisungsvorschlag: gard Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Markus Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Wirtschaft und Technologie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (B) Ausschuss für Bildung, Forschung und (D) Technikfolgenabschätzung Neue Kultur der Altersarbeit – Anpassung der Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO gesetzlichen Rentenversicherung an längere b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Rentenlaufzeiten CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines – Drucksache 16/3812 – Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze Überweisungsvorschlag: an die demografische Entwicklung und zur Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der Finanzausschuss gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Alters- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie grenzenanpassungsgesetz) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit – Drucksache 16/3794 – Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) gierung Innenausschuss Rechtsausschuss Bericht der Bundesregierung über die gesetzli- Finanzausschuss che Rentenversicherung, insbesondere über Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und die Entwicklung der Einnahmen und Ausga- Verbraucherschutz ben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des je- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend weils erforderlichen Beitragssatzes in den Ausschuss für Gesundheit künftigen 15 Kalenderjahren (Rentenversiche- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung rungsbericht 2006) Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss und c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi- Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weite- cherungsbericht 2006 rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN – Drucksache 16/3700 – Beschäftigungspolitik für Ältere – für ein wirt- Überweisungsvorschlag: schafts- und arbeitsmarktpolitisches Gesamt- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) konzept Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/3027 – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7233

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Verbraucherschutz lung auf dem Arbeitsmarkt wird besser, auch bei den Äl- (C) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend teren. Die Vermittlungszahlen im vergangenen Jahr sind Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss gut gewesen: sechsstellig. h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat gierung gerade in der letzten Woche beschlossen, dass in zehn seiner Kammerbezirke die Aktion „50 plus“ unterstützt Lagebericht der Bundesregierung über die wird. Ich habe in der letzten Woche in Fulda 62 Firmen Alterssicherung der Landwirte 2005 aus 62 Regionen in Deutschland ausgezeichnet, die ganz – Drucksache 16/907 – besonders aktiv daran arbeiten, dass die ältere Genera- tion wieder in den Betrieben eine Chance hat. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Diese Entwicklung geht so weiter. Im Jahre 2000 wa- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ren etwa 38 Prozent der über 55-Jährigen berufstätig. Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Heute sind es 45 Prozent. Wir haben uns in der Koalition Ausschuss für Gesundheit vorgenommen, bis zum Ende der Legislaturperiode min- Haushaltsausschuss destens 50 Prozent der über 55-Jährigen in Beschäfti- Zwischen den Fraktionen ist eine Aussprache von an- gung zu haben. derthalb Stunden verabredet. – Dazu höre ich keinen Wi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derspruch. Dann ist so beschlossen. der CDU/CSU) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Es ist eine Bewegung da, die in eine vernünftige Rich- Herrn Bundesminister Franz Müntefering. tung geht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das hat natürlich seine Gründe darin, dass wir das der CDU/CSU) faktische Renteneintrittsalter, also die Chance, aus der Arbeitslosigkeit in Rente zu gehen, von 60 auf 63 Jahre Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und anheben; wir befinden uns mitten in diesem Prozess. Soziales: Darüber wird wenig gesprochen; aber es ist so. Auch die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zahldauer des Arbeitslosengeldes haben wir von maxi- Wir sind uns in diesem Haus fraktionsübergreifend ei- mal 32 Monate auf maximal 18 gekürzt. Beides sind nig, dass wir ein gemeinsames Ziel haben: Wir wollen in Maßnahmen, die mit der Politik der Beschäftigung älte- diesem Land ein Wohlstandsniveau haben. Daran sollen rer Menschen eng zu tun haben. An einer Stelle diskutie- (B) alle Generationen einen gerechten Anteil haben. Das soll ren wir gerade wieder mit allem Nachdruck darüber. Ich (D) für heute, für morgen und für übermorgen gelten. Dieses sage: Das, was wir machen, ist vernünftig. Wir geben allgemeine Ziel heißt mit Blick auf das heutige Thema den Menschen, die 50, 55 oder 60 Jahre alt sind, eine buchstabiert: Wir wollen eine gute materielle Absiche- Chance, am Erwerbsleben teilzunehmen. rung der älteren Generation und wir wollen die Möglich- Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zur Initia- keit altersgerechter Arbeit für diejenigen, die 50, 55, tive „50 plus“ will ich zwei zusätzliche Initiativen an- 60 Jahre und älter sind. sprechen. Eine erste Initiative in diesem Gesetzentwurf Wir haben in der Koalition ein Konzept entwickelt, ist – sie ist ganz wichtig und stellt eine Verbesserung im von dem ich sage: Es ist plausibel. Es ist anstrengend. Vergleich zur bisherigen Regelung dar –: Menschen, die Aber es hat viele gute Argumente für sich. Wir beraten 45 und älter sind und in Unternehmen mit bis zu heute die Initiative „50 plus“ und das Gesetz zur schritt- 250 Beschäftigten arbeiten, haben die Chance, sich auf weisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Staatskosten mittels Bildungsgutscheinen qualifizieren Wir diskutieren aktuell über die Möglichkeiten zusätzli- zu lassen. cher Altersvorsorge im Betrieb oder mittels der Riester- (Beifall bei der SPD) rente. Diese drei Punkte gehören ganz eng zusammen. Wir müssen bei der Weiterbildung dringend besser wer- Wir sind mitten im Prozess dieser Entwicklung. Das den. faktische Renteneintrittsalter steigt seit Jahren. Vor we- nigen Jahren waren es etwa 40 Prozent, die mit 60 Jah- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ren in Rente gingen. Denn wir hatten ja ein Fenster von CDU/CSU) 60 bis 65 Jahren. Heute sind es noch etwa 25 Prozent. Wir stehen nicht am Anfang der ganzen Debatte. Das Der VDI bzw. die großen Verbände melden uns, dass faktische Renteneintrittsalter steigt und das ist auch gut zurzeit in Deutschland 22 000 Ingenieure fehlen. Ich so. Die Menschen sind bereit, länger zu arbeiten und in weiß von der BA und anderen Stellen: In Deutschland ihren Berufen zu bleiben. gibt es 30 000 bis 40 000 arbeitslose Ingenieure. Es muss doch in dieser Gesellschaft möglich sein, dass wir Es tut sich auf dem Arbeitsmarkt eine ganze Menge. nicht aus dem Ausland, also irgendwoher aus der Welt, 20-, 25- und 30-jährige Ingenieure holen, sondern dass (Klaus Brandner [SPD]: Gott sei Dank!) unsere Ingenieure, die 45 und 50 Jahre alt und arbeitslos Es gibt etwa 90 000 bis 100 000 arbeitslose Ältere über sind, in ihren Berufen bleiben können. Dies muss doch 50 weniger als vor einem Jahr. Die allgemeine Entwick- besser zu organisieren sein, als es bisher der Fall ist. 7234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Bundesminister Franz Müntefering (A) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Man kann es auch anders ausdrücken: Das Verhältnis (C) zwischen denen, die im Erwerbsleben sind, und denen, Das gilt für andere Berufe in gleicher Weise. die 64 oder älter sind, beträgt heute 100 : 30. In Eine zweite Initiative ist der Kombilohn. Denjeni- 30 Jahren wird das Verhältnis 100 : 50 betragen, 2 : 1. gen, die 50 und älter sind und die arbeitslos werden, sa- Auf einen Rentner werden somit zwei Beschäftigte kom- gen wir: Wenn du eine Chance hast, wieder in Arbeit zu men. Die zwei Beschäftigten müssen das verdienen, was kommen, dann mache es schnell. Nimm sie schnell an, der eine Rentner bekommt. Wir Politiker müssen doch auch wenn du weniger Lohn hast als bisher. Wir geben den Menschen sagen, welche Entwicklung zu erwarten im ersten Jahr die Hälfte der Differenz, die zwischen ist. Gute Politik beginnt damit, dass man sagt, was ist. dem alten Nettoeinkommen und dem neuen besteht, Wer die Menschen an dieser Stelle belügt, tut ihnen dazu und im zweiten Jahr 30 Prozent. Denn wir wissen überhaupt keinen Gefallen. genau: Ältere, die schnell wieder vermittelt werden, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommen auch gut wieder in den Beruf hinein. Sie dürfen der CDU/CSU) erst gar nicht in das Arbeitslosengeld II fallen. Auch das gehört zu dem angesprochenen Gesetzentwurf. , den ich hier sehe, hat vor einigen Jah- ren eine wichtige Reform begonnen und hat dieses Der Gesetzentwurf zur Rentenversicherung verändert Thema als Erster gesetzt. Er hat gezeigt, wohin der Weg den Eintrittskorridor von bisher 60 bis 65 Jahre auf 63 gehen kann. bis letztlich 67 Jahre im Jahre 2029. Es wird aber wie bisher sein: Die meisten Menschen werden vor dem Jetzt aber wieder zurück zu der Frage: Wie hoch ist Höchsteintrittsalter in Rente gehen. Das tun heute die al- die Rente dann eigentlich? Die 46 Prozent, die sich im lermeisten; sie gehen weit vor 65 in Rente. Das wird Jahre 2020 ergeben, sind ja kein absoluter Wert, in Geld auch in Zukunft so sein, wenn wir ein Renteneintrittsal- ausgedrückt. Die Frage, die sich anschließt, ist: Wie viel ter von 67 Jahren erreicht haben. ist dann 100 Prozent? Das hängt davon ab, wie sich die Löhne in diesem Land entwickeln. Wenn wir eine Lohn- Die Frage ist dann: Wie viel Geld bekommen sie, entwicklung wie in den vergangenen zehn Jahren haben, wenn sie mit 63, 64 oder 65 Jahren in Rente gehen? Mit wird das natürlich Konsequenzen für die Höhe der Ren- 63 Jahren können sie in Rente gehen, wenn sie ten haben. Das gilt, ob man nun 46 Prozent oder 35 Zahljahre erreicht haben, und mit 65 und damit ohne 43 Prozent hineinschreibt. 43 Prozent von viel ist eben Abschläge, wenn sie 45 Zahljahre erreicht haben. Ich mehr als 46 Prozent von wenig. Das ist ganz einfach. will darauf hinweisen, dass die Frage der Alterssiche- Um das nachzuvollziehen, muss man kein Mathematiker rung entscheidend davon abhängt, wie die Wohl- sein. (B) standsentwicklung in Deutschland sein wird. Man darf (D) die Debatte nicht nur an den Jahreszahlen festmachen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich will einige Minuten darauf verwenden, das noch ein- der CDU/CSU) mal deutlich zu machen. Das Rentenwohlstandsniveau Deshalb ist es so wichtig, dass wir dafür sorgen, dass beträgt zurzeit 52 Prozent. Es wird nach der Rentenpla- der Wohlstand erhalten bleibt. Entscheidend für die nung – nicht nach dieser, sondern nach der, die schon Alterssicherung ist letztlich nicht, ob man von 60 bis längst beschlossen ist – im Jahre 2020 bei mindestens 65 oder von 63 bis 67 in Rente gehen kann; vielmehr ist 26 Prozent liegen. entscheidend, wie hoch die 100 Prozent Wohlstand sind. Wenn die Normalverdiener in Deutschland im Jahre (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: 46!) 2030 bzw. 2020 ein gutes Einkommen haben, werden – 46, Pardon. – Es wird im Jahre 2030 mindestens auch die Rentnerinnen und Rentner ein ordentliches Ein- 43 Prozent betragen. kommen haben, ansonsten eben nicht. Deshalb besteht die beste Alterssicherung darin, dass wir uns bewusst (Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE sind: Wir müssen in die Köpfe und in die Herzen der LINKE]) jungen Menschen investieren. – Ja, das ist richtig, Herr Gysi. Das ist aber nicht neu. Sie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tun immer so, als ob das neu wäre. Wir sind längst in der Was wir in Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung Phase, dass die Gesellschaft begriffen hat, dass man das investieren, bestimmt letztlich die Höhe der Rente. angesichts veränderter Strukturen in dieser Gesellschaft nicht mehr wird fortführen können. Das Festhalten an bestimmten Jahreszahlen führt in die Irre. Wir müssen das Gesamtbild betrachten. Die Al- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten terssicherung hängt von der Wohlstandsentwicklung ins- der CDU/CSU) gesamt ab. Die von mir genannten Prozentsätze müssen Denn 1960 wurden die Renten durchschnittlich zehn vernünftige Geldbeträge ergeben. Das wird nur gesche- Jahre lang gezahlt; jetzt werden sie 17 Jahre lang ge- hen, wenn wir eine Politik machen, wie wir sie uns vor- zahlt. Im Jahre 2030 würde die Rente 20 Jahre lang ge- genommen haben. Wir haben uns in der Koalition vorge- zahlt werden. nommen, im Jahre 2010 etwa 6 Milliarden Euro mehr für Forschung und Entwicklung auszugeben, nämlich (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Aber die Pro- 3 Prozent des BIP. Wenn wir diese 6 Milliarden Euro in duktivität ist ja weiter gestiegen!) die Rentenkasse gäben, könnten wir uns viele Freunde Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7235

Bundesminister Franz Müntefering (A) machen und das wäre auch nicht so übel; man hat ja im- (Beifall bei der FDP – Irmingard Schewe-Ge- (C) mer gerne Freunde. Ich sage aber: Wenn wir das ma- rigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit chen, wird die nachfolgende Generation dafür büßen wann hört denn die FDP auf Betriebsräte?) müssen. Denn die 46 bzw. 43 Prozent – heute sind es 52 Prozent – ergeben nur noch etwa drei Viertel des Die Bereitschaft zum Tabubruch als solches ist der ei- Wohlstandsbedarfs. gentliche Grund, warum die Rente mit 67 in der Bilanz der bisherigen Regierungsarbeit eher auf der Habenseite Neben allem, was ich angesprochen habe, braucht angerechnet wird. Eine echte Entlastungswirkung für man eine vernünftige zusätzliche Alterssicherung – ob die Rentenkasse kann sie eigentlich nicht entfalten; denn sie nun Riesterrente oder betriebliche Altersvorsorge die Entlastung um 0,5 Beitragspunkte – und das erst ab heißt. Daran müssen wir arbeiten. Bei den Debatten um 2030 – ist sehr gering. Herr Müntefering, meines Erach- den Investivlohn müssen wir im Blick behalten: Wir tens wird das nicht ausreichen, um den Rentenversiche- brauchen vor allen Dingen die Bereitschaft der Betriebe, rungssatz bis 2020 unter den im Rentenversicherungs- der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, dafür zu sorgen, Nachhaltigkeitsgesetz vorgesehenen und versprochenen dass die Menschen rechtzeitig für ihr Alter sparen kön- 20 Prozent zu halten. Dass die Entlastungswirkung so nen. gering ist, hängt mit den zahlreichen Ausnahmen zusam- men, die Sie im Gesetzentwurf vorgesehen haben, na- Wenn wir miteinander das alles machen, dann – da mentlich die abschlagsfreie Rente für langjährige und bin ich sicher – haben wir als Koalition der Sicherung besonders langjährige Versicherte. des Alters in der Zukunft eine gute Perspektive gegeben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Kerstin Schwenn hat es in der „FAZ“ vom gestrigen Tage mit den folgenden Worten, wie ich finde, treffend (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommentiert: der CDU/CSU) Der politische Versuch, das Unpopuläre populis- tisch zu verpacken und die Rentenreform damit so- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zialverträglich zu machen, wird einen erheblichen Heinrich Kolb hat das Wort für die FDP-Fraktion. Teil des Geldes verschlingen, das die Rentenkassen (Beifall bei der FDP) einsparen sollen. So gesehen, erscheint die renten- politische Großtat doch wieder recht klein. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Recht hat sie. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der FDP) (B) Die heutige Debatte verbindet mit den Entwürfen von (D) Gesetzen zur Verbesserung der Beschäftigungschancen Die allermeisten Sachverständigen, Tarifpartner und älterer Menschen und zur Anpassung der Regelalters- Parteien – außer der Koalition natürlich – sind sich in ih- grenze zwei, wie ich finde, wichtige soziale Kernfragen rer Ablehnung der abschlagsfreien Rente nach 45 Bei- unserer Gesellschaft; denn, Herr Minister Müntefering, tragsjahren einig, weil sie systemwidrig und ungerecht die Anhebung, die Sie vorhaben, macht doch nur Sinn, ist und schwächere Personengruppen benachteiligt; wenn die Menschen am Schluss wirklich die Gelegen- meine Kollegin Laurischk wird als zweite Rednerin mei- heit haben, länger zu arbeiten. Zu Beginn meiner Aus- ner Fraktion darauf näher eingehen. Die Anhebung auf führungen will ich gleich sagen: Die Antworten, die die 67 ist für die Angehörigen einzelner Geburtsjahrgänge große Koalition auf diese Fragen gibt, sind alles andere besonders ungerecht. Der Sachverständigenrat hat in sei- als der Situation angemessen. Um es in Schulnoten aus- nem aktuellen Gutachten darauf hingewiesen, dass die zudrücken: Sie sind ungenügend. Jahrgänge 1959 bis 1974 durch die Art und Weise der (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Das Anhebung des Rentenzugangsalters besonders belastet heißt soviel wie: Sechs! Setzen!) werden. – Ja, genau. Anstatt ein starres Renteneintrittsalter durch ein höhe- res zu ersetzen, müssen wir, so denke ich, dafür sorgen, Herr Minister, die Anhebung des Regelrentenzu- dass der Übergang aus dem Erwerbsleben in den Ru- gangsalters auf 67 Jahre, auf die sich die Koalition auf hestand von den Menschen flexibler als bisher gestaltet Ihr Betreiben hin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ver- werden kann. ständigt hat, ist ein unerwarteter Tabubruch, für den vor allem die SPD vonseiten der Gewerkschaften erhebli- (Beifall bei der FDP) chen Gegenwind erfährt. Ich hatte in der vergangenen Wir brauchen mehr Beschäftigung im Alter. Unsere Ge- Woche auf einer DGB-Podiumsdiskussion in Hanau zu- sellschaft kann es sich nicht länger leisten, dass gerade letzt Gelegenheit, das zu beobachten. Die Menschen ah- einmal 45 Prozent der über 55-Jährigen noch in Beschäf- nen – Herr Minister, ich sage: zu Recht –, dass die Re- tigung sind. form der Rente aufgrund mangelnder begleitender Arbeitsmarktreformen für die allermeisten Versicherten Viele Menschen in der Altersgruppe ab 60 Jahren auf eine verkappte Rentenkürzung hinauslaufen wird. wollen aber nicht mehr Vollzeit arbeiten. Sie wollen über Ich fand es bemerkenswert, wie der SPD-Kollege in Ha- den Umfang, in dem sie voll oder teilweise mit entspre- nau von den anwesenden Betriebsräten attackiert und re- chender Teilrente tätig sind, selbst bestimmen können. gelrecht demontiert wurde. Sie wünschen sich eine flexible Gestaltung des 7236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Renteneintritts und die Sicherstellung eines ausreichen- Fehlanreize beseitigen, die zu einem Beschäftigungsab- (C) den Auskommens durch eine Kombination aus gesetzli- bau – er ist heute fast systematisch – bei Älteren führen. cher Rente, privater und betrieblicher Altersvorsorge. Es hilft nicht, Programme, die bisher schon wirkungslos Sie wünschen sich – das ist ganz wichtig –, dass ihre Be- waren, einfach zu verlängern. Ich glaube nicht, dass das, schäftigungschancen durch Reformen auf dem Arbeits- was bisher wirkungslos war, plötzlich Wirkung zeigen markt, zum Beispiel durch Vorteile bei den Sozialversi- wird. Sie sagen ja, Herr Minister Müntefering, das liege cherungsbeiträgen, endlich wieder verbessert werden. daran, dass die Instrumente zu wenig bekannt waren. Ja, Warum nicht? Der eigentliche Skandal ist doch, dass äl- wer hat denn die Verantwortung dafür, dass die Men- tere Arbeitnehmer in unserer Volkswirtschaft aus dem schen diese Programme bisher nicht kennen? Kann das Arbeitsleben regelrecht herausgedrängt werden. Ein 60- wirklich der Grund sein? Ich glaube eher, dass die Pro- Jähriger muss sich heute fast rechtfertigen, wenn er mor- gramme nicht nur unbekannt, sondern auch einfach un- gens noch zur Arbeit geht. Damit muss Schluss sein. sinnig sind. (Beifall bei der FDP) Der Kombilohn, den Sie jetzt vorschlagen, wird ab- sehbar keine Wirkung zeigen, solange es lukrativere Für uns ist wichtig, dass die individuelle Gestaltung Ausstiegsmodelle wie etwa die Altersteilzeit gibt, die des Übergangs in den Ruhestand nicht länger zulasten Sie gerade verlängert haben. Eingliederungszuschüsse der Versichertengemeinschaft gehen darf. In dieser Hin- mögen für die Unternehmen interessant sein, insbeson- sicht unterscheiden wir uns dezidiert von der großen Ko- dere wenn es keine Nachbeschäftigungspflicht gibt. alition. Sie hat in der letzten Woche ein teueres Schlupf- Aber es gibt hier hohe Mitnahmeeffekte. Bei dem gerin- loch für die Altersteilzeit offen gehalten, obwohl wir gen vorgesehenen finanziellen Volumen ist es absehbar, heute besser denn je wissen, dass der Weg über die Al- dass die Wirkung niedrig sein wird. Ich frage Sie: Wenn tersteilzeit falsch war. Es ist besser, ihn heute als morgen die erweiterten Möglichkeiten der Befristung von Ar- zu schließen. beitsverträgen für Personen ab 52 Jahren ein richtiger (Beifall bei der FDP) Schritt sind, warum wird dieses Instrument dann nicht für alle Menschen angeboten, die aus der Arbeitslosig- Ich darf Ihnen ankündigen, dass die FDP-Fraktion in we- keit heraus wollen? nigen Wochen ein entsprechendes neues Rentenmodell präsentieren wird, in dem die von mir genannten Kritik- Zusammenfassend noch einmal: Die genannten Maß- punkte und Vorschläge berücksichtigt werden. nahmen werden verpuffen, wenn sich das Denken nicht ändert und wenn Fehlanreize nicht beseitigt werden. Zur Arbeitsmarktsituation Älterer und Ihrer Initiative Wenn, wie schon angesprochen, die Koalition reizvolle „50 plus“, Herr Minister, muss ich sagen: Sie ist nicht Möglichkeiten des Ausstiegs aus dem Arbeitsleben wei- (B) (D) ausreichend und nicht geeignet, eine wirkliche Verbesse- ter anbietet und mit großzügigen Vertrauensschutzregeln rung der derzeitigen Situation herbeizuführen. Das be- ausstattet, wird sich das neue Denken nicht durchsetzen legt schon die Wirkungsprognose, die Ihr Haus für die- können. Das ist falsch. ses Gesetz selbst gegeben hat. Auf der Homepage des BMAS heißt es, es sollen 65 000 Arbeitsplätze geschaf- (Beifall bei der FDP) fen werden. Sie, Herr Müntefering, waren im November ehrgeiziger und haben in diesem Haus von 100 000 Ar- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: beitsplätzen gesprochen. Anscheinend sind Sie ein biss- Sie müssen zum Ende kommen, Herr Kollege. chen vorsichtiger geworden. Es ist auf jeden Fall zu we- nig, wenn man bedenkt, dass die Beschäftigungsquote Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): der 55- bis 64-Jährigen heute – ich sagte es bereits – ge- Ich komme zum Ende. rade einmal bei 45 Prozent liegt. Das sind 2,8 Millionen Menschen in dieser Altersklasse, die noch arbeiten. Das (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ich dachte, jetzt bedeutet auch, dass 65 000 Beschäftigungsverhältnisse kommen die Vorschläge! Jetzt kommen die Al- mehr eine Steigerung von 45 auf 46 Prozent sind. Damit ternativen!) liegen wir deutlich hinter Schweden mit 69 Prozent oder Dänemark mit 60 Prozent. Ich finde, Herr Minister, Sie Ich verweise noch einmal auf den vorliegenden An- sollten hier durchaus ein bisschen mehr Ehrgeiz an den trag der FDP zum Rentenversicherungsbericht. Hier geht Tag legen und nicht einfach nur alten Wein in neuen es darum, dass wir den Menschen künftig wirklich die Schläuchen verkaufen. Genau darauf läuft Ihre Initiative Wahrheit sagen. Denn, Herr Minister, Sie haben gesagt: „50 plus“ am Ende hinaus. Gute Politik beginnt damit, dass man den Menschen die Wahrheit sagt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Das ist al- (Anton Schaaf [SPD]: Das machen wir ter Wein in alten Schläuchen!) gleich!) – Ja, vielleicht ist es sogar alter Wein in alten Schläu- Sie tun das nicht. Sie bringen mit der Rente mit 67 eine chen. Auch das kann ich nicht ausschließen. verkappte Rentenkürzung auf den Weg. Sie prognosti- zieren in Ihrem Rentenversicherungsbericht zu gute Wir brauchen einen grundsätzlichen Wechsel in der Rentenwerte, weil Sie im mittleren Szenario mit durch- Herangehensweise an das Problem der mangelnden Be- schnittlich zweieinhalb Prozent Lohnsteigerung rechnen, schäftigung älterer Menschen. Es geht darum, dass wir was mehr als optimistisch ist; vielleicht ist es realisti- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7237

Dr. Heinrich L. Kolb (A) scher als in der Vergangenheit, aber immer noch mehr Von verschiedenen Seiten wird kritisiert, das sei ein (C) als optimistisch. Rentenkürzungsprogramm. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! – Lieber Kollege Kolb, das, was Sie gesagt haben, war wirklich weit unter Ihrem Niveau. Wir haben seit letztem Jahr 536 000 Arbeitslose weniger. Diese Entwicklung Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): lässt sich schon rein mathematisch nicht bis zum Deswegen werden Sie den Anforderungen an eine Jahr 2029 fortschreiben. Denn dann müssten wir ein paar gute Politik leider nicht gerecht. Millionen Arbeitslose minus haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach was! – Dirk (Beifall bei der FDP) Niebel [FDP]: So ein Quatsch!) Ich wiederhole: in einem Jahr 536 000 Arbeitslose weni- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ger. Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Brauksiepe. Herr Kollege Kolb, Ihre Partei hat in der Geschichte dieses Landes 42 Jahre lang in unterschiedlichen Kon- (Beifall bei der CDU/CSU) stellationen regiert, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das waren nicht Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): die schlechtesten Jahre! – Zuruf von der SPD: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Jawohl! Genauso ist es!) gen! Die große Koalition hält Kurs in der Rentenpolitik und bringt heute die notwendigen Antworten ein, um die entweder mit uns oder mit den Sozialdemokraten. Ich for- Alterssicherung langfristig und weit über die laufende dere Sie auf – dabei lasse ich Ihnen die freie Auswahl –: Legislaturperiode hinaus zu stabilisieren. Suchen Sie das beste dieser 42 Jahre heraus und sagen Sie uns, in welchem Umfang in diesem Jahr die Arbeitslosig- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keit reduziert wurde. neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Blicken wir auf die Entwicklungen in der Vergangen- heit zurück. Die bestehende Altersgrenze von 65 gibt es Wenn Sie die Reduzierung der Arbeitslosigkeit um seit mittlerweile 90 Jahren: seit 1913 für die Angestell- 536 000 Personen als ungenügend bezeichnen, (B) (D) ten und seit 1916 für die Arbeiter. Diese Grenze wurde (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das setzt sich also in einer Zeit festgelegt, in der die Lebenserwartung aber doch nicht in sozialversicherungspflich- weit darunter lag. Arbeiten praktisch bis in den Tod tige Beschäftigung um! Das ist nicht so ein- – das ist heute unvorstellbar – ist bei der Einführung die- fach umzusetzen!) ser Regelaltersgrenze noch der übliche Fall gewesen. Es hat im Laufe der Jahrzehnte erheblichen sozialen Fort- muss ich Ihnen sagen: Sie haben von der Realität über- schritt gegeben. So lag die durchschnittliche Rentenbe- haupt keine Ahnung mehr, Herr Kollege Kolb. zugsdauer in den 60er-Jahren bei zehn Jahren, heute be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – trägt sie 17 Jahre. Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was wir vorle- zu einer Zwischenfrage) gen, bedeutet nach all den Zahlen, die wir kennen, dass – Herr Kollege Kolb, es kommen noch ganz andere Sa- wir sagen: Die Rentenversicherung kann es verkraften, chen. Bleiben Sie erst einmal sitzen. dass die durchschnittliche Rentenbezugsdauer bis zum Jahr 2030 von heute 17 Jahren auf 18 Jahre steigt. Das (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann kommt ist der Inhalt, um den es erfreulicherweise geht. Wir wis- nachher aber eine Kurzintervention! – Anton sen schon heute, dass die Lebenserwartung der 65-Jähri- Schaaf [SPD]: Es kommt noch besser!) gen im Jahr 2029 knapp drei Jahre höher ist als heute. Suchen Sie lieber in Ruhe das beste Jahr Ihrer Regie- Die Lebenserwartung der Rentner steigt also um knapp rungszeit heraus und sagen Sie uns, in welchem Umfang drei Jahre. Die Lebensarbeitszeit erhöhen wir um zwei Sie in diesem Jahr die Arbeitslosigkeit gesenkt haben. Jahre. Das heißt, die durchschnittliche Rentenlaufzeit wird um rund ein Jahr steigen. Das ist eine gute Nach- richt für die Menschen. Das kann die gesetzliche Ren- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tenversicherung dank der Produktivität der Arbeitneh- Sie wollen die Zwischenfrage also nicht zulassen? merinnen und Arbeitnehmer in unserer Volkswirtschaft verkraften. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): auf 20 Jahre zu erhöhen, das wäre allerdings unverant- Nein. wortlich. Deswegen beschließen wir heute die vorliegen- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anhebung der den Maßnahmen zur Rente mit 67. Altersgrenze auf 67 Jahre tritt nicht heute in Kraft und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch nicht morgen oder übermorgen, wie von Kritikern neten der SPD) immer wieder suggeriert wird. In den nächsten fünf 7238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Jahren ändert sich beim Renteneintrittsalter überhaupt jährige Beitragszahlung bedeutet auch etwas im Hin- (C) nichts. blick auf die Lebensleistung. Das muss in den sozialen Sicherungssystemen honoriert werden. Das hat etwas (Dirk Niebel [FDP]: Jawohl! Sagen Sie es mit sozialer Gerechtigkeit zu tun und deswegen machen doch: Die Rente ist sicher!) wir das so. Erst ab dem Jahr 2012 beginnen wir sehr behutsam da- (Beifall bei der CDU/CSU) mit, das Renteneintrittsalter um einen Monat pro Jahr zu erhöhen. Das heißt, im Jahre 2023, also in 17 Jahren, ha- Weil wir diejenigen, die Familienarbeit leisten, nicht ben wir ein um ein Jahr höheres Renteneintrittsalter als schlechter stellen wollen, weil wir Beitragsleistung und heute. Dann wird es bei 66 Jahren liegen. Danach geht es Familienleistung gleichstellen wollen, haben wir gesagt: in größeren Schritten weiter. Das ist ein behutsamer und Diejenigen, die Kinder erziehen, bekommen diese Zeit kalkulierbarer Weg. angerechnet; diejenigen, die Angehörige pflegen, be- kommen das angerechnet. Richtig ist, dass uns die heutige Situation auf dem Ar- beitsmarkt für die Menschen über 50 Jahre noch nicht (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ zufrieden stellen kann. Aber auch hier sind wir auf dem DIE GRÜNEN]: Was ist, wenn jemand lange richtigen Weg. Wenn man sich die Quote der Beschäfti- erwerbslos war? Wird das auch angerechnet?) gung der 55- bis 64-Jährigen, wie sie im EU-Vergleich Für die ersten drei Jahre der Erziehung eines Kindes gemessen wird, vor Augen führt, stellt man fest: Noch wird angenommen, der Durchschnittsbeitrag sei einge- vor drei Jahren lag sie in Deutschland bei unter 40 Pro- zahlt worden. Durch die Einbeziehung der Kinderbe- zent. Heute liegt diese Quote bei uns bei 45,4 Prozent, in rücksichtigungszeiten werden im Grunde zehn Jahre pro der alten EU 15 bei 44,1 Prozent und in der EU 25 bei Kind angerechnet, wenn festgestellt wird, wie lange je- 42,5 Prozent. Das heißt, was die Beschäftigung Älterer mand versichert war. Dies ist nach meiner festen Über- angeht, sind wir schon jetzt klar über dem EU-Durch- zeugung eine notwendige Ausnahme. Ich bin dankbar, schnitt. Dieser Trend ist positiv. Wir haben uns vorge- dass unser Koalitionspartner diesem Wunsch, den wir in nommen, im Jahr 2010 – bis dahin wird sich beim Ren- die Koalitionsverhandlungen eingebracht haben, gefolgt teneintrittsalter nichts geändert haben – 50 Prozent zu ist, dass wir das gemeinsam verabreden konnten. Das erreichen. Auf diesem Weg sind wir. war ein langjähriges Ziel der Union und ich darf sagen, Im November dieses Jahres waren 97 000 weniger es war auch ein langjähriges Ziel der Christlich-Demo- über 50-Jährige arbeitslos gemeldet als vor einem Jahr. kratischen Arbeitnehmerschaft, eine solche Ausnahme Wir sind also auf einem positiven Weg, was die Beschäf- für besonders langjährig Versicherte zu schaffen. Ich bin tigung Älterer angeht. Wir werden diesen Weg gemein- froh, dass wir dies vereinbart haben. (B) (D) sam weitergehen. Schon im Jahr 2012 wird die Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU) lung auf dem Arbeitsmarkt völlig anders verlaufen. Jeder, der mit diesem Thema seriös umgeht, weiß, dass Wir haben eine weitere Ausnahme verabredet für der Arbeitsmarkt des Jahres 2029 völlig anders aussehen langjährig Versicherte, die vor dem 67. Lebensjahr in wird als der heutige. Deswegen sind diese Maßnahmen Rente gehen wollen. Das ist bisher schon möglich – mit sachgerecht. versicherungsmathematisch korrekten Abschlägen –, al- lerdings in einem kürzeren Korridor. Wir werden dafür (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sorgen, dass es weiterhin möglich ist, mit 63 Jahren in neten der SPD) Rente zu gehen; bei der Rente mit 67 dann mit versiche- Wir haben in vielen wichtigen Detailfragen deutlich rungsmathematisch korrekten Abschlägen für vier Jahre. gemacht, dass wir eine Reform durchführen müssen, die Damit kommen wir auch einem Wunsch der Tarifpartner finanzielle Solidität und soziale Gerechtigkeit miteinan- nach mehr Flexibilität nach. Diese Regelung ist für die der verbindet. Beides ist notwendig. Von diesem Prinzip Rentenversicherung langfristig kostenneutral. haben wir uns leiten lassen, als es um die Frage ging: Uns ist darüber hinaus klar: Es wird bei allem Fort- Wie gehen wir mit dem runden Dutzend verschiedener schritt bei der Humanisierung der Arbeitsverhältnisse Rentenarten um, die es von der Rente für Schwerbehin- immer Menschen geben, die nicht bis 67 arbeiten kön- derte über die Rente für langjährig unter Tage beschäf- nen. Deswegen brauchen wir auf Dauer das Instrument tigte Bergleute bis hin zur Witwen- und Witwerrente der Erwerbsminderungsrente; auch dazu bekennen wir gibt? Wir haben uns dabei von dem Grundsatz leiten las- uns ausdrücklich. Heute geht jemand, der nicht mehr sen, jeweils parallel zur Regelaltersrente bis zum Jahr voll arbeiten kann, mit ungefähr 50 Jahren in die Er- 2029 einen Anstieg um zwei Jahre vorzunehmen. werbsminderungsrente. All diejenigen, die in einem sol- Wir haben in drei Bereichen Ausnahmen gemacht. chen Alter in Erwerbsminderungsrente gehen, bleiben so Der Erste betrifft die Menschen, die 45 Jahre gearbeitet gestellt, wie sie sind: Sie werden so behandelt, als hätten haben, also besonders langjährig Versicherte. Wir stel- sie bis 60 gearbeitet, das heißt, die so genannten Zurech- len sicher, dass diejenigen, die 45 Beitragsjahre aufzu- nungszeiten bleiben unverändert, für diese Menschen weisen haben, weiterhin mit 65 Jahren ohne Abschläge ändert sich nichts. Auch für all diejenigen, die langjährig in Rente gehen können. Da mag mancher sagen, das sei versichert sind, wird es möglich sein, wenn sie später in unsystematisch. Wahr ist, das ist etwas Neues. Wir sagen Erwerbsminderungsrente gehen, die volle Erwerbsmin- damit klipp und klar: Beitragsleistung ist notwendig, die derungsrente zu beanspruchen. Das heißt, für langjährig Sozialversicherung lebt von den Beiträgen. Eine lang- Versicherte wird es im Alter von 63 Jahren weiterhin die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7239

Dr. Ralf Brauksiepe (A) volle Erwerbsminderungsrente geben. Wir bekennen uns „50 plus“ bedeutet mehr als der Gesetzentwurf, den wir (C) dazu. Auch wenn der Grundsatz der Heraufsetzung um vorlegen. „50 plus“ ist etwas, was in den Köpfen der zwei Jahre auch bei dieser Rentenart gilt, haben wir weit Menschen stattfinden muss. Es muss allen klar sein, dass reichende Ausnahmen geschaffen, um der Lebens- und ein über 50-Jähriger nicht zum alten Eisen gehört, son- Beschäftigungssituation derer gerecht zu werden, die dern noch rund eineinhalb Jahrzehnte zu arbeiten hat. nicht so lange arbeiten können. Die Starken für die Deswegen gibt es schon jetzt eine Reihe von gesetzli- Schwachen, das ist das Prinzip der solidarischen Renten- chen Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung versicherung. Die, die nicht mehr können, werden aufge- Älterer. Es gibt aber nicht nur Gesetze. Wir auf Bundes- fangen von der Solidargemeinschaft derer, die länger ebene nehmen auch Geld in die Hand. Das Bundes- arbeiten können. Das ist das bewährte Prinzip der Ren- arbeitsministerium fördert 62 Modellprojekte in tenversicherung. Das erhalten wir aufrecht. Deutschland. Nach mir spricht noch die Kollegin (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schewe-Gerigk. Auch in unserem Wahlkreis – wir sind neten der SPD) im selben Wahlkreis tätig – gibt es ein solches Projekt. Es wird Geld des Bundes in die Hand genommen, um Diese Rentenreform auf den Weg zu bringen, war in die Wirtschaft, um die Länder und um die Kommunen der Tat nur gegen massive Widerstände möglich; das ist stärker in diesen Prozess einzubinden. wahr. Der Begriff der Jahrhundertreform ist politisch viel zu häufig strapaziert worden. Deswegen will ich da- Zusätzlich tun wir mit bundesgesetzgeberischen Maß- von bewusst nicht sprechen. Aber sicherlich schreiben nahmen nun noch etwas, um diesen Prozess anzustoßen. wir ein Stück Sozialgeschichte, wenn wir heute die Wei- Darüber hinaus regeln wir die EU-rechtskonforme chen für einen Übergangszeitraum von 23 Jahren stellen, befristete Beschäftigung Älterer neu, und zwar in einer Weise, die Flexibilität schafft, wie das sonst im Befris- um dann die Grundlage für eine durchschnittliche Ren- tungsrecht an keiner Stelle der Fall ist. Unsere Erwar- tenbezugsdauer von 18 Jahren zu haben. tung ist, dass die Unternehmen von diesen Möglichkei- Das war – das ist schon angesprochen worden – nur ten Gebrauch machen und in Zukunft noch verstärkt gegen massive Widerstände möglich. Wichtige und ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einstellen. mächtige Menschen haben sich dagegen ausgesprochen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich nenne als Beispiele den DGB-Chef Michael Sommer, den FDP-Chef Guido Westerwelle, den IG-Me- Wir haben den Weg in diesem Gesetzgebungsverfah- tall-Chef Jürgen Peters und den FDP-Generalsekretär ren noch vor uns. Ich sage ganz deutlich: Wir sind dafür Dirk Niebel. Sie alle haben sich gegen die Rente mit 67 offen, diese gesetzlichen Maßnahmen, wenn es den Be- ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund gilt mein beson- darf gibt, noch anzureichern und Anhörungen und Dis- (B) derer Dank der Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem Vi- kussionen dazu durchzuführen. (D) zekanzler und zuständigen Minister Franz Müntefering Wir von der Union wollen – auch das sage ich ganz sowie den Kolleginnen und Kollegen aus den Koali- deutlich – für ältere Arbeitslosengeld-I-Empfänger, so tionsfraktionen, dass wir diesem Druck nicht nachgege- wie es der Minister vorgeschlagen hat, die Entgeltsiche- ben haben, sondern diesen notwendigen Beschluss ge- rung verbessern, damit mehr Menschen nach kurzer Ar- meinsam gegen Widerstände auf den Weg gebracht beitslosigkeit wieder in Beschäftigung kommen. Wir haben. Wir werden das auch weiterhin gegen Wider- von der CDU/CSU wollen gleichzeitig einen Kombi- stände tun. lohn für über 50-jährige Arbeitslosengeld-II-Bezieher, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- um auch die Menschen, bei denen es, aus welchem neten der SPD) Grund auch immer, nicht geklappt hat, sie wieder schnell in Arbeit zu bringen, nicht aufzugeben. Auch ältere Widerstand kam leider auch von der FDP. Das wissen Langzeitarbeitslose brauchen eine Perspektive in unse- Sie, Herr Kolb, am besten. Sie haben auf Ihrem letzten rem Land. Das hat etwas mit unserem christlichen Ver- Bundesparteitag den Antrag eingebracht, das reguläre ständnis zu tun, niemanden aufzugeben und am Weges- Renteneintrittsalter solle auf 67 Jahre heraufgesetzt wer- rand stehen zu lassen. Deswegen werden wir in dieser den. Das haben Sie damit begründet, dass die FDP den Frage auch weiterhin aktiv werden. Mut haben und sich zu notwendigen Reformschritten be- kennen solle. Dafür haben Sie leider keine Mehrheit be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kommen, keine Mehrheit für Mut, keine Mehrheit für neten der SPD) notwendige Reformschritte in der FDP. Das ist schade, Also: Wir haben wichtige Reformvorhaben vorgelegt, auch für Sie, Herr Kolb. Aber Sie können beruhigt sein: um die Renten zu konsolidieren und um zu einer gerech- Wir als große Koalition ergreifen auch gegen Wider- ten Verteilung der Lasten aus der demografischen Ent- stände unpopuläre Maßnahmen. wicklung zwischen Rentenempfängern, Beitragszahlern und Steuerzahlern zu kommen. Lassen Sie uns gemein- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sam konstruktiv diesen Weg weitergehen im Interesse neten der SPD) der arbeitenden Menschen und derer, die als Rentnerin- Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Sätze nen und Rentner den Lohn für ihre Lebensleistung von zum Thema „50 plus“ sagen. Trotz der positiven Ent- uns mit Recht erwarten. wicklung, die wir haben, sind wir als Gesetzgeber aufge- Herzlichen Dank. fordert, das, was wir tun können, auch in Zukunft zu tun, um diesen Prozess zu flankieren. Das Programm (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 7240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Klaus Brandner [SPD]: Sie hatten doch schon (C) Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem elf Minuten Redezeit!) Kollegen Kolb. In Rostock lag ein Antrag mit dem Titel „Rentenpolitik fair und generationengerecht gestalten“ vor, der sieben Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Punkte enthielt. Davon haben wir sechs beschlossen. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wenn jemand keine Zwischen- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Zum frage zulässt, dann muss er es sich zumindest gefallen Beispiel?) lassen, dass man in Form einer Kurzintervention inhalt- – Darauf komme ich noch zurück. – Teilweise waren das lich zu dem Stellung nimmt, was hier gesagt wurde. Herr sehr unpopuläre Dinge, nämlich etwa die Abschaffung Kollege Brauksiepe, ich will das zu zwei Punkten tun. des Lebensalters als Kriterium im Kündigungsschutzge- Erstens. Sie sollten sich das, was Herr Minister setz und die sofortige Beendigung von Frühverrentungs- Müntefering gesagt hat, wirklich noch einmal vor Augen möglichkeiten. Man muss hier klipp und klar sagen: Das führen: Gute Politik fängt damit an, dass man den Men- alles trauen Sie sich ja nicht, obwohl dies wesentliche schen sagt, was ist. Teile der Lösung des Problems sind. (Beifall bei der FDP) Einen Punkt haben wir offen gelassen, aber nicht des- halb, weil wir uns dem verweigern wollen, sondern weil Sie haben wieder nur die Hälfte der Wahrheit gesagt. Die wir mit etwas mehr Zeit nach einer besseren Lösung su- Hälfte der Wahrheit ist: Die Arbeitslosenzahl in unserem chen wollten. Wenn Sie mir zugehört hätten, dann wüss- Land ist im letzten Jahr im Jahresvergleich um ten Sie, dass ich gesagt habe, dass die FDP in wenigen 500 000 zurückgegangen. Die andere Hälfte der Wahr- Wochen im Deutschen Bundestag ein Eckpunktepapier heit ist: Im gleichen Zeitraum sind nur etwa einbringen wird, in dem sehr klar beschrieben ist, wie 250 000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen ge- man die Erwartungen der Menschen bezüglich des Über- schaffen worden. gangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand besser erfül- len kann. Wir kneifen hier nicht, sondern wir werden (Klaus Brandner [SPD]: Was ist das für eine Farbe bekennen. Milchmädchenrechnung! Wir freuen uns über Selbstständigkeit und Existenzgründungen! Ich sage Ihnen voraus: Sie werden sich mit dem Vor- Die Erwerbstätigkeit steigt, Herr Kolb!) schlag, den wir Ihnen präsentieren werden, schwer tun. Ich freue mich schon heute auf diese Situation. – Ja, Herr Kollege Brandner, das ist ein ganz entschei- dender Punkt, weil die Finanzierungskrise in allen Berei- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (D) (B) chen der sozialen Sicherung damit zusammenhängt, dass (Beifall bei der FDP) wir in den letzten vier Jahren 1,4 Millionen sozialversi- cherungspflichtige Arbeitsplätze verloren haben. Ich freue mich, dass wir jetzt wieder 250 000 Stellen gut ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: macht und etwas Boden gewonnen haben. Herr Brauksiepe, bitte. (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ihre Freude kommt in Ihrem Beitrag nicht zum Ausdruck!) Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Herr Kollege Kolb, ich bitte ausdrücklich um Ent- Zur Wahrheit gehört aber, den Menschen auch zu sagen, schuldigung, dass ich Ihnen nicht die Gelegenheit zu ei- dass es keinen Grund zur Entwarnung gibt und dass die ner Zwischenfrage gegeben habe. Ich hatte sie zu einem Lage der sozialen Sicherungssysteme weiterhin ange- späteren Zeitpunkt erwartet, nämlich dann, als ich darauf spannt bleibt, wenn wir diese Trendumkehr nicht wirk- hingewiesen habe, dass Sie die Rente mit 67 Jahren ab- lich dauerhaft erreichen und verstetigen. lehnen. Als ich das das letzte Mal gesagt habe, haben Sie eine Zwischenfrage gestellt. Sie bestreiten jetzt also (Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]: nicht mehr, dass die FDP die Rente mit 67 Jahren ab- Die Lage der FDP ist ernst, aber noch nicht lehnt. hoffnungslos!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, nein!) Herr Brauksiepe, Sie hätten auch sagen sollen, dass sich die Differenz dadurch begründet, dass demografisch Das haben Sie akzeptiert. Deswegen kam die von mir er- bedingt viel mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt aus- wartete Zwischenfrage an dieser Stelle nicht. Sie hatten treten, als neue hinzukommen. Manche Menschen ver- also keine Gelegenheit, sie zu stellen. Dafür bitte ich abschieden sich gänzlich aus dem Arbeitsmarkt und ausdrücklich um Entschuldigung. Wir sind sehr gespannt manche gehen einer geförderten selbstständigen Tätig- darauf, was Sie uns ankündigen werden. keit – Ich-AG – nach. Für uns ist wichtig, dass die An- Ich habe von 536 000 Arbeitslosen weniger als vor ei- zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs- nem Jahr gesprochen. Wir können gerne über die sozial- verhältnisse relativ gesehen stagniert. Wenn man sich versicherungspflichtige Beschäftigung reden. Wir haben den Vierjahresvergleich anschaut, dann erkennt man, 317 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte mehr dass wir weiterhin deutlich im negativen Trend liegen. als vor einem Jahr. Ich habe Ihren Beitrag so verstanden, Das Zweite, auf das ich eingehen möchte, sind Ihre dass Sie einen solchen Rückgang der Arbeitslosigkeit in Aussagen zur Position der FDP in Rostock. Ihren 42 Regierungsjahren nicht hinbekommen haben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7241

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Ich mache Ihnen ein neues Angebot: Wenn Ihre Kollegin Dann werden wir dafür kritisiert – zum Beispiel von (C) an der Reihe ist, dann soll sie uns das Jahr der 42 Jahre Herrn Meckelburg und von anderen –, dass wir eine an- Ihrer Regierungszeit in der Bundesrepublik Deutschland dere Auffassung haben. Ich würde gerne darüber disku- nennen, in dem Sie 317 000 sozialversicherungspflich- tieren, was das bedeutet. Stellen Sie sich einmal vor, tige Beschäftigungsverhältnisse zusätzlich geschaffen auch wir wären der Meinung, man müsse das Rentenein- haben. Das wäre doch ein interessanter Beitrag zur trittsalter auf 67 Jahre erhöhen. Stellen Sie sich einmal Wahrheitsfindung. vor, der ganze Bundestag wäre sich einig, aber 67 Prozent der Bevölkerung sind dagegen. Vielen Dank. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – DIE GRÜNEN]: Vor zwei Jahren waren noch Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben von 100 Prozent dagegen!) 1982 bis 1990 zusammen übrigens 3 Millionen zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse ge- Und dann wollen Sie, dass die Interessen dieser schaffen! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ 67 Prozent im Bundestag nicht einmal artikuliert wer- DIE GRÜNEN]: Klärt das vor der Tür!) den! Das wäre das Ende der repräsentativen Demokratie. (Beifall bei der LINKEN) – Da waren wir gut; das ist wahr. Herr Müntefering, Sie haben zu Recht gesagt: Alles (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fängt damit an, dass man Tatsachen anerkennt und dass NEN]: Braucht ihr einen Sekundanten? – man sie auch ehrlich vorträgt. Ich darf zwei Zitate brin- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, es geht hier gen, ein Zitat aus dem Wahlprogramm der Union aus weitgehend gewaltfrei ab!) dem Jahr 2005: „Sobald es die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt erlauben, kommt auch eine schrittweise Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Anhebung des Renteneintrittsalters infrage.“ Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi für die (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Linke. Sehr gut! – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: (Beifall bei der LINKEN) Genau!) – Na ja. Ich finde, die Bedingungen erlauben es nicht. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Falsch ist es auch, aber immerhin: Sie haben es gesagt. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt zitiere ich aus dem Wahlprogramm der SPD. Da- Herr Müntefering, wir haben es zunächst einmal mit ei- rin steht Folgendes: „Unser Ziel ist, das faktische Ren- (B) nem praktischen Demokratieproblem zu tun. teneintrittsalter an das gesetzliche Renteneintrittsalter (D) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die von 65 Jahren heranzuführen.“ Da steht nichts von 67. Linkspartei hat ein Problem mit der Demokra- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja wie bei tie!) der Mehrwertsteuererhöhung!) Herr Meckelburg hat hier in der vorigen Debatte ge- Sie machen dasselbe wie bei der Mehrwertsteuer: Sie sagt, die Mehrheit wolle nicht, dass das Renteneintritts- versprechen im Wahlkampf etwas anderes, als Sie hier alter auf 67 Jahre erhöht werde. Nun will ich gar nicht realisieren. bestreiten, dass auch eine Koalition in einer Regierungs- zeit von vier Jahren einmal als Ausnahmefall gezwungen (Beifall bei der LINKEN und der FDP) sein kann, etwas gegen den Willen der Mehrheit zu Damit müssen Sie sich auseinander setzen. Sie kön- entscheiden. Das Problem ist nur: Bei Ihnen wird das nen nicht behaupten, andere erkennen die Tatsachen zum Regelfall. nicht an, und sich hier hinstellen und sagen, Sie wollen nicht an Ihre Wahlversprechen erinnert werden. So geht (Beifall bei der LINKEN) es nicht! Ob wir die Mehrwertsteuererhöhung nehmen, ob wir die (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie sind immer Gesundheitsreform nehmen, ob wir die Körperschaft- noch in der Phase des Versprechens!) steuersenkung für die Deutsche Bank und andere Kapi- talgesellschaften nehmen, ob wir die Pendlerpauschalen- Kommen wir zur demografischen Entwicklung, also reduzierung nehmen, all das geschieht gegen den zu den Zahlen und Tatsachen. Ich will jetzt nicht so weit Mehrheitswillen der Bevölkerung. zurückgehen, aber als wir noch in Höhlen lebten, wurden wir 20 bis 30 Jahre alt, glaube ich. Das liegt sehr lange (Beifall bei der LINKEN) zurück. Was die Rente ab 67 betrifft, gibt es hier eine breite (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Da gab Übereinstimmung. Die Union will sie, die SPD will sie, es auch noch keine Rentenversicherung!) die Grünen wollen sie. Die Grünen behaupten sogar, dies läge im Interesse der jungen Leute. Das verstehe ich nun Aber ab 1900 gibt es genauere Zahlen. In den gar nicht, denn die jungen Leute müssen ja dann länger 100 Jahren von 1900 bis 2000 sind wir in der Gesell- schaft in Deutschland um über 30 Jahre älter geworden. arbeiten. Die FDP will die Erhöhung des Renteneintritts- Das ist schon interessant. alters halb, noch nicht ganz. Wir werden sehen, wie sich die Sache entwickelt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gut so!) 7242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Gregor Gysi (A) Herr Bismarck hat 1891 das Rentenalter mit 70 einge- zu verlängern. Die Produktivität nimmt doch weiter zu (C) führt, weil er die Beiträge nicht so hoch ansetzen wollte. und wir werden nicht entsprechend mehr Waren und Dienstleistungen verkaufen können. Deshalb ist es in (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Leute sind ökonomischer Hinsicht völliger Unsinn, die Arbeitszeit mit 40 gestorben!) um zwei Jahre zu verlängern. 1916 wurde für Arbeiter das Rentenalter auf 65 Jahre re- duziert, für Angestellte schon früher. Das heißt, 90 Jahre (Beifall bei der LINKEN – Dr. Ralf Brauk- haben wir dieses Renteneintrittsalter durchgehalten – bei siepe [CDU/CSU]: Also am besten gar nicht einer Steigerung der Lebenserwartung von über arbeiten!) 30 Jahren. Und jetzt kommen Sie und sagen, bis zum Es gibt zwar Löcher in den Rentenkassen – das ist Jahre 2050 werden wir noch einmal sechs Jahre älter. Im richtig –, aber sie haben nichts mit der Bevölkerungszu- Vergleich zu über 30 Jahren ist das nichts. Nicht einmal sammensetzung nach ihrem Alter zu tun, sondern mit demografisch lässt sich Ihre Entscheidung vernünftig be- dem Wachstum des Sozialprodukts bzw. der Produktivi- gründen. tät, der Entwicklung der Reallöhne, der Zahl der sozial- (Beifall bei der LINKEN) versicherungspflichtig Beschäftigten und der Verteilung des Sozialprodukts. Schuld an Löchern in der Renten- Das Nächste, wenn wir über Tatsachen reden, ist, dass kasse sind die hohe Arbeitslosigkeit – denn Arbeitslose es auf die Alterszusammensetzung der Bevölkerung gar zahlen keine Beiträge ein –, der Rückgang der Lohn- nicht ankommt. quote – denn wenn es weniger Löhne gibt oder die Löhne nicht steigen, dann gehen die Beiträge entspre- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: chend zurück – und der wachsende Niedriglohnsektor, Doch, das ist das entscheidende Thema! Nicht wodurch die Einzahlungen in die gesetzliche Rentenver- ausweichen! – Weitere Zurufe von der CDU/ sicherung noch weiter zurückgehen. CSU) – Es ist übrigens interessant, wie sich alle aufregen. Sie Ich darf daran erinnern, dass wir als einzige Industrie- werden alle älter, aber so alt, wie Sie tun, nun auch wie- gesellschaft in den letzten sieben Jahren einen Rück- der nicht. gang der Reallöhne um 0,9 Prozent zu verzeichnen hat- ten. In den USA, in Großbritannien und Frankreich (Beifall bei der LINKEN) wurden Steigerungen von 20 bis 25 Prozent erzielt. Das ist eine völlig andere Entwicklung. Wie viele Menschen über 65 Jahre alt sind, ist gar nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage (Beifall bei der LINKEN) (B) ist die der Produktivität der Menschen. (D) Diese Probleme wirken sich auch in der Rentenver- (Beifall bei der LINKEN) sicherung aus. Dann kam noch ein weiterer Fehler hinzu, 1900 hat ein Bauer acht Menschen versorgt. Heute ver- auf den ich aus Zeitgründen nur kurz eingehen kann. sorgt ein Bauer 80 Menschen. Das sind Tatsachen, die Dieser Fehler bestand darin, die Kosten der deutschen Sie überhaupt nicht erörtern. Im Schnitt der letzten Jahre Einheit – insbesondere auch die Renten in Ostdeutsch- stieg die Produktivität pro Jahr um 3 Prozent. Nehmen land – dem Rentenversicherungssystem aufzubürden, wir nur ein Jahr; nehmen wir nur das Jahr 2005. In die- statt sie aus Steuermitteln zu finanzieren, was dringend sem Jahr stieg die Produktivität um 1,9 Prozent. Darauf erforderlich gewesen wäre. hat Herr Lafontaine zwar schon hingewiesen und Sie (Beifall bei der LINKEN) wollen eigentlich keine Wiederholungen hören, aber weil Sie es offenbar nicht verstanden haben, muss ich es Jetzt können wir Altersarmut prognostizieren. Sie wiederholen. sagen selbst, Herr Müntefering, dass der Anteil am (Beifall bei der LINKEN) Durchschnittsverdienst, den man als Rente bekommt, im Laufe der Jahre immer weiter zurückgehen und letztlich Die Produktivität stieg, wie gesagt, um 1,9 Prozent. auf unter 46 Prozent sinken wird. Im Osten wird sich das Die Wirtschaft wuchs aber nur um 1,4 Prozent. Das dramatisch auswirken; denn dort ist die Arbeitslosigkeit heißt, dass bei unveränderter Arbeitszeit 1,9 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Die geringe Durch- mehr Waren und Dienstleistungen hergestellt bzw. er- schnittsrente wird nur nach 45 Jahren Beitragszahlung bracht wurden. Im selben Zeitraum wurden aber nur ausgezahlt. Im Osten wird es aber kaum jemanden ge- 1,4 Prozent mehr Produkte und Dienstleistungen ver- ben, der 45 Jahre lang Beiträge zahlen konnte. Das heißt, kauft. Das ist das Problem. Kein Unternehmen wird et- dass wir es dort mit einer ernst zu nehmenden Altersar- was herstellen, das es nicht verkaufen kann. Es bleibt mut zu tun bekommen werden. eine Differenz von 0,5 Prozentpunkten. Das alles lösen Sie doch nicht dadurch, dass Sie eine Was ist zu tun? Es gibt zwei Wege: Man kann entwe- wirkungslose Initiative „50 plus“ durchführen und das der die Arbeitszeit entsprechend reduzieren oder die Ar- Renteneintrittsalter um zwei Jahre erhöhen. Ich frage beitslosigkeit steigt an. Leider ist immer Letzteres ge- mich, wo Ihre Antworten zu finden sind. schehen. Aber eine Maßnahme ist völlig unpassend – darauf sind Sie mit keinem Satz eingegangen –: im (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Meckel- Laufe der nächsten Jahre die Arbeitszeit um zwei Jahre burg [CDU/CSU]: Wie lösen Sie es denn?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7243

Dr. Gregor Gysi (A) – Man muss Reformen durchführen. Das stimmt und das ken. Der dort geltende Grundsatz lautet: Es ist zwar (C) wissen wir auch. Wir haben viele Eigenschaften, aber richtig, dass die Millionäre keine gesetzliche Rente be- wir sind nicht bescheuert. nötigen, aber die gesetzliche Rentenversicherung benö- tigt die Millionäre. Einen solchen Mut würde ich gerne (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Na, na! Da kann auch im Bundestag erleben. man geteilter Meinung sein! – Zuruf von der CDU/CSU: Die einen sehen es so und die an- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. deren so!) Kolb [FDP]: Dem steht das Grundgesetz ent- gegen!) Sie müssen 8,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler zu- mindest zutrauen, dass sie keine bescheuerten Leute Die Unternehmen haben sich verändert. Zu wählen. Wenigstens das sollten Sie den über 4 Millionen Bismarcks Zeiten erzielten zwei Unternehmen aus unter- Menschen zutrauen, wenn Sie ihnen sonst schon nicht schiedlichen Branchen mit jeweils 100 Beschäftigten in viel zutrauen. etwa den gleichen Gewinn, wenn sie gleich gut geleitet wurden. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Je (Beifall bei der LINKEN) nach Branche braucht der eine 200 Beschäftigte und der Ich ärgere mich über etwas anderes mehr. Sie verspre- andere nur 100 Beschäftigte, um den gleichen Gewinn chen immer wieder Dinge, die Sie nicht einhalten. Sie zu erzielen. Deshalb fordere ich immer: Streichen Sie schwindeln im Wahlkampf, werden aber wieder gewählt. die Lohnnebenkosten! Machen Sie eine Reform und füh- Das ärgert mich zwar, aber ich kann es nicht ändern. ren Sie eine Wertschöpfungsabgabe ein! Sie ist viel ge- rechter, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedli- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- che Leistungsfähigkeit der Unternehmen. neten der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Zurück zur Finanzierung: Zu Bismarcks Zeiten stammten 90 Prozent der Einkommen aus abhängiger Was ist das Ziel? Sie sagen, es gehe um die Beiträge. Beschäftigung und 10 Prozent aus Vermögen, Selbst- Aber das stimmt gar nicht. Sie sagen, dass die Menschen ständigkeit und Unternehmertum. Heute stammen nur mehr private Vorsorge betreiben und beispielsweise noch 60 Prozent der Einkommen aus abhängiger Be- Riester-Verträge abschließen sollten. Aber dann müssen schäftigung; 40 Prozent kommen aus Selbstständigkeit, die Menschen 4 Prozent ihres Bruttoeinkommens zur Unternehmertum und Vermögen. Dadurch reduziert sich Altersvorsorge aufwenden. Tatsächlich geht es Ihnen die Zahl der Beitragszahler enorm, nämlich von nicht um die Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer, sondern nur um den Arbeitgeberanteil. Die- (B) 90 Prozent auf 60 Prozent derjenigen, die ein Einkom- (D) men erzielen. Also könnte eine Reform darin bestehen sen wollen Sie festschreiben, damit die Unternehmen – das wäre ein mutiger Schritt –, alle Einkommen nicht mehr zahlen müssen. Hier macht die SPD mit. Das schrittweise in die gesetzliche Rentenversicherung mit entspricht aber nicht ihrer Herkunft und sollte auch nicht einzubeziehen. ihre Zukunft sein. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. (Beifall bei der LINKEN) Kolb [FDP]: Sie lösen das Problem damit nicht!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: – Dass die FDP das nicht will, ist mir klar. Dass ein ar- Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. mer Apotheker plötzlich in die Rentenversicherung ein- zahlen soll, halten Sie nervlich nicht aus. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Jetzt werden Sie sagen, dass die Einzahler dann auch Lassen Sie mich als letzten Satz sagen: Das ist meines eine Rente beziehen werden. Erachtens eine Unterordnung der Politik unter die Inte- ressen der Wirtschaft. Da Sie dafür sorgen, dass auch ich (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer Beiträge zahlt, zwei Monate später die gesetzliche Rente bekomme hat auch einen Anspruch darauf!) – was nicht weiter schlimm ist, weil ich eine Pension des Bundestages erhalte –, dachte ich mir, dass Sie eine – Hören Sie zu; ich will auf etwas anderes hinaus. – kleine Strafe verdient haben: Ich bleibe hier einfach eine Natürlich bekommen auch diejenigen, die zusätzlich Legislaturperiode länger, als ich es vorhatte. in die Rentenversicherung einzahlen, eine Rente. Wir Danke schön. müssen daher die Beitragsbemessungsgrenze schritt- weise aufheben und die Rentensteigerungen abflachen. (Anhaltender Beifall bei der LINKEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das landet dann in Karlsruhe!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Wissen Sie, wie es in der Schweiz ist? In der Schweiz Bündnis 90/Die Grünen. muss jemand, der Millionen verdient, entsprechend sei- nem Einkommen Beiträge zahlen. Es gibt aber eine ge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das scheint eine setzliche Höchstrente von circa 1 800 Schweizer Fran- lange Rede zu werden, Frau Schewe-Gerigk!) 7244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- finde, es ist absolut absurd, dass er uns nun via Talk- (C) NEN): shows Ratschläge erteilt oder der IG BAU als Kron- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zeuge gegen eine solidarische Verlängerung der Alters- Das Renteneintrittsalter zu erhöhen ist keine populäre grenzen dient. Herr Exminister Blüm, Sie sollten lieber Entscheidung, wegen der demografischen Entwicklung dieses Sitzkissen, das uns die IG BAU zusammen mit ih- aber richtig. Das sage ich auch als Oppositionspolitike- rer Stellungnahme und ihren Ratschlägen zugeschickt rin. hat, nehmen und damit in ein Fußballstadion gehen, statt die Menschen in die Irre zu führen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten der SPD) Wir brauchen die innovativen Arbeitgeber, die schon Wir sind nicht als Abgeordnete gewählt worden, um po- heute wissen: Lebenslanges Lernen, Gesundheitsförde- pulistische Entscheidungen zu treffen, sondern wir sind rung und altersgemischte Teams sind der Schlüssel für gewählt worden, um den Menschen die Wahrheit über den Erfolg eines Unternehmens der Zukunft. Es ist eine die tatsächliche Situation zu sagen und Lösungen anzu- große Herausforderung, ausreichend Arbeitsplätze für bieten. Ältere zu schaffen. Wer aber, wie es die Linke tut, die heutige Arbeitsmarktsituation auf das Jahr 2030 über- Die Wahrheit ist: Weniger Beschäftigte trägt, der gibt den Anspruch auf politische Gestaltung (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unter Rot- auf. Grün!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen für mehr Rentner und Rentnerinnen längere Zeit Wir Grüne tun das nicht. Auch darum, Herr Minister Rente zahlen; das sind heute 17 Jahre. Viele Gründe Müntefering, unterstützen wir Sie bei Ihrem Vorhaben, sprechen für die Rente mit 67. Da ist der Geburtenrück- das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Was wir aber über- gang. Im Jahre 2030 wird es fast 8 Millionen weniger haupt nicht verstehen, sind Ihre doppelten Botschaften. Menschen im Erwerbsalter geben. Da ist die steigende Sie wollen Reformer sein, trauen sich aber offensichtlich Lebenserwartung. Jedes zweite heute geborene Mädchen doch nicht so richtig. Sie wollen mit Vollgas nach vorne wird 100 Jahre alt werden. Da sind die wachsende Ge- fahren, wollen die Rente mit 67 Jahren, gleichzeitig aber sundheit und Leistungsfähigkeit Älterer sowie der schon haben Sie den Rückwärtsgang eingelegt und machen ein heute sichtbare Fachkräftemangel. Gesetz, durch das 15 000 Beschäftigte der Postnachfol- Für uns Grüne ist allerdings die Voraussetzung für die geunternehmen mit 55 Jahren in Rente gehen können. (B) Rente ab 67 die Integration Älterer in den Arbeits- Sie sorgen durch eine verlängerte Stichtagsregelung da- (D) markt. für, dass Betriebe Altersteilzeitverträge nach dem Block- modell abschließen, sodass die älteren Beschäftigten frü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) her entlassen werden. Ich nenne ein solches Verhalten Herr Minister Müntefering, Ihre Initiative „50 plus“ schizophren. reicht aber nicht aus; darauf wird die Kollegin Pothmer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gleich noch ausführlicher eingehen. Ich frage mich, Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings!) welche Wertschätzung die Gesellschaft gegenüber Älte- ren aufbringt, wenn sie davon ausgeht, dass Ältere nur Dazu passt die geplante Einführung einer neuen ab- dann vermittelt werden können, wenn man den Arbeit- schlagsfreien Altersrente für Versicherte mit mindes- gebern ein zusätzliches Zückerchen in Form von Kom- tens 45 Beitragsjahren. Das kostet die Versicherten bilohn oder Eingliederungshilfen gibt. Ich kenne viele mehr als 2 Milliarden Euro und schmälert den Effekt Ih- ältere Erwerbslose mit hoher Qualifikation und einem rer Reform. Das Vorhaben ist aber auch verfassungs- großen Erfahrungswissen, auf das jedes Unternehmen rechtlich bedenklich, weil es Versicherte mit gleichen stolz sein könnte. Wir brauchen endlich einen Mentali- Anwartschaften unterschiedlich behandelt. tätswandel. Es kann nicht sein, dass Menschen unter 30 (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das geht schief! zu jung und ab 45 zu alt für eine bestimmte Aufgabe Ob Herr Köhler das mitmacht?) sind. Das heißt, jemand, der nach 45 Jahren abschlagsfrei in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rente geht und 1 000 Euro erhält, bezieht 24 000 Euro In den deutschen Betrieben herrscht aber noch immer mehr als jemand, der den gleichen Anspruch bereits – das ist bedauerlich – der Jugendwahn. Wir haben in nach 40 Jahren erfüllt. Da sage ich Ihnen nur: Viel Spaß Deutschland keine Kultur der Altersarbeit. Das haben beim Bundesverfassungsgericht! wir insbesondere einem zu verdanken, nämlich dem ehe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – maligen Rentenminister Dr. Norbert Blüm, Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Beim Bundesprä- sidenten, Frau Kollegin!) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Was?) – Beim Bundespräsidenten auch. der mit seinem Frühverrentungsprogramm die Renten- Wenn Sie dann schon einmal in Karlsruhe sind, dann kassen zulasten der Allgemeinheit geplündert hat. Ich können Sie ja vielleicht auch gleich erläutern, wie Sie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7245

Irmingard Schewe-Gerigk (A) eine mittelbare Diskriminierung von Frauen legitimie- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (C) ren; denn 2004 konnten lediglich 5 Prozent der Frauen, Frau Kollegin Schewe-Gerigk, es war natürlich wun- aber 41 Prozent der Männer diese 45 Versicherungsjahre derschön, Ihnen zuzuhören. Deswegen habe ich so lange erfüllen. Hinzu kommt, dass diese Sonderregelung de- mit der Zwischenfrage gewartet. nen, die Sie, Herr Minister, besonders schützen wollen, Meines Wissens haben Sie zwei Kinder. überhaupt nichts nützt. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU] mel- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- det sich zu einer Zwischenfrage) NEN): Ja. Haben Sie das gerade nachgesehen? – Ich komme gleich zu Ihnen. Lassen Sie mich zunächst den Gedanken zu Ende führen. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich erinnere an die Debatte im Sommer, in der Minis- terpräsident Beck Ausnahmen von der Rente mit 67 Jah- Ein Kind heißt Verena, das andere heißt Sarah Rosa. ren für bestimmte Berufe forderte. Er sprach von Dach- deckern und Krankenschwestern. Die Debatte läuft Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): heute nicht mehr. Sie dürften aber wissen, dass die die Danke schön, jetzt kennen wir auch die Namen. 45 Versicherungsjahre kaum erreichen, weil viele von Wenn Sie nun eines Ihrer Kinder belobigen, weil es denen bereits mit 50 Jahren eine Erwerbsminderungs- eine besondere Leistung erbracht oder etwas besonders rente beziehen. Darum sage ich: Diese Regelung ist Eti- gut gemacht hat, dann ist das doch keine Benachteili- kettenschwindel. Sie begünstigt die, die schon gute An- gung des anderen Kindes. sprüche haben, oder: Wer hat, dem wird gegeben. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Ist das jetzt eine juristische Frage, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Weiß?) Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß zulassen? – Nein, das ist ein praktisches Beispiel aus dem Leben. – Es kann doch keine Benachteiligung anderer Beitrags- zahlerinnen und Beitragszahler in der gesetzlichen Ren- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE tenversicherung sein, wenn durch eine wirkliche Innova- GRÜNEN): tion im neuen Rentenrecht derjenige, der lange hart Ja, ich lasse sie gleich zu. gearbeitet hat und 45 Jahre lang regelmäßig Beiträge in (B) die Rentenversicherung gezahlt und damit für die Leis- (D) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Erst wenn die tungsfähigkeit der deutschen Rentenversicherung ge- Redezeit abgelaufen ist!) sorgt hat, der Rentnerinnen und Rentnern mit seinen Beiträgen eine anständige Rente ermöglicht hat, eine Be- Profitieren wird der gut verdienende Abteilungsleiter lobigung im Rentensystem erhält, die darin besteht, dass im öffentlichen Dienst, mitfinanzieren muss es die Ver- er mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen kann. käuferin. Das ist eine Umverteilung von unten nach oben Wenn ich eine Gratifikation verteile, wenn ich eine Belo- und das nenne ich Murks. bigung ausspreche, dann ist das doch keine Benachteili- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gung anderer. Deswegen kann ich Ihre Denkweise – Entschuldi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gung, Frau Kollegin Schewe-Gerigk – überhaupt nicht nachvollziehen, zumal wir in diese Regelung ausdrück- Dann kommt jetzt die Zwischenfrage des Kollegen lich eine frauenspezifische Bestimmung eingebaut ha- Weiß. ben, nämlich dass wir nicht nur die drei Jahre Kinder- erziehungszeiten, hinter denen Beiträge des Staates Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE stehen, bei den 45 Jahren anerkennen, sondern auch GRÜNEN): zehn Jahre Kinderberücksichtigungszeiten einrechnen. Ich muss erst einmal den Minister zu etwas auffor- dern. Ich fordere Sie, Herr Minister, auf: Nehmen Sie Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diese verfassungsrechtlich bedenkliche, Frauen diskri- NEN): minierende und sozial unausgewogene Sonderregelung Herr Kollege Weiß, Ihr Rechtsverständnis teile ich zurück! Was Sie betreiben, ist Besitzstandswahrung und nicht. Ihr Beispiel hinkt absolut. Was heißt denn eigent- Interessenpolitik. Das lehnen wir Grüne ab. Uns geht es lich Belobigung? Wenn jemand die Chance hatte, ums Ganze. Uns geht es um Generationengerechtigkeit. 45 Jahre durchgehend erwerbstätig zu sein, das heißt, wenn er keine Zeiten der Erwerbslosigkeit hatte, dann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können wir froh sein. Dann hat diese Person ein gutes Polster für das Alter aufgebaut und kann sich auf diesem Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sitzkissen niederlassen. Herr Weiß, haben Sie eigentlich noch Interesse an ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ner Zwischenfrage? sowie der Abg. Ina Lenke [FDP]) 7246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Aber was ist mit den Personen, die nur 40 Jahre arbeiten Vielen Dank. (C) konnten und zwischendurch fünf Jahre erwerbslos wa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ren, oder was ist mit denen, die erst später in den Beruf eingestiegen sind und diese 45 Jahre überhaupt nicht er- reichen werden? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Wolfgang Grotthaus spricht für die SPD- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Abschläge Fraktion. verpassen!) (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb Die Logik, die Sie verbreiten, stimmt überhaupt nicht. [FDP]: Was sagt Herr Grotthaus eigentlich zu Es kann doch nicht sein, dass Sie die heutige Arbeits- Herrn Gysi?) marktsituation, die die Menschen daran gehindert hat, 45 Jahre zu arbeiten, diesen vorwerfen. Wolfgang Grotthaus (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die Herren! Der Kollege Kolb sagte gerade: Bitte nicht zu Rente ist doch keine Sozialleistung, sondern Herrn Gysi. eine beitragsbezogene Leistung!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich wollte wis- – Wenn das eine Beitragsleistung ist, Herr Kollege Weiß, sen, was Sie zu Herrn Gysi sagen!) dann müssen Sie demjenigen, der mit 40 die gleiche – Ich werde zu Herrn Gysi etwas sagen; denn sein Bei- Leistung erbracht hat, das gleiche geben wie dem, der trag war wieder einmal eine Sternstunde des Parlaments. diese Leistung mit 45 Jahren erreicht hat. Er hat uns fast körperlich bedroht, als er sagte, er werde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für noch eine Wahlperiode kandidieren. Uns wird davor sowie bei Abgeordneten der FDP) nicht bange, Herr Gysi. Wir akzeptieren Sie so, wie Sie sind. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrü- Das waren jetzt eine Nachfrage und eine Antwort. cken] [DIE LINKE]) Jetzt haben Sie noch neun Sekunden. Ich habe in Ihrem Beitrag festgestellt, dass Sie in den letzten 18 Jahren doch einiges gelernt haben. Sie haben in Ihrem Beitrag unser Demokratieverständnis kritisiert. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir nehmen das erst einmal so hin. Das deutet darauf NEN): (B) hin, dass Sie die Demokratie in den letzten 18 Jahren so (D) Nein, ich war gerade beim Stichwort Generationenge- richtig kennen gelernt haben. Wenn Sie das aber so he- rechtigkeit. rüberbringen, wie Sie es getan haben, dann wirkt das (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die Rede populistisch und sehr unglaubwürdig. ist noch nicht zu Ende!) Das Zweite ist: Wenn Sie den Vergleich bringen, dass Ein späterer Renteneintritt senkt den Druck auf die ein Bauer um 1900 acht Menschen ernähren konnte, Beiträge und entlastet die nachkommende Generation. während es heute 80 sind, und daraus den Schluss zie- Wir wollen, dass die Menschen individuell flexibler in hen, dass es nicht notwendig ist, Rentenbeitragserhöhun- Rente gehen können. Das ist auch das, was die Mehrheit gen oder eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit daraus ab- der Bevölkerung will. Sie ist – wie schon so oft – weiter zuleiten, dann sage ich Ihnen: Das ist die Logik eines als die Politik. Eine Mehrheit sagt, sie möchte gerne fle- Menschen, der im Arbeiter- und Bauernstaat groß ge- xibel zwischen 60 und 67 Jahren mit Abschlägen oder worden ist. Für mich ist das nicht logisch. Vielleicht soll- mit Zuschlägen in Rente gehen. Starre Altersgrenzen in ten Sie auch darüber noch einmal nachdenken. Tarif- und Arbeitsverträgen müssen aufgehoben werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das will auch CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was die FDP, Frau Schewe-Gerigk! Sie werden ist mit dem Milchsee und dem Butterberg?) nicht enttäuscht werden!) Ich möchte nun zu einigen sachlichen Begründungen Auch Modelle wie Teilrente und Teilzeitbeschäftigung zu der Initiative „50 plus“ kommen. Mit diesem Gesetz- sind gefragt. entwurf kommen wir den Menschen entgegen, die sehr oft nur aufgrund ihres Alters aus dem Arbeitsprozess (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ausgemustert worden sind. Wir bieten den Arbeitgebe- rinnen und Arbeitgebern mit diesem Gesetzentwurf ver- Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Neue schiedene Förderinstrumente, damit sie sich verstärkt Wege sind oft mit Zumutungen verbunden. Das wissen um die Einstellung älterer Kolleginnen und Kollegen be- Sie, Herr Kolb. Wenn aber das Ziel klar ist und alle ent- mühen. sprechend ihrer Leistungsfähigkeit mitgenommen wer- den – ich sage ganz ausdrücklich: auch die Beamten und Wir meinen, dass es unzulässig ist, wenn sich Arbeit- die Politikerinnen und Politiker müssen analog zu diesen geber über Fachkräftemangel beklagen. Wenn gefordert Rentenbeschlüssen behandelt werden –, dann lohnt es wird, ausländische Ingenieure auf dem deutschen Ar- sich, diesen Weg zu gehen. beitsmarkt zuzulassen, obwohl man weiß, dass sich ins- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7247

Wolfgang Grotthaus (A) besondere ältere Kolleginnen und Kollegen mit den ent- Bereich bis zu 30 Prozent. Dabei wird meistens etwas (C) sprechenden Qualifikationen in der Arbeitslosigkeit vergessen, was für die Menschen aber ebenfalls von befinden, dann ist dies wenig glaubwürdig. Wichtigkeit ist, nämlich dass die Rentenbeitragszahlung auf 90 Prozent des letzten Verdienstes aufgestockt wird. Lassen Sie mich dazu eine persönliche Bemerkung machen. Ich habe es in meinem Job erlebt, dass von Bewertet man die Inhalte dieses Gesetzentwurfes, 1995 an ältere Kolleginnen und Kollegen, insbesondere lässt sich feststellen, dass es attraktiv ist, ältere Men- Ingenieure, aus den Jobs hinausgekegelt worden sind, schen aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Leistungs- vor allem im Bereich des Maschinenbaus und der Ver- bereitschaft einzustellen. Denn das – nicht die finanziel- fahrenstechnologie. Man hat damals jungen Menschen len Voraussetzungen – ist erst einmal der wichtigste gesagt, es lohne sich nicht mehr, Ingenieurwissenschaf- Grund. Die Menschen, die sich um einen Job bemühen, ten zu studieren. Heute beklagen genau diejenigen, die wollen eingestellt werden. Sie sind leistungsbereit. Sie dies damals jungen Menschen mit auf den beruflichen haben ein entsprechendes Fachwissen. Vielleicht sind sie Weg gegeben haben, dass es keinen Nachwuchs mehr nicht immer so schnell wie die Jungen. Aber wer gute gibt. Kenntnisse von Betriebsabläufen hat, kann rationeller arbeiten als mancher, der nur schneller ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, der Schwei- nezyklus gilt auch für Ingenieure!) Mit den Förderinstrumenten wollen wir älteren Men- schen in der Gesellschaft eine weitere Chance im Berufs- Diese Arbeitgeber sollten in die Pflicht genommen wer- leben geben. Ich bitte darum, dass alle Fraktionen – denn den, ältere Arbeitslose, die dieses Studium schon absol- es geht schließlich um die Menschen, die arbeitslos sind – viert haben, durch Fördermaßnahmen wieder in den Be- Werbung für die im Gesetz enthaltenen Maßnahmen ma- ruf zu integrieren. chen und in den Gemeinden auf die entsprechenden Mög- Es ist notwendig, ältere Menschen durch gezielte lichkeiten aufmerksam machen. Damit können die Maßnahmen nicht arbeitslos werden zu lassen und ältere Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in die Pflicht genom- Arbeitslose durch Fördermaßnahmen wieder zu integrie- men werden, den Älteren eine neue Chance im Berufsle- ren. Genau das ist die Zielsetzung dieses Gesetzentwur- ben zu geben. fes. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aus einem rot- grünen Placebo wird ein rot-schwarzes!) Er beinhaltet dazu ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Wer lebenslanges Lernen einfordert, der – wir haben da- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) rüber hier oft genug in Übereinstimmung über alle Frak- (D) tionen hinweg diskutiert – muss die Chance dazu auch Für die FDP spricht die Kollegin Sibylle Laurischk. älteren Menschen geben. Sibylle Laurischk (FDP): Im Gesetzentwurf sehen wir dazu eine deutliche Er- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und weiterung und damit eine effektive Verbesserung schon Herren! Bei dem Gesetz, über das wir jetzt debattieren, bestehender Maßnahmen hinsichtlich der Regelung der handelt es sich tatsächlich um ein Rentenkürzungspro- Weiterbildungsförderung älterer Arbeitnehmer und gramm. Man muss es ganz klar so benennen. Arbeitnehmerinnen vor. Künftig können die Beschäftig- ten bereits ab dem 45. Lebensjahr Förderleistungen er- (Beifall bei der FDP) halten, wenn der Betrieb weniger als 250 Arbeitnehmer Es nennt sich zwar Gesetz zur Verbesserung der Be- beschäftigt. Perspektivisch führt das nach unserer Auf- schäftigungschancen älterer Menschen. Aber ich frage fassung zu einer Erhöhung von Fördermöglichkeiten, die mich schon, wo es die Arbeitsplätze für die über 50-Jäh- früher in Anspruch genommen werden können, wodurch rigen gibt. Leere Worte und schöne Plakate wie die für sich die Gefahr der Arbeitslosigkeit verringert. die Initiative „50 plus“, Herr Minister, schaffen keine (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Arbeitsplätze. Die Übernahme der Weiterbildungskosten stellt gerade Es ist nötig, auch seniorenpolitisch hier klare Worte im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen einen zu finden. Ich bin der Auffassung, dass sich die Bundes- wichtigen Baustein für verstärkte Anstrengungen zur regierung mit mehr Mut und Fantasie an den Umbau des Weiterbildung von älteren Arbeitnehmerinnen und Ar- gesamten Sozialversicherungssystems machen müsste, beitnehmern dar. statt ständig nur an einer Schraube zu drehen. Ein weiteres Instrument – ich sehe, die Zeit läuft mir (Beifall bei der FDP) davon; deswegen will ich mich nur auf ein weiteres In- In 60 Prozent aller Unternehmen in Deutschland gibt es strument beziehen – sind die finanziellen Anreize für derzeit keine Arbeitnehmer über 50 Jahre. Obwohl ge- Eingliederungsmaßnahmen. Wir bieten den Älteren mit rade ältere Arbeitnehmer über Erfahrung und Wissen diesem Gesetzentwurf eine Teilentgeltsicherung. Das verfügen, gehören sie neben den Geringqualifizierten zu bedeutet, dass ältere Menschen, die eine Arbeitsstelle den großen Verlierern am Arbeitsmarkt. annehmen, die geringfügiger bezahlt wird als die vorhe- rige, einen Gehaltszuschuss für bis zu zwei Jahre erhal- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das ten können. In der Spitze sind das 50 Prozent, im unteren muss sich ändern!) 7248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Sibylle Laurischk (A) Bereits für über 40-Jährige wird es immer schwieriger, Wenn Frauen in Rente gehen, haben sie in den meisten (C) eine Anstellung zu finden. Hieran ändert die Erhöhung Fällen eine doppelte Belastung hinter sich, nämlich ihre des Renteneintrittsalters nichts. Erwerbsarbeit und ihre Sorge für die Familie inklusive der Erziehung der Kinder. Das wird hier überhaupt nicht Statistisch gesehen sind Menschen ab 55 Jahre einem berücksichtigt. Rückgang der Erwerbsbeteiligung und einem Zu- wachs an Arbeitslosigkeit ausgesetzt, der sich ab dem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 60. Lebensjahr noch einmal verschärft. Grund dafür ist des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine Arbeitsmarktpolitik, die den Trend zur Frühverren- Herr Brauksiepe, an dieser Stelle haben Sie das Prin- tung gefördert hat und teilweise noch fördert. Neue Vor- zip „Die Starken für die Schwachen“ falsch verstanden. gehensweisen in der Wirtschaft und in der Personalent- Vielleicht schauen Sie sich einmal den nächsten Bundes- wicklung sind erforderlich. parteitag der FDP an (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir laden ihn Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Es ist Heuche- ein!) lei, den Renteneintritt mit 67 zu begrüßen und gleichzei- – sehr gerne –, um eine andere Sicht der Dinge zu erle- tig ältere Bewerber noch nicht einmal zu Vorstellungsge- ben, nicht nur die der SPD. sprächen einzuladen. Wenn wir im demografischen Wandel auf dem Ar- (Beifall bei der FDP) beitsmarkt bestehen wollen, müssen wir akzeptieren, Hier muss sich sehr schnell sehr viel ändern. dass Kompetenz, Kreativität und Innovationskraft auch jenseits der Lebensmitte vorhanden sind und dass Lern- Aber auch die Einstellung der Arbeitnehmer muss fähigkeit und persönliche Weiterentwicklung nicht mit sich den geänderten Zeiten anpassen. Eine wichtige Vo- 50 enden. Der vorliegende Gesetzentwurf wird den An- raussetzung für ein längeres Verbleiben im Beruf ist der forderungen an eine umfassende Reform der Sozialversi- Erwerb neuer Qualifikationen und die Sicherung von cherungssysteme nicht gerecht, zumal er Frauen einsei- Kompetenzen, um mit der technologischen Entwicklung tig belastet. Schritt halten zu können. Arbeitgeber und Betriebsräte müssen der Weiterbildung älterer Arbeitnehmer eine (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hohe Priorität einräumen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) Ich will aber Ihr Augenmerk auch auf die frauenpoli- Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort der (D) tische Problematik richten. Kollege Stefan Müller. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl! Jetzt (Beifall bei der CDU/CSU) wird es spannend!) Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Dieses Gesetz zur Verbesserung der Beschäftigungschan- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! cen älterer Menschen geht an der Arbeitsbiografie von Seit dem Regierungswechsel vor gut zwölf Monaten ist Frauen geradezu zynisch vorbei. die Zahl der Arbeitslosen von über 5 Millionen auf un- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ter 4 Millionen gesunken. Ich finde, dieser massive des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Rückgang ist ein großartiger Erfolg. Wer 45 Erwerbsjahre – gegebenenfalls inklusive drei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Jahre Erziehungszeit pro Kind – nachweisen kann, kann neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: nach dem vorliegenden Gesetzentwurf schon mit 65 ab- In der DDR hieß es: Überholen, ohne einzuho- schlagsfrei in Rente gehen. Davon sind aber kaum len!) Frauen betroffen. Denn allenfalls 4 Prozent der Frauen Dies ist ein Erfolg auch deswegen, weil dadurch klar werden nach den vorliegenden Erhebungen zu denjeni- wird, dass der wirtschaftliche Aufschwung, der in un- gen gehören, die tatsächlich schon mit 65 in Rente gehen serem Land stattfindet, sich nicht nur auf die Unterneh- können. men und deren Gewinnsituation auswirkt, sondern jetzt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auch bei den Menschen ankommt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie müssen also in der Regel bis zum 67. Lebensjahr ar- neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: beiten. Ich sehe schon die Leute vor Freude auf den Straßen tanzen, Herr Müller!) Das empfinde ich als umso zynischer, als die Aner- kennung einer langen Arbeitsbiografie eben hier nicht – Herr Kollege Dr. Kolb, ich glaube, wir sollten das greift. nicht zu gering schätzen. Versetzen wir uns einmal in die Situation eines Menschen, der seit langer Zeit von Ar- (Beifall bei der FDP – Peter Weiß [Emmendin- beitslosigkeit betroffen ist und in diesen zwölf Monaten gen] [CDU/CSU]: Doch!) einen neuen Arbeitsplatz gefunden hat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7249

Stefan Müller (Erlangen) (A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist erfreu- gung der Älteren negative Auswirkungen auf die Wett- (C) lich!) bewerbsfähigkeit der Unternehmen hat, weil Know-how verloren gegangen ist. Ich finde, es ist gegenüber den Äl- Für diesen Menschen ist das in der Tat außerordentlich teren in unserem Lande ungerecht, dass man ihnen das erfreulich; denn er hat nicht nur eine neue Arbeit gefun- Gefühl gibt, dass sie mit 50 schon zum alten Eisen gehö- den, sondern hat dadurch auch neue Perspektiven und ren. Das passt nicht zusammen. neue Chancen und ganz einfach wieder das Gefühl, ge- braucht zu werden und für sich und seine Familie etwas (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zu erwirtschaften und nicht mehr auf staatliche Fürsorge neten der SPD) angewiesen zu sein. Deswegen sollten wir uns mit die- sen Menschen freuen und froh darüber sein, dass es wie- Genau deshalb haben wir die Verbesserung der Beschäf- der mehr Menschen in unserem Land gibt, die eine Be- tigungssituation von Älteren in unserem Land im Koali- schäftigung haben. tionsvertrag festgeschrieben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir müssen Einigkeit darüber herstellen, dass diese neten der SPD) Anstrengungen auch wirklich von allen Beteiligten zu leisten sind und nicht nur die Politik gefragt ist. Zunächst Es wird aber niemand bestreiten, dass trotz des Auf- einmal muss die Erkenntnis, dass damit alle Beteiligten schwungs und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit die gefordert sind, durchgesetzt werden. Dies betrifft nicht Lage gerade für ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur die Politik, sondern auch die Unternehmen. Es be- und ältere Arbeitslose in unserem Land nach wie vor trifft aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schwierig ist. Die Zahlen wurden schon genannt: Jeder sowie die Tarifvertragsparteien. vierte Arbeitslose in Deutschland ist älter als 50. Bun- desweit sind es über 1 Million. Die Politik hat die Aufgabe, dort, wo es möglich ist, Einstellungshemmnisse abzubauen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: 1,3 Millionen!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das tun Sie aber nicht!) Davon ist die Hälfte im Übrigen schon länger als ein Jahr arbeitslos. Das Beschäftigungsniveau der Älteren Wir haben vor zwei Wochen in einem ersten Schritt die in Deutschland ist im europäischen Vergleich nach wie Lohnzusatzkosten zum 1. Januar 2007 gesenkt. Natür- vor deutlich schlechter als in anderen Ländern. Das ist lich wird diese Senkung der Sozialabgaben, die in ihrer überhaupt keine Frage und darüber gibt es hier keinen Höhe ein massives Einstellungshemmnis in unserem Dissens. Land sind, die Beschäftigungschancen, auch für ältere (B) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erhöhen. (D) Was mich persönlich, ehrlich gesagt, sehr bedenklich stimmt und was ich geradezu für dramatisch halte, ist die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Tatsache, dass die Einstellungschancen Älterer in den der SPD) letzten Jahren nicht besser geworden sind. Zumindest im Mit der Initiative „50 plus“ und dem heute vorlie- letzten Jahr waren nur 7 Prozent der neuen Mitarbeiter, genden Gesetzentwurf tun wir das, was der Arbeits- also derjenigen, die neu eingestellt worden sind, älter als marktpolitik möglich ist: Wir setzen Anreize, damit Un- 50. Ein Zweites stimmt mich sehr bedenklich, nämlich ternehmen wieder ältere Mitarbeiter einstellen; dem die Tatsache, dass fast jedes dritte Unternehmen in dient der Eingliederungszuschuss. Wir verstärken auch Deutschland ältere Mitarbeiter nur dann einstellt, wenn den Anreiz dafür, mehr für die Bildung und Weiterbil- es staatliche Beihilfen bekommt oder wenn es keine jün- dung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geren Bewerber findet. Daher ist hier Handlungsbedarf zu tun. Mit der Entgeltsicherung setzen wir Anreize da- unumstritten. für, auch niedriger bezahlte Tätigkeiten anzunehmen. Ich möchte mich außerordentlich dafür bedanken, Nun kann man ja einwenden, dass es diese Instrumente dass es jedenfalls darüber keine Diskussionen gibt. Wir alle schon gibt. Das ist richtig. Wir verändern die Instru- alle wissen, dass wir an dieser Stelle etwas tun sollten. mente zwar hinsichtlich einiger Stellschrauben, Dies ist auch in den vorhergehenden Reden deutlich ge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo denn?) worden. aber es gibt sie schon. Das heißt: Es wird auch darum ge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also, was tut ihr hen, diese Instrumente, die wir jetzt verbessern, wirklich jetzt?) bekannt zu machen. Herr Bundesminister, ich bin Ihnen Man kann über die Rente ab 67 unterschiedlicher Auf- außerordentlich dankbar dafür, dass Sie mit Ihrer Initia- fassung sein. Aber die Aufgabe, die Chancen für Ältere tive „Erfahrung ist Zukunft“ versuchen, die Instru- auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, eignet sich aus mente bei den Unternehmen bekannter zu machen. meiner Sicht nicht für einen parteipolitischen Streit. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das, was Sie an (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Mitteln vorgesehen haben, reicht aber nicht, Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, wir wollen wenn es wirklich bekannt wird!) das ja!) Gespräche mit Unternehmen beweisen ja: Es ist das Wir alle wissen, dass sich ein Fachkräftemangel ab- größte Problem, dass viele Unternehmen nicht wissen, zeichnet. Wir wissen, dass die niedrige Erwerbsbeteili- welche Maßnahmen sie in Anspruch nehmen können. 7250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Stefan Müller (Erlangen) (A) Wir werden ein Weiteres tun müssen – das ist meine Aber gerade weil wir zu diesem Projekt stehen, müssen (C) persönliche Überzeugung –: Wenn wir im kommenden wir die Verantwortung auch dafür übernehmen, dass Jahr die Instrumente der Bundesagentur für die Arbeits- nicht versucht wird, die Gerechtigkeitslücke, die sich förderung überprüfen, dann werden wir sie auch darauf- dann, wenn wir nichts tun, bei den Jüngeren zweifellos hin überprüfen, was die Maßnahmen der BA zur Einglie- ergeben wird, dadurch zu schließen, dass eine neue Ge- derung Älterer zu leisten imstande sind. rechtigkeitslücke bei den Älteren aufgerissen wird. Kommen wir zum zweiten Bereich. Nicht nur die Po- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN litik ist gefordert, auch die Unternehmen sind gefordert. sowie der Abg. Anton Schaaf [SPD] und Klaus Auch die Unternehmen müssen erkennen, dass ältere Ar- Brandner [SPD]) beitnehmer keine Belastung, sondern eine wertvolle Ressource sind. Mit der schrittweisen Erhöhung des Der Sachverständigenrat hat darauf hingewiesen: Renteneintrittsalters verlängert sich die Lebensar- Wenn es nicht gelingt, die Erwerbsbeteiligung der Älte- beitszeit; ich halte das angesichts der demografischen ren in großem Umfang zu erhöhen, wird das zu einer Al- Entwicklung für einen richtigen und wichtigen Schritt. tersarmut erheblichen Ausmaßes führen. Wenn die Das führt aber zu der Frage, die wir heute auch schon an- Menschen keine Arbeit mehr haben, beginnt die Alters- satzweise diskutiert haben: Haben wir gerade für ältere armut schon in den Jahren, bevor sie in Rente gehen. Sie Menschen in unserem Land genügend Arbeitsplätze zur setzt sich natürlich fort, wenn die Menschen Rente be- Verfügung? In diesem Zusammenhang möchte ich da- ziehen, weil weniger eingezahlt worden ist. Das Pro- rauf hinweisen, dass der Renteneintritt mit 67, die Erhö- gramm 50 plus reicht bei weitem nicht aus, um dieses hung des Renteneintrittsalters, seit Jahren von der Wirt- Problem zu lösen, und zwar weder quantitativ noch qua- schaft immer wieder gefordert wird. Deshalb ist die litativ. Wirtschaft jetzt auch in der Pflicht – wir setzen das ja Ich will etwas zu den Zahlen sagen. 1,3 Millionen ar- nun um –, Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmer zur beitslose Menschen sind älter als 50. Mit den jetzt hier Verfügung zu stellen. Gerade das Auseinanderklaffen vorgestellten Programmen erreichen Sie, wenn alles su- von Reden und Fordern auf der einen Seite und Realität pergut läuft, auf der anderen Seite, die so aussieht, dass keine älteren Mitarbeiter eingestellt werden, führt zu Verdrossenheit (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn!) in Bezug auf Staat und soziale Marktwirtschaft. 100 000 von ihnen. Ich habe aber erhebliche Zweifel, ob (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie mit Ihren Programmen 100 000 Menschen erreichen neten der SPD) können; (B) (D) Die Arbeitnehmer sind aufgefordert, länger im Be- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nie! Haben Sie rufsleben aktiv zu sein. Die Tarifvertragsparteien sind ja schon erfolglos versucht!) aufgefordert, das Ihre zu tun. Ich will mich dabei gar denn mit den Instrumenten Eingliederungszuschuss nicht in die Tarifautonomie einmischen, aber ich glaube und Entgeltsicherung haben Sie 2006 nur 19 000 Men- schon, dass auch die Tarifvertragsparteien dazu einen schen erreicht. Sie müssten die Zahl also signifikant stei- deutlichen Beitrag leisten können. gern. Wir sind gerne bereit, Sie dabei zu unterstützen. Ich finde: Unsere Wirtschaft, aber auch unsere Gesell- Ich will deutlich sagen: Die Prognose ist zwar sehr posi- schaft insgesamt können auf ältere Menschen nicht ver- tiv, aber gemessen an den Problemen, erreichen Sie nach zichten. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Ge- wie vor viel zu wenig Menschen. setzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Signal geben, dass auch Ältere wieder Chancen haben, in der Wirtschaft mitzuwirken. Die Frage ist, ob diese Instrumente die richtigen sind. Sie versuchen nämlich, mit ihnen angebliche Produktivi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tätsnachteile auszugleichen. Die Instrumente haben da- mit immer einen stigmatisierenden Charakter. Diese Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Stigmatisierung unterstützen Sie – auch das muss gesagt werden – mit Fehlanreizen, zum Beispiel mit der so ge- Das Wort hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen die nannten 58er-Regelung. Kollegin Brigitte Pothmer. (Beifall der Abg. [BÜNDNIS 90/ Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DIE GRÜNEN] sowie der Abg. Ina Lenke [FDP]) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Schewe-Gerigk hat es bereits gesagt: Die Grünen tragen Diese Stigmatisierung gegenüber Ältern unterstützen das Projekt „Rente mit 67“ mit. Wir müssen – davor Sie, wenn Sie Altersteilzeitregelungen treffen. In beson- können auch Sie die Augen nicht verschließen, Herr derem Maße gilt das, wenn bei Post und Telekom jetzt Gysi – die Belastung der jüngeren Erwerbsgenerationen 15 000 ältere Beschäftigte mit aktiver Unterstützung die- begrenzen. ser Bundesregierung in den Vorruhestand gehen. (Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb LINKE]) [FDP]: Unglaublich!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7251

Brigitte Pothmer (A) Sie fordern die Unternehmen auf, Vorurteile gegenüber Der Arbeitgeber suchte eine qualifizierte Kraft mit Er- (C) Älteren abzulegen, produzieren diese Vorurteile aber fahrung. durch Ihr eigenes Handeln immer wieder neu. Ich weiß, dass jetzt viele mit Gegenbeispielen kom- Gleichzeitig fehlt Ihnen leider völlig der Ehrgeiz, die men. Natürlich haben sie Recht: Gerade Ältere ohne Beschäftigungsfähigkeit der älteren Menschen zu er- Ausbildung haben am Arbeitsmarkt geringe Chancen. halten, sie zum Beispiel durch mehr und bessere Weiter- Das wissen wir alle. Aber der Unterschied zu uns Sozial- bildungsmöglichkeiten arbeitsfähig zu halten; denn mit demokraten ist: Wir sind der festen Überzeugung, dass den 5 Millionen Euro, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf wir handeln können. für die Weiterbildung von Beschäftigten einsetzen wol- len, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kann man nicht Denn mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 50 ist wirklich etwas machen!) noch lange nicht Schluss. Mit 50 Jahren gehört niemand zum alten Eisen. erreichen Sie rechnerisch – jetzt hören Sie genau zu – 790 Beschäftigte. So viel zur Dimension des Problems (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Sehr und zur Lösung, die Sie hier vorschlagen. gut! – Zurufe von der CDU/CSU: Wie alt sind Sie, Herr Tauss? – Die Betroffenen melden Das Programm 50 plus ist nicht mehr als ein Tropfen sich!) auf den heißen Stein. Es ist sogar weniger. Herr Grott- haus, Sie haben die Chance, die Ausweitung des Prinzips Deshalb bringen wir heute die Initiative „50 plus“ des lebenslangen Lernens auf die Mitarbeiter kleiner und auf den Weg. Mit ihr werden wir den Arbeitsmarkt für mittlerer Betriebe grundlegend anzustoßen, vertan, ob- Ältere verändern. Sie wird nächstes Jahr starten. Mit der wohl Sie selbst genau das fordern. Angesichts von Initiative „50 plus“ fördern wir lebenslanges Lernen, 790 geförderten Leuten kann man doch nicht allen Erns- schaffen finanzielle Anreize zur Beschäftigung Älterer tes davon sprechen. und entwickeln neue Methoden zur Verbesserung der Arbeitsplätze, humanisieren also die Arbeitswelt. Denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nur wer gesund ist, kann bis 65 oder 67 arbeiten. Ich komme zum Schluss. In Zeiten der großen Koali- tion gilt einmal mehr: Älterwerden ist nicht schwer, alt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zu sein dagegen sehr! Wir verbinden die Initiative „50 plus“ mit der Rente Danke schön. ab 67. Die Rente ab 67 ist notwendig, um die Rente zu- (B) kunftsfest zu machen und den Generationenvertrag fort- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zuführen. Mit der Initiative „50 plus“ liegen die Instru- mente auf dem Tisch, mit denen für Ältere der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Arbeitsmarkt verbessert werden kann. Hier und heute Katja Mast hat das Wort für die SPD-Fraktion. will ich mit einigen Vorurteilen aufräumen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na! Jetzt bin ich gespannt!) Katja Mast (SPD): Erstens. Rentnerinnen und Rentner – ich kann nur Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen hoffen, dass mir viele zu Hause vor den Bildschirmen und Kollegen! „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an“, zuhören – und mit 50 ist noch lange nicht Schluss. Was hat uns der frühe Prophet des demografischen Wandels und der stei- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bis zu genden Lebenserwartung, Udo Jürgens, zu sagen? 19 Millionen!) (Heiterkeit) sind von der Rente ab 67 nicht betroffen. Für sie ändert sich nichts. Wir leben länger, sind länger aktiv und bekommen auch länger Rente. Das stimmt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Zweitens. Erst ein heute 42-Jähriger ist voll von der CDU/CSU) Rente ab 67 betroffen. Aber er lebt auch in der festen Si- Mir fällt dazu ein Fall aus meiner Bürgersprechstunde cherheit, dass er durchschnittlich drei Jahre länger Rente ein. Einem über 50-Jährigen, der einen Job suchte, habe bezieht als ein heutiger Rentner, und wahrscheinlich hat ich gesagt, welche Firmen in meiner Heimat bevorzugt er mit seinem Berufsleben später angefangen. Ältere einstellen. Nach wenigen Wochen habe ich ihn (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wieder getroffen. Er hatte einen Job. Drittens. Die Rente ab 67 hat mit den heutigen Ar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) beitslosenzahlen – sie sind zum Glück auf unter Wieso? 4 Millionen gesunken – nichts zu tun. (Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Alles wird gut, Weil er sich rasiert hatte!) Frau Mast!) 7252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Katja Mast (A) Denn erst 2012 starten wir mit der schrittweisen Umset- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C) zung der Rente ab 67, die nach 17 Jahren abgeschlossen ist, also nachdem die Initiative „50 plus“ ihre Wirkung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: entfaltet hat und wir in Deutschland händeringend Fach- Peter Weiß hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Frak- kräfte suchen werden. tion. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Reden- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ir- schreiber würde ich rauswerfen!) mingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Viertens. Es gibt schon heute Betriebe, die Ältere DIE GRÜNEN]: Wie viele Kinder haben Sie gerne einstellen, zum Beispiel die Firma Härter aus Kö- denn?) nigsbach-Stein in meiner Heimat. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Keine Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Werbung!) gen! Im nächsten Monat, am 21. Januar 2007, feiert die dynamische Rente in Deutschland ihren 50. Geburtstag. Denn gerade Ältere sind leistungsbereit und motiviert. Vor genau 50 Jahren ist die dynamische Rente, eine der Mehr noch: Ältere bewahren in schwierigen Situationen größten sozialpolitischen Leistungen unseres Landes, einen kühlen Kopf. beschlossen worden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) CDU/CSU) Wir wollen mit der Rentenreform, die wir heute in den Die Firma Härter wurde deshalb letzte Woche von unse- Bundestag einbringen, dafür sorgen, dass die Rente in rem Vizekanzler und Bundesarbeitsminister, Franz Deutschland nicht lahmt, sondern auch in Zukunft dyna- Müntefering, als Unternehmen mit Weitblick ausge- misch bleibt. Darum geht es. zeichnet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zuruf von der SPD: Genau!) Ich bin der festen Überzeugung: Politik kann den Menta- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vor 50 Jahren lag litätswandel in den Köpfen beeinflussen. Nur wer gute die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern Beispiele kennt, kann diese nachahmen. Deshalb fordere bei 66 Jahren, die von Frauen bei 71 Jahren. Im ich alle hier im Haus auf, gute Beispiele vor Ort immer Jahr 2030, wenn die heutige Reform voll greift, liegt die (B) wieder bekannt zu machen. durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes bei (D) fast 81 Jahren, die einer Frau sogar bei 86 Jahren. Das ist Fünftens. Gerade ältere Arbeitnehmer haben Angst, eine erfreuliche Entwicklung. dass sie nach vielen Berufsjahren nicht mehr arbeiten können, die Rente erst ab 67 bekommen und davor Dabei muss man aber auch berücksichtigten, dass wir schauen müssen, wo sie bleiben. In diesem Fall gibt es uns in den kommenden Jahren auf ein Schrumpfen schon heute die Erwerbsminderungsrente. Sie müssen unserer Bevölkerung einstellen müssen. Jede neue Ge- wir noch einmal unter die Lupe nehmen, um denen, die neration wird um etwa ein Drittel kleiner sein als ihre El- nicht mehr können, eine echte Perspektive zu bieten. terngeneration. Das ist übrigens die entscheidende Zahl, die der Kollege Gysi in seinen Rechenbeispielen verges- Aber wir dürfen nicht vergessen: Das ist der nachsor- sen hat, weswegen sie von vorn bis hinten nicht stim- gende Sozialstaat. Wir müssen den vorsorgenden Sozial- men. staat konsequent stärken. Es kann nicht sein, dass Arbeit die Menschen krank macht. Deshalb muss die Arbeits- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) platzqualität in den Betrieben verbessert werden. Teil- habe bis 67 ist dabei das Ziel aller. Alle, das sind: Be- Auf diese Fakten muss der Gesetzgeber reagieren, da- triebsräte, Arbeitgeber, jeder Einzelne und die Politik. mit die Rentenversicherung für alle Generationen ein verlässliches und leistungsstarkes Instrument der Alters- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sicherung bleibt. Ich behaupte: Egal wer regiert, Ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen ar- (Jörg Tauss [SPD]: Na ja! Ganz so ist es wohl beiten wollen. Sie wollen Teilhabe und das geht in der auch wieder nicht!) Arbeitsgesellschaft nur über Arbeit. Deshalb ist unsere Strategie richtig: zuerst die Initiative „50 plus“, die mehr niemand kann der Notwendigkeit zur Anhebung der Re- Jobs für Ältere fördert, und dann im zweiten Schritt die gelaltersgrenze ausweichen, es sei denn, er will die ge- langsame Anpassung der Rente an die Bevölkerungsent- setzliche Rente bewusst gegen die Wand fahren. wicklung. Bei steigender Lebenserwartung führen wir Die große Koalition handelt rechtzeitig. Wir beschlie- damit den Generationenvertrag fort und verbessern die ßen jetzt die Anhebung der Regelaltersgrenze. Wie Generationengerechtigkeit. Frau Kollegin Mast gesagt hat, sind die nächsten Rent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nergenerationen davon aber überhaupt nicht betroffen. Wir starten schrittweise ab dem Jahr 2012 und erreichen Älter werden wollen wir, Mitmachen fördern wir und die neue Regelaltersgrenze für die, die dann in Rente ge- dass wir das können, dafür kämpfen wir. hen, im Jahr 2029. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7253

Peter Weiß (Emmendingen) (A) (Jörg Tauss [SPD]: 2029!) Wer lange gearbeitet hat und durch langjährige Bei- (C) tragszahlung in besonderer Weise zur Leistungsfähigkeit – Ja, 2029, Herr Tauss. der Rente beigetragen hat, dem geben wir die Möglich- (Jörg Tauss [SPD]: Ja! Das kann man nicht oft keit, nach 45 Beitragsjahren schon mit 65 Jahren ab- genug sagen!) schlagsfrei in Rente zu gehen. Ich möchte betonen: Die 45-Jahre-Regelung ist keine Benachteiligung anderer, Wir stellen die Weichen also rechtzeitig und voraus- schauend. Wer bei der Rente mit 67 nicht mitmachen (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- will, der steckt den Kopf in den Sand und flieht aus der NEN]: Oh doch!) rentenpolitischen Verantwortung. sondern eine Belohnung für ein langes und aktives Be- rufsleben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: (Sibylle Laurischk [FDP]: Sie machen sich Das ist doch Quatsch!) doch selbst etwas vor!) Die Polemik gegen die Rente mit 67 wird mit dem Daher ist die 45-Jahre-Regelung in meinen Augen ein Argument geführt, dabei handele es sich um eine ver- Schlüssel zur Akzeptanz des neuen Rentenrechts. kappte Rentenkürzung. (Sibylle Laurischk [FDP]: Das ist einfach (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! So ist das!) nicht zu fassen!) Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Zur Anhebung der Regelaltersgrenze gehört als es auf ganz drastische Weise formulieren: Diese Behaup- zweite Seite ein und derselben Medaille – deswegen die tung ist schlichtweg eine Lüge. beiden Gesetzentwürfe, die wir heute gemeinsam bera- ten – die Verbesserung der Beschäftigungssituation älte- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die Ini- neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: tiative „50 plus“. Auch wenn viele etwas anderes be- Na, na, na, Herr Kollege! Das ist unparlamen- haupten, haben wir da in den letzten Jahren schon ge- tarisch!) wisse Fortschritte erzielt. Im Jahr 2000 lag die Quote der 55- bis 65-Jährigen, die noch im Erwerbsleben standen, Fakt ist: bei nur 37,5 Prozent. Erstens. Die Anhebung der Regelaltersgrenze um (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Skandal!) zwei Jahre bis zum Jahr 2029 entspricht der Steigerung der Lebenserwartung. Das heißt, die durchschnittliche Im Jahr 2005 lag sie immerhin bei 45 Prozent. Das war (B) (D) Rentenbezugsdauer desjenigen, der im Jahr 2029 in wenigstens eine kleine Verbesserung. Aber es ist immer Rente geht, ist nicht kürzer als die Rentenbezugsdauer noch viel zu wenig. Deswegen wollen wir den positiven desjenigen, der heute in Rente geht, sondern sie ist eher Trend durch die Initiative „50 plus“ massiv verstärken. länger. Das, was wir beschließen, hat also nichts mit ei- (Vorsitz: Vizepräsidentin ) ner Rentenkürzung zu tun. Was unsere Nachbarländer, vor allen Dingen im Nor- Zweitens. Man muss darauf hinweisen, dass durch die den Europas, zur Verbesserung der Beschäftigungssitua- Rente mit 67 das Verhältnis zwischen aktiven Erwerbstä- tion älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ge- tigen einerseits und Rentnerinnen und Rentnern anderer- schafft haben, können wir auch in Deutschland schaffen. seits verbessert wird. Der in der Rentenformel enthaltene Wir brauchen dafür einen Aktionsplan aller Akteure für so genannte Nachhaltigkeitsfaktor bewirkt, die nächsten zehn bis zwanzig Jahre, nicht nur der Poli- tik – etwa in Form eines Gesetzentwurfes, wie wir ihn (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben! Darum heute beraten –, sondern auch der Tarifpartner, der Wirt- geht es!) schaft, der Medien. Wir brauchen eine Veränderung des dass angesichts einer solch positiven Veränderung wie- Bewusstseins dahin gehend, dass die Erfahrung und die der Rentenerhöhungen ermöglicht werden. Um es klar Kompetenz Älterer unsere Wirtschaft und unser Land und deutlich zu sagen: Wer für die Rente mit 67 stimmt, voranbringen können. der macht Rentenerhöhungen erst wieder möglich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach was! Das tut der SPD) ja weh!) Ich finde, mit den beiden Gesetzesvorhaben zeigt die Wer gegen die Rente mit 67 stimmt, gehört zur Fraktion Bundesregierung, dass sie vorausschauend handelt. Es der potenziellen Rentenkürzer. Das sind die Fakten. gehört in der Tat Mut dazu, in der Politik etwas zu tun, was auf den ersten Blick bei vielen Bürgerinnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bürgern nicht besonders beliebt ist. Diese große Koali- neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: tion hat den Mut, das Notwendige vorausschauend zu Wer hat denn schon drei Nullrunden zu verant- tun. Deswegen, behaupte ich, wird sie Erfolg haben. worten und wer macht zwei weitere in den Vielen Dank. nächsten beiden Jahren absehbar? – Zuruf von der CDU/CSU: Ach, Herr Kolb, die FDP ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weigert sich doch nur ihrer Verantwortung!) neten der SPD) 7254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: 50 nicht alt ist, muss bei den Verantwortlichen in den (C) Nächster Redner ist nun der Kollege Anton Schaaf für Betrieben wachsen. die SPD-Fraktion. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD) NEN]: Aber auch in der Regierung!) Das ist eine Grundvoraussetzung, um die Beschäfti- Anton Schaaf (SPD): gungsfähigkeit Älterer zu erhöhen. Übrigens haben wir Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich dafür in den letzten beiden Legislaturperioden im Rah- glaube, die Diskussion über die Zukunft der Rente ist men der Betriebsverfassung enorme Möglichkeiten ge- immer eine verkürzte Diskussion; denn in der Regel schaffen, was den Gesundheitsschutz am Arbeitplatz steht dabei die Finanzierbarkeit der Rente im Vorder- oder was Weiterbildung und Qualifizierung angeht. Die grund. Ich glaube, die Diskussion ist verkürzt, weil die Tarifpartner sind aufgefordert, diese Möglichkeiten auch Alterung der Gesellschaft, der demografische Wandel zu nutzen. auch eine gesellschaftliche und nicht nur eine finanzielle Herausforderung ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es hieß, wir hätten in der Frage der Erwerbsminde- Die finanziellen Fragen kann man sicherlich schlicht be- rung populäre Ausnahmen gemacht. antworten, indem man die Beiträge erhöht. Das kann man machen. Oder man erhöht einfach den Steuerzu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Populistische!) schuss. – „Populistische Ausnahmen“, haben Sie gesagt, Herr Übrigens, Herr Gysi, hat es nicht nur Fehlentwicklun- Kolb, genau. – Als Antwort darauf sage ich sehr deut- gen im Zusammenhang mit der Finanzierung der deut- lich: Ich werde mich auf gar keinen Fall damit abfinden, schen Einheit gegeben. Wir lassen der Rentenversiche- dass Arbeit dazu führt, dass Menschen wirklich krank rung jedes Jahr einen Zuschuss von 78 Milliarden Euro werden. für die Aufgaben zukommen, die über die reinen Ren- tenzahlungen hinaus zu leisten sind. In dieser Hinsicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird ja immer von versicherungsfremden Leistungen ge- der CDU/CSU) sprochen. Ich finde, dass beispielsweise die Anerken- Wenn man sich aber die gesellschaftlichen Realitäten an- nung von Erziehungszeiten keine versicherungsfremde schaut, dann muss man feststellen, dass das oftmals lei- Leistung ist. (B) der noch so ist. Deswegen ist es völlig richtig: Solange (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arbeit Menschen tatsächlich krank und kaputtmacht, der CDU/CSU) müssen die bisherigen Regelungen zur Erwerbsminde- rung beibehalten werden. Das ist eine sozialpolitische Leistung, die genau da an- gesiedelt gehört, wo sie es jetzt ist: bei der gesetzlichen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rentenversicherung. Also: Wir führen eine verkürzte der CDU/CSU) Diskussion. Ich bin froh, dass unser Koalitionspartner in diesem Dass wir in unserem Lande mehr ältere Menschen ha- Punkt mitgemacht hat und wir die Regelungen zur Er- ben, ist kein Problem; da hat Gysi völlig Recht. Die werbsminderung so belassen konnten, wie sie im Gesetz Frage ist aber, ob die Bevölkerungsentwicklung insge- sind, und nicht verändern mussten: Zugang mit 60 Jah- samt mit der Alterung der Gesellschaft Schritt hält, ob ren, abschlagsfrei mit 63 Jahren. also genügend Junge nachwachsen. Da müssen wir schlichtweg konstatieren: Die Gesellschaft wird im (Beifall des Abg. Klaus Brandner [SPD]) Schnitt immer älter, und zwar deshalb, weil immer weni- Das war unsere Leistung. Wir sprechen über die Men- ger Junge nachkommen. Das ist die gesellschaftliche schen, die sich kaputt gearbeitet haben und die über die Herausforderung, auf die wir eine Antwort geben müs- Erwerbsminderung die Möglichkeit haben, zukünftig sen. mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Es ist eine sozialpolitische Frage: Wenn sich die ge- CDU/CSU) sellschaftlichen Verhältnisse, die Arbeitsbedingungen so Eines ist völlig klar: Jemand, der 50 oder 55 Jahre alt ändern, dass Menschen nicht durch Arbeit krank werden ist, darf in diesem Land nicht als alt gelten und vor die- – Herr Kolb, Sie könnten einiges bei Ihrer Klientel, den sem Hintergrund aus den Erwerbsprozessen gedrängt Unternehmern, dafür tun –, dann bräuchten wir auch werden. Das ist der entscheidende Punkt. keine Erwerbsminderungsrente mehr. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe doch der CDU/CSU) gar nicht gesagt, dass wir keine Erwerbsmin- derungsrente mehr wollen!) Frau Pothmer hat gesagt, dafür reicht unser Programm „50 plus“ nicht aus. In der Tat, Frau Pothmer: Es reicht Das ist ganz klar. Dann kommen wir ohne weiteres voll nicht aus, definitiv nicht. Die Erkenntnis, dass man mit und ganz zusammen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7255

Anton Schaaf (A) Ich möchte noch etwas zum Änderungsantrag der Menschen das nicht wollen, ist völlig klar. Aber das (C) FDP sagen. Die FDP schreibt, wir sollten hinsichtlich heißt doch nicht, dass wir nicht im Interesse der nachfol- der Annahmen – es sind keine Prognosen, sondern An- genden Generationen handeln. nahmen –, die der Rentenversicherungsbericht zur (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Entwicklung gibt, zurückhaltender sein. Der Sozialbeirat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hat uns durchaus ein gutes Zeugnis ausgestellt. Dass das von Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er hat nur ge- heißt doch nicht, dass wir nicht im Interesse der Men- sagt: Es ist besser geworden!) schen handeln. Das ist völlig widersinnig. Das sozialde- Sie sagen, unsere Annahme eines durchschnittlichen mokratische Interesse gilt primär den sozialen Siche- Lohnzuwachses von 2,5 Prozent, den wir erwarten, sei rungssystemen. Ich sage als Bekenntnis eindeutig: Uns deutlich zu positiv. geht es bei den Maßnahmen, die wir nicht nur vor dem Hintergrund des Koalitionsvertrages, sondern auch vor Ich kann Ihnen auch sagen, wieso Sie das sagen: Ihr dem Hintergrund der Erkenntnisse, die man selber ge- Kollege Niebel hat in einer TV-Show auf die Frage, ob sammelt hat, ergreifen müssen, darum, die sozialen Si- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der guten wirt- cherungssysteme auf Dauer als paritätische und solidari- schaftlichen Entwicklung nicht partizipieren sollten, ge- sche Sicherungssysteme zu erhalten. antwortet: Ja, aber nicht über prozentuale Lohnerhöhun- gen. Wenn man keine prozentualen Lohnerhöhungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) haben möchte, dann ist auch die Annahme, die Prognose Das bedingt, dass man bereit ist, sich selbst zu verän- falsch; das ist doch völlig klar. dern. Vor dem Hintergrund der weltweiten, europawei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich ten, aber auch nationalen Entwicklung, vor dem Hinter- L. Kolb [FDP]: Gewinnbeteiligung!) grund der Globalisierung haben wir Handlungsbedarf. Dieser Handlungsbedarf, dem wir jetzt Rechnung tragen, Heute sind wir in einer Situation, in der die Arbeitnehme- ist allemal im Interesse der Menschen. So agieren wir. rinnen und Arbeitnehmer an dem wirtschaftlichen Erfolg, den wir aufgrund der Arbeit, die die alte Regierung, aber Danke. auch die neue Regierung gemacht hat, zu konstatieren ha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben, partizipieren müssen, und zwar vernünftig. Das ent- der CDU/CSU) lastet die Sozialkassen, und zwar wirklich nachhaltig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (B) LINKEN) Ich schließe die Aussprache. (D) Zu der Frage, ob die Rente mit 67 nicht eine ver- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen kappte Rentenkürzung ist. Populistisch kann man so si- auf den Drucksachen 16/3793, 16/3794, 16/3027, cherlich argumentieren. 16/3676, 16/3815, 16/3812, 16/3700 und 16/907 an die in (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Menschen der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- sehen das so!) gen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Allerdings müsste man dann gleichermaßen auch Fol- gendes sagen: In den 60er-Jahren hatten wir eine durch- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 k schnittliche Rentenbezugszeit von zehn Jahren, heute sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf: sind es 17 Jahre. Das bedeutet im Prinzip eine giganti- 29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- sche Rentenerhöhung. Wir haben den Menschen viel gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die mehr gegeben, da sie viel länger Rente beziehen. Anders Umweltverträglichkeit von Wasch- und Reini- kann man aus meiner Sicht nicht sauber argumentieren. gungsmitteln (Wasch- und Reinigungsmittel- Das ist nicht redlich. gesetz – WRMG) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das können Sie – Drucksache 16/3654 – niemandem erklären, was Sie hier sagen!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Damit macht man den Menschen schlichtweg Angst. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Zum Schluss möchte ich auf die Rede von Herrn Gysi Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit eingehen. Herr Gysi, in der Tat haben Sie Recht, wenn Sie sagen, dass viele Menschen die Rente mit 67 ableh- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nen. Aus ihrer persönlichen Situation heraus ist das auch gebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsände- völlig nachvollziehbar, schließlich ist es eine Belastung. rungsgesetzes zur Bekämpfung der Computer- Das gilt übrigens nicht für die Rentner von morgen, auch kriminalität (… StrÄndG) nicht von übermorgen. Wir sollten in unseren Statements – Drucksache 16/3656 – auch nicht so tun, als wäre das so, sondern sagen, was tatsächlich absehbar ist, damit es planbar und für die Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Menschen handhabbar ist. Dass es eine Belastung ist, Innenausschuss werde ich nicht negieren, an keiner Stelle. Dass viele Ausschuss für Kultur und Medien 7256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: (C) gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) über die Bereinigung von Bundesrecht im Zu- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ständigkeitsbereich des Bundesministeriums i) Beratung des Antrags der Abgeordneten für Wirtschaft und Technologie und des Bun- Dr. Jürgen Gehb, Norbert Geis, Ute Granold, desministeriums für Arbeit und Soziales weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Fritz Rudolf – Drucksache 16/3657 – Körper, Joachim Stünker, Dr. Carl-Christian Überweisungsvorschlag: Dressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales der SPD d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ächtung des Gesetzes zur Verhütung des erb- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die kranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 elektromagnetische Verträglichkeit von Be- – Drucksache 16/3811 – triebsmitteln (EMVG) Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/3658 – Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO weiterer Abgeordneter und der Fraktion der e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- LINKEN gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem In- Börsengang der Bahn stoppen ternationalen Übereinkommen vom 19. Okto- ber 2005 gegen Doping im Sport – Drucksache 16/3801 – – Drucksache 16/3712 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Sportausschuss (f) Haushaltsausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Ausschuss für Gesundheit Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. , (B) (D) Ausschuss für Bildung, Forschung und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Technikfolgenabschätzung KEN f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Deutsche Flugsicherung europarechtlichen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- Rahmenbedingungen anpassen tokoll vom 21. Mai 2003 über Schadstofffrei- setzungs- und -verbringungsregister – Drucksache 16/3803 – – Drucksache 16/3755 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Finanzausschuss Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Erste Beratung des von der Bundesregierung Haushaltsausschuss eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aus- ZP 4 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- führung des Protokolls über Schadstofffreiset- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem zungs- und -verbringungsregister vom 21. Mai Übereinkommen vom 20. Oktober 2005 über 2003 sowie zur Durchführung der Verordnung den Schutz und die Förderung der Vielfalt (EG) Nr. 166/2006 kultureller Ausdrucksformen – Drucksache 16/3756 – – Drucksache 16/3711 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Kultur und Medien (f) Innenausschuss Auswärtiger Ausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Homburger, Michael Kauch, Angelika Brunk- Göring-Eckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin An- horst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der dreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion FDP des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN EU-Abfallrahmenrichtlinie ökologisch wirk- Vermittlung in Selbstständigkeit durch Bun- sam, unbürokratisch und marktwirtschaftlich desagentur für Arbeit ermöglichen – Künstler- gestalten dienste sichern – Drucksache 16/3318 – – Drucksache 16/3779 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7257

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Überweisungsvorschlag: Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- (C) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) empfehlung auf Drucksache 16/3837, den Gesetzent- Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist ten Verfahren ohne Debatte. dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an angenommen. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist Dritte Beratung ebenfalls der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 30 a bis Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf 30 s sowie den Zusatzpunkten 5 a bis 5 j. Dabei handelt ist damit in dritter Beratung ebenfalls einstimmig ange- es sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen nommen. keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 30 c: Tagesordnungspunkt 30 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei- zur Änderung des Anerkennungs- und Voll- nes Gesetzes zu dem Übereinkommen vom streckungsausführungsgesetzes 11. April 1997 über die Anerkennung von Qua- – Drucksache 16/2857 – lifikationen im Hochschulbereich in der euro- päischen Region Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) – Drucksache 16/1291 – – Drucksache 16/3833 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Berichterstattung: schätzung (18. Ausschuss) Abgeordnete Ute Granold Dirk Manzewski – Drucksache 16/3669 – Mechthild Dyckmans Sevim Dağdelen (B) Berichterstattung: (D) Jerzy Montag Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/3833, den Gesetzent- Cornelia Hirsch wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- Kai Gehring entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. folgenabschätzung empfiehlt auf Drucksache 16/3669, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Dritte Beratung dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist der Ge- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – setzentwurf einstimmig angenommen. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Tagesordnungspunkt 30 b: wurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- Tagesordnungspunkt 30 d: kung der Selbstverwaltung der Rechtsanwalt- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- schaft gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes – Drucksache 16/513 – zu dem Budapester Übereinkommen vom 22. Juni 2001 über den Vertrag über die Güter- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- beförderung in der Binnenschifffahrt (CMNI) schusses (6. Ausschuss) – Drucksache 16/3225 – – Drucksache 16/3837 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Berichterstattung: schusses (6. Ausschuss) Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb – Drucksache 16/3834 – Mechthild Dyckmans Berichterstattung: Wolfgang Nešković Abgeordnete Jerzy Montag Dirk Manzewski 7258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Mechthild Dyckmans Christine Lambrecht (C) Sevim Dağdelen Joachim Stünker Jerzy Montag Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Sevim Dağdelen Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/3834, Jerzy Montag den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be- chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- schlussempfehlung auf Drucksache 16/3836, den Ge- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- setzentwurf anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die men der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung chen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- der Fraktion Die Linke angenommen. entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnis- Dritte Beratung ses 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem der Fraktion Die Linke angenommen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Dritte Beratung Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit derselben Mehrheit an- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem genommen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Tagesordnungspunkt 30 e: ist damit mit der gleichen Mehrheit angenommen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Tagesordnungspunkt 30 g: von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Haager Übereinkom- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- men vom 13. Januar 2000 über den internatio- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und nalen Schutz von Erwachsenen Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Barbara – Drucksache 16/3250 – Höll, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- und der Fraktion der LINKEN schusses (6. Ausschuss) Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen – Drucksache 16/3836 – von Wohnungsunternehmen und Wohnungs- genossenschaften in den neuen Ländern (B) Berichterstattung: (D) Abgeordnete Ute Granold – Drucksachen 16/2079, 16/3213 – Christine Lambrecht Berichterstattung: Joachim Stünker Abgeordneter Ernst Kranz Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Sevim Dağdelen Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache Jerzy Montag 16/2079 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der schlussempfehlung auf Drucksache 16/3836, den Gesetz- Koalitionsfraktionen bei Ablehnung der Oppositions- entwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- fraktionen angenommen. setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit Tagesordnungspunkt 30 h: mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag Tagesordnungspunkt 30 f: der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordne- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregie- ter und der Fraktion der FDP rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Haager Übereinkommens vom Qualität der Mauterfassung durch unabhängi- 13. Januar 2000 über den internationalen gen Versuch nachweisen und Kontrollverfah- Schutz von Erwachsenen ren zertifizieren – Drucksache 16/3251 – – Drucksachen 16/1680, 16/3264 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Berichterstattung: schusses (6. Ausschuss) Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf – Drucksache 16/3836 – Drucksache 16/1680 abzulehnen. Wer stimmt für diese Berichterstattung: Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Abgeordnete Ute Granold gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7259

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Tagesordnungspunkt 30 l: (C) Oppositionsfraktionen angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 30 i: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sammelübersicht 145 zu Petitionen richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter- – Drucksache 16/3626 – richtung durch die Bundesregierung Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Mitteilung der Kommission an den Rat, das gen? – Dann ist auch Sammelübersicht 145 einstimmig Europäische Parlament, den Europäischen angenommen. Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Tagesordnungspunkt 30 m: Ausschuss der Regionen über die Verbesse- rung der Sicherheit der Lieferkette Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- ausschusses (2. Ausschuss) schen Parlaments und des Rates zur Verbesse- rung der Sicherheit der Lieferkette (inkl. Sammelübersicht 146 zu Petitionen 6935/06 ADD 1) – Drucksache 16/3627 – KOM (2006) 79 endg.; Ratsdok. 6935/06 Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- – Drucksachen 16/1101 Nr. 2.12, 16/3554 – gen? – Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Berichterstattung: Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen- Abgeordneter stimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltungen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für Tagesordnungspunkt 30 n: diese Beschlussempfehlung? – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- mig angenommen. ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 30 j: Sammelübersicht 147 zu Petitionen Beratung der Dritten Beschlussempfehlung des – Drucksache 16/3628 – Wahlprüfungsausschusses (B) Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- (D) zu 44 gegen die Gültigkeit der Wahl zum gen? – Dann ist die Sammelübersicht 147 einstimmig 16. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahl- angenommen. einsprüchen Tagesordnungspunkt 30 o: – Drucksache 16/3600 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Berichterstattung: ausschusses (2. Ausschuss) Abgeordnete Bernhard Kaster Dr. Wolfgang Götzer Sammelübersicht 148 zu Petitionen Dr. Carl-Christian Dressel – Drucksache 16/3629 – Petra Merkel (Berlin) Ernst Burgbacher Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Ulrich Maurer gen? – Die Sammelübersicht 148 ist mit den Stimmen Silke Stokar von Neuforn der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnis- ses 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Gegen- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ist je- stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. mand dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 30 p: Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- titionsausschusses. ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 30 k: Sammelübersicht 149 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 16/3630 – ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Sammelübersicht 144 zu Petitionen gen? – Die Sammelübersicht 149 ist mit den Stimmen – Drucksache 16/3625 – der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- genstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- und der Fraktion Die Linke angenommen. gen? – Sammelübersicht 144 ist einstimmig angenom- men. Tagesordnungspunkt 30 q: 7260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (C) ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 150 zu Petitionen Sammelübersicht 155 zu Petitionen – Drucksache 16/3631 – – Drucksache 16/3819 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal- gen? – Die Sammelübersicht 150 ist damit mit den Stim- tungen? – Die Sammelübersicht 155 ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei men des ganzen Hauses angenommen. Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- nen und Enthaltungen der Fraktion Die Linke angenom- Zusatzpunkt 5 d: men. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 30 r: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 156 zu Petitionen ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/3820 – Sammelübersicht 151 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- – Drucksache 16/3632 – tungen? – Die Sammelübersicht 156 ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion des gen? – Die Sammelübersicht 151 ist damit mit den Stim- Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP- Zusatzpunkt 5 e: Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 30 s: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 157 zu Petitionen ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/3821 – Sammelübersicht 152 zu Petitionen Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – – Drucksache 16/3633 – Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stimmen der Ko- (B) alitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion (D) Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der gen? – Dann ist die Sammelübersicht 152 mit den Stim- Fraktion Die Linke angenommen. men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 5 f: Zusatzpunkt 5 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 158 zu Petitionen Sammelübersicht 153 zu Petitionen – Drucksache 16/3822 – – Drucksache 16/3817 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 158 ist mit den Stimmen gen? – Die Sammelübersicht 153 ist einstimmig ange- der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnis- nommen. ses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Ge- genstimmen der FDP-Fraktion angenommen. Zusatzpunkt 5 b: Zusatzpunkt 5 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 154 zu Petitionen Sammelübersicht 159 zu Petitionen – Drucksache 16/3818 – – Drucksache 16/3823 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 154 ist mit den Stimmen Wer ist dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- gen? – Die Sammelübersicht 159 ist mit den Stimmen genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltungen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenom- genstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen men. und der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkt 5 c: Zusatzpunkt 5 h: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7261

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (Beifall bei der FDP und der LINKEN) (C) ausschusses (2. Ausschuss) Kaum ein wichtiges Gesetz, das nicht ohne Rücksicht Sammelübersicht 160 zu Petitionen auf gute parlamentarische Gepflogenheiten im Eilver- fahren durch den Bundestag und den Bundesrat ge- – Drucksache 16/3824 – peitscht worden wäre! Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- (Beifall bei der FDP und der LINKEN) gen? – Die Sammelübersicht 160 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnis- Die Liste der blamablen Folgen dieser hektischen ses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Politik ist lang. Das Gesetz zur Umsetzung des Rahmen- Linke und der FDP-Fraktion angenommen. beschlusses zum Europäischen Haftbefehl wurde vom Bundesverfassungsgericht in toto für verfassungswidrig Zusatzpunkt 5 j: erklärt. Ebenso drastisch urteilte das Bundesverfas- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- sungsgericht über das Luftsicherheitsgesetz, dessen § 14 ausschusses (2. Ausschuss) Abs. 3, mit dem die Streitkräfte zum Abschuss ziviler Flugzeuge ermächtigt werden sollten, verfassungswidrig Sammelübersicht 161 zu Petitionen ist. Das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung – Drucksache 16/3825 – scheitert wegen offensichtlicher Verfassungswidrigkeit bereits am Bundespräsidenten, der die Ausfertigung des Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Gesetzes verweigert. Dem Verbraucherinformationsge- gen? – Die Sammelübersicht 161 ist damit mit den Stim- setz wird das gleiche Schicksal zuteil werden. Das Ge- men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der setz, das ihm als Entwurf vorgelegt wurde, sei, so der Oppositionsfraktionen angenommen. Bundespräsident, ein klarer Verstoß gegen das Grundge- Damit haben wir diesen Teil der Abstimmungen ab- setz. geschlossen. (Beifall bei der FDP und der LINKEN) Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Noch peinlicher ist, dass sich der Bundespräsident in sei- Aktuelle Stunde ner Einschätzung genau auf jene grundgesetzlichen Re- auf Verlangen der Fraktion der FDP gelungen bezieht, die im Rahmen der Föderalismusre- form gerade erst vor wenigen Monaten von der Koalition Rechtsstaatliche Anforderungen an eine ord- geändert wurden. Kennen Sie diese Gesetzesänderungen nungsgemäße Gesetzgebungsarbeit gar nicht? (B) (D) (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP und der LINKEN) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Nun erfahren wir, dass die Verfassungskonformität nerin der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger des gerade erst von den Koalitionsfraktionen verabschie- das Wort. deten Entwurfs eines Gesetzes zur Beteiligung des Bun- (Beifall bei der FDP) des an den Unterbringungskosten von ALG-II-Empfän- gern mittlerweile selbst in den Reihen der Koalitionsparteien bezweifelt wird. Ähnliches gilt für Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): die mit riesigem publizistischem Aufwand gegen die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Opposition und gegen den Sachverstand fast aller Fach- nen und Kollegen! In einer verheerenden Mixtur aus leute angekündigte Gesundheitsreform, an der – so muss grundrechtlicher Ignoranz, verfassungsrechtlicher In- nun der Kollege Bosbach einräumen – erhebliche verfas- kompetenz und gesetzgeberischem Aktionismus schei- sungsrechtliche Zweifel bestehen. Nicht um die politi- nen Sie sich, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der sche Auseinandersetzung, sondern um die Inhalte geht Regierungsfraktionen, nach Kräften zu bemühen, unsere es hier. rechtspolitische Kultur, die einmal als Glanzstück des bundesrepublikanischen Parlamentarismus galt, in einen (Beifall bei der FDP und der LINKEN) Trümmerhaufen zu verwandeln. Angesichts all dieser peinlichen Vorgänge ist es nur (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem ein arg dämmeriger Lichtblick, dass das ebenfalls mit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) großem publizistischem Aufwand angekündigte Nicht- raucherschutzvorhaben wegen offensichtlicher Verfas- Kaum ein wichtiges Gesetz, das nicht in engsten nächtli- sungswidrigkeit gerade noch rechtzeitig auf Bundes- chen Koalitionszirkeln kurzfristig ausgebrütet worden ebene aufgegeben wurde. wäre! Man könnte diese traurige Bilanz großkoalitionärer (Joachim Stünker [SPD]: So etwas von der FDP! Rechtspolitik mit Zynismus quittieren, träfen die Folgen Das kann doch wohl nicht wahr sein!) dieser Art von Politik nicht uns alle. Als Oppositions- Kaum ein wichtiges Gesetz, das mit der gebotenen Acht- politikerin würde ich mich über die offensichtliche samkeit und Sorgfalt hinsichtlich seiner Wirkungen, ver- Überforderung der großen Koalition gerne freuen kön- fassungsrechtlichen Bezüge und Probleme erarbeitet und nen, beförderten die Folgen dieser Art von Politik in der beraten worden wäre! Öffentlichkeit nicht genau jene Zweifel an der parlamen- 7262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) tarischen Demokratie, die der politischen Apathie und Weise, in der Sie hier gesprochen haben, wird dem (C) den äußersten Rändern des politischen Spektrums Auf- Thema nicht gerecht. trieb geben. (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Stünker (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten [SPD]: Sehr gut!) der LINKEN) Auch unserer gemeinsamen Verantwortung in diesem Verlässlichkeit – so hat heute Morgen Herr Ramsauer Haus sind Sie nicht gerecht geworden. gesagt – ist der Maßstab für Politik, damit Vertrauen ent- (Joachim Stünker [SPD]: Das war reine steht. Halten Sie sich an diese Aufforderung! Heuchelei!) (Beifall bei der FDP) Das Thema ist ja nicht neu. Es ist meistens ein Thema Die Liste der gesetzgeberischen Fehlleistungen der der Opposition. Die Opposition kritisiert, die Koalitions- großen Koalition droht länger zu werden. Lassen Sie fraktionen verteidigen, und jeder von uns war ja auch mich nur auf ein bevorstehendes Vorhaben hinweisen, schon einmal in jeder Rolle. Insofern ist auch die De- das unter grundrechtlichen Gesichtspunkten unsäglich batte nicht neu. ist, nämlich die Anbieter von elektronischen Kommuni- (Joachim Stünker [SPD]: So ist es!) kationsdiensten zur Speicherung der bei ihnen anfallen- den Kommunikationsdaten auf Vorrat zu verpflichten. Sie haben schon einmal in einer anderen Rolle hier Mit der Übernahme der europarechtlichen Verpflichtun- gesprochen; damals haben Sie mehr verteidigt. gen, die sich aus der von der Bundesregierung mitgetra- (Zurufe von der FDP) genen Richtlinie zur Vorratspeicherung ergeben, geht die Bundesregierung bewusst ein Risiko ein, nämlich das – Hören Sie mir doch einmal zu. Wir wollen doch ein Risiko eines schweren Verfassungskonflikts zwischen gutes Bild in der Öffentlichkeit abgeben. – Wir sollten Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Ge- die Debatte grundsätzlich führen. Die Geländegewinne, richtshof. die Sie vielleicht kurzfristig haben werden, werden nicht sehr nachhaltig sein. Wir sollten zu diesem Thema über (Beifall bei der FDP) unser Selbstverständnis sehr ausführlich sprechen, und Ich kann Sie nur bitten: Lassen Sie im Interesse des zwar nicht nur in einer Aktuellen Stunde, sondern etwas deutschen Parlamentarismus davon ab, die Verfassung, länger. unser Grundgesetz, als Feind, als Gefängnis zu sehen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie aus dem man nach Möglichkeit ausbrechen sollte. Las- bei Abgeordneten der FDP) (B) sen Sie davon ab, über den Bundespräsidenten und des- (D) sen pflichtgemäße Entscheidungen zu lamentieren und Nichts ist so gut, als dass es nicht verbesserungsfähig in einer noch nie da gewesenen Form das Verfassungsor- ist. Natürlich hat es Fehler gegeben. Ich finde, es steht gan Bundespräsident zu beschädigen. uns gut an, diese einzugestehen. Wir sollten aber nicht den Eindruck erwecken, als hätten wir alle rechtsstaatli- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten chen Grundsätze über Bord geworfen. Im Rechtsaus- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE schuss des Deutschen Bundestages ist Ihr Debattenstil GRÜNEN) ein anderer. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass wir gestern im Rechtsausschuss von Ihnen sehr viele lo- Seien Sie froh, dass wegen einer ernsthaften Prüfung bende Worte über Gesetzesvorhaben gehört haben. eine nächste Niederlage vor dem Bundesverfassungsge- richt vermieden wird. Es stünde Ihnen besser an, dafür (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Sorge zu tragen, dass das Bundesinnen- und das Bundes- Da haben wir über ein ordentliches Gesetz be- justizministerium ihren einmal als vornehm angesehenen raten!) Aufgaben als Verfassungsressorts, als Notare der Regie- rung, wieder gerecht werden können: Gründlichkeit vor Es ist nämlich so, dass wir im Ausschuss sehr sach- Schnelligkeit, Achtung und Berücksichtigung verfas- lich reden, dass wir nicht alles übernehmen, was die Re- sungsrechtlicher Bedenken vor einer schnell getroffenen gierung sagt, sondern es wird verbessert, es finden An- politischen Entscheidung! Fangen Sie damit an, dann ha- hörungen statt, es sind langwierige Verfahren. Das haben ben Sie unsere Unterstützung. Sie gestern ausdrücklich gelobt. Dies hätte heute auch einmal gesagt werden können. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich will einige grundsätzliche Ausführungen machen. Wir als Parlament sind selbstbewusst genug, um zu sa- Der nächste Redner ist der Kollege Andreas Schmidt gen, dass wir eine bestimmte Verantwortung haben und für die CDU/CSU-Fraktion. nicht der Gesetzgebungsvollstrecker der Bundesregie- rung sind. In einer parlamentarischen Demokratie sind Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): wir, das Parlament, der Chef. Das ist die Normalität. Ich Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und habe das gerade gesagt. Wie oft werden Gesetzesvor- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, schläge der Regierung nach Anhörungen und nach einer Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, die Art und bestimmten Zeit – das geht alles sehr rechtsstaatlich und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7263

Andreas Schmidt (Mülheim) (A) sehr gründlich vor sich – gemeinsam verändert und dann (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (C) hier beschlossen? Es gilt auch bei uns der Grundsatz: Deswegen, Frau Kollegin, sollten wir das Thema auf- Gründlichkeit vor Schnelligkeit. greifen, wir sollten es aber nicht parteipolitisch instru- Jetzt möchte ich etwas zu der Verfassungsmäßigkeit mentalisieren. Wir sollten unserer Gesamtverantwortung von Gesetzen sagen. Sie haben schon oft behauptet, ein als Parlament gerecht werden. Dann, so glaube ich, sind Gesetz sei verfassungswidrig, und das Bundesverfas- wir auf einem guten Weg. sungsgericht war anderer Meinung als Sie. Das Problem Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ist, dass wir hier in einem Bereich arbeiten, der nicht zu den Naturwissenschaften gehört. In den Naturwissen- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schaften können Sie etwas unter ein Mikroskop legen und sagen: So ist das. – Bei der Frage der Verfassungs- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mäßigkeit ist das etwas schwieriger. Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Maurer für die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Fraktion Die Linke. Es hängt oft von der Meinung ab, ob etwas als verfas- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ sungswidrig betrachtet wird. Deswegen möchte ich et- CSU]: Jetzt kommt der Kulturbruch!) was zum Verfassungsgefüge sagen. Ich beteilige mich nicht an der Kritik des Bundespräsidenten. Das sollten Ulrich Maurer (DIE LINKE): wir nicht tun. Dennoch darf man etwas zum Verfas- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sungsgefüge sagen. Wir bilden uns im Parlament eine Dass sich der Kollege Schmidt bemühte, ein Stück weit Meinung darüber, ob etwas verfassungswidrig oder nicht abzulenken und abzuwiegeln, war zu erwarten. Sie kom- verfassungswidrig ist. Sie können anderer Auffassung men aber nicht daran vorbei, dass es noch nie eine so sein. Die Mehrheit bildet sich ihre Auffassung und eindrucksvolle Kette von Fehlleistungen gegeben hat bringt ein Gesetz mit der Mehrheit durch. Der Bundes- wie die, die hier von der Kollegin Leutheusser-Schnar- präsident kann die Unterschrift verweigern. Das ist sein renberger aufgezählt worden ist. gutes Recht und das haben wir zu akzeptieren. Damit ist (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wie viele denn aber nicht festgestellt, ob das Gesetz verfassungswidrig im Verhältnis zu den anderen?) ist. – Schauen Sie nach, Herr Kollege, wie oft in der Nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland der Auch das ist richtig. Dem wird auch der Bundespräsi- Bundespräsident in vergleichbaren Fällen interveniert (B) dent nicht widersprechen. Ob etwas verfassungswidrig hat. (D) ist, kann nur durch das Bundesverfassungsgericht festge- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb stellt werden. [CDU/CSU]: Hier wird die Ausnahme zur Re- (Beifall bei der SPD) gel stilisiert!) Das Problem ist, dass ein Gesetz, das der Bundespräsi- Dann merken Sie, was hier eigentlich los ist. Gegen ei- dent nicht unterschreibt, gar nicht überprüft werden nes, was ich beim Kollegen Schmidt herausgehört habe, kann. Das bedingt diese Entscheidung zwangsläufig. will ich mich ausdrücklich zur Wehr setzen. Er verfährt Das darf man bei allem Respekt hier sagen. offenbar nach dem Motto: Wir machen jetzt einmal Ge- setze und dann wird sich in einem offenen Prozess beim Ich glaube, dass wir in Deutschland insgesamt das Bundesverfassungsgericht oder beim Präsidenten schon Problem haben, dass wir zu viele Gesetze machen. Da- herausstellen, ob sie nun verfassungswidrig sind oder rüber sollten wir einmal sprechen. Wir glauben, dass wir nicht. alle Lebensbereiche gesetzlich regeln müssen. Darüber (Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: So müssen wir einmal grundsätzlich sprechen. Ich will auch ein Quatsch!) davor warnen, in die Falle zu geraten, dass wir zu einem Reflexgesetzgeber werden. Immer wenn etwas in So habe ich die Rolle des Parlaments bisher nicht inter- Deutschland passiert, erfolgt sofort der Ruf nach dem pretiert. Es darf nicht den permanenten Versuch unter- Gesetzgeber. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht nehmen herauszufinden, ob die Gesetze, die es be- von den Medien instrumentalisieren lassen. Auch das ist schließt, verfassungswidrig sind oder nicht. ein wichtiger Punkt, was unser Selbstverständnis angeht. (Beifall bei der LINKEN und der FDP – Mi- Ich will die Beispiele nennen: Auch mir hat die Einstel- chael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie haben lung des Verfahrens im Mannesmann-Prozess nicht ge- noch nicht einmal die einfachen Teile seiner fallen. Sofort kam der Ruf nach dem Gesetzgeber und es Rede verstanden!) wurde gefordert, die Strafprozessordnung müsse geän- dert werden. Im Fall des Schiedsrichters Hoyzer, der be- Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass neulich in der trogen hat, sagte irgendein Staatsanwalt, dass der Tatbe- Debatte über den Entwurf des Justizmodernisierungsge- stand des Betrugs nicht erfüllt sei. Schon gibt es setzes der Sprecher der SPD auf die Feststellung der Kollegen, die fordern, den § 263 StGB zu ändern. Wenn Kollegin von der FDP, dieser sei gegen die Rechtspre- wir immer nur reflexartig handeln, werden wir dem Ho- chung des Bundesverfassungsgerichts gerichtet, gesagt hen Haus keinen guten Dienst erweisen. hat: Die haben auch nicht immer Recht. Der Gesetzgeber 7264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Ulrich Maurer (A) muss die Richter veranlassen, ihre Rechtsprechung zu bei der Frage der verfassungsrechtlichen Überprüfung, (C) ändern, indem man ein Gesetz macht, das gegen das, die in der Tat dem gesamten Parlament obliegt und nicht was die Richter bisher immer beschlossen haben, gerich- nur der Opposition? Wann greifen Sie eigentlich unter tet ist. – Das ist eine Art von spielerischem Umgang mit dem Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit in Ihre ei- der Verfassungsmäßigkeit, die wir nicht akzeptieren genen großkoalitionären Debatten ein? können. In diesem Bereich darf es keinen spielerischen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Umgang geben. neten der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Drittens und letztens; das will ich zum Schluss sehr Man kann ja über die Frage rätseln, wie so etwas zu- deutlich sagen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in stande kommt. Ich glaube, dass es etwas mit den Gesetz- die Rolle komme, den Bundespräsidenten gegen An- mäßigkeiten der großen Koalition zu tun hat. Bei vertief- griffe aus der großen Koalition verteidigen zu müssen. tem Nachdenken kommt man darauf. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das hat keiner (Joachim Stünker [SPD]: Ja, das fehlt bei Ih- gedacht!) nen!) Ich will Ihnen sagen, was ich zu dem Thema gelesen habe. Namhafte Leute haben sich zu der Aussage ver- Erstens haben Sie einen bestimmten Machtrausch; das stiegen, der Bundespräsident solle seine Prüfungskom- ist jedenfalls unser Eindruck. Ihre übergroße Mehrheit petenz zurücknehmen und nur noch das zurückweisen, führt offensichtlich dazu, dass Sie zum einen – der Kol- was sozusagen Otto Normalverbraucher vor dem Fernse- lege Gysi hat heute Morgen darauf hingewiesen – in her zu dem Satz „Oh, das ist ja verfassungswidrig!“ Ruhe permanent gegen die Mehrheit der Bevölkerung veranlasst. Die Ermahnungen, die erfolgt sind, sind gera- entscheiden können. Das wird uns irgendwann in eine dezu dazu geeignet, eine institutionelle Krise heraufzu- Krise der repräsentativen Demokratie führen. Zum ande- beschwören. ren haben Sie offensichtlich im Hinterkopf, dass Sie sich bei einer so großen Mehrheit, durch die auch die Opposi- (Lachen des Abg. Dr. Michael Bürsch [SPD]) tionsrechte, etwa beim Thema Normenkontrolle, sehr – Ja, natürlich! Passen Sie einmal auf: Ich kenne meine eingeschränkt sind, noch mehr leisten können. Das ist Landsleute ganz gut. Sie sind ziemlich nachhaltig, man eine Art doppelte Ignoranz. könnte auch sagen: stur, wenn man ihnen auf diese Art Zweitens ist es bei Ihnen, glaube ich, so, dass Sie, und Weise kommt. Das kann man dem Herrn Bundesprä- wenn Sie sich in der großen Koalition unter großen Mü- sidenten nur empfehlen. Wollen Sie ihn im Ernst jetzt je- des Mal, wenn es Ihnen nicht passt, öffentlich zur Ord- (B) hen, unter Berücksichtigung machtpolitischer Erwägun- (D) gen, unter wechselseitiger Gesichtswahrung, auf irgend- nung rufen? Was meinen Sie, wie das in der etwas geeinigt haben, dann so angestrengt waren, dass Bevölkerung ankommt, in der das Urteil – oder Vorur- Sie auf das weitere parlamentarische Verfahren keine teil; wie Sie wollen –, „die da oben“ machten sowieso, große Lust mehr hatten. Sie müssen einmal überprüfen, was sie wollen, verbreitet ist, wenn die Menschen nun ob das bei Ihnen nicht der Fall ist. auch noch die Erfahrung machen, dass „die da oben“ auch gegenüber dem Bundespräsidenten machen, was (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was sie wollen? erzählen Sie denn da?) (Beifall bei der LINKEN) Haben Sie so viel Anstrengendes hinter sich? Sie mei- nen, wenn alles so schwierig war, dann muss das, was Was glauben Sie, was das in einer Demokratie auslöst? man gefunden hat, die Wahrheit sein – oder jedenfalls Deswegen kann ich Ihnen nur raten: keine lauten das Einzige, was machbar ist. Töne mehr! Gehen Sie in diesem Punkt in sich; Sie er- weisen uns dann allen einen Dienst! Diese ganzen Vorgänge werfen verschiedene Fragen auf: erstens – das hat die Kollegin zu Recht gesagt – (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nach der Rolle der Ministerien, des Justizministeriums neten der FDP – Dr. Michael Bürsch [SPD]: und des Innenministeriums, die den Gesetzgebungsgang Reden, die die Welt bewegen!) eigentlich überprüfen müssten. Vielleicht sollten Sie das Justizministerium immer sofort zu Ihren Koalitionsge- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sprächen auf höchster Ebene hinzuziehen, Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Parla- (Beifall bei der LINKEN) mentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort. damit dessen Überlegungen gleich mit einfließen. Das wäre durchaus erwägenswert. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Zweitens werfen sie die Frage auf, inwieweit das Par- desministerin der Justiz: lament sozusagen durch den Koalitionsausschuss ersetzt Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- wird. Wie groß ist Ihr Selbstbewusstsein gen! In politischer Hinsicht verstehen wir, dass die FDP eben, durch Frau Leutheusser-Schnarrenberger sehr ein- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das wächst drucksvoll dargestellt, die apokalyptischen Reiter des täglich!) demokratischen Antichristen hat galoppieren lassen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7265

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das war jetzt ähn- – Hören Sie einmal gut zu. (C) lich bombastisch wie Frau Leutheusser- Schnarrenberger!) Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben uns vorhin pauschal Vorwürfe zu jedem Gesetz gemacht. Die Ich höre den Hufschlag immer noch. Mehr allerdings ha- Koalition hat 77 Gesetze auf den Weg gebracht. Sie wur- ben Sie auch nicht zu bieten. Sie tragen sozusagen die den beraten, verabschiedet und ausgefertigt. Sie sind in Schminke Ihrer eigenen Unfähigkeit sehr dick auf. Kraft getreten und haben sich in der Praxis bestens be- währt. Auch das muss man einmal deutlich sagen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU] – Hans-Michael Gold- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – La- mann [FDP]: Ihnen fliegen die Gesetze um die chen bei der FDP) Ohren! – Heinz Lanfermann [FDP]: Welches Ministerium musste das Gesetz denn prüfen, – Ihr pennälerhaftes Gelächter zeigt mir, dass ich mit Herr Kollege?) meiner Einschätzung genau richtig liege. Lassen Sie mich zwei Bemerkungen vorausschicken. (Zurufe von der FDP: Oh!) Erste Bemerkung. Sie haben eben das Verbraucherinfor- Die Bundesregierung und hier insbesondere die Ver- mationsgesetz angeführt. Ich glaube, Frau Leutheusser- fassungsressorts brauchen sich ihrer Arbeit nicht zu Schnarrenberger, dieses Gesetz ist denkbar ungeeignet, schämen. Sie prüfen alle Entwürfe in rechtsförmlicher der Koalition eine Missachtung rechtstaatlicher Regeln und verfassungsmäßiger Hinsicht. vorzuwerfen. (Heinz Lanfermann [FDP]: Jetzt liest er die (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Joachim Geschäftsordnung vor!) Stünker [SPD]: Sehr gut!) Dass diese Prüfung nicht selten unter erheblichem Zeit- Denn die Oppositionsparteien haben zwar gegen das Ge- druck erfolgen muss, haben diese Ressorts am wenigsten setz gestimmt. Aber die verfassungsrechtlichen Ein- zu verantworten. Es ist auch nichts wirklich Neues. wände, die aus dem Bundespräsidialamt gekommen Jede Partei, die einmal Regierungsverantwortung ge- sind, sind auch von Ihnen, der Opposition, damals bei tragen hat, weiß aus eigener Erfahrung, dass die Kom- den Beratungen des Gesetzentwurfs nicht artikuliert promissfindung innerhalb einer Koalition infolge des worden. Wir alle sitzen also in einem Boot. Wenn Sie Drucks von Interessenverbänden und Medien und nicht uns auf die Nase hauen, dann sollten Sie sich auch an die zuletzt auch der Entscheidungsweg im Parlament selbst eigene Nase fassen. unter erheblichem Zeitdruck stehen. (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Dirk Niebel [FDP]: Dann lassen Sie doch die (D) CDU/CSU – Unruhe bei der FDP) Fristverkürzung sein!) Zweite Bemerkung. Es ist für uns sicherlich nicht er- Dass es den Verfassungsressorts trotzdem gelingt, be- freulich, dass der Bundespräsident in kurzer Zeit zwei denkliche Passagen fast immer rechtzeitig zu identifizie- Gesetze nicht ausgefertigt hat. Aber im Gegensatz zu ren und auch dann zu entschärfen, wenn dafür politische denjenigen, die den Parlamentarismus erst in den letzten Kompromisse, für die nicht selten die Opposition verant- sechs Jahren oder vielleicht noch gar nicht entdeckt ha- wortlich zeichnet, neu justiert werden müssen, ist eine ben, weiß ich, dass solche Vorkommnisse wie die Nicht- Leistung, die auch im heutigen Kontext nicht übersehen ausfertigung eines Gesetzes in der Geschichte der Bun- werden sollte. desrepublik Deutschland schon immer vorgekommen sind. (Ernst Burgbacher [FDP]: Jetzt sind wir schuld oder was?) (Dirk Niebel [FDP]: Das macht es nicht bes- ser!) Selbst wenn man von solchen äußerlichen Erschwer- nissen der Prüfung einmal absieht, bleibt eines unbe- Ich darf auch darauf hinweisen, dass in dieser Legis- streitbar: Auch Verfassungsfragen sind Rechtsfragen. laturperiode eine Vielzahl von Gesetzen verabschiedet Über Rechtsfragen kann man sehr schnell geteilter Mei- worden sind. nung sein und trefflich streiten. Selbst vor dem Bundes- (Zuruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]) verfassungsgericht gibt es Überraschungen. Denn selten gibt es dort einstimmige Entscheidungen. Häufig können – Seien Sie einmal ganz ruhig. Sie sollten lieber an Ihre die Verfassungsrichter, die eine abweichende Meinung eigene Zeit im Justizministerium denken. vertreten, mit beachtlichen Argumenten aufwarten. (Heinz Lanfermann [FDP]: So etwas ist da- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Selbst beim mals in der Form nicht vorgekommen, Herr Zuwanderungsgesetz war das so!) Kollege!) Wer in einer juristischen Auseinandersetzung unter- – Sie haben Ihre eigene Ministerin damals dazu getrie- liegt, muss sich deshalb nicht automatisch vorwerfen ben, zurückzutreten. Seien Sie also ganz ruhig. lassen, er habe fehlerhaft gearbeitet. Viele von uns, die (Beifall bei der SPD – Lachen bei der FDP – in juristischen Berufen tätig sind oder waren, haben das Zuruf der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarren- am eigenen Leibe erfahren. Man sollte das auch in der berger [FDP]) heutigen Diskussion nicht vergessen. 7266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Zum Schluss möchte ich eines hervorheben: Schon Herr Kollege Schmidt, das meiste von dem, was Sie (C) immer war der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit ein gesagt haben, unterschreibe ich. Es ist richtig: Wir soll- beliebtes und gängiges Mittel in der Auseinanderset- ten uns vor Populismus in der Gesetzgebung hüten. Wir zung. Studenten, die keine schlüssige Antwort auf Pro- sollten uns nicht von der öffentlichen Meinung treiben bleme haben, nutzen diesen Begriff oft als Totschlagar- lassen. Aber worüber heute zu diskutieren ist, sind die gument und sonnen sich dann in ihrer Größe. In der Wurschtigkeit und die Beliebigkeit, die sich bei der Bun- Politik – ich will niemanden besonders ansprechen – desregierung bei der Prüfung verfassungsgemäßer Fra- scheint mir das nicht anders zu sein. gen in der Gesetzgebung breit machen. Selten führt eine inflationäre Verwendung des Begrif- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fes der Verfassungswidrigkeit zu Gutem. Ganz im Ge- und bei der FDP) genteil: Ich könnte mir vorstellen, dass diese inflationäre Ich sage Ihnen: Wenn sich der Kollege Verwendung des Begriffes der Verfassungswidrigkeit heute in der „Westfälischen Rundschau“ zu dem Thema auch diejenigen, die es angeht, desensibilisieren kann. unserer Aktuellen Stunde mit dem Satz zitieren lässt: „Er (Heinz Lanfermann [FDP]: Wer viel Wasser meint, ‚eine etwas lässigere Haltung’ würde dem verschüttet, bekommt auch nasse Füße, Herr Rechtsstaat helfen“, Kollege!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Unglaublich!) – Ach wissen Sie, Herr Kollege, ich bin schon dankbar dann trifft er das Problem bzw. den Nagel auf den Kopf. dafür, dass Sie sich ab und zu einmal zu Wort melden. Darüber müssen wir uns unterhalten. Seit Sie wieder im Deutschen Bundestag sind, habe ich nämlich noch nichts von Ihnen gehört. Das ist heute (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN richtig erfreulich. und bei der FDP) Lassen Sie mich abschließend feststellen: Wenn Sie Den Beispielen, die von Frau Kollegin Leutheusser- ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit in Ihr politisches Den- Schnarrenberger umfassend dargestellt worden sind, will ken bringen würden, ich keine weiteren hinzufügen; fast alle wichtigen sind angesprochen worden. Einige wenige will ich aber auf- (Dirk Niebel [FDP]: Wer heutzutage alles in greifen und analysieren. Beim Verbraucherinformations- die Regierung hinein darf! Das ist unglaub- gesetz hatten wir folgendes Problem: In der Föderalis- lich!) musreform hat die große Koalition das Grundgesetz könnte diese Aktuelle Stunde vielleicht dazu führen, geändert; den Kommunen dürfen keine Aufgaben mehr zugewiesen werden. Sie haben aber im Verbraucherin- (B) dass wir uns, so wie es Herr Schmidt angeboten hat – ich (D) greife dies dankbar auf –, in aller Ruhe und sehr intensiv formationsgesetz den Kommunen Aufgaben zugewie- über die Frage unterhalten, wie wir gemeinsam zu noch sen. besseren Gesetzen kommen können, als wir sie heute (Joachim Stünker [SPD]: Nein, stimmt nicht! schon haben. Keine neuen Aufgaben! – Weitere Zurufe von der SPD) Danke schön. – Aber selbstverständlich. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Vol- ker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist doch nur NEN]: Abwahl dieser Regierung!) eine Auslegungsfrage!) Sie hätten vom September bis heute die Möglichkeit ge- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: habt, den Fehler, der aufgetreten ist, ganz leicht zu korri- Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag für die gieren, indem Sie in einem kurzen Änderungsgesetz die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Zuweisungen an „die Kommunen“ in Zuweisungen an „die zuständigen Stellen“ umgewandelt hätten. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Michael Bürsch [SPD]: So ist es gemeint! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über Jeder, der lesen kann, versteht es so!) das Thema der heutigen Aktuellen Stunde hat das Deutschlandradio vorgestern früh einen Vorbericht ge- Wir werfen Ihnen vor, dass Sie, so stur und selbstzu- sendet und dabei das Verhalten der Bundesregierung und frieden, wie Sie sind, monatelang im Nichtstun verhar- der großen Koalition mit einem Zitat aus einem Western ren und dann, wenn der Bundespräsident sagt, so gehe es von Clint Eastwood zusammengefasst. Dieses Zitat will nicht, er stoppe dieses Gesetz, an ihm herummeckern, ich Ihnen nicht vorenthalten. Es lautet: „Ich reite in die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stadt und der Rest findet sich.“ und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ LINKEN) DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der statt in sich zu gehen. Genau dies hat Ihnen der Kollege FDP) Wiefelspütz ins Stammbuch geschrieben. Diese Haltung ist für die FDP zu Recht Anlass für diese Dieser Poltergeist der Innenpolitik hat sich zu dem Aktuelle Stunde; wir kritisieren sie ebenso. Thema der heutigen Aktuellen Stunde so geäußert: Es ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7267

Jerzy Montag (A) Zeit, dass die große Koalition Selbstkritik übt und ein- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) mal in sich geht. Für die Bundesregierung erteile ich das Wort Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Peter Altmaier. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)

Das bezog er auf genau die Themen, die wir jetzt hier Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär beim Bundes- besprechen. Wenn schon der Kollege Wiefelspütz das minister des Innern: sagt, meine Damen und Herren, dann sollten Sie das tat- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich sächlich beherzigen. dem Kollegen Montag zuhörte, gewann ich den Ein- druck, er hätte sich von der einen oder anderen exzellen- Beim Gesundheitsschutz, beim Nichtraucherschutz ten Rede inspirieren lassen, die wir von der CDU/CSU haben wir das gleiche Problem. Natürlich ist jedem klar: zu den Hochzeiten von Rot-Grün gehalten haben, als Sie Gaststättenrecht ist Landesrecht und der Gesundheits- damals mit Ihren Gesetzen aufgelaufen sind. Damals ha- schutz fällt unter das Bundesrecht. Die Bundesregierung ben Sie unsere Reden mit dem Brustton ehrlicher Über- und die große Koalition insgesamt hätten Monate Zeit gehabt, in dieser Diskussion, die für Hunderttausende zeugung und Empörung zurückgewiesen. von Menschen wichtig ist, eine Position zu beziehen. Es gehört zur Ehrlichkeit und zur Sachlichkeit in die- Aber Sie haben monatelang geschwiegen, die Debatte ser Debatte, dass wir einige grundlegende Fakten zur laufen lassen und, als die Angelegenheit fast vor dem Kenntnis nehmen. Dazu gehört zunächst, dass für eine Vollzug war, den Karren vor die Wand fahren lassen. gute Gesetzgebung, die im formellen und materiellen Das ist es, was man Ihnen vorwerfen muss. Sinn dem Grundgesetz entspricht, alle beteiligten Ver- fassungsorgane gemeinsam die Verantwortung tragen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht nur die Bundesregierung allein, sondern auch der sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnar- Bundesrat und das Parlament, der Bundestag. Ferner ge- renberger [FDP]) hört dazu die Feststellung, dass, wenn wir uns die Zahl Ich könnte auch aus der fachpolitischen Diskussion der Gesetze ansehen, die in den letzten 57 Jahren, der des Rechtsausschusses und der Rechtspolitik zu dem Zeit seit In-Kraft-Treten des Grundgesetzes, verabschie- Thema dieser Aktuellen Stunde viele Beispiele anfüh- det worden sind – der Kollege Schmidt hat, wie ich ren; ich will aber nur ein einziges bringen. Beim Stal- meine, zu Recht gesagt: Wahrscheinlich waren es viel zu king hat es die Bundesregierung geschafft, innerhalb von viele; auch darüber muss man reden –, und diese Zahl wenigen Wochen bestimmte gesetzliche Formulierungen mit der Zahl derjenigen Gesetze vergleichen, die nicht als verfassungsrechtlich höchst bedenklich zu bezeich- ausgefertigt wurden oder die vom Verfassungsgericht für (B) nen, die auf durchgreifende Bedenken stoßen müssten, ganz oder teilweise unvereinbar mit dem Grundgesetz (D) um dann sechs Wochen später zu dem gleichen Sachver- erklärt worden sind, halt zu sagen: Es gibt null verfassungsrechtliche Beden- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das sind ho- ken; alles ist in Ordnung. Ein solches Hin und Her habe möopathische Dosen!) ich in den vier Jahren, in denen ich im Bundestag bin, nicht erlebt und niemand, der länger im Bundestag ist, wir einsehen, dass diese Zahl sehr gering ist und dass hat mir berichten können, dass es so etwas schon einmal diese Zahl, über die Jahre gesehen, im Wesentlichen gegeben hätte. gleich geblieben ist. Es stimmt eben nicht, wenn gesagt wird, dass es in den letzten Monaten oder Jahren einen Ich komme zum Schluss. Die Dirigentin der Bundes- signifikanten Anstieg gegeben hat. regierung hat an Sie die Noten für einen Regierungs- durchmarsch verteilt. Aber Sie spielen nicht die Musik (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Bundeskanzlerin, sondern völlig dissonante Melo- neten der SPD) dien. Auf der rechten Seite spielen Sie deutsche Weisen; auf der linken Seite spielen Sie den Blues und das Ganze Diese Bilanz spricht – das will ich als Vertreter eines gerät zu einer verfassungsrechtlichen Chaos-Combo. Verfassungsressorts offensiv ansprechen – für die Quali- Deswegen ist es so wichtig, dass wir darüber auch in ei- tät der Gesetzgebungsarbeit, für die Wirksamkeit der ner Aktuellen Stunde diskutieren, damit nämlich klar verfahrensmäßigen Vorkehrungen und auch – das füge wird, dass es mit der Überprüfung von Gesetzen auf ihre ich ausdrücklich hinzu – für die Professionalität und die Verfassungsmäßigkeit in der großen Koalition so nicht Kompetenz der Beamtinnen und Beamten in den betei- weitergeht. ligten Häusern, die oft unter erheblichem Zeitdruck ar- beiten. Dieser Zeitdruck wird bisweilen auch von uns Es ist die letzte Sitzungswoche vor Weihnachten. Sie Politikern verursacht, sowohl durch die Entscheidungen bekommen in dieser Frage von der Opposition keine der jeweiligen Koalition als auch durch die Opposition, Weihnachtsgeschenke, sondern ein Jahreszeugnis. Die- wenn sie sagt, dass eine notwendige Gesetzesmaßnahme ses lautet ganz eindeutig: Sie können es nicht. aus ihrer Sicht am besten schon vorgestern hätte verab- schiedet werden sollen. Das müssen wir zur Kenntnis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nehmen, aber auch ansprechen. und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Meine Damen und Herren von der FDP, Sie wissen Besser, Sie hätten „Stille Nacht“ gesungen, doch selbst, dass die verfassungsrechtliche Prüfung Herr Montag!) laufender Gesetzesvorhaben notwendigerweise hoch 7268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Parl. Staatssekretär Peter Altmaier (A) komplex ist, häufig von Wertungsfragen abhängig ist werden, sondern die politischen Entscheidungen des (C) und mit guten Argumenten so oder so entschieden wer- Parlaments respektiert werden. Wenn wir uns auf diesen den kann. Tun Sie doch nicht so, als ob jedes Gesetz, das Grundsatz einigen könnten, wären wir schon wesentlich vom Bundestag verabschiedet wird, ein Etikett trägt, auf weiter. Dann könnten wir sachlich darüber diskutieren, dem „verfassungsrechtlich unbedenklich“ oder „eindeu- was bei der technischen Ausgestaltung des Prüfungspro- tig verfassungswidrig“ steht. Das ist eine Unterstellung, zesses vielleicht noch verbessert werden kann. Ich bin die mit der Praxis nichts zu tun hat. im Übrigen der Auffassung, dass das Vorgehen der Bun- desregierung dem von mir formulierten Prüfungsmaß- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – stab in den beiden von Ihnen zuletzt angesprochenen Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da spricht je- Fällen durchaus gerecht geworden ist. mand, der etwas von der Sache weiß!) Wenn Sie sich die Ausgestaltung unseres Gesetzge- Sie wissen doch genauso gut wie ich – jedenfalls die bungsverfahrens ansehen – von der Prüfung durch die Experten unter Ihnen, die im Rechtsausschuss tätig wa- Bundesregierung über die Prüfung im Rechtsausschuss ren oder sind –, dass Sie häufig zu ein und demselben des Bundesrates im so genannten ersten Durchgang, der Gesetzgebungsvorhaben genauso viele befürwortende Aufbereitung der verfassungsrechtlichen Fragestellun- wie ablehnende Gutachten von herausragenden Verfas- gen für den Bundestag, der es dann seinerseits in Aus- sungsjuristen beibringen können. schussberatungen und Sachverständigenanhörungen ver- (Joachim Stünker [SPD]: Genauso ist es!) tiefen und weiter erörtern kann –, dann meine ich, dass wir verfahrensmäßige Garantien dafür haben, dass die Dass der politische Meinungskampf über die Frage, wel- Prüfung mit einem Höchstmaß an Seriosität und Gründ- ches Gesetz gewollt ist, zunehmend mit juristischen lichkeit vorgenommen wird. Fachgutachten ausgetragen wird, ist eine Modeerschei- nung, die wir einmal gemeinsam hinterfragen sollten. Wir tragen für das, was zustande kommt, gemeinsam die Verantwortung. Ich möchte für die Mitglieder des (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung Ich wundere mich bisweilen über die Bandbreite verfas- – wer auch immer sie stellt – in Anspruch nehmen, dass sungsrechtlicher Auffassungen, je nachdem, wer der wir alle gleichermaßen ausschließlich im Rahmen der Auftraggeber für ein bestimmtes Gutachten im politisch- Verfassung handeln wollen. Dieser Maßstab gilt für un- parlamentarischen Raum ist. sere Arbeit. Wir sind auch bereit, das in jedem einzelnen Fall konkret zu belegen. (Joachim Stünker [SPD]: So ist es!) Für die Legitimität und die Glaubwürdigkeit unserer (B) Die verfassungsrechtliche Prüfung vollzieht sich oft- (D) mals vor dem Hintergrund politischer Debatten, bei de- politisch-demokratischen Institutionen ist es schon wich- nen der Wünschbarkeit einer bestimmten Regelung Vor- tig, liebe Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, rang vor ihrer verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit wie wir miteinander umgehen. eingeräumt wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) der SPD) Das Thema Nichtraucherschutz ist genannt worden. Das war der Grund, warum mich der Stil Ihres Vortrags Dazu kann man stehen, wie man möchte. Wenn uns aber zu Beginn Ihrer Rede – auch wenn man über einzelne das Argument entgegengehalten wird, eine politisch ge- Argumente diskutieren kann – wollte Regelung dürfe nicht an den Ergebnissen der Fö- (Joachim Stünker [SPD]: Geärgert hat!) deralismusreform scheitern, dann sind selbstverständlich die Verfassungsressorts der Bundesregierung gefordert. berührt hat. Ich glaube, dass wir ausgesprochen vorsich- Dieser Aufgabe werden sie gerecht, auch wenn das nicht tig und zurückhaltend damit sein sollten, uns gegenseitig auf allen Seiten des Hauses ausschließlich zur Freude sach- und verfassungsfremde Motive oder unsachge- gereicht. mäße Arbeit zu unterstellen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) neten der SPD) Erlauben Sie mir bitte noch folgenden Hinweis: Auch Vor diesem Hintergrund ist es die wichtigste Aufgabe zu Zeiten, als die FDP oder die Grünen an Bundesregie- der Verfassungsressorts – Justizministerium und Innen- rungen beteiligt waren, sollen einzelne Gesetze vor dem ministerium –, anerkannte und nachvollziehbare Maß- Bundesverfassungsgericht keinen Bestand gehabt haben. stäbe für die Prüfung der Verfassungskonformität aufzu- Es ist also keine neue Erscheinung, die Sie hier bekla- stellen. Diese Maßstäbe dürfen nicht von Gesetz zu gen. Gesetz neu festgelegt werden, sondern müssen generell Für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die gültig sein. Wir müssen uns in allen Fällen von ihnen lei- Funktionsfähigkeit unserer verfassungsmäßigen Ord- ten lassen, unabhängig von der politischen Wünschbar- nung ist es wichtig, dass sich alle Verfassungsorgane, die keit eines Vorhabens. in diesem oder einem späteren Stadium am Zustande- Ich meine, immer dann, wenn eine Gesetzesvorlage kommen von Gesetzen beteiligt sind, gegenseitig mit verfassungsrechtlich mit guten Argumenten vertretbar Respekt begegnen. Dies gilt selbstverständlich auch für ist, sollten von der Regierung keine Einwände erhoben Entscheidungen des Bundespräsidenten. Soweit es im Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7269

Parl. Staatssekretär Peter Altmaier (A) Laufe dieses Prozesses unterschiedliche Auffassungen Für diejenigen, die das nicht tagtäglich verfolgen kön- (C) zwischen den beteiligten Verfassungsorganen gibt, sind nen, möchte ich dies an einem Beispiel deutlich machen: wir aufgerufen, gemeinsam alle Anstrengungen zu un- Sie haben mit Ihrer Mehrheit die Einführung einer Anti- ternehmen, um eine Lösung zu finden, die vor dem terrordatei beschlossen. Wir von der FDP – ich denke, Grundgesetz und vor dem Bundesverfassungsgericht Be- das gilt auch für die Grünen – hatten Ihnen signalisiert, stand hat. In den wenigen Fällen, in denen die unter- dass wir bereit wären, mit Ihnen in einen Dialog zu tre- schiedlichen Auffassungen durch eine Entscheidung des ten und Sie dabei zu unterstützen. Aber Sie haben uns Bundespräsidenten oder durch Entscheidungen in einem nicht einmal die Chance dazu gegeben. Warum? Weil bestimmten Verfahrensstadium deutlich werden, sind Sie sich in der großen Koalition bis zum Dienstagabend wir aufgerufen, schnellstmöglich, nachvollziehbar und nicht über den Gesetzentwurf einig wurden und der zu- transparent einen neuen überzeugenden Vorschlag zu ständige Ausschuss am Mittwoch darüber abstimmen machen. Ich bin davon überzeugt, dass uns dies auch im musste. Das Problem dieser Regierung ist: Sie legen Ge- vorliegenden Fall gelingen wird. setzentwürfe auf den Tisch, an denen Sie, weil Sie keine Einigkeit erzielen, bis zur letzten Minute feilen müssen, Vielen herzlichen Dank. und so weder dem Parlament noch anderen die Möglich- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) keit geben, Ihre Gesetzentwürfe zu prüfen. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir werden morgen eine Debatte über die Einsetzung Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher für der Föderalismuskommission II führen. Die Ergebnisse die FDP-Fraktion. der ersten Föderalismusreform sind aus sehr verschiede- (Beifall bei der FDP) nen Blickwinkeln kritisiert worden. Aber auf eines, meine Damen und Herren von der großen Koalition, wäre wohl niemand gekommen: dass die Föderalismus- Ernst Burgbacher (FDP): reform daran scheitern könnte, dass Sie nicht verstehen, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine was Sie überhaupt beschlossen haben. Das ist das eigent- Aktuelle Stunde dient dazu, Themen, die die Bevölke- liche Problem. rung aktuell bewegen, hier im Disput darzustellen und Meinungen darüber auszutauschen. Herr Staatssekretär (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jerzy Montag Hartenbach, Ihr Beitrag diente nicht diesem Zweck und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) war dieses Hauses nicht würdig. Wenn man sich anschaut, welche Themen im Mittel- (B) (Beifall bei der FDP) punkt der Diskussion stehen, wird deutlich, dass Sie of- (D) fenbar noch nicht verinnerlicht haben, in welchen Berei- Herr Staatssekretär Hartenbach, es ist für mich nicht chen Sie Kompetenzen haben und in welchen nicht. nachvollziehbar, wie Sie sich hier hinstellen und so tun können, als sei überhaupt nichts gewesen. Sie vertreten (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) ein Verfassungsministerium. Sie haben Gesetze auf Ver- Lassen Sie mich noch einmal deutlich machen, dass fassungskonformität zu prüfen. Sie aber stellen sich hier- zum Beispiel mein Kollege Goldmann in seiner Rede her, sagen, es sei überhaupt nichts gewesen, und lesen zum Verbraucherinformationsgesetz auf das Problem vor, was man Ihnen aufgeschrieben hat. Dieser Stil ist hingewiesen hat. dieses Hauses nicht würdig. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Genau!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Aber daraus wurden Sie nicht schlau. Das zeigt sich jetzt bei der Gesundheitsreform. Kollege Lanfermann hat des Ich darf, damit die Kritik nicht nur von uns kommt, Öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass auch sie Ver- eine kurze Zeitungspassage vorlesen. Ich könnte viele fassungsbrüche beinhaltet. Zeitungen dafür nehmen. In der heutigen Ausgabe der „Stuttgarter Zeitung“ steht: (Rainer Brüderle [FDP]: Jawohl! So ist es! – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dass Herr Lan- Die beiden Volksparteien haben im ersten schwarz- fermann auf etwas hinweist, reicht aber noch roten Jahr viel Pfusch produziert. Sie schaffen bei nicht aus, um es verfassungswidrig zu nen- der Gesetzesarbeit nicht weniger schlampig als die nen!) darob zu Recht gescholtene Vorgängerregierung. Aber Sie hören nicht auf uns. Das verstehen wir nicht. Das ist der Stand. Darauf haben Sie hier einzugehen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Lassen Sie mich nun auf das SGB XII zu sprechen Herr Kollege Schmidt, Sie haben in Ihrer Rede ge- kommen. Sie haben den Gemeinden gesagt, dass sie eine sagt, dass in der parlamentarischen Demokratie das Par- Weihnachtsgratifikation zu zahlen haben, zum Beispiel lament der Chef ist; das ist richtig. Aber ein Betrieb läuft an die Heimbewohner. Die Gemeinden hingegen weisen nur dann, wenn der Chef seine Arbeit verantwortungs- darauf hin, dass Sie das nicht dürfen. In der Neufassung voll ausführt und darauf achtet, was er zu tun hat. Mein von Art. 84 des Grundgesetzes heißt es – so haben Sie es Vorwurf an Sie lautet: Das haben Sie nicht getan. wörtlich formuliert –: 7270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Ernst Burgbacher (A) Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Ge- Gebote: Gesetze müssen bestimmt sein, was direkt aus (C) meindeverbänden Aufgaben nicht übertragen wer- dem Gebot der Rechtssicherheit folgt. den. Gesetze müssen so eindeutig in ihren Regelungen Wir hatten immer angemahnt – das war übrigens ein sein, dass jeder die Rechtsfolgen seines individuellen wesentlicher Grund, warum wir die Föderalismusreform Handelns voraussehen kann. Gesetze müssen außerdem abgelehnt haben –, dass das Problem dadurch nicht ge- klar sein, das heißt, sie müssen unmissverständlich und löst wird. In genau dieser Situation befinden wir uns rational nachvollziehbar sein. Gesetze müssen notwen- jetzt. Hätten wir das Konnexitätsprinzip in das Grundge- dig sein, außerdem verhältnismäßig und sie dürfen den setz aufgenommen, Vertrauensschutz der Bürgerinnen und Bürger nicht ver- letzen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ganz genau!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wenden Sie das nicht an?) könnten Sie diese Aufgaben übertragen; man müsste nur das Geld zur Verfügung stellen. Wenn wir jetzt, nach einem Jahr großer Koalition, eine erste Bilanz ziehen, dann stellen wir fest: (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Christine 97,8 Prozent der Gesetze, die wir erlassen haben, erfül- Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) len diese Voraussetzungen. Das Glas ist nicht etwa halb Das aber haben Sie nicht gewollt. Die Verfassungskon- voll, es ist bis oben voll. flikte werden jetzt auf dem Rükken derer ausgetragen, die gehofft haben, die 35 Euro zu bekommen. Nach dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aktuellen Stand der Diskussion können sie sich dessen der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ aber nicht mehr sicher sein. Das ist keine solide Politik. DIE GRÜNEN]: Aber das ist zu wenig!) Dagegen wehren wir uns. Reden wir also über die 2,2 Prozent, die bleiben. Es (Beifall bei der FDP) gibt einen übergeordneten Gesichtspunkt, der bei allem eine Rolle spielt, die Verfassungsmäßigkeit. Ich folge Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einer dem Gewohnheitsrecht: Niemand darf diesen Bundes- Bitte aus dem Gebet eines Pfarrers aus dem Jahre 1864 präsidenten kritisieren; schließen, das heute allerdings mindestens genauso ak- tuell ist wie damals – ich zitiere nur zwei Zeilen –: (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Lieber Gott und Herr! Gib den Regierenden ein darin gibt es Übereinstimmung in diesem Saal. Aber (B) besseres Deutsch und den Deutschen eine bessere auch dieser Bundespräsident hat ein Recht auf Irrtum. Es (D) Regierung. ist ihm wie allen Bundespräsidenten unbenommen, sich auch einmal zu irren, wie uns als Gesetzgeber auch. Dem ist nichts hinzuzufügen. Wer Jura studiert hat, hat schon vor dreißig, vierzig (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Jahren den Streit darüber mitbekommen – Frau Leut- Abgeordneten der LINKEN – Klaus Uwe Ben- heusser-Schnarrenberger, wir haben das während unserer neter [SPD]: Was machen da bloß die Ita- juristischen Ausbildung erlebt –, welches Prüfungsrecht liener?) der Bundespräsident nach Art. 82 Grundgesetz hat. Wir haben aus dem Maunz/Dürig und wie sie alle heißen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: über all die Jahre unverändert erfahren: Er hat ein for- Das Wort hat nun der Kollege Dr. Michael Bürsch für melles Prüfungsrecht; das heißt, er muss nach Art. 82 die SPD-Fraktion. prüfen, ob ein Gesetz formell ordnungsgemäß zustande gekommen ist. Dr. Michael Bürsch (SPD): (Joachim Stünker [SPD]: So ist es!) Ich vertrete die bessere Regierung. Außerdem hat er – das ist Meinung der überwältigenden (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider- Mehrheit derer, die sich dazu geäußert haben – ein ein- spruch bei der FDP) geschränktes Recht sowie die Pflicht zu prüfen, ob ein Gesetz evident verfassungswidrig ist. Es gibt nach unse- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im An- rem Prinzip der Gewaltenteilung, liebe FDP, nur eine In- schluss an die Ausführungen des Kollegen Schmidt be- stanz, die aufgerufen ist, die Verfassungsmäßigkeit oder tone ich für die heutige Debatte und für alle künftigen die Verfassungswidrigkeit festzustellen: das Bundesver- Debatten dieser Art: Gesetzgebung ist keine Naturwis- fassungsgericht. senschaft. Sie folgt nicht den Prinzipien der Mathematik, liebe FDP. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gerne trage ich zur Wahrheitsfindung bei – dazu hat Dieser Bundespräsident ist zu dem Ergebnis gekom- die FDP aufgerufen – und sage etwas zu den rechtsstaat- men, das Verbraucherinformationsgesetz entspreche lichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetz- nicht Art. 84 Grundgesetz. Dieses Gesetz ist aber nach- gebungsarbeit. Diese Anforderungen lassen sich sehr weisbar in allen Regierungsinstanzen, die dazu aufgeru- schnell aufzählen. Von Bedeutung sind die folgenden fen waren, im Bundestag und im Bundesrat, geprüft wor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7271

Dr. Michael Bürsch (A) den und man ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): (C) sich nicht um neue Aufgaben handelt. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Die FDP möchte sich mit dieser Aktuellen Stunde (Dirk Niebel [FDP]: Der Präsident ist Bestand- wieder einmal als Rechtsstaatspartei und parlamentari- teil der Gesetzgebung!) sche Hüterin der Verfassung darstellen; das haben Sie ja auch früher schon immer wieder für sich in Anspruch Man mag diese Auffassung nicht teilen. Wenn es aber genommen. Deshalb haben Sie für diese Aktuelle Stunde über etwas Streit gibt, ist dieses Gesetz noch lange nicht einen Titel gewählt, der einer Dissertation oder, ich evident, auf der Stirn tragend, verfassungswidrig. möchte fast sagen, einer Habilitation alle Ehre machen (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD] so- würde. wie des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/ (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Rehabilita- CSU]) tion!) Der Bundespräsident hat an dieser Stelle das Recht Aber ich denke, wir sollten auf dem Boden bleiben. auf Irrtum. Er muss aber nicht unbedingt die Unterzeich- Das sage ich vor allem zu Ihnen, Frau Kollegin Leut- nung eines Gesetzes verweigern, wenn er der Meinung heusser-Schnarrenberger. Ihre maßlos überzogene Pole- ist, es sei nicht der Verfassung gemäß. Er kann das auch mik wird diesem Thema ganz gewiss nicht gerecht. wie Johannes Rau elegant machen und sagen: Ich unter- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zeichne es, aber ich gebe euch den zarten Hinweis, das der SPD) Verfassungsgericht möge es noch einmal überprüfen. Sie haben so getan, als wären die beiden Ausnahmefälle (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: in dieser Wahlperiode, in denen der Bundespräsident ein Das ist doch seine Aufgabe!) Gesetz nicht ausgefertigt hat, die Regel. Damit stellen Sie die Dinge auf den Kopf. Ich will aus diesem Anlass einen weiteren Hinweis geben – das ist aus meiner Sicht in der Kommentierung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- etwas zu kurz gekommen –: Das Gesetz zur Privatisie- neten der SPD) rung der Flugsicherung hat der Bundespräsident eben- Diese Koalition hat bei allen Gesetzesvorhaben die Ver- falls zurückgewiesen. Ich will mich nicht darüber auslas- fassung im Blick und nimmt verfassungsrechtliche Be- sen, ob zu Recht oder zu Unrecht. Ich sehe den denken selbstverständlich immer ernst. Treten verfas- Bundespräsidenten in der Funktion eines Staatsnotars, sungsrechtliche Zweifel auf, dann werden diese geprüft. der darauf hinweist, ob ein Gesetz ordnungsgemäß zu- Dass dabei auch einmal Fehleinschätzungen vorkommen (B) (D) stande gekommen ist oder so evident verfassungswidrig können, bestreitet niemand. ist, dass es zurückgenommen werden muss. Das ist bei Dass es in der Beurteilung von verfassungsrechtli- diesem Gesetz meiner Ansicht nach auch nicht der Fall. chen Fragen unterschiedliche Meinungen gibt und man Dieser Fall wirft aber höchst interessante Fragen für zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, ist für das Parlament auf, die ich hier gern einmal diskutieren Juristen, insbesondere für Verfassungsjuristen, weiß Gott würde, Herr Schmidt: Welche Aufgaben gehören zu den nichts Neues oder gar Ungewöhnliches. Wer das Verfas- Kernaufgaben des Staates? Wie viel von seiner Hoheit sungsrecht kennt, der weiß, dass es nahezu nichts gibt, darf der Staat abgeben? Welche Aufgaben soll der Staat wozu es unter Verfassungsrechtlern nicht unterschiedli- in Zukunft noch übernehmen? Wenn er Aufgaben ab- che Auffassungen gibt und was unstrittig ist. gibt: mit welcher Gewährleistung? – Ich bin bekanntlich (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Richtig!) ein großer Anhänger der öffentlich-privaten Partner- schaften. Für mich ist ein Gefängnis eine Einheit, in der Das gilt übrigens auch für die Frage, ob dem Bundesprä- sidenten ein materielles Prüfungsrecht zusteht, was aber der Staat die Verantwortung für die Sicherheit trägt. nach herrschender Meinung der Fall ist und von der Aber dass diese Dienste von Privaten erbracht werden, Staatspraxis anerkannt wird. Aber es gibt, wie gesagt, ist kein Verstoß gegen das Gebot, dass der Staat diese fast nichts, was unstrittig ist. Aufgabe innehat. Diese Fragen sollten wir einmal durch- diskutieren. Dass der Bundespräsident in dieser Wahlperiode nun- mehr bereits zum zweiten Mal ein Gesetz wegen verfas- Zum Schluss komme ich zu den Jahreszeugnissen, sungsrechtlicher Bedenken nicht unterzeichnet hat, ist Kollege Montag. Ich habe immer gehört: Die Opposition bedauerlich. Gleichwohl respektieren wir diese Ent- ist die Regierung von morgen. – Mit platter Polemik, mit scheidung. Wir tun dies, obwohl man mit guten Argu- künstlicher Aufgeregtheit und Diffamierung des Gesetz- menten durchaus darüber streiten könnte, ob gerade gebers ist dieses Ziel noch weit entfernt von euch. beim Verbraucherinformationsgesetz ein Verfassungs- verstoß seitens des Gesetzgebers vorliegt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die betreffende Verfassungsnorm ist erst kürzlich im Rahmen der Föderalismusreform umgestaltet worden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Art. 84 des Grundgesetzes in seiner neuen Fassung be- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer stimmt, dass Gemeinden durch Bundesgesetz Aufgaben für die CDU/CSU-Fraktion. nicht mehr übertragen werden dürfen. Man kann sehr 7272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Wolfgang Götzer (A) wohl der Auffassung sein, dass es sich im vorliegenden Dr. Matthias Miersch (SPD): (C) Fall nicht um die Übertragung einer Aufgabe im Sinne Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! des Art. 84 Grundgesetz handelt. Das Thema dieser Aktuellen Stunde lautet: „Rechtsstaat- liche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetzge- (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) bungsarbeit“. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich komme, wie Sie vielleicht wissen, aus Niedersachsen. Es geht nämlich um die Schaffung eines Rechts der Bür- Seit ein paar Jahren regiert die FDP in Niedersachsen an ger auf Zugang zu einschlägigen Daten von Behörden, vorderster Stelle mit. eben auch zu solchen von Gemeinden. (Ernst Burgbacher [FDP]: Und gut!) (Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut, Herr Kol- lege!) Wenn wir uns einmal anschauen, was in Niedersachsen in den letzten Jahren passiert ist, dann stellen wir fest, Ob hier also ein Verfassungsverstoß vorliegt, noch dazu dass es ein so evidenter, der die Ablehnung der Ausfertigung un- umgänglich macht, daran kann man gut begründete (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Besser Zweifel haben. wurde als vorher!) für diejenigen, die einer Partei angehören, die dort Re- Bundesregierung und Parlament haben die Rechtslage gierungsverantwortung hat, geboten wäre, eine solche geprüft und sind zu einem anderen Ergebnis gekommen Kritik hier gemäßigter vorzutragen. als das Bundespräsidialamt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Joachim Stünker [SPD]: Der Bundesrat auch!) Liebe Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, schauen wir uns einmal die Entscheidung des Verfas- – Ja, auch der Bundesrat. Vielen Dank für den Hinweis, sungsgerichts zur Möglichkeit der Telefonüberwachung Herr Kollege Stünker. – Wer sagt denn, dass die Rechts- an. Es ist nicht so, dass sich nur ein Organ geweigert hat, auffassung des Bundespräsidialamtes die einzig richtige etwas auszufertigen bzw. zu unterschreiben. Vielmehr ist? haben Sie verfassungsgerichtlich verbrieft bekommen, dass das, was Sie getan haben, als Sie mit an der Regie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – rung waren, in einem sehr zentralen Punkt verfassungs- Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: widrig gewesen ist. Dann klagen Sie doch!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) Dass wir immer in besonderem Maße die Verfas- (D) sungsmäßigkeit von Gesetzen im Auge haben, zeigen Jeder, der den Rechtsstaat verkörpern will, muss hier die aktuellen Beratungen über ein Nichtraucherschutzge- aufheulen. Ich denke, deswegen steht es uns allen gut an, setz. Die Unionsfraktion hat die Probleme hinsichtlich sehr vorsichtig Kritik zu üben, die Dinge sehr behutsam der Zuständigkeit des Bundes für eine umfassende miteinander zu besprechen und nicht polemisch aufei- Nichtraucherschutzregelung klar gesehen und angespro- nander einzuhauen. chen. Deshalb ist der Vorschlag der damit befassten Ar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der beitsgruppe gestoppt worden, und zwar in einem sehr CDU/CSU) frühen Stadium, lange vor den parlamentarischen Bera- tungen. Was wollen Sie eigentlich mehr? Ich kann Ihnen Heute ist in der „Hannoverschen Allgemeinen Zei- versichern: Es wird eine Regelung geben, die mit der tung“ nachzulesen, dass der Gesetzgebungs- und Bera- Verfassung im Einklang steht. Dieselbe Vorgabe gilt üb- tungsdienst des Niedersächsischen Landtags das geplante rigens auch für die Gesundheitsreform. Gesetz zur Privatisierung der Landeskrankenhäuser in ei- ner Art und Weise verrissen hat, wie es das jedenfalls für (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die steht doch viele Landespolitiker zuvor noch nie gegeben hat. mit der Verfassung im Einklang!) (Dirk Niebel [FDP]: Kandidieren Sie doch für Lassen Sie mich abschließend zwei Punkte festhalten: den Landtag!) Erstens. Die Koalitionsfraktionen werden ihre legislative Auch das ist ein Beispiel dafür, dass man sehr ruhig sein Arbeit auch in Zukunft sehr ernst nehmen. Zweitens. Für sollte, wenn man woanders Verantwortung übernommen die verbindliche Klärung der Frage, ob ein Gesetz ver- hat und hier sagt, man bewahre die Verfassungsmäßig- fassungswidrig ist, ist einzig das Bundesverfassungsge- keit bzw. man habe die Weisheit mit Löffeln gefressen. richt zuständig. Ich glaube, so geht das nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Lassen sie das Landeskrankenhausgesetz jetzt so durchgehen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Herr Kollege Maurer, es hat mich schon erstaunt, dass Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion. der Kollege Nešković neulich im Rahmen der Debatte über § 153 a StPO, bei dem es um die Einstellung bei (Beifall bei der SPD) Erfüllung von Auflagen und Weisungen geht, als Bun- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7273

Dr. Matthias Miersch (A) desrichter vorgeschlagen hat, bei einer gerichtlichen Ent- Ich glaube, es wäre gut, wenn wir daran arbeiten und (C) scheidung unter Umständen noch eine Prüfungskompe- uns dieser Aufgaben annehmen würden. Herr Schmidt, tenz einzuführen, die der Legislative zugerechnet ich bin mir sicher, dass Sie diese zwei konkreten Vor- werden soll. Das halte ich wirklich für Verfassungsunfug schläge mit aufnehmen. und einen Vorschlag, durch den alles auf den Kopf ge- stellt würde. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das können die Grünen auch! Ihr habt den Beck Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: vorgeschickt, einen juristischen Analphabe- Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. ten!) Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 auf: Ich glaube also, dass wir gut beraten sind, zu akzep- Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens tieren, dass es immer unterschiedliche Auffassungen ge- Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, ben wird, dass auch die Verfassungsorgane unterschied- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP liche Meinungen vertreten. Die Vorredner haben schon darauf verwiesen, dass man bezüglich der Verfassungs- Wachstumsschädliche Mehrwertsteuererhö- mäßigkeit bzw. der Verfassungswidrigkeit unterschiedli- hung rückgängig machen cher Meinung ist. Ich glaube auch, dass wir es aushalten müssen, dass ein Bundespräsident so agiert, wie er – Drucksache 16/2520 – agiert. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Das, was der Kollege Schmidt hier vorgetragen hat, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie war aus meiner Sicht ein sehr guter Vorschlag. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Joachim Stünker [SPD]: War es auch!) Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir sollten daran anknüpfen. Als Mitglied der AG Recht meiner Fraktion kann ich nur sagen: Wir nehmen das Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen dankend an. Dr. Volker Wissing das Wort. (Beifall bei der FDP) Wir werden uns auch die Frage stellen müssen, wie wir künftig eine noch bessere Arbeit machen können. An (B) zwei Punkten will ich ganz konkret werden. Dr. Volker Wissing (FDP): (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstens. Ich glaube, wir müssen uns überlegen – die- Macht Geld glücklich? ses Problem ist hier an vielen Stellen vorgetragen wor- den –, wie wir dem Zeitdruck begegnen. Das bezieht (Zurufe von der LINKEN: Ja!) sich vor allem auf die Umsetzung europäischen Rechts. Diese Frage beschäftigt die Menschheit schon lange. Wie oft sind wir in den letzten Monaten aufgrund anhän- Wenigstens unser Bundesfinanzminister hat eine Ant- giger Verletzungsverfahren unter enormen Zeitdruck ge- wort darauf. Er sagt: „Es hilft“ und fährt fort: „Das raten? Ich glaube, wir brauchen hier ein Frühwarnsystem Glücksgefühl, Geld zu haben, ist allerdings weitaus we- zwischen der Bundesregierung und dem Bundestag, so- niger intensiv als die beklemmende Erfahrung, keines dass der Bundestag nicht mehr unter einen solchen Zeit- oder wenig zu haben.“ druck gerät. Wir müssen überlegen, wie wir das hinbe- kommen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erzählt er bei jeder Veranstaltung!) (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Aber dann fragt man sich, meine Damen und Herren, Zweitens. Ich glaube, wir sollten uns die Geschäfts- warum ausgerechnet dieser Bundesfinanzminister so ordnung einmal sehr aufmerksam anschauen. Als je- viele Menschen dieser beklemmenden Erfahrung aus- mand, der jetzt seit einem Jahr Mitglied des Bundestages setzt. ist, erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass wir in den Ausschussberatungen oft unter großen Zeitdruck geraten (Beifall bei der FDP) und federführende und mitberatende Ausschüsse zum Die SPD hatte es in ihren Wahlprospekten ja schön großen Teil parallel beraten. Deshalb sollten wir uns aufgelistet: 21,8 Millionen Rentner, 1,4 Millionen Pen- überlegen, ob wir die Geschäftsordnung nicht dergestalt sionäre und Versorgungsempfänger, 1,8 Millionen Be- ändern, dass der federführende Ausschuss stets mindes- amte, 4,7 Millionen Arbeitslose, tens eine Sitzungswoche nach den mitberatenden Aus- schüssen tagt. Ich glaube, es ist wichtig, dass ein feder- (Dirk Niebel [FDP]: Wo ist eigentlich das Fi- führender Ausschuss die Voten richtig beraten kann. nanzministerium? – Rainer Brüderle [FDP]: Daran haperte es an der einen oder anderen Stelle. Betriebsausflug der Regierung!) ( [FDP]: Zum Beispiel bei der Fö- 2 Millionen Studenten, 3,8 Millionen Selbstständige – deralismusreform!) sie alle zahlen ab Januar nicht nur 2, sondern dank 7274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Volker Wissing (A) effektiver Unterstützung durch die SPD sogar 3 Prozent- (Beifall bei der FDP – Gabriele Frechen [SPD]: (C) punkte mehr beim Einkaufen. Und davon haben Sie keine Ahnung!) Dabei weiß es die SPD genau: Die Erhöhung der Ich muss Ihnen auch sagen: Was die SPD heute für Mehrwertsteuer ist sozial ungerecht, weil sie vor allem ganz konkret falsch hält, hält sie morgen für ganz kon- Familien sowie kleine und mittlere Einkommen massiv kret richtig. Ich will Ihnen noch einmal Franz Müntefe- belastet. ring zitieren, weil Sie das ja schon langsam verdrängen: (Dirk Niebel [FDP]: Wie unfair!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wenn wir jetzt die Mehrwertsteuer erhöhen, also Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol- Produkte und Dienstleistungen spürbar teurer ma- legen Niebel zu? chen, würde das die Binnennachfrage noch weiter abwürgen. Das kann niemand ernsthaft wollen. Dr. Volker Wissing (FDP): Deswegen sind wir fest entschlossen, das zu verhin- Ja, selbstverständlich. dern. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: So sieht es also aus, wenn Sie fest entschlossen sind, Herr Kollege Niebel. etwas zu verhindern: Dann zahlen die Bürger nicht 2 Prozentpunkte mehr, sondern gleich 3 Prozentpunkte. Dirk Niebel (FDP): Meine Damen und Herren, die Erhöhung der Mehr- Vielen Dank, Herr Kollege Wissing. – Wir debattie- wertsteuer schwächt die Konjunktur. Daran ändert auch ren hier ja über die zu erwartende Mehrwertsteuererhö- die Einschätzung von Herrn Finanzminister Steinbrück hung im nächsten Jahr, die nicht nur politisch, sondern nichts, dass es sich nur um eine „leichte Delle“ handeln vor allem in der Bevölkerung zu vielen Ängsten führt. wird. Man kann nicht bestreiten, dass das Ganze unter Finden Sie es vor diesem Hintergrund angemessen, dass dem Strich Arbeitsplätze kostet und nur eines fördert, das Finanzministerium bei dieser Debatte nicht zugegen nämlich die Schwarzarbeit. ist? (Beifall bei der FDP) (Rainer Brüderle [FDP]: Die ganze Regierung ist in der Kantine!) Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen: Was ist denn eigentlich eine leichte Delle? Sind das 100, sind es 1 000 oder 100 000 verloren gegangene Arbeits- (B) (D) Dr. Volker Wissing (FDP): plätze? Wir wissen es heute nicht. Fest steht aber: Sie Ich finde das äußerst unangemessen. Es zeigt, dass schwächen unser Land mit einer Steuererhöhung nach sich der sozialdemokratische Finanzminister für die Inte- der anderen. Und es wird keinen trösten, der seinen Ar- ressen der Menschen, denen er in die Tasche greift, beitsplatz verliert, wenn er vom Bundesfinanzminister längst nicht mehr interessiert. erklärt bekommt, dies geschehe nur aufgrund einer klei- (Beifall bei der FDP) nen Delle. (Beifall bei der FDP) So sagt Peer Steinbrück auch: „Wir treten vielen auf die Füße, aber wir tun dies gleichmäßig.“ Aber wenn ich Diese leichte Delle wird für viele Menschen einen her- bei der SPD bleibe und dies nach ihrer eigenen Darstel- ben und bitteren Einschnitt bedeuten. Finanzpolitik fin- lung weiterspinne, dann muss man sagen: Mit der Mehr- det nicht im leeren Raum statt. Was wir hier beschließen, wertsteuererhöhung treten Sie Beziehern größerer Ein- hat für die Menschen konkrete Auswirkungen. Das soll- kommen mit der flachen Sohle und denen mit geringen ten wir nicht vergessen. Einkommen mit der Hacke auf die Füße. Es wirkt geradezu grotesk, wenn sich die Bundesre- Auch das Deutsche Institut für Wirtschaft gelangt zu gierung im Hinblick auf die größte Steuererhöhung in dem Ergebnis, dass die geplante Mehrwertsteuererhö- der Geschichte unseres Landes mit einer sensationell hung Nichterwerbstätige wie Arbeitslose und Rentner niedrigen Nettokreditaufnahme rühmt. Sie greifen den besonders belastet. Während Ihre Politik die Bevölke- Bürgerinnen und Bürgern schamlos in nicht gekanntem rung insgesamt um 0,8 Prozent ihres verfügbaren Ein- Ausmaß in die Taschen und wollen dann auch noch ein kommens bringt, ist das obere Zehntel mit 0,6, das un- Lob für Ihre geringe Nettokreditaufnahme haben. Das tere mit knapp 1,4 Prozent dabei. grenzt an Lächerlichkeit. (Zuruf des Abg. [SPD]) (Beifall bei der FDP) – Ich hatte es gerade gesagt. Wenn Sie zugehört hätten, Wenn man bedenkt, dass durch die Mehrwertsteuer- wüssten Sie es. Es ist das Deutsche Institut für Wirt- erhöhung um 3 Prozentpunkte die Ausgaben entspre- schaft. chend steigen, dann ist die Grenze zum Grotesken weit überschritten. Hätten Sie die im Haushalt verfolgten Wo SPD draufsteht, ist eines jedenfalls nicht mehr Ziele durch Sparanstrengungen erreicht, dann wäre Ih- drin, und das ist soziale Gerechtigkeit, meine Damen nen der Respekt in unserem Land und – davon bin ich und Herren. überzeugt – auch des gesamten Hauses sicher gewesen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7275

Dr. Volker Wissing (A) (Zuruf von der FDP: Das Geld anderer Leute konjunkturellen Aufschwungs, den wir in den letzten (C) ausgeben, das können die!) Monaten erlebt haben – es ist wirklich nur ein kleines Pflänzchen –, nicht zertreten wird. Wenn Sie etwas für Aber den Menschen das Geld wegzunehmen und sich Arbeitsplätze in diesem Land tun wollen, dann stimmen dann dafür zu loben, dass die Kreditaufnahme niedriger Sie unserem Antrag zu, die Mehrwertsteuererhöhung ausfällt, ist ein starkes Stück. rückgängig zu machen! Die Menschen in unserem Land (Beifall bei der FDP) werden es Ihnen danken. Dann können wir die Chance, die sich durch die Belebung der weltweiten Konjunktur Aber wie der Bundesfinanzminister so schön festgestellt zum Teil auch in Deutschland bietet, in großem Maße hat: Man kann sich auch totsparen. Das Finanzministe- nutzen. Die FDP steht in diesem Sinne an Ihrer Seite. rium ist ja auf der Regierungsbank im Augenblick nicht vertreten. (Detlef Dzembritzki [SPD]: Bitte helfen Sie uns nicht! Es ist allein schon schwierig ge- (Martin Zeil [FDP]: Die schämen sich so! Die nug!) sind gar nicht gekommen!) – Sie mit Ihren klugen Zwischenrufen! Ich gehe davon Ich sehe aber auch sonst niemanden, der kurz davor aus, dass sich die SPD weigern wird, das zu tun, wofür wäre, sich totzusparen. Wenn Sie endlich erkennen wür- Sie gewählt worden sind. Sie haben den Menschen ge- den, dass Sparen für den Staat keine Bedrohung dar- sagt, Sie seien gegen die Mehrwertsteuererhöhung. stellt, sondern dass Einsparungen – das heißt, nicht mehr Ausgaben, sondern weniger – eine Chance für unser (Beifall bei der FDP) Land sind, dann würden Sie vielleicht statt von Totspa- Sie werden sich heute aller Voraussicht nach weigern, ren von Gesundsparen sprechen und endlich damit an- das zu tun, wofür Sie gewählt wurden. Aber wundern Sie fangen. sich nicht, wenn sich die Menschen in Deutschland dann (Beifall bei der FDP) beim nächsten Mal weigern, Sie zu wählen. Die FDP hat die Mehrwertsteuererhöhung von An- (Beifall bei der FDP) fang an abgelehnt und wir fordern Sie heute auf, diese Maßnahme auszusetzen. Sie schadet der Konjunktur und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gefährdet Betriebe und Arbeitsplätze in Deutschland. Nun hat das Wort der Kollege Otto Bernhardt für die Genau das haben auch Sie vor den Wahlen verkündet. Fraktion der CDU/CSU. Jetzt wollen Sie aber nicht mehr daran erinnert werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Ich bin im Übrigen schon gespannt, was Sie den Men- (D) schen vor der nächsten Bundestagswahl erzählen wer- den. Otto Bernhardt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wis- (Gabriele Frechen [SPD]: Das sage ich Ihnen sen, dass die Finanzpolitik der großen Koalition dann, wenn es soweit ist!) (Zuruf von der FDP: Schlecht ist!) Fest steht nur, dass Sie sich nach der nächsten Wahl frei fühlen werden, das krasse Gegenteil zu tun. zwei Ziele gleichzeitig anstrebt: erstens die Stärkung der Wachstumskräfte der Wirtschaft und zweitens die nach- (Zuruf von der FDP: Sie werden gar nicht haltige Sanierung der öffentlichen Finanzen. Wenn man mehr antreten können!) zwei Ziele gleichzeitig anstrebt, weil beide sehr wichtig Geld mag vielleicht glücklich machen oder nicht, aber sind, dann kann man leider nicht maximieren, sondern wenn der Finanzminister unter dem beklemmenden Ge- nur optimieren. fühl leidet, zu wenig zu haben, Mit einem Drittel der Einnahmen aus der geplanten (Dirk Niebel [FDP]: Er wird schon ganz krank Mehrwertsteuererhöhung leisten wir einen Beitrag zur sein, sonst wäre er hier!) Stärkung der Beschäftigung; denn 7 Milliarden Euro – das entspricht etwa den Einnahmen aus einem Mehr- dann sollte er ernsthaft sparen, sparen und nochmals spa- wertsteuerpunkt – sind für uns ein durchlaufender Pos- ren, bevor er sich am Geld der Bürgerinnen und Bürger ten. Diesen Betrag nehmen wir den Mehrwertsteuerzah- bedient. lern und geben ihn den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Hier wird netto gegen netto ausgetauscht. (Beifall bei der FDP) Konjunkturpolitisch können Sie diese 7 Milliarden ver- Wir wissen genauso gut wie Sie, dass bei Steuermehr- nachlässigen. Aber mit diesem Betrag leisten wir wie ge- einnahmen in Höhe von 19,4 Milliarden Euro in diesem sagt einen Beitrag zur Stärkung der Beschäftigung. Jahr und 20,1 Milliarden Euro im nächsten Jahr die Das ist eines unserer Ziele. Mehrwertsteuererhöhung nicht notwendig ist. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Die 14 Milliarden Euro aus dem Aufkommen der bei- Sie können auf diese Erhöhung verzichten, ohne sich tot- den anderen Mehrwertsteuerpunkte sind hälftig für die zusparen. Sie können vor allen Dingen unserem Land ei- Sanierung der Finanzen der Bundesländer und des Bun- nes ersparen, nämlich dass das kleine Pflänzchen des deshaushalts bestimmt. Dies wird dazu führen, dass die 7276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Otto Bernhardt (A) öffentliche Hand im nächsten Jahr 14 Milliarden Euro ist eine sehr positive Meldung, dass Sachsen offensicht- (C) weniger Schulden aufnehmen muss. Das bedeutet selbst lich im nächsten Jahr genauso weit sein wird. bei günstigen Zinssätzen langfristig eine Ersparnis in Höhe von 500 Millionen Euro im Jahr. Wir machen also (Beifall bei der CDU/CSU) endlich mit dem Schuldenabbau ernst und handeln da- Wenn wir uns in Europa umschauen, dann stellen wir mit im Interesse zukünftiger Generationen. fest, dass inzwischen fünf EU-Länder dabei sind, Schul- den zurückzuzahlen; das sind die skandinavischen Län- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der und im nächsten Jahr offensichtlich Spanien. Das Nun gibt es die beiden berühmten Argumente, die Sie muss unser Ziel sein. heute wieder gegen eine Mehrwertsteuererhöhung vor- Ich höre immer wieder den Vorwurf, die Mehrwert- getragen haben. Diese werden durch Wiederholung nicht steuererhöhung sei nicht sozial verträglich. Ich sage Ih- glaubwürdiger. Das eine Argument lautet: Ihr könntet nen: Die Mehrwertsteuererhöhung ist auch sozial ver- doch mehr sparen. – Meine Damen und Herren, was hat träglich. Wer die Fakten kennt, der weiß, dass diese große Koalition nicht bereits alles an unpopulären wesentliche Positionen, zum Beispiel Nahrungsmittel, Entscheidungen zum Subventionsabbau durchgesetzt! unverändert mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz Ich erinnere nur an die Abschaffung der Eigenheimzu- von 7 Prozent belegt werden. lage und die Kürzung der Pendlerpauschale. Beim Spa- ren haben wir mehr gemacht als fast alle vorangegange- (Zuruf von der FDP: Bis auf Trüffel!) nen Regierungen, und das in sehr unpopulären Das zeigt, dass unsere Politik sozial ist. Bereichen. Das hat die große Koalition durchgestanden. Ein weiterer entscheidender Posten, die Mieten, wird (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gar nicht mit Mehrwertsteuer belegt. Von daher stelle ich neten der SPD) die These auf, dass zwei Drittel der Ausgaben der viel Wenn Sie 7 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einspa- zitierten Empfänger unterer Einkommen von der Mehr- ren wollen, dann müssen Sie an Positionen wie die wertsteuererhöhung überhaupt nicht tangiert werden. Rente, das Kindergeld oder die Infrastruktur herangehen. Wenn Sie sich einmal in Europa umsehen, dann wer- Ich sage sehr deutlich: Dazu sind wir nicht bereit. Mit den Sie feststellen, dass wir mit 19 Prozent noch in der uns, der großen Koalition, wird das mit Sicherheit nicht unteren Hälfte liegen. geschehen. (Zuruf von der FDP: Die haben aber ein ande- (Martin Zeil [FDP]: Sie kürzen lieber die res Steuersystem!) Rente!) (B) Es gibt einige, die weniger haben, aber die Mehrzahl der (D) Das zweite Argument gegen eine Mehrwertsteuerer- Länder innerhalb der EU hat eine höhere Mehrwert- höhung lautet: Die Steuereinnahmen sprudeln. Wir ma- steuer, sodass Sie auch unter diesem Gesichtspunkt nicht chen offenbar eine gute Politik und deshalb steigen die davon reden können, dass wir mit überzogenen Positio- Steuereinnahmen; darauf sind wir stolz. Aber wer die nen arbeiten. Zahlen kennt, der wird mir zustimmen, wenn ich sage: (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir stehen bei der Sanierung der Staatsfinanzen leider NEN]: Die haben aber viel niedrigere Sozial- noch ganz am Anfang. Wir werden den ohnehin viel zu abgaben!) hohen Schuldenberg trotz der sprudelnden Steuereinnah- men in diesem Jahr um 30 Milliarden Euro und trotz der Ich sage sehr deutlich: Wem die Sanierung der öffent- Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr um 20 Mil- lichen Haushalte ein ernstes Anliegen ist – der großen liarden Euro neue Schulden erhöhen. Das eigentliche Koalition ist es ein ernstes Anliegen; deshalb haben wir Ziel der Finanzpolitik muss aber sein – nur so darf man ja die vielen unpopulären Entscheidungen getroffen –, den Maastrichtvertrag und Art. 115 des Grundgesetzes interpretieren –, dass man in wirtschaftlich „normalen“ (Zuruf von der FDP: Der muss bei den Ausga- Jahren gar keine neuen Schulden macht, dass die Netto- ben sparen!) neuverschuldung in schlechten Jahren maximal 3 Pro- der kommt nicht um die Mehrwertsteuererhöhung he- zent beträgt und dass man in guten Jahren beginnt rum. – wenn man die momentane wirtschaftliche Entwick- lung sieht, dann kommt man zu dem Schluss, dass wir Interessant ist, dass die Einstellung von Wissenschaft, uns in wirtschaftlich guten Jahren befinden –, Schulden Wirtschaft und inzwischen auch von weiten Teilen der zurückzuzahlen. Wer vor diesem Hintergrund die spru- Bevölkerung zur Mehrwertsteuererhöhung eine andere delnden Steuereinnahmen als Argument gegen die ge- geworden ist. Es ist richtig, dass zu Beginn manches plante Mehrwertsteuererhöhung anführt, der ist entwe- wissenschaftliche Institut gesagt hat, es bestehe die Ge- der nicht bereit – das ist bei vielen so – oder nicht fahr, dass die Konjunktur erschlagen werde. Solche Mel- willens, die Zahlen zu verarbeiten. dungen gab es vor einem Jahr. Lesen Sie heute einmal nach! Das Ifo-Institut schreibt schon in der Überschrift: Auf dem Weg zur Sanierung der Staatsfinanzen sind Der Aufschwung ist inzwischen so robust, dass sich die zwei Bundesländer schon deutlich weiter als wir im Nachfrageseite von der Mehrwertsteuererhöhung nicht Bund. Ich kann den Bayern nur wieder Lob zollen. Sie mehr ablenken lässt. – Gott sei Dank! Das ist Ergebnis haben in diesem Jahr einen ausgeglichenen Haushalt. Es unserer Politik. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7277

Otto Bernhardt (A) Der Antrag der FDP ist nicht mehr aktuell. Sie müs- nicht. Nachdem nun nichts daraus geworden ist, drehen (C) sen sich andere Themen einfallen lassen. Das Thema Sie das Argument um. Nun sind es auf einmal fremde Mehrwertsteuererhöhung ist abgehakt. Völkerschaften, die unseren Lebensstandard bedrohen, weil sie billiger arbeiten. Wenn sich die Vorstellung, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mehr Lohn besonders für gering Qualifizierte sei wegen neten der SPD – Zuruf von der FDP: Der ist der Auslandskonkurrenz nicht möglich, endgültig im all- hoch aktuell!) gemeinen Bewusstsein eingefressen hat, dann werden Wir haben ganz andere Probleme. Ich bin froh, dass die erste Plakate mit der Losung „Das Ausland ist unser Un- Bevölkerung und insbesondere die wissenschaftlichen glück“ nicht auf sich warten lassen. Institute und die Wirtschaft erkannt haben, dass die Sa- Die höhere Mehrwertsteuer wird die wirtschaftliche nierung der Staatsfinanzen etwas ganz Wichtiges ist. Vor Lage der großen Mehrheit der Bevölkerung weiter ver- diesem Hintergrund – das wird Sie von der FDP nicht schlechtern. Der Wachstumsverlust wird je nach Schät- überraschen – werden wir natürlich Ihren Antrag ableh- zung 0,7 bis 1,0 Prozent betragen. Dieser Wachstums- nen. Wir freuen uns, dass die Zustimmung zur Mehr- verlust als Folge der Mehrwertsteuererhöhung wird so wertsteuererhöhung immer größer wird. Sie sollten sich lange anhalten, wie aus Gründen der Konsolidierung des aktuellere Themen einfallen lassen. Haushalts die projektierten Staatsausgaben langsamer Danke. ansteigen als das geschätzte Wirtschaftswachstum. Be- kanntlich sollen die Ausgaben des Bundes laut Finanz- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) planung bis 2010 im Durchschnitt nominal um rund 1,3 Prozent jährlich wachsen, das Bruttoinlandsprodukt Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dagegen um durchschnittlich 2,5 Prozent. Für diesen Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Her- ganzen Zeitraum also entzieht die hohe Mehrwertsteuer bert Schui das Wort. anhaltend dem privaten Sektor Kaufkraft, ohne dass der Staat entsprechend mehr ausgeben würde. (Beifall bei der LINKEN) Gibt es eine Alternative für die Konsolidierung? Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Ohne Zweifel ja. Die Gewinn- und Vermögenseinkom- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der men, die hohen Vermögen und Erbschaften müssen Zweck der höheren Mehrwertsteuer soll sein, zu ausge- wieder stärker besteuert werden. Damit es sich einprägt: glichenen Haushalten zu kommen. Gegen eine Haus- Allein die Steuerbelastung der Gewinn- und Vermögens- haltskonsolidierung ist an sich ja gar nichts einzuwen- einkommen ist seit 1960 – Westdeutschland – von (B) den, nur das Mittel taugt nichts. 20 Prozent auf jetzt – Gesamtdeutschland – 6 Prozent (D) gesunken. (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der Linken: Hört! Hört!) Die Defizite und die zu niedrigen Steuereinnahmen sind im Wesentlichen eine Folge der anhaltenden Sen- Würde sich die Koalition entschließen können, diesen kung der Besteuerung von Gewinn- und Vermögens- Steuersatz auch nur etwas anzuheben, dann gäbe es ge- einkommen. Als grober Anhaltspunkt kann gelten: Im nug Staatseinnahmen, um die Kreditaufnahme zu min- Jahre 1960 hat die Steuerbelastung dieser Einkommen in dern. Westdeutschland 20 Prozent betragen. Bis 1980 ist diese (Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Wissing auf 15 Prozent abgefallen. Im darauf folgenden Jahr- [FDP]: Und noch mehr Arbeitslose, Herr Kol- zehnt, bis zur deutschen Vereinigung, ist sie auf rund lege!) 8 Prozent gesunken, und gegenwärtig haben wir gerade einmal 6 Prozent. – Darauf kommen wir gleich. – Im Jahr 2005 beträgt das Unternehmens- und Vermögenseinkommen vor Steuern Wie Sie wissen, hat sich das Wachstum des Brutto- 555 Milliarden Euro, 2002 waren es 452 Milliarden inlandprodukts in derselben Periode verringert. An die- Euro; in kurzer Zeit eine Steigerung um 100 Milliarden sem Trend ändert auch das gegenwärtige Wachstum von Euro. Jeder Prozentpunkt mehr Steuern auf dieses Ein- 2,4 Prozent nichts. Die Investitionskonjunktur wird im kommen bringt 5,5 Milliarden Euro. Das ist das Alpha- kommenden Jahr abflachen; ebenfalls wird sich das bet, nach dem soziale Gerechtigkeit und Steuergerech- Wachstum der Exporte verlangsamen. Wen wollen Sie tigkeit buchstabiert wird. vor diesem Hintergrund noch davon überzeugen, dass weniger Gewinnsteuern zu mehr Wachstum und zu mehr (Beifall bei der LINKEN) Beschäftigung führen? Glauben Sie denn wirklich, dass Unternehmen mas- Reden Sie sich nicht mit der Globalisierung heraus, senhaft aus Deutschland flüchten, wenn das Unterneh- die wie eine biblische Plage über uns gekommen sei. mens- und Vermögenseinkommen um zusätzliche 4 Pro- Vielmehr ist diese Form der Globalisierung das Ergebnis zentpunkte – das wären 22 Milliarden Euro – besteuert von Politik. würde? Beachten Sie das Beispiel Schweden, das gerne auch von Ihnen zitiert wird. Dort beträgt die Staatsquote (Beifall bei der LINKEN) 57,1 Prozent, in Deutschland dagegen sind es 45,7 Pro- Gerechtfertigt haben Sie diese Politik mit dem Ver- zent. Die schwedische Wirtschaft wächst heuer um real sprechen von mehr Wohlstand. Den aber haben wir 4 Prozent, die deutsche um 2,4 Prozent. Im Globalisie- 7278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Herbert Schui (A) rungsindex, den „Foreign Policy“ in seiner Dezember- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Wissing (C) ausgabe erneut ausgewiesen hat, belegt Schweden den [FDP]: Wie Sie mit niedrigeren Einnahmen Rang 19, Deutschland dagegen nur den Rang 41. Schwe- den Staatshaushalt ausgleichen wollen, Herr den ist also international viel mehr eingebunden als Kollege, weiß ich nicht!) Deutschland. Sein höheres Wachstum und seine niedri- gere Arbeitslosigkeit stammen nicht von niedrigeren Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Löhnen und Gewinnsteuern und nicht von einer geringe- Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Lydia We- ren Staatsquote. Wenn aber Schweden noch auf der strich, SPD-Fraktion. Landkarte ist und trotz seiner hohen Einbindung in die Globalisierung ökonomisch die besseren Erfolge hat, (Beifall bei der SPD) warum sollen wir in Deutschland nicht dasselbe wagen? (Beifall bei der LINKEN) Lydia Westrich (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wandern die Unternehmen einfach ab, wenn sie wie- Obwohl Sie von der FDP die derzeitige Wirtschaftslage der höhere Steuern zahlen müssen? Finanzminister in Ihrem Antrag so positiv geschildert haben, Herr Wis- Steinbrück behauptet das in einem „Spiegel“-Interview. sing, und mit Ihrem Eingeständnis natürlich auch die Po- Ich will mich gerne auf Ihre Überlegungen einlassen. litik unserer Koalition loben, Die höhere Mehrwertsteuer kostet ein Wachstum von 0,7 bis 1 Prozent. Welcher Wachstumsverlust wäre denn (Dr. Volker Wissing [FDP]: Nein, überhaupt tatsächlich durch Abwanderung von Unternehmen nicht!) eingetreten, wenn Ihr theoretischer Ansatz überhaupt dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Herr Bern- richtig wäre? Mehr oder weniger als bei einer höheren hardt hat das schon ausgeführt. Die Finanzpolitik in un- Mehrwertsteuer? Haben Sie das je durchgerechnet, be- serem Land steht immer noch vor den größten Heraus- vor Sie darangegangen sind, die Mehrwertsteuer zu er- forderungen der letzten Jahrzehnte. höhen? (Frank Schäffler [FDP]: Das stimmt! Weil Sie (Lydia Westrich [SPD]: Ja, klar! – Zuruf von ein Jahr nichts gemacht haben!) der FDP: Natürlich nicht!) Wir als Volksvertreter müssen angesichts des sich Selbst wenn der Verlust an Wachstum und Arbeitsplät- vollziehenden demografischen Wandels die Leistungs- zen genauso groß wäre – wenigstens wäre das verfüg- fähigkeit des Staates und der Volkswirtschaft sichern. bare Realeinkommen der Lohnbezieher nicht um die Be- Das ist unsere Pflicht. Immer mehr alte Menschen wer- lastung durch die Mehrwertsteuer gesenkt worden. (B) den immer weniger jungen Menschen gegenüberstehen. (D) Dies ist umso fataler, als beispielsweise die Einkom- Das bedeutet, dass wir gemeinsam – das ist eine viel men der Arbeitnehmerhaushalte von 1991 bis 2005 real spannendere Aufgabe, als einen solchen Antrag zu um 10 Prozent gesunken sind. Müssen eigentlich immer schreiben – entscheiden müssen, wie und in welchem die Arbeitnehmer zahlen, wenn die Staatshaushalte kon- Umfang wir uns staatliche Tätigkeit in Zukunft noch solidiert werden? leisten können und wollen. Das ist eine ganz wichtige Frage für unser Volk. (Beifall bei der LINKEN) Das Ziel der damaligen rot-grünen Bundesregierung Oder haben Sie sich schon einmal durch den Kopf gehen wie auch der jetzigen großen Koalition ist es, auch für lassen, dass das vielleicht auch die Aufgabe von die künftigen Generationen einigermaßen Wohlstand Gewinn- und Vermögenseinkommensbeziehern sein und einen finanziell leistungsfähigen Staat zu sichern, müsste? (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (Beifall bei der LINKEN) Abg. Georg Fahrenschon [CDU/CSU]) Es bleibt nur ein vernünftiger Weg: Die Mehrwert- der auch ihren Kindern und ihren Enkeln gute Lebens- steuererhöhung ist zurückzunehmen. In diesem Punkt grundlagen bescheren wird. hat die FDP Recht. Allerdings darf der Arbeitsmarkt nicht weiter dereguliert und der Unternehmeranteil an der Finanzierung der sozialen Sicherheit nicht weiter ab- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gesenkt werden. Dieser Vorschlag der FDP ist abzuleh- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des nen. Kollegen Dr. Wissing? – Bitte.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dr. Volker Wissing (FDP): Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen. Frau Kollegin Westrich, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Sie das Ziel, das diese Regierung mit der Mehrwertsteuererhöhung verfolgt hat, nämlich etwa Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): 19,4 Milliarden Euro mehr einzunehmen, durch den Ja, ich bin sofort so weit. – Stattdessen sind die Unter- konjunkturellen Aufschwung bereits ohne Mehrwert- nehmens- und Vermögenseinkommen wieder höher zu steuererhöhung erreicht haben und damit die Mehrwert- besteuern, um den Staatshaushalt auszugleichen. steuererhöhung nach Ihrer eigenen Logik überflüssig ist? Vielen Dank. Sind Sie ebenfalls bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7279

Dr. Volker Wissing (A) ich in meinen Ausführungen vorhin gesagt habe, dass Das Wirtschaftswachstum ist robust. Wir werden die (C) die leichte konjunkturelle Belebung in Deutschland Maastrichtkriterien einhalten. Das haben Sie nicht ge- Folge eines weltweiten konjunkturellen Aufschwungs schafft. ist? Sind Sie weiter bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Deutschland von diesem weltweiten konjunkturellen Herr Kollege Wissing, auch Sie sind schon länger Aufschwung unterdurchschnittlich profitiert und es in- Mitglied des Finanzausschusses. Ich weiß nicht mehr ge- folgedessen nicht logisch ist, die Belebung den Erfolgen nau, wie oft wir im Finanzausschuss über die Einhal- und der Arbeit der Bundesregierung zuzuschreiben? tung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes diskutiert haben. Es ist die vornehme Aufgabe der Opposition, den (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, nein, nein! – Finger in die Wunde zu legen, wenn sie der Meinung ist, Lachen bei der CDU/CSU) es laufe irgendetwas falsch. Aber angesichts der vielen Diskussionen, die wir geführt haben, könnte man von Ih- Lydia Westrich (SPD): nen ein bisschen mehr Stringenz mit Blick auf die zu- künftige Politik erwarten. Das ist ganz einfach: Unsere Reformen haben mit dazu beigetragen, dass die Wirtschaft in Deutschland (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto zurzeit so floriert Bernhardt [CDU/CSU] – Frank Schäffler [FDP]: Was hat das mit der Mehrwertsteuer- (Frank Schäffler [FDP]: Drittschlechteste erhöhung zu tun?) in Europa!) Entweder ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt ein und dass die Zuversicht überall wächst. Ich denke, dass wichtiges Instrument für die kontinuierliche Weiterent- unsere Arbeit die richtigen Grundlagen dafür schaffen wicklung unseres Landes, für eine harte Währung und wird, dass wir in Deutschland an der prosperierenden für eine prosperierende Wirtschaft – dann müssen wir al- Wirtschaft in Europa und der Welt teilhaben können. – les dafür tun, die Einhaltung der in ihm festgelegten Be- Jetzt habe ich Ihre letzte Frage vergessen; wahrschein- dingungen nachhaltig zu sichern, wie wir das jetzt mit lich waren es zu viele. der Erhöhung der Mehrwertsteuer tun – oder wir hängen (Dr. Volker Wissing [FDP]: Ich glaube, Sie wie Sie in Ihrem Antrag unser Fähnchen nach dem hatten die anderen auch vergessen!) Wind, egal von welcher Seite er auch weht. – Herr Kollege, wenn Sie mir weiter zuhören, werden (Dr. Volker Wissing [FDP]: Und das sagt die Sie das, was Sie wissen wollen, noch erfahren. Sie müs- SPD!) sen nur jeden Tag die Zeitung aufschlagen, um etwas (B) ganz anderes zu lesen als das, was Sie hier dargestellt Was ich von dem Verantwortungsbewusstsein solcher (D) haben. Wahrscheinlich sind die Verfasser dieser Zei- Politiker halte, brauche ich wirklich nicht auszuführen. tungsartikel mindestens genauso schlau, wie die FDP Ihr Antrag ist – das hat Herr Bernhardt schon gesagt – meint, beim Schreiben ihres Antrags gewesen zu sein. vollkommen unnötig; er geht von falschen Prämissen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aus. Hätten Sie schon im Mai die Prognosen des Ifo-In- der CDU/CSU) stituts und die Aussagen der EU-Kommission aufmerk- sam gelesen, dann hätten Sie sich nicht eine solche Sie haben in Ihrem Antrag die Frage nicht beantwor- Mühe mit diesem Antrag machen müssen. Denn die EU- tet, wie Sie die Lebensgrundlagen für unsere Kinder und Kommission hat schon im Mai gesagt, dass diese Steuer- Enkel sichern wollen. erhöhung dazu beitragen wird, dass Deutschland den Stabilitäts- und Wachstumspakt einhalten kann, ohne die (Frank Schäffler [FDP]: Weniger Steuern!) Konjunktur abzuwürgen. Um diese Lebensgrundlagen zu sichern, haben wir in Der Generaldirektor für Wirtschaft und Währung, den letzten Jahren eine Reihe von Reformen eingeleitet Klaus Regling, hat das damit begründet, dass die Haus- und durchgeführt, die jetzt ihre Wirkung zeigen. An haltskonsolidierung – entgegen Ihren Aussagen – aus- diese Reformen, die Sie in Ihrem Antrag beschrieben ha- schließlich auf sinkende Staatsausgaben zurückginge, ben, haben Sie sich in Ihrer langen Regierungszeit nicht während die Staatseinnahmen – die Mehrwertsteuererhö- ansatzweise herangetraut. Das muss man einmal ganz hung schon eingerechnet – praktisch konstant blieben. deutlich sagen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eck- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ardt) Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Das Ergebnis unserer Reformen ist: Die Bundesagen- Kollegen Ulrich zulassen? tur für Arbeit zahlt Geld zurück, anstatt abzukassieren. Die Kommunen können wieder durchatmen. Für uns So- Lydia Westrich (SPD): zialdemokraten – für die FDP vielleicht weniger – ist Ja. ganz wichtig, dass die Zahl der sozialversicherungs- pflichtigen Beschäftigungsverhältnisse steigt. Die Steu- erquote wird selbst mit der Mehrwertsteuererhöhung un- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ter dem Durchschnitt der europäischen Staaten liegen. Bitte schön. 7280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Alexander Ulrich (DIE LINKE): Außerdem führt sie – das ist eine alte Forderung von Ih- (C) Liebe Kollegin Westrich, entweder ich oder Sie sind nen – zu einer Verlagerung von direkten zu indirekten im falschen Film. Denn Sie sagen heute das Gegenteil Steuern und zu einer Senkung der Lohnnebenkosten. von dem, was Sie noch vor 14 Monaten gesagt haben. Das, was die EU-Kommission als Tatsache beschrie- (Frank Schäffler [FDP]: So ist es!) ben hat, nämlich die Senkung der Staatsausgaben durch den Abbau von Subventionen und durch hohe Sparsam- Ich möchte Sie daher fragen: Nehmen Sie zur Kennt- keit sowie die Senkung der Lohnnebenkosten zur Entlas- nis, dass Sie noch im Wahlkampf gegen die Merkel- tung der Arbeitsplätze, waren immer auch Ihre Forde- Steuer zu Felde gezogen sind? Nehmen Sie zur Kenntnis, rungen. Das alles haben wir während der rot-grünen dass Sie persönlich damals genau die Gründe angeführt Regierungszeit und in der großen Koalition geleistet, al- haben, die heute die Opposition anbringt? Nehmen Sie lerdings ohne Ihre Mithilfe, da Sie sich jeder – wirklich zur Kenntnis, dass wir zwar Exportweltmeister sind, dass jeder – schwierigen Reform verweigert haben. Sie kom- aber unsere Wirtschaft aufgrund der schwachen Binnen- men mir so vor, als hinkten Sie der Zeit hinterher. Sie nachfrage Probleme hat? Glauben Sie nicht auch, dass fordern Reformen, die teilweise schon erledigt sind oder die Mehrwertsteuererhöhung kontraproduktiv ist? gegen die Sie – das ist schon jetzt absehbar – kämpfen Glauben Sie nicht auch, dass Sie ein bisschen Wahlbe- werden, statt sie mitzutragen. Was sollen wir uns aber trug machen, wenn Sie jetzt sagen, dass die Mehrwert- darüber aufregen, da Sie sowieso nicht unser Partner steuererhöhung richtig ist? sein werden! (Dr. [DIE LINKE]: „Ein Ich will, dass dieser Staat handlungsfähig bleibt, da- bisschen“ ist gut!) mit wir die zukünftigen Risiken auffangen können. Wenn wir jetzt auch mit der Mehrwertsteuererhöhung dafür sorgen, dass der Schuldenberg, den Sie während Lydia Westrich (SPD): Ihrer Regierungszeit mit angehäuft haben, endlich Stück Herr Kollege Ulrich, obwohl wir benachbarte Wahl- für Stück abgebaut wird, dann gewinnen wir Vertrauen kreise haben, haben wir keinen gemeinsamen Wahl- zurück. Wir bieten dem Staat eine gute Basis für die Zu- kampf gemacht. Für keinen von uns ist also erkennbar, kunft. was der jeweils andere im Wahlkampf gemacht hat. (Frank Schäffler [FDP]: Zu der SPD kann man Ich gebe zu, dass ich mich im Wahlkampf gegen die gar kein Vertrauen mehr haben! Das Vertrauen Erhöhung der Mehrwertsteuer eingesetzt habe. Ich ist zerstört!) bin aber der Meinung, dass die Stabilität unserer Finan- Die Bürger wollen einen starken Staat, der jetzt und in (B) (D) zen Vorrang haben muss und dass die Mehrwertsteuerer- Zukunft den Anspruch hat, gleichmäßige Lebensbedin- höhung keineswegs bedeutet, dass es eine Delle bei der gungen für seine Einwohner zu schaffen und zu sichern. Konjunktur geben wird. Vielmehr besagen alle Progno- Das ist eine Aufgabe, der sich die große Koalition voll sen, dass unsere Konjunktur auch im nächsten Jahr gut stellt. Ihr Vertrauen, dass das der freie Markt allein durch laufen wird und dass es eine Steigerung bei den Löhnen noch tiefer greifende Deregulierung besser schafft, wird gibt. Damit wird die Mehrwertsteuererhöhung, zumal von den Bürgern kaum geteilt, zumal unsere Manager der ermäßigte Steuersatz auf Lebensmittel erhalten zurzeit nicht gerade durch ihre Vorbildfunktion glänzen. bleibt, erträglich sein. (Frank Schäffler [FDP]: Ihr Vorsitzender aber (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Für auch nicht!) die Renter? Für die Familien?) Wir, die große Koalition, haben gerade heute wieder – Ja, dies gilt auch für Rentner und Familien. eine der für die Zukunft notwendigen Reformen auf den Weg gebracht. Auch die Unternehmensteuerreform ist Wichtig ist – das muss auch die Linke lernen –, dass auf einem sehr guten Weg. Das heißt, Sie fordern und man irgendwann einmal damit beginnt, Schulden, die wir tun es bzw. haben es schon lange getan. Sie machen man in Zeiten aufgehäuft hat, in denen dies notwendig es sich sehr leicht und betrachten bei Ihrer jetzigen Art, war, zurückzuzahlen. Die EU-Kommission hat ausge- Politik zu machen, nur den Tag. rechnet, dass wir die Staatsausgaben zurückgeführt ha- ben und dass die Staatseinnahmen im europäischen Ver- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Und Sie machen gleich auf einem niedrigen Niveau bleiben werden. Die heute etwas anderes, als Sie gestern verspro- Steuer- und Abgabenquote sei in den letzten fünf Jahren, chen haben!) das heißt während der rot-grünen Regierung und der gro- Das gilt auch für die Linke. ßen Koalition, bezogen auf das BIP, um 3,5 Prozent ge- sunken und werde 2007 trotz Mehrwertsteuererhöhung Die große Koalition kann die 1 500 Milliarden Euro nicht höher sein, während die Ausgabenquote weiterhin Schulden nicht verdrängen, an deren Anhäufung Sie in sinken werde. Vor diesem Hintergrund – so sagt die EU- außerordentlichem Maße mitgewirkt haben. Den Glau- Kommission – sei die Mehrwertsteuererhöhung ökono- ben, dass sich Schulden in Luft auflösen, teilen wohl nur misch vertretbar. weltfremde Illusionisten. Das sind Sie, denke ich, nicht. Ich frage Sie, wann Sie den Zeitpunkt für gekommen (Frank Schäffler [FDP]: Da sind auch zu we- halten, die Konsolidierung der Staatsfinanzen endlich nige Liberale drin!) in Angriff zu nehmen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7281

Lydia Westrich (A) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Haben Sie im dass dann, wenn wir die Mehrwertsteuererhöhung zu- (C) Wahlkampf das Flugblatt gegen die Mehrwert- rücknehmen, im Gegenzug die Löhne gekürzt werden steuererhöhung eigentlich auch verteilt?) könnten. Oder haben Sie Angst, dass die Arbeitnehme- rinnen und Arbeitnehmer – In einem ungebrochenen Aufwärtstrend, in einer robus- ten Konjunkturlage oder dann, wenn die nächsten Risi- ken auf uns zu kommen und wir Schuldenaufbau statt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Schuldenabbau betreiben müssen? Sie müssten doch Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Ende. wissen, wie es Ihnen ergangen ist. Daraus schließe ich – ich wiederhole es –, dass Ihr In- Lydia Westrich (SPD): teresse an den Zukunftschancen unserer Kinder traurig – auch einen Anteil an der guten Konjunkturentwick- unterentwickelt ist. lung haben wollen? Ich finde, Ihr Antrag ist total veraltet und ist sehr merkwürdig. Das müssten Sie jeden Tag se- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hen, wenn Sie die Zeitungen aufschlagen und die sich der CDU/CSU) überschlagenden Prognosen lesen. Ich weiß, dass Sie eigene Sparvorschläge unterbreitet (Frank Schäffler [FDP]: Niedrigstes Wirt- haben. schaftswachstum in Europa!) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Die Sie alle abge- Ziehen Sie diesen Antrag lieber zurück, – lehnt haben!) Die Vorschläge der Damen und Herren von der Linken Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hinsichtlich anderer Steuererhöhungen haben wir jetzt Frau Westrich! wieder gehört. Sie machen sich erfolglose Illusionen, was Sie damit alles finanzieren können. Sie müssten Lydia Westrich (SPD): vielleicht einfach einmal mit Ihrem Finanzbeamten da- rüber sprechen, wie das im Endeffekt ausgeht. –, damit Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz in den Augen der Öffentlichkeit nicht weiter leidet. Aber wenn Sie von der FDP glauben, dass der sofor- tige Wegfall der Steinkohlesubvention die Zukunft der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Kinder in den betroffenen Regionen nachhaltig verbes- sern wird, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Frank Schäffler [FDP]: Das ist besser als der Jetzt hat das Wort Christine Scheel für Bündnis 90/ (B) (D) Restbergbau!) Die Grünen.

dann sind Sie wirklich auf dem Holzweg. Dazu kommt Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): noch: Ein verschuldeter Staat – weil Sie es uns nicht er- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lauben, Schulden abzubauen – kann bei der Umstruktu- Herr Dr. Wissing, ich kann es Ihnen nicht ersparen: rierung nicht helfen. Die Forderung nach Wegfall der Wenn Sie ehrlich und nicht so scheinheilig wären, wie Steinkohlesubvention ist einfach ein Mantra, das Sie das in Ihrem Redebeitrag wieder zum Ausdruck kam, ständig vortragen, das Sie aber meiner Ansicht nach ei- müssten Sie zugeben, dass die Länder – darauf hat Herr gentlich kaum ernsthaft meinen. Bernhardt zu Recht hingewiesen – von dieser Mehrwert- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber das hilft, um steuererhöhung mit 7 Milliarden Euro profitieren, dass Schulden abzubauen!) die Regierungen, an denen die FDP beteiligt ist, bereits im Frühjahr dieses Jahres die Einnahmen aus dieser Ich verstehe nicht, wie Sie in Ihrem Antrag behaupten Mehrwertsteuererhöhung in ihren Haushaltsberatungen können, dass Sie mit dem Verzicht auf die Mehrwert- berücksichtigt und im Bundesrat zugestimmt haben. steuererhöhung zu einer Lösung der Lohnkostenproble- matik beitragen können. Arbeit gibt es in Deutschland ja (Frank Schäffler [FDP]: Diese Situation ken- sicher genug. Die Menschen wollen aber, unbescheiden nen Sie ja nicht mehr! – Gegenruf der Abg. wie sie sind, von ihrer Arbeit leben können. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist leider wahr! Wir sind nicht mehr an (Frank Schäffler [FDP]: Bei einer höheren Mehr- den Regierungen beteiligt!) wertsteuer wird das aber schwieriger!) Sie können diese Forderung nach Verzicht auf die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Mehrwertsteuererhöhung von Ihrer Homepage nehmen. Frau Westrich, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Denn das Jahr ist ja fast vorbei. Wenn man das realistisch betrachtet, glaube ich, dass Lydia Westrich (SPD): die Bürgerinnen und Bürger weder daran glauben noch Ja. – Lohnkosten sind die Summe aller Löhne, die Ar- es erwarten, dass die große Koalition diese Mehrwert- beitgeber an Arbeitnehmer zahlen. Was bedeutet das steuererhöhung zurücknimmt oder kurzfristig aufgibt. Wort „Problematik“ im Zusammenhang mit Lohnkos- Die Bürger verhalten sich in dieser Beziehung sehr re- ten? Die Löhne haben sich die Arbeitnehmer doch ver- alistisch. Sie ziehen Anschaffungen teilweise einfach dient. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie meinen, vor; wir sehen, dass das Weihnachtsgeschäft brummt. 7282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Christine Scheel (A) Die Konjunktur läuft. Es ist richtig, dass man im – ich sage das bewusst an dieser Stelle –, weil in den ver- (C) Frühjahr mit Blick auf diese Mehrwertsteuererhöhung gangenen Jahren, noch unter Mitwirkung der Grünen, größere Befürchtungen vonseiten der Wirtschaftsver- Reformen gemacht worden sind, die jetzt zum Tragen bände und der Institute gehabt hat, dass man aber jetzt kommen. Sie tragen dazu bei, dass unsere konjunkturelle sagt, dass die Mehrwertsteuererhöhung keinen erheb- Entwicklung besser ist. Die Konjunktur brummt, weil lichen Konjunktureinbruch bewirken wird. Es werde sich die Lohnstückkosten im Vergleich zum Ausland zwar eine Delle geben; danach setze aber eine Versteti- günstig entwickelt haben. Die Terms of Trade haben sich gung ein. letztendlich zugunsten von Deutschland entwickelt. Vielleicht hat die PDS die aktuellen Berichte noch nicht Dennoch ist es natürlich so – da gebe ich Ihnen wie- gesehen. Bei der Argumentation der PDS bekommt man der Recht –, dass die Mehrwertsteuererhöhung für die manchmal das Gefühl, sie hätte noch immer die Berichte Bezieher kleinerer Einkommen und viele Konsumenten von vor zehn Jahren im Kopf. ein Problem darstellt. Denn die Leute haben ja ab dem nächsten Jahr nicht nur die Mehrwertsteuererhöhung mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3 Prozentpunkten zu tragen; vielmehr steigt auch die sowie bei Abgeordneten der FDP) Versicherungsteuer – sie ist damit gekoppelt – um Wir sehen die Notwendigkeit für weitere Struktur- 3 Prozentpunkte. Dazu kommt, dass bis zum reformen in den sozialen Sicherungssystemen. Wir ha- 20. Kilometer die Pendlerpauschale entfällt, der Sparer- ben jetzt zwar einen Konjunkturaufschwung. Wenn man freibetrag halbiert wird und das Benzin wohl teurer wird, vonseiten des Staates jetzt aber nicht vernünftige Rah- weil der durch die Mehrwertsteuererhöhung und andere menbedingungen setzt, besteht die Gefahr, dass es sehr steuerliche Veränderungen erhöhte Mineralölsteueranteil leicht wieder zu einem Abschwung kommt. In diesem zu einer Anhebung von ungefähr 5 Cent führt. Dies wird Zusammenhang sehen wir deswegen die Notwendigkeit, das Problem des Tanktourismus, das wir beispielsweise vernünftige Reformen durchzuführen. in Bayern sehr stark haben, verschärfen. Diese Probleme darf man nicht unter den Tisch kehren; vielmehr muss (Dr. Volker Wissing [FDP]: Es geht doch jetzt man sie benennen. um die Mehrwertsteuer!) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Die Altlasten von Diese Reform ist aber nicht vernünftig. Sie ist ein Rot-Grün, die die Bürger noch zu tragen ha- Torso und wird Chaos verursachen. Die Pflegeversiche- ben, dürfen Sie nicht vergessen!) rungsreform ist nicht in Sicht und die Arbeitsmarkt- reform ist strittig. Die Umstellung auf eine stärkere Steu- Es ist schade – das muss ich wirklich sagen –, dass erfinanzierung ist in den Bereichen, wo sie dringend die große Koalition, wenn sie schon eine Mehrwertsteu- notwendig wäre, in weiter Ferne. (B) ererhöhung macht, die Chance nicht genutzt hat, die (D) Sozialversicherungsbeiträge nachhaltig unter 40 Pro- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zent zu senken. Frau Kollegin Scheel, der Kollege Schui würde gerne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine Zwischenfrage stellen.

Wir haben Vorschläge dazu unterbreitet. Es ist schade, Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass Sie das nicht gemacht haben; denn das hätte die Be- Bitte schön. schäftigungschancen arbeitsloser Menschen in diesem Land um einiges verbessert. Wir hätten es richtig gefun- den, wenn man strukturell zielgenauer vorgegangen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wäre. Bitte.

Die Kollegin Thea Dückert hat in diesem Zusammen- Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): hang das so genannte Progressivmodell entwickelt. Man Sind Sie bereit, die folgende, sehr aktuelle Informa- hätte dieses Modell mit der Erhöhung finanzieren kön- tion zur Kenntnis zu nehmen: Um die drohende Infla- nen. Gerade für Menschen mit einem Einkommen bis tionsgefahr zu bändigen, steigert die US-Zentralbank 2 000 Euro hätte man die Sozialversicherungsbeiträge den Zins. Der Zweck ist, das Wachstum etwas zu dros- auf hervorragende Art und Weise senken und damit seln, damit man den Inflationsgefahren entgeht. Das gleichzeitig für die Arbeitgeber Anreize setzen können, wird zur Folge haben, dass das Volumen der deutschen insbesondere im unteren Lohnbereich mehr Menschen Exporte absinkt, weil die Konjunkturlokomotive USA einzustellen. ebenfalls ihre Fahrt verlangsamen wird. Sind Sie bereit, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das zu würdigen und daraus den Schluss zu ziehen, dass uns eine Verbesserung der Terms of Trade zugunsten von Das wäre der richtige Weg gewesen. Sie sind ihn leider Deutschland nicht weiterhelfen wird, wenn das Wachs- nicht gegangen. Vielleicht kommt in diesem Jahr ja noch tum unserer Handelspartner nachlässt? etwas Positives, was in diese Richtung zielt. Die Konjunktur brummt Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin bereit, das zu würdigen. Sie haben mich nach (Frank Schäffler [FDP]: Wenn das schon der Weltmarktsituation gefragt und Vergleiche mit dem brummen ist!) Dollar angestellt. Dazu will ich sagen: Die Bedeutung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7283

Christine Scheel (A) des Dollars für unseren Wirtschaftsraum ist bei weitem Politik kann Rahmenbedingungen setzen. Sie kann auch (C) nicht mehr so groß, wie es beispielsweise vor zehn oder vieles andere tun. Aber generell ist es so, dass Sie sich 20 Jahren der Fall war, weil sich unsere Wirtschaftsbe- Themen zu Eigen machen, die Sie gar nicht unbedingt ziehungen zu anderen Ländern verändert haben. Die da- auf der politischen Ebene zu lösen haben, sondern die an mit verbundenen Risiken wirken sich auf uns, was den anderer Stelle gelöst werden müssen. Über sie wird an Handel anbelangt, bei weitem nicht mehr so stark aus, anderer Stelle diskutiert und dort werden sie angegan- wie es vor vielen Jahren der Fall war. gen. Da Sie so schön stehen, gebe ich Ihnen noch eine an- Letztendlich kann man sagen, dass wir Grüne sehr dere Antwort. Sie haben vorhin die konjunkturelle Situa- gute Vorschläge gemacht haben zur Haushaltskonsoli- tion in Schweden angesprochen. dierung, zum Abbau der Neuverschuldung und zu Ein- (Ute Kumpf [SPD]: Das hat er gar nicht ge- sparungen im Haushalt. Hier sitzt Frau Hajduk, die die fragt! Sie nutzt einfach die Zeit!) große Koalition mit 350 Anträgen im Haushaltsaus- schuss malträtiert – das ist positiv gemeint – und Vor- Dazu möchte ich Ihnen klar sagen: In Schweden finan- schläge gemacht hat. Wir haben zu den sozialen Siche- zieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das rungssystemen Vorschläge gemacht. hohe Steueraufkommen. Die Kapitaleinkünfte werden aufgrund der Tatsache, dass Kapital sehr flüchtig ist, was (Dr. Volker Wissing [FDP]: Stimmen Sie dem die Schweden zu Recht erkannt haben, mit einer sehr ge- Antrag zu?) ringen Abgeltungsteuer bedacht. Wir hätten auf die Mehrwertsteuererhöhung verzichten Ich finde, man kann nicht immer bei bestimmten Län- können. Aber wenn man sie schon macht, dann sollte dern das herausziehen, was einem gefällt, und alles an- man die Mittel sinnvoll verwenden und nicht so, dass sie dere, was dort vonstatten geht, nicht zur Kenntnis neh- versacken. men. (Frank Schäffler [FDP]: Was machen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grünen?) sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir befürchten, dass das der Fall sein wird. Sie müssen, wenn Sie schon einen Vergleich mit dem skandinavischen Raum anstellen, auch die andere Seite Danke schön. der Medaille sehen und nicht immer nur das, was Ihnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) passt.

(B) (Dr. Herbert Schui [DIE LINKE]: Was ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D) jetzt sagen will, kann ich leider nicht in einer Georg Fahrenschon hat als nächster das Wort für die Frage formulieren!) CDU/CSU-Fraktion. – Ja, das kann ich mir vorstellen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Ich wollte noch einmal kurz auf das Stimmenchaos in Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten der großen Koalition eingehen. Wir sehen: Wenn es um Damen und Herren! Lieber Kollege Wissing, Sie erleben Steuererhöhungen geht, ist sich die große Koalition sehr gerade das Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn man schnell einig. Wenn es darum geht, strukturelle Verände- in der letzten Sitzungswoche vor Weihnachten noch rungen vorzunehmen, kommen Sie nur millimeterweise schnell einen Schaufensterantrag stellt. Im Ergebnis voran, wenn Sie nicht sogar ein Stück zurückfallen. springt Ihnen nur noch Die Linke bei, allerdings garniert mit der für Sie mit Sicherheit zielführenden Forderung Wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung an- zur Erhöhung der Erbschaftsteuer und zur Wiedereinfüh- sieht, erkennt man, dass sie nicht wegen, sondern trotz rung der Vermögensteuer. Ich gratuliere Ihnen zu diesem der großen Koalition so gut ist. strategischen Zug. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Das muss man in diesem Kontext deutlich sagen. Trotz Man kann sich die Mühe machen, nach besonderen Ihrer verkorksten Politik haben Sie der Wirtschaft zum Kronzeugen zu suchen. Ich habe einen gefunden. Ich bin Glück nicht geschadet. Diese Perspektive sollte man zur stolz darauf, das Konzept eines ehemaligen Mitbürgers Kenntnis nehmen. meines Wahlkreises, des Landkreises München, anzu- führen; er ist aktiver Politiker. Er schreibt, dass sich die Ich finde, dass die Diskussion, die über die Beteili- Haushalte von Bund und Ländern in einem desolaten gung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen Zustand befinden: am Produktivkapital geführt wird, bei den Tarifpar- teien anzusiedeln ist. Die Haushalte sind zu konsolidieren und die Schul- denberge abzubauen. (Frank Schäffler [FDP]: Bei den Unternehmen!) Er schreibt weiter: 7284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Georg Fahrenschon (A) Um diese Ziele zu erreichen, kann unter folgenden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C) restriktiven Bedingungen eine Mehrwertsteuererhö- [CDU/CSU]: Hört! Hört! – hung herangezogen werden: … Frank Schäffler [FDP]: Da haben Sie aber lange gesucht!) Ich fasse die Bedingungen wie folgt zusammen: Ers- tens muss es eine Unternehmensteuerreform geben. Der Kollege Lindner hat in seinem Papier mit dem Ti- Zweitens muss es Subventionskürzungen und Sparmaß- tel „Steuerpolitische Vorschläge der FDP-Fraktion im nahmen geben. Drittens müssen Steuerbegünstigungen Abgeordnetenhaus“ vom 16. Juni 2005, wahrscheinlich reduziert werden. vor allem in Kenntnis der dramatischen Lage des Berli- ner Haushalts, das Problem wie folgt auf den Punkt ge- All diese Punkte hat die große Koalition abgearbei- bracht: tet. Die Eckpunkte einer Unternehmensteuerreform, die auf die Bedürfnisse eines internationalen Wettbewerbs Um langfristig die Staatsfinanzen nachhaltig zu der Steuersysteme eingehen, liegen vor und werden bis konsolidieren, kommen wir trotz aller Sparanstren- Mitte 2007 in ein Gesetz gegossen. gungen und Subventionskürzungen (Frank Schäffler [FDP]: Warten wir ab!) (Frank Schäffler [FDP]: Soll das etwa heißen, dort wird jetzt die Landesbank verkauft?) Wir haben konsequent den Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen betrieben, sowohl im Bun- nicht um eine Mehrwertsteuererhöhung herum. deshaushalt 2006 als auch im Bundeshaushalt 2007. Be- Diese Tatsache scheint Ihnen, meine Damen und Herren reits zum 1. Januar 2006 trat das Gesetz zur Abschaffung der FDP-Bundestagsfraktion, allerdings nicht bewusst der Eigenheimzulage in Kraft. Ebenfalls zum 1. Januar zu sein. Daran, dass nur noch drei aufrechte Liberale an- 2006 trat darüber hinaus das Gesetz zur Beschränkung wesend sind, der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuer- stundungsmodellen in Kraft. (Frank Schäffler [FDP]: Ja! Aber wir sind die guten!) Außerdem trat zum 1. Januar 2006 das Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm in Kraft, wird deutlich, wie intensiv Sie diesen Antrag in Wahr- mit dem eine ganze Reihe weiterer Ausnahmetatbe- heit verfolgen. stände abgeschafft wurde. Dies umfasst die Beseitigung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der Möglichkeit, Mietwohnungen degressiv abzuschrei- ben für Neufälle, die Streichung der Steuerfreiheit für Sie bleiben unter Ihren Möglichkeiten, wenn Sie eine Diskussion, die wir erst in der letzten Sitzungswoche im (B) Heirats- und Geburtshilfen, die Abschaffung der begrenz- (D) ten Steuerbefreiung für Abfindungen sowie für Über- Rahmen der Beratungen des Haushalts 2007 sehr aus- gangsgelder und Übergangsbeihilfen und die Abschaffung führlich geführt haben, jetzt aufwärmen. Gulasch wird des Sonderausgabenabzugs von Steuerberatungskosten. beim Aufwärmen besser, eine Debatte, die wir bereits Im Übrigen wird ebenfalls mit Wirkung für das Jahr 2006 sehr intensiv durchgekaut haben, aber mit Sicherheit im Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuerge- nicht. staltungen darauf abgezielt, dass Gestaltungsmissbrauch (Frank Schäffler [FDP]: Schönes Bild!) und der nicht gerechtfertigten Ausnutzung von Gesetzes- lücken im Steuerrecht entgegengewirkt wird. Übrigens geben mittlerweile, nach angemessener Ver- dauungszeit, auch die meisten Wirtschaftsforschungsin- Schlussendlich wurden im Rahmen des Steuerände- stitute zuversichtlichere Prognosen ab. rungsgesetzes 2007 eine Reihe von Abzugspositionen und weiterer Sonderregelungen mit Wirkung ab dem Heute Vormittag um 10 Uhr – diese Meldung ist also 1. Januar 2007 eingeschränkt. sehr aktuell – hat das Kieler Institut für Weltwirtschaft seine Wachstumsprognose für das kommende Jahr um (Frank Schäffler [FDP]: Ja! Zum Beispiel Re- mehr als das Doppelte nach oben korrigiert: Statt gelungen für verbindliche Auskünfte!) 1 Prozent Wachstum erwartet das IfW für das Jahr 2007 Dabei handelt es sich um eine ganze Reihe von Maßnah- einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 2,1 Pro- men, durch die wir direkte Steuersubventionen und an- zent. Zugegebenermaßen ist die Kieler Prognose damit derweitige steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten abge- am optimistischsten. Andere Institute sind zurückhalten- schafft haben. der. Allerdings sagt uns der Sachverständigenrat bzw. sa- gen uns die fünf Wirtschaftsweisen ein Wachstum in Letztlich kommen wir, um die öffentlichen Haushalte Höhe von 1,8 Prozent voraus zu sanieren und den Schuldenberg abzubauen, allerdings (Frank Schäffler [FDP]: Ja! Das bedeutet Platz nicht an einer Mehrwertsteuererhöhung vorbei, die wir drei in Europa!) jedoch mit einer gleichzeitigen Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung um mehr als 2 Prozentpunkte und das Ifo-Institut prognostiziert – übrigens auch am verbinden. All das ist also ganz im Sinne des soeben von heutigen Tag – immerhin ein Wachstum von 1,9 Prozent. mir zitierten, in Grünwald, also im Landkreis München, Im Übrigen sind sich alle Konjunkturexperten in einem geborenen Mitglieds des Berliner Abgeordnetenhauses, Punkt einig: Der Wirtschaftsaufschwung ist robust und Dr. Martin Lindner, seines Zeichens Vorsitzender der beständig und er wird im kommenden Jahr trotz der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Mehrwertsteuererhöhung nicht zum Stillstand kommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7285

Georg Fahrenschon (A) (Frank Schäffler [FDP]: Aber er ist nicht von wendigen Umbaus der sozialen Sicherungssysteme (C) uns verursacht!) gibt, brauchen wir eine höhere Mehrwertsteuer. Das können Sie nicht vom Tisch wischen. Dem ist nichts hinzuzufügen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ihr Antrag ist daher nicht nur fantasielos, sondern er geht schlicht und einfach an der Realität vorbei. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zum Abschluss der Debatte gebe ich das Wort der Im Interesse der Sache sollte man sich aber auch da- Kollegin Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion. mit auseinander setzen, was die Damen und Herren von der FDP-Fraktion unternehmen würden, Gabriele Frechen (SPD): (Frank Schäffler [FDP]: Gespart!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn: Herr Dr. Wissing, seien Sie so nett wenn sie selbst Verantwortung hätten. Dazu sagen Sie und richten dem Herrn Kollegen Niebel aus, der diese zweierlei: Erstens würden Sie ein neues Steuersystem Debatte wohl auch nicht für so interessant hält, dass seit auf den Weg bringen, das sich durch niedrige Steuersätze dem Ende Ihrer Rede mit Frau Barbara Hendricks eine auszeichnet und einfach und gerecht ist. Staatssekretärin aus dem Finanzministerium selbst- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sehr gut!) verständlich anwesend ist. Zweitens sagen Sie, Sie würden sparen. (Frank Schäffler [FDP]: Niebel war wenigs- tens bei Herrn Wissing da!) (Frank Schäffler [FDP]: Das habe ich doch – Er war bei der Rede von Herrn Dr. Wissing anwesend, gleich gesagt!) aber dann nicht mehr. Ich wollte Sie nur bitten, das aus- Niedrige Steuersätze schlagen Sie zwar vor, zurichten. (Frank Schäffler [FDP]: Ja! Das hat doch die Union vor der Wahl auch gesagt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wis- zur Gegenfinanzierung äußern Sie sich aber nicht. Auf sing zulassen? den ersten Blick erscheint Ihr Vorschlag, das Steuersys- tem zu vereinfachen, spannend. Das ist bei unserem Gabriele Frechen (SPD): Steuersystem allerdings keine große Schwierigkeit. Ihr Von Herrn Dr. Wissing immer gerne. Sagt er mir jetzt, (B) Steuerkonzept ist schlicht und einfach weder gerechter wo sich der Herr Kollege Niebel aufhält? Das möchte (D) noch realistischer. ich gar nicht wissen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Volker Wissing [FDP]: Wir waren immer Dr. Volker Wissing (FDP): konkreter als die Union! Wer hat denn den Frau Kollegin, Sie haben gerade betont, dass die Bierdeckel vorgeschlagen?) Staatssekretärin des Finanzministeriums seit dem Ende Erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern bitte ein- der Eröffnungsrede der Opposition an der Debatte teil- mal, wie, wenn man Ihr Steuerkonzept umsetzen würde, nimmt. Sind Sie mit mir der Auffassung, dass es, gerade die Entlastung in Höhe von 15 bis 19 Milliarden Euro in Zeiten einer großen Koalition, sinnvoll wäre, dass gegenfinanziert werden soll. Ich kann nur festhalten: Im schon zu Beginn der Debatte Regierungsvertreter da Rahmen des „Liberalen Sparbuchs“, das Sie heute schon sind, um die Meinung der Opposition zur Kenntnis zu gar nicht mehr dabei haben, haben Sie Einspar- und Um- nehmen? schichtungsvorschläge von rund 8,3 Milliarden Euro ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der macht. Das bedeutet, dass Sie die Hälfte der Gegenfinan- CDU/CSU) zierung nicht aufbringen. Daher besteht nicht die Möglichkeit, Ihre Steuerpolitik umzusetzen. Gabriele Frechen (SPD): Abschließend möchte ich gerne noch einmal den Kol- Herr Dr. Wissing, ich denke, dass sich die Frau legen Lindner aus dem Berliner Abgeordnetenhaus zitie- Staatssekretärin sicherlich in voller Absicht, dieser De- ren. batte beizuwohnen, aus dem Finanzministerium hierher begeben hat, völlig unerheblich, ob hier Sie sprechen (Frank Schäffler [FDP]: Ich kann für Sie gerne oder ob hier die Kollegin Scheel von den Grünen oder einmal einen Gesprächstermin arrangieren!) der Herr Kollege Schui von der Linken spricht. Da gibt Er sagte: es keine Wertung, Herr Dr. Wissing. Frau Dr. Hendricks ist da und das sollten Sie bitte Herrn Niebel ausrichten. Wenn es nach den drei Bedingungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der – Sie erinnern sich: Unternehmensteuerreform, Subven- CDU/CSU – Frank Schäffler [FDP]: Wir tionskürzungen und Abbau von Steuervergünstigungen – freuen uns auch!) höheren Finanzbedarf wegen der enormen Haus- Zu Ihrem Antrag fällt mir ein Zitat von Wilhelm haltsnotlage bei Bund und Ländern sowie des not- Busch ein: 7286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Gabriele Frechen (A) Wofür sie besonders schwärmt, Ihrem Gusto reformieren wollen. Was das heißt, kann (C) Wenn er wieder aufgewärmt. man in Ihrem Wahlprogramm nachlesen. Dort steht: Wir wollen, dass jeder sich gegen sein eigenes Risiko der Ar- Die Witwe Bolte meinte damit den Sauerkohl – was ich beitslosigkeit versichert und entsprechend passgenaue nachvollziehen kann –, Sie meinen damit die Mehrwert- Beiträge zahlt. Dazu gehört auch die eigenverantwortli- steuererhöhung. In so ziemlich jeder Debatte, die hier che Einschätzung, ob man eine Zeit lang mit einer bei- geführt wird, bringen Sie dieses Thema unter, heute so- tragsmindernden – ich wiederhole: beitragsmindernden – gar mit einem eigenen Antrag. Das erinnert mich auch Karenzzeit ohne Leistung auskommen kann. ein bisschen an Cato den Älteren, der jede Rede im Se- nat beendete mit: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Das bedeutet doch wohl: Wer genug Geld auf der ho- Karthago zerstört werden muss. – So ungefähr machen hen Kante hat, muss weniger Beitrag bezahlen, wer sich Sie das mit der Mehrwertsteuererhöhung. Hier befinden dagegen eine Zeit ohne Einkommen nicht leisten kann, Sie sich in guter Gesellschaft mit Ihren – und unseren – also zum Beispiel ein allein verdienender Facharbeiter Kollegen von der Linken, über deren Antrag wir vor kur- mit Kindern, muss höhere Beiträge bezahlen. zem in diesem Haus beraten haben. Unabhängig davon, (Frank Schäffler [FDP]: Aber 19 Prozent Mehr- wer von wem abschreibt, bleibt es purer Populismus. wertsteuer können wohl alle bezahlen!) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Haben Sie eigent- Also: Diejenigen mit weniger Geld müssen mehr bezah- lich auch Flugblätter gegen die Mehrwertsteu- len, damit diejenigen mit mehr Geld weniger bezahlen ererhöhung verteilt?) müssen. Man muss sich schon sehr konzentrieren, um – Sie werden es gleich hören, Herr Dr. Wissing. Ein biss- das richtig auszusprechen. Wenn man darüber nach- chen Geduld oder eine Zwischenfrage, so viel Fairness denkt, wird es ganz absurd. muss sein: wegen meiner Redezeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich nehme das Thema sehr ernst. Ich weiß, dass die der CDU/CSU – Dr. Volker Wissing [FDP]: Menschen unsicher sind, dass überall Kassandras und Das, was Sie sagen, ist absurd!) Unken alles tun, damit diese Verunsicherung bleibt. Bei Ihnen heißt Reform: Wenn jeder an sich denkt, ist an (Frank Schäffler [FDP]: Haben Sie Flugblätter alle gedacht. Das lassen wir so nicht stehen. verteilt?) Im Haushalt des Landes NRW, dem ja immerhin rund Es stimmt – darüber können, dürfen und sollen wir uns 20 Prozent von einem Mehrwertsteuerpunkt zustehen, freuen –: Die Konjunktur brummt, Deutschland gilt wie- wurde die Einnahme wie selbstverständlich verfrüh- der als Wachstumsmotor, und die Steuereinnahmen spru- stückt. Falls es jemand verdrängt haben sollte: Dort ist (B) (D) deln. Aber reicht das? Während die einen glauben, auf die FDP mit am Ruder. Trotz der Mehreinnahmen wur- die Mehrwertsteuererhöhung verzichten zu können, und den Zuschüsse in fast allen sozialen Bereichen extrem der Vermögensteuer neues Leben einhauchen wollen, gekürzt oder gänzlich gestrichen. Allein in meiner Ge- versuchen es die anderen auf dem Rücken der Arbeit- meinde waren dies rund 50 000 Euro bei der Kindergar- nehmerinnen und Arbeitnehmer. tenfinanzierung. (Frank Schäffler [FDP]: Wer erhöht denn die (Ute Kumpf [SPD]: Überall!) Mehrwertsteuer?) Ich muss schon sagen, das ist die komfortabelste Situa- Eine Wiedereinführung der Vermögensteuer ist ein un- tion überhaupt: Aus Populismus im Bundesrat dagegen realistischer Wunsch; das wissen Sie selber. Sie können sein, das Geld natürlich einsacken und am Ende auch das zwei, drei Mal fordern und bekommen vielleicht noch die Kommunen und die Eltern schröpfen. Dieses auch Applaus dafür. Doch Sie werden sich beim dritten Verhalten ist nicht schlüssig. Mal eingestehen müssen, dass es wieder gescheitert ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dann mag auch der Letzte merken, dass es sich bei die- der CDU/CSU) sem durchsichtigen Manöver um Populismus handelt. Dr. Hermann Otto Solms hat in seiner Haushaltsrede Die FDP fordert in ihrem Antrag, stattdessen den Ar- gesagt: beitsmarkt zu deregulieren und beschäftigungsfeindliche Regelungen abzubauen. Das hört sich gar nicht so wild Denn die Steuereinnahmen, die aufgrund der kon- an, so verklausuliert, wie das geschrieben ist. Aber man junkturellen Entwicklungen in diesem Jahr stärker muss dahintersehen: Sie wollen einen Abbau des Kündi- sprudeln, kompensieren das erwartete Mehrauf- gungsschutzes, eine Einschränkung der Tarifautonomie, kommen bereits. die Versteuerung von Sonn-, Feiertags- und Nachtzu- Bei aller Wertschätzung für den Herrn Kollegen schlägen und eine Aufkündigung der Flächentarifver- Dr. Solms: Das nenne ich Politik von der Hand in den träge. Herr Westerwelle bezeichnet ja gerne die Gewerk- Mund. Wir haben ein strukturelles Defizit von rund schafter als die wahre Plage Deutschlands. Das heißt, Sie 40 Milliarden Euro und Sie meinen, wir könnten das mit wollen im Sog Ihres Antrags Ihr eigentliches Anliegen 8 Milliarden Euro durch sprudelnde Mehreinnahmen än- umsetzen, nämlich die Rechte der Arbeitnehmer zu dern? Was ist das für eine schwache Rechnung? schleifen. Sie haben dazu kein Wort gesagt. Ich ver- schweige diese beiden Punkte in Ihrem Antrag nicht. Ihr Die Mehreinnahmen aus der Erhöhung gehen zu glei- dritter Punkt bedeutet, dass Sie die Sozialsysteme nach chen Teilen an den Bund, an die Länder und an die Ar- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7287

Gabriele Frechen (A) beitslosenversicherung, deren Beitrag 2007 insgesamt in eine niedrigere Neuverschuldung gesteckt. Auch das (C) um 2,3 Prozentpunkte gesenkt wird. Die Belastung halte ich für lauter. durch die Mehrwertsteuererhöhung liegt bei rund 0,8 Prozent. Somit wird trotz einer Erhöhung der ande- (Frank Schäffler [FDP]: Das ist aber ein Unter- ren Beiträge eine weitgehende Entlastung der Arbeit- schied! Den Unterschied kennen Sie doch?) nehmerhaushalte stattfinden; da kann mir niemand et- – Aber selbstverständlich. was anderes sagen. Keine Entlastung – auch das weiß ich – erhalten Rentnerhaushalte, Studenten und Men- Ich möchte mit einer Beurteilung der Schweizer Kon- schen, die Arbeit suchen. Das ist mir wohl bewusst. junkturexperten von BAK Basel Economics schließen. Aber alle profitieren mittelfristig von höheren Ausgaben In der „NZZ Online“ steht dazu: „Schweizer Wirtschaft in Bildung und von mehr Arbeitsplätzen. soll nächstes Jahr um 2,1 Prozent wachsen“. Jetzt wer- den Sie fragen, warum ich ausgerechnet die Schweizer Ich verschweige auch nicht, dass es zu einer Konjunk- heranziehe. Ich sage es Ihnen. Es heißt nämlich weiter: turdelle kommen kann. Aber die führenden Wirtschafts- institute, die sich im Frühjahr noch eher skeptisch ge- Den grösseren Optimismus für 2007 erklärt BAK zeigt haben, sagen voraus, dass es eben nicht zu einem mit höheren Wachstumserwartungen für die deut- Konjunktureinbruch kommen wird. sche Wirtschaft, dem wichtigsten Schweizer Han- delspartner. Die Konjunkturindikatoren seien dort Auch ich habe mich mit dieser Erhöhung schwer ge- tan. Aber wir haben zuvor ein Konjunkturprogramm – also hier bei uns – mit Entlastungen und Impulsen in Höhe von 25 Milliar- „unerwartet gut“, und die Zeichen für einen „selbst den Euro bis 2009 verabschiedet, das Wirkung auch auf tragenden Aufschwung“ verdichteten sich. dem Arbeitsmarkt zeigt. Wer zu diesem auf Vorschuss, auf Pump finanzierten Programm Ja gesagt hat, der musste auch zur Mehrwertsteuererhöhung Ja sagen. Al- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: les andere wäre feige und unehrlich gewesen. Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin. (Frank Schäffler [FDP]: Was war vor der Wahl?) Gabriele Frechen (SPD): Wir sollten uns dem Schweizer Optimismus anschlie- Dieses Programm umfasst: Investitionen in For- ßen; denn Wirtschaft hat ja bekanntlich auch etwas mit schung und Entwicklung; verbesserte Abschreibungsbe- Zutrauen und mit Gefühl zu tun. (B) dingungen; ein Programm zur energetischen Gebäude- (D) sanierung, was bisher zu Investitionen in Höhe von Vielen Dank. 20 Milliarden Euro geführt hat; die Fortsetzung der Zah- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lung der Investitionszulage in den neuen Bundesländern; die Aufstockung der Verkehrsinvestitionen; die steuerli- che Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: von Kinderbetreuungskosten und von Kosten für die Ich schließe die Aussprache. Modernisierung der eigenen Wohnung. Durch die Ein- führung des Elterngeldes stehen den Familien Zwischen den Fraktionen ist vereinbart worden, die 3 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung. Betreuung Vorlage auf Drucksache 16/2520 an die in der Tagesord- von Kindern unter drei Jahren, 100-prozentige Bedarfs- nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Damit deckung bei Kindertageseinrichtungen, offene Ganztags- sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist die Über- schulen und staatliche finanziellen Hilfen sind der rich- weisung so beschlossen. tige Weg, sowohl Eltern als auch Kinder optimal zu Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: fördern. Ich denke, dieses Konzept ist schlüssig. Fami- lien, Handwerksbetriebe und Dienstleistungsunterneh- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- men bekommen mehr Geld in die Hand, um die zuneh- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes mende Binnennachfrage weiter zu stärken. zur Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umgebung von Flugplätzen Das Anziehen der Konjunktur bewirkt die Schaffung neuer Arbeitsplätze, was gleichzeitig zu weniger Ausga- – Drucksache 16/508 – ben aus den sozialen Sicherungssystemen und mehr Ein- aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- nahmen in die sozialen Sicherungssysteme führt. Es gibt schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- gute Chancen dafür, dass sich der eingeschlagene Kurs torsicherheit (16. Ausschuss) so positiv auswirkt, dass wir die Konjunkturbremse ver- kraften können. Das Mehr an Arbeitsplätzen kommt – Drucksache 16/3813 – dann den Menschen zugute, die heute keine Arbeit ha- ben. Ich denke, das muss unser vorrangiges Ziel sein. Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Petzold Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich wird ein Marko Mühlstein Teil auch in den Schuldenabbau bzw. – besser gesagt – Michael Kauch 7288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Eva Bulling-Schröter Wir haben den Gesetzentwurf unserer rot-grünen Vor- (C) Winfried Hermann gängerregierung in ganz wesentlichen Punkten verbes- sern können. Um dies zu erreichen, haben wir sowohl bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- mit Vertretern der Lärmschutzverbände als auch mit Ver- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung tretern der Luftverkehrswirtschaft diskutiert. Wir saßen – Drucksache 16/3814 – mit Vertretern der Länder, mit Sachverständigen und mit betroffenen Bürgerinnen und Bürger aus der ganzen Re- Berichterstattung: publik zusammen. Dabei sind die unterschiedlichsten Abgeordnete Steffen Kampeter Vorstellungen heftig aufeinander getroffen. (Essen) Dr. Claudia Winterstein Es war ein hartes Stück Arbeit, dies alles so unter ei- nen Hut zu bekommen, dass nicht der kleinste gemein- Anna Lührmann same Nenner, sondern ein belastbarer Interessenaus- gleich herausgekommen ist. Niemand weiß dies besser b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- als meine Kolleginnen und Kollegen Berichterstatter aus richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz allen Fraktionen, bei denen ich mich an dieser Stelle für und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) die hervorragende Zusammenarbeit ausdrücklich bedan- – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael ken möchte. Insbesondere möchte ich mich bei meinem Kauch, Horst Friedrich (Bayreuth), Birgit Kollegen Petzold recht herzlich bedanken. Homburger, weiterer Abgeordneter und der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Fraktion der FDP In vielen Punkten – naturgemäß nicht in allen – haben Das Fluglärmgesetz unverzüglich und sach- wir uns einigen können. Deshalb kann ich die Ableh- gerecht modernisieren nung der beiden Anträge von FDP und Bündnis 90/Die Grünen für meine Fraktion auch mit gutem Gewissen – zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried vertreten und um Ihrer aller Zustimmung zum vorliegen- Hermann, Peter Hettlich, Cornelia Behm, wei- den Gesetzentwurf werben. terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Auch wenn Weihnachten ist, können wir das leider Den Schutz der Anwohner vor Fluglärm nicht gewähren!) wirksam verbessern Ich meine, mit den intensiven Beratungen der letzten (B) – Drucksachen 16/263, 16/551, 16/3813 – Wochen sind wir der Bitte unseres Bundesumweltminis- (D) Berichterstattung: ters Sigmar Gabriel um Sorgfalt und Kompromissbereit- Abgeordnete Ulrich Petzold schaft, die er bei der Einbringung der Novelle vor beinahe Marko Mühlstein genau zehn Monaten hinsichtlich der Ausschussberatung Michael Kauch gestellt hat, vorbildlich nachgekommen. Eva Bulling-Schröter (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo ist er Winfried Hermann denn?) Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Ebenso vorbildlich war dabei die Unterstützung durch Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie je ein die Mitarbeiter des Bundesumweltministeriums. Mei- Entschließungsantrag der Fraktion der FDP, der Fraktion nen herzlichen Dank dafür. Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- nen vor. Es ist verabredet, hierzu eine Stunde zu debat- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so der CDU/CSU) beschlossen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, beim Lärm Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen – seiner Entstehung, seiner Wahrnehmung und seinen Marko Mühlstein, SPD-Fraktion, das Wort. Auswirkungen – haben wir es mit einer ausgesprochen komplexen Materie zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dennoch werden wir auf Schritt und Tritt damit kon- CDU/CSU) frontiert. Sind wir in einem Moment noch Erzeuger von Lärm, sind wir im nächsten Moment schon wieder selbst Marko Mühlstein (SPD): davon betroffen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf den Besuchertribünen! Ich Zweifellos ist in unserer modernen, auf Mobilität und freue mich, dass wir in dieser letzten Sitzungswoche vor wirtschaftliche Flexibilität existenziell angewiesenen Weihnachten die Beratung der Gesetzesnovelle zum Gesellschaft Lärm nicht immer und überall vermeidbar. Fluglärmschutz mit der zweiten und dritten Lesung end- Wenn wir davon ausgehen, dass Schall erst in dem Au- lich abschließen werden. genblick zu Lärm wird, wenn er unangenehm, störend und gesundheitsschädigend wirkt, dann haben wir es (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nicht mit einem physikalischen, sondern vielmehr mit ei- CDU/CSU) nem psychologisch-medizinischen Phänomen zu tun. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7289

Marko Mühlstein (A) Obwohl die Wahrnehmung von Lärm daher stark vom (Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (C) subjektiven Empfinden abhängt, ist dennoch objektiv nachgewiesen, dass Lärm krank macht. Darüber hinaus Wenn wir dabei berücksichtigen, dass die Senkung des lassen sich auch im psychischen, ökonomischen und so- Schallpegels um 10 dB(A) die subjektive Wahrnehmung zialen Bereich negative Auswirkungen belegen. des Lärms um die Hälfte reduziert, ist dies, denke ich, ein großer Schritt in die richtige Richtung. Was bedeutet das nun alles ganz konkret für den Flug- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lärm? Die dynamische Entwicklung des Flugverkehrs hat zu einer immens gestiegenen Anzahl der Flugbewe- Die neuen Grenzwerte gelten künftig für alle Ver- gungen geführt. Die Dauerschallpegel konnten bis heute kehrsflughäfen mit regelmäßigem Fluglinien- und Pau- nur konstant gehalten werden, weil die technischen Ver- schalreiseverkehr. Grundlage des Berechnungsverfah- besserungen an den Flugzeugen den Pegelanstieg im rens ist die so genannte Drei-Sigma-Regelung. Das Durchschnitt noch kompensierten. Die ermittelten Pe- bedeutet: Drei Sigma am Tag, drei Sigma in der Nacht. gelwerte geben allerdings keine Auskunft über die emp- fundenen Lärmbelastungen und erheblichen materiellen Ich habe vorhin von der subjektiven Schallwahrneh- Verluste infolge des Wertverlustes von Grundstücken. mung gesprochen. Die Aufgabe war, einen subjektiven Dies tun aber die vielen Eingaben, Petitionen und Pro- Eindruck, der nicht zuletzt von psychologischen Fakto- teste gegen Fluglärm, die uns regelmäßig erreichen. Die ren abhängt, mittels eines physikalischen Berechnungs- Berichte der von Fluglärm betroffenen Menschen und ei- verfahrens abzubilden. gene Erfahrungen machen deutlich, dass das Leben unter Wir haben uns die Diskussion um die Berechnungs- Fluglärm zu gravierenden Verschlechterungen der Le- grundlage wahrlich nicht einfach gemacht, hängt doch bensqualität führt. davon die Gesundheit vieler Menschen ab. Im Übrigen muss die Berechnungsgrundlage auch für Flughafenbe- Wie ich bereits vorhin angedeutet habe, bewegen wir treiber wirtschaftlich darstellbar sein. uns mit der Novellierung des Fluglärmschutzgesetzes in- nerhalb eines Spannungsfeldes unterschiedlicher Interes- Im Zusammenhang mit der Festsetzung der Grenz- sen. So sind wir uns selbstverständlich darüber im Kla- werte gilt es zu berücksichtigen, dass zwischen den ren, dass wir den wirtschaftlichen Aufschwung unseres neuen bzw. wesentlich baulich erweiterten zivilen sowie Landes unter anderem auch dem hervorragend aufge- militärischen Flugplätzen unterschieden wird. Dies ist stellten Luftverkehrsstandort Deutschland verdanken. dem bereits beschriebenen Unterschied in der Wahrneh- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Exportweltmeister mung von Schallereignissen unterschiedlichen Charak- wird man nicht zu Fuß. Von Flughäfen und deren Infra- ters geschuldet. Die Lärmsituation eines Militärflugha- (B) struktur hängen zudem viele tausend Arbeitsplätze direkt fens unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der (D) und indirekt ab. Ein wohlüberlegter Ausgleich zwischen eines zivilen Flughafens. So findet beispielsweise an ei- den Bedürfnissen lärmgeplagter Menschen auf der einen nem Militärflughafen in den lärmsensiblen Zeiten wie Seite und einer der dynamischsten Wachstumsbranchen morgens oder abends, in der Nacht und am Wochenende unseres Landes auf der anderen Seite ist eine große He- kein Flugverkehr statt. rausforderung. Deren Bewältigung ist nichtsdestotrotz Ich freue mich ganz besonders, dass es gelungen ist, unsere Pflicht. im Interesse der Anwohner eine wesentliche bauliche (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erweiterung eines Flugplatzes so zu definieren, dass der CDU/CSU) eine Erweiterung dann gegeben ist, wenn diese zur Erhö- hung des äquivalenten Dauerschallpegels an der Grenze Vor diesem Hintergrund lassen Sie mich, liebe Kolle- zur Tagschutzzone 1 oder des LAeq Nacht an der Grenze ginnen und Kollegen, darauf eingehen, was das Flug- der Nachtschutzzone um mindestens 2 dB(A) führt. lärmschutzgesetz denn nun künftig leisten wird, und vor Durch das Instrument der vorausschauenden Siedlungs- allem, wo die Verbesserungen gegenüber dem ursprüng- planung wird überdies von vornherein Konflikten vorge- lichen Gesetzentwurf, ganz zu schweigen von dem bis- beugt. In einem Lärmschutzbereich dürfen keine Kran- her noch gültigen Gesetz von 1972, liegen. kenhäuser, Altenheime, Erholungsheime und ähnliche Einrichtungen gebaut werden. In den Tagschutzzonen Grundsätzlich ermöglicht das neue Gesetz mehr pas- des Lärmschutzbereiches gilt das beispielsweise auch für siven Schallschutz für Anwohner durch eine Auswei- Schulen und Kindergärten. Ich denke, das ist besonders tung der Schutzzonen. Erstmals wird auch eine Nacht- wichtig. schutzzone eingeführt und damit dem Schutz des Schlafes besonders Rechnung getragen. Konkret heißt Die Bedenken, dass Einrichtungen wie Alten- und das: Mit der Neufassung des Fluglärmschutzgesetzes Pflegeheime in Lärmschutzbereichen künftig keine bau- werden künftig wesentlich mehr Menschen in der Umge- lichen Erweiterungen vornehmen dürfen und damit von bung der Flughäfen Ansprüche auf Schallschutz haben. der Schließung bedroht wären, sehe ich nicht, Herr Kauch. Denn im Bedarfsfall können Ausnahmen durch Definiert werden die beiden Tagschutzzonen 1 und 2 die zuständige Landesbehörde genehmigt werden. Ände- und die Nachtschutzzone durch die Lärmgrenzwerte. rungen ohne Kapazitätserweiterungen fallen zudem Erfreulicherweise ist uns die Absenkung der bisherigen nicht unter das Bauverbot. Des Weiteren werden An- Grenzwerte um 10 bis 15 dB(A) – ich wiederhole: 10 bis sprüche auf passiven Schallschutz für Wohngebäude in 15 dB(A) – gelungen. hochgradig fluglärmbelasteten Gebieten festgesetzt. 7290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Marko Mühlstein (A) Um Missverständnissen von vornherein vorzubeugen, den allermeisten Flughäfen wird sich zumindest kurz- (C) möchte ich nochmals ausdrücklich darauf hinweisen, fristig und im Bestandsfall nicht viel ändern, weil dieses dass im Fluglärmschutzgesetz Fragen zum aktiven Schutzniveau bereits erreicht wird. Es wird allerdings Lärmschutz nicht geregelt werden sollten. Standorte geben, an denen es tatsächlich zu erheblichen Verbesserungen kommt. Das erkennen wir ausdrücklich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie an; denn nun liegt der Entwurf eines Gesetzes zur Ver- des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/ besserung des Schutzes vor Fluglärm vor, das – das kann DIE GRÜNEN] – Lutz Heilmann [DIE man mit Fug und Recht sagen – einen Ausgleich zwi- LINKE]: Warum?) schen den Interessen der Anwohner auf der einen Seite und den Interessen der Nutzer und der Betreiber der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Flughäfen auf der anderen Seite schafft. Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. (Beifall bei der FDP – Marko Mühlstein Marko Mühlstein (SPD): [SPD]: Dann stimmen Sie doch zu!) Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Ver- Es ist ein ausgewogener Kompromiss zum Lärmschutz kehrslärm entsteht von selbst. Ruhe und damit der an zivilen Flughäfen. Auch wir haben uns – das sage ich Schutz lärmgeplagter Menschen müssen hingegen ge- an die Adresse der anderen Oppositionsfraktionen – an wollt und bewusst herbeigeführt werden. Ich habe den der einen oder anderen Stelle sicherlich mehr ge- Eindruck, dass wir unsere Handlungsfähigkeit in dieser wünscht. Aber im Ergebnis stellt das Gesetz eine deutli- Angelegenheit erfolgreich unter Beweis gestellt und bei che Verbesserung im Vergleich zur jetzigen Rechtslage dieser schwierigen Ausgangssituation ein belastbares dar. Deshalb stimmen wir – Sie hätten sich also Ihren Etappenziel erreicht haben. Zuruf sparen können – dem Gesetzentwurf in der Konse- quenz zu. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD) Marko Mühlstein (SPD): Neue niedrige Schutzzonengrenzwerte werden ein- Dennoch meine ich: Aktiven Lärmschutz auch im geführt. Insbesondere erhalten Anwohner neuer oder Flugbetrieb umzusetzen, bleibt eine wichtige Forderung, auszubauender Flughäfen – das ist interessant, auch mit der die Politik zukünftig gerecht werden muss. Blick auf die Rechtssicherheit – ein besseres Schutzni- veau. Für die Anwohner von Flughäfen mit Nachtbetrieb (B) Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (D) wird es eine Regelung geben, die sehr stark auf Einzeler- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) eignisse abstellt. Das sind in der Tat diejenigen, die für das Aufwachen in der Nacht verantwortlich sind. Auch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hier ist man im parlamentarischen Verfahren zu einem Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion. vernünftigen Kompromiss gekommen. Ich sage aus- drücklich: Wir, die Liberalen, haben immer ein klares (Beifall bei der FDP) Bauverbot – gerade für Wohnungen – in den Schutzzo- nen gefordert. Dieses Verbot war bislang sehr löchrig. Es Michael Kauch (FDP): gibt zwar noch immer ein paar Hintertüren. Aber das hat Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr sich im Vergleich zum bisherigen Fluglärmschutzgesetz lange – man könnte auch sagen: zu lange – haben die deutlich verbessert. Anwohnerinnen und Anwohner auf ein neues Fluglärm- gesetz gewartet. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD) (Ute Kumpf [SPD]: Sie haben 16 Jahre nichts gemacht!) Wir sind dafür, dass schutzwürdige Einrichtungen in diesen Zonen nicht gebaut werden. Nun komme ich Seit der ersten Ankündigung durch das BMU hat es auf den Fall zu sprechen, der hier schon angesprochen sechs Jahre gebraucht, um den Gesetzentwurf heute zur wurde. Um es gleich vorweg zu sagen: In meinem Wahl- Abstimmung im Deutschen Bundestag vorzulegen. Es kreis ist das Problem gelöst. Dort liegt eine Baugeneh- ist aber zu begrüßen, dass es endlich so weit ist. Denn migung bereits vor. Uns geht es darum, dass die Alten- das alte Gesetz verdiente den Titel „Fluglärmschutzge- heime, die vor der Entscheidung stehen, ausgebaut oder setz“ schon lange nicht mehr; die Anforderungen, die an geschlossen zu werden, aufgrund pflegerechtlicher Vo- den Lärmschutz gestellt wurden, gehen in der Regel raussetzungen, die der Gesetzgeber geschaffen hat, auch nicht mehr auf dieses Gesetz, sondern auf Betriebsge- nach dem In-Kraft-Treten des novellierten Fluglärm- nehmigungen und Richterrecht zurück. schutzgesetzes die Möglichkeit haben, ihren Bestand zu Insofern möchte ich vor den Erwartungen warnen, die sichern. Hier reicht es nicht aus, das in das Ermessen der auch durch die Rede von Herrn Mühlstein geweckt wer- Behörden zu legen. Vielmehr muss man an dieser Stelle den. Dass die Grenzwerte um 15 dB(A) gesenkt werden, ein Rechtsanspruch auf eine Baugenehmigung vorsehen. ist nach dem Gesetzentwurf theoretisch zwar richtig; Das haben wir im parlamentarischen Verfahren gefor- aber an den Flughäfen wird sich kaum etwas ändern. An dert. Das wurde von der Koalition aber leider abgelehnt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7291

Michael Kauch (A) Ich denke, an dieser Stelle ist das Gesetz noch nachbes- Im Jahre 1997 hat sich der Deutsche Bundestag in ei- (C) serungsbedürftig. ner Anhörung erstmalig mit der Novellierung des Flug- lärmgesetzes befasst. Lassen Sie mich deshalb mit Be- (Beifall bei der FDP) friedigung feststellen, dass sich diese Koalition erneut Das Gesetz muss noch in einem anderen Punkt ver- als handlungsfähig erwiesen hat und dass sie es gerade bessert werden, und zwar im Bereich der Militärflughä- nicht zu einem zehnten Jahrestag einer Anhörung hat fen. Ich finde, das hier gewählte Verfahren ist ausgespro- kommen lassen, ohne eine Gesetzesnovelle vorzulegen. chen ärgerlich. Sie von der Koalition setzen für zivile (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zu- Flughäfen bestimmte Grenzwerte an, weil von da an eine rufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesundheitsschädigung nicht auszuschließen ist. Aber Sie sind nicht bereit, die Anwohner von Militärflughä- – Wir waren nun einmal zwischendurch sieben Jahre fen, also dort, wo nicht die Bundesländer, die Kommu- lang leider nicht an der Regierung. nen oder Private zahlen müssen, sondern Sie selber, mit dem gleichen Schutz auszustatten. Vielmehr wollen Sie (Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesen Bürgern ein deutlich höheres Lärmniveau zumu- NEN: Aber 16 Jahre vorher!) ten, bevor Sie die Kosten für den Schallschutz erstatten. Wir haben einen Konsens zum Schutz vor Fluglärm Das finde ich ehrlich gesagt unanständig. nicht nur zwischen den Regierungsfraktionen und den (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Ministerien, sondern auch mit den Bundesländern und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der den kommunalen Spitzenverbänden hinbekommen, so- LINKEN) dass sich die Ministerpräsidenten, die sich noch vor we- nigen Wochen gegen den Gesetzentwurf ausgesprochen Hier kann man nicht argumentieren, die Lärmbilder an haben, heute mit Vehemenz für die Verabschiedung die- den Militärflughäfen seien anders. Das stimmt zwar. Ihre ses Gesetzentwurfes einsetzen. Zahl ist geringer. Dafür ist es aber lauter. Deshalb muss der Schutz aus meiner Sicht eher höher sein als niedri- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ger. Die Argumentation der Koalition ist daher völlig ab- Sie wissen, das war nicht von vornherein so. Noch in strus. der ersten Lesung musste ich davor warnen, dass das Ge- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ setz am Bundesrat scheitern könnte; denn leider fühlte DIE GRÜNEN) sich eine ganze Reihe von Landesregierungen bei der ur- sprünglichen Formulierung des Gesetzentwurfes mit ih- In dem von uns in den Bundestag eingebrachten Ent- ren Bedenken etwas außen vor gelassen. Nun könnte (B) schließungsantrag weisen wir darauf hin, an welchen man davon ausgehen, dass der Kompromiss dadurch er- (D) Stellen der vorliegende Gesetzentwurf nicht optimal ist zielt wurde, dass wir an dem eingebrachten Gesetzent- und wo wir noch einmal darüber nachdenken müssen, ob wurf Abstriche gemacht haben. Mitnichten, das Gegen- das, was hier entschieden wurde, richtig ist. teil ist der Fall. In jedem der neun Punkte des CDU/ Dennoch stimmen wir heute zu, denn wir müssen CSU-SPD-Antrages, der mit dem heutigen Tag Teil des endlich Rechtssicherheit für die Anwohner, für die Flug- Gesetzes wird, ist eine Ausweitung des Lärmschutzes häfen und für die Menschen, die den Flugverkehr nut- bzw. der Rechte der Lärmbetroffenen formuliert, wie ich zen, schaffen. Wir dürfen nicht weiterhin über Jahre eine im Rahmen der Berichterstattung Punkt für Punkt nach- unendliche Diskussion führen, sondern wir müssen zu gewiesen habe. Ich möchte jetzt nur kurz einige Bei- einer Entscheidung kommen, die zumindest für die An- spiele nennen. wohner an den Verkehrsflughäfen ein Fortschritt ist. Es wurde das Wesentlichkeitskriterium für den Vielen Dank. Ausbaufall am Rande der Nachtschutz- und Lärmschutz- zone 1 auf 2 Dezibel herabgesetzt. Der Geltungsbereich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des Fluglärmgesetzes wurde auf alle Flughäfen mit der CDU/CSU und der SPD) Linien- und Pauschalreiseverkehr ausgeweitet. Die Sied- lungsentwicklung in den Lärmschutzzonen wurde auf Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ein vernünftiges Maß begrenzt. Die Erstattungsverfahren Als Nächster hat das Wort der Kollege Ulrich Petzold, für Lärmschutzaufwendungen der Lärmbetroffenen wer- CDU/CSU-Fraktion. den wesentlich vereinfacht und verkürzt. Der Bestand von freiwilligen Vereinbarungen zum Lärmschutz ist ge- (Beifall bei der CDU/CSU) sichert.

Ulrich Petzold (CDU/CSU): Meine sehr geehrten Damen und Herren, eines ist mir jedoch besonders wichtig: Lärmmedizinische Gutach- Sehr geehrter Herr Kollege Kauch, Sie müssen uns ten zur Feststellung von zulässigen Lärmpegeln im Rah- zugestehen, dass wir die Möglichkeit für Ihr Alten- und men von luftrechtlichen Zulassungsverfahren stellten Pflegeheimprojekt eröffnet haben. Aber wir wollen eben bisher immer eine große Unwägbarkeit für alle Seiten nicht die Scheunentore öffnen. dar. Durch unser Fluglärmgesetz werden die Pegelwerte Zu den Militärflughäfen bzw. Bestandsflughäfen des Gesetzes als echte Grenzwerte eingeführt, sodass komme ich später. Es ist allerdings anders, als Sie ausge- diese zeit- und nervenaufreibenden Gutachten nicht mehr führt haben. erforderlich sind. Allerdings werden lärmmedizinische 7292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Ulrich Petzold (A) Gutachten, die sich speziellen Problemen im Rahmen Die Ausweitung von ursprünglich nur einer Schutz- (C) von lufttechnischen Zulassungsverfahren widmen, auch zone auf jetzt zwei Tagschutz- und eine Nachtschutz- weiterhin gesondert in diese Verfahren eingeführt wer- zone trägt der Entwicklung in der Rechtsprechung Rech- den können. nung. Es ist in aller Deutlichkeit festzustellen, dass wir mit den im Gesetz gefassten Schallschutzwerten insbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sondere für den Neu- und Ausbaufall nicht hinter der Unter der Maßgabe der großen Vorbehalte, die es zu jüngsten Rechtsprechung zum Schutz vor Fluglärm zu- Verhandlungsbeginn gegenüber den höheren Anforde- rückbleiben. rungen des Gesetzentwurfes an die Flugplatzbetreiber (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gab, muss das in langen Verhandlungen erzielte Ergebnis in jedem Fall als Erfolg für den Lärmschutz gewertet Bei der Außenwohnbereichsentschädigung gehen wir werden. sogar deutlich über alles, was bisher in der Rechtspraxis existiert, hinaus. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Die Forderung einiger Fluglärmschutzverbände, im Erlauben Sie mir noch einige grundsätzliche Anmer- Fluglärmgesetz auch den aktiven Schallschutz zu re- kungen aufgrund der Diskussionen in den letzten Tagen geln, läuft rechtssystematisch ins Leere. Das Fluglärm- und Wochen. Da ist zum einen die Frage: Ist auf Dauer gesetz bezieht sich ausdrücklich auf den so genannten die Unterscheidung zwischen Bestandsflughäfen auf passiven Schallschutz. Der so genannte aktive Schall- der einen Seite und neuen und ausgebauten Flughäfen schutz, zu dem technische Anflugregelungen, aber auch auf der anderen Seite bei der zugemuteten Lärmbelas- Regelungen zum Flugverkehr zu festgelegten Tageszei- tung haltbar? Dazu muss man rechtssystematisch bemer- ten gehören, wird im Luftverkehrsgesetz erfasst, das ken, dass bei allen Verkehrsträgern bei der zulässigen aber nicht Teil dieser Gesetzesinitiative sein kann. Lärmbelastung der Anwohner eine Unterscheidung zwi- schen Neu- und Ausbau auf der einen Seite und Bestand (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) auf der anderen Seite gemacht wird. Lassen Sie mich aber bitte feststellen: Es bleibt einer Ge- nehmigungsbehörde auch nach unserer Novellierung des Auch die unterschiedliche Behandlung von zivilen Fluglärmgesetzes im Rahmen eines luftrechtlichen Zu- und militärischen Flugplätzen bei den zulässigen Schall- lassungsverfahrens unbenommen, begründet höhere An- pegelwerten kann nur mit den sich wesentlich unter- forderungen auch an den aktiven Schallschutz festzu- scheidenden Bewegungszahlen in den einzelnen Tages- schreiben. abschnitten und Wochenabschnitten gerechtfertigt (B) werden. Dieses Gesetz ist mit Sicherheit nicht der Schluss- (D) punkt für den Schutz gegen den Fluglärm, aber es ist ein Auf militärischen Flugplätzen sind die Flugbewe- wesentlicher Schritt, der deutlich mehr Rechtssicherheit gungen stark an Dienstzeiten gebunden, die eher eine für alle Seiten schaffen wird. Lassen Sie uns diesen Abend-, Nacht- und Wochenendruhe gewährleisten. Au- Schritt heute gehen. ßerdem kann ich hier auf ein Urteil des Oberverwal- tungsgerichts Nordrhein-Westfalen verweisen, welches Auch ich möchte noch einige Worte des Dankes los- diese unsere Auffassung bestätigt. werden. Am Anfang gab es einige Irritationen. Wir ha- ben aber dann mit dem Umweltministerium eine hervor- Dem Gesetzgeber ist es im Jahr 2015 unbenommen, ragende Zusammenarbeit gefunden. Lieber Kollege diese Fragen erneut aufzugreifen; denn dann muss er un- Mühlstein, ich glaube, es war ein hartes Stück Arbeit, ser Gesetz auf seine Wirksamkeit überprüfen. Meine das wir gemeinsam geleistet haben. Ich danke auch allen Fraktion erwartet jedoch, dass auch in Zukunft Flug- anderen Berichterstattern. Auch sie haben sich einge- platzbetreiber im Sinne des nachbarschaftlichen Frie- bracht, sodass wir ein Gesetz geschaffen haben, das zwar dens weiterhin freiwillige Leistungen des aktiven und nicht allen Bedenken Rechnung trägt. Aber es besteht passiven Lärmschutzes erbringen. Ganz besonders er- doch so weit Konsens zwischen uns, dass wir als Bun- warten wir dieses bei der Erstattung von Aufwendungen destag ein bisschen stolz auf dieses Gesetz sein können. für bauliche Schallschutzmaßnahmen und bei der Ent- schädigung für die Beeinträchtigung des Außenwohnbe- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Es ist ja reichs im Hinblick auf die so genannten Bestandsflug- Weihnachten!) plätze. Den Vorwurf – der in einigen Medien gegen das Mi- Grundsätzlich ist zu dem Gesetz anzumerken, dass es nisterium erhoben worden ist –, dass die Luftverkehrs- gegenüber dem bisher geltenden Gesetz aus dem Jahr wirtschaft einen unzulässigen Einfluss auf dieses Gesetz 1971 zu einer deutlichen Reduzierung der zulässigen genommen habe, weise ich nachdrücklich zurück. Was Schallpegelwerte kommt, wie es mein Kollege behauptet wurde, zeugt von Unwissenheit, Ignoranz; Mühlstein schon ausgeführt hat. Zusätzlich werden flug- man könnte fast sagen: von Böswilligkeit. Deswegen lärmbedingte Maximalpegel mit einem Häufigkeitsfak- glaube ich, dass wir hier durchaus einmal hinter diesem tor gesetzlich eingeführt, mit denen der Tatsache Rech- Ministerium stehen können. nung getragen wird, dass insbesondere die Herzlichen Dank. Maximalpegel als besonders belästigend empfunden werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7293

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nachmittag, wenn sie zu Hause sind, vielleicht auf die (C) Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Lutz Idee kommen, im Garten zu spielen, wird ihnen durch Heilmann für Die Linke das Wort. Ihr Gesetz zugemutet, dass dort eine 747 über sie hin- wegrauscht. Damit wird ihnen das Spielen ordentlich (Beifall bei der LINKEN) verdorben.

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Doch nun noch ein paar Gedanken zu dem Gesetzent- wurf. Er hat eine lange Geschichte. Es gab vier rot-grüne Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entwürfe, von denen jeder letztendlich schlechter war Werte Gäste! Wir beraten heute in zweiter und dritter Le- für die Anwohnerinnen und Anwohner als sein Vorgän- sung die Novellierung des Fluglärmgesetzes. Herr Kol- ger. Das ist auch kein Wunder; denn – eine Frage meines lege Mühlstein, Sie sprachen davon, dass wir uns in der Kollegen Roland Claus an die Bundesregierung brachte letzten Sitzungswoche vor Weihnachten befinden. Ich es ans Licht und am 19. Oktober war es in einem „Moni- habe Ihren Ausführungen entnommen, dass Sie der Mei- tor“-Bericht in der ARD zu sehen – einige Mitarbeiter nung sind, dass dieses Fluglärmgesetz für die Anwohne- von Fraport und des Flughafens Köln sind im Verkehrs- rinnen und Anwohner sozusagen ein Weihnachtsge- ministerium tätig, und zwar in der Abteilung, die für den schenk sei. Wenn wir jetzt vor Ostern stünden, würde ich Flugverkehr zuständig ist. Ein Schalk, der Schlechtes da- eher sagen, es ist ein komisches Osterei, das Sie den bei denkt. Leuten ins Osternest legen wollen. Nun habe ich nichts gegen Lobbyarbeit. Wir alle ho- (Christian Carstensen [SPD]: Aber wir sind len uns auf parlamentarischen Abenden Rat von Sach- nicht vor Ostern!) verständigen, von Leuten, die tiefere Kenntnisse haben Als Weihnachtsgeschenk würde ich das wahrlich als wir. Aber die Vorgehensweise, dass Vertreter der nicht bezeichnen; denn ein effektiver Schutz der Anwoh- Flugwirtschaft Gesetzentwürfe schreiben, halte ich ganz nerinnen und Anwohner vor Fluglärm ist mit diesem Ge- einfach für skandalös. Forderungen, das Gesetz komplett setz nicht möglich. neu zu kodifizieren, sind nicht unbegründet. (Christian Carstensen [SPD]: Ach!) Nun zu dem Änderungsantrag der Koalition – auf den Änderungsantrag meiner Fraktion komme ich gleich zu Kein Flughafen – das haben Sie selbst gesagt – wird sprechen –: Die Verkürzung der Fristen zur Zahlung leise. Aktiver Lärmschutz – Fehlanzeige. von Erstattungen und Entschädigungen begrüßen wir. Da muss ich auch an die FDP einmal ein paar Worte Jedoch sind die vorgesehenen fünf Jahre ganz einfach zu richten. Herr Kauch, bei der Bahn sind Sie nicht so zö- lang. Lieber Kollege Petzold, es gibt eine ganze Menge (B) gerlich, für aktiven Lärmschutz zu sorgen. Warum tun Leute, die schon seit zehn, 15 oder 20 Jahren darauf war- (D) Sie das nicht auch beim Flugverkehr? ten, dass überhaupt etwas passiert. Sie jetzt noch einmal fünf Jahre warten zu lassen, wäre nicht richtig. (Michael Kauch [FDP]: Das ist ein anderes Gesetz! Eine völlig andere Basis!) Die Definition der baulichen Erweiterung ist in Ord- nung. Aber die Lex Fraport haben Sie nicht gestrichen. – Das ist ein anderes Gesetz. Dann haben Sie ja die Das wäre ein echter Fortschritt gewesen. Sie wollten mit Möglichkeit, dem Änderungsantrag unserer Fraktion, Ihrem Änderungsantrag für mehr Rechtssicherheit sor- der ebenfalls vorliegt, zuzustimmen. Dann können wir gen. Das begrüßen wir ausdrücklich. So sollen gemäß aktiven Lärmschutz in dieses Gesetz integrieren. § 8 Abs. 1 des Luftverkehrsgesetzes Grenzwerte des (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist Fluglärmgesetzes beachtet werden. In der vorhergehen- eine völlig andere Basis!) den Fassung hieß es aber, dass diese Werte zugrunde zu legen sind. Was ist nun die schärfere Regelung: „zu be- Fluglärm wird ebenso wie der Flugverkehr zunehmen achten“ – dann muss man nicht so genau hinschauen – und somit einen noch größeren Beitrag zum weltweiten oder „zugrunde zu legen“? Nach unserer Meinung ist der Klimawandel leisten. Wir debattieren in diesem Hause zweite Fall die schärfere Regelung. Sie haben also Ihr momentan ja auch viel über den Klimawandel. Beim Gesetz wesentlich entschärft. Somit kann ich nur sagen: Thema Fluglärm können wir aktiv etwas gegen den Kli- Die Änderungen, die Sie im letzten halben Jahr vorge- mawandel tun; zumindest können wir versuchen, ihn zu nommen haben, reichen nicht aus. Es fehlen klare Vorga- meistern. ben zur Begrenzung von Lärm und es fehlt insbesondere Dieses Gesetz bietet allenfalls den Flughäfen Schutz der aktive Lärmschutz. vor den Anwohnerinnen und Anwohnern; denn diese Nun möchte ich Ihnen die wichtigsten Punkte aus un- werden mit Peanuts abgespeist. serem Änderungsantrag vorstellen. Wir plädieren für die (Beifall bei der LINKEN – Winfried Hermann Aufnahme des aktiven Lärmschutzes in das Gesetz. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt übertrei- Wir sind in diesem Lande der Gesetzgeber und wir ha- ben Sie aber!) ben jederzeit die Möglichkeit, Gesetze so zu gestalten, wie wir es für richtig halten. – Herr Kollege Petzold, es Erlauben Sie mir einen kurzen Exkurs. Wir reden in ist unhöflich, dass Sie jetzt nicht zuhören. Drehen Sie diesem Hause viel davon, mehr für unsere Kinder tun zu sich doch bitte um! – Wenn wir es für notwendig halten, müssen. Aber wenn unsere Kinder, nachdem sie bis zum den aktiven Lärmschutz in das Gesetz aufzunehmen, Mittag in geschlossenen Räumen gesessen haben, am dann sollten wir das auch tun. Wir sind der Souverän und 7294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Lutz Heilmann (A) können eine entsprechende Maßnahme beschließen. So fentlich bekundet –, in den sieben Jahren rot-grüner Re- (C) weit meine staatsrechtliche Bemerkung. gierung ein neues Gesetz durchzubringen. Dieses Gesetz hätte viel früher kommen müssen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das brauchen wir gerade von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN euch!) und bei der CDU/CSU – Christian Carstensen [SPD]: Aber heute beschließen wir es gemein- Als zweiten wichtigen Punkt möchte ich noch einmal sam!) die Frist ansprechen. Wir fordern, dass die Frist für Er- stattungs- und Entschädigungsansprüche auf zwei Jahre Ich muss aber auch sagen, dass ich immer wieder von verkürzt wird. der Leistung der großen Koalition überrascht bin. Insbe- Kollege Kauch, Sie haben richtigerweise die Privile- sondere überraschen mich die Genossinnen und Genos- gierung der Militärflughäfen angesprochen, die wir sen, weil sie nämlich erst die CDU/CSU brauchen, um genauso wie Sie für absurd und für nicht gerechtfertigt das zu machen, was sie schon sieben Jahre vorher mit halten. Deswegen ist dieser Punkt in unserem Ände- uns hätten machen können. rungsantrag enthalten. Neben der Aufnahme des aktiven (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lärmschutzes wäre die Ablehnung der Privilegierung Heiterkeit bei der CDU/CSU) der Militärflughäfen der zweite Grund für Sie, unserem Änderungsantrag zuzustimmen. Wir kommen uns also Im Wesentlichen, was die Grundzüge betrifft, stammt relativ nahe. dieser Gesetzentwurf aus der Zeit der rot-grünen Regie- rung und insbesondere aus dem Hause Trittin. Damit ist (Lachen des Abg. Michael Kauch [FDP]) er nicht per se gut. Ich will aber deutlich sagen: Ich bin Des Weiteren fordern wir, die Grenzwerte zu senken. froh, dass Sie nicht hinter dieses Projekt zurückgefallen Denn die Grenzwerte, die Sie in dieses Gesetz hineinge- sind. Ich will Ihnen durchaus zugestehen, dass Sie das schrieben haben, richten sich beileibe nicht an den aktu- Gesetz im parlamentarischen Verfahren nicht schlechter ellen Ergebnissen der Lärmwirkungsforschung aus. Sie gemacht haben, sondern an verschiedenen Stellen sogar müssen gesenkt werden; so können sie nicht bleiben. noch nachgebessert haben. Dafür mein Kompliment. Der letzte Punkt, den ich nennen will, ist die Berichts- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten pflicht der Bundesregierung. Da die Forschung schnell der CDU/CSU) voranschreitet, fordern wir, dass die Bundesregierung Zu Recht weisen Sie darauf hin, dass es eine deutliche alle fünf Jahre und nicht alle zehn Jahre Bericht erstatten Absenkung der Grenzwerte um 10 Dezibel gibt. Aber muss. (B) es ist natürlich keine Kunst – an dieser Stelle fängt die (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, unse- kritische Betrachtung an –, nach 35 Jahren einen Grenz- rem Änderungsantrag zuzustimmen. Denn nur so kön- wert um 10 Dezibel abzusenken, wenn die Technologie nen wir den Anwohnerinnen und Anwohnern einen ef- in derselben Zeit die Verringerung der Lärmemissionen fektiven Lärmschutz gewährleisten. Ansonsten könnten bei Verkehrsflugzeugen um 20 Dezibel möglich gemacht wir das alte Fluglärmgesetz beibehalten, frei nach dem hat. Das heißt, im Grunde genommen hinken auch dieser shakespeareschen Motto: Viel Lärm um nichts. Gesetzentwurf und damit seine Grenzwerte der techni- schen Entwicklung hinterher. Er ist auf keinen Fall sehr Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche ein ambitioniert. Sie tun aber Folgendes: Sie retten sozusa- frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch. gen die Ehre des deutschen Parlaments, damit wieder (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Syl- Gesetzesrecht des Parlaments und nicht Richterrecht via Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gilt, wie es in den vergangenen Jahren geschehen ist. NEN]) (Ulrich Petzold [CDU/CSU]: So ist es!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Aus Sicht der Grünen ist der Gesetzentwurf nicht op- Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege timal und an einzelnen Stellen nicht wirklich ausgewo- Winfried Hermann. gen. Ich will dies an drei Punkten aufzeigen. Erster Punkt: die Grenzwerte. Ich halte es für nicht gut, dass Sie der Besonderheit der Nachtschutzzonen und der Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schlafbedrohung durch Fluglärm nicht angemessen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Rechnung tragen. Alle Experten sagen, dass aus gesund- Herren! Auch wir Grüne begrüßen es, dass es nach heitlichen Gründen in der Nacht ein Grenzwert von 35 Jahren heute wohl gelingen wird, das Fluglärmgesetz 45 Dezibel festgelegt werden muss. Sie sind deutlich zu novellieren. darüber geblieben. Sie hatten nicht den Mut, so weit zu (Zuruf von der SPD: Prima!) gehen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, will ich sagen, Sie haben meines Erachtens unnötigerweise eine Lex dass dieses Gesetz schon 1998, als es 27 Jahre alt war, Fraport beschlossen. Sie führen zwar neue Grenzwerte veraltet war. Wir haben damals unter Rot-Grün eine Alt- ein, lassen aber genügend Zeit, damit die geplanten Aus- last übernehmen müssen. Es ist mir leider nicht vergönnt baumaßnahmen noch im Rahmen der alten Grenzwerte gewesen – das bedaure ich; ich habe es schon einmal öf- erfolgen können. Das ist nicht ausgewogen. Da haben Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7295

Winfried Hermann (A) Sie die Interessen eines bestimmten Flughafens einseitig sonderer Weise berücksichtigt werden. Wir werden dann (C) berücksichtigt. wahrscheinlich sehr beeindruckende Lärmkarten bekom- men und daraus abgeleitet die Aufforderung, aktive Zweiter Punkt: der Charakter von Grenzwertfestset- Lärmschutzpläne auszuarbeiten und Maßnahmen bzw. zungen. Wir können anhand der Geschichte dieses Ge- Strategien vorzuschlagen, damit es in diesem Bereich setzes erkennen, dass es kein modernes Umweltrecht ist, insgesamt zu weniger Lärm kommt. wenn man Grenzwerte auf ewig festsetzt. Man muss sich einmal übertragen vorstellen, was wäre, wenn heute für Sie sehen, es ist noch viel zu tun. Wir sollten uns nicht Autos die gleichen Emissionsgrenzwerte wie vor gleich auf die Ruhebank setzen und sagen: Jetzt warten 35 Jahren gelten würden. Da gibt es selbstverständlich wir 35 Jahre. Es wäre bedauerlich, wenn erst im Jahre eine dynamische Fortschreibung der Grenzwerte, also 2040 kurz vor Weihnachten wieder einmal ein Deutscher alle fünf Jahre eine neue Euronorm mit deutlich abge- Bundestag über ein solches Gesetz beraten würde. Ich senkten Werten. In diesen Zeiträumen geht es nicht um hoffe, wir kommen zu einer früheren Novellierung und eine Senkung um 10 Dezibel, sondern um die Absen- zu einer rechtzeitigen Anpassung der Grenzwerte an das, kung der Werte um 80 bis 90 Prozent. was die Forschung uns immer wieder sagt. Wir müssen also auch im Lärmbereich zu einer regel- Vielen Dank. mäßigen kritischen Überprüfung und Anpassung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grenzwerte kommen. In Ihrem Gesetzentwurf wird nur die Überprüfung festgelegt, aber keine sichere Konse- quenz formuliert. Wir fordern, dass es eine regelmäßige Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Anpassung im Sinne der Lärmwirkungsforschung gibt. Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Dritter Punkt: Auch wir schätzen es so ein – dies wurde von meinen Kollegen von der Opposition schon Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): angesprochen –, dass die besondere Privilegierung des Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Man militärischen Fluglärms und damit die Benachteiligung der Anwohner von Militärflughäfen nicht zu rechtferti- merkt, dass Weihnachten bevorsteht. Sehr geehrter Herr gen ist. Hermann, ich möchte in diesem Stil weitermachen und mich bei Ihnen für die Anerkennung der Leistungen der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) großen Koalition auf der einen Seite und die Ehrlichkeit auf der anderen Seite, mit der Sie dieses Thema eben be- Sie brauchen mir da nichts vorzumachen; denn schon zu (B) handelt haben, bedanken. (D) unserer Regierungszeit hat sich sofort der Verteidigungs- minister gemeldet und gesagt, das koste zu viel Geld. Bevor es zu diesem Fluglärmgesetz kommen konnte, Das war auch jetzt wieder ein Argument. Weil man die gab es einen langen Landeanflug, stellenweise etwas Ge- Kasse des Verteidigungsministers nicht quälen und dem töse, einige Turbulenzen. Das liegt natürlich an den vie- Ministerium nichts zumuten wollte, obwohl es sich, ge- len Piloten und Fluglotsen, die an diesem Prozess betei- messen an diesem großen Etat, um eine kleine Summe ligt waren. Herr Heilmann, wenn man das, was Sie uns handelt, müssen die Anwohner von Militärflughäfen auf gerade gesagt haben, auch noch berücksichtigen wollte, Schallschutzmaßnahmen verzichten. Das ist nicht fair; wäre die Angelegenheit nebulös geworden und die ganze das ist nicht gerecht. Das finden wir nicht gut und das ist Angelegenheit wäre zu einem Blindflug geworden. korrekturwürdig. Ich möchte das aufgreifen, was Herr Hermann gerade (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit seinem Wort von der Lex Fraport angedeutet hat, und bei der FDP) nämlich dass der eine oder andere behauptet hat, es habe bei diesem Prozess auch noch ein paar blinde Passagiere, Ich will zum Ende meiner Rede deutlich machen, dass nämlich Lobbyisten, gegeben, die an entscheidender das Fluglärmgesetz natürlich nicht das Ende des Lärm- Stelle ihren Einfluss ausgeübt hätten. Wenn wir im Deut- schutzes an Flughäfen sein kann. Kollege Heilmann, das schen Bundestag einer solchen Behauptung das Wort re- ist ein Konzept des passiven Lärmschutzes; das ganze den, dann begehen wir einen entscheidenden Fehler, Gesetz ist so konzipiert. Man soll es nicht überfordern, sondern klar sehen, dass es andere Gesetzesfelder gibt, (Beifall des Abg. Ulrich Petzold [CDU/CSU]) wo man den aktiven Lärmschutz angehen muss, etwa bei weil wir uns selber damit bei dem infrage stellen, was der europäischen Richtlinie zur lärmbedingten Betriebs- wir hier, unabhängig und nur unserem Gewissen unter- beschränkung, die nicht ambitioniert in deutsches Recht worfen, tun. umgesetzt wird. Hier gibt es Spielräume, aktiv einzu- grenzen und zu sagen: Wenn zu viel Lärm entsteht, dann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- können Flughäfen anders als bisher eingreifen und Ein- neten der SPD) schränkungen vornehmen. Weil ich selber nicht zu den Berichterstattern gehöre, Ein weiteres Feld ist schon eröffnet. Wir werden dem- möchte ich an der Stelle – wie es viele Vorredner auch nächst europaweit Daten darüber sammeln, wie sich getan haben – den Berichterstattern nicht nur für die Lärm in Ballungsräumen ausbreitet, und sie kartieren. viele Arbeit, sondern auch ganz entscheidend dafür Dabei müssen natürlich die Zonen um Flughäfen in be- danken, dass sie diese Arbeit in großer Unabhängigkeit 7296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Georg Nüßlein (A) und in der Abwägung verschiedener Interessen getan ha- Von uns wurde die Tatsache kritisch gewürdigt – ins- (C) ben. besondere in der CSU wurde darüber diskutiert –, dass wir ohne zeitliche Begrenzung zwischen zwei Klassen (Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Herzlichen differenzieren, nämlich zwischen denjenigen, die an be- Dank! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja, stehenden Flughäfen wohnen, und denjenigen, die an ist denn heute schon Weihnachten?) neu zu errichtenden Flughäfen wohnen. Das ist unbefrie- Wir sind mit der zweiten und dritten Lesung dieses digend. Gesetzentwurfs heute auf dem Boden der Tatsachen ge- (Beifall des Abg. Winfried Hermann [BÜND- landet. Tatsache ist: Der Verkehrslärm nimmt zu. Die NIS 90/DIE GRÜNEN]) Belastung, die die Bevölkerung trägt, muss man beach- ten und man muss als Gesetzgeber etwas dagegen tun. Wir akzeptieren hier Unterschiede von 5 dB(A), und Als Umweltpolitiker sage ich Ihnen auch auf die Gefahr zwar über die im Gesetz vorhandene Schwelle des hin, missverstanden zu werden, ganz klar: Umweltschutz Jahres 2011 hinaus. Das ist bedauerlich. Wir haben aber ist in erster Linie auch Menschenschutz. für das Jahr 2015 eine Überprüfung geregelt. Es ist im Übrigen eine gute Idee, das in einem Gesetz festzu- (Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Richtig!) schreiben. Solche Regelungen sollten wir immer wieder treffen. In diesem Rahmen haben wir die Chance, diese Tatsache ist: Es wollen viele fliegen; die wenigsten Differenzierung zu korrigieren. Aus der Sicht der CSU wollen aber einen Flughafen vor der Haustür. Auch da- wäre das wünschenswert. für habe ich Verständnis. Aber wir müssen auch Folgen- des sehen: Wir sind eine Exportnation. Güter und Men- Vielen herzlichen Dank. schen müssen wir wettbewerbsfähig transportieren können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ich möchte auch noch hinzufügen: Dieses Gesetz bür- det – je nachdem, wie man es berechnet – den zivilen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Flughäfen, den Kommunen und den Ländern Kosten bis zu einer Höhe von 738 Millionen Euro auf. Das sage ich Für die SPD-Fraktion spricht der Kollegen Christian nur, damit wir wissen, um welche Größenordnung es Carstensen. sich hier handelt. Ich möchte noch eine weitere Zahl (Beifall bei der SPD) nennen: Es sind 400 Millionen Euro in diesen Bereich als Vorleistungen auf Basis des alten Gesetzes und auf (B) freiwilliger Basis geflossen. Auch das sollte man einmal Christian Carstensen (SPD): (D) anerkennen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon gemerkt: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das Thema Fluglärm und die damit verbundene Diskus- sion über den notwendigen Schutz der Anwohnerinnen Tatsache ist natürlich: Es handelt sich um einen Kom- und Anwohner bewegt die Gemüter heute ebenso wie promiss, um keine Punktlandung. Das ist aber sehr viel früher. besser, als dieses Thema permanent in der Luft zu hal- ten, wie wir es über Jahre und Jahrzehnte getan haben. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden verzeich- nete für das damals geteilte Deutschland im Jahr 1970 (Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Wohl wahr!) rund 8,8 Millionen Fluggäste bei rund 630 000 Flugbe- Ich möchte jetzt etwas zum Thema Richterrecht sa- wegungen. Der Umweltschutz war in dieser Zeit gerade gen. Wir haben im Unterschied zum anglofonen Bereich erst auf der bundespolitischen Tagesordnung aufge- kein „case law“, es also nicht mit der Situation zu tun, taucht. dass mithilfe von Präzedenzfällen für Rechtssicherheit (Michael Kauch [FDP]: Bei der FDP!) gesorgt wird. Deshalb sind wir als Gesetzgeber aufgeru- fen, diesen Sachverhalt nicht schleifen zu lassen und Der damals zuständige Bundesinnenminister Genscher Rechts- und Planungssicherheit zu schaffen. Das tun wir – ein eigenes Umweltressort war damals noch gar nicht mit diesem Gesetz. denkbar – brachte eine Grundgesetzänderung auf den Weg, die dem Bund erstmals volle Gesetzgebungskom- Eines ist aus meiner Sicht ganz klar: Wir schaffen petenz für den Umweltbereich bringen sollte. Mindeststandards – ich möchte das noch einmal aus- drücklich betonen, weil viele ja sagen, das sei alles kri- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Und mit tisch zu sehen –, über die man hinausgehen kann. Denje- was? Mit Recht!) nigen, die Bau- bzw. Ausbaumaßnahmen durchführen, sei geraten, über diese Mindeststandards hinauszugehen. – Mit Recht natürlich und mit einem sozialdemokrati- Das verbessert die Akzeptanz. Es gibt ja auch nicht nur schen Koalitionspartner. – Gleichzeitig wurde ein Ge- den passiven Lärmschutz, sondern auch den aktiven setzentwurf zum Schutz vor Fluglärm in der Umgebung Lärmschutz. Das sollte man entsprechend berücksichti- von Flughäfen eingebracht. Der Bundestag brauchte gen. zwei Legislaturperioden, um das Gesetz um 16. Dezem- ber 1970 endlich in dritter Lesung beschließen zu kön- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7297

Christian Carstensen (A) Heute, in der letzten Sitzungswoche des Jahres 2006, Sie heute auch um die Stärken des Gesetzentwurfs wis- (C) also bis auf zwei Tage genau 36 Jahre später, kommt es sen und es am Ende so machen werden wie die FDP und endlich zu einer umfassenden Erneuerung des Gesetzes. dem Gesetzentwurf gemeinsam mit uns zustimmen. Viel hat sich seitdem verändert. Auf manchen Feldern gibt es aber überraschende Parallelen. Die Zahl der (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fluggäste und -bewegungen im zum Glück längst ver- NEN]: Nein!) einten Deutschland hat sich dramatisch verändert. 2005 – Sie haben noch ungefähr zehn Minuten Zeit zum wurden nicht mehr wie damals 8,8 Millionen, sondern Nachdenken. rund 146 Millionen Fluggäste gezählt. Die Zahl der Flugbewegungen erhöhte sich von den genannten Der Dank geht – das Umweltministerium wurde ganz 630 000 auf über 2 Millionen. Es wird also wirklich Zeit, oft angesprochen – an den Umweltminister, aber auch an die gesetzlichen Regelungen für den Schutz vor Flug- den Bundesverkehrsminister und die entsprechenden lärm auf eine neue Grundlage zu stellen. Häuser für die Begleitung der parlamentarischen Arbeit und nicht zuletzt an die Vertreter der Anwohnerinnen Aber auch diesmal hat der Bundestag – das ist ange- und Anwohner und auch der Luftverkehrswirtschaft für sprochen worden – lange dafür gebraucht. Da die nach- ihre – es war nicht anders zu erwarten – höchst unter- folgende Generation ja immer steigerungsfähig ist, ha- schiedlichen Hinweise. Natürlich konnten wir nicht alle ben wir nicht zwei, sondern drei Wahlperioden aufgreifen; denn es galt, einen fairen Interessenaus- gebraucht. Umso besser ist es, dass wir uns dieses Mal gleich herzustellen. Aber alle Hinweise wurden sehr darauf verständigt haben, die Bundesregierung schon ernst genommen und ausführlich beraten. Mein Kollege jetzt auf eine Überprüfung nach zehn Jahren zu ver- Mühlstein hat schon auf zahlreiche Verbesserungen im pflichten. Damit legen wir bereits heute die Grundlage Interesse der Anwohnerinnen und Anwohner hingewie- dafür, dass nicht erst wieder dreieinhalb Jahrzehnte ins sen. Land gehen müssen, ehe das Gesetz den aktuellen Gege- benheiten angepasst wird. Kollege Hermann, aus dieser Nun werden Sie sicherlich Verständnis dafür haben, Regelung folgt, dass, wenn Bedarf besteht, nach zehn dass ich als Verkehrspolitiker mich auf die Situation und Jahren entsprechend gehandelt wird. Bedeutung der Luftverkehrswirtschaft konzentrieren möchte. Das tue ich, nicht obwohl, sondern gerade weil (Zuruf von der SPD: Genau!) ich selbst vom Lärm betroffener Anwohner – in diesem Herr Kollege Nüßlein, das ist im Übrigen ein Grund, Fall des Flughafens Hamburg – bin. Ich weiß nicht, ob warum wir heute noch keine Vereinbarung für das hier noch der eine oder andere Flughafenanwohner an- Jahr 2020 – Sie und einige andere haben das angespro- wesend ist. (B) chen bzw. gefordert – in das Gesetz hineinschreiben (Michael Kauch [FDP]: Hier!) (D) müssen. Für Versprechungen gegenüber den Anwohne- rinnen und Anwohnern, die sich bei einer Überprüfung Wir Flughafenanlieger kennen nicht nur den Lärm, in zehn Jahren möglicherweise als unerfüllbar heraus- sondern wir kennen fast alle auch Freunde, Nachbarn stellen werden, sind jedenfalls wir Sozialdemokraten oder Verwandte, die am Flughafen oder im unmittelba- nicht zu haben; das sollte aber für uns alle gelten. ren Umfeld arbeiten. Zurzeit sind das rund 770 000 Menschen. Glücklicherweise gehen die Erwartungen da- Nach den Diskussionen der letzten Wochen liegt uns hin, dass diese Zahl noch steigt. Das geschieht aber nicht ein Gesetzentwurf vor, der sich sehen lassen kann. Das automatisch. Die neuen Arbeitsplätze entstehen nur, Gesetz wird den notwendigen und wichtigen Schutz der wenn unsere Luftverkehrswirtschaft im internationalen Anwohnerinnen und Anwohner verbessern und den Wettbewerb bestehen kann. Einen wichtigen Schritt zur Flughäfen Planungs- und Rechtssicherheit bieten. Verbesserung der Wettbewerbssituation gehen wir heute (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzent- CDU/CSU) wurfs. An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten herzlich Denn wir schaffen damit die seit langem von allen danken. Dieser Dank richtet sich natürlich an die Kolle- Seiten geforderte Rechts- und Planungssicherheit. Es ginnen und Kollegen von der Koalition für die gute und war einfach ein unhaltbarer Zustand, ein so altes Gesetz vertrauensvolle Zusammenarbeit, aber eben auch an die zu haben, dass Richterrecht das geschriebene Recht Vertreter der Opposition für kritische Anmerkungen und längst korrigierte. Gleichzeitig sichern wir letztlich im Fragen, die dann koalitionsintern für konstruktive Dis- Interesse aller durch abgestufte Bauverbote und -be- kussionen gesorgt haben. Kollege Hermann hat das ge- schränkungen den Flughäfen notwendige Freiräume und rade von dieser Stelle aus noch einmal ausdrücklich ge- vermeiden zukünftige Nachbarschaftskonflikte. würdigt. Natürlich reicht das nicht aus. Gerade im Bereich der Nicht nur deswegen geht bei dem Dank an die Oppo- Luftfahrt sind weitere Anstrengungen notwendig, um die sition ein besonderer Dank an die Grünen, weil – Sie er- Zukunft dieser Wachstumsbranche zu sichern. Die not- wähnten das schon – wichtige Vorarbeit in der letzten wendigen Ausbauvorhaben in München und Frankfurt Wahlperiode für den letztendlich rot-grünen Gesetzent- zeigen, wie wichtig die Verkürzung der Planungszeit- wurf geleistet wurde. Daher wussten Sie – das haben Sie räume in unserem Land ist. Zahlreiche EU-Vorhaben und im Februar bei der Debatte zur ersten Lesung erwähnt – die allgemeine Entwicklung in der Branche – nicht zu- um die vorhandenen Schwächen. Aber ich hoffe, dass letzt mit neuen Konkurrenten im Nahen Osten – bedürfen 7298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Christian Carstensen (A) der Begleitung. Auch im industriellen Bereich ist zum gerungen, galt es doch, die Quadratur des Kreises schaf- (C) Beispiel bei der Ingenieurausbildung regelmäßige Unter- fen zu müssen. stützung wichtig. Ich glaube, dass sich das Ergebnis unserer Beratungen Ein neuer Luft- und Raumfahrtkoordinator könnte da- sehen lassen kann. Es ist ein vernünftiger Kompromiss, bei ausgesprochen hilfreich sein. Ich hoffe sehr, dass, ein fairer Ausgleich zwischen dem Anliegen der Men- nachdem wir die Einführung der neuen maritimen Koor- schen nach Schutz vor übermäßigem Fluglärm und den dinatorin erleben konnten, hier nun bald ein entspre- legitimen ökonomischen Interessen der Luftverkehrs- chender Ansprechpartner für die Luft- und Raumfahrt wirtschaft. Herr Kollege Carstensen hat schon darauf zugegen sein wird. hingewiesen, dass immerhin mehr als eine dreiviertel Million Menschen direkt oder indirekt in der Luftver- Sicherlich ist nicht jeder mit diesem Gesetz rund- kehrswirtschaft beschäftigt sind. Auch das ist ein wichti- herum zufrieden. Es bleibt die Frage, ob es nicht auf der ger Gesichtspunkt. einen oder anderen Seite etwas weniger und auf der ei- nen oder anderen Seite etwas mehr hätte sein können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Tatsächlich – das haben wir gerade schon wieder erlebt – der SPD) versuchen einige, einen derartigen Wettbewerb zu star- ten. Sie fordern die Überprüfung schon nach fünf statt Drei zentrale Ziele werden wir mit dieser Gesetzesno- nach zehn Jahren, hier ein paar Dezibel weniger und dort velle erreichen: Das 35 Jahre alte Fluglärmgesetz – zu- ein paar Ausnahmen bei den Siedlungsbeschränkungen letzt Richterrecht – wird grundlegend modernisiert, der mehr. Schutz der Menschen vor Fluglärm wird erheblich ver- bessert und es wird Rechts- und Planungssicherheit für (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Sagen Sie, wo- zukünftige Neu- und Ausbaumaßnahmen geschaffen. her aus Hamburg Sie kommen!) Die Kollegen Dr. Nüßlein und Carstensen haben bereits Wir werden uns – das sage ich Ihnen ganz deutlich – an darauf hingewiesen, dass wir weg vom Richterrecht diesem Spiel nicht beteiligen. Zur Begründung möchte wollten. ich Sie noch einmal kurz zu den Anfängen des Fluglärm- Ich will nicht all das wiederholen, was bereits vorge- schutzgesetzes entführen. tragen worden ist, sondern zwei Aspekte ansprechen, die (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Wo in Ham- in dieser Diskussion, wie ich glaube, von besonderer Be- burg wohnen Sie denn?) deutung sind. Zum einen geht es um die vielfach kriti- sierte Ungleichbehandlung von bestehenden und neu ge- Vor 36 Jahren fasste der SPD-Abgeordnete Konrad die bauten bzw. wesentlich ausgebauten Flughäfen. Beratungen laut Protokoll wie folgt zusammen: (D) (B) (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) Das Fluglärmgesetz berücksichtigt in seiner heuti- gen Form die Gesichtspunkte, die ein solches Ge- Hier gelten unterschiedliche Lärmgrenzwerte. setz nun einmal berücksichtigen muß. Die gesund- Richtig ist – das muss man sehen –: Die Lärmbelas- heitspolitischen und die wirtschaftspolitischen tung der Menschen ist in beiden Fällen gleich groß. Interessen sind vernünftig koordiniert, was poli- Wenn dennoch unterschiedliche Werte gelten, dann muss tisch durchsetzbar und finanziell möglich ist, haben man berücksichtigen, dass Flughäfen, die neu gebaut wir beschlossen. oder wesentlich erweitert werden, die Möglichkeit ha- Vieles hat sich geändert, aber diese Zusammenfassung ben, sich auf die damit verbundenen Kosten einzustellen galt damals und gilt heute. Deswegen bitte ich Sie alle: und diese Gelder zu erwirtschaften. Für bestehende Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu. Flughäfen ist das aufgrund der Kapazitätsgrenze, die es nun einmal gibt, so schnell nicht möglich. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der SPD) der CDU/CSU) Diese unterschiedliche Ausgangslage rechtfertigt eine Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: unterschiedliche Behandlung. Zum Abschluss dieser Debatte erteile ich das Wort Bei Straßen und Schienen herrschen – auch das ist dem Kollegen Norbert Königshofen, CDU/CSU-Frak- schon gesagt worden – ähnliche Unterschiede: Der Neu- tion. bau von Autobahnen und Schienenwegen erfolgt mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lärmschutz, an bestehenden Straßen und Schienen ha- neten der SPD) ben die Bürger darauf keinen Anspruch. Wir haben dazu ein freiwilliges Programm aufgelegt. Im Übrigen sind die Grenzwerte bei Schienenwegen und Straßen erheb- Norbert Königshofen (CDU/CSU): lich höher als die, die demnächst für bestehende Flughä- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man fen gelten werden. könnte sagen: Was lange währt, wird endlich gut. Wir haben lange, 35 Jahre lang, praktisch seit der letzten ge- (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Das ist ja wohl setzlichen Regelung, immer wieder über dieses Thema auch etwas anderes! Man kann doch nicht diskutiert und in den letzten Monaten hart miteinander Äpfel mit Birnen vergleichen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7299

Norbert Königshofen (A) – Herr Kollege, ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie wie ich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (C) neben einem alten Schienenweg wohnen würden, auf dem nachts ein Güterzug fährt, dann hätten auch Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Spaß. Damit sind wir am Ende dieser Debatte. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Lutz Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Heilmann [DIE LINKE]: Ja! Aber Fluglärm ist desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur doch etwas anderes als Schienenlärm, oder? Verbesserung des Schutzes vor Fluglärm in der Umge- Fragen Sie die Wissenschaftler!) bung von Flugplätzen auf Drucksache 16/508. Der zweite Gesichtspunkt, den ich erwähnen möchte, Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- wurde in der letzten Zeit schon häufig angesprochen: Es sicherheit empfiehlt unter Nr. I seiner Beschlussempfeh- geht um die Frage, ob die Verlängerung einer bereits be- lung auf Drucksache 16/3813, den Gesetzentwurf in der stehenden Nachtfluggenehmigung als neues Kriterium für eine weitere Verschärfung der Lärmgrenzwerte ein- Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Ände- geführt werden sollte. rungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zu- erst abstimmen, Drucksache 16/3863. Wer stimmt für Man muss in der Tat sagen: Der entsprechende Vor- diesen Änderungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthal- schlag ist bedenkenswert. Denn Nachtflugverkehr tungen? – Der Änderungsantrag ist bei Prostimmen der bringt, was ja niemand leugnen kann, zusätzliche Belas- Linksfraktion, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen tungen. Wenn man das durch schärfere Grenzwerte und Ablehnung durch die übrigen Mitglieder des Hauses mildern könnte, wäre das mehr als einen Gedanken wert. abgelehnt. Nur, wir haben auch zu sehen, dass diese Verschärfung wegen der notwendigen Maßnahmen zu erheblichen Zum Gesetzentwurf liegen persönliche Erklärungen Mehrkosten führen würde. In Hannover-Langenhagen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor von Michael werden diese Kosten auf 50 Millionen Euro geschätzt. In Hartmann (Wackernheim), Elisabeth Winkelmeier- Köln wäre der Betrag mit Sicherheit gleich hoch. Die Becker, Ute Granold, Josef Göppel und Siegfried Kau- Folge wären höhere Gebühren und wegen der Kosten- der.1) steigerungen bestünde die Gefahr einer Abwanderung Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in von Logistik- und anderen Unternehmen. Wir haben hier der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand- eine schwierige Abwägung zu treffen. Nachtflugverbote zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die- und -erlaubnisse sind Ländersache. Wir haben die Minis- sem Gesetzentwurf zugestimmt haben die Abgeordneten terpräsidenten gefragt. Ihr Votum war, sich für die der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und die überwie- Arbeitsplätze zu entscheiden, gegen eine zusätzliche (B) gende Mehrheit der Abgeordneten der CDU/CSU-Frak- (D) Verschärfung der Grenzwerte. Das haben wir dann auf- tion. Abgelehnt haben den Gesetzentwurf die Fraktionen gegriffen und berücksichtigt. Aber ich gebe gerne zu, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und einige Abge- das ist ein Thema, das auf der Tagesordnung bleibt. ordnete der CDU/CSU-Fraktion. Damit ist der Gesetz- entwurf in zweiter Beratung angenommen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege. (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Eine Enthal- tung!) (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Ja, ist besser!) – Bei Enthaltung eines Abgeordneten der CDU/CSU- Fraktion. Norbert Königshofen (CDU/CSU): Ich kann es ganz kurz machen, Frau Präsidentin: Ich Wir kommen zur bin mir sicher, dass wir dieses Thema weiter verfolgen dritten Beratung und spätestens in zehn Jahren erneut eine Diskussion ha- ben werden. Wir werden in diesem Hause mit Sicherheit und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem noch viel über Lärm sprechen, vielleicht demnächst über Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. – Wer den Lärm an bestehenden Schienensträngen, der die stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge- Bürger ähnlich quält. Ich hoffe, dass wir genauso koope- setzentwurf mit dem gleichen Abstimmungsverhältnis rativ und konstruktiv zusammenarbeiten, und möchte angenommen. meine Rede beschließen mit einem Dank an alle, die mitgearbeitet haben in der großen Koalition: Herr Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- Mühlstein und Herr Carstensen natürlich, bei uns Frau ßungsanträge. Dött und Herr Dr. Lippold. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion der FDP auf Drucksache 16/3862? – Gegenstim- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag der Herr Kollege! FDP-Fraktion ist bei Zustimmung der FDP-Fraktion und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Norbert Königshofen (CDU/CSU): mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak- Auch ein Dank an das Ministerium! Mein letzter tion Die Linke abgelehnt. Dank geht an die Präsidentin, dass sie mit mir so viel Geduld gehabt hat. 1) Anlagen 2 und 3 7300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen (C) tion Die Linke auf Drucksache 16/3860? – Gegenstim- Bundestages: men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag der Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Fraktion Die Linke ist bei Zustimmung der Fraktion Die Damen und Herren! Ich hoffe, die Präsidentin sieht es Linke und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/ mir nach, wenn ich ausnahmsweise auch die Soldaten Die Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen auf der Zuschauertribüne herzlich willkommen heiße. und der FDP-Fraktion abgelehnt. (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen) Wir kommen jetzt zum Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache Seit meinem Amtsantritt im vergangenen Jahr bin ich 16/3861. Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltun- häufiger gefragt worden, was die gravierendsten Pro- gen? – Damit ist dieser Entschließungsantrag bei Zu- bleme bei der Bundeswehr seien. Anders gefragt: Wo stimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen drückt den Soldatinnen und Soldaten unserer Bundes- und Enthaltung der Linksfraktion mit den Stimmen der wehr am meisten der Schuh? Manche erwarten auf der- Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion abgelehnt. artige Fragen eine Zusammenfassung dessen, was aus den etwa 6 000 Eingaben hervorgeht, die ich als Wehr- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 7 b. Wir set- beauftragter Jahr für Jahr auf den Tisch bekomme. Eine zen die Abstimmungen zur Beschlussempfehlung des solche Zusammenfassung würde zumindest aus meiner Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Sicht aber nur einen Teil der Realität widerspiegeln. sicherheit auf Drucksache 16/3813 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. II seiner Be- Meine Antwort auf diese doch recht komplizierte schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- Frage nach der Stimmung in der Truppe sieht sehr viel tion der FDP auf Drucksache 16/263 mit dem Titel „Das einfacher und schlichter aus. Aus meiner Sicht bewegt Fluglärmgesetz unverzüglich und sachgerecht moderni- die Soldatinnen und Soldaten am meisten die Tatsache, sieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – dass im soldatischen Alltag Anspruch und Wirklich- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Diese Beschluss- keit nicht selten weit auseinander klaffen. Zum Beispiel empfehlung ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion wird bei der mit aller Kraft vorangetriebenen Transfor- und bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die mation der Bundeswehr nicht ausreichend im Auge be- Grünen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und halten, welche enormen Folgewirkungen sich aufgrund der Linksfraktion angenommen. der zusätzlichen Einsatznotwendigkeiten in den letzten zehn Jahren für das Personal, für das Material und vor Unter Nr. III empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung allen Dingen für die Finanzausstattung ergeben haben. (B) des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen (D) auf Drucksache 16/551 mit dem Titel „Den Schutz der Anspruch und Wirklichkeit liegen auch dann ein Anwohner vor Fluglärm wirksam verbessern“. Wer Stück auseinander, wenn von den Verantwortlichen in stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- Politik und Bundeswehr die Leistungen der Soldatin- men? – Enthaltungen? – Diese Beschlussempfehlung ist nen und Soldaten zwar in höchsten Tönen gelobt wer- bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die den, auf der anderen Seite gerade diese hoch gelobten Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Soldatinnen und Soldaten aber immer weniger im Porte- Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion monnaie haben und außerdem die Tatsache unerwähnt angenommen. bleibt, dass zwei Drittel aller Soldatinnen und Soldaten zu den unteren Einkommensgruppen in unserer Gesell- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: schaft gehören. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Der frühere Bundespräsident Johannes Rau hat ein- richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- mal den ebenso schlichten wie eindrucksvollen Satz ge- schuss) zu der Unterrichtung durch den Wehrbe- sagt: „Sagen, was man tut, und tun, was man sagt“. Das auftragten ist nicht nur eine Aufforderung zu mehr Glaubwürdig- Jahresbericht 2005 (47. Bericht) keit in Politik und Gesellschaft, das ist im Grunde auch eine wichtige Säule der so genannten inneren Führung – Drucksachen 16/850, 16/3561 – – „so genannt“ sage ich nur für diejenigen, die nicht je- den Tag mit der Bundeswehr zu tun haben –; denn aus Berichterstattung: Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit erwächst Ver- Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt) trauen. Vertrauen ist eine unverzichtbare Grundlage für Hedi Wegener die Menschenführung, für die Motivation, für die Ein- Elke Hoff satzbereitschaft und auch für die soldatische Kamerad- Paul Schäfer (Köln) schaft. Winfried Nachtwei Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Das Prinzip, sein Denken und Handeln immer an der Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu Glaubwürdigkeit auszurichten, gilt selbstverständlich höre ich keinen Widerspruch. und in ganz besonderer Weise auch für mich als Wehrbe- auftragten. Deshalb habe ich mir unmittelbar nach mei- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbe- ner Vereidigung einige Grundsätze vorgenommen, die auftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe. für meine Amtsführung bestimmend sein sollen und aus Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7301

Wehrbeauftragter Reinhold Robbe (A) meiner Sicht auch dazu beitragen können, Vertrauen und gungsminister, aber insbesondere auch die Bundes- (C) Glaubwürdigkeit zu stärken. kanzlerin und der Bundesminister der Finanzen in der Haushaltsdebatte die Notwendigkeit einer besseren fi- Zu diesen Grundsätzen gehört, dass ich möglichst nanziellen Ausstattung der Streitkräfte unterstrichen ha- nahe bei unseren Soldatinnen und Soldaten sein möchte. ben. Für die Angehörigen unserer Streitkräfte wäre es zu Deshalb habe ich die Zahl der Truppenbesuche ausge- begrüßen, wenn das sowohl im nächsten Verteidigungs- weitet und bin ich zwischenzeitlich dazu übergegangen, haushalt wie auch in der mittelfristigen Finanzplanung in den Heimatstandorten fast nur noch unangemeldete seinen Niederschlag finden würde. Truppenbesuche durchzuführen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen) SPD und der FDP) Darüber hinaus bin ich darum bemüht, einmal im Jahr Meine Damen und Herren, sehen Sie es mir bitte alle Einsatzgebiete aufzusuchen. Dies entspricht meinem nach, wenn ich an dieser Stelle nicht auf aktuelle The- Verständnis von Basisnähe. Vor allem aber entspricht men eingehen möchte, die sich in jüngster Zeit oder im das auch den Erwartungshaltungen der Soldatinnen und Laufe dieses Jahres ereignet haben. Damit werden wir Soldaten. uns im Rahmen des Jahresberichts 2006 naturgemäß zu Daneben möchte ich als „Hilfsorgan des Bundesta- beschäftigen haben. Trotzdem mache ich keinen Hehl ges“, wie es im Grundgesetz heißt, sehr gerne dabei hel- aus meiner Freude über die Tatsache, dass alle Soldatin- fen, die besonderen Themen der Bundeswehr in unser nen und Soldaten der jüngsten Kongomission bis zum Parlament hineinzutragen. Der Bundespräsident hat dan- Weihnachtsfest wieder bei ihren Familien sein werden. kenswerterweise mehr Anteilnahme für die Soldatinnen (Beifall im ganzen Hause) und Soldaten eingefordert, die ihre Gesundheit und ihr Leben für unser Land einsetzen. Ich finde, das gilt erst Die Soldatinnen und Soldaten dürfen wirklich stolz recht für den Deutschen Bundestag. Insofern verstehe auf ihren geleisteten Beitrag zur Friedenssicherung im ich meine Aufgabe durchaus auch als eine Art Dienst- Zusammenhang mit den durchgeführten Wahlen im leister, dessen Auftraggeber das Parlament ist. Meine ge- Kongo sein. Das darf aber aus meiner Sicht nicht da- wonnenen Erkenntnisse, meine Erfahrungen und meine rüber hinwegtäuschen, dass es mit Blick auf die Planung, Einschätzungen stehen deshalb selbstverständlich nicht Errichtung und auch auf den Betrieb der Feldlager nur dem Fachausschuss und den Mitgliedern des Vertei- sowohl in Kinshasa wie auch in Libreville in Gabun er- digungsausschusses, sondern auch allen anderen Parla- hebliche Probleme gab, die es jetzt aufzuarbeiten gilt. mentariern in sämtlichen Bereichen zur Verfügung. Deshalb bin ich außerordentlich froh, dass der Verteidi- gungsausschuss des Hohen Hauses sich gleich am An- (B) (D) Meine Damen und Herren, dem Plenum liegt heute fang des kommenden Jahres mit diesem Thema ausführ- mein Jahresbericht für das Jahr 2005 zur abschließenden lich beschäftigen wird. Beratung vor. Im Juni dieses Jahres konnte ich Ihnen diesen ersten von mir verfassten Bericht bereits vorstel- Meine Besuche in den Einsatzgebieten haben aber len. Das Aufzeigen der Mängel und Probleme in dem auch etwas anderes noch einmal sehr deutlich gemacht: Bericht stützt sich unter anderem auf Erkenntnisse aus Die notwendige Debatte über den Sinn und Zweck der rund 60 Truppen- und Informationsbesuchen. Einsätze und die Transformation der Streitkräfte darf uns nicht den Blick für die Sorgen und Nöte des einzelnen Zum anderen liegen dem Bericht aber auch rund Soldaten verstellen. Jede Entscheidung, die die Bundes- 5 600 Eingaben von Soldatinnen und Soldaten der Bun- regierung und das deutsche Parlament im Hinblick auf deswehr zugrunde. Das sind etwa 10 Prozent weniger als die Streitkräfte treffen, hat am Ende ganz konkrete Aus- im Jahr zuvor, also als im Jahr 2004. Heute, wenige Wo- wirkungen auf den Auftrag und den Einsatz eines jeden chen vor dem Jahreswechsel, kann ich Ihnen berichten, einzelnen Soldaten. Diese Auswirkungen ständig im dass sich die Gesamtzahl der Eingaben im laufenden Blick zu behalten, ist Pflicht von uns allen. Wer hätte Jahr deutlich erhöht hat; sie wird sich wieder bei etwa mehr Grund, immer wieder darauf hinzuweisen, als der 6 000, auf das ganze Jahr bezogen, einpendeln. Wehrbeauftragte, der nun einmal zum Schutz der Rechte der Soldatinnen und Soldaten berufen ist. Welche besonderen Probleme sich aus den Einschät- zungen und der Transformation für die Truppe im (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Jahr 2005 ergeben haben, konnte ich bereits im Rahmen Thierse) der ersten Beratungsrunde schildern. Ich erinnere an die- ser Stelle nur kurz an einige wichtige Stichworte wie Be- Ganz ausdrücklich bedanken will ich mich an dieser förderungsprobleme, Defizite in der Personalbearbei- Stelle bei allen Mitgliedern des Verteidigungsausschus- tung, Ausbildungs- und Ausrüstungsmängel oder an die ses für die ausgezeichnete Kooperation, beim Bundes- dienstlichen Belastungen im Inland, insbesondere im Sa- tagspräsidenten für seine persönliche Unterstützung und nitätsdienst. eigentlich beim gesamten Parlament, bei Ihnen allen, meine Damen und Herren, für die zumindest aus meiner Abgerundet hatte ich die Zusammenfassung meines Sicht beispielhaft gute Zusammenarbeit und das ausge- Berichtes mit dem notwendigen Hinweis, dass es den zeichnete Zusammenwirken. Mein Dank geht natürlich Streitkräften nach wie vor an Finanzmitteln fehle. Vor auch an den Bundesminister der Verteidigung, Dr. Jung. diesem Hintergrund registrieren es die Soldatinnen und Der Dank geht ebenso an die politische und militärische Soldaten mit Dankbarkeit, dass natürlich der Verteidi- Führung seines Hauses und an alle nachgeordneten 7302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Wehrbeauftragter Reinhold Robbe (A) Dienststellen des BMVg. Nicht zuletzt danke ich allen halten werden. Ich denke, dass wir alle uns darüber einig (C) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Amtes für die sind. hervorragende Unterstützung, ohne die ich meine Arbeit überhaupt nicht tun könnte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Herr Wehrbeauftragter, Ihr Jahresbericht 2005 zeigt und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eindringlich auf, unter welchem enormen Druck die Sol- In wenigen Tagen können wir das Weihnachtsfest fei- daten durch den Transformationsprozess und die wach- ern. Etwa 9 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten wer- sende Zahl an Einsätzen stehen. Maßstäbe für menschli- den das Fest nicht bei ihren Lieben zu Hause, sondern ir- ches Verhalten, wie sie die innere Führung setzt, gendwo in der Welt, im Einsatz am Horn von Afrika, in müssen für eine Armee im Einsatz Leitprinzip bleiben. Afghanistan oder sonst wo, verbringen müssen. Lassen Die innere Führung ist unerlässlich, um den Soldaten ein Sie mich deshalb abschließend die Gelegenheit nutzen, ethisches Rüstzeug zu vermitteln und sie für Fehlverhal- allen unseren Soldatinnen und Soldaten, die in allen Tei- ten zu sensibilisieren. Sie ist ein dynamisches Konzept, len der Welt und auch an den Heimatstandorten für unser das den Soldaten unter sich wandelnden Bedingungen Vaterland ihren wichtigen und oftmals auch gefährlichen Orientierung für menschliches Verhalten gibt. Ich be- Dienst leisten, an dieser Stelle ganz herzlich Dank sagen. grüße deshalb ausdrücklich die Ankündigung von Minis- Ich wünsche ihnen und ihren Angehörigen in der Heimat ter Dr. Jung, dass die bundeswehrinterne Dienstvor- ein friedvolles und gesegnetes Weihnachtsfest und für schrift zur inneren Führung an die Herausforderungen das vor uns liegende Jahr das notwendige Soldatenglück unserer Zeit angepasst werden soll. und stets eine gesunde Rückkehr in die Heimat. Ich bin Gerade im Auslandseinsatz brauchen wir mitden- davon überzeugt, dass ich dies auch in Ihrer aller Namen kende und verantwortungsbewusst handelnde Soldaten. tun darf. Deswegen müssen den Soldaten rechtzeitig und gezielt Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die politischen Hintergründe eines Einsatzes vermittelt werden. Vor allem müssen sie mit den kulturellen, sozia- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP len und religiösen Besonderheiten des jeweiligen Ein- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) satzlandes vertraut gemacht werden. Wir haben aber auch dafür Sorge zu tragen, dass die Vizepräsident Dr. h. c. : innere Führung im multinationalen Einsatzverbund Ich erteile das Wort Kollegin Anita Schäfer, CDU/ Handlungsmaxime für die Bundeswehr bleibt. Sie darf (B) CSU-Fraktion. nicht auf Druck verbündeter Staaten ausgehöhlt werden. (D) (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Auf diese Verantwortung hat insbesondere die Deutsche Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Bischofskonferenz in ihrer Denkschrift „Soldaten als Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Diener des Friedens“ eindringlich hingewiesen. Wehrbeauftragter, im Namen meiner Fraktion danke ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern für Ihre wichtige Arbeit, Der EUFOR-Einsatz der Bundeswehrsoldaten im die Sie im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten Kongo geht fristgerecht zu Ende. Die ersten Soldaten leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Medien- sind bereits heimgekehrt. Die Zielsetzung der Kongo- berichten der vergangenen Wochen musste die Bundes- mission konnte bislang erreicht und ein neuer Bürger- wehr viel Kritik über sich ergehen lassen. Es wäre je- krieg verhindert werden. Für diese Leistung sind wir un- doch falsch und verhängnisvoll, die Bundeswehr unter seren Soldaten zu Dank verpflichtet. Generalverdacht zu stellen. Die Vorgänge sind konse- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- quent aufzuklären und nach individueller Verantwortung neten der SPD) zu beurteilen. Das Fehlverhalten Einzelner darf nicht dazu führen, dass die überwiegende Zahl von Bundes- In Afghanistan, auf dem Balkan, am Horn von Afrika wehrsoldaten, die höchst beachtliche Leistungen erbrin- und an den Küsten des Libanon stehen deutsche Einhei- gen, diskreditiert wird. ten weiterhin in schwierigen Einsätzen. Gerade in Afghanistan ist die sicherheitspolitische Situation ge- Trotzdem zeigen uns die bedauerlichen Vorfälle in fährlich und unkalkulierbar. Das gilt auch für den Nord- Afghanistan, wie wichtig der Wehrbeauftragte als Früh- sektor und die Hauptstadt Kabul. Die Bundeswehr erfüllt warnsystem ist. Seine Aufgabe gewinnt im Zeichen von dort ihren Auftrag professionell und engagiert. Deswe- Transformation und Auslandseinsätzen erheblich an Be- gen brauchen wir uns in Sachen Leistungsfähigkeit vor deutung. Sie verlangt deswegen – auch und gerade in der keinem Verbündeten zu verstecken. Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Deutschen Bundestages – Fingerspitzengefühl. Der Bericht des Wehrbeauftragten macht allerdings deutlich, dass der Sinn von Auslandseinsätzen den Sol- Bedenken und Anregungen des Wehrbeauftragten daten besser vermittelt werden muss. Nur wenn die Sol- sollten zuerst in die parlamentarischen Gremien einge- daten von einem Einsatz überzeugt sind, bringen sie das bracht werden, bevor es zu öffentlichen Stellungnahmen entsprechende Engagement mit. Wir müssen deswegen kommt. Diese Reihenfolge sollte künftig wieder einge- vor jeder Entsendung transparent machen, für welche Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7303

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) Werte, Ziele und Interessen unsere Soldaten notfalls der Kassenlage setzt. Ich begrüße deswegen sehr, dass (C) Leib und Leben zu riskieren haben. Dies haben Sie, Herr die jetzige Regierung die knappe Mittellage bei der Verteidigungsminister, in Ihrer Rede vor dem Zentrum Truppe erkannt hat und schon im Haushaltsjahr 2008 Innere Führung noch einmal klar herausgestellt: deutlicher gegensteuern will. Wir werden die Bundes- kanzlerin hier beim Wort nehmen. Wir müssen die politischen Begründungen für Aus- landseinsätze für den Staatsbürger mit und ohne (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Uniform so einleuchtend wie möglich formulieren. FDP) Denn die Überzeugungskraft der Begründung hat Die mittelfristige Finanzlinie ist sicherlich ein erster unmittelbare Auswirkungen auf die Auftragserfül- wichtiger Schritt hin zur Stabilisierung des Einzel- lung. plans 14. Sie wird aber den vielfältigen Anforderungen (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wo er Recht hat, einer modernen Einsatzarmee nicht gerecht. Hier sind hat er Recht!) neben dem Verteidigungsminister die Verteidigungspoli- tiker aller Fraktionen gefordert, konstruktive Vorschläge Wir sollten alles dafür tun, dass die Kommunikation mit einzubringen und gemeinsam mit den Haushaltspoliti- unseren Soldaten, aber auch mit der Bevölkerung diesem kern umzusetzen. Anspruch künftig gerecht wird. Die Einsatzrealität der Bundeswehr ist auch für die Wenn die Entsendung in einen Einsatz beschlossene Nachwuchssituation der Streitkräfte von zentraler Be- Sache ist, müssen Ausrüstung, Versorgung und Schutz- deutung. Im Bericht des Wehrbeauftragten wird ein- niveau der Soldaten stimmen. Das sollte an sich selbst- dringlich festgestellt: verständlich sein. Insbesondere der Mangel an personellen Ressour- (Beifall bei der FDP) cen erweist sich in zunehmendem Maße als Pro- Trotzdem sind in dem Bericht des Wehrbeauftragten blem. Es betrifft den Bereich des Sanitätswesens Beispiele für Ausstattungsmängel im Einsatz aufgelistet. ebenso wie den der Operativen Information, der Darauf habe ich schon in meiner letzten Plenarrede deut- Heeresfliegertruppe, der Feldjäger, Fernmelder oder lich hingewiesen. Die Stellungnahme des BMVg zu die- Pioniere. sen Punkten wird dem Problem allerdings nicht immer Betroffen sind also gerade die Spezialisten, die das gerecht. Ich nenne exemplarisch die Verschleißerschei- Rückgrat bei Stabilisierungsoperationen bilden und ge- nungen am viel genutzten Einsatzfahrzeug Wolf und die genwärtige wie künftige Einsätze der Bundeswehr maß- Klagen über die unzureichende Materialausstattung von geblich prägen. (B) Kräften der NATO Response Force. Dieser Zustand ist (D) bedenklich. Ich hoffe, dass sowohl die politische als Dies ist auch dem Weißbuch zu entnehmen. Dort wird auch die militärische Führung hier konsequenter Verbes- eine Zielgröße von maximal 14 000 Soldaten angegeben, serungsmaßnahmen treffen. die gleichzeitig für Stabilisierungsoperationen einsetzbar sein sollen. Angesichts der knappen Personalressourcen Auch mit Blick auf die EUFOR-Mission im Kongo bei Spezialisten wird diese Vorgabe nicht leicht zu errei- müssen wir die Kritik von Soldaten bezogen auf Unter- chen sein. Fest steht: Das BMVg ist in der Personalfrage bringungs-, Versorgungs- und Ausrüstungsmängel ernst sensibilisiert und leistet im Bereich der Nachwuchsarbeit nehmen. Deshalb begrüße ich sehr, dass nach Beendi- bereits Erhebliches. gung dieses Einsatzes ein umfassender Evaluierungsbe- Im Übrigen zeigt sich hier, meine Damen und Herren richt für den Verteidigungsausschuss erstellt wird. Nur von der Opposition, wie töricht Ihre Forderung nach Ab- wenn wir die Schwachpunkte klar erkennen und die be- schaffung der Wehrpflicht ist; denn ohne Wehrpflicht rechtigte Kritik unserer Soldaten aufgreifen, sind wir für müssten wir erhebliche Einbußen bei dem Gewinnen künftige Einsätze dieser Art gewappnet. So können wir von qualitativ hochwertigem Personal hinnehmen. Al- auch einem Vertrauensverlust bei den Soldaten entge- lein ein Drittel des länger dienenden Personals wird über genwirken. Wehrpflichtige gewonnen. Für die Qualitätsbasis der Der Bericht des Wehrbeauftragten lässt es an warnen- Streitkräfte ist die Wehrpflicht also unverzichtbar. In die- den Hinweisen auf die Kluft zwischen Auftrags- und sem wichtigen Punkt schafft das neue Weißbuch endlich Mittellage der Bundeswehr nicht fehlen. Ja, er sieht so- Planungssicherheit für unsere Soldatinnen und Soldaten. gar die Bundeswehr an den Grenzen ihrer Leistungsfä- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) higkeit angelangt. Der Bericht liegt damit leider in Tra- ditionslinie zu den Vorgängerberichten in den letzten Dabei ist allerdings für mich klar: Wir müssen noch Jahren. Selbst im aktuellen Weißbuch ist von einem mehr in die Nachwuchswerbung und Möglichkeiten der „Spannungsverhältnis zwischen den verteidigungspoliti- Weiterbildung bei den Streitkräften investieren. Sonst schen Erfordernissen und dem finanziellem Bedarf für kann die Bundeswehr in Konkurrenz zum zivilen Ar- andere staatliche Aufgaben“ die Rede. Dieses Span- beitsmarkt nicht mithalten. Es wäre keine gute Entwick- nungsverhältnis droht zu einem strukturellen Problem zu lung, wenn künftig die Truppe Abstriche bei ihrem Per- werden. Wir sind, was die Haushaltslage angeht, keine sonal machen müsste, weil sie für Bewerber zu wenig Illusionisten. Doch eines müssen wir klar herausstellen: attraktiv ist. Gerade eine professionelle Einsatzarmee er- Es wäre fatal, wenn die deutsche Sicherheitspolitik ihre fordert mehr denn je einen intelligenten, belastungs- und Prioritäten nicht nach der Bedrohungslage, sondern nach leistungsfähigen Soldatentypus. 7304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) Aus diesen Gründen ist es absolut inakzeptabel, dass Ihr Bericht sind auch deshalb glaubwürdig, weil Sie sich (C) zwei Drittel der Soldatinnen und Soldaten zu den unte- durch zahlreiche unangekündigte Truppenbesuche ein ren Lohn- oder Einkommensgruppen gehören. Für ein authentisches Bild verschaffen konnten. attraktives und konkurrenzfähiges Berufsbild Bundes- Ich möchte diese Debatte am Ende des Jahres wie wehr ist eine moderne Besoldungsordnung unverzicht- meine Vorredner auch dazu nutzen, den Soldatinnen und bar. Am Ende der Debatte muss eine materielle Verbes- Soldaten zu danken, die für den Schutz unserer Freiheit serung der Soldaten stehen. Darüber hinaus müssen wir ihren hochverantwortlichen Dienst verrichten. Wir soll- die soziale Absicherung der Realität einer Einsatzarmee ten den heutigen Tag auch zum Anlass nehmen, an dieje- anpassen. Dazu gehört insbesondere, im Einsatz ver- nigen Soldatinnen und Soldaten zu denken, die das sehrte Soldaten beruflich weiterzubeschäftigen. Selbst- Weihnachtsfest fern von der Heimat verbringen müssen. verständlich müssen wir auch eine Familienbetreuung auf hohem Niveau gewährleisten. Herr Verteidigungsmi- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ nister Dr. Jung, ich danke Ihnen im Namen unserer Frak- DIE GRÜNEN) tion ausdrücklich dafür, dass Sie in diesen wichtigen Punkten beharrlich voranschreiten. Herr Robbe, Sie haben einen Brief an den Verteidi- gungsausschuss geschrieben, in dem Sie erneut auf (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schwere Ausrüstungsmängel im Rahmen des Kongoein- Soldat sein ist eben nicht irgendein Job. Wer für die satzes aufmerksam gemacht haben. Die Bundesregie- Sicherheit unseres Landes in gefährlichen Missionen den rung müsste daraus Konsequenzen ziehen. Das Problem Kopf hinhält, der verdient mindestens ein hohes Maß an scheint aber zu sein, dass sich der Verteidigungsminister materieller und sozialer Absicherung. Er verdient da- hinsichtlich der Ausbildungs- und Ausrüstungssitua- rüber hinaus die besondere Anerkennung von Politik und tion in einer anderen Realität wähnt. Herr Jung, Sie ha- Gesellschaft. ben mir gegenüber am 22. November behauptet, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten, die sich in riskan- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ten Auslandseinsätzen befinden, eine optimale Ausbil- neten der SPD) dung gewähren und eine optimale Ausrüstung mitgeben. Gerade wir Parlamentarier stehen hier in der Pflicht, uns Glauben Sie das wirklich? Es müsste doch inzwischen für ein neues Ethos des Soldatenberufes stark zu ma- bekannt sein, dass gerade Personenschäden bei Anschlä- chen. gen auf deutsche Soldaten hätten verhindert werden kön- nen, wenn Ihr Ministerium beispielsweise die am Markt Meine Damen und Herren, all unseren Soldatinnen vorhandenen Jammer gegen Sprengfallen rechtzeitig be- und Soldaten wünsche ich an dieser Stelle ein gesegnetes schafft hätte. Insofern waren die Ausrüstungsdefizite im (B) und vor allem ein friedvolles und friedliches Weih- Kongo zwar ärgerlich, anderswo aber hatten sie unmit- (D) nachtsfest und ein gesundes, gutes neues Jahr 2007. telbare Auswirkungen auf die Gesundheit unserer Solda- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ten. Auch der nun endlich in Gang gesetzte beschleu- nigte Zulauf von 100 Dingo 2 im nächsten Jahr ist hier (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der nur ein nächster Schritt. FDP) Sie schützen immer wieder fehlende Haushaltsmittel vor. Aber wer A sagt, muss auch B sagen. Die Bundesre- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gierung muss endlich deutlich machen, was ihr die zahl- Ich erteile das Wort Kollegin Elke Hoff, FDP-Frak- reichen Einsätze der Bundeswehr als Instrument der Au- tion. ßenpolitik wert sind. Die große Koalition hat im (Beifall bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜND- Koalitionsvertrag vereinbart, dass sichergestellt werden NIS 90/DIE GRÜNEN]: Weisen Sie das mit müsse, künftige Auslandseinsätze aus dem Einzel- der Wehrpflicht zurück!) plan 60 zu finanzieren. Was haben Sie davon bisher um- gesetzt? Nichts. Ähnlich inkonsequent zeigt sich die Bundeskanzlerin: Ja, man brauche mehr Geld für die Elke Hoff (FDP): Bundeswehr. Nein, 2007 gebe es noch keines. Wann Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten denn, bitte schön? Wie viel und wofür? Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Jah- resbericht 2005 des Wehrbeauftragten abschließend im Besonders groß ist der Unmut derzeit im zentralen Plenum. Deswegen, Herr Wehrbeauftragter Robbe, darf Sanitätsdienst. Hier ist die Personalsituation derart an- ich Ihnen und besonders Ihren Mitarbeitern sehr herzlich gespannt, dass sich die Betroffenen auch öffentlich deut- für die hervorragende Arbeit danken, die weit über die liches Gehör verschaffen. Die Bundesregierung verkauft Vorlage dieses Jahresberichts hinausgeht. es schon als einen Erfolg, wenn die Beschaffung einer Grundbefähigung geschützter Sanitätsfahrzeuge bis (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 2010 geplant ist. Andere Projekte muss sie sogar über der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- zehn Jahre hinweg strecken. Ich darf daran erinnern, SES 90/DIE GRÜNEN) dass die Grundbefähigung lediglich die materielle Min- Ihr Amtsverständnis als ein öffentlich agierender Hü- destanforderung für den Einsatz darstellt. Nach den eige- ter der Interessen unserer Soldatinnen und Soldaten tut nen Kriterien der Bundeswehr wäre der zentrale Sani- zwar manchem in der Koalition hin und wieder weh, tätsdienst nur bedingt einsatzfähig. Auch die personelle aber bleiben Sie unbeirrt. Denn Ihr Kontrollauftrag und Besetzung lässt bestenfalls diese Einschätzung zu: Le- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7305

Elke Hoff (A) diglich 55 Prozent der Truppenärzte stehen der truppen- der Themen, die in Ihrem Bericht auftauchen, werde ich (C) ärztlichen Versorgung tatsächlich zur Verfügung. Statt nur zwei oder drei Punkte herausgreifen. jedoch einzuräumen, dass es Probleme gibt und diese Zitat: ausgeräumt werden müssen, werden diejenigen, die den Betrieb aus jahrelanger eigener Erfahrung gut kennen Ohne die jungen Frauen ist in keiner Laufbahn eine und die Probleme artikulieren, als Einzelfälle gebrand- Bedarfsdeckung mehr zu erreichen. markt, bei denen – wie es dann heißt – Inhalt und Ziel der Transformation noch nicht in allen Köpfen ange- Ein erstaunlicher Satz. Das war eine Feststellung, die wir kommen sind. im Unterausschuss „Innere Führung“ zu hören bekom- men haben; Es muss beim Umgang mit der Bundeswehr bald zu (Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Ja!) einem Paradigmenwechsel kommen; denn sonst verliert sie als Arbeitgeber immer mehr an Attraktivität. Schon siehe Protokoll vom 27. September 2006. Wer hätte sich heute müssen die Kriterien für diejenigen freiwillig län- das vor einigen Jahren vorstellen können? Deshalb ist ger Wehrdienst Leistenden herabgesetzt werden, die die Frage des Umgangs mit Frauen und ihrer Integration nicht im Auslandseinsatz verwendet werden. Ich bin in die Bundeswehr immer ein besonderes Thema. froh, dass zumindest mit dem Weiterverwendungsge- setz nun hoffentlich der Anspruch auf Weiterbeschäfti- Nun kann man sagen: Immer das Gleiche; das haben gung für im Einsatz zu Schaden gekommene Soldaten wir schon zigmal durchgekaut. – Aber so ist es eben und geschaffen wird. auch im Bericht des Wehrbeauftragten ist das immer wieder Thema. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Ich begrüße es ausdrücklich, dass der Prozess der Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Integration von Frauen in die Bundeswehr weiterhin Ich hoffe, dass sich das Verteidigungsministerium hier durch das Sozialwissenschaftliche Institut untersucht gegenüber dem Justizministerium durchsetzen wird. Der und begleitet wird. Ich bin sehr gespannt auf den Be- aus diesem Bereich vorgebrachte Einwand, das Gesetz richt, der nächstes Jahr vorliegen soll. verstoße gegen das Leistungsprinzip, ist aus meiner Grundsätzlich geschieht die Integration von Frauen in Sicht unerträglich. die Bundeswehr problemlos und störungsfrei. Das hat (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried der Wehrbeauftragte festgestellt und das ist auch unser Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Eindruck, wenn wir die Truppe besuchen. Auch die Bun- deswehr selber stellt es so dar. Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, es bleibt für Sie (B) und uns alle im nächsten Jahr viel zu tun, um die Bun- Dennoch sind immer wieder auch Verbesserungen nö- (D) deswehr auf ihrem schwierigen Weg durch die Transfor- tig, zum Beispiel beim Sprachgebrauch. Aus meiner mation zu begleiten. Dafür wünsche ich Ihnen und auch Sicht kommt es viel zu häufig zu verbalen Entgleisungen uns weiterhin eine gute Hand. Bei allen Kollegen, insbe- und auch zu sexuellen Übergriffen, nicht nur von gleich- sondere bei den Kolleginnen und Kollegen des Verteidi- rangigen Kameraden, sondern ebenso von Vorgesetzten. gungsausschusses, darf ich mich für die gute Zusam- Mangel in der Sprachdisziplin und im Führungsverhal- menarbeit sehr herzlich bedanken. ten treten nicht nur im Umgang mit Frauen auf, was uns der Bericht deutlich macht. Das Ministerium räumt hier (Zurufe von der CDU/CSU: Gleichfalls!) Handlungsbedarf ein. Ich erwarte allerdings, dass das Ich wünsche Ihnen ein frohes, ein glückliches, ein be- Ministerium nicht nur die Mängel, die im Bericht des sinnliches Weihnachtsfest, einen guten Rutsch ins neue Wehrbeauftragten aufgeführt werden, einräumt, sondern Jahr und viel Gesundheit. Ich freue mich auf die weitere auch Vorschläge unterbreitet, wie diese abzustellen sind. Zusammenarbeit im nächsten Jahr. Zum Führungsverhalten noch ein Aspekt. Die Ein- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD richtung, die Aufgaben, die Stellung und die Funktion und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu- des Wehrbeauftragten finden meine volle Unterstützung. rufe von der CDU/CSU: Wir auch!) Viele Länder holen sich Rat und Anregung zu dieser In- stitution. Trotzdem frage ich mich oft: Warum gehen die Petenten mit ihren Problemen eigentlich nicht zu den Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vorgesetzten? Warum ist das Verhältnis offensichtlich Ich erteile das Wort Kollegin Hedi Wegener, SPD- nicht so, dass sie davon ausgehen, ihre Vorgesetzten Fraktion. würden sie anhören und etwas für sie tun? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Heute Morgen haben uns im Unterausschuss „Innere der CDU/CSU) Führung“ fünf Generäle zu dem Problem der grundsätz- lichen Ausbildung und der einsatzbezogenen Ausbil- Hedi Wegener (SPD): dung Rede und Antwort gestanden. Sie sind zu dem Ver- Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Herr Minis- trauensverhältnis gegenüber den Vorgesetzten und zu ter! Meine Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Ausbildung und Supervision befragt worden. Der Gene- Kollegen! Liebe Soldaten auf der Tribüne! Herr Wehrbe- ralinspekteur hat gesagt, die Persönlichkeitsbildung auftragter, recht herzlichen Dank Ihnen und Ihren Mitar- müsse verbessert werden. Wir nehmen das so auf und beitern für den Bericht und für die Arbeit. Aus der Fülle hoffen auf Besserung. 7306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Hedi Wegener (A) Darüber hinaus werfen natürlich die jüngst aufge- dung wollen. Die Aussage hat einen zweiten Aspekt, (C) tauchten Fotos von Soldaten Fragen auf: Sind unsere nämlich dass Frauen bei der Bewerbung zurückhaltender Soldaten den psychischen Anforderungen und Belastun- sind, weil sie bestimmte Vorstellungen hinsichtlich An- gen gewachsen? Wären solche Vorkommnisse zu verhin- gebot und Nachfrage haben. dern gewesen? Bestehen Defizite in der inneren Füh- rung? Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass es sich hier Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt sich immer wieder. Viele junge Frauen haben ganz um Einzelfälle handelt. Nichtsdestotrotz müssen wir die klare Vorstellungen von Teilzeit und Kinderbetreuung. Fragen beantworten und gegebenenfalls Abhilfe schaf- fen. Wir wünschen uns natürlich, dass das nicht nur ein Thema für Frauen ist. Wir wissen auch, dass sich viele Die Diskussion hat aber auch gezeigt, dass wir nicht Männer über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorschnell Urteile fällen dürfen. Die Einstellung des Gedanken machen. Verfahrens belegt, dass kein Straftatbestand vorliegt. Ge- Mit dem Attraktivitätsprogramm haben wir versucht, schmacklos und blöde war diese Handlung trotzdem. die Lage zu verbessern. Es bleibt jetzt abzuwarten, ob es Mir haben die Bilder noch etwas gezeigt: Kameradschaft Wirkung zeigt. hin oder her, wenn es einigen passt, geben sie Bilder weiter, von denen man vorher gedacht hat, dass sie nur Zum Schluss noch ein Wort an Sie, Herr Wehrbeauf- ein Kamerad hat, dass es ein Jux ist und das Ganze unter tragter. Herzlichen Dank für den Bericht! Wir danken für den Kameraden bleibt. die Empathie und die Hinweise. Aber ein Hinweis war überflüssig. Denn Beschlüsse und Entscheidungen des Meine Herren und Damen, wir Abgeordneten sind Bundestages hat der Wehrbeauftragte eigentlich nicht zu uns der wachsenden Belastung durch Transformation kommentieren. Sie, Herr Robbe, waren immer ein sehr und eine steigende Zahl von Auslandseinsätzen durch- autarker und unabhängiger Abgeordneter. Sie können aus bewusst. In unseren Wahlkreisen müssen wir uns sich sicherlich in unsere Lage versetzen. Diskussionen über Sinn und Unsinn, Zweck und Hinter- gründe von Auslandseinsätzen stellen. Viele, sehr viele Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Bürger wollen diese Einsätze nicht. Sie verstehen sie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nicht und unterstellen uns Abgeordneten, dass wir leicht- fertig und ohne uns der Konsequenzen bewusst zu sein darüber entscheiden. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Katrin Kunert, Fraktion Wegen der Belastung liegt uns die psychologische Die Linke. Betreuung während und nach dem Einsatz besonders (B) am Herzen. Der Einsatz von Truppenpsychologen ge- (Beifall bei der LINKEN) (D) winnt immer stärker an Bedeutung. Wir haben auch ei- nige Psychologen in unserem Unterausschuss „Innere Katrin Kunert (DIE LINKE): Führung“ angehört. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Sehr geehrter Herr Robbe! Bundes- Ich habe aber bedauerlicherweise den Eindruck, dass präsident Köhler beklagt, dass die Deutschen ihrer Bun- wir es mit einem Verschiebebahnhof zu tun haben. Denn deswehr mit einem freundlichen Desinteresse begegnen. die Gesamtzahl der dringend benötigten Psychologen Er wünscht sich eine breite gesellschaftliche Debatte – nimmt nicht zu; sie werden nur von einer Stelle zur an- nicht über die Bundeswehr, sondern über die Außen-, deren versetzt. Es ist sicherlich richtig, die Truppen im Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes. Einsatz verstärkt zu betreuen. Gleichzeitig kann es aber Das wünschen wir uns auch. nicht sein, dass die psychologische Beurteilung zum Beispiel bei der Einstellung von Zeitsoldaten wegfällt, Sie, Herr Robbe, wollen diese Debatte fördern. Ich weil die Psychologen im Auslandseinsatz sind. So ver- darf Sie zitieren: schieben wir nur ein mögliches Problem und müssen nachher unangenehme Folgen beklagen. Die Soldatinnen und Soldaten sollen nicht allein ge- lassen werden mit ihrem unverzichtbaren Auftrag, Hier sind wir Abgeordneten, insbesondere die Haus- unser Land zu verteidigen sowie für Frieden, Frei- hälter gefragt – ich sehe eine Haushälterin in unseren heit und Menschenrechte auch außerhalb Deutsch- Reihen –, sich des Problems anzunehmen. Vielfach han- lands einzutreten. delt es sich um Probleme bei der Finanzierung. Viele Menschen in unserem Land wollen mit Sicher- Lassen Sie mich noch einmal zum Thema Frauen in heit eine solche Debatte führen. Aber wie, frage ich Sie, der Bundeswehr zurückkommen. Ich zitierte eingangs soll das gehen, wenn sich diese Regierung ständig gegen die bemerkenswerte Feststellung, dass wir die Frauen in die Interessen der Mehrheit der Menschen im Land ver- der Bundeswehr brauchen. Eine ebenso bemerkenswerte hält? Erkenntnis ist, dass die Frauen bei ihrer Einstellung (Beifall bei der LINKEN) nicht so ergebnisoffen sind, weil sie genau wissen, was sie wollen. Dass Zielstrebigkeit ein Problem sein könnte, So beschließt die übergroße Mehrheit von Rot-Schwarz ist schon ein bemerkenswerter Wandel in der Wahrneh- ständig mehr Auslandseinsätze, obwohl die Mehrheit der mung. Ich weiß aber sehr wohl, wie das gemeint ist, Menschen mehr Sinn in humanitärer Hilfe sieht. Wer de- nämlich dass Frauen offensichtlich nicht jede Verwen- finiert eigentlich, was unverzichtbare Aufträge sind? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7307

Katrin Kunert (A) Ich stelle nach zwei Berichten des Wehrbeauftragten setzung des Verteidigungsausschusses als Untersu- (C) fest: Nichts Neues in der Bundeswehr. Jahr für Jahr gibt chungsausschuss „Kurnaz“ wurde vorgeschlagen, die es die gleichen Probleme. Trotz eines Gesamtvolumens Arbeit des Unterausschusses „Innere Führung“ we- in Höhe von 28 Milliarden Euro für den Verteidigungs- gen der Arbeitsbelastung nach dem Frühjahr 2007 einzu- etat im Bundeshaushalt gibt es erhebliche Defizite in der stellen. Ausgerechnet der Ausschuss, der solche Vor- Ausstattung und in der Betreuung der Soldatinnen und kommnisse wie die in Afghanistan aufzuarbeiten hat, Soldaten. soll eingestellt werden? Der Ausschuss, der die Fragen der Nachwuchswerbung begleiten muss, der sich mit den Skandalös ist für uns nach 16 Jahren deutscher Ein- Kriterien der Eignungsprüfung stärker zu befassen hat heit die immer noch unterschiedliche Besoldung in Ost und der in besonderem Maße Verantwortung für die poli- und West, tische Bildung und Vermittlung gesellschaftlicher Werte (Beifall bei der LINKEN) trägt, muss weiterarbeiten – und dies in einer besseren Qualität. die schrittweise bis 2009 aufgehoben werden soll. Ent- scheidungen für Auslandseinsätze werden in diesem (Beifall bei der LINKEN) Haus schneller getroffen. Wenn man eine Sitzung dieses Ausschusses in letzter Die Kürzung des Weihnachtsgeldes wurde nicht zu- Minute auf 7.30 Uhr ansetzt und man verkehrstechni- rückgenommen. Die Kasernen, insbesondere im Westen, sche Probleme hat, dann ist es wirklich schwierig, daran sind in einem schlechten Zustand. Hier braucht es einen teilzunehmen. Man muss diese Termine auch richtig pla- Aufbau West. Der Beförderungsstau macht immer noch nen. jedem Ferienstau Konkurrenz. (Zurufe von der CDU/CSU: Früher aufstehen! – Schaut man sich die Stellungnahme des Verteidi- Hedi Wegener [SPD]: Jeder Arbeiter fängt um gungsministeriums zum Bericht an, findet man dehnbare 7 Uhr an!) Formulierungen wie „geeignete Maßnahmen“, „sind Die im Bericht des Wehrbeauftragten aufgelisteten fortwährend bemüht“ oder „verstärkt einfordern“. Mängel stehen auch im Zusammenhang mit Auslands- Einschätzungen des Wehrbeauftragten, dass Erhebun- einsätzen. Das wiederholte Versagen der Verantwortli- gen der Bundeswehr über das Gesamtausmaß des Syn- chen in der Bundeswehr im Rahmen der Ausbildung und droms der posttraumatischen Erkrankungen von Sol- der Vorbereitung auf Auslandseinsätze sowie der psychi- datinnen und Soldaten im Einsatz fehlen, müssen wir lei- sche Stress für die Soldatinnen und Soldaten bei Aus- der bestätigen. Das Verteidigungsministerium wider- landseinsätzen bestärken die Fraktion Die Linke in ihrer spricht dieser Aussage und verweist auf Daten aus dem Forderung, den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus (B) (D) Jahre 1999. Diese Daten seien Grundlage für die umge- Afghanistan einzuleiten. setzten Betreuungs- und Versorgungskonzepte. Ich danke Ihnen. Den wiederholten Hinweis, dass diese Erkrankung (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert auch bei der Feuerwehr und der Polizei auftrete, nehmen Winkelmeier [fraktionslos]) wir nicht hin. Posttraumatische Erkrankungen treten in der Bundeswehr seit Beginn der Auslandseinsätze auf. Das ist genau der Punkt. Es darf nicht sein, dass ein jun- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ger Mann aus Afghanistan zurückkommt und ein halbes Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei, Jahr nicht mehr spricht. Wissen Sie wirklich um die Be- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. dingungen und Gefahren, wenn Sie deutsche Soldatin- nen und Soldaten ins Ausland schicken? Wir bezweifeln Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): das sehr stark. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Lieber Kollege Reinhold Robbe! Kollegin Kunert, eine Winkelmeier [fraktionslos]) Klarstellung, was das weitere Tagen des Unteraus- schusses „Innere Führung“ angeht: Schon vor Einset- Der Wehrbeauftragte hat eine Bundesstiftung zur Ent- zung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungs- schädigung von Strahlenopfern angeregt. Das unterstüt- ausschuss hatten wir vereinbart, dass der Unterausschuss zen wir. an sein Beratungsende gekommen ist. Wir stellen ihn also nicht zugunsten des Untersuchungsausschusses ein, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sondern haben intensiv genug beraten und kommen jetzt Das Verteidigungsministerium hingegen hält dies für zu einem Ergebnis. nicht vertretbar. Warum nicht? Das werden wir noch ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mal auf die Tagesordnung setzen. bei der CDU/CSU und der SPD) Ich meine, dass die im Bericht immer wieder aufge- In diesem Jahr wird das Amt des Wehrbeauftragten zeigten Mängel ein Beleg dafür sind, dass nicht ernsthaft 50 Jahre alt. Da trifft es sich sehr gut, dass vor wenigen an der Beseitigung der Mängel gearbeitet und so manche Tagen hierzu ein etwas weniger trockener Bericht, als es Beschwerde bagatellisiert wird. eine Bundestagsdrucksache ist, vorgestellt wurde. Es ist Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der gerade ein wirklich ansehnliches Büchlein über das Amt des in der heutigen Zeit für uns sehr wichtig ist. Nach Ein- Wehrbeauftragten und nicht so voluminös wie manch 7308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Winfried Nachtwei (A) andere Bände aus diesem Hause, die möglicherweise der ganz besonders umstritten war und dessen Rahmen- (C) waffenscheinpflichtig sind. Es ist sehr zu empfehlen. bedingungen – Stichworte: Unterbringung, Feldlager – auch wirklich unzumutbar waren. Umso erfreulicher ist, Ihm ist einiges über die Entstehung des Amts des dass der Eufor-Einsatz in der waghalsig knappen Zeit Wehrbeauftragten zu entnehmen. Die Idee ist von dem von vier Monaten erfolgreich abgeschlossen werden SPD-Abgeordneten Ernst Paul in den Bundestag einge- konnte. Zur Erinnerung: Der andere Kongoeinsatz, an bracht worden. Man hat sich damals das entsprechende dem sich die Bundeswehr beteiligt hat – das war „Arte- Amt in Schweden als Vorbild genommen. Dort heißt es: mis“ im Jahre 2003 –, war ebenfalls sehr erfolgreich, al- „Militie-Ombudsman“. Der damalige Bundeskanzler lerdings ist er kaum in das öffentliche Bewusstsein ge- Adenauer war massiv dagegen. Der Bundestag hat es langt. hinbekommen, diese Einrichtung zu installieren. Offen- sichtlich waren die meisten Fraktionen dafür. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Es wird in diesem Buch auch richtig festgestellt, dass dieses Amt in der deutschen Verfassungs- und Militärge- Umso dringlicher ist es vor diesem Hintergrund, dass schichte ohne Beispiel ist. Inzwischen ist es längst endlich eine Gesamtbilanzierung und Auswertung von selbstverständlich und unverzichtbar. Es ist also gut, Auslandseinsätzen geleistet werden. Es ist gut, aber dass es dieses Amt gibt, und sehr gut, dass es so gut aus- nicht ausreichend, wenn die grüne Partei auf ihrem Par- gefüllt wird. Danke schön Ihnen, Herr Robbe, sowie Ih- teitag beschlossen hat, das selbst vorzunehmen. Wir tun ren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern! das gern. Aber das sollte auch vom Parlament insgesamt und von der Regierung geleistet werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP so- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wie bei Abgeordneten der LINKEN) Dass der Wahlprozess im Kongo so gut vonstatten Seit der Vorlage des letzten Berichtes im März haben ging – manche sprechen hier sogar von einem irdischen sich einige Grundprobleme verschärft. Dieser Bericht ist Wunder –, ist ein Gemeinschaftswerk von vielen. Es ja überwiegend ein Mängelbericht. Es wird unter dem wäre angemessen, öffentlich den Deutschen zu danken, Kapitel „soldatisches Fehlverhalten“ vermerkt, dass die dazu beigetragen haben, den Wahlbeobachterinnen es in diesem Bereich eine nicht unerhebliche Dunkelzif- und Wahlbeobachtern, den Soldaten, Diplomaten, den fer gebe. Diese Aussage hat sich dann ja in unerwarteter deutschen MONUC-Mitarbeitern. Das sollte, so meine Weise mit den berühmt-berüchtigten Skandalfotos und ich, im nächsten Jahr mit einer gemeinsamen öffentli- ihrer Veröffentlichung bestätigt. Die dort gezeigten ma- chen Veranstaltung von Bundesregierung und Parlament kaber-obszönen „Spiele“ wurden vor sieben Wochen (B) geschehen. (D) einhellig verurteilt; ihnen wurde sehr genau nachgegan- gen und in der Sache wurde entschieden ermittelt. Die Ich danke Ihnen. befürchteten gefährlichen Reaktionen in Afghanistan (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN blieben glücklicherweise aus. Zugleich wurde aber auch und bei der SPD) Folgendes deutlich, nämlich dass es in der Tat offen- sichtlich einzelne Fälle waren, dass es sich dabei also Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nicht um die Spitze eines Eisbergs handelte. Ich erteile das Wort Gert Winkelmeier. Auch etwas anderes wurde hoffentlich noch etwas deutlicher, dass nämlich die Anforderungen, die heutzu- Gert Winkelmeier (fraktionslos): tage an Soldaten in solchen Einsätzen gestellt werden, Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der enorm groß sind. So genannte Robustheit wird erwar- Bericht des Wehrbeauftragten veranlasst mich, zunächst tet, auch Sensibilität und Verhaltenssicherheit – und das einige grundsätzliche Anmerkungen zur Außen- und Si- alles von jungen Soldaten. Das sind Anforderungen, die cherheitspolitik Deutschlands zu machen, die von der hierzulande so in normalen Berufen nicht gestellt wer- Mehrheit dieses Hauses gebilligt wird. Es ist eine Poli- den. Eine enorme Herauforderung besteht darin, in der tik, die seit 1990 zunehmend auf die Bundeswehr als Ausbildung darauf vorzubereiten und durch Menschen- Instrument zur Gestaltung der Außenpolitik setzt. führung dazu anzuhalten. Ich habe den Eindruck – er Dabei gerät total in Vergessenheit, dass die außenpoliti- wird von den verteidigungspolitischen Kollegen bzw. schen Erfolge vor der Wende mit diplomatischen Mitteln Kolleginnen weitestgehend geteilt –: Diese Herausforde- errungen wurden: nach Westen durch die europäische In- rung wird von der Bundeswehr insgesamt bemerkens- tegration, nach Osten durch die Politik Willy Brandts wert gut gemeistert. und den KSZE-Prozess. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) und bei der SPD sowie der Abg. Elke Hoff [FDP]) Beides basierte übrigens auf einem klaren Konzept. Verschärft haben sich in diesem Jahr die Zweifel am Davon kann heute keine Rede mehr sein. Wie ihre Sinn von Einsätzen. In diesem Zusammenhang sind zu Vorgängerregierungen schwankt auch die große Koali- nennen: die krisenhafte Entwicklung in Afghanistan, der tion zwischen Großmannssucht und Vasallentreue zur neue, zuerst sehr umstrittene Dauereinsatz vor der Küste USA. Altkanzler Helmut Schmidt sieht das anscheinend des Libanon und schließlich der EU-Einsatz im Kongo, ähnlich – ich zitiere –: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7309

Gert Winkelmeier (A) Die NATO ist ein militärisches Verteidigungsbünd- ten Bilder, wie wir sie seit Jahren aus dem Irakkrieg (C) nis, kennen, zur Regel werden, allerdings dann mit Beteili- gung deutscher Soldaten. Das kann niemand wollen. – hören Sie gut zu – Selbst auf die Gefahr hin, dass ich gleich unterbro- dem der potenzielle Feind abhanden gekommen ist. chen werde, wünsche ich allen Zuhörerinnen und Zuhö- Und jetzt suchen die militärischen und diplomati- rern ein friedvolles Weihnachtsfest, einen guten Rutsch schen Bürokraten des Bündnisses neue Aufgaben ins neue Jahr. Insbesondere wünsche ich den Mitgliedern … Die Aufgabe der Verteidigung im Notfall muss des Verteidigungsausschusses, dass ihrem Weihnachtsur- bestehen bleiben. Aber deswegen muss ich mich laub nicht durch irgendeinen unsinnigen militärischen nicht verpflichtet fühlen, im Irak oder Syrien die Auslandseinsatz unterbrochen wird. Demokratie zu verwirklichen … Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Da würde ich zurückhaltend sein, auch bei den so genannten friedenserhaltenden militärischen Missio- nen … Ich habe mich nie als politischer Zwerg ge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: fühlt, aber auch keinen Sitz im UN-Sicherheitsrat Ich erteile das Wort Kollegin Gabriele Fograscher, angestrebt. SPD-Fraktion. Zitiert nach „Focus“-Interview, 24. Kalenderwoche 2005. Gabriele Fograscher (SPD): (Jörg Tauss [SPD]: Helmut Schmidt und Die Herr Präsident! Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolle- Linke!) ginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend – Ja, das ist eine Schande. Herr Tauss, wir müssen uns den Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten. Eine Viel- aber auf ihn berufen, weil Sie sich von seiner Politik zahl von Problemen, die darin aufgelistet ist, wird uns vollkommen abgekehrt haben. im kommenden Jahr und darüber hinaus beschäftigen müssen. (Beifall bei der LINKEN) Der Bericht zeigt auf, wo Handlungsbedarf besteht. Diese Haltung stünde auch der Bundesregierung gut Vieles lässt sich nur lösen – das ist schon angesprochen zu Gesicht; stattdessen erklärt sich die Merkel-Regie- worden –, wenn die Bundeswehr in Zukunft die finanzi- rung zum Hilfsweltpolizisten, wie man dem jüngsten elle Ausstattung erhält, die sie ihren Aufgaben entspre- Weißbuch entnehmen muss. Hat diese Regierung aus chend braucht. Dazu gehört neben der besten Ausrüs- (B) dem sich abzeichnenden Desaster in Afghanistan nichts tung – das haben die Vorrednerinnen und Vorredner (D) gelernt? Offensichtlich nicht. Sonst würde der Verteidi- bereits angesprochen – auch die angemessene Besol- gungsminister nicht öffentlich über einen Einsatz im Su- dung und gute Aufstiegsmöglichkeiten für Soldatinnen dan nachdenken. und Soldaten. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die un- NEN]: Dafür müssen wir den Verteidigungs- terschiedliche Besoldung in Ost und West immer noch minister loben, nicht kritisieren! Dem ist das nicht beseitigt. Beim täglichen Dienst im In- oder Aus- nicht egal!) land spielt es keine Rolle, ob jemand aus den neuen oder aus den alten Bundesländern kommt. Die Angleichung Die Soldaten unseres Landes müssen in nicht weni- der Besoldung im einfachen und mittleren Dienst soll bis gen Auslandseinsätzen ihr Leben riskieren. Ihnen dafür Ende 2007, für höhere Dienstgrade bis 2009 vollzogen auch noch das Weihnachtsgeld um 70 Prozent zu kürzen, sein. Da es sich laut Stellungnahme der Bundesregierung halte ich für unverschämt. Das zeigt die Wertschätzung, um eine überschaubare Anzahl von Betroffenen handelt, die diese Regierung ihren Soldaten entgegenbringt, am wäre es ein gutes und richtiges Signal, diesen Zeitrah- deutlichsten. men nicht auszuschöpfen. Was ich im Jahresbericht 2005 vermisse, sind klare Ein weiterer Punkt, der in der Truppe Frustrationen Aussagen zum Prinzip der inneren Führung und zum und Enttäuschungen verursacht, sind die unzureichenden Leitbild des Staatsbürgers in Uniform. Ich sage das, Beförderungschancen. Es gibt in allen Dienstgradgrup- weil ich mit Sorge sehe, dass im Kopf des einen oder an- pen zu wenige Planstellen. Überall entstanden in der deren Spitzenmilitärs seit Jahren ganz andere Leitbilder Vergangenheit Wartezeiten, die je nach Teilstreitkraft herumspuken. Immerhin wünscht sich der Inspekteur unterschiedlich ausfallen. des Heeres den „archaischen Kämpfer“ und den High- techkrieger. Offensichtlich soll das Leitbild des Staats- Das Attraktivitätsprogramm hat eine Verbesserung bürgers in Uniform entsorgt werden, weil es einigen in bei Beförderung und Besoldung geschaffen. Allein in einer Einsatzarmee lästig geworden ist. den Jahren 2002 bis 2005 gab es zusätzliche Besoldungs- verbesserungen für 34 600 Mannschaftsdienstgrade und (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) zusätzlich 35 100 Beförderungen für alle Laufbahnen, Ich fordere den Wehrbeauftragten auf, diesen gefährli- davon allein rund 26 700 für Feldwebeldienstgrade. Na- chen Tendenzen in der Bundeswehrführung mit größt- türlich löst das Attraktivitätsprogramm den langjährigen möglicher Schärfe entgegenzutreten; andernfalls könn- Beförderungsstau nicht in kürzester Zeit auf. Aber es ist 7310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Gabriele Fograscher (A) notwendig – darüber freue ich mich –, dass das Attrakti- Ich darf Ihnen das Buch „Zum Schutz der Grund- (C) vitätsprogramm mit den im Haushalt 2007 vorgesehenen rechte …“, das in dieser Woche vorgestellt wurde, emp- Verbesserungen fortgesetzt wird. Damit werden rund fehlen. Es enthält interessante Details zur Historie des 3 400 zusätzliche Beförderungen ermöglicht. Wehrbeauftragten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Weitere Probleme bei Besoldung und Laufbahn müs- der CDU/CSU) sen im Rahmen der Novellierung des Öffentlichen Dienstrechts unter Federführung des BMI gelöst werden. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Hier gilt es, sich rechtzeitig in die Diskussion einzu- Ich schließe die Aussprache. schalten, damit den besonderen Bedürfnissen der Solda- tinnen und Soldaten Rechnung getragen wird. Wir haben Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Vertei- es vorhin schon gehört: Zwei Drittel von ihnen sind im digungsausschusses zum Jahresbericht 2005 des Wehr- unteren und mittleren Dienst. Auch dem muss Rechnung beauftragten, Drucksachen 16/850 und 16/3561. Wer getragen werden. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Neben diesen und vielen anderen Problemen, die nur ist einstimmig angenommen. zu lösen sein werden, wenn mit den Aufgaben auch die finanzielle Ausstattung wächst, zeigt der Bericht auch Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: andere Missstände in der Truppe auf. Probleme der Ge- Beratung des Antrags der Abgeordneten sellschaft machen auch vor der Bundeswehr nicht Halt. Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Oskar Lafon- Die Bundeswehr ist ein Spiegel der Gesellschaft und taine und der Fraktion der LINKEN hat ähnliche Probleme wie die Zivilgesellschaft. Aufhebung der Steuerfreiheit von Veräuße- Der Bericht zeigt Beispiele von respektlosem Verhal- rungsgewinnen ten bis hin zu Körperverletzungen und Misshandlungen. Missbrauch von legalen und illegalen Drogen wird – Drucksache 16/2523 – ebenso geschildert wie rechtsextremistische Vorkomm- Überweisungsvorschlag: nisse. Zwar ist die Zahl der Taten im Verhältnis zur Ge- Finanzausschuss (f) samtzahl der Bundeswehrangehörigen gering und in den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vergangenen Jahren fast gleich geblieben, doch jede ein- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die zelne rechtsextremistisch oder fremdenfeindlich moti- (B) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die (D) vierte Tat – sei es auch nur ein Propagandadelikt – ist Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich eine zu viel. Rechtsextremismus und Fremdenfeind- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. lichkeit dürfen weder in der Bundeswehr noch in der Gesellschaft Platz haben. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Axel Troost, Fraktion Die Linke, das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Hier gilt es, weiterhin wachsam zu bleiben und präven- tive und erzieherische Maßnahmen zu ergreifen. Wo es Dr. Axel Troost (DIE LINKE): nötig ist, muss auch mit disziplinarrechtlichen Maßnah- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über Nacht men bis hin zum Ausschluss aus der Truppe reagiert aus dem Nichts zu Geld zu kommen, das ist – ich sage es werden. ganz vorsichtig – eine angenehme Vorstellung. Für die Bei Übergriffen und Fehlverhalten haben die Solda- meisten Menschen bleibt das ein unerreichbarer Wunsch, tinnen und Soldaten das Recht, sich an den Wehrbeauf- bei einigen klappt es aber sehr gut, zum Beispiel beim Fa- tragten zu wenden. Sie nutzen es auch. Ich will sie auch milienunternehmen Merck, das um 400 Millionen Euro dazu ermutigen, Vorkommnisse direkt an den Vorgesetz- reicher geworden ist, als im Sommer dieses Jahres die ten zu melden. Übernahmeschlacht um die Schering AG tobte. Der Bericht des Wehrbeauftragten ist eine Auflistung Was war passiert? Der Vorstand der Schering AG von Problemen und Mängeln in der Truppe. Ich möchte hatte sich für eine Übernahme durch die Bayer AG aus- Ihnen, Herr Robbe, dafür danken, dass Sie auch Positi- gesprochen. Diese Situation nutzte das Familienunter- ves in den Bericht aufgenommen haben. Kamerad- nehmen Merck aus und kaufte, ganz im Stile eines schaft und Solidarität sind vor allem in den Auslands- Hedge-Fonds, massiv Schering-Aktien an der Börse. Um einsätzen unverzichtbar. Sie haben diese Eigenschaften die Übernahme wie geplant durchführen zu können, der Soldatinnen und Soldaten an anschaulichen Beispie- musste die Bayer AG diese Aktien dann von Merck zu- len in Ihrem Bericht eindrucksvoll beschrieben. rückkaufen, freilich zu einem deutlich höheren Preis. Das Ergebnis dieses Spekulationsgeschäfts war ein Er- Ich möchte zum Schluss allen Soldatinnen und Solda- trag in Höhe von rund 400 Millionen Euro – über Nacht, ten für ihren Einsatz danken. Mein Dank gilt auch dem aus dem Nichts und vor allem steuerfrei. Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mit- arbeitern, die immer ein offenes Ohr für die Sorgen und (Jörg Tauss [SPD]: Aha! Da hat der Troost Nöte der Truppeangehörigen haben. also Merck-Aktien gekauft!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7311

Dr. Axel Troost (A) Diese 400 Millionen Euro wurden, steuertechnisch Wir brauchen eine Politik, die andere Schwerpunkte (C) gesprochen, als Veräußerungsgewinn verbucht. Veräuße- setzt. Wenn man sich die Aussagen der Bundesregierung rungsgewinne sind seit der rot-grünen Unternehmensteu- vor Augen führt – wahrscheinlich werden diese Argu- erreform aus dem Jahre 2000 steuerfrei. Das, meine Da- mente auch in dieser Debatte angeführt –, dann stellt men und Herren, ist eine der größten steuerpolitischen man fest – ich zitiere aus der Antwort der Bundesregie- Ungerechtigkeiten, die den Bürgerinnen und Bürgern in rung auf unsere Kleine Anfrage –, dass den letzten Jahren zugemutet wurde. durch die Steuerbefreiung von Veräußerungsgewin- (Beifall bei der LINKEN) nen … althergebrachte Beteiligungsstrukturen deut- scher Unternehmen aufgebrochen Dazu sagt die Fraktion Die Linke: Das muss geändert werden und das kann auch geändert werden. werden sollen. (Beifall bei der LINKEN) (Jörg Tauss [SPD]: Wenn Sie es wissen, wa- rum sagen Sie es dann nicht?) Wir müssen Veräußerungsgewinne wieder besteuern, wie es auch in den meisten anderen westeuropäischen Natürlich besteht in Einzelfällen, zum Beispiel bei Staaten üblich ist. Dadurch würde nicht nur mehr Steu- Umstrukturierungen und bei Entflechtungen von Unter- ergerechtigkeit geschaffen, sondern dadurch könnten nehmen, die Notwendigkeit dazu; das stelle ich nicht in- wir auch noch zwei weitere Ziele erreichen: frage. Aber ich sage: Die Steuerbefreiung von Veräuße- rungsgewinnen ist ein untaugliches Instrument, um dieses Erstens würden wir dafür sorgen, dass wir wieder mehr Ziel zu erreichen. Geld in die öffentlichen Kassen bekommen, nämlich rund 2 Milliarden Euro pro Jahr. Ich will daran erinnern: Die- (Beifall bei der LINKEN) ser Betrag entspricht in etwa der Größenordnung, die durch die Abschaffung der Entfernungspauschale ab dem Denn es wird eben nicht im Einzelfall geprüft, was Jahr 2007 für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gefördert werden sollte und was nicht. Stattdessen wird als Belastung bzw. für die öffentlichen Kassen als Mehr- nach dem Gießkannenprinzip verfahren: Jeder Veräuße- einnahmen entsteht. rungsgewinn wird subventioniert, auch wenn dahinter kein sinnvolles Umstrukturierungsinstrument steht. Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen zeigt: Leere öffentliche Kassen sind kein Naturgesetz. Leere Dies heißt, in der Regel sind die Verlierer die Be- öffentliche Kassen sind das Ergebnis einer Steuerpolitik, schäftigten. Deswegen sind wir der Ansicht: Hier muss durch die an Unternehmen und Besserverdienende Steu- eine Veränderung durchgeführt werden. Eine Steuerpoli- (B) ergeschenke verteilt wurden. tik, die solche Praktiken auch noch subventioniert, ist (D) nicht nur sozial ungerecht, sondern auch wirtschaftspoli- (Beifall bei der LINKEN – Jörg Tauss [SPD]: tisch falsch und finanzpolitisch abenteuerlich. Wir bitten Wir haben aber gleichzeitig auch höhere Steu- Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen. Wir brauchen ereinnahmen! Erklären Sie mir einmal, wie das die Aufhebung der Steuerbefreiung von Veräußerungs- kommt!) gewinnen. Die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen zeigt aber Danke schön. auch: Diese Steuerpolitik kann geändert werden. Dafür bräuchte man aber den politischen Mut, Entscheidungen (Beifall bei der LINKEN) zu treffen, die die Besserverdienenden und die Unterneh- men Geld kosten. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der LINKEN) Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Ulrich Krüger, SPD-Fraktion. Würden wir Veräußerungsgewinne besteuern, könn- ten wir – das ist das zweite Ziel unseres Antrags – auch Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): den Einfluss von Hedge-Fonds und Private-Equity- Firmen zurückdrängen. Eine Strategie dieser Finanz- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und marktakteure besteht darin, Firmen billig aufzukaufen, Kollegen! Die rot-grüne Bundesregierung hat im sie anschließend zu „sanieren“ – so wird Arbeitsplatz- Jahre 2000 mit dem Steuersenkungsgesetz ein moder- vernichtung in den Chefetagen genannt – und dann teuer nes und international wettbewerbsfähiges Unternehmen- zu verkaufen. Genau diese Strategie wird durch den steuerrecht für Deutschland auf den Weg gebracht, wel- Steuerzahler bezuschusst, und zwar dadurch, dass die ches heute, unter der großen Koalition, fortbesteht und entstehenden Gewinne steuerfrei sind. den Bürgern und den Unternehmen in unserem Lande viele finanzielle Erleichterungen verschaffen konnte. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, man Dieses Steuersenkungsgesetz hat einen wichtigen Bei- kann nicht immer wieder – auch auf sehr populistische trag zum heutigen Aufschwung geleistet und hat – daran Weise –, fordern, dass das Problem der Heuschrecken besteht für mich kein Zweifel – auch zu den jetzt spürba- gelöst werden muss, und gleichzeitig darauf verzichten, ren Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt beigetragen. Steuern auf Veräußerungsgewinne zu erheben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 7312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Hans-Ulrich Krüger (A) Mit diesem in der Geschichte der Bundesrepublik bis Wirtschaftlich gesehen stellt der Veräußerungsgewinn (C) dahin größten Steuerreformpaket mit einer Absenkung den Wert der Rücklagen der veräußerten Kapitalgesell- der Steuerbelastung in Höhe von sage und schreibe schaft dar. Diese setzen sich aus offenen Rücklagen und 75 Milliarden DM ist der Grundstein für eine dringend stillen Reserven zusammen. Hier wird dann unterschie- benötigte Finanzreform gelegt worden. Der Mittelstand den: Offene Rücklagen sind mit 25 Prozent Körper- wurde mit 14 Milliarden DM entlastet. Die wichtigste schaftsteuer belastet, stille Reserven nur dann, wenn das und für jeden Einzelnen spürbare Auswirkung dieses entsprechende Wirtschaftsgut, beispielsweise ein Grund- Gesetzes war die Senkung der Steuersätze. So wurden stück, veräußert wird. der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent, der Körperschaft- steuersatz auf 25 Prozent und der Eingangssteuersatz, in Damit eine Doppelbesteuerung vermieden wird, sind mehreren Stufen, von 26 Prozent auf gerade noch bei der Anteilsveräußerung zwischen Kapitalgesell- 15 Prozent abgesenkt, mithin um ein Drittel reduziert; schaften im neuen System der Körperschaftsteuer Veräu- dieses Beispiel ist schon mehrfach angeführt worden. ßerungsgewinne konsequenterweise steuerfrei. Eine Be- steuerung bereits bei der Anteilsveräußerung, wie hier (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das hätten wir gefordert wird, würde im aktuellen System eine nicht ge- schon 1998 haben können!) rechtfertigte Doppelbesteuerung der offenen und stillen Reserven auslösen. Wenn wir heute sagen können, dass ein Familienvater, verheiratet, mit zwei Kindern, bis zu einem Jahresein- Wir haben erreicht, dass durch die Steuerbefreiung kommen von 37 500 Euro bei Einbeziehung des Kinder- von Veräußerungsgewinnen althergebrachte Beteiligungs- geldes keine Steuern zahlt, dann ist das nach wie vor er- strukturen deutscher Unternehmen aufgebrochen worden wähnens- und bemerkenswert. sind, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Hier rein, da (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten raus!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass die Positionierung dieser Unternehmen im interna- Das waren aber keine irrationalen Steuergeschenke; tionalen Wettbewerb optimiert wurde und dass das Steu- das war vielmehr der notwendige Beitrag, die Steuern eraufkommen in Deutschland gesichert wurde. Wenn im bei Unternehmen und die Steuern bei Privaten gleich- Jahre 2006, nach dem Systemwechsel, Kapitalertrag- wertig zu senken. Dazu gehörten allerdings auch der steuer in Höhe von 11 Milliarden Euro anfallen wird, Wechsel zum so genannten Halbeinkünfteverfahren und, wenn wir nach der Senkung des Körperschaftsteuersat- logisch konsequent, die Steuerfreiheit von Dividenden zes von 40 Prozent auf 25 Prozent heuer Einnahmen in innerhalb der Unternehmensebene und von Gewinnen (B) Höhe von 23 Milliarden Euro, also in gleicher Höhe wie (D) aus der Veräußerung von Anteilen bei Kapitalgesell- seinerzeit bei dem höheren Steuersatz haben werden, ist schaften. Diesen Zusammenhang bitte ich zur Kenntnis dies ein Beweis dafür, dass der Ansatz, der beim Steuer- zu nehmen; davon steht nämlich nichts in Ihrem Antrag. senkungsgesetz 2000 gewählt wurde, in die richtige Das Halbeinkünfteverfahren trat notwendigerweise Richtung ging und geht. an die Stelle des eben nicht europatauglichen Vollan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der rechnungsverfahrens. Es bewirkt, dass nach Vorbelas- CDU/CSU sowie der Abg. Christine Scheel tung auf der Unternehmensebene auf der Ebene des An- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Christine teilseigners Einnahmen aus Beteiligungen nur zur Hälfte Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da- in die Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer mals hatten wir 3 Prozent Wachstum!) eingestellt werden. Insgesamt ergab sich bzw. ergibt sich durch diese Maßnahme eine Belastung der ausgeschütte- – Ich danke für den Zwischenruf, Frau Kollegin. Dies ten Gewinne, die der steuerlichen Belastung bei anderen wird leider vielfach vergessen, auch in diesem Antrag. Einkunftsarten angenähert ist. Anders ausgedrückt: Die Stattdessen wird ausgeführt, es gäbe Fälle, in denen rein Gleichbehandlung von Dividenden mit anderen Einkünf- spekulative Faktoren den Beteiligungswert bestimmten ten lässt sich nur erreichen, wenn Ausschüttungen zwi- und nach erfolgreicher Spekulation unversteuerte Ge- schen Körperschaften nicht besteuert werden. winne gemacht würden. Dem ist entgegenzuhalten: Ebenso wie ein erhöhter Börsenkurs eine Entsprechung Für den vollzogenen Systemwechsel zum Halbein- in den stillen Reserven des Firmenwerts haben kann und künfteverfahren sprachen und sprechen diverse Vorteile: eben nicht in einer Spekulation, ist es möglich, dass eine Das Halbeinkünfteverfahren ist klar und transparent, entsprechende Spekulation nicht mit einem Veräuße- weil die Ebene der Kapitalgesellschaft klar von der rungsgewinn, sondern mit einem Veräußerungsverlust Ebene der Anteilseigner getrennt wird. Das Halbein- endet. Das heißt: Die rein spekulativ erhöhten Kurse sin- künfteverfahren ist wettbewerbsneutral und europataug- ken; die Beteiligung kann nur mit Verlust veräußert wer- lich. Demgegenüber war das Vollanrechnungsverfahren den. Selbst wenn man dem Antrag der Linken folgen nur ein nationales Mittel; es beseitigte lediglich die steu- und alle Schwierigkeiten des Einzelfalles hintanstellen erliche Doppelbelastung bei einem Anteilseigner und wollte, müsste man folgerichtig die Einnahmesituation seiner Gesellschaft innerhalb Deutschlands. Last not des Staates auch mit Veräußerungsverlusten behaften. least: Das Halbeinkünfteverfahren hat gezeigt, dass es Damit wäre jedoch der Zockerei auf Unternehmens- konsequent kumulative Mehrfachbelastungen innerhalb ebene und auf Kosten des Staates Tür und Tor geöffnet, von Konzernen und Beteiligungsstrukturen vermeidet. also der berühmte „Schuss nach hinten“ vollzogen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7313

Dr. Hans-Ulrich Krüger (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Kenntnis genommen haben. Das hatten wir nicht erwar- (C) CDU/CSU) tet. Gleiches gilt für die Idee, eine Mindestbeteiligungs- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- grenze oder Mindesthaltedauer bzw. ein umfassendes NEN]: Das war kurz vor Weihnachten! Das Verbot des Betriebsausgabenabzugs für Aufwendungen weiß ich noch!) für Beteiligungen einzuführen. All diese Dinge sind ge- In den Diskussionen, die wir vorher in unserer Koalition staltungsanfällig und damit unpraktikabel. Sie würden geführt hatten, hatten wir als FDP eine völlige Steuer- zu einem Nebeneinander von steuerfreien und steuer- freiheit immer ausgeschlossen, weil das steuersystema- pflichtigen Beteiligungsveräußerungen führen und Un- tisch nicht gerechtfertig war und auch bis heute nicht ge- ternehmen dazu ermuntern, Verluste in den steuerpflich- rechtfertigt ist. tigen und Gewinne in den steuerfreien Bereich zu verlagern. Im Übrigen gilt seit 1999 respektive seit 2004 (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist es!) die 5-Prozent-Klausel, sprich: ein pauschales Be- triebsausgabenabzugsverbot. In diesem Punkt stimme ich dem Antrag der Linken zu. Allerdings gilt das nicht für die Begründung, die Sie vor- Gerade im Zuge der Überlegungen zur Unterneh- gebracht haben. mensteuerreform 2008 müssen wir uns auf die Fahne schreiben, dass alles, was wir entwerfen, nicht miss- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- brauchsanfällig und nicht gestaltungsanfällig ist. Wir NEN]: Gott sei Dank! – Leo Dautzenberg sollten gemeinsam nach Lösungen suchen – ich lade [CDU/CSU]: Das wäre aber auch erstaunlich auch Sie von der Linken dazu ein –, wie wir das Steuer- gewesen, Herr Dr. Solms!) substrat des Staates sichern können. Wir sollten aber Der reine Appell an den Neidkomplex führt uns nicht nicht ein Verfahren diskreditieren, das in die richtige weiter. Die Frage lautet, was steuersystematisch richtig Richtung gewiesen hat. Ich lade Sie daher herzlich ein, ist. die Umsetzung der Steuerreform konstruktiv zu beglei- ten. (Beifall bei der FDP) Hierzu gehört auch die weitere Senkung der Körper- Ich habe die Diskussion damals hier im Deutschen schaftsteuer auf 15 Prozent und die Senkung der Gewer- Bundestag, bei der ich sogar die Ehre hatte, einen Bei- besteuermesszahl von 5 Prozent auf 3,5 Prozent. Wir trag zu leisten, noch einmal nachgelesen. Ich habe da- alle wollen, dass zukünftig mehr von den Gewinnen, die mals gesagt: in diesem Staate erwirtschaftet werden, der Besteuerung Das … führt zu einer einseitigen Begünstigung der (B) in diesem Staate zugeführt werden. Es geht darum, dies Kapitalgesellschaften gegenüber den Personenge- (D) ohne eine Komplizierung des ohnehin schon hinreichend sellschaften und den Einzelkaufleuten. differenzierten Steuerrechtes zu schaffen. Genau das ist der steuersystematisch entscheidende Ge- Die Ansätze, die wir hierbei gefunden haben, sind er- genangriff. Es war nicht in Ordnung, dies nur für Kapi- mutigend. Daher appelliere ich an Sie: Lassen wir uns talgesellschaften einzuführen und die Personengesell- nicht von scheinbaren Argumenten der Steuergerechtig- schaften davon auszuschließen. Im Übrigen hat die keit verführen, vorschnell den Kopf auszuschalten, son- Steuerfreiheit natürlich dazu beigetragen, dass die so ge- dern überlegen wir, wie wir unser Steuerrecht auf nannte Deutschland AG stärker entflochten worden ist. Grundlage des Steuersenkungsgesetzes 2000 vernünftig Insofern hatte das volkswirtschaftlich auch einen positi- fortentwickeln können. Dabei spielt sicherlich auch die ven Effekt. Steuersystematisch aber war es nicht richtig, Abgeltungsteuer gelegentlich eine Rolle. die Kapitalgesellschaften auf diese einseitige Weise zu Ich danke Ihnen. begünstigen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ der LINKEN) DIE GRÜNEN]) Deswegen haben wir als FDP hinsichtlich einer Re- form der Einkommen- und Körperschaftsteuer einen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: steuersystematisch einwandfreien Vorschlag gemacht. Ich erteile Kollegen Hermann Otto Solms, FDP-Frak- (Frank Schäffler [FDP]: So etwas bekommt tion, das Wort. die große Koalition gar nicht hin!) (Beifall bei der FDP) Nach unserem Entwurf sind Veräußerungsgewinne bei Beteiligungsverkäufen grundsätzlich steuerpflichtig. Der Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Steuertarif ist dabei natürlich deutlich abgesenkt. Diese Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Gewinne können aber in eine steuerfreie Reinvestitions- Herren! Es war schon eine große Überraschung für uns rücklage eingestellt werden, die für entsprechende In- Oppositionspolitiker – dazu gehörte damals auch die vestitionen innerhalb von vier Jahren aufgelöst werden CDU/CSU –, als wir im Jahre 2000 die Vorschläge der muss. Wenn das nicht geschieht, dann muss die Besteue- damaligen rot-grünen Regierung zur Steuerfreiheit von rung endgültig nachvollzogen werden. – Das ist ein steu- Veräußerungsgewinnen bei Beteiligungsverkäufen zur ersystematisch richtiger Ansatz. 7314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Hermann Otto Solms (A) Ein anderer richtiger Ansatz ist der, der in anderen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) Ländern gefunden worden ist, beispielsweise in den Ver- Das Wort hat nun Kollege Peter Rzepka, CDU/CSU- einigten Staaten, wo Veräußerungsgewinne mit einem ei- Fraktion. genen Steuertarif belastet werden, der sehr viel niedriger ist. Er lag einmal bei 12 Prozent und 15 Prozent; ich (Beifall bei der CDU/CSU) weiß nicht, wie hoch er im Moment ist. Mir geht es aber auch nur um das System. Peter Rzepka (CDU/CSU): Es stellt sich die Frage, was die Bundesregierung jetzt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und tut. Herren! Erst vor kurzer Zeit, nämlich im Juli dieses Jah- res, hat die Bundesregierung der Fraktion Die Linke das (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Da bin ich auch System der deutschen Körperschaftsbesteuerung erklärt, einmal gespannt!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie hat ja angekündigt, eine Unternehmensteuerreform NEN]: Sie hat es versucht!) einzubringen. Noch im Januar wird sie einen Regie- rungsentwurf vorlegen. und zwar in der Antwort auf eine Kleine Anfrage, die Herr Krüger, ich habe mich etwas darüber gewundert, das Thema des heute vorliegenden Antrages zum Inhalt dass Sie das Halbeinkünfteverfahren so gerühmt ha- hatte. Deshalb habe ich die Vermutung, dass unsere Kol- ben, obwohl Sie gerade dabei sind, es wieder abzuschaf- legen von der Linksfraktion nicht verstehen wollen oder fen. Das macht ja wenig Sinn. nicht verstehen können. Ich denke, beides ist gleich schlimm. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es letzt- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lich nur darum geht, die Komplexität des Unternehmen- der LINKEN – Christine Scheel [BÜND- steuerrechts durch unzulässige Vereinfachung zu einem NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist komisch; das populistischen Antrag zu nutzen. stimmt! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da sehen Sie einmal, welche Überzeugungsarbeit (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Axel Troost wir geleistet haben, Herr Solms! – Dr. Hans- [DIE LINKE]: Nein, nein!) Ulrich Krüger [SPD]: Ich musste es den Kolle- Falsches, Herr Kollege Troost, wird nicht dadurch gen von der Linken erst einmal erklären!) richtig, dass es wiederholt wird. Nach dem, was bis jetzt von Ihren Vorschlägen und (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Stimmt! Das Überlegungen bekannt ist, bleibt § 8 b Körperschaftsteu- sehen wir auch so!) (B) ergesetz – also diese Ausnahme – erhalten. (D) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das gilt für die Ausführungen der Linken zur Unterneh- NEN]: Das stand in der Zeitung! Das habe ich mensbesteuerung im Allgemeinen und zur Körperschaft- auch gesehen!) steuerbefreiung von Gewinnen aus Beteiligungsverkäu- fen im Besonderen. Dadurch würden Sie den steuersystematischen Fehler fortschreiben. Das wäre bedauerlich. Im so genannten Halbeinkünfteverfahren, das hier schon angesprochen worden ist und das seit dem (Beifall bei der FDP) 1. Januar 2001 gilt, werden Gewinne von Körperschaf- Sie haben aber noch Zeit, diese Frage zu überdenken und ten mit einem einheitlichen Steuersatz definitiv besteu- einen steuersystematisch einwandfreien Vorschlag zu ert, unabhängig davon, ob sie ausgeschüttet oder einbe- machen. halten werden. Solange die Gewinne im Unternehmen verbleiben, bleibt es bei diesem Steuersatz. Im Fall der (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Diese Über- Ausschüttung an natürliche Personen als Anteilseigner zeugungsarbeit müssen wir in der Koalition kommt es zur Nachbelastung. Dabei werden die Divi- noch leisten!) denden beim Anteilseigner nur zur Hälfte in die Bemes- sungsgrundlage seiner Einkommensteuer einbezogen. Wenn es Ihnen hilft, stelle ich Ihnen unseren Entwurf zur Dies geschieht, um eine übermäßige Belastung ausge- Verfügung. Sie müssen ihn nur abschreiben. Sie können schütteter Gewinne im Vergleich zu anderen Einkünften sich darauf verlassen, dass das sauber durchdacht, steu- zu vermeiden. ersystematisch konsequent und einwandfrei ist. (Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Abschreiben Diesem gleichen Ziel dient die Steuerfreiheit bei Aus- war schon in der Schule verboten!) schüttungen von Körperschaften an andere Körperschaf- ten. Die gewollte steuerliche Gesamtbelastung wird da- Sie brauchen sich also nicht mehr den Kopf darüber zu durch hergestellt, dass die Gewinne einmal bei der zerbrechen und auch über das Halbeinkünfteverfahren Körperschaft, die sie erzielt, und zum anderen bei der nicht mehr nachzudenken. Weiterausschüttung an natürliche Personen als Anteils- eigner besteuert werden. Eine zusätzliche Besteuerung Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. der Dividenden innerhalb einer Beteiligungskette würde (Beifall bei der FDP – Christine Scheel zu einer mehrfachen Besteuerung des gleichen Gewinns [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Denken führen und kann deshalb nicht ernstlich gefordert wer- haben viele schon eingestellt; das stimmt!) den. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7315

Peter Rzepka (A) Der Gewinn, den eine Körperschaft durch Veräuße- Sie nehmen es … einfach hin, dass der weltgrößte (C) rung einer Beteiligung an einer anderen Körperschaft er- Mobilfunkkonzern Vodafone 50 Milliarden Euro au- zielt, wird wie eine Gewinnausschüttung in der Beteili- ßerplanmäßig abschreiben will, gungskette steuerfrei gestellt. Das gilt sowohl für – es ging um die zuvor erworbene Beteiligung an Man- Beteiligungen an inländischen als auch für solche an nesmann – ausländischen Gesellschaften. Diese Freistellung be- rücksichtigt, dass der Veräußerungsgewinn auf offenen um 20 Milliarden an Steuern zu sparen. und stillen Reserven sowie auf zukünftigen Gewinnaus- schüttungen und Gewinnaussichten der Beteiligungsge- Das wurde damals gegeißelt. sellschaft beruhen kann. ^ Ich will nicht entscheiden, ob die damalige Abschrei- Offene Reserven sind bei der Beteiligungsgesellschaft bung von Vodafone steuerrechtlich zulässig war. Das bereits versteuert. Stille Reserven sind bei ihr steuerlich kann hier dahingestellt bleiben. Darüber werden letztlich verhaftet und müssen bei Aufdeckung besteuert werden. das zuständige Finanzamt und gegebenenfalls die Gewinnaussichten unterliegen bei ihrer Realisierung na- Finanzgerichte zu entscheiden haben. turgemäß auch in der Gesellschaft der Besteuerung. Jedenfalls ist mit dem Übergang vom Anrechnungs- Trotz der Freistellung der Gewinne aus Beteiligungsver- verfahren zum Halbeinkünfteverfahren in diesem Punkt käufen ist also gesichert, dass alle Gewinne in vollem gehandelt worden. Mit dem Systemwechsel bei der Kör- Umfang im Halbeinkünfteverfahren besteuert werden, perschaftsteuer ist die steuerliche Geltendmachung von einmal in der Gesellschaft, die sie erzielt, zum anderen Veräußerungsverlusten und Teilwertabschreibungen bei bei Weiterausschüttungen an natürliche Personen als An- Beteiligungen abgeschafft worden. teilseigner. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Steuerfreiheit dieser Veräußerungsgewinne korre- der SPD) spondiert mit der Steuerfreiheit von Dividenden in Kapi- talgesellschaftskonzernen – das ist hier angesprochen Damit ist genau das geändert worden, was die Kollegin worden –; denn man kann die Veräußerung einer Beteili- Lötzsch damals angeprangert hat. Systemgerecht wur- gungsgesellschaft mit Gewinn auch als Vollausschüttung den dann allerdings auch die entsprechenden Veräuße- aller Gewinne betrachten. rungsgewinne freigestellt. Bei einer weiteren zusätzlichen Steuerpflicht des Ver- Noch einmal: Man kann nicht zugleich für die Be- äußerungsgewinns käme es zu einer Doppelbesteue- steuerung von Veräußerungsgewinnen und gegen die rung; da unterscheiden wir uns auch, Herr Kollege Geltendmachung von Veräußerungsverlusten sowie die (B) Dr. Solms. Wer das will – Sie von der Linksfraktion wol- Möglichkeit zu Teilwertabschreibungen sein. Das ver- (D) len es ausweislich Ihres Antrages –, letzt nach meiner Auffassung wichtige steuersystemati- sche Grundsätze und widerspricht dem gesunden Men- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir wollen schenverstand. den Zustand von vor 2000!) (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ legt die Axt an die Besteuerung nach der Leistungsfähig- CSU]) keit – ein Grundsatz, der sich wie ein roter Faden durch unsere Steuersystematik zieht und dessen Nichtbeach- Der Standort Deutschland würde unattraktiver für große tung regelmäßig vom Bundesfinanzhof und vom Bun- Kapitalgesellschaften. Gewinner wären die Länder, die desverfassungsgericht gestoppt wird. dem geltenden deutschen Körperschaftsteuerrecht ver- gleichbare Regelungen hinsichtlich der Veräußerungsge- Aus der Steuerbefreiung der Veräußerungsgewinne winne haben. Ich darf in diesem Zusammenhang Schwe- folgt, dass auch Veräußerungsverluste und Teilwertab- den, Irland, Belgien, die Niederlande und Luxemburg schreibungen nicht berücksichtigt werden dürfen. Das ist nennen. Frankreich übrigens will 2007 diese in unserem sozusagen die andere Seite der Medaille. Wer die Steuer- Körperschaftsteuerrecht geltende Regelung bei sich ein- befreiung wieder abschaffen will, muss auch Veräuße- führen. So falsch kann sie dann wohl nicht sein, Herr rungsverluste und Teilwertabschreibungen wieder aner- Kollege. kennen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nicht so die Linksfraktion: Sie will nur die süßen NEN]: Schweden ist ja immer das große Bei- Trauben der Gewinnsteuern für den Fiskus, vergisst da- spiel für die Linkspartei!) bei aber die sauren Trauben der Verluste. Führende Ver- treter der PDS/Die Linke haben denn auch die Kehrseite Zu Beginn meiner Rede bin ich auf die Dividenden- der Medaille bekämpft, das heißt die vor dem System- freistellung eingegangen und habe erklärt, warum Divi- wechsel im Körperschaftsteuerrecht bestehende Mög- dendenzahlungen von einer Körperschaft an eine andere lichkeit zu Teilwertabschreibungen. Sie ging Hand in steuerfrei sind. Wenn die Fraktion Die Linke in ihrem Hand mit der damaligen Besteuerung der Veräußerungs- Antrag behauptet, Beteiligungsaufwendungen dürften gewinne. systemwidrig von der Steuerschuld abgezogen werden, dann irrt sie erneut oder – was noch schlimmer ist – un- Ich darf in diesem Zusammenhang an die Rede der terschlägt einen Teil der Wahrheit, Herr Troost. Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch in diesem Hause an- lässlich der Debatte über den Bundeshaushalt 2005 erin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nern. Sie sagte damals: der SPD) 7316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Peter Rzepka (A) Denn zum einen sind die Dividenden, die eine Körper- die Veräußerungsverluste steuerlich geltend machen. (C) schaft erhält, zwar nicht bei der empfangenden, aber bei Die Kehrseite der Steuerfreiheit von Veräußerungsge- der ausschüttenden Gesellschaft besteuert worden, und winnen ist die Nichtabziehbarkeit der Verluste. Man zwar entweder mit inländischer oder – bei Auslandsbe- muss sehen: Entweder geht beides oder es geht gar teiligungen – mit ausländischer Steuer. Zum anderen nichts. Es gibt nicht das eine oder das andere. Wenn man werden die Aufwendungen, die mit diesen Dividenden das eine zulässt, muss man auch das andere tun; das ist in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang ste- eine klare Linie. hen, in pauschalierter Form nicht zum Abzug zugelas- sen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ursache für diese Regelung der Pauschalierung waren der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr die in der Praxis bestehenden Schwierigkeiten, Aufwen- konsequent!) dungen im Zusammenhang mit Beteiligungen diesen zu- zuordnen. Wer die Praxis kennt, weiß, dass die Probleme Ein Blick zurück zeigt, welche gravierenden fiskali- in diesem Zusammenhang unlösbar erschienen. schen Auswirkungen Beteiligungsverluste haben kön- nen. Ich erinnere an den Börsencrash 2001 und die da- Deshalb ist es zu der Pauschalierungsregelung ge- mit einhergehenden hohen Beteiligungsverluste. Das kommen, die im Übrigen auch der Mutter-Tocher-Richt- war der Hauptgrund, warum das Körperschaftsteuerauf- linie der Europäischen Union entspricht. – Übrigens stel- kommen völlig zusammengebrochen ist. Wir haben len viele Länder Dividenden gänzlich frei, Herr Troost, heute noch Altfälle – und zwar aus der Zeit, bevor wir ohne Betriebsausgabenabzugsverbote vorzusehen. das Gesetz geändert haben –, die vor Gericht ausgetra- Nach all dem wird es Sie nicht überraschen, dass die gen werden. Vodafone zum Beispiel macht – das wurde Unionsfraktion den Antrag der Linken ablehnen wird. Er bereits angesprochen – 50 Milliarden Euro Buchverluste ist unsystematisch, führt zur Übermaßbesteuerung, schä- aus dem Jahr 2001 steuerlich geltend. 50 Milliarden digt den Standort Deutschland – insbesondere den Hol- Euro Buchverluste! Das wären umgerechnet circa dingstandort, den es dann nämlich nicht mehr gäbe – und 20 Milliarden Euro, die der Fiskus diesem Unternehmen gefährdet das Vertrauen in die Beständigkeit und Bere- nachzahlen müsste, wenn sich Vodafone vor Gericht chenbarkeit des deutschen Steuergesetzgebers. Letztlich durchsetzt. Solche Probleme gibt es heute nicht mehr, ist er ein Programm zur Vernichtung von Arbeitsplätzen weil es nicht mehr zulässig ist, solche Verluste steuerlich und zur Verhinderung von Investitionen in Deutschland. geltend zu machen. Wir werden den Antrag ablehnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. sowie bei Abgeordneten der SPD) (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich bin gottfroh, dass wir damals die Entscheidung so getroffen haben. Wenn ich an die Börsensituation im Jahr 2001 und daran denke, wie die internationalen Fir- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: men damals am Steuerstandort Deutschland aufgestellt Ich erteile das Wort nun Kollegin Christine Scheel, waren, und mir vorstelle, welche Verlustvorträge wir Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. heute noch hätten, wenn wir die Verlustverrechnung nicht abgeschafft hätten, dann wird mir schlecht. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ich weiß, dass das Thema „Steuerfreiheit von Veräuße- bei der CDU/CSU und der SPD) rungsgewinnen“ sehr sensibel ist. Es ist vor allem dazu Es ist daher richtig, Vor- und Nachteile sehr sorgsam geeignet, bei Veranstaltungen Neiddebatten zu führen gegeneinander abzuwägen. Herr Dr. Solms, man kann si- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) cherlich über die Steuersystematik reden; das halte ich für eine richtige und wichtige Debatte. Aber man darf es und mit einem gewissen Populismus so zu tun, als ob die nicht so platt, wie vorgeschlagen, machen und sagen: Unternehmen gänzlich steuerfrei wären, Arbeitsplätze in Wenn die Veräußerungsgewinne besteuert werden, dann Deutschland abbauten und auch sonst nur Unfug treiben haben wir 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen und die würden. Welt wird schön. – So einfach ist es leider nicht. Ich bitte (Peter Rzepka [CDU/CSU]: Das wollen sie daher darum, im Ausschuss eine differenzierte Debatte doch nicht verstehen, Frau Kollegin! – darüber zu führen, was Sinn macht. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was ist denn Danke schön. seit 2001 passiert?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, – Ich sage jetzt, was seit 2001 passiert ist. bei der CDU/CSU und der SPD) Banken und Versicherungen zum Beispiel nehmen die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen bei ihren Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Handelsbeständen gar nicht in Anspruch. Das heißt, sie Ich schließe die Aussprache. versteuern ihre Veräußerungsgewinne, und zwar deswe- gen, weil sie – sie haben damals die Option bekommen, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf sich nach altem Recht steuerlich behandeln zu lassen – Drucksache 16/2523 an die in der Tagesordnung aufge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7317

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- der Richterschaft und nunmehr sogar auch der Bundes- (C) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung rechtsanwaltskammer. 1951 hatte man die WEG-Sachen so beschlossen. der freiwilligen Gerichtsbarkeit zugewiesen, und zwar mit der Erwartung, dass dadurch die Verfahren zügiger Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf: erledigt würden. Man muss ganz deutlich sagen: Gerade Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Die Praxis hat bis- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes lang versucht, Schwächen des Verfahrens durch die zur Änderung des Wohnungseigentumsgeset- Übernahme einzelner Elemente aus der ZPO wenigstens zes und anderer Gesetze teilweise auszugleichen. Aber diese Anwendung zahlrei- cher Normen im Wege der Analogie hat zu einer ganz – Drucksache 16/887– beträchtlichen Rechtsunsicherheit geführt. Deshalb ist Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- hier der Gesetzgeber gefordert. Seit der ZPO-Reform im schusses (6. Ausschuss) Jahre 2002 hat sich auch der Zivilprozess verändert. Die materielle Prozessleitung des Gerichts und die Mitwir- – Drucksache 16/3843 – kungsrechte und -pflichten der Verfahrensbeteiligten sind erweitert worden. Es werden mehr Vergleiche ge- Berichterstattung: schlossen und weniger Rechtsmittel eingelegt. Wir glau- Abgeordnete Norbert Geis ben, dass sich hier das WEG-Verfahren nahtlos einfügen Dirk Manzewski lässt. Mechthild Dyckmans Wolfgang Nešković Mit der dritten Änderung greifen wir eine wegwei- Hans-Christian Ströbele sende Entscheidung des Bundesgerichtshofs auf. Er hat im Juni letzten Jahres die Gemeinschaft der Wohnungs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die eigentümer als teilrechtsfähig anerkannt, wenn sie bei Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums am keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Rechtsverkehr teilnimmt. Ich halte es deshalb für richtig Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen- und geboten, dass wir das Richterrecht jetzt in Gesetzes- tarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort. recht überführen und dabei zugleich eine praktikable Re- gelung für die Haftung der Wohnungseigentümer schaf- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- fen. desministerin der Justiz: Dieses Gesetz ist damit ein gutes Beispiel dafür, wie Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Rechtsprechung und Gesetzgebung bei der Weiterent- (B) gen! In Deutschland gibt es rund 5 Millionen Wohnungs- wicklung des Rechts konstruktiv zusammenwirken. (D) eigentümer. Für sie alle ist heute ein guter Tag. Mit dem Konstruktiv zusammengearbeitet haben bei diesem Pro- vorliegenden Gesetz verbessern wir ihre Handlungs- und jekt auch alle Fraktionen. Der Rechtsausschuss hat die- Entscheidungsfähigkeit und wir vereinfachen das ge- sen Gesetzentwurf in einer sehr guten Sachverständigen- richtliche Verfahren, wenn es einmal zu Streitigkeiten anhörung und weiteren guten Berichterstattergesprächen kommen sollte. weiterentwickelt. Ich danke allen, die am Zustandekom- Das geltende Wohnungseigentumsgesetz aus dem men dieses guten Gesetzentwurfs engagiert mitgearbei- Jahre 1951 zeigte an einigen Punkten Reformbedarf. Wir tet haben. haben deshalb wesentliche Änderungen vorgenommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Die drei wichtigsten Ergebnisse will ich kurz aufzeigen: Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Du lässt uns Erstens. Wir verbessern die Willensbildung in der keine Zeit zum Applaudieren!) Eigentümergemeinschaft. Wenn es um die Verteilung – Ich muss so schnell sein, weil Dirk Manzewski sonst von Betriebs- und Verwaltungskosten geht oder um keine Zeit mehr hat. Maßnahmen der Modernisierung des gemeinschaftlichen Eigentums, dann ersetzen wir das bisherige Einstimmig- Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung sorgen keitsprinzip durch das Mehrheitsprinzip. Wir kommen wir für eine praktikable Modernisierung des Gesetzes. damit einer alten Forderung aus der Praxis nach. Denn es Wir stellen sicher, dass es den Bedürfnissen der Praxis kam immer wieder vor, dass objektiv notwendige Bau- besser gerecht wird, und wir stärken zugleich die Attrak- maßnahmen von einzelnen Eigentümern blockiert wor- tivität des Wohnungseigentums in Deutschland. Wenn den sind. Allerdings stellen wir sicher, dass auch in Zu- wir jetzt alle gemeinsam dem Gesetzentwurf zustimmen, kunft nicht unsachgemäß über den Kopf Einzelner dann können wir sagen: Fröhliche Weihnachten! hinweg entschieden wird. Im Interesse des Minderhei- tenschutzes bleibt es dabei, dass Beschlüsse bei Gericht Schönen Dank. angefochten werden können, und zwar insbesondere (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dann, wenn sie einer ordnungsgemäßen Verwaltung des Gemeinschaftseigentums widersprechen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die zweite wesentliche Änderung betrifft das gericht- Ich erteile das Wort der Kollegin Mechthild Dyck- liche Verfahren. Künftig gilt die Zivilprozessordnung mans, FDP-Fraktion. auch für die Wohnungseigentumssachen. Damit kom- men wir wiederum einem Wunsch vieler Praktiker nach, (Beifall bei der FDP) 7318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Mechthild Dyckmans (FDP): Die Gründe dafür sind in der Anhörung vorgetragen (C) Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- worden. Wir hätten es aber begrüßt, wenn der Gesetzge- gen! Die Geschichte des Wohnungseigentumsgesetzes ber den Weg zu Ende gegangen wäre und dem Gläubiger ist eine Erfolgsgeschichte. Wir wollen, dass es dabei die Möglichkeit gegeben hätte, einen unfähigen Verwal- bleibt. Das sind wir allen jetzigen und allen künftigen ter durch einen fähigen zu ersetzen. Leider hat unser da- Wohnungseigentümern schuldig. Ich bin optimistisch, rauf gerichteter Änderungsantrag keine Mehrheit gefun- dass das Gesetz, das wir heute verabschieden werden, den. Ich wage vorauszusagen, dass hier in absehbarer diesem Anspruch gerecht wird. Die Änderungen werden Zeit gesetzgeberische Korrekturen vorgenommen wer- das Wohnungseigentum praktikabler und vielleicht auch den müssen. ein Stück gerechter machen. Sie werden helfen, die At- Kein Problem haben wir damit, dass sich das Verfah- traktivität des Wohnungseigentums auch für die Zukunft ren in Wohnungseigentumssachen in Zukunft nach der zu sichern. Das ist gerade in Anbetracht der Tatsache, Zivilprozessordnung richten soll. Dies wird zu einer dass Wohnungseigentum immer mehr zur Alterssiche- Beschleunigung von Verfahren führen und dazu beitra- rung dient, sehr wichtig. gen, dass Prozesshanseln die Lust am Streit vergeht. Die Gefahr einer Überforderung einzelner Wohnungseigen- (Beifall bei der FDP) tümer sehen wir nicht. Auch im Anwendungsbereich der Zu den entscheidenden Verbesserungen gehört – das Zivilprozessordnung hat das Gericht durch Hinweise hat der Herr Staatssekretär schon gesagt – die Erleichte- darauf hinzuwirken, dass sich die Parteien rechtzeitig rung der Willensbildung. Hier bestand spätestens seit der und vollständig erklären. Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum so genannten Erfreulich ist, dass es uns fraktionsübergreifend ge- Zitterbeschluss dringender Handlungsbedarf; denn die lungen ist, den Gesetzentwurf um eine Vorschrift zu er- durch diese Rechtsprechung erzwungene Rückkehr zum gänzen, durch die die Bestellungsdauer für den ersten starren Einstimmigkeitsprinzip ging an den Bedürfnissen Verwalter auf höchstens drei Jahre beschränkt wird. Auf der Praxis vollkommen vorbei. Die Folge war, dass ein diese Weise wird der Gleichlauf von Bestellungsdauer einziger Wohnungseigentümer eine Maßnahme verhin- und Verjährungsfrist durchbrochen und die Gefahr von dern konnte, die alle anderen für gut und richtig hielten. Interessenkonflikten reduziert. Die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip, die wir heute beschließen – wir machen das meines Erachtens (Beifall bei der FDP) vorsichtig und sinnvoll –, wird dazu beitragen, solche Wir hätten uns auch gefreut, wenn unser Vorstoß, die Blockaden aufzubrechen. Sie wird in vielen Fällen den Übertragung bestimmter Aufgaben auf Sachverständige Weg für Modernisierungs- und Energieeinsparungsmaß- unmittelbar im Wohnungseigentumsgesetz zu regeln, (B) (D) nahmen freimachen. Hiervon profitieren nicht nur die ebenfalls Unterstützer gefunden hätte. Auf diese Weise Wohnungseigentümer, sondern das ist auch gut für das hätte die damit verbundene Erleichterung für die Praxis Handwerk und für die Umwelt. sofort eintreten können. So bedarf es erst der Umsetzung Als juristisch anspruchsvoll erweist sich der Versuch, durch die Länder, die sich hiermit möglicherweise Zeit die rechtlichen Verhältnisse zwischen Eigentümerge- lassen werden. meinschaft, Wohnungseigentümern und Gläubigern kla- Auch ich habe die unaufgeregte und an der Sache ori- rer zu fassen. Auch hier bestand Handlungsbedarf. Die entierte Beratung des Gesetzentwurfs als sehr wohltuend Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Teilrechtsfä- empfunden und ich finde, dass wir zu guten Ergebnissen higkeit hatte in der Praxis zu einer Reihe von Folgefra- gekommen sind. Dass unsere Änderungsanträge keine gen geführt. Der Gesetzentwurf versucht, hierauf eine Mehrheit gefunden haben, wird uns als FDP nicht daran Antwort zu geben. Ob dies in allen Punkten überzeugend hindern, diesem guten Gesetzentwurf zuzustimmen. gelungen ist, kann heute noch niemand mit Gewissheit sagen. Hier wird die Rechtsprechung noch einiges zu tun (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der haben. Gegebenenfalls wird auch der Gesetzgeber, wer- SPD sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- den wir nachsteuern müssen. Es wäre aber auch keine NIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Jürgen Gehb Lösung gewesen, zum jetzigen Zeitpunkt vollständig auf [CDU/CSU]: Oh, ein Weihnachtsgeschenk! – eine Regelung zu verzichten, wie dies von einigen Ver- Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wir haben noch tretern aus der Wissenschaft empfohlen wurde. Der Zu- Platz in der Koalition! – Gegenruf des Abg. stand der Rechtsunsicherheit hätte so möglicherweise Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das wäre noch Jahre angedauert und die Eigentumswohnung als dann die größte Koalition!) besondere Rechtsform des Wohnens hätte Schaden ge- nommen. Das wollten wir nicht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Norbert Geis, CDU/ (Beifall bei der FDP) CSU-Fraktion. Hingegen war es richtig, die Wohnungseigentümerge- meinschaft für nicht insolvenzfähig zu erklären. Das Norbert Geis (CDU/CSU): wäre die falsche Schlussfolgerung aus der Teilrechtsfä- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und higkeit gewesen. Herren! Die Weihnachtsstimmung breitet sich aus. Ich hoffe, dass die Grünen nachher ebenfalls feststellen, dass (Beifall bei der FDP und der SPD) sie dem Gesetzentwurf eigentlich zustimmen sollten, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7319

Norbert Geis (A) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dennoch glaube ich, dass wir in der Praxis Probleme (C) Verraten wir noch nicht, Herr Geis!) bekommen werden, weil mit diesem Gesetz nicht jeder einzelne Fall so konkret geregelt werden kann, dass zumal er bereits in der letzten Legislaturperiode grund- keine Schwierigkeiten mehr auftauchen. Also werden gelegt die Gerichte das am Ende glatt bügeln müssen und es (Joachim Stünker [SPD]: Das haben die Grünen al- wird in den Einzelfällen eine gemeinsame Rechtspre- les vergessen! Die vergessen so schnell!) chung zustande kommen, zumal wir im Gesetz vorsehen, dass die Berufungsinstanz für Urteile des Amtsgerichts und die Fachwelt schon einbezogen worden ist. Nur ist nicht das gewöhnliche Landgericht ist, sondern das es so gewesen, dass durch die Entscheidung des Bundes- Landgericht am Sitz des Oberlandesgerichtes. gerichtshofs vom 2. Juni 2005 ein nochmaliges Über- (Joachim Stünker [SPD]: Sie haben der Drei- denken dieses Gesetzentwurfes notwendig geworden ist, zügigkeit zugestimmt!) und zwar vor allem aufgrund der Teilrechtsfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft, die der BGH festge- – Ja, das habe ich schweren Herzens getan. Aber in die- stellt hat. sem Fall macht das Sinn; denn so gelingt es, wenigstens in einem Oberlandesgerichtsbezirk eine gemeinsame Diese Teilrechtsfähigkeit ist juristisch gesehen ein Rechtsprechung herauszukristallisieren. Das war ein nicht ganz einfaches Feld. Schon der Name ist schwie- wichtiger Punkt. rig: Man meint, dass es sich hier nur um ein Teilrecht, also nicht um eine Vollrechtsfähigkeit handelt. In Wirk- Eine weitere Neuerung ist die Stellung des Verwal- lichkeit ist dies aber nicht der Fall. Wir haben die Rege- ters. Der Verwalter wurde eine Zeit lang als Zwitterfigur lung so getroffen, dass – das wollte auch der BGH – die dargestellt, als Mann mit einer Doppelfunktion. Er bleibt Wohnungseigentümergemeinschaft da, wo sie verwal- nach wie vor der Verwalter der gesamten Wohnungsei- tend tätig wird, vollrechtsfähig ist, sich also voll ver- gentümergemeinschaft; das heißt, er ist bezogen auf das pflichten und Forderungen stellen kann. Der Verwalter Rechtssubjekt im Bereich der Verwaltungstätigkeit ge- kann zum Beispiel selbstständig Öl kaufen, ohne vorher setzlicher Vertreter. Im übrigen Bereich ist er geschäfts- alle Miteigentümer zu fragen. Er kann am Gesamteigen- führend tätig, bleibt aber für die gesamte Gemeinschaft tum Reparaturen vornehmen lassen, die dringend not- zuständig. Ich meine daher, dass es ebenfalls gelungen wendig sind. Für das Wohnungseigentum des Einzelnen ist, diese Zwitterstellung des Verwalters aus dem Zwie- bleibt der Eigentümer selbst zuständig. Aber für das Ge- licht zu holen, seine Stellung gesetzlich eindeutig zu re- meinschaftseigentum kann die Wohnungseigentümerge- geln und seine Kompetenzen klar abzugrenzen. meinschaft, weil sie vollrechtsfähig ist, selbst handeln, Ein weiterer Punkt, der nach meiner Meinung gere- (B) (D) durch den Verwalter. Dieser ist insoweit gesetzlicher gelt werden musste, betrifft die Insolvenzfähigkeit. Vertreter. Frau Dyckmans hat es schon angesprochen. Wir haben Das ist zweifellos ein großer Vorteil; denn dadurch darüber lang beraten, auch koalitionsintern und zusam- wird die Verwaltung insgesamt leichter werden. Letzt- men mit der Regierung. Ich möchte an dieser Stelle die endlich, nach einer gewissen Zeit, wird Wohnungseigen- gute Zusammenarbeit mit dem Staatssekretär und seinen tum dadurch attraktiver. Das haben auch Sie gesagt, Frau Mitarbeitern ausdrücklich loben. Dyckmans, und das war auch unser Wunsch, der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wunsch der Koalition. Das Wohnungseigentum soll für den einfachen Bürger eine Möglichkeit der Vermögens- Sie hat dazu beigetragen, dass wir gemeinsam zu ver- bildung darstellen. Darüber, dass es auch zur Altersvor- nünftigen Ergebnissen gekommen sind. sorge dienen kann, sind wir uns ebenfalls einig. Die Insolvenzfähigkeit war ursprünglich im Gesetz- Dieses Gesetz will nun einen Beitrag dazu leisten. Ich entwurf vorgesehen. Wir haben sie aber aus den Grün- meine, das ist, soweit uns das im juristischen Bereich den, die Frau Dyckmans schon erwähnt hat, wieder möglich ist, auch gelungen. herausgenommen. Letztendlich soll die Insolvenz zur Auflösung eines Rechtssubjektes führen. Das ist aber in Aber zurück zur Teilrechtsfähigkeit. Dieser Punkt ist diesem Fall nicht vorgesehen und wird vom Gesetz ver- nicht ganz einfach. Es gibt und gab Stimmen, die dage- hindert. Schon deshalb kann man hier keine Insolvenz gen sind, Stimmen aus der Wissenschaft und vor allen vorsehen. Dingen von der Anwaltschaft, die davor gewarnt haben, Im Übrigen ist es ohne weiteres möglich, dass die die Teilrechtsfähigkeit einzuführen. In der Tat ist es nicht Wohnungseigentümer selbst so lange Geld zuschießen, ganz einfach, eine Unterscheidung zwischen dem Ver- bis die Ansprüche der Gläubiger befriedigt sind. Weil waltungsbereich und dem übrigen Rechtsbereich, in dem das Insolvenzverfahren eine anteilsmäßige Befriedigung die Eigentümergemeinschaft immer noch als Bruchteils- der Ansprüche der Gläubiger vorsieht, es hier aber eine gemeinschaft auftritt, zu treffen. Diese Unterscheidung, vollständige Befriedigung der Ansprüche der Gläubiger die ja getroffen werden musste, ist nach meiner Auffas- gibt, passt nach unserer Auffassung das Instrument der sung in dem Regierungsentwurf nach den Beratungen in Insolvenzfähigkeit an dieser Stelle nicht. Deswegen ha- der Koalition und mit allen Berichterstatterinnen und ben wir es gestrichen. Berichterstattern gut gelungen. Nun ist, so meine ich je- denfalls, klar geworden, was zum Verwaltungsbereich Ein weiterer wichtiger Punkt war die Umstellung der und was zum übrigen Bereich gehört. Verfahrensregeln von der Freiwilligen Gerichtsbarkeit 7320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Norbert Geis (A) auf die ZPO. Dieser Punkt war ebenfalls nicht unumstrit- WEG auf dem Wege der Rechtsfortbildung stets an die (C) ten. Es gab durchaus Stimmen, die die Meinung äußer- Erfordernisse der Gegenwart angepasst haben. Sie küm- ten, dass hier der einzelne Wohnungseigentümer in das merten sich also um die Lebenstauglichkeit eines Geset- etwas stringentere Verfahren der ZPO gezwungen wird. zes, das der Gesetzgeber deshalb seit 1951 nicht mehr Aber ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor. Denn schon anzufassen brauchte. jetzt ist in einem Verfahren nach der Zivilprozessord- nung ein Richter in der ersten Instanz gehalten, die Par- Genau aus diesem Grund hatte Ihnen meine Fraktion teien aufzufordern, ihren Vortrag zu bringen. Eine Be- Herrn Dr. Schmidt-Räntsch, einen amtierenden BGH- nachteiligung eines Wohnungseigentümers, der sich Richter, in die Beratungen des Rechtsausschusses zum nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten lässt, kann ich WEG eingeladen. Herr Dr. Schmidt-Räntsch hatte in also nicht erkennen. seiner Stellungnahme ausdrücklich klargestellt, dass er nicht nur für sich, sondern für den gesamten Senat, bei Ein wichtiges Argument betraf noch die Frage der dem die Zuständigkeit in WEG-Sachen liegt, sprechen Kosten. Denn beim FGG-Verfahren, also bei einem Ver- möchte. Die klare und detaillierte Stellungnahme des Se- fahren nach der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, ist es mög- nats aber kümmerte den Ausschuss in seiner Mehrheit lich, die Kosten variabel zu gewichten und nicht nach nicht. dem Alles-oder-nichts-Prinzip der ZPO festzulegen. Auch aufgrund der Beratungen im Rechtsausschuss ha- (Joachim Stünker [SPD]: Das ist nicht richtig!) ben wir hier eine wichtige Sperre eingezogen. Wir sehen Seine klare und detaillierte Stellungnahme wurde damit nämlich eine Sperre bei den Gerichtskosten und bei der auch nicht zum Maßstab Ihrer Gesetzgebung. Errechnung des Streitwertes vor. Zum Schluss haben wir noch die Regelung eingeführt, dass von einem Woh- Für uns bleibt sie aber der Maßstab für die Fehlerhaf- nungseigentümer, der gegen die anderen Wohnungsei- tigkeit dessen, was Sie heute zur Änderung des WEG be- gentümer klagt, nur ein Rechtsanwalt bezahlt werden schließen werden. muss, sodass die Gerichts- und Anwaltskosten nicht zu (Beifall bei der LINKEN) hoch ausfallen. Sie werden ohne sinnvollen Grund beschließen, dass die Der letzte Punkt betrifft den Mehrheitsbeschluss bei Regelung von Streitigkeiten in der Eigentümergemein- der Durchführung von Modernisierungsmaßnahmen. Es schaft zukünftig der ordentlichen anstelle der Freiwilli- stellte sich die Frage, ob nicht derjenige Wohnungsei- gen Gerichtsbarkeit obliegt. Sie bürden damit den Woh- gentümer, der nicht das Geld hat, um große Modernisie- nungseigentümern höhere Verfahrenskosten und ein rungsmaßnahmen bezahlen zu können, benachteiligt höheres Verfahrensrisiko auf, wird. Unser Anliegen war es, dass der Wohnungseigen- (B) (D) tümer, der für sein Wohneigentum sozusagen seinen (Dirk Manzewski [SPD]: Nein, das haben wir letzten Pfennig ausgegeben hat, bei einer Modernisie- geklärt!) rungsmaßnahme nicht allzu sehr ins Hintertreffen gerät. nur weil Sie den Landeshaushalten deutlich höhere Ein- Dieses ist gelungen. Wir haben die Unbilligkeit einer nahmen bescheren wollen. solchen Forderung eingeführt; außerdem haben wir die Dreiviertelmehrheit vorgesehen. (Dirk Manzewski [SPD]: Das ist geregelt worden, Frau Kollegin!) Ich glaube, man kann diesem Gesetz alles in allem wohl zustimmen. Sie nehmen den Wohnungseigentümern eine Gerichts- Danke schön. barkeit weg und erschweren ihnen damit den Weg, ihr Recht unbürokratisch durchzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Dirk Manzewski [SPD]: Das stimmt nicht!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vor allem schwächen Sie damit solche Menschen, die Ich erteile das Wort Kollegin Heidrun Bluhm, Frak- ihr Wohnungseigentum unter großer Anstrengung zur tion Die Linke. Erleichterung der Altersvorsorge erworben haben und nun im Streitfall vor allen finanziellen Hürden des or- (Beifall bei der LINKEN) dentlichen Rechtsweges stehen. Wieder einmal, meine sehr verehrten Damen und Herren insbesondere von der Heidrun Bluhm (DIE LINKE): SPD, vergessen Sie Ihre Wurzeln. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten (Beifall bei der LINKEN – Joachim Stünker Damen und Herren! 1951 dankte der belgische König ab [SPD]: Was? Jetzt reicht es aber wirklich!) und die USA und die UdSSR sondierten Möglichkeiten für einen Waffenstillstand in Korea. In diesem Jahr, Sie haben es so weit gebracht, dass ein konservativer 1951, verabschiedete der Deutsche Bundestag auch das BGH-Senat Ihnen die Vernachlässigung des Schutzes Wohnungseigentumsgesetz, ein Gesetz, das dieses Haus der Schwachen vorwirft. Ich zitiere aus der erwähnten seitdem nur ganz unwesentlich geändert hat. Stellungnahme des BGH-Richters Dr. Schmidt-Räntsch: Der heutige Entwurf bezweckt dafür nun umso grö- Dieser Schutz Schwacher ist gerade bei größeren ßere Änderungen. In all den langen Jahren seit 1951 wa- Wohnungseigentümergemeinschaften unbedingt er- ren es die Richterinnen und Richter, die das gute, alte forderlich und gerade deshalb auch [ursprünglich] Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7321

Heidrun Bluhm (A) vorgesehen worden. Wohnungseigentum ist für die Druck auf die Kommunen und ihre Wohnungsbaugesell- (C) „kleinen Leute“ gedacht. schaften. Die Begehrlichkeiten der Kämmerer auf eine schnelle Mark durch die Veräußerungen ihrer Bestände (Beifall bei der LINKEN) sind groß. Das Wohnungseigentum wird nach Ihrem Willen aber Wenn wir Verkäufe an Investoren vermeiden wollen, zunehmend zu einer Privilegierung der gehobenen dann müssen wir darüber diskutieren, ob und wie wir im Schichten werden. Rahmen von Privatisierungen von Mietwohnungen eine (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Na, na, na! Sie gangbare Alternative sehen. schließen ja jeden aus, der bei Ihnen Wohn- Zudem fordern viele die Einbeziehung der Wohnim- eigentum hat!) mobilie in die geförderte Altersvorsorge. Die große Ko- Sie werden heute festlegen, dass Beschlüsse der Ei- alition hat dies auch in ihrem Koalitionsvertrag festge- gentümergemeinschaft in einem Beschlussbuch zu füh- schrieben. Dann müssen wir uns konsequenterweise ren sind. Das macht ja sogar ein wenig Sinn angesichts auch mit den Problemen beschäftigen, die Wohnungs- der durch den Entwurf zusätzlich eingeräumten Mög- eigentümergemeinschaften und ihre rund 15 Millionen lichkeiten der Eigentümergemeinschaft, den konkreten Wohnungseigentümer seit vielen Jahren bewegen. Un- Inhalt des Eigentums außerhalb des Grundbuches ändern sere Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, begrüßt diese zu wollen. Ein wenig Sinn sorgt allerdings stets auch für Gesetzesänderung. Wir hatten sie schon in der letzten wenig Sinnvolles. Legislaturperiode gefordert und unterstützt. Ein entspre- chender Gesetzentwurf wurde auch noch unter der rot- Richtig wäre es gewesen, die Wirksamkeit der Be- grünen Koalition am 25. Mai 2005 im Kabinett be- schlüsse von der Aufnahme in das Beschlussbuch ab- schlossen. hängig zu machen. Dann erst könnte sich die Gemein- schaft darauf verlassen, dass nur solche Beschlüsse Für uns ist es wichtig, für bestimmte Fälle das Ein- gelten, die auch dokumentiert sind. Da haben Sie also stimmigkeitsprinzip durch einen qualifizierten Mehr- das Richtige gemeint und doch das Falsche geschrieben. heitsbeschluss abzulösen. Das Einstimmigkeitsprinzip Warum Ihnen dieses Missgeschick passierte, können Sie ermöglichte bisher einzelnen Miteigentümern die Blo- nur selbst verstehen; denn Dr. Schmidt-Räntsch hat Ih- ckade von sinnvollen Modernisierungsmaßnahmen und nen in seiner Stellungnahme einen Formulierungsvor- führte letztlich zu Ersatzvereinbarungen, den so genann- schlag geschenkt. Den hätten Sie nur abzuschreiben ten Zitterbeschlüssen, die nach der Rechtsprechung des brauchen. BGH auch ohne gerichtliche Anfechtung von Anfang an unwirksam waren. In dem vorliegenden Gesetzentwurf (B) Ich erinnere zum Abschluss daran, dass das ursprüng- wird das Quorum für bestimmte Fälle auf drei Viertel der (D) liche WEG im Jahre 1951 als echter Fraktionsentwurf in Eigentümerstimmen abgesenkt. Das ist zwar immer die Beratungen gelangte und man viel Abgeordnetenver- noch eine hohe, aber nicht unüberwindliche Hürde. Sie stand auf die Ausgestaltung des Wohnungseigentums erschwert auf jeden Fall Blockaden, sie erleichtert die und dessen soziale Funktion verwandte. Das war seiner- Willensfindung und sie stärkt die Handlungsfähigkeit zeit ein zeitgemäßer und sehr moderner Entwurf. von Wohnungseigentümergemeinschaften. Auch der aktuelle Entwurf ist zeitgemäß. Denn es ent- Auch die getroffenen Regelungen zur Teilrechtsfähig- spricht leider den heutigen Gepflogenheiten der parla- keit und zur Insolvenzfähigkeit finden unsere Zustim- mentarischen Mehrheit, Entwürfe der Ministerien ohne mung. eigenen Gestaltungsanspruch gedankenlos durchzuwin- ken, selbst wenn der größte Unsinn dabei herauskommt. Wir hätten gerne noch einige Änderungen – aus unse- Ist das aber auch modern? Ich sagte es schon: Es ist sehr rer Sicht Verbesserungen – an dem Gesetzentwurf vorge- viel Zeit vergangen seit 1951. nommen, die wir auch in unserem Änderungsantrag auf- geführt haben. Zum Beispiel hätten wir es für dringend Danke schön. geboten gehalten, eine gesetzliche Verpflichtung zur Er- (Beifall bei der LINKEN) richtung einer angemessenen Instandhaltungsrücklage in das Gesetz aufzunehmen. Gerade die mangelnde Höhe der Instandhaltungsrücklagen führt in vielen Fäl- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: len zu Streitigkeiten und kann gelegentlich sogar zu Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hettlich, Fraktion Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, ja sogar zu Insolven- des Bündnisses 90/Die Grünen. zen und Zwangsversteigerungsverfahren führen. Unser Vorschlag, sich an § 28 der II. Berechnungsverordnung Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zu orientieren, war sehr praktikabel und hätte hier eine Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und deutliche Klarstellung ermöglicht. Schade, dass Sie da Kollegen! Ich habe schon in meiner Rede zur ersten Le- unserem Vorschlag nicht gefolgt sind. sung dieses Gesetzentwurfes darauf hingewiesen: Der Es ist positiv – Herr Geis hat es eben auch ange- deutsche Wohnimmobilienmarkt steht in den nächsten merkt –, dass eine Formulierung aufgenommen wurde, Jahren vor sehr großen Herausforderungen. Zwar scheint die unbillige Belastungen von wirtschaftlich schwäche- zumindest die Frage der Einbeziehung von Wohnimmo- ren Wohneigentümern abwenden soll. bilien in REITs – übrigens auch in meinem Sinne – ge- löst zu sein; aber trotzdem gibt es eine ganze Menge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 7322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Peter Hettlich (A) Die interne Diskussion in unserer Fraktion über die Nešković nicht so richtig verstanden –, als dass man die (C) Frage „FGG oder ZPO?“ hat uns letztlich doch zu dem Rechtsprechung des BGH ignoriert. Entschluss kommen lassen, dass wir die Freiwillige Ge- richtsbarkeit einer Regelung in der ZPO vorziehen; denn (Joachim Stünker [SPD]: Richtig!) wir sehen durchaus mit Sorge, dass durch die vorge- Dies wiederum hätte die Konsequenz, dass auch die aus schlagene Regelung in der Zivilprozessordnung Verfah- der Entscheidung des BGH weiter resultierenden Folgen ren aufgrund von Kapazitätsengpässen bei den Gerichten nicht vom Gesetz hätten aufgegriffen werden können. in die Länge gezogen werden. Ich glaube, das ist nicht Das neue WEG wäre damit im Grunde genommen schon im Sinne des Erfinders und dieser Gesetzesinitiative. vom ersten Tag seiner Gültigkeit an veraltet und die Ge- Unsere Fraktion wird dem Gesetzentwurf dennoch zu- richte würden vermutlich aufgrund der dann herrschen- stimmen, auch wenn Sie – was zu erwarten sein dürfte – den unsicheren Rechtslage von Verfahren über- unseren klugen Änderungsanträgen nicht zustimmen schwemmt werden. werden; denn wir halten den überwiegenden Teil des Ge- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto setzes für gelungen und im Sinne der Wohneigentümer Solms) für eine deutliche Verbesserung. Insbesondere waren in diesem Zusammenhang auch Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. die Rechte und Pflichten sowie das Verwaltungsvermö- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ebenso und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der wie die Stellung ihres Verwalters völlig neu zu definie- CDU/CSU) ren. Ich meine, dass das in diesem Gesetzentwurf gut ge- löst wurde. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir zumindest in Ich erteile das Wort dem Kollegen Dirk Manzewski, einem Bereich die Stringenz verlassen haben, und zwar SPD-Fraktion. in dem Punkt der Insolvenzfähigkeit der Wohnungs- eigentümergemeinschaft; denn eigentlich beinhaltet Rechtsfähigkeit auch Insolvenzfähigkeit. Nur, liebe Kol- Dirk Manzewski (SPD): leginnen und Kollegen, dies hätte einfach keinen Sinn Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat- gemacht; denn das Insolvenzrecht passt hier einfach tieren hier heute abschließend über den Entwurf der nicht. Das gilt insbesondere für das Ende eines Insol- Bundesregierung zur Änderung des Wohnungseigen- venzverfahrens; denn eine Wohnungseigentümergemein- tumsgesetzes. schaft kann zum Beispiel nicht aufgelöst werden. (B) (D) So sehr sich das WEG in der Vergangenheit grund- Problematisch wären aber auch die Regelungen hin- sätzlich bewährt hat, so hat sich im Laufe der Zeit doch sichtlich des Anfangs eines Insolvenzverfahrens gewe- ein zunehmender Bedarf nach praktikableren Regeln ge- sen. Eigentlich hätte man nämlich den Verwalter ver- zeigt. Insbesondere die bereits angesprochene Entschei- pflichten müssen, den Insolvenzeröffnungsantrag zu dung des Bundesgerichtshofs vom Juni 2005, mit der stellen. Der Zeitpunkt hierfür ist bei einer Wohnungsei- der BGH zum ersten Mal klargestellt hat, dass die Woh- gentümergemeinschaft aber relativ unklar. Die Bundes- nungseigentümergemeinschaft im Rahmen der Verwal- regierung hatte laut ihrer Gegenäußerung vor, den Ver- tung des gemeinschaftlichen Eigentums selbst rechtsfä- walter deswegen von dieser Pflicht zu entbinden. Im hig ist, hat uns veranlasst, dies auch so ins Gesetz zu Gesamtkontext wäre das aber nicht schlüssig gewesen. schreiben. Aus all diesen Gründen ist es deshalb meiner Auffassung Frau Kollegin Bluhm, es ist natürlich ärgerlich, wenn nach richtig gewesen, von einer Insolvenzfähigkeit der man ins kalte Wasser geworfen wird, ohne vorher bei Wohnungseigentümergemeinschaft Abstand zu nehmen. den Debatten, insbesondere den Anhörungen, dabei ge- Ich persönlich halte es im Grundsatz für richtig und wesen zu sein. dringend notwendig, dass in Teilbereichen eine Be- (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: War ich doch! schlusskompetenz und damit das Mehrheitsprinzip statt In einem anderen Ausschuss!) der bisher erforderlichen Einstimmigkeit für Entschei- dungen der Wohnungseigentümergemeinschaft einge- Trotzdem, es ist schon ein bisschen traurig, wenn man führt werden soll. Denn, Frau Kollegin Bluhm, das bis- dann im Grunde genommen nur das abliest, was einem lang geltende Einstimmigkeitsprinzip hat in der Praxis vorgefertigt wird, und sich keine eigenen Gedanken sehr häufig wichtige, gebotene Entscheidungen zulasten macht; der anderen verhindert und Wohnungseigentum damit (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Das ist eine unattraktiv gemacht. Der Einzelne ist im Übrigen – das Unterstellung! Das ist meine Meinung!) ist eine Kritik an Ihnen, Frau Bluhm – dadurch aber nicht rechtlos gestellt. Es wurde nämlich ein Korrektiv denn das, was Sie gesagt haben, war in den wesentlichen eingebaut, und zwar dergestalt, dass die einzelnen Mehr- Punkten falsch. heitsentscheidungen für den Einzelnen nicht unbillig er- scheinen dürfen. Ich meine, das ist ausreichend. Wenn nämlich verlangt wird, dies nicht gesetzlich zu verankern, Frau Kollegin Bluhm, dann bedeutet das Die Einführung einer aktuellen Beschlusssammlung nichts anderes – das habe ich schon beim Kollegen zu einer umfassenden Information potenzieller Erwerber Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7323

Dirk Manzewski (A) wird weiterhelfen, weil diese sich über die von der Ge- chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- (C) meinschaft gefassten Beschlüsse informieren können. entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Begrüßt wird von mir auch, dass wir eine kürzere Frist Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke für die Berufung des Erstverwalters eingeführt haben. angenommen. Aufgrund der Entscheidung des BGH halte ich es für Dritte Beratung folgerichtig, die Wohnungseigentümer nun nicht mehr und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- für die Verbindlichkeiten der Gemeinschaft gesamt- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – schuldnerisch haften zu lassen. Zwar soll auch weiterhin Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem die Möglichkeit bestehen, nicht nur gegen die Gemein- Stimmenverhältnis angenommen. schaft, sondern auch unmittelbar gegen den einzelnen Wohnungseigentümer vorzugehen. Dessen Haftung soll Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: sich aber nunmehr – ich glaube, das ist ziemlich ver- nünftig – auf seinen Anteil am Gemeinschaftseigentum Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- beschränken. richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) Ich erachte es für gut, dass wir eine Verlagerung der zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Verfahren vom FGG zur ZPO vornehmen. Abgesehen Ulrike Höfken, Ute Koczy, weiterer Abgeordne- davon, dass bereits bisher Grundsätze der ZPO im Woh- ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ nungseigentumsverfahren gegolten haben, bietet die DIE GRÜNEN ZPO meiner Ansicht nach die effizientere und stringen- Den Hunger in Entwicklungsländern wirksam tere Verfahrensführung. Kollegin Bluhm, da ich Richter bekämpfen – das Recht auf Nahrung umsetzen bin, kann ich sagen: Da Gerichte stets auf Ausgleich be- und ländliche Entwicklung fördern dacht sind, erwarte ich kein Nachlassen bei der Suche nach einvernehmlichen Lösungen. – Drucksachen 16/3019, 16/3835 – Dem Interesse des Einzelnen, sein Recht zu suchen Berichterstattung: – auch das ist von Ihnen im Zusammenhang mit dem Abgeordnete Dr. Wolf Bauer Kostenrisiko kritisiert worden; ZPO-Verfahren sind tat- Dr. Sascha Raabe sächlich in der Regel etwas teurer als FGG-Verfahren –, Dr. Karl Addicks wird aber durch die Beschränkung von Streitwert und Hüseyin-Kenan Aydin Kostenerstattung Rechnung getragen. Diese Verände- Thilo Hoppe rung ist an Ihnen offensichtlich vorbeigegangen. (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (D) Ich komme zum Schluss. Ich bin mir natürlich durch- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre aus bewusst, dass wir in absehbarer Zeit vermutlich noch keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. einige Justierungen am WEG vornehmen werden; der Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Kollege Geis hat das angesprochen. Nun aber alles auf ner das Wort dem Kollegen Dr. Sascha Raabe von der die lange Bank zu schieben und die weitere Rechtspre- SPD-Fraktion. chung abzuwarten, halte ich aber wie die große Mehr- zahl der Sachverständigen nicht für richtig. Dr. Sascha Raabe (SPD): (Beifall des Abg. Peter Hettlich [BÜND- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen NIS 90/DIE GRÜNEN]) und Kollegen! Wir befinden uns in der Adventszeit, in Ich finde, dass uns ein guter Vorschlag zur Änderung des der Weihnachtszeit. Wenn wir durch die Straßen Berlins WEG vorliegt. Ich bitte Sie hierfür um Ihre Zustim- gehen, dann sehen wir viele Menschen, deren größte mung. Sorge derzeit ist, wie sie noch schnell Weihnachtsge- schenke für ihre Kinder und ihre anderen Liebsten kau- Danke schön. fen können. Es ist etwas Schönes und Gutes, andere Menschen zu beschenken. Weihnachten ist ein schöner (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Brauch. Aber wir sollten bei alldem nicht aus den Augen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. verlieren, dass jeden Tag 30 000 Menschen, vor allem Mechthild Dyckmans [FDP]) Kinder, an den Folgen von Hunger und Armut sterben. Jeder Einzelne von ihnen hätte das Recht, zu leben. Die- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: jenigen, die nicht verhungern, hätten das Recht, einen Ich schließe die Aussprache. solchen Tag mit Geschenken, Wärme, Liebe und einem satten Bauch begehen zu können. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Deswegen finden wir die Zielsetzung des Antrags der rung des Wohneigentumsgesetzes und anderer Gesetze, Grünen mit dem Titel „Den Hunger in den Entwick- Drucksache 16/887. Der Rechtsausschuss empfiehlt in lungsländern wirksam bekämpfen – das Recht auf Nah- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3843, rung umsetzen und ländliche Entwicklung fördern“ gut. den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- Wir alle sind uns, glaube ich, parteiübergreifend über die men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Millenniumsentwicklungsziele, zu denen auch die Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei- Halbierung der Zahl der Hungernden gehört – wir wol- 7324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Sascha Raabe (A) len den Hunger schnellstmöglich ganz beseitigen – ei- lionen Euro in 30 Ländern Programme zur ländlichen (C) nig. Entwicklung. Diese und andere Programme beinhalten allerdings auch die Förderung der Menschenrechte, von (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Also demokratischen Strukturen und von Rechtssicherheit, wollt ihr zustimmen?) die Transparenz staatlichen Handelns, die Korruptions- Dreiviertel der Ärmsten leben auf dem Land. Deswegen bekämpfung, die Durchführung von marktwirtschaftli- hat ein Antrag, der sich auf den ländlichen Raum be- chen Reformen und von Landreformen sowie die Bil- zieht, große Bedeutung. dungs- und Gesundheitspolitik. Aber trotzdem ist es so, dass der Antrag der Grünen Da ich gerade über gute Regierungsführung spreche, neben der guten Zielrichtung ein Verständnis von ländli- möchte ich betonen: Ich denke, es ist richtig, dass die cher Entwicklung hat, das unserer Auffassung nach zu deutsche Entwicklungszusammenarbeit bei diesem eng gefasst ist. Denn wir in der SPD-Bundestagsfrak- Thema einen Schwerpunkt setzt. Denn es gibt viele Län- tion, aber auch unser Ministerium verstehen mehr darun- der, die über einen ländlichen Raum verfügen. Aller- ter, als nur Traktoren zu kaufen und technische Hilfe für dings leben in diesem ländlichen Raum häufig Arme und die Landwirtschaft anzubieten. Wir haben einen umfas- Hungernde. Diese Länder wären durchaus in der Lage, senderen Ansatz, der deutlich macht, dass wir Entwick- diese Menschen zu ernähren und ihnen ein gutes Ein- lungszusammenarbeit und die Entwicklung ländlicher kommen bzw. Auskommen zu ermöglichen. Räume in Entwicklungsländern unter anderem als glo- bale Strukturpolitik verstehen. Denn was nützt der Aus besonderem Anlass möchte ich ein Land hervor- Kauf von Traktoren, wenn der Landwirt seine Ware heben, von dem ich glaube, dass es durchaus wohlhabend nicht verkaufen kann? sein könnte, nämlich Kuba. Kuba ist eine Karibikinsel, die nahe an den USA liegt. Die dortigen klimatischen Der Grund dafür, warum viele Geberländer sich mit Verhältnisse sind für die landwirtschaftliche Produktion ihren Investitionen zurückgezogen haben, liegt eher da- gut. Eigentlich könnte diese Insel blühen und gedeihen rin, dass es sich oft nicht lohnt, in Regionen zu investie- und alle Menschen könnten in Wohlstand leben. Aber ren, in denen die Bauern ihre Produkte nicht mehr auf Kubas Regierung nimmt ihre Bevölkerung in Geiselhaft den Märkten verkaufen können, weil sie mit agrarsub- und will von Demokratie und Menschenrechten nichts ventionierten Dumpingprodukten der Industrieländer wissen. konkurrieren müssen. Deswegen richten wir den Fokus auf die globale Handelspolitik. Wir sind der Auffassung, An dieser Stelle muss ich auf etwas hinweisen, das dass im Antrag der Grünen zu wenig darauf eingegangen mich sehr empört hat: Eine Delegation des Deutschen wird. Bundestages, die Deutsch-Mittelamerikanische Parla- (B) mentariergruppe, wollte aus Solidarität mit der kubani- (D) Die Punkte zum Ökolandbau im Antrag der Grünen schen Bevölkerung nach Kuba reisen, um einen Beitrag haben sicherlich ihre Berechtigung. Auch wir wollen, zu Verständigung, Dialog und Demokratisierung zu leis- dass Landwirtschaft nachhaltig betrieben wird. Sie muss ten und den Menschen eine Perspektive zu geben. nachhaltig und standortgerecht betrieben werden. Es ist der falsche Weg, eine Nischenproduktion in Entwick- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lungsländern besonders fördern zu wollen. Denn hier Weil wir bei dieser Gelegenheit auch mit Oppositionel- geht es erst einmal darum, Menschen mit Nahrung zu len reden wollten, hat die kubanische Regierung der De- versorgen. Dabei kann es auch notwendig sein, die Men- legation des Deutschen Bundestags den Stuhl vor die schen mithilfe von konventioneller Agrarwirtschaft – so Tür gesetzt. Das darf sich dieses Haus nicht gefallen las- wie wir es tun – zu versorgen. sen. Der Antrag der Grünen fordert uns auf, den Entwick- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP lungsländern keinerlei Hilfestellungen im Bereich der und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gentechnologie zu geben, zum Beispiel wie sie verant- wortungsvoll damit umgehen können, sodass sich Saat- Gute Regierungsführung ist eine Aufgabe, der sich gut nicht unkontrolliert verbreitet und Menschen in Ent- die Entwicklungsländer selbst stellen müssen. Nur dann, wicklungsländern nicht abhängig von Saatgut werden, wenn sie das tun, können wir auch im ländlichen Raum das von den Agrarmultis und den Chemiemultis der In- den Hunger überwinden. dustrieländer angeboten wird. Ich glaube, es ist wichtig, Als Industrienation müssen wir auch unsere eigenen dass mit der Gentechnologie in Entwicklungsländern Hausaufgaben machen. Wie ich bereits vorhin sagte, verantwortlich umgegangen wird und wir den Entwick- geht es dabei auch um die globalen Rahmenbedingungen lungsländern Hilfestellung geben und uns nicht zurück- im Handelsbereich. In dieser Woche jährt sich das Schei- ziehen, wie es der Antrag der Grünen fordert. Man muss tern der WTO-Konferenz in Hongkong. Damals ging es den Willen der Länder respektieren, auch wenn wir in bei der festgefahrenen Doha-Entwicklungsrunde da- Deutschland dieses Thema anders handhaben. Jeder rum – das steht nach wie vor im Mittelpunkt –, den Ent- kann seine eigene Meinung dazu haben. Aber man muss wicklungsländern für ihre Produkte, auch für ihre Agrar- respektieren, was die Entwicklungsländer wollen. produkte, einen fairen Marktzugang zu ermöglichen. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass gute Wir dürfen nicht weiterhin mit enormen Subventionen Regierungsführung in den Entwicklungsländern wich- Exportdumping betreiben, sodass die Bauern ihre Waren tig ist. Wir unterstützen in einem Umfang von 350 Mil- nicht verkaufen können, weil zum Beispiel tiefgefrore- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7325

Dr. Sascha Raabe (A) nes Geflügelfleisch aus der EU in afrikanischen Regalen Leider haben wir heute nicht über die Überschrift ab- (C) liegt. Man kann die Hühnerfarm eines Bauern noch so zustimmen – wenn es so wäre, könnten Sie unserer Zu- sehr unterstützen, auch mit Mitteln der Entwicklungszu- stimmung sicher sein. sammenarbeit. Aber wenn man diese Situation nicht än- dert, hat er davon nichts. Es ist vieles richtig, was die Grünen in ihrem Antrag schreiben und fordern. Doch leider ist es nicht so viel, Das Europaparlament hat heute den Haushalt für dass wir einfach so zustimmen könnten; ich habe das das Jahr 2007 beschlossen. Den größten Haushaltsposten gestern im Ausschuss begründet und ich will gleich noch – er beträgt fast 50 Prozent; das entspricht knapp 55 Mil- ein bisschen dazu sagen. liarden Euro – bilden die Subventionen für die Landwirt- schaft. Ich begrüße ausdrücklich, dass sich in der De- Es ist richtig: Es ist ein Riesenskandal, dass es auf batte, die wir heute Morgen geführt haben, nicht nur diesem Planeten immer noch Menschen gibt, die hun- unsere Entwicklungsministerin, sondern auch die Bun- gern müssen, dass Kinder wegen Nahrungsmangels deskanzlerin für gerechte Handelsbedingungen stark ge- krank werden und sterben. Dieser Nahrungsmangel be- macht hat. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hat die steht nicht nur in qualitativer Hinsicht, er besteht ebenso enormen Agrarsubventionen der EU und der USA vehe- in quantitativer Hinsicht. Nach den Berichten der Welt- ment kritisiert. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass gesundheitsorganisation haben 852 Millionen Men- die Länder des Südens keine fairen Handelsbedingungen schen auf diesem Planeten nicht genügend Nahrung und vorfinden, und betont, dass er das ändern will. Ich denke, diese Zahl steigt sogar noch – und das, obwohl die Mittel hier hat er Recht. für die Entwicklungszusammenarbeit weltweit erhöht werden. Offensichtlich geht die Gleichung „Mehr Geld (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gleich mehr Hilfe gleich weniger Hunger“ nicht auf. der CDU/CSU) Gibt es etwas, was wir in der Entwicklungszusammen- – Ja. Wo er Recht hat, hat er Recht. Das müssen auch wir arbeit nicht richtig machen? Was können wir besser ma- unterstützen. chen? Diese Fragen müssen immer wieder gestellt wer- den. Ich glaube, wir müssen auch bei den Verhandlungen im Rahmen der Economic Partnership Agreements, also Damit komme ich zu den Punkten im Antrag der Grü- der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit den afrika- nen, die absolut nicht unsere Zustimmung finden kön- nischen und karibischen Staaten, einfordern, dass den nen. Die Beseitigung des Hungers ist und bleibt eine der Entwicklungsländern wirklich faire Handelschancen größten Herausforderungen; da sind wir völlig einer eingeräumt werden. Meinung. Doch die Frage lautet: Warum hungern die Menschen ausgerechnet in den ländlichen Gebieten, wo- (B) Letztlich hilft die ländliche Entwicklung nicht nur her die Nahrung doch kommt? Hat das vielleicht etwas (D) den Menschen in den Entwicklungsländern. Wie die Ver- mit der Verteilung des Agrarlandes zu tun? Ja, sicher. leihung des Friedensnobelpreises am Sonntag letzter Aber das ist es nicht allein; es sind auch Krieg, Krank- Woche an Herrn Yunus gezeigt hat, besteht auch ein sehr heit und Korruption. Kollege Raabe hat gerade schon starker Zusammenhang zwischen Frieden und Entwick- viele andere Gründe genannt; ich will das nicht noch ein- lung. Das eine bedingt das andere. Meiner Meinung nach mal aufzählen. Jedenfalls gibt es dafür viele Ursachen. gibt es aber nicht nur einen Zusammenhang zwischen Deshalb nutzen isolierte Nahrungsmittelprogramme al- Entwicklung und Frieden, sondern auch einen Zusam- lenfalls punktuell. Natürlich helfen wir in akuten Notla- menhang zwischen Entwicklung und Freiheit. Daher gen, etwa bei Hungerkrisen. Aber auf die Dauer nutzen möchte ich mit einem Zitat von schließen. nur Maßnahmen, die die Entwicklungsländer auf den Er hat gesagt: Weg von Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft und Plu- ralismus bringen. So lassen sich die Ursachen des Hun- Satte Menschen sind nicht notwendigerweise frei, gers bekämpfen. Das sind die Maßnahmen, die wir in hungernde Menschen sind es in jedem Fall nicht. erster Linie fördern und fordern müssen. Lassen Sie uns in diesem Sinne für die Freiheit kämpfen. (Beifall bei der FDP) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Es ist nicht so, dass wir das nicht schon täten. Aber (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wir können diese Maßnahmen besser bündeln, besser synchronisieren und effizienter gestalten. Wir sind da an Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: einigen Punkten anderer Auffassung als die Grünen, Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Karl Addicks von übrigens gemeinsam mit der Bundesregierung. Wer der FDP-Fraktion. Afrika kennt, der weiß, dass dieses Land – zumindest in den tropischen und subtropischen Zonen – auch 2 Milliarden Menschen ernähren könnte. Gehen Sie hin Dr. Karl Addicks (FDP): und stecken Sie eine Banane in die Erde – stecken Sie ir- Danke. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- gendetwas in die Erde! –, und Sie werden ohne viel Da- men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da zutun in kürzester Zeit die Ernte einfahren. wir alle das Ziel verfolgen, den Hunger wirksam zu be- kämpfen und die ländliche Entwicklung zu fördern, hät- Allerdings fruchten diese Maßnahmen nur, wenn sie ten wir wirklich einen interfraktionellen Antrag formu- ineinander greifen, wenn sie miteinander verzahnt sind – lieren können. sonst bleibt alles Stückwerk. Deshalb sollten wir in der 7326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Karl Addicks (A) EZ nicht den großen Wurf versuchen, sondern den Län- – Herr Präsident, jetzt müssen Sie aber langsam unter- (C) dern ganz kontinuierlich bei der Entwicklung helfen, brechen. sprich: den Beginn der Wertschöpfungsketten stärken. (Heiterkeit) Da liegen Sie mit Ihrer Forderung, die ländliche Ent- wicklung und die Landwirtschaft zu fördern, sehr rich- Verabschieden Sie sich bitte von den Dogmen, auch tig. Aber das ist es nicht allein. Wichtig sind auch Klein- vom Dogma der Ablehnung der Grünen Gentechnik. handel, Handwerk, Kleingewerbe und viele andere Das ist nicht das Teufelszeug, als das Sie es immer kleine Dinge. Wir haben bei unseren Besuchen in Nami- brandmarken. Die Grüne Gentechnik bringt auch sehr bia und in anderen afrikanischen Ländern gesehen, wie segensreiche Dinge mit sich – das haben übrigens auch es funktioniert, Leute zum Beispiel mit Mikrokrediten in Leute von Greenpeace erkannt –, sie eröffnet durchaus die Selbstständigkeit zu bringen, wie Arbeitsplätze ge- Chancen und beinhaltet nicht nur hypothetische Risiken. schaffen werden und Menschen dadurch letztlich von Herr Hoppe, auch Düngemittel können für die Landwirt- Hilfe unabhängig gemacht werden. Das ist die beste Ent- schaft in der Dritten Welt eine sehr große Bedeutung ha- wicklungszusammenarbeit, das ist die Entwicklungszu- ben. Man sollte das nicht einfach ablehnen. Die Pflanzen sammenarbeit aus einem Guss, die wir brauchen. brauchen nun einmal bestimmte Mineralien; fehlende Mineralien begrenzen ihr Wachstum. Lassen Sie die (Beifall bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜND- Dogmen hinter sich! Dann kommen wir zu gemeinsa- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Bananen in die Erde men zustimmungsfähigen Anträgen. stecken? Sie wollen die Menschen ernähren, indem Sie Bananen in die Erde stecken?) Vielen Dank. – Auch eine Form der Landwirtschaft; es gibt viele For- (Beifall bei der FDP) men. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Wort hat der Kollege Dr. Wolf Bauer von der NEN]: Eine interessante Form der Landwirt- CDU/CSU-Fraktion. schaft! Wissen Sie, wie man Bananen anbaut? – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU) CSU]: Der Trittin pflückt Erdbeeren mit der Leiter!) Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Aber ich will darauf jetzt nicht näher eingehen. Haben Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Meine Sie schon einmal längere Zeit in Afrika gelebt, Herr Trit- lieben Kolleginnen und Kollegen! In vielen Ländern (B) tin? rund um den Globus ist die Bekämpfung des Hungers (D) die wichtigste Voraussetzung für eine positive Entwick- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lung. Letztendlich wollen wir alle eine positive Entwick- NEN]: Ich weiß, wie Bananen angebaut wer- lung erreichen; darum müssen wir kämpfen. Wir haben den!) die Zahl schon gehört: 850 Millionen Hungernde. Das ist natürlich viel zu viel. Diese Zahl muss sinken. Wir ha- Ich war jahrelang da, ich weiß genau, wovon ich rede. ben auch von dem Millenniumsziel gehört: Bis 2015 Kommen Sie mir bitte nicht mit solch trivialen Zwi- wollen wir die Zahl der Hungernden halbieren. Das ist schenrufen! ein hochgestecktes Ziel; aber wir müssen es erreichen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE Dabei stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass GRÜNEN]: Oh!) auf der einen Seite in Ländern wie Ghana, Mosambik Die Forderung der Grünen, mit westlichem Bürokra- und Brasilien erfreulicherweise beachtliche Fortschritte tismus die Dinge zu regulieren, mit Labels und Stan- bei der Bekämpfung des Hungers erzielt werden konn- dards, das passt überhaupt nicht; so etwas können wir ten, während auf der anderen Seite die Situation in gan- irgendwann später einführen. Das brauchen die Entwick- zen Regionen unverändert dramatisch ist. Wir müssen lungsländer jetzt nicht. zunächst nach den Ursachen fragen und diese analysie- ren. (Beifall bei der FDP) Bei der Sicherung der Ernährung sind drei Ele- Sie brauchen eine Liberalisierung, einen Abbau von mente von entscheidender Bedeutung: Handelshemmnissen und Zöllen; Herr Raabe hat das ge- Erstens: eine ausreichende Produktion guter Nah- rade schon gesagt. rungsmittel. Sie kann durch Veränderungen in vielen Be- (Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ reichen erreicht werden. DIE GRÜNEN]) Zweitens: der Zugang zu Nahrung. Damit meine ich – Herr Trittin, also bitte! – Nur so erreicht man die Wert- auch die fehlende Kaufkraft in vielen Ländern. schöpfung in den Entwicklungsländern, die – – Drittens: die Verwertung der Nahrungsmittel. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Daraus wird ersichtlich, dass in den einzelnen Ent- NEN]: Sie reden sich in einen Zustand, wo Sie wicklungsländern je nach Problemlage unterschiedliche am Ende ohne Kopf und Kragen dastehen!) Handlungsfelder gewählt werden müssen. Wenn man Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7327

Dr. Wolf Bauer (A) sich beispielsweise Afrika anschaut, stellt man fest, dass Meine Damen und Herren, wir müssen uns von ideo- (C) im Unterschied zu anderen Regionen die Erträge pro logischen Präferenzen lösen Kopf der Bevölkerung in den letzten Jahren dramatisch zurückgegangen sind. Hier muss man mehr in die land- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) wirtschaftliche Produktion investieren. und nach vernünftigen, standortgerechten und nachhalti- gen Lösungen suchen, sie finden und dann auch umset- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zen. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- So können wir etwas erreichen. neten der SPD) In anderen Ländern, beispielsweise in Lateinamerika, Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir den Entwick- haben wir ein Problem mit der Kaufkraft. Dort müssen lungsländern – sozusagen unseren Partnerländern – nicht wir der Bevölkerung eine ganz andere Form der Hilfe vorschreiben können und wollen, was sie zu tun und was zukommen lassen. Sozialprogramme wie „Fome Zero“ sie zu lassen haben. Wir können nur gemeinsam und auf in Brasilien sind dabei sicherlich ein guter Ansatzpunkt. gleicher Augenhöhe mit ihnen vernünftige Lösungen finden, Programme entwickeln und die sozialen, politi- Oftmals scheitert eine ausreichende Versorgung mit schen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen Nahrungsmitteln am fehlenden Zugang von Bauern zu vor Ort mit einbauen. Nur dadurch werden wir eine sinn- Land und an mangelhaft durchgeführten Landreformen. volle Arbeit leisten können. Eine umverteilende Landreform allein ist in den meisten Fällen aber nicht ausreichend, um eine nachhaltige länd- Es ist auch schon angeklungen, dass die Partnerlän- liche Entwicklung zu erreichen. Auch hier müssen wir der selbst natürlich ebenfalls in der Verantwortung sind. individuelle Lösungen finden. Ich bin froh darüber – Sie von den Grünen verweisen in Ihrem Antrag ja auch darauf –, dass es die freiwilligen Die Implementierung von Agrarreformen führt nicht Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung gibt. nur zu einer Umverteilung von Land, sondern auch dazu, Sie sind ein großer und wichtiger Beitrag zur Bekämp- dass Bauern und Landlose in die Lage versetzt werden, fung des Hungers. Die jeweiligen nationalen Regierun- nachhaltig zu produzieren. Sie müssen am Markt und da- gen werden durch sie in die Pflicht genommen, dafür mit am Wettbewerb teilhaben können. Natürlich müssen Sorge zu tragen, dass die Bevölkerung einen ausreichen- sie entsprechende Ressourcen wie auch Kapital zur Ver- den Zugang zu Nahrung hat. Von dieser Verantwortung fügung haben. Hierbei sind Aus- und Fortbildung mit Si- werden wir die Regierungen auch nicht entbinden. Un- cherheit ganz wichtige Punkte; beides müssen wir wei- sere Entwicklungszusammenarbeit kann nur subsidiär (B) terhin fördern. sein. Daran müssen wir entsprechend arbeiten und das (D) müssen wir unterstützen. Die Bundesregierung – das muss man anerkennen – unterstützt Agrar- und Bodenreformen, indem sie im Wir sollten dabei allerdings auch überlegen, wie wir politischen Dialog mit den Regierungen der Partnerlän- das bereits angesprochene Instrument der freiwilligen der hierfür eintritt. Hierbei spielen die finanzielle Förde- Leitlinien weiterentwickeln können, damit dadurch noch rung des Aufkaufs von Land im Zuge von Landreformen, besser zur Bekämpfung des Hungers beigetragen werden das Angebot zur Beratung bei Landverfassungsrefor- kann. Vorstellbar wäre ein effektives Monitoring-Instru- men, die Hilfe bei Fragen sozialverträglicher Landver- ment, um die Erfolge und auch Probleme der nationalen teilung, aber auch der Zugang von Frauen zu Ressourcen Regierungen bei der Bekämpfung des Hungers zu doku- neben vielen anderen Dingen eine wichtige Rolle. mentieren und zu analysieren. Dazu liegt ja bereits eine entsprechende Studie vor, die als Grundlage für die Be- In dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die ratung dienen kann. Grünen „Den Hunger in Entwicklungsländern wirksam bekämpfen – das Recht auf Nahrung umsetzen und länd- Darüber hinaus ist die Erweiterung des Pakts für wirt- liche Entwicklung fördern“ wird kritisiert, dass sich die schaftliche, soziale und kulturelle Rechte um die Mög- internationale Agrarforschung zu sehr auf die Gebiete lichkeit eines Individualbeschwerdeverfahrens zu dis- konzentriert, die ertragsstark sind bzw. bewässert wer- kutieren. Derzeit arbeitet bereits eine Arbeitsgruppe des den können. Ich kann das so nicht sehen und ich meine, UN-Menschenrechtsrates daran. Vielleicht gelingt es uns die Kritik ist nicht angebracht, weil dadurch auch wich- ja, die Möglichkeit einer Individualbeschwerde hinsicht- tige Impulse und Beiträge geliefert werden, um gerade lich des Rechts auf Zugang zu Nahrung auf internationa- dieses Problem bewältigen zu können. ler Ebene vor dem entsprechend zuständigen UN-Aus- schuss zu schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Auch durch die in dem Antrag geforderte Ausrich- So könnten die Regierungen besser in die Verantwortung tung auf die ökologische Landwirtschaft allein – das genommen werden, die Verpflichtungen aus den jeweili- haben wir eben schon gehört – kann nicht entscheidend gen freiwilligen Leitlinien einzuhalten und umzusetzen. zur Linderung des Hungers beigetragen werden. Hier müssen wir ebenfalls alle Möglichkeiten ausschöpfen, Dass wir all dies nicht im Alleingang bewältigen die sinnvoll sind und uns weiterhelfen. können, liegt auf der Hand. Die Notwendigkeit einer 7328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Wolf Bauer (A) besseren internationalen Absprache und Arbeitstei- ten. Das ist richtig. Ein Beispiel: Im Sommer 2005 er- (C) lung wird von niemandem bestritten. reichten uns aus Niger Nachrichten über eine dramati- sche Hungerepidemie. Dürre und Heuschreckenbefall (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) sollen die Ursache gewesen sein. Tatsächlich betrug der Ich befürchte aber, dass die FAO allein mit dieser Auf- Rückgang des Ernteertrages aber nur 10 Prozent. Doch gabe möglicherweise überfordert ist. Ich hätte mir ge- das reichte aus, um die Preise für Getreide hochzutrei- wünscht, dass in dem Antrag auch auf andere wichtige ben, und das in einem Land, in dem die Hälfte der Be- internationale Gremien, wie beispielsweise die Global völkerung pro Tag nicht mehr als einen Dollar zur Verfü- Donor Platform for Rural Development, verwiesen wor- gung hat. Eine Katastrophe! den wäre. Während die Menschen im Niger hungerten, expor- Des Weiteren ist in dem vorgelegten Antrag zu lesen, tierten Nahrungsmittelhändler ihr Getreide ins Nachbar- dass wir die marktverzerrenden Agrarsubventionen land Nigeria, wo mehr Menschen über das notwendige senken sollen. Ich glaube, dass wir hier mutiger sein Geld verfügen. Die Hungerepidemie von 2005 im Niger müssen und auch wollen. Daher ist es unser Ziel, die war Ergebnis einfacher Marktmechanismen. Agrarexportsubventionen nicht nur zu senken, sondern Der Hunger in der dritten Welt ist auch unser Pro- langfristig ganz abzuschaffen. blem. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (Beifall bei der LINKEN) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Denn wer hungert, hat nichts mehr zu verlieren. Es ist vollkommen verständlich, dass Menschen aus vielen Meine Damen, meine Herren, bei all diesen kritischen Ländern Afrikas dem Elend entfliehen wollen. Und was Anmerkungen zu dem Antrag der Fraktion des Bündnis- macht die EU? Sie stellt Gelder für die Aufrüstung der ses 90/Die Grünen, die ich jetzt gemacht habe, möchte Grenzpolizei zur Flüchtlingsabwehr zur Verfügung. ich ausdrücklich festhalten, dass er in vielen wichtigen Die Linke sagt Nein zu dieser Politik. Teilen richtige Vorschläge enthält und dass wir seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wesentliche Teile (Beifall bei der LINKEN) auch unterstützen. Trotzdem ist uns der Antrag an vielen Stellen – dies ist bereits kritisiert worden – zu pauschal Das Übel muss an der Wurzel gepackt werden. Die und zu tendenziös. Aus diesem Grunde müssen wir ihn Menschen müssen einen Arbeitsplatz haben, der die Existenz ihrer Familien sichert. Beschäftigung ist das leider ablehnen. beste Mittel gegen Armut und Hunger. Dies erfordert in Ich hoffe nur, dass wir bald zu einem gemeinsamen vielen Ländern der Dritten Welt den Wiederaufbau staat- (B) (D) Antrag kommen – das ist ja auch bereits mehrmals ange- licher Strukturen, die seit den 80er-Jahren unter dem sprochen worden – und dass wir hier einen vernünftigen Druck von IWF oder Weltbank systematisch zerstört und guten Antrag verabschieden, mit dem wir alle un- worden sind. sere Ziele verwirklicht sehen. Die Antragsteller verweisen außerdem zu Recht auf Danke schön. das Landproblem. Nach UN-Angaben sind die Hälfte der weltweit Hungernden Kleinbauern und ihre Fami- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lien. Ein weiteres Viertel stellen Landlose. Es braucht dringend Landreformen. Nur wenn Großgrundbesitzer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zugunsten der Landlosen enteignet werden, kann die ex- Das Wort hat jetzt die Kollegin Aydin von der trem ungleiche Verteilung als eine der Hungerursachen Fraktion Die Linke. beseitigt werden. (Zurufe von der LINKEN: Kollege!) (Beifall bei der LINKEN) – Kollege Aydin. Entschuldigung. Die Linke sagt: Wir müssen eine Politik der systema- (Beifall bei der LINKEN – Klaus Uwe Benneter tischen Armutsbekämpfung in den Ländern der Dritten [SPD]: Das sieht man doch!) Welt unterstützen. Armutsbekämpfung heißt für uns die Zurückdrängung ungesicherter Jobs in der Schattenwirt- schaft durch die Schaffung staatlich garantierter Arbeits- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): plätze mit angemessenen Löhnen, So sieht eine Kollegin aus. – Meine Damen und Her- ren! Herr Präsident! 1996 gab es das Versprechen der (Beifall bei der LINKEN) Regierenden, den Hunger auf der Welt bis zum eine Umverteilung von Land zugunsten der Landlosen Jahr 2015 zu halbieren. Die Bilanz ist erschütternd. und Kleinbauern in den Ländern der Dritten Welt, staat- Nach Angaben der FAO hat sich die Zahl der Hungern- liche Eingriffe in den Markt, zum Beispiel zur Subven- den von 840 auf 854 Millionen erhöht. Ein Antrag, der tionierung von Getreide- und Milchprodukten. die Hungerbekämpfung ins Zentrum der Politik stellt, findet selbstverständlich unsere Zustimmung. (Dr. Karl Addicks [FDP]: Wie jetzt? Wollt ihr auf einmal Subventionierung?) Als zentrale Maßnahme zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung definieren die Antragsteller den Zugang zu Dies muss welthandelspolitisch flankiert werden produktiven Ressourcen und Einkommensmöglichkei- durch die Senkung der Zinslast durch Streichung illegiti- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7329

Hüseyin-Kenan Aydin (A) mer Schulden, die Stärkung von Zollschutzmechanismen – speziell der Agrarsektor – sträflich vernachlässigt (C) für die Landwirtschaft der Entwicklungsländer, um sie wird. Das ist doch absolut widersinnig: Die Zahl der vor der ruinösen Konkurrenz durch die großen Nah- Hungernden steigt, aber die Gelder für die Betroffenen rungsmittelkonzerne der Industrieländer abzuschirmen. werden in diesem Bereich gekürzt. Wenn Sie ernsthaft daran interessiert sind, den Hun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ger zu bekämpfen, müssen Sie diese Vorschläge anneh- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) men. Ihre Argumentation, Sie könnten 80 Prozent des Auf diesen Missstand – um nicht zu sagen: Skandal – Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen folgen, machen wir mit unserem Antrag aufmerksam. aber da 20 Prozent nicht Ihre Zustimmung finde, müss- ten Sie ihn ablehnen, ist heuchlerisch. Es reicht nicht aus, als Reaktion eine Träne darüber zu vergießen, dass 30 000 Menschen pro Tag verhun- (Beifall bei der LINKEN) gern. Ich gebe zu, dass auch ich viele Reden mit Betrof- fenheitspädagogik oder mit aufrüttelnden Einzelschick- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: salen begonnen habe, die ich in den Notaufnahmelagern Das Wort hat jetzt der Kollege Thilo Hoppe von in Niger selber kennen gelernt habe. Das allein reicht Bündnis 90/Die Grünen. aber nicht. Es ist jetzt notwendig, auf den Missstand zu reagie- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ren. Dazu fordern alle kirchlichen Hilfswerke und NGOs Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wie Brot für die Welt, Misereor oder FIAN mehr Geld wird schwierig, in vier Minuten auf all die Argumente und neue Konzepte für die ländliche Entwicklung, und Unterstellungen einzugehen. Ich möchte am Ende und zwar besonders für die Landwirtschaft. dieser Debatte noch einige Zahlen und klare Fakten all- gemeinverständlich darlegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt acht Millenniumsziele. Bei sieben Millen- Ich begreife nicht, dass zwar in den Anhörungen viele niumszielen gibt es – wenn auch bescheidene – Fort- Fachpolitiker dieser Forderung zustimmen, dass aber im schritte. Bei dem wichtigsten Ziel – die Halbierung der Etat dieser Bereich nach wie vor in zunehmendem Maße Zahl der Hungernden bis 2015 – gibt es aber keinerlei vernachlässigt wird. Fortschritte, die Kurve verläuft vielmehr in die falsche (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Das ist Richtung – das haben schon einige Redner festgestellt –: die Heuchelei!) Die Zahl der Hungernden steigt. Diesen Skandal prangern wir an. Ich bitte Sie, das end- (B) Das müsste doch zu einem Aufschrei und einer kriti- (D) lich anzugehen. schen Selbstreflexion führen. Woran liegt das? Es gab einen Beitrag – und zwar von Herrn Dr. Bauer – (Dr. Karl Addicks [FDP]: Gute Frage!) mit sehr viel Substanz auch zum Thema Recht auf Nah- Zur kritischen Reflexion müssten die Regierungen der rung. Dafür möchte ich mich bedanken. vom Hunger betroffenen Staaten, aber auch die Akteure Damit komme ich zu meinem nächsten Punkt. Was der Entwicklungszusammenarbeit eigentlich einen Son- das Recht auf Nahrung angeht, müssen drei Vorausset- derkrisengipfel durchführen. zungen geschaffen werden. Erstens sind mehr Geld und Es gibt noch eine zweite Kurve. Das hat heute noch neue Konzepte für den ländlichen Raum in der Ent- niemand deutlich gesagt. Herr Addicks, Sie haben fest- wicklungszusammenarbeit notwendig. Aber das Gegen- gestellt, dass die Mittel für die Entwicklungshilfe und teil ist der Fall, und zwar nicht nur in Deutschland, son- die Zahl der Hungernden zunehmen. Daraus haben Sie dern international. Das muss zu einem Aufschrei führen. geschlossen, dass die Entwicklungshilfe womöglich so- Zweitens muss das Recht auf Nahrung einen sehr gro- gar eine Ursache dafür ist oder zumindest das Problem ßen Stellenwert bekommen. Das stößt manchmal an die nicht verbessert. Grenzen einer überstrapazierten Ownership. Wenn unser (Dr. Karl Addicks [FDP]: Das habe ich nicht Ministerium beispielsweise in Verhandlungen mit der gesagt!) Regierung von Niger darauf hinweist, dass die Entwick- lungszusammenarbeit auf drei Bereiche beschränkt wer- Erlauben Sie mir eine genauere Betrachtung. Nach den muss, um sich nicht zu verzetteln, und der Regie- den neuesten Zahlen von UNDP – dem Entwicklungs- rung die Auswahl dieser Bereiche überlässt, darf es programm der Vereinten Nationen – ist der Anteil der einem Land mit extrem vielen Hungertoten nicht mög- Entwicklungshilfemittel, die für den ländlichen Raum lich sein, dass die Regierung in diesem Fall der ländli- bzw. den Agrarbereich gedacht sind, von 1990 bis 2005 chen Entwicklung eine geringere Bedeutung beimisst von 12 Prozent auf etwas mehr als 3 Prozent zurückge- und sich für andere Sektoren entscheidet. gangen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben in der letzten Wahlperiode und in dieser und bei der LINKEN) Wahlperiode im Entwicklungsausschuss zwei Anhörun- gen durchgeführt. Alle Sachverständigen aus den wis- In einem Land, in dem Menschen verhungern, dürfen senschaftlichen Instituten haben übereinstimmend fest- nicht andere Sektoren den ländlichen Bereich verdrän- gestellt, dass der Bereich ländliche Entwicklung gen. 7330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Thilo Hoppe (A) Drittens. Wie der Kollege Sascha Raabe zu Recht menarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/3835 zu (C) festgestellt hat, reicht eine Senkung der Agrarexport- dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen subventionen nicht aus. Wir sind gerne bereit, den An- mit dem Titel „Den Hunger in Entwicklungsländern trag in diesem Punkt noch radikaler zu formulieren. Wir wirksam bekämpfen – das Recht auf Nahrung umsetzen fordern die Abschaffung aller marktverzerrenden Agrar- und ländliche Entwicklung fördern“. Der Ausschuss subventionen. Das ist völlig klar. empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/3019 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Wir brauchen gerechte Strukturen im Welthandel. Das genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- hat auch Herr Bauer festgestellt. Aber in einem Punkt lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und möchte ich ihm deutlich widersprechen. Es wurde das der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Bild gemalt, dass mit einem freien Welthandel, mit Han- Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. delsliberalisierung und einem verbesserten Marktzugang für die Entwicklungsländer das Problem des Hungers Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zu- überall gelöst werden kann. satzpunkt 6 auf: Es gibt zwei weitere Kurven, die eigentlich kaum zu- 12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sammenpassen. Es gibt Länder, die auf dem Papier Wirt- richts des Ausschusses für Kultur und Medien schaftswachstum durch die Ausweitung der Plantagen- (22. Ausschuss) exportwirtschaft haben. Trotzdem steigt dort die Zahl der Hungernden. Warum? Wenn es keine flankierende – zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhard Sozialpolitik, kein progressiv gestaffeltes Steuersystem Grindel, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Peter und keine Umweltgesetzgebung in den betreffenden Albach, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ländern gibt, dann führt eine Ausweitung der Planta- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten genwirtschaft zur Verdrängung von Kleinbauern, Fami- Jörg Tauss, Monika Griefahn, Martin Dör- lienbetrieben und Indigenen. Das kann man in vielen mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ländern mit einer starken Weltmarktintegration sehen. der SPD Diese kann unter anderen Voraussetzungen sehr segens- Die Schaffung eines kohärenten europäi- reich sein. Wir vertreten keine Abschottungstheorie. schen Rechtsrahmens für audiovisuelle Wenn es aber keine flankierende Gesetzgebung gibt, Dienste zu einem Schwerpunkt deutscher dann führt die Weltmarktintegration zu noch mehr Hun- Medien- und Kommunikationspolitik in gernden, als wir heute bereits haben. Europa machen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph (B) Waitz, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Jens (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Herr Kollege Hoppe, kommen Sie bitte zum Schluss. Fraktion der FDP Für einen zukunftsfähigen europäischen Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rechtsrahmen audiovisueller Medien- Auf die genannten drei Säulen gehen wir in unserem dienste – den Beratungsprozess der EU- Antrag ein. Es war in der alten Regierung mit der SPD Fernsehrichtlinie aktiv begleiten leichter, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Unser heutiger Antrag ist zu 80 bis 90 Prozent identisch – zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bet- mit alten Anträgen betreffend die Bekämpfung des Hun- tin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Ab- gers. Ich finde es schade, dass wir nun damit alleine ste- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- hen. SES 90/DIE GRÜNEN Für eine verbraucherfreundliche und Quali- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tät sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Herr Kollege Hoppe, Sie haben Ihre Redezeit weit Mediendienste überschritten. – Drucksachen 16/3297, 16/2675, 16/2977, 16/3791 – Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielleicht wird die Anregung aufgegriffen und wir Berichterstattung: unternehmen den Versuch eines fraktionsübergreifenden Abgeordnete Reinhard Grindel Antrags. Jörg Tauss Christoph Waitz Danke sehr. Dr. Lukrezia Jochimsen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grietje Bettin ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: richts des Ausschusses für Kultur und Medien Ich schließe die Aussprache. (22. Ausschuss) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joa- empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- chim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7331

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und das Fernsehen als ein Medium für den öffentlichen Dis- (C) der Fraktion der FDP kurs. Es geht beim Fernsehen um ein Programmange- bot zur Information, Bildung und Unterhaltung. Fernse- Keine Rundfunkgebühr für Computer mit hen ist für uns sowohl Kultur- als auch Wirtschaftsgut. Internetanschluss – die Gebührenfinanzie- rung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und grundlegend reformieren der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Aber in dieser Reihenfolge!) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, – Richtig, in dieser Reihenfolge, lieber Kollege Tauss. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Das verbindet uns in der großen Koalition. LINKEN Ich sage es einmal zugespitzt: Ziel des Fernsehens Moratorium für PC-Gebühren – sofortige kann es nicht sein, dass alle Zuschauer zu einer Infoelite Neuverhandlung des Rundfunkgebühren- werden. Sie dürfen aber auch nicht in einem Unterhal- staatsvertrages tungsprekariat versinken – um es einmal so zu formulie- ren. – zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN neten der SPD) PC-Gebühren-Moratorium verlängern Demzufolge müssen wir mit der Umsetzung der EU- Fernsehrichtlinie beide Säulen unseres dualen Rund- – Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793, funksystems stärken. Die große Koalition will so viel 16/3792 – Flexibilisierung wie möglich und so viel Regulierung Berichterstattung: wie nötig. Beispiel Werbezeiten: So wie in unserem frak- Abgeordnete Reinhard Grindel tionsübergreifenden Antrag grundsätzlich gefordert, hat Jörg Tauss nun das Europäische Parlament eine Ausweitung der Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Werbeunterbrechungen auf alle 30 Minuten beschlossen. Gleichzeitig werden Einzelspots bei Sportsendungen zu- Dr. Lukrezia Jochimsen gelassen. Das ist ein sachgerechter Kompromiss. Dabei Grietje Bettin weise ich darauf hin, dass sich die europäischen Libera- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die len, lieber Herr Kollege Otto, gerade gegen die Aufhe- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich bung des Blockwerbegebots ausgesprochen haben. Das (B) höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. sage ich nur für den Fall, dass die FDP im Bundestag auf (D) dieses Thema näher eingehen sollte. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner das Wort dem Kollegen Reinhard Grindel von der Zur Produktplatzierung wird unser Kollege Krum- CDU/CSU-Fraktion. macher einiges sagen. Anders als von der EU-Kommis- sion gewollt, beschränkt das EU-Parlament die Produkt- Ich bitte die Kollegen, die dieser Aussprache nicht platzierung auf Fernsehfilme und Serien. Das ist gut. Gut folgen wollen, den Saal zu verlassen, damit die anderen ist vor allem, dass Dokumentationen, Ratgebersendun- dem Redner folgen können. gen und Kinderprogramme von Produktplatzierung frei (Jörg Tauss [SPD]: Alle wollen folgen!) bleiben sollen Bitte schön, Herr Kollege Grindel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und dass es hier alle 20 Minuten zu einem Warnsignal Reinhard Grindel (CDU/CSU): kommen soll, um die Zuschauer aufzuklären und zu in- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! formieren. Das geht in die richtige Richtung. Trotzdem, Gestern hat das Europaparlament in erster Lesung die Herr Staatsminister, haben Sie im Ministerrat unsere Un- Neuregelung der EU-Fernsehrichtlinie beschlossen. terstützung, wenn es darum geht, ganz auf Produktplat- Heute verabschieden wir einen umfassenden Beschluss zierungen zu verzichten und damit auf eine klare Tren- des Deutschen Bundestages mit unseren Erwartungen an nung von Werbung und Programm hinzuwirken. die Beratungen im EU-Ministerrat. Ich finde, das ist ein (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) richtiges Signal auch an unseren Kulturstaatsminister . Wir wollen als nationales Parlament Im Europaparlament haben die Versuche, das Fernse- EU-Richtlinien nicht nur umsetzen, sondern auch Ein- hen in Zukunft als reines elektronisches Wirtschafts- fluss nehmen und mitgestalten. gut einzuordnen, keine Mehrheit gefunden, weil Infor- mationsfreiheit und Meinungsvielfalt nicht allein durch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das Wirtschaftsrecht geändert werden können. Dabei verkennen wir nicht die Zuständigkeit der Bun- Das Bekenntnis zu den zwei starken Säulen des dua- desländer. Aber auch uns, dem Bundestag, kann es nicht len Rundfunksystems erfordert aber auch, dem – ich egal sein, wie sich das Fernsehen in Deutschland weiter- sage es zugespitzt – Populismus zum Thema PC-Ge- entwickelt. Angesichts zunehmend schwieriger werden- bühren entgegenzutreten. der politischer Prozesse brauchen wir ein qualitativ gutes Fernsehen als Mittler zu unseren Wählern. Wir brauchen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 7332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Reinhard Grindel (A) Das ist ja das zweite Thema dieser Debatte; deswegen für die Linie, die mit dem Rundfunkstaatsvertrag einge- (C) auch einige Anmerkungen dazu. Es geht mitnichten da- schlagen worden ist, entschieden. rum, für zusätzliche Gebühren oder für eine Belastung der Wirtschaft in dreistelliger Millionenhöhe zu sorgen. (Jörg Tauss [SPD]: Inklusive der FDP-Län- Es geht darum, dass nach dem Rundfunkrecht in der!) Deutschland für jedes Gerät, mit dem man Rundfunk Ich halte das für richtig und habe die Anmerkungen empfangen kann, eine Gebühr zu entrichten ist. Mit ei- des Staatsministers auch nicht dem Grunde nach verstan- nem internetfähigen PC kann man Radio empfangen, den, sondern mehr formell, ob es notwendig ist, zu die- und rund 15 Prozent der Hörer machen das auch schon, sem Zeitpunkt diese Entscheidung zu treffen oder dafür vor allem jüngere Leute. Nun ist aber nicht zu bestreiten zu sorgen, mehr über die wahren Sachverhalte aufzuklä- – das ist der entscheidende Punkt –, dass selbstverständ- ren, dass es um keine zusätzliche Gebühr geht, sondern lich die PCs nicht zum Radiohören angeschafft wurden. um die Umsetzung des Rundfunkstaatsvertrags und einer Aber das hat die Rundfunkkommission der Länder auch Regelung, die klar macht: Wenn man mit einem Gerät gesehen. Entscheidend ist deshalb – das ist seitens man- Radio oder später einmal Fernsehen empfangen kann ches Wirtschaftsvertreters verschwiegen worden –, dass und kein anderes Gerät angemeldet hat, dann muss man für die neuartigen Geräte gerade im gewerblichen Be- eine Gebühr dafür zahlen. Um nicht mehr und nicht we- reich eine umfassende Zweitgerätefreiheit gilt, wie wir niger ging es. Da sind der Kulturstaatsminister und un- sie für normale Radios und Fernseher aus dem privaten sere Fraktion völlig einer Meinung. Bereich kennen. Wenn also irgendwo – das muss man verdeutlichen – in der Werkstatt, im Auto des Betriebs- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) leiters oder im Ladengeschäft bereits ein Radio existiert, dann braucht sich niemand über eine Gebühr für den PC Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Gedanken zu machen, vorausgesetzt natürlich, dass das Herr Kollege Grindel, der Herr Kollege Börnsen Gerät angemeldet ist. Das bedeutet auch, wenn im ge- möchte auch eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie werblichen Bereich mehrere Radios angemeldet waren, auch diese? dann können diese jetzt getrost abgeschafft und dann kann Hörfunk über PCs gehört werden, und zwar für nur Reinhard Grindel (CDU/CSU): noch eine Gebühr. Ja, aber mit Bedenken. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Jörg Tauss [SPD]: Herr Börnsen, Sie müssen Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine Zwischen- nicht die PC-Gebühr zahlen, wenn Sie einen (B) frage des Kollegen Otto? Fernseher haben!) (D)

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ja. Bitte schön, Herr Börnsen.

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Grindel, verstehe ich Sie richtig, Herr Kollege Grindel, trifft es nicht zu, dass die Frage Sie halten die PC-Gebühr trotz aller Proteste für richtig um die Fernseh- und Rundfunkgebühr einen bestimmten und widersprechen damit Ihrem in dieser Sache sehr viel Prozesscharakter gehabt hat, nämlich dass erst am weiteren Kulturstaatsminister und dem Bundeswirt- 24. Oktober 2006 die Ministerpräsidenten eine Entschei- schaftsminister, der sich kritisch mit dieser Gebühr be- dung gefällt haben, die dazu geführt hat, dass man in der schäftigt hat? Zweitgerätebesteuerung einen ganz neuen Weg beschrit- ten hat und am Ende der Diskussion der Wirtschaftsse- (Jörg Tauss [SPD]: Das werden wir im Laufe nator von Hamburg, , gesagt hat: Diese des Abends noch hinreichend erklären!) Zweitgerätelösung ist ein Vorteil für alle Beteiligten, be- sonders für Mittelstand, Handwerk und Gewerbe? Reinhard Grindel (CDU/CSU): Das Entscheidende bei der Diskussion, lieber Kollege Reinhard Grindel (CDU/CSU): Otto – ich will Ihnen das erklären –, war die Frage, ob es Herr Kollege Börnsen, überraschenderweise kann ich angesichts der öffentlichen Debatte und des Umstands, Ihnen das bestätigen. dass es hier um Gebühreneinnahmen von etwa 5 Millionen Euro geht – das ist ja keine große Summe –, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Lä- Ich will auf einen Punkt hinweisen, weil das, was Sie ge- cherlich!) sagt haben, völlig richtig ist und meines Erachtens auch den vielen besorgten Unternehmern im Land gesagt wer- notwendig war, mehr oder weniger aus strategischen den muss. Um das noch einmal ganz klar zu machen: Gründen jetzt diese Entscheidung in der Ministerpräsi- Wer herkömmliche Fernseher und Radios in größerer dentenkonferenz zu fällen. Da kann man unterschiedli- Zahl hatte, musste jedes einzelne Gerät anmelden und cher Meinung sein. Mit einem Stimmenverhältnis von dafür eine Gebühr zahlen. Das wird jetzt anders sein. 15 : 1 hat man sich in der Ministerpräsidentenkonferenz Wegen der Regelung über die Zweitgerätefreiheit wird Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7333

Reinhard Grindel (A) es so sein, dass man für ein Gerät zahlt und alle anderen kann man aber auch von dieser Stelle aus – das möchte (C) Geräte von der Gebühr befreit sind. ich tun – bitten, es den Unterstützern des öffentlich- rechtlich Systems nicht schwerer zu machen, als es oh- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist ja nehin manchmal schon ist. Wenn man auf Unterscheid- toll!) barkeit gegenüber den Privaten Wert legt und wenn man Was der Kollege Uldall meint, ist, dass dann, wenn man der These der Konvergenz der öffentlich-rechtlichen und zehn oder 15 Radios oder Fernsehgeräte in seinem Be- der privaten Sender immer widerspricht, dann – das sage trieb hat – in manchen Betrieben werden das noch mehr ich ganz offen – passen Verträge wie die mit Jan Ullrich sein –, man all diese Geräte getrost abschaffen und dann und auch mit Günther Jauch nicht in die Medienland- über Internet jetzt schon Radio und, wenn es in Zukunft schaft. technisch möglich ist, Fernsehen empfangen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Gilt das auch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ für Abgeordnetenbüros?) DIE GRÜNEN) Insofern wird es in diesem Bereich eine gewisse Entlas- Wir können auf die Qualität unseres dualen Rundfunk- tung für die Wirtschaft geben. Da haben der Kollege systems in Deutschland stolz sein und wir sollten für Uldall und auch Sie völlig Recht. Rahmenbedingungen sorgen, damit das so bleibt. Mit ih- rem Antrag zur EU-Fernsehrechtlinie leistet die große (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Koalition, so glaube ich, einen überzeugenden Beitrag. Wir sollten jetzt die Empfehlung der Rundfunkkom- Herzlichen Dank. mission der Länder abwarten. Deshalb werden wir den Anträgen, die es dazu gegeben hat, nicht zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich will aber eines deutlich sagen. Wir sollten den jetzt Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Waitz von eingeschlagenen Weg noch präzisieren und zu der Lö- der FDP-Fraktion. sung kommen: GEZ-Gebühr plus umfassende Zweitge- (Beifall bei der FDP) rätebefreiung. Denn die manchmal sehr schneidig vorge- tragenen Alternativen haben ihre Probleme. Denken Sie an die personenbezogene Medienabgabe, die von Ih- Christoph Waitz (FDP): nen, Herr Kollege Otto, empfohlen wird. Die ist verfas- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der gestrigen Entscheidung zur Fernseh- (B) sungs- und abgabenrechtlich ausgesprochen problema- (D) tisch und die Familien zahlen die Zeche. Auch das ist richtlinie im Europaparlament wird die Produktplatzie- wahr. rung aus der Schmuddelecke der Schleichwerbung he- rausgeholt. Eine geregelte Produktplatzierung ist für den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Verbraucher transparent und beseitigt Zweifel, wie Film- der Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/ produktionen zusätzlich finanziert werden können. Der DIE GRÜNEN]) anrüchige Umweg über Produktbeistellung kann künftig erspart bleiben. Außerdem ist in der letzten Minute er- Eine haushaltsbezogene Abgabe ist in einer mobilen reicht worden, dass der Abstand für Werbeunterbrechun- Gesellschaft schwer zu kontrollieren. Eine Rundfunk- gen auf 30 Minuten gesenkt werden konnte, wie es im steuer verstößt gegen das Gebot der Staatsferne. ursprünglichen Berichtsentwurf vorgesehen war. Eines wird völlig übersehen. Das sage ich mit Hin- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist natürlich ein riesi- weis auf die Diskussion, die wir gerade in diesen Tagen ger Fortschritt! – Hans-Joachim Otto [Frank- über ARD und ZDF und die EU-Wettbewerbshüter ha- furt] [FDP]: Das ist gut so!) ben. Jede Alternative zur herkömmlichen Rundfunkge- bühr würde EU-rechtlich zu erheblichen Problemen füh- Die im Kulturausschuss des Europaparlamentes ge- ren. Die Rundfunkgebühr gibt es seit 1953. Das war vor wünschte 45-Minuten-Regelung war zum Glück nicht unserem EG-Beitritt. Sie ist eine Altbeihilfe. Würden durchsetzbar. wir jetzt etwas ändern, würde es sich bei einer neuen Ab- (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wäre gabe um eine Neubeihilfe handeln. Jede Gebührenerhö- doch gut gewesen!) hung müsste in Brüssel notifiziert werden. Da kann ich angesichts der Debatten, die wir in diesen Tagen haben, Dieser Ansatz wäre ein fatales Signal Neugierige nur warnen. Eine Regelung auf der Basis ei- (Jörg Tauss [SPD]: Was? Bitte?) ner großzügigen Zweitgerätefreiheit – das ist mein per- sönlicher Vorschlag – wäre dagegen europafest und rela- an die Wirtschaft und die Rundfunkanbieter gewesen. tiv einfach zu machen. Dabei könnten – das will ich Anstatt die Werberegelungen zeitgemäß zu liberalisie- betonen – Ungerechtigkeiten im Bereich des Hotelge- ren, hätte die Richtlinie zu einer Verschärfung der Wer- werbes oder bei Filialbetrieben angepackt werden. beabstandsregelungen geführt und die wirtschaftliche Si- tuation der Rundfunkveranstalter unnötig verschlechtert. Schlussgedanke: Ich habe ein Bekenntnis zum dualen System und zur Qualität auch und besonders des öffent- Insgesamt müssen wir allerdings feststellen, dass die lich-rechtlichen Fernsehens abgelegt. Gerade die ARD jetzt im Europäischen Parlament verabschiedete 7334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Christoph Waitz (A) Fernsehrichtlinie leider ein ziemliches Flickwerk gewor- Eines ist dabei ganz klar: Wenn es das Ziel des öffent- (C) den ist. Das Parlament in Straßburg hat die Chance ver- lich-rechtlichen Rundfunks sein sollte – da bin ich völlig tan, die Regelung der Werbezeit noch weiter zu liberali- bei Ihnen, Herr Grindel –, im Kampf um Quoten die Pri- sieren und den Gegebenheiten eines veränderten vaten zu überflügeln, dann wäre das das Ende der Exis- Werbemarktes anzupassen. tenzberechtigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das haben die (Beifall bei der FDP) europäischen Liberalen aber mitgemacht!) Einschaltquoten dürfen nicht die Messlatte für die Pro- Die Bundesregierung muss jetzt die Ratpräsident- grammgestaltung sein. Dabei werden wir uns auch mit schaft nutzen, um hier noch Änderungen zu erreichen. der Frage auseinander setzen müssen, ob die Qualitäts- kontrolle bei ARD und ZDF von den internen Gremien (Jörg Tauss [SPD]: Wir wären mit dem Klam- überhaupt geleistet werden kann oder ob wir nicht ein merbeutel gepudert!) System der externen Bewertung der Qualität der Pro- Denn starre Werberegelungen im audiovisuellen Bereich gramme benötigen und auf Basis dieser Bewertung zu benachteiligen die Rundfunkanbieter gegenüber den üb- einer Verteilung der Gebührengelder kommen sollten. rigen Medien, die im Wettbewerb um Werbekunden ste- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wie soll das hen. Ganz zwangläufig wird sich die Werbewirtschaft denn gehen?) immer stärker anderen Medien zuwenden. Damit wird die finanzielle Basis der Rundfunkanbieter geschwächt Wir Liberale meinen, Grundversorgung in der und die Qualität werbefinanzierter Programminhalte ge- neuen Medienwelt muss nicht bedeuten, dass der öffent- fährdet. lich-rechtliche Rundfunk sämtliche Aufgaben erfüllen, sämtliche Geschmacksrichtungen abdecken und auf Heute stehen zusätzlich drei Anträge zur Rundfunk- sämtlichen Verbreitungswegen präsent sein muss. gebühr für internetfähige Computer auf der Tagesord- nung. Neben der absurden Rundfunkgebührenpflicht für (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Auf Universitäten ist die Computerrundfunkgebühr das deut- welchem Verbreitungsweg nicht?) lichste Anzeichen dafür, dass die Finanzierung des öf- fentlich-rechtlichen Rundfunks auf eine neue Grundlage – Herr Tauss, Sie kommen auch noch dran. – Wir den- gestellt werden muss. Wir Liberale treten für einen Para- ken, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk insbe- digmenwechsel bei der Finanzierung des öffentlich- sondere unter Verzicht auf Werbeeinnahmen und den rechtlichen Rundfunks ein. damit notwendig verbundenen Blick auf werberelevante Zielgruppen darauf konzentrieren sollte, (B) (Beifall bei der FDP) (D) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Dagegen ist ja Die personenbezogene Medienabgabe ist das Modell, sogar die werbende Wirtschaft!) das wir seit langem favorisieren. eine erhebliche Qualitätsverbesserung des Programms Herr Grindel, natürlich kann man da über vieles dis- zu erzielen. kutieren. Aber wir können nicht, wie es in der Vergan- genheit der Fall war, dieses Problem ausblenden und so Meine Damen und Herren, lieber Herr Grindel, die tun, als ob nichts wäre. Wir müssen uns schon um die Überlegungen sollten noch weiter gehen. Wir dürfen Dinge kümmern. Das war im Zusammenhang mit dem nicht hinnehmen, dass wichtige kulturelle Inhalte und Moratorium über internetfähige PCs eigentlich auch an- Bildungsangebote aus dem öffentlich-rechtlichen Fern- gedacht. Das war der Grund für das Moratorium; das sehen in so genannte Spartenkanäle abwandern wissen Sie. Deswegen finde ich es nicht in Ordnung, was (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sie hier von sich geben. Das ist richtig!) Wir dürfen bei der Diskussion um die Rundfunkge- und nur noch mit zusätzlichem Kostenaufwand für den bühren jedoch nicht Halt machen. Wir müssen im Inte- Zuschauer zu beziehen sind. resse qualitativ hochwertiger Angebote im Fernsehen und Hörfunk die eigentlichen Probleme anpacken. Dazu (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des müssen wir neu bestimmen, wie der Rundfunkbegriff in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des einer digitalisierten Medienwelt bestimmt und die Aus- Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/ gestaltung des Grundversorgungsauftrages des öffent- CSU]) lich-rechtlichen Rundfunks geregelt werden kann. Es sollte für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk In einschlägigen Aufsätzen ist von einer „Revolution nicht selbstverständlich sein, dass in einer beträchtlichen in der Medienwelt“ die Rede. Selbst wenn der Begriff Anzahl von Formaten das Niveau eines Boulevardjour- „Revolution“ zu drastisch sein mag, so glauben wir nalismus gepflegt wird. Damit wird der Unterhaltungs- doch, dass sich das System des deutschen Rundfunks an auftrag, für den auch ein Qualitätsmaßstab gilt, in mise- einem Scheideweg befindet, an einer Stelle, die uns rabler und verantwortungsloser Weise erfüllt. Damit zwingt, Stellung zu der Frage zu beziehen, wie der sage ich nichts gegen Sendungen wie „Wetten, dass …“ Rundfunk in Deutschland zukünftig ausgestaltet werden am Samstagabend. Aber es wäre an der Zeit, dass sich soll. Welche Aufgaben soll der öffentlich-rechtliche die Verantwortlichen in den Sendeanstalten und Rund- Rundfunk zukünftig tatsächlich noch wahrnehmen? funkräten einer Aufgabenkritik sowie einer externen und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7335

Christoph Waitz (A) staatsfernen Qualitätskontrolle ihrer Sendungen stellen schlage vor, dass Sie sich in den USA einmal drei Stun- (C) würden. den vor den Fernseher setzen. Danach werden Sie frei- willig aufhören, Fernsehen zu schauen. Denn die vielen Ich lade Sie und auch die Medienpolitiker in den Län- Werbeunterbrechungen sind nicht zu ertragen. dern ein, mit uns über diese Fragen zu diskutieren. Es wird dafür höchste Zeit. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Joachim (Beifall bei der FDP) Otto [Frankfurt] [FDP]: Warum sprechen Sie mich da an?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn von – Weil Sie davon gesprochen haben, dass Sie mehr Frei- der SPD-Fraktion. heit haben wollen. (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Herr (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Frei- Waitz, jetzt gut aufpassen!) heit will ich in der Tat! – Sabine Leutheusser- Schnarrenberger [FDP]: Freiheit zum Abschal- Monika Griefahn (SPD): ten!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen Überhaupt scheint das der Knackpunkt der langen und Kollegen! Ich finde es immer wieder erschreckend Kontroverse mit der EU-Kommission zu sein. Immer – das muss ich ganz ehrlich sagen –, wie viel Unver- wieder wird die Unabhängigkeit der Sender angegriffen. ständnis nicht nur auf europäischer Ebene, sondern Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss eigenständig selbst bei uns in Deutschland herrscht, wenn es um die sein und muss selbst entscheiden, und zwar unabhängig Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geht. von Wirtschaft und Staat. Dieser Knackpunkt wird an (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem dem laufenden Beihilfeverfahren deutlich. Mit der Art BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Weise, wie hier mit unserem Rundfunksystem als zentralem Bestandteil unserer Demokratie umgegangen Dabei wird sein Wert spätestens dann deutlich, wenn wir wird, überschreitet die Kommission meiner Ansicht uns andere Länder wie Italien, Polen und Russland an- nach ihre Kompetenz. schauen, in denen es keine oder nur eine stark einge- schränkte Unabhängigkeit des Rundfunks gibt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Aber sehr deutlich!) Aus den Gründen unserer eigenen Geschichte wurde der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach dem Krieg in Außerdem halte ich das für einen äußerst schlechten (B) Deutschland zu einem Garanten für unabhängigen Jour- Umgang. Denn es gab über zwei Jahre einen langen Pro- (D) nalismus gemacht. Damit ist er zu einem Grundpfeiler zess und sehr konstruktive Gespräche zwischen Bundes- unserer demokratischen Ordnung geworden, den wir regierung, den Ländern und der Kommission. Wie ich schützen müssen – auch vor übermäßigen Liberalisie- gehört habe, wurde am Montag nach achteinhalb Stun- rungsbestrebungen in Europa. den Verhandlungen ein Konsens erreicht. Was aber ist nun? Ärgerlicherweise stellt die Kommission am nächs- Mit unserem heute vorliegenden Antrag unterstützen ten Tag in der Person von Frau Kroes neue Nachforde- wir grundsätzlich den gestern vorgelegten Vorschlag der rungen, was wirklich unerträglich ist. EU-Kommission für eine Neufassung der Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“. Ich will hier nur einige (Jörg Tauss [SPD]: So sind die Neoliberalen! – Punkte herausgreifen; Herr Grindel hat schon viele an- Lachen bei der FDP) dere erwähnt. Im Kern wird von der Kommission in diesem Fall Wir begrüßen, dass die Kommission plattformunab- beispielsweise die unabhängige digitale Weiterentwick- hängige Regelungen formuliert hat und das mit einer lung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kritisiert. Unterscheidung von linearen und nicht linearen Medien- Das heißt, alle bestehenden und zukünftigen digitalen diensten verknüpft. Es sollen eben Inhalte und nicht die Angebote sollen genehmigungspflichtig werden. Das Übertragungswege im Vordergrund stehen. Wir unter- können wir doch nicht zulassen. stützen ebenso das geplante europaweite Gegendarstel- (Jörg Tauss [SPD]: Unglaublich!) lungsrecht und die Harmonisierung der Jugendschutz- vorschriften, allerdings ohne dass die Standards gesenkt Wenn die Kommission in diesem Punkt mit ihrer Forde- werden. Darauf werden wir bestehen müssen. rung durchkäme, hätten wir faktisch einen Staatsrund- funk. Das ist genau das, was wir eben nicht wollen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Ganz grundlegend bleibt uns aber wichtig, dass die Vorschriften zur Werbung möglichst stark formuliert Zudem ist es nicht nur eine Frage nach dem, was wir werden. Das bedeutet: Zumindest für den öffentlich- wollen; wir dürfen es auch gar nicht. Das Bundesverfas- rechtlichen Rundfunk wollen wir keine Produkt- und sungsgericht hat seit 45 Jahren in seinen Urteilen immer Themenplatzierung. Schleichwerbung muss hier ausge- wieder deutlich gemacht, dass der öffentlich-rechtliche schlossen werden, damit sich die Programmgestaltung Rundfunk einen Grundversorgungsauftrag hat und für allein an publizistischen Kriterien orientiert und die Pro- diesen Programmautonomie genießt. Es ist spätestens grammfreiheit gewährleistet bleibt. Kollege Otto, ich seit dem Rundfunkurteil aus dem Jahr 1991 klar, dass 7336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Monika Griefahn (A) dieses auch für die Übertragungswege gilt. Wir brauchen (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Du meine (C) die neuen digitalen Übertragungswege, wenn wir junge Güte! Jetzt wieder der Ladenhüter!) Leute ansprechen wollen. Ansonsten gibt es für die äl- also für deutsche Sänger und deutsche Produktionen, tere Generation das analoge Fernsehen und für die jun- vorgesehen werden. Auch das haben die öffentlich- gen Leute gibt es die privaten Sender. So kann es nicht sein. rechtlichen Sender zugesagt. Aktuelle Zahlen zeigen aber, dass die ersten Anstrengungen nicht von langer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dauer waren und sich strukturell nichts geändert hat. Da DIE GRÜNEN) müssen die Öffentlich-Rechtlichen nachlegen, wenn sie zeigen wollen, dass sie Wert darauf legen, von uns vehe- Ich bin der Meinung, im Notfall müssen wir für die Ver- ment verteidigt zu werden. Denn das ist für uns in teidigung der Rundfunkautonomie, und zwar auch für Deutschland auch ein Wirtschaftsfaktor. die des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, bis zum Euro- päischen Gerichtshof gehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dass unsere Ministerpräsidenten beim Abschluss des Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Lothar Bisky von letzten Rundfunkstaatsvertrags einerseits die autonome der Fraktion Die Linke. Entscheidung der Kommission zur Ermittlung des Fi- nanzbedarfs, der KEF, unterlaufen haben und anderer- (Beifall bei der LINKEN) seits festlegten, dass für den Bereich des Internets maxi- mal 0,75 Prozent des Etats ausgegeben werden dürfen, Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): ist natürlich ein Problem. Damit spielen sie der Kommis- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Koa- sion in die Hand. Ich denke, wir müssen von den Minis- litionsantrag zur EU-Fernsehrichtlinie tragen wir Linken terpräsidenten eine eindeutig übereinstimmende Position aus inhaltlichen Gründen weitgehend mit. Maßgeblich verlangen. Einzelne Ministerpräsidenten dürfen nicht für unsere Zustimmung ist, dass Sie bei aller Notwendig- ausscheren. Dies wäre ein Problem im Hinblick auf die keit, die neuen Entwicklungen im Medienbereich auf Glaubwürdigkeit gegenüber der EU-Kommission. EU-Ebene zu revidieren, anerkennen, dass die Mitglied- staaten weiterhin ihren Rundfunk in den für sie zentralen (Beifall bei der SPD) Bereichen selbstbestimmt regulieren können. Das ist uns ausgesprochen wichtig. (B) Ich stimme Herrn Grindel unbedingt zu, wenn er sagt: (D) Wir dürfen bei den Öffentlich-Rechtlichen nicht Konver- Lassen Sie mich das anhand von zwei Punkten er- genz in Bezug auf die private Konkurrenz und die Quote läutern. Erstens. Die Fernsehrichtlinie harmonisiert anstreben. Darin stimme ich mit ihm vollkommen über- zuallererst Geschäftsbeziehungen. Sie dereguliert Wer- ein. Wir alle müssen bei den Programmräten und den bebeschränkungen und definiert Bedingungen der kom- Ministerpräsidenten anmahnen, dass Programmautono- merziellen Kommunikation, also auch der Werbung, für mie und Programmvielfalt das sind, was den öffentlich- die Anbieter von audiovisuellen Dienstleistungen auf rechtlichen Rundfunk auszeichnet. dem europäischen Binnenmarkt. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: In einem dürften wir uns alle einig sein: Den Anbie- Sehr gut!) tern geht es primär ums Geldverdienen und um Rendite und zuvörderst nicht um den Jugendschutz, nicht um Wir müssen die bestehende Vielfalt erhalten – das haben Verbraucherrechte, wir in unserem Antrag deutlich gemacht –, zum Beispiel in Form des Rechts auf Kurzberichterstattung. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Gilt das auch für die Öffentlich-Rechtlichen?) (Beifall bei der SPD) nicht um ein vielfältiges kulturelles Programmangebot Es ist uns wichtig, dass im öffentlich-rechtlichen Rund- und schon gar nicht darum, die Autonomie journalis- funk weiterhin über alle Ereignisse, an denen ein öffent- tisch-redaktioneller Arbeit abzusichern. liches Interesse besteht, berichtet werden kann. Wir wol- len keine Einschränkungen. Ich glaube, das ist etwas, (Beifall bei der LINKEN) wofür wir gemeinsam streiten sollten. Dies ist schon in Das aber sind für uns als Linke Kernpunkte einer gu- unserem Antrag formuliert worden. ten Medienpolitik. Wie gesagt, die Rundfunkanstalten müssen sich sel- Deshalb gehören insbesondere der Jugend- und Ver- ber in die Pflicht nehmen. Sie müssen sich auf ihren braucherschutz, aber auch das Gebot der Trennung von Auftrag besinnen. Da denke ich an einen weiteren Be- Werbung und Programm in den Verantwortungsbereich reich, den wir hier vor fast exakt zwei Jahren besprochen der Politik. Diese sollten nicht nach dem Herkunfts- haben. Am 17. Dezember 2004 haben wir nämlich im landprinzip bewertet werden, sondern nach den jeweils Bundestag beschlossen, dass im Rahmen der Veröffentli- nationalen Schutzbestimmungen der Mitgliedstaaten. chung von populärer Musik im Rundfunk Fördermaß- Das Herkunftslandprinzip wird nämlich in den Ansied- nahmen für deutsche Produkte, lungsbemühungen um Medienunternehmen schnell zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7337

Dr. Lothar Bisky (A) einem medienrechtlichen Unterbietungswettbewerb füh- (Jörg Tauss [SPD]: Herr Berninger geht! Sie (C) ren. Den lehnen wir eindeutig ab. können Ihren Antrag zurückziehen!) (Beifall bei der LINKEN) Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Verbraucherzentrale und andere Interessenver- Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- bände – darunter übrigens auch das Zentralkomitee der gen! Die meisten von Ihnen kennen wahrscheinlich die deutschen Katholiken – befürchten zu Recht, dass Ju- Geschichte von Robinson Crusoe, gend- und Verbraucherschutz in Europa mit der Fernseh- (Jörg Tauss [SPD]: Aber ja!) richtlinie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner redu- ziert würden. Darum unterstützen wir ihre Forderung, einem Seemann, der einige Jahre auf einer Insel als die etablierten Qualitätsstandards zu erhalten und das Schiffbrüchiger verbringt. Vielleicht haben einige von Herkunftslandprinzip aus dem Richtlinienentwurf he- Ihnen aber auch den Film „Cast Away“ mit Tom Hanks rauszunehmen. Dazu haben Sie sich leider nicht durch- in der Hauptrolle gesehen. ringen können. (Jörg Tauss [SPD]: Sogar „Die Schatzinsel“!) Zweitens. Wir sind für den Erhalt eines öffentlich- Er spielt darin Robinson Crusoe, allerdings nicht im rechtlichen Medienangebots. Sicherlich müssen wir uns 18. Jahrhundert, sondern im Heute. Sein Freund Freitag die zentrale Frage stellen, wie dieses Angebot organi- ist in diesem Film kein Mensch, sondern ein Ball. Der siert und finanziert werden soll, ohne beständig Gegen- Ball hat den Namen Wilson, nicht Freitag. Warum ist das stand von Beihilfeverfahren der Europäischen Kommis- so? Weil der Ball von einer Firma ist, die den Namen sion zu sein und ohne sich den Privaten in Inhalt und Wilson trägt. Form immer mehr anzunähern. Ich bin mir sicher, dass einige Menschen diesen Film Was die Finanzierung betrifft, so sind wir gegen das über alles lieben, vor allem die Vorstände des amerikani- einfallslose „Weiter so“ der Ministerpräsidenten. Die be- schen Paketdienstes Fed-Ex; denn der Film „Cast Away“ schlossene Ausweitung der Gebührenpflicht auf inter- hebt vor allem die Pakete dieser Firma hervor. Ich weiß netfähige PCs und Handys wird daher von uns abge- nicht, wer von Ihnen sich daran erinnert, aber mir ist das lehnt. Für eine trag- und zukunftsfähige Grundlage ist sehr eindeutig vor Augen geblieben: Er ernährt sich vom eine grundsätzliche Revision des Gebührensystems er- Inhalt dieser Pakete. forderlich. Dieser Kinofilm macht nur zu deutlich, was auf uns Davon unbestritten bedarf es Regulierungen, die auf zukommt, wenn wir Produktplatzierungen oder auch (B) der Ebene der Mitgliedstaaten angesiedelt sind und die Produktionsbeihilfen ganz offiziell zulassen: (D) unterschiedliche nationale Verfassungen, kulturelle Tra- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) ditionen und medienpolitische Konzepte nicht missach- ten. Gleiches gilt für die Deregulierungsbemühungen, Das Fed-Ex-Logo zog sich durch den ganzen Film. Das die die Bedingungen weiter zugunsten des privaten kann nicht das sein, was wir uns wünschen. Rundfunks und der kommerziellen Medienanbieter ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schieben. Unsere Auffassung ist: Product Placement sowie bei Abgeordneten der SPD) soll die Ausnahme sein und nicht zur Regel werden. In bestimmten Programmformaten, in denen es die Zu- Ein anderes lustiges Beispiel ergab sich in einem schauer und Zuschauerinnen erkennen können, wie etwa Fachgespräch zu dem Thema. Da sagte ein Produzent, bei Fernsehfilmen und -serien, sollte es maßvoll erlaubt ein Schauspieler wollte bei einer Nacktszene seine Uhr sein, als Themenplacement allerdings nicht. Themenbei- nicht abnehmen. Er hat sich die ganze Zeit gewundert, träge als bezahlte Marketingmaßnahmen lehnen wir warum der Schauspieler seine Uhr nicht abnimmt. prinzipiell ab. (Jörg Tauss [SPD]: Besser als die Socken!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Dieser Schauspieler hatte – das stellte sich am Ende he- Schluss. Wir brauchen ein vielfältiges und kulturelles öf- raus – einen Werbevertrag mit der Uhrenfirma. Das war fentlich-rechtliches Medienangebot, das durch Werbung in der Sache nicht besonders dramatisch, angemessen begleitet sein kann. Darüber, wie dies kon- kret ausgestaltet werden muss, haben wir in diesem (Heiterkeit im ganzen Hause) Hause unterschiedliche Auffassungen. Darüber, dass wir aber man kann sich natürlich andere Beispiele vorstel- es erhalten sollten, hoffentlich nicht. len, wo das ein bisschen mehr Einfluss auf die Inhalte des Programms nehmen kann. Ich danke Ihnen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei der LINKEN – Hans-Joachim Otto [Frank- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) furt] [FDP]: Temperamentvolle Rede!) Wir Grünen wollen die Rahmenbedingungen so ge- stalten, dass auch in Zukunft ein qualitativ hochwertiges Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und unabhängiges Programm sichergestellt werden Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin vom kann. Deshalb wollen wir, dass die gezielte Platzierung Bündnis 90/Die Grünen. von Produkten, gleich welcher Art, nicht erlaubt wird. 7338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Grietje Bettin (A) Unserer Meinung nach ist die große Koalition auf halber dentschaft noch zu Veränderungen kommt. Allerdings (C) Strecke stehen geblieben: Sie will zwar Produktplatzie- hat das Hoffen bei der großen Koalition bisher meist rungen verbieten, Produktionsbeihilfen aber nicht. sehr wenig genützt. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Da hat (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: sie Recht!) Das stimmt nicht! Erfolgreiche Kultur- und Medienpolitik im ersten Jahr!) Der Film „Cast Away“ zeigt ganz eindeutig, dass auch Produktionsbeihilfen das Bild und die Handlung domi- Wischiwaschikompromisse werden wir in diesem Be- nieren können. reich nicht unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Leider habe ich nicht mehr viel Zeit. Deshalb zur PC- Gebühr nur so viel: Wir, die Grünen, haben hierzu ein Eine besondere Gefahr sehen wir bei journalistischen eigenes zukunftsfähiges Modell auf den Tisch gelegt, Formaten – zumindest hierbei sind wir uns, glaube ich, weil wir die Einführung einer PC-Gebühr zum alle einig –; denn die Unabhängigkeit der Redaktion 1. Januar 2007 für nicht zukunftsfähig halten. Wir brau- kann durchaus gefährdet sein. Die unzähligen Schleich- chen endlich eine geräteunabhängige, haushaltsbezo- werbeaffären der letzten Monate zeigen, dass Produkt- gene Mediengebühr. platzierung durchaus attraktiv ist und definitiv Einfluss auf Drehbücher nehmen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Das ist eine Steuererhöhung! Das geht nicht!) DIE GRÜNEN) Für weitere Details reicht die Zeit hier und heute nicht Wir müssen an der klaren Trennung von Werbung aus. In die Debatte, die im nächsten Jahr mit den Län- und Programm festhalten. Deshalb bedauern wir, dass dern geführt werden wird, werden wir uns natürlich kon- im EU-Parlament gestern in erster Lesung für die Zulas- struktiv und kritisch einbringen. sung von Produktplatzierungen gestimmt wurde. Wir können die Vorteile der Zuschauer durch Produktplatzie- Im Parlament werden wir in einigen zentralen Fragen rungen überhaupt nicht sehen. der Medienpolitik, nämlich bei der Vielfaltsicherung, dem Verbraucherschutz und der Qualitätssicherung, zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sammenhalten müssen; sonst überrollt uns die EU-Kom- Wir gehen davon aus, dass sich der Werbekuchen insge- mission mit Verschlechterungen. Das können wir alle samt nicht ausweiten würde, sondern die Stücke des nicht wollen. Deshalb hoffe ich, dass wir zu verschiede- (B) Werbeetats insgesamt nur anders verteilt würden, dass nen Punkten Diskussionen führen und zu positiven Lö- (D) die Verbraucher vom Fernsehen nur noch genervter wä- sungen kommen werden. ren und das Programm inhaltlich nicht besser würde, es Danke schön. zum Beispiel nicht – was wir uns alle wünschen würden – mehr investigativen Journalismus oder mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bessere Filme geben würde. Wir sehen da keinen direk- sowie des Abg. Jörg Tauss [SPD]) ten Zusammenhang und keine Verbesserung für die Ver- braucherinnen und Verbraucher. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort hat jetzt der Kollege Johann-Henrich Krum- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und macher von der CDU/CSU-Fraktion. der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Für uns ist klar – das hat auch der Kollege Grindel neten der FDP) schon angesprochen –, dass Medien nicht nur ein Wirt- schaftsgut, sondern auch Kulturgut sind. Johann-Henrich Krummacher (CDU/CSU): (Jörg Tauss [SPD]: Zuvörderst Kulturgut!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bestehende Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ ist – Für uns sind sie sicherlich in erster Linie Kulturgut. gegenwärtig die Grundlage der EU-Politik im audiovisu- Wir akzeptieren aber, dass es sich dabei natürlich auch ellen Bereich. Sie stammt aus dem Jahr 1989. Nicht nur um ein Wirtschaftsgut handelt. die politische, auch die technologisch-mediale Situation war damals eine völlig andere. Auch der Nutzungs- und (Jörg Tauss [SPD]: Auch! Richtig!) Verbreitungsgrad dieses Mediums ist gestiegen. In vie- Bei der Fernsehrichtlinie gibt es viele Punkte, die len Haushalten läuft der Fernseher im Schnitt drei bis wir durchaus positiv finden. Im Zeitalter der Digitalisie- vier Stunden am Tag. Das mag man bewerten, wie man rung ist es natürlich notwendig, die Fernsehrichtlinie an- will. Es zeigt aber, dass wir hier über einen gesellschaft- zupassen. Wir brauchen europaweit einheitliche Rege- lich höchst relevanten Lebensbereich sprechen. lungen für Fernsehen und Internet. Wir unterstützen das (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: abgestufte Regulierungsverfahren und die Regulierung Richtig!) im Jugendschutzbereich. All das sehen wir sehr positiv. Wir hoffen, dass die Bemühungen des Kollegen Neu- Durch den bislang erreichten Stand der Diskussion mann Erfolg haben und es im Rahmen der EU-Ratspräsi- darüber, wie die notwendige Neufassung der Richtlinie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7339

Johann-Henrich Krummacher (A) Gestalt annehmen könnte, ist – lassen Sie den Stuttgarter (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C) Abgeordneten das so sagen – ein viel versprechendes Pflänzle entstanden. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass Deshalb gilt glasklar: Das muss auch im Rahmen einer dies nun in die richtige Richtung wächst. neuen Richtlinie so bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ich darf nochmals unterstreichen: Fernsehen – egal in welcher Form – ist in erster Linie – das haben wir Ein weiterer wichtiger Punkt – er wurde bereits ange- heute gewissermaßen zu einer gemeinsamen Überzeu- deutet – ist das Thema Werbung. Es ist nicht überzeu- gung gemacht – ein Kulturgut. gend, Art und Umfang der Werbemöglichkeiten lockern zu wollen, aber den eigentlichen Kern, das heißt die (Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Börn- quantitative Werberegulierung, an sich beizubehalten. sen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das kann man nicht oft genug hören!) Noch weniger überzeugend ist es vor diesem Hinter- grund, bei einer anderen Art der Werbung die Schleusen Man kann und muss mit Kulturgütern gut wirtschaften. zu öffnen, nämlich bei der Produktplatzierung. Einen Aber diese deswegen zu reinen Wirtschaftsgütern umzu- positiven Weg weisen beispielsweise die Transparenz- deuten oder sie so zu behandeln, wäre im wahrsten Sinne richtlinien des Zweiten Deutschen Fernsehens auf, bei des Wortes kurzsichtig. denen die Zusammenarbeit mit anderen öffentlichen wie privaten Kooperationspartnern ein Controllingverfahren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- durchläuft. neten der SPD) (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen Das zu verstehen ist wichtig, weil sich bereits hier [Bönstrup] [CDU/CSU] – Hans-Joachim Otto entscheidet, ob das Vorhaben richtig eingefädelt wird. [Frankfurt] [FDP]: Wie wirksam ist das?) Das hat Folgen für das, was letztlich entscheidend sein wird, nämlich das Kleingedruckte. Zum Wesenskern öf- – Das ist sehr wirksam und wird bereits jedes Jahr abge- fentlicher Leistungserbringung im so genannten Infor- fragt, dem Fernsehrat vorgetragen und von dort kontrol- mationszeitalter gehört, auch medial niemanden zurück- liert. zulassen. Wie Lesen und Schreiben werden auch Medienkompetenzen immer mehr zur Res publica, zur Der Vorschlag der Kommission hingegen würde eine öffentlichen Angelegenheit: je größer diese Kompeten- generelle Öffnung für Produktplatzierung ermöglichen. zen, desto besser für den Menschen selbst und desto bes- Dass für bestimmte Sendungen wie Nachrichten oder ser für unser Gemeinwesen. Kinderprogramme Ausnahmen gelten sollen, kann den (B) Wirkungsradius dieser fast schon als perfide zu bezeich- (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nenden Form der Werbung nicht seriös eingrenzen. Da- neten der SPD) rum sind Produktplatzierungen schlicht und ergreifend abzulehnen. Sonst müsste es nach jeder Sendung heißen: Um es etwas salopp, aber mit durchaus ernstem Kern Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Dreh- zu formulieren: Von der „Sendung mit der Maus“ oder buchautor oder Produzenten. der ZDF-Produktion „Löwenzahn“ können auch viele Erwachsene noch etwas lernen, während durch zu viele (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- andere Angebote aus Kindern eher lethargische, nicht neten der SPD) unbedingt lernbegierige Erwachsene werden. Gute Zeichen gibt es hingegen beim Jugendmedien- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) schutz. Die Ausdehnung des Jugendmedienschutzes auf nicht lineare, das heißt individuell abrufbare Dienste, ist Dies zeigt abermals die Notwendigkeit einer guten ebenso richtig wie wichtig. Jugendschutz hat viele Fa- Balance zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten cetten. Eine solche Ausweitung des medialen Jugend- Anbietern. Wenn der freie Informationsfluss sozusagen schutzes ist ein wichtiger Teil des Ganzen. das Öl im Getriebe unserer Demokratie ist, dann leisten beide – öffentlich-rechtliche wie private Anbieter – ei- (Beifall bei der CDU/CSU) nen wichtigen Beitrag. Es macht wenig Sinn, Verrohungen und Orientie- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist rungslosigkeit bis hin zur Gefahr gewaltverherrlichender ja eine richtig vernünftige Rede!) Computerspiele zu beklagen und dann diese mediale Flanke zu öffnen. Aber durch die Privaten allein ist dieser Fluss nicht hin- reichend gewährleistet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Jörg Tauss [SPD]: Sie wollen es auch nicht! Nochmals: Wir begrüßen die Ausweitung des medialen Das haben sie doch gesagt!) Jugendschutzes auf die nicht linearen Medien. Das heißt schlicht und einfach: ARD, ZDF und die drit- Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Insgesamt ten Programme der ARD-Familie senden auf sehr hohem gibt es mit Blick auf den bisherigen Diskussionsstand Niveau, wenn nicht sogar höchstem Niveau. Dafür sind sowohl Licht als auch Schatten. Um dazu beizutragen, wir dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen dass das Licht mehr wird und die Schatten weniger wer- dankbar. den, sollte die Debatte über audiovisuelle Dienste zu 7340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Johann-Henrich Krummacher (A) einem Schwerpunkt der deutschen Medien- und Kom- Wenn Sie wollen, dass sich öffentlich-rechtliche Sen- (C) munikationspolitik auf europäischer Ebene werden. So- der nicht jedes Verbreitungsweges bedienen können, wohl die Landesregierungen als auch Kulturstaatsminis- müssten wir im Wege der Konvergenz dafür sorgen, dass ter Neumann tragen dazu auf erfreuliche Weise bei. sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk des Verbrei- tungsweges Internet, des Rückgrats der Informationsge- Wenn dies dazu führt, dass ein kohärenter europäi- sellschaft, nicht mehr bedienen kann. scher Rechtsrahmen geschaffen wird, dann ist das gut: für die Medienlandschaft, für die Medienkultur und für (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Richtig!) den Medienstandort, und zwar in Europa und in Deutschland gleichermaßen. Man kann zu dieser Auffassung kommen. Ich aller- dings bin anderer Meinung – die Kollegin Griefahn hat Danke schön. in diesem Zusammenhang einige Argumente angeführt –; (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten neten der SPD und der FDP) der CDU/CSU und der Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: denn genau diese Entwicklung würde auf eine Austrock- Herr Kollege Krummacher, ich gratuliere Ihnen im nung durch Nichtweiterentwicklung hinauslaufen. Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut- schen Bundestag. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall) Wir waren uns bereits in der Enquete-Kommission, die in der Legislaturperiode von 1994 bis 1998 einge- Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat setzt worden ist, darüber einig, dass es auch in Deutsch- das Wort der Kollege Jörg Tauss von der SPD-Fraktion. land die Möglichkeit zur Weiterentwicklung des öffent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- lich-rechtlichen Rundfunks geben muss. Das gehört zur Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Er hat doch Fairness und zur Grundversorgung. seine Redezeit schon durch Zwischenrufe auf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gebraucht! – Heiterkeit bei der FDP) der CDU/CSU und der Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Jörg Tauss (SPD): Zum zweiten Punkt, Kollege Waitz. Auch ich kenne Das ist nicht wahr, Kollege Otto. Ich wurde heute so- Sendungen im öffentlich-rechtlichen Bereich, die mir gar schon gefragt, warum ich so still bin. (B) keine große Freude bereiten. Die Zahl der Minuten, die (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend wur- man mit Volksmusik gefoltert wird, nimmt auch im öf- den schon einige wichtige Punkte der vorliegenden An- fentlich-rechtlichen Bereich in erschreckendem Umfang träge angesprochen. Kollege Grindel hat auf die aktuel- zu. Aber auch dadurch wird versucht, auf das Bedürfnis len Entwicklungen im Beihilfeverfahren hingewiesen. eines Teils der Bevölkerung einzugehen. Es darf nicht Ich denke, es lohnt sich in der Tat, am Ende dieser De- nur „Intellektuellenfernsehen“ geben, sondern es müs- batte noch auf einzelne Aspekte einzugehen und die eine sen auch solche Angebote gemacht werden, von denen oder andere Aussage aufzugreifen, die in dieser Diskus- ein Teil der Bevölkerung sagt: Dabei kann ich mich ent- sion gemacht worden ist. spannen. Ich glaube nicht, dass es in irgendeiner Form gerechtfertigt wäre, diese Menschen zu bevormunden. Lieber Kollege Waitz, mit Ihnen möchte ich begin- Wem eine Sendung nicht gefällt, der kann auf ein ande- nen. Sie haben gesagt, Sie wollen nicht, dass sich öffent- res Programm, zum Beispiel auf Arte – übrigens auch lich-rechtliche Sender jedes Verbreitungsweges bedie- ein öffentlich-rechtlicher Sender – umschalten. nen können. Über diese Position kann man diskutieren. Aber Sie sollten in Ihrer Argumentation ehrlicher sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Denn wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass das, CDU/CSU sowie der Abg. Grietje Bettin was Sie eigentlich meinen, etwas anderes ist. Ihre Auf- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) fassung in dieser Frage entspricht übrigens nicht der Po- Sie haben den Rückgang der Zahl solcher Sendungen litik der Liberalen im Europaparlament, beklagt, die sich mit Themen aus dem Bereich Wissen- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Genau! Die schaft und Bildung beschäftigen. Ja, auch ich beklage, ist genau entgegengesetzt!) dass es den einen oder anderen Programmbeitrag, der früher gesendet wurde, nicht mehr gibt. Das gilt vor al- die an dieser Stelle vernünftiger als die Liberalen in die- lem für den Rundfunk. sem Hause (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ja, aber auch für das Fernsehen!) der CDU/CSU und der Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir sollten darüber nachdenken, ob wir in diesem Be- reich mehr tun können; das ist völlig klar. und vernünftiger als die eine oder andere Landesregie- rung sind, wie das Abstimmungsverhalten im Bundesrat Was Sendungen mit wissenschaftlichem Hintergrund gezeigt hat. betrifft, erinnere ich mich an eine Sendung von Ranga Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7341

Jörg Tauss (A) Yogeshwar, der damals in einer Nische des Dritten Pro- Deshalb will ich an dieser Stelle noch etwas anderes zur (C) gramms begonnen hat. Werbung sagen. Ich würde raten, über die Kritik an den 45 Minuten, die von Werbung nicht unterbrochen wer- Man hat gesagt: Das hat kaum eine Chance. – Es den sollen, noch einmal nachzudenken. Auch ein Film wurde ein Renner im WDR, ist in die Primetime geho- ist ein Kulturgut; darüber sind wir uns doch im Kultur- ben worden. Dem Yogeshwar gehört ein Bundesver- ausschuss einig, selbst mit der FDP. Aber wenn ein Film dienstkreuz verliehen: zum einen für seine Verdienste ein Kulturgut ist, muss man einen Film ohne ständige um Wissenschaft und Forschung und Bildung in diesem Unterbrechungen sehen können. Land und zum anderen für den Beweis dafür, dass die Leute gar nicht so platte Sendungen sehen wollen, wie es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der eine oder andere öffentlich-rechtliche Intendant gele- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gentlich seinem Publikum unterstellt. Das sind erfolgrei- CDU/CSU) che Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ich finde das gut. Ich finde, schon eine Unterbrechung alle 45 Minuten ist Zumutung genug. Aber alle 30 Minuten, das ist proble- Sie haben die Grundversorgung angesprochen. Da- matisch. rüber muss man immer wieder reden, völlig klar. Die Das Kurzberichterstattungsrecht ist gewährleistet. Grundversorgung ist die Voraussetzung dafür, dass wir Ich habe mich an dieser Stelle übrigens sehr gewundert überhaupt Gebühren erheben können – so das Bundes- über die eine oder andere Einlassung von großen Sport- verfassungsgericht. Deswegen muss man sich sicherlich verbänden in Deutschland, die sich dagegen gewandt ha- Gedanken machen, wie die Grundversorgung in einer ben, die erklärt haben: Das wollen wir nicht. – Ich Zeit, in der sich Entwicklungen gesellschaftlicher Art er- glaube, der Fußball tut sich keinen Gefallen damit. Der geben, möglicherweise neu zu definieren ist. Ich hätte Fußball lebt davon, dass freie Information über Fußball- überhaupt kein Problem damit, eine solche Debatte zu spiele möglich ist. Ich bin froh, dass die Richtlinie ent- führen, auch mit den verschiedenen gesellschaftlichen gegen dem, was der DFB will, an dieser Stelle ebenfalls Kräften. Nur, eines ist auch klar – das ist Ihr Denkfehler, klare Signale aussendet. Kollege Waitz –: Die Privaten haben deutlich erklärt, dass sie eine Grundversorgung nicht anbieten wollen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und aus wirtschaftlichen Gründen auch nicht anbieten der CDU/CSU) können. Ich sage dies nicht als Vorwurf, nur als Feststel- lung. Die Privaten haben für sich einen anderen Auftrag Zu den PC-Gebühren. definiert, und zu diesem gehört nicht die Sicherstellung (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sind (B) der Grundversorgung. Wenn aber der private, kommerzi- Sie dafür?) (D) elle, werbefinanzierte Bereich die Grundversorgung nicht leisten kann, dann brauchen wir zur Sicherung der Wie gesagt, die Forderung nach der Abschaffung der Qualität von Hörfunk und Fernsehen in Deutschland pa- Gebühren, die demnächst auf PCs erhoben werden, ist rallel zu den Privaten einen gebührenfinanzierten Grund- schon ein bisschen populistisch. Liebe Kollegin Bettin, versorgungsauftrag. ich habe heute Abend gelesen, der Kollege Berninger geht zu Mars. So weit dazu. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir schicken ihn DIE GRÜNEN) zum Mars!) Zur Richtlinie, zur Trennung in lineare und nicht linea- Außerdem stimmt nicht, was in eurem Antrag steht: dass re Dienste, ist das eine oder andere gesagt worden. Ich die Selbstständigen und die Hochschulen belastet wer- will hier noch einmal unterstreichen, dass ich es für sehr den. Denn Hochschulen, die schon bisher Gebühren zah- wichtig halte, dass unabhängig von Verbreitungsweg, un- len, sind überhaupt nicht betroffen. Betroffen ist die eine abhängig davon, wie das Programm abgerufen wird – sei oder andere Hochschule, wo in der Vergangenheit es programmorientiert oder individuell –, Mindeststan- schwarzgesehen worden ist. Nur, die zu unterstützen, dards im Jugendschutz, im Verbraucherschutz und im liebe Kolleginnen und Kollegen, kann unser Anliegen Hinblick auf das Respektieren der Menschenwürde ein- auch nicht sein; das wäre unfair gegenüber denen, die gehalten werden. Das ist ein wichtiges Signal dieser Gebühren gezahlt haben. Insofern gibt es kein riesengro- Richtlinie; das sollten wir bei aller sonstigen Kritik wür- ßes Problem. digen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Chris- (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) toph Waitz [FDP]: Schwarz? Pro Computer- monitor? Oder wie?) Ein Problem bleibt zweifellos die Schleichwerbung, bleibt das Productplacement. Kollegin Bettin, ich habe Es heißt, die Wirtschaft, die Selbstständigen würden be- hier ein paar Ausführungen dazu gemacht. Aber Ihr sonders belastet. Dazu sage ich: Nein. Der Kollege „nackter Schauspieler“ ist für mich nicht mehr zu top- Grindel hat darauf hingewiesen, aber man muss es noch pen. einmal deutlich sagen: Es ist nicht die Wirtschaft, die hier mehr bezahlen muss. Sie zahlt, weil PCs anders (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der behandelt werden als Fernsehgeräte, die in Firmen CDU/CSU und der FDP) – übrigens auch in Büros des Deutschen Bundestages – 7342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Jörg Tauss (A) aufgestellt worden sind, im Grunde genommen weni- tion der FDP auf Drucksache 16/2970 mit dem Titel (C) ger als zuvor. „Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetan- schluss – die Gebührenfinanzierung des öffentlich-recht- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: lichen Rundfunks grundlegend reformieren“. Wer stimmt Zweitgeräte!) für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Der Präsident weist mich auf das Ende meiner Rede- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den zeit hin. Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Wir Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die haben, bei aller Kritik, das beste Rundfunk- und Fern- Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der sehprogramm der Welt, und zwar weil es gebührenfinan- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. ziert ist. Kollege Waitz, Kollege Otto, ich würde Sie Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- gerne gelegentlich zu 24 Stunden amerikanischem Fern- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sehen verurteilen. Ich glaube, dann kommen Sie zu einer sache 16/3002 mit dem Titel „Moratorium für PC- anderen Position als der, die Sie heute Abend vorgetra- Gebühren – sofortige Neuverhandlung des Rundfunkge- gen haben. bührenstaatsvertrages“. Wer stimmt für diese Beschluss- Vielen Dank. empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Ich schließe die Aussprache. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags ses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/3791. der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- sache 16/2793 mit dem Titel „PC-Gebühren-Moratorium Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner verlängern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/3297 mit dem schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- Titel „Die Schaffung eines kohärenten europäischen fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Rechtsrahmens für audiovisuelle Dienste zu einem der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthal- Schwerpunkt deutscher Medien- und Kommunikations- tung der FDP-Fraktion angenommen. politik in Europa machen“ in der Ausschussfassung anzu- nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: (B) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer (D) fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Brüderle, Birgit Homburger, Dr. Karl Addicks, der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Frak- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP tion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen an- genommen. Mehr Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh- – Drucksache 16/3344 – nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache Überweisungsvorschlag: 16/2675 mit dem Titel „Für einen zukunftsfähigen euro- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie päischen Rechtsrahmen audiovisueller Mediendienste – Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu den Beratungsprozess der EU-Fernsehrichtlinie aktiv Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re- begleiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – debeiträge von Lena Strothmann, CDU/CSU-Fraktion, Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Christian Lange, SPD-Fraktion, Birgit Homburger, FDP- fehlung ist bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion mit den Fraktion, Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke, und Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Matthias Berninger, Fraktion des Bündnisses 90/Die 1) Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp- Grünen. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache Drucksache 16/3344 an den Ausschuss für Wirtschaft 16/2977 mit dem Titel „Für eine verbraucherfreundliche und Technologie vorgeschlagen. Sind Sie damit einver- und Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle standen? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Mediendienste“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. zur Anpassung des Rechts der Insolvenzan- Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus- fechtung schusses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/3792. – Drucksache 16/886 – Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7343

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel (C) schusses (6. Ausschuss) Troost, Dr. Barbara Höll, Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der LINKEN – Drucksache 16/3844 – Für einen starken öffentlich-rechtlichen Spar- Berichterstattung: kassensektor – Keine Kompromisse beim Spar- Abgeordnete Dr. Günter Krings kassen-Bezeichnungsschutz – Parlamentswil- Dirk Manzewski len respektieren Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Wolfgang Nešković – Drucksache 16/3797 – Jerzy Montag ZP 7Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Os- Es liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP wald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der sowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reinhard Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen wer- Schultz (Everswinkel), Bernd Scheelen, Ingrid den. Es handelt sich um die Beiträge der Kolleginnen Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der und Kollegen Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion, Fraktion der SPD Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, FDP-Fraktion, Wolfgang Nešković, Bezeichnungsschutz für Sparkassen gesichert Fraktion Die Linke, und Irmingard Schewe-Gerigk, – Drucksache 16/3805 – Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, sowie des Par- lamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach.1) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Pfän- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. dungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung, Drucksache 16/886. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- ner dem Kollegen Dr. Axel Troost von der Fraktion Die fehlung auf Drucksache 16/3844, den Gesetzentwurf in Linke das Wort. der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei (Beifall bei der LINKEN) Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der Dr. Axel Troost (DIE LINKE): (B) FDP auf Drucksache 16/3865? – Wer stimmt dagegen? – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit den Zum Sparkassen-Bezeichnungsstreit gibt es eine gute Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der und eine schlechte Nachricht. FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Die gute lautet: Das Vertragsverletzungsverfahren des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. wurde eingestellt und die privaten Markenrechte der Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion des Sparkassen bleiben geschützt. Das ist sicherlich auch ein Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3864? – Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit hier. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag Die schlechte Nachricht lautet aber: ist wiederum mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Dass Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen du unbedingt reden musst!) abgelehnt. Was die Bundesregierung der EU-Kommission als Preis für diesen Erfolg im Gegenzug zugesagt hat, weiß nie- Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in mand so richtig. Fakt ist, dass die EU-Kommission in ih- der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- rer Presseerklärung zum Kompromiss schreiben kann: zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist § 40 Kreditwesengesetz wird stets so angewendet, dass der Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmen EU-Recht nicht verletzt wird. der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung aller anderen Fraktionen angenommen. Das macht mich stutzig. Wir alle wissen doch: Für die EU-Kommission heißt dieser Satz genau, dass auch pri- Dritte Beratung vaten Banken erlaubt werden muss, sich Sparkasse zu und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- nennen. Stutzig werde ich auch, wenn ich in der „Finan- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – cial Times Deutschland“ die Überschrift „Sparkassen – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Bera- Sieg für Brüssel“ oder im „Handelsblatt“ lese, dass die tung mit gleichem Stimmverhältnis angenommen. EU-Kommission in der Auseinandersetzung im Grund- satz gewonnen hat. Mit Verlaub: Erfolgsmeldungen se- Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 7 hen anders aus. auf: Die entscheidende Frage ist: Hat die Bundesregierung der EU zugesagt, § 40 KWG so anzuwenden, dass die 1) Anlage 5 EU sagen kann, EU-Recht wird nicht verletzt? Hat die 7344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Dr. Axel Troost (A) Bundesregierung also zugesagt, § 40 KWG so anzuwen- misse zu schließen. Deswegen fordere ich alle auf, sich (C) den, dass sich auch eine private Bank Sparkasse nennen auch diesmal für den Sparkassen-Bezeichnungsschutz darf? Das ist die entscheidende Frage. Da müssen wir als stark zu machen. Sagen wir der Bundesregierung klar, Parlamentarier sagen: Wir wissen es nicht. Wir kennen dass sie ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht hat. nur die knappe gemeinsame Erklärung von Finanzminis- Sagen wir ihr, dass sie noch einmal nachverhandeln soll. terium und EU-Kommission. Die entscheidenden Proto- Sagen wir ihr, dass eine mutige Verteidigung dieses kollnotizen und Interpretationshilfen haben wir schlicht Sparkassenkompromisses nicht ausreicht, sondern dass und einfach nicht. wir hier weitergehen müssen. Während der gesamten Verhandlungen fuhr die Bun- Danke schön. desregierung einen undurchsichtigen Zickzackkurs. Am (Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken Ende erfahren wir als Bundestag nicht einmal, was im [CDU/CSU]: Sie haben das Ergebnis nicht Detail vereinbart wurde. Das können wir uns doch nicht richtig zur Kenntnis genommen!) gefallen lassen. Das ist eine Missachtung des Parla- ments, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der LINKEN) Das Wort hat jetzt der Kollege Leo Dautzenberg von Bei allem, was wir nicht wissen und was die Öffent- der CDU/CSU-Fraktion. lichkeit auch nicht weiß, ist aber eines sicher: Eine dau- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. erhafte und eindeutige Sicherung des Bezeichnungs- Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]) schutzes ist das nicht. Ganz offensichtlich lässt die Vereinbarung wichtige Fragen offen. Ganz offensichtlich Leo Dautzenberg (CDU/CSU): bedarf die Vereinbarung weiterer juristischer Interpreta- tionen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Tage eines Jahres Weil das so ist, kann die Vereinbarung ein Einfallstor sind die Zeit der Rückblicke und Resümees. Ein Thema für eine faktische Aufgabe des Sparkassen-Bezeich- beim Rückblick auf die Finanzmarkt- und Bankenthe- nungsschutzes sein. Es ist doch unehrlich, liebe Kolle- men dieses Jahres ist sicherlich die Auseinandersetzung ginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, davor die zwischen der Bundesregierung und der Europäischen Augen zu verschließen und in Ihrem Antrag heile Welt Kommission über den Bezeichnungsschutz der Sparkas- zu spielen. Denn wir haben draußen auf den Finanz- sen. märkten keine heile Welt. Draußen häufen sich die Angriffe auf öffentlich-rechtliche Sparkassen. Die kom- Seit einigen Tagen kennen wir das Resümee dieser (B) Thematik: Der Sparkassen-Namensstreit mit Brüssel, (D) merziellen Großbanken haben sich doch gerade zum Ziel gesetzt, den Sparkassensektor zu knacken. also der Streit über den Bezeichnungsschutz, kann mit Recht als ein Kapitel des Jahres 2006 bezeichnet wer- Deutsche Bank, Dresdner Bank, Commerzbank und den, das sehr turbulent verlief, aber trotzdem letztendlich viele andere stört es natürlich, wenn Sparkassen im positiv ausging. Diesen positiven Ausgang verdanken Markt sind, die nicht Renditeforderungen von 25 Pro- wir der Bundesregierung. In der letzten Woche hat sie zent anstreben und damit die Gewinnmargen kleiner hal- nach einem wochenlangen Verhandlungsmarathon eine ten. Genau diesen kommerziellen Großbanken haben erfreuliche Einigung mit der EU-Kommission über den Sie, hat die Bundesregierung mit dem weichen Kompro- Bezeichnungsschutz der Sparkassen erzielt. miss mit offenen Formulierungen potenziell ein riesiges Entgegen Ihrer Auffassung, Kollege Troost und Geschenk gemacht. Die kommerziellen Großbanken meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke, sind sind mit ihrer Interpretation des Kompromisses doch wir in der Union davon überzeugt, dass die Bundesregie- schon vorgeprescht. Die ist eindeutig. So wird gesagt: rung damit sehr wohl den Bundestagsbeschluss vom Berlin ist kein Sonderfall. Dass sich auch Private künftig September dieses Jahres umgesetzt hat. Sparkasse nennen dürfen, gelte – ich zitiere den Haupt- geschäftsführer des Bankenverbandes – „auch in jedem (Beifall bei der CDU/CSU) anderen Fall, wenn eine Kommune ihre Sparkasse priva- tisieren will“. Sie hat in ihren Verhandlungen den Parlamentswillen nicht nur respektiert, sondern sie ist ihm sogar ausdrück- Vor alledem dürfen wir doch nicht die Augen ver- lich gefolgt. schließen. Wir müssen Sparkassen durch klare Rahmen- bedingungen vor dem Zugriff kommerzieller Großban- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das weiß nur ken schützen und nicht Steilvorlagen für weitere keiner!) Angriffe liefern. Gerne erläutere ich Ihnen unsere Überzeugung kurz anhand von drei Kernforderungen, die wir vor drei Mo- (Beifall bei der LINKEN) naten gemeinsam – Sie hatten sich daran beteiligt – im Deswegen sage ich auch: Mit diesem Kompromiss Plenum formuliert haben. hat die Bundesregierung den Parlamentswillen nicht eins (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut!) zu eins umgesetzt, wie wir ihn gemeinsam im September formuliert haben. Das heißt ganz klar: Wir müssen uns Erstens sollte – so steht es im Antrag – der Bezeich- gemeinsam dafür einsetzen, hier keine faulen Kompro- nungsschutz der Sparkassen im Sinne des § 40 des Kre- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7345

Leo Dautzenberg (A) ditwesengesetzes grundsätzlich erhalten bleiben. Zwei- Organisation – vor schwerwiegenderen Fragen als der (C) tens sollte in diesem Zusammenhang der Verkauf der des Bezeichnungsschutzes. Bankgesellschaft Berlin als Sonderfall behandelt wer- den. Das ist die so genannte Insellösung. Drittens sollte Zunächst einmal sehe ich aber unter den heutigen das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland Rahmenbedingungen nicht, dass der Bezeichnungs- eingestellt werden. schutz für die Sparkassen durch die Verhandlungslösung aufgeweicht wird. Vielmehr bin ich der Überzeugung, Alle drei Forderungen sind aufgrund der Verhandlun- dass diejenigen, die die Verhandlungslösung jetzt zerre- gen erfolgreich umgesetzt worden. den, die europäische Absicherung des Bezeichnungs- schutzes tatsächlich gefährden. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das sehen wir aber ganz an- Warum ich diese Befürchtung habe, macht ein Blick ders!) auf den Verhandlungsverlauf in diesem Jahr sehr deut- lich. Nicht ohne Grund sprach ich eingangs von einem – Lieber Kollege Troost, wenn Sie nicht im Senat mitbe- turbulenten Kapitel in Sachen Sparkassen-Bezeich- teiligt gewesen wären, als wir uns den Berliner Fall ein- nungsschutz. Wir alle wissen, dass in den letzten Wo- gehandelt haben, dann wäre es gar nicht zum Vertrags- chen und Monaten nicht immer zu erwarten war, dass verletzungsverfahren gekommen. Deutschland mit der EU-Kommission zu einer einver- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ich glaube, Ihre nehmlichen Lösung im Sinne des öffentlich-rechtlichen Partei hat das in Berlin verbrochen!) Sparkassensektors gelangen würde. – Nein, Sie waren mit anderen in Berlin zusammen, die Im Sommer standen vielmehr folgende Szenarien im ich als Koalitionspartner natürlich nicht ausdrücklich er- Raum: Ein Weg schien zwischenzeitlich darin zu beste- wähnen möchte. hen, den Forderungen der EU-Kommission nachzugeben und den § 40 KWG zu ändern, um die Einstellung des Allen drei Forderungen entspricht die Einigung mit Vertragsverletzungsverfahren zu erreichen. Die andere der EU-Kommission eindeutig. Ich sage daher sehr deut- Option war eine Beendigung der Verhandlungen ohne lich, dass die Vereinbarung ein Erfolg ist. Sie ist ein Er- einvernehmliche Lösung. Die Konsequenz wäre ein Ver- folg für die deutschen Verhandlungsführer und – das ist fahren vor dem Europäischen Gerichtshof gewesen, des- noch viel wichtiger – für den Sparkassensektor. sen Ausgang völlig offen gewesen wäre. Ich kann daher nicht verstehen, warum diese Ver- Beide Szenarien konnten abgewendet werden. § 40 handlungen nicht anerkannt werden und sich schon wie- Kreditwesengesetz muss nicht geändert werden und das der Nörgler und Kritiker aus der Deckung wagen. (B) Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wird (D) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist eingestellt. Dass § 40 KWG nicht geändert werden unglaublich!) muss, ist auch ein Verdienst des Deutschen Bundestages. Wir haben der Bundesregierung mit unserem Antrag im Sie haben festgestellt, die Verhandlungslösung sei nicht September sehr deutlich gemacht, dass wir die zwi- wasserdicht, und fragen, was passiert, wenn sich der schenzeitlich von ihr vorgeschlagenen Kompromiss- Berliner Fall an anderer Stelle wiederholt. Dürfen dann angebote zur Änderung des § 40 KWG für sehr proble- wieder private Investoren den Namen Sparkasse fortfüh- matisch halten und dass wir im Übrigen weder sachliche ren? Wäre das nicht der Dammbruch für den öffentlich- noch europarechtliche Gründe für eine Änderung sehen. rechtlichen Sparkassensektor? Das Ergebnis haben wir jetzt, Herr Kollege Troost. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist es!) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das wissen Diese Argumentation enthält mir zu viel Wenn und wir ja eben nicht!) Aber. Damit haben wir der Bundesregierung für die Brüsseler (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das sieht der Verhandlungen letztlich den Rücken gestärkt. Mit Unter- Bankenverband anders!) stützung durch eine große Parlamentsmehrheit konnten sich die deutschen Verhandlungsführer hartnäckig für Zu der Frage, was dann passiert, Herr Kollege Troost: den Erhalt des § 40 KWG in seiner heutigen Fassung Ehe private Investoren übernehmen können, muss zu- einsetzen, und zwar mit Erfolg, wie wir seit der letzten nächst einmal jemand bereit sein, zu verkaufen. So ist Woche wissen. das in unserem Rechtsstaat, der noch dem Eigentum ver- pflichtet ist. Das steht am Anfang der Gesamtsituation. Der Fraktion Die Linke reicht diese Lösung aber noch immer nicht aus. Sie fordert eine Nachverhandlung mit (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist dem Ziel der dauerhaften Sicherstellung des Bezeich- korrekt!) nungsschutzes. Das heißt, sie will eine Garantie für die Ewigkeit. Aus der Historie betrachtet man die Ewigkeit In den meisten Fällen gelten politische Entscheidun- meistens von unten. Das ist im Grunde kein progressiver gen nur unter bestimmten Rahmenbedingungen. Ändern Ansatz für die Zukunft. sich diese, dann muss auch die Politik reagieren. Sollte sich – dies sei nur am Rande bemerkt – der Berliner Fall (Frank Schäffler [FDP]: Ein schönes Bild! – an anderer Stelle wiederholen, dann stehen wir in der Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Dann Politik und auch der Bankensektor – insbesondere diese wächst Gras darüber!) 7346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Leo Dautzenberg (A) Wir müssen vielmehr die Entwicklungen in der Kredit- Diese hat die Brüsseler Entscheidung ausdrücklich be- (C) wirtschaft, der Landesgesetzgebung und der Europäi- grüßt. Im Deutschen Bundestag wettern Sie aber nun ge- schen Union weiterhin beachten. Wie absurd diese For- gen die Einigung im Sparkassenstreit. In der Begrün- derung grundsätzlich ist und wie wenig sie mit dung Ihres Antrags verweisen Sie auf das in vielen Realpolitik zu tun hat, brauche ich hier wohl nicht näher Bundesländern umgesetzte Girokonto für jedermann in zu erläutern. den dortigen Sparkassengesetzen. In Berlin, wo Sie in der Landesregierung vertreten sind, gibt es kein Giro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. konto für jedermann im Sparkassengesetz. Wenn Ihnen Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]) die Menschen, die kein Girokonto erhalten, wirklich am Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, Herzen liegen würden, dann hätten Sie längst das Giro- wie bei so vielen Themen erliegen Sie auch beim Thema konto für jedermann im Berliner Sparkassengesetz fest- Sparkassen wieder einmal dem Irrglauben, dass wir auf schreiben können. einer Insel der Glückseligen leben. Das tun wir aber (Zuruf von der FDP, an die LINKE gewandt: nicht. Wir sind in die Europäische Union eingebunden, Ihr seid herzlos und neoliberal!) ob wir das wollen oder nicht. Sie brüllen in der Opposition, verkriechen sich aber in ( [FDP]: Wir wollen das!) der Berliner Landesregierung in den Regierungsdienst- – Richtig, wir wollen das. – Die EU wird weiterhin – das wagen. Das ist zutiefst verantwortungslos. muss uns bewusst sein – ein Auge auf die Drei-Säulen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Struktur der deutschen Kreditwirtschaft werfen. Wir als FDP können mit der Einigung im Sparkas- Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir von der senstreit sehr gut leben. Anders als jedoch von der Bun- Union wollen den Bezeichnungsschutz für öffentlich- desregierung kurz nach der Einigung öffentlich verkün- rechtliche Sparkassen nicht nur kurzfristig retten. Wir det, hat sich die Bundesregierung in Brüssel nicht sind vielmehr von ihrer Bedeutung gerade mit Blick auf durchgesetzt, weder im Fall des Beihilfestreites um die die Gemeinwohlorientierung sehr wohl überzeugt und Berliner Sparkasse noch in der Auslegung des haben ein langfristiges Interesse daran. § 40 KWG. Insofern hat die Regierung tagelang die Öf- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Axel Troost fentlichkeit über den wahren Inhalt der Einigung ge- [DIE LINKE]: Das ist auch gut so!) täuscht: Aber wir sind als Realpolitiker vernünftig genug, um zu Erstens. Das Land Berlin darf seine Landesbank Ber- wissen, dass die jetzt erreichte Vereinbarung mit der Eu- lin Holding AG und damit seine Sparkasse auch an einen (B) ropäischen Union das bestmögliche Ergebnis ist, das zu privaten Investor verkaufen und dieser darf den Namen (D) erreichen war. „Sparkasse“ im Rahmen des Berliner Sparkassengeset- zes weiter uneingeschränkt nutzen. Deshalb lautet meine abschließende Bitte: Lassen Sie uns gemeinsam das Ergebnis der Verhandlungen der (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Unter dem Bundesregierung mit der Europäischen Union über den Gesichtspunkt des Regionalprinzips!) Bezeichnungsschutz der Sparkassen würdigen! – Das ist ja Teil des Sparkassengesetzes in Berlin. – Die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) BaFin musste sogar ihre bisherige Untersagung auf Wei- sung des Finanzministeriums zurücknehmen. Lassen Sie uns auch in Zukunft die Entwicklung der deutschen Kreditwirtschaft aufmerksam verfolgen und Zweitens. § 40 KWG wird in der Europäischen Union politisch-konstruktiv begleiten! Richtschnur unseres in einer Weise angewandt, die nicht gegen die Niederlas- Handelns sollte dabei immer die qualitativ gute und flä- sungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr verstößt. chendeckende Versorgung der Unternehmen und der Be- Dem Schutz der Bezeichnung „Sparkasse“ gemäß völkerung mit Bankdienstleistungen sein. § 40 KWG geht das höherrangige, direkt anwendbare Gemeinschaftsrecht vor und dies nicht nur im Beihilfe- Vielen Dank. streit um die Berliner Sparkasse. Damit hat die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- regierung es nicht geschafft, die Auseinandersetzung auf neten der SPD) das Beihilfeverfahren zu reduzieren und Berlin als Son- derfall zu behandeln. Das war aber das eigentliche Ziel, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: auch das Ziel des Entschließungsantrages der Koalition Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von Ende September. der FDP-Fraktion. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist das!) Im Gegenteil: Nur weil die Bundesregierung akzep- Frank Schäffler (FDP): tierte, dass das höherrangige Gemeinschaftsrecht bei der Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Anwendung des § 40 KWG generell gilt, konnte die EU- Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn ein Wort Kommission der Einstellung des Vertragsverletzungs- an den Antragsteller richten. Herr Kollege Troost, Sie verfahrens zustimmen. müssen sich schon entscheiden, was Sie von der Links- fraktion wollen. Ihre Partei ist in Berlin – eigentlich sind (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das fürchten es hier noch zwei Parteien – in der Landesregierung. wir auch!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7347

Frank Schäffler (A) § 40 KWG ist nur noch eine formale Hülle, die in der eine Kommune können auch die Länder künftig nicht (C) Praxis nicht mehr angewandt wird. Der Antrag von der verhindern. Union und der SPD mogelt sich um den Inhalt der Eini- gung herum. Sie schreiben im Antrag: „Es besteht kein Meine Damen und Herren, die FDP erkennt die Ver- Erfordernis zur Änderung des § 40 KWG“ und suggerie- dienste der Sparkassen für die Versorgung breiter Bevöl- ren damit, dass sich nichts verändert hat. Tatsache ist kerungsschichten und des Mittelstandes mit Finanz- aber, die Bundesregierung hat klein beigegeben. Sie ist dienstleistungen ausdrücklich an. als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Es (Beifall bei der FDP) bedarf keiner Änderung des § 40 KWG, weil er künftig keine Rolle mehr spielen wird. Gerade um dies auch zukünftig sicherzustellen, ist die Einigung eine wichtige Grundlage für eine dynamische Weiterentwicklung des Sparkassensektors und des Fi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nanzstandortes Deutschland. Es ist aber auch eine gute Herr Schäffler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Nachricht für den Wettbewerbsföderalismus und eine Kollegen Hinsken? Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutsch- land. Frank Schäffler (FDP): Vielen Dank. Ja. (Beifall bei der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Herr Hinsken. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Schultz von der SPD-Fraktion. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Schäffler, sind Sie bereit, dem Herrn (Beifall bei der SPD) Kollegen Troost von der Linken zu sagen, dass die Ver- antwortlichen der Sparkassen in der Bundesrepublik Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Deutschland mit dem gefundenen Kompromiss zufrie- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den sind, weil sichergestellt ist, dass dort, wo Sparkasse Manchmal glaubt man, man sei hier im falschen Film. draufsteht, auch Sparkasse drin ist? Dass Sie, Herr Troost, versuchen, Leute aufzuwiegeln (Heiterkeit – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] und in Angst zu versetzen, kann ich noch nachvollzie- (B) [FDP]: Sag’s ihm! – Otto Fricke [FDP]: Das hen, (D) stimmt zwar nicht, aber sag es ihm! – Dr. Axel (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Troost [DIE LINKE]: Ich habe noch Schlim- meres befürchtet!) aber Sie, Herr Schäffler, reden mit absolut gespaltener Zunge. Sie haben sich nicht konstruktiv an dem Kom- Frank Schäffler (FDP): promiss des Bundestages beteiligt und Sie waren nicht einmal in der Lage, sich in der eigenen Fraktion auf eine Es mag sein, dass die Verbände das so interpretieren. Haltung zu verständigen, weil die eine Hälfte dafür war, Die können das so interpretieren, wie sie wollen. Sie das Sparkassenprivileg aufrechtzuerhalten, und die an- werden die Einigung im Sparkassenstreit aber nicht ver- dere Hälfte dagegen. Jetzt machen Sie sich zum Chefin- ändern können. Die ist zwischen Bundesregierung und terpreten der nun gefundenen Rechts- und Kompromiss- Europäischer Kommission so verabredet, wie ich es ge- lage. Es ist geradezu albern und lächerlich, was Sie hier rade dargestellt habe. Das ist ja auch im Internet öffent- abgezogen haben, um das in aller Deutlichkeit zu sagen. lich einzusehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist eine DIE GRÜNEN) klare Antwort!) Das Verhältnis zur EU ist nicht nur im Fall der Spar- Natürlich können verschiedene Verbände unterschiedli- kassen, sondern auch auf anderen Gebieten, wie wir in cher Meinung sein, aber tatsächlich zählt, was in dieser diesen Tagen merken konnten, außerordentlich schwie- Einigung steht. rig. Die EU-Kommissare und die zuständigen Generaldi- Damit sind die Länder in Deutschland künftig frei, rektionen wandeln häufig stark am Rande des eigentlich ihre Sparkassengesetze nach ihren Vorstellungen zu än- geltenden Europarechts und versuchen, es durch prakti- dern, ohne dass der Bund über § 40 KWG dies verhin- sches Handeln, durch Faktensetzen in eine andere Rich- dern kann. Aber auch die Kommunen können sich künf- tung zu verschieben. tig auf europäisches Recht beziehen, ohne dass die (Otto Fricke [FDP]: Das wäre ja verfassungs- Länder ihnen die Veräußerung ihrer Sparkasse untersa- widrig!) gen können. Von Bedeutung ist, dass in der Einigung nichts mehr von einer vollständigen gemeinnützigen Dagegen muss man sich wehren, weil das Prinzip der Gewinnverwendung steht. Die Länder können den Rechtsstaatlichkeit für die EU-Kommission genauso wie Sparkassen lediglich bestimmte gemeinwirtschaftliche für unsere Bundesregierung und unser gesamtes politi- Verpflichtungen auferlegen. Eine Veräußerung durch sches Handeln gilt. 7348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Darum ging es ausdrücklich bei der Findung eines der Sparkassensektor bei allen – auch internationalen – (C) Sparkassenkompromisses. Es ist Einigung darüber er- Stresstests der stabilste von allen Sektoren, auch auf- zielt worden, dass der historische Verstrickungen auf- grund seiner Verbundstruktur. Das heißt, eine Sanie- weisende Fall der Berliner Sparkasse isoliert behandelt rungsprivatisierung, wie sie, um das einmal so zu inter- wird. Das war anders nicht möglich, weil eine beihilfe- pretieren, in Berlin möglicherweise vorliegen wird, ist in rechtliche Entscheidung der EU vorlag. Es sind öffentli- anderen Fällen weitgehend auszuschließen. che Subventionen geflossen, die an die Bedingung ge- Dann bleiben lediglich die Fälle einer Privatisierung knüpft gewesen sind, dass das Institut danach nach dem Willen des Trägers der Sparkasse. Dazu bedarf diskriminierungsfrei verkauft werden kann. es allerdings Änderungen im Ländersparkassenrecht. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war so!) Diese sind nicht so einfach. Auch dort gilt das Rahmen- recht des Kreditwesengesetzes mit § 40. Natürlich gibt Damit ist die Geschichte natürlich noch nicht zu es da Spielräume. Zum Beispiel könnte ein Stammkapi- Ende. Ich bin einmal gespannt, wer die Berliner Spar- tal eingeführt werden, was einige Länder wollen. Ich kasse kauft. Ich kann sagen, wem ich die Daumen drü- halte es allerdings nicht für besonders überzeugend, cke. Die öffentlich-rechtliche Sparkassenfamilie ist ge- wenn der Landesgesetzgeber einerseits erklärt, er denke meinsam auf dem besten Wege, das Geld in die Hand zu nicht daran, seine Sparkassen zur Privatisierung freizu- nehmen, um das Problem elegant zu lösen, geben, andererseits aber eine rechtliche Möglichkeit zur (Otto Fricke [FDP]: Wessen Geld?) Einführung von Stammkapital im engeren Sinne – es geht ja nicht um Eigenkapital – mit gestückelten Beteili- sodass sich der Kreis wieder schließt. Ich fände gut, gungen fordert. Wenn nicht privatisiert werden soll und wenn das dabei herauskäme. Das sage ich ganz offen. die kommunalen Träger weiterhin für die Sparkassen zu- Natürlich brauchen wir einen diskriminierungsfreien ständig sein sollen, besteht diese Notwendigkeit eigent- Verkaufsvorgang, aber auch die öffentlich-rechtlichen lich nicht. Institute haben das Recht und die Chance, dort mitzubie- ten. Vielleicht geht das auch gut. Insofern muss man auf Länderebene hinterfragen, wa- rum eine Tür aufgemacht wird, die gleichzeitig wieder (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wenn sie sich zugemauert werden soll. Das ist nicht sehr überzeugend. einig sind!) Da werden wir an anderer Stelle kämpfen. Das ist Lan- – Wenn sie sich einig sind. Man kann nur an sie appellie- despolitik. Es wird nie so weit kommen, zumindest mit ren, dass sie sich einigen. uns nicht, dass § 40 KWG in der Form geöffnet wird, dass die Länder einen Freifahrtschein dafür erhalten, privati- (Frank Schäffler [FDP]: Und dass sie das Geld sierte Institute weiterhin „Sparkasse“ nennen zu können. (B) (D) zusammenkriegen!) Die Sparkassen müssen weiterhin öffentlich-rechtlich Der zweite Punkt betrifft § 40 KWG. Die EU hat ver- bleiben und sie werden nach wie vor Gemeinwohlkrite- sucht, der Bundesregierung Kriterien hinsichtlich des rien unterworfen sein. Gemeinwohls und hinsichtlich der Frage, wann eine pri- Ich denke, das ist ein klares Ergebnis. Ich wundere vatisierte Sparkasse eigentlich noch Sparkasse heißen mich, Herr Kollege Troost, dass ausgerechnet Sie hier darf, aufs Auge zu drücken. Darüber hat man sich aus- die Deutsche Bank oder den Bankenverband als zuver- drücklich nicht geeinigt. Die Tatsache, dass man sich lässigen Kommentator dieses Kompromisses darstellen. nicht geeinigt hat und trotzdem das Vertragsverletzungs- Das ist nicht der Gesetzgeber oder etwas Ähnliches, son- verfahren eingestellt wird, bedeutet, dass § 40 KWG in dern eine Interessengruppe, die die Situation, die jetzt ei- Deutschland uneingeschränkt weiter gilt. nigermaßen gefestigt ist, wieder aufweichen will, um (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – den nächsten Angriff auf die Sparkassenfamilie vorzube- Otto Fricke [FDP]: Nur nicht in Berlin!) reiten. Denen würde ich nicht die Hand reichen, indem ich ihnen Recht gebe. – Nur nicht in Berlin; das ist nun einmal so. – Der Bun- desfinanzminister hat dem Sparkassen- und Giroverband Die Pressemitteilung, die die Bundesregierung und ausdrücklich mitgeteilt, dass die Bundesregierung auch die Wettbewerbsbehörde gemeinsam verfasst haben, und künftig für den Fall, dass jemand versuchen sollte, eine der Brief hinsichtlich Berlin, den Sanio geschrieben hat, Sparkasse zu privatisieren und den Namen mitzugeben, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Schreiben über die BaFin eingreifen und die Weiterführung des Na- musste!) mens Sparkasse untersagen wird. Das ist eine definitive Zusage. sind die beiden Grundlagen, die feststehen. Sie geben genau das wieder, was wir in unserer Entschließung am Ich kann mir gar nicht vorstellen, unter welchen Be- 29. September dieses Jahres gesagt haben: Berlin isolie- dingungen sich ein Fall wie der der Berliner Sparkasse ren und dafür den gesamten Rest retten. wiederholen könnte. Natürlich ist in der fernen Zukunft alles möglich, aber nach den Ereignissen um die Berliner Insofern kann ich nur sagen: Die Bundesregierung hat Sparkasse haben die Sparkassen einen solch starken meines Erachtens punktgenau – im Rahmen der Mög- Sicherungsverbund geschlossen, dass sie Insolvenzen lichkeiten – unseren Entschließungsantrag umgesetzt. oder Schieflagen problemlos innerhalb der Sparkassen- Dafür möchte ich mich beim Bundesfinanzminister und familie auffangen können und auch auffangen werden. bei der Verhandlungsgruppe ausdrücklich noch einmal Nicht zuletzt – auch darauf möchte ich verweisen – ist bedanken. Ich bin davon überzeugt, dass auch die EU- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7349

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Kommission sich davon hat beeindrucken lassen, dass Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) sich der deutsche Gesetzgeber nicht durch eine EU-Be- Das Wort hat jetzt die Kollegin Andreae vom Bünd- hörde in seine Gesetzgebungskompetenz hineinpfu- nis 90/Die Grünen. schen lässt. Denn das war das Begehr: dass ein deutsches Parlament, der Vertreter des deutschen Volkes, durch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine Behördenentscheidung gezwungen wird, ein Gesetz zu verändern. Das hatte die EU-Kommission vor; es ist Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): aber abgewehrt worden und wird auch nicht geschehen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Ich denke, es war gut, dass es in diesem Zusammenhang Herren! Wir haben es gerade erlebt: Gegen Angriffe kann einen engen Schulterschluss zwischen Parlament und man sich wehren; gegen Lob ist man machtlos. In diesem Bundesregierung gegeben hat. Sinne will ich für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- nen sagen, dass wir diesem Antrag der großen Koalition Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zustimmen werden. Herr Kollege Schultz, erlauben Sie noch eine Zwi- (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ schenfrage des Kollegen Schäffler? CSU]) (Iris Gleicke [SPD]: Nein!) Wir wollen der Koalition an dieser Stelle ein Lob aus- sprechen; denn wir finden das vorliegende Ergebnis Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): richtig. Wir haben tatsächlich den Eindruck, dass es sich Ja, selbstverständlich. um eine Umsetzung derjenigen Punkte handelt, die wir am 29. September in größerer Runde verabredet haben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wie gesagt, § 40 des Kreditwesengesetzes bleibt er- Bitte schön, Herr Schäffler. halten. Der Erhalt der öffentlich-rechtlichen Sparkassen ist vorerst gesichert. Außerdem gibt es kein Vertragsver- Frank Schäffler (FDP): letzungsverfahren. Wir wären damals Ihrem Antrag bei- getreten; die Vorgeschichte kennen Sie. Aber diesmal Herr Schultz, wenn es so ist, wie Sie das gerade be- konnten wir Ihrem Antrag nicht beitreten. Der Grund ist, schrieben haben, wieso ist der Berliner Fall dann nicht dass wir Sorgen haben, was die Argumentation der EU- auf den Beihilfestreit reduziert worden, wieso hat man Kommission im bisherigen Verfahren betrifft. Denn es dann in diesem Zusammenhang das Vertragsverletzungs- ist schon so, dass die EU-Kommission weiterhin be- verfahren mit abgeräumt? (B) hauptet, dass der Grundversorgungsauftrag einer (D) Sparkasse unabhängig von ihrer Rechtsform erbracht Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): werden kann. Die EU-Kommission ignoriert auch wei- Das war doch gerade die Kunst, lieber Herr Schäffler. terhin diesen unvermeidlichen Zielkonflikt zwischen der Die EU-Kommission hat einen Zweifrontenkrieg gegen Gemeinwohlverpflichtung der öffentlich-rechtlichen das deutsche Sparkassenrecht geführt und versucht, das Sparkassen und den Gewinninteressen privater Unter- Beihilfeverfahren in Berlin als Hebel zu benutzen, um nehmen. Sie stellt außerdem das Regionalprinzip in- die gesamte Veranstaltung auszubremsen. Gleichzeitig frage. hat sie ein lange ruhendes Vertragsverletzungsverfah- ren wieder aufleben lassen. Dass dieses Vertragsverlet- Brüssel insistiert auch weiterhin darauf, dass für zu- zungsverfahren jetzt eingestellt worden ist und gleich- künftige Fälle ein möglicher Verkauf einer Sparkasse in zeitig das Problem Berlin gelöst werden konnte, war Übereinstimmung mit dem EU-Recht erfolgen muss. sozusagen der Hattrick, der uns alle gerettet hat. Es gab Daraus schließen wir, dass Brüssel seine Vorbehalte ge- von Anfang an einen politischen Zusammenhang und gen § 40 des Kreditwesengesetzes nur zurückgestellt, das Problem ist auch im Zusammenhang gelöst worden. aber noch nicht aufgegeben hat. Gab es noch eine Frage? – Nein. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr wahr! – Frank Schäffler [FDP]: Richtige Interpreta- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der tion!) CDU/CSU) Diesen Punkt sehen wir kritisch. Auch Sie sollten das Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten in enger tun. Zusammenarbeit mit den Sparkassen die Interpretations- hoheit über diesen Kompromiss behalten. Ich bedanke Herr Dautzenberg, ich würde mir wünschen, dass Ih- mich für die gute interfraktionelle Zusammenarbeit im nen klar ist, was hier passiert ist. Es ist vielleicht mit ei- Vorfeld und bis zum heutigen Tage. Trotzdem wird das nem spielentscheidenden Tor zu vergleichen. Aber es ist Holzauge selbstverständlich für den Fall wachsam blei- noch lange nicht so, dass das Spiel insgesamt gewonnen ben, dass die EU-Kommission in der nächsten Zeit auf ist. dumme Gedanken kommen sollte. Was bedeutet das für den Fall, dass ein Bundesland Vielen Dank. sein Sparkassengesetz ändern und seine Sparkasse ver- kaufen will? Was bedeutet es, wenn Volksbanken und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sparkassen regional fusionieren wollen oder wenn es gar 7350 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Kerstin Andreae (A) Fusionen von regionalen Sparkassen zu Großsparkassen tion Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion ange- (C) gibt? nommen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das geht aber Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: von den Eigentümern aus!) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Es könnte durchaus sein, dass die Kommission solche richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Fälle als willkommenen Anlass sieht, den Rechtsstreit und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem über § 40 des Kreditwesengesetzes wieder aufzuneh- Antrag der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Ka- men. therina Reiche (Potsdam), Michael Brand, weite- Wir wollen das Verhandlungsergebnis nicht kleinre- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU den. Ich meine tatsächlich – mir ist es damit wirklich sowie der Abgeordneten Dirk Becker, Marco ernst –, dass es angesichts der Tatsache, was in den Ver- Bülow, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter handlungen möglich war, ein gutes Ergebnis ist. Deswe- und der Fraktion der SPD gen stimmen wir diesem Antrag und nicht dem Antrag Integriertes Küstenzonenmanagement konti- der Linken zu. nuierlich fortentwickeln Wir wünschen uns, dass wir nicht nur heute Abend, – Drucksachen 16/2502, 16/3143 – sondern auch in Zukunft von der Union, die bei diesem Thema unterschiedliche Interessen verfolgt, hören: Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Darauf kön- Dirk Becker nen Sie sich verlassen!) Angelika Brunkhorst Lutz Heilmann Die Zukunft der Sparkassen ist noch nicht entschieden. Dr. Reinhard Loske Wir erwarten schon, dass sich die Bundesregierung Es ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorge- weiterhin mit Umsicht und erhöhter Aufmerksamkeit für sehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- eine dauerhafte Lösung im Sinne des Erhalts der Spar- schlossen. kassen und vor allem ihres Gemeinwohlauftrages ein- setzt. Wir können sie dabei im Rahmen unserer Möglich- Ich eröffne die Aussprache. Es hat nur ein Redner den keiten unterstützen. Anspruch gestellt, zu sprechen. Er muss in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit auch nicht die ganze Redezeit (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die Sparkas- in Anspruch nehmen. (B) sen haben es selber in der Hand, ob sie eine (D) Zukunft haben!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Dieser Teilschritt war gut und richtig. Aber es ist weiter- hin dringend notwendig, bei diesem Thema umsichtig Es handelt sich um den ehrenwerten Kollegen Ingbert und aufmerksam zu sein. Liebing von der CDU/CSU-Fraktion. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ingbert Liebing (CDU/CSU): der SPD) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: heute zum zweiten Mal in diesem Jahr über das Thema IKZM, über das Integrierte Küstenzonenmanagement. Ich schließe die Aussprache. Das ist wahrlich ein Wortungetüm, das erschrecken mag. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Aber das Thema ist wichtig. Es ist wichtig, dieses Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3797 mit dem Ti- Thema aus der Ecke der Fachexperten herauszuholen tel „Für einen starken öffentlich-rechtlichen Sparkassen- und es viel mehr als bisher ins öffentliche Bewusstsein sektor – Keine Kompromisse beim Sparkassen-Bezeich- zu rücken. nungsschutz – Parlamentswillen respektieren“. Wer (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist dringend stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthal- erforderlich!) tungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktio- nen bei Zustimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Das Thema ist wichtig, weil es um die Entwicklung un- serer Küstenregionen geht. In kaum einer anderen Re- Zusatzpunkt 7. Abstimmung über den Antrag der gion prallen unterschiedlichste Nutzungsansprüche so Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf sehr aufeinander wie an unseren Küsten – und das in ei- Drucksache 16/3805 mit dem Titel „Bezeichnungsschutz nem ökologisch besonders wertvollen Gebiet. für Sparkassen gesichert“. Wer stimmt für diesen An- trag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag Deshalb ist es so wichtig, dass gerade hier Strategien ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des entwickelt werden, um die Küstenregionen als ökolo- Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Frak- gisch intakten und wirtschaftlich erfolgreichen Lebens- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7351

Ingbert Liebing (A) raum für die hier lebenden Menschen dauerhaft zu erhal- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Auch von der (C) ten und nachhaltig zu entwickeln. Das ist die Aufgabe FDP!) des IKZM. Wir haben einen schönen Bericht und eine ambitionierte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Strategie vorliegen. neten der SPD) Aber es muss jetzt auch weitergehen. Es geht um Interessenausgleich und um Konfliktver- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist dringend meidung. Da geht es um ökologische und ökonomische erforderlich!) Belange, um Küstenschutz, um Naturschutz, um Touris- mus, um Schifffahrt, um Energiegewinnung, um Hafen- Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, eine na- wirtschaft, Landwirtschaft oder Fischerei. Es geht um tionale Koordinierungsstelle für Integriertes Küstenzo- vernünftige Verkehrsanbindungen für die im Regelfall nenmanagement einzurichten. nicht gerade zentral gelegenen Küstenregionen. (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) Dabei ist es wichtig, dass sie auch mit Praktikern besetzt wird. Immer wieder geht es dabei darum, diesen Interessen- ausgleich zu organisieren. Zentraler Punkt des IKZM ist eine frühzeitige Kon- flikterkennung und -lösung. Dafür ist ein umfassendes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Verständnis für die wechselseitigen Verflechtungen ma- neten der FDP) ritimer Wirtschaft, mariner Ökologie sowie der Wechsel- Das kann man nicht mit viel Theorie machen. Ent- wirkungen in den Küstenregionen wichtig. Geht man scheidend ist die Praxis in den Küstenregionen. dies nur mit einem fachspezifischen Tunnelblick an, lan- det man zwangsläufig in der Sackgasse. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig, auch in Ostfriesland!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Viel zu eng!) – Genau, das ist viel zu eng, Herr Kollege Thiele. Integriertes Küstenzonenmanagement muss mit Leben gefüllt werden. Dafür ist es allemal sinnvoll, vorhandene Damit das nicht passiert, brauchen die Regionen um- Strukturen zu nutzen. sichtige „Kümmerer“, die den Überblick bewahren und sich auf höherer Ebene koordinieren. Dafür brauchen Wir fangen ja nicht erst bei null an. wir auch die Unterstützung der staatlichen Ebene; denn (B) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein, das stimmt! viele Rahmenbedingungen werden eben nicht in der Re- (D) Die Deiche sind schon errichtet!) gion selber, sondern von anderen außerhalb bestimmt. Beim integrativen Ansatz von IKZM spielt auch der Ich selbst habe einmal als Vorsitzender der Euregio „Die Wirtschaftsraum Küste eine zentrale Rolle. Watten“, eines Zusammenschlusses aller Gemeinden und Städte auf den Inseln und Halligen im Wattenmeer (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist richtig!) von Holland bis Dänemark, im Wattenmeerforum mit- IKZM darf eben nicht, wie manchmal falsch verstanden arbeiten dürfen. oder befürchtet, als rein ökologisches Planungsinstru- (Ernst Burgbacher [FDP]: Da hätten Sie einmal ei- ment betrachtet werden. Es geht um eine ausgewogene nen Vor-Ort-Termin machen können!) Regionalentwicklung – Küstenregionen sind auch Re- gionen, in denen Menschen leben und arbeiten – und es Hier treffen sich bereits seit vielen Jahren Entschei- geht um eine ökonomisch erfolgreiche und nachhaltige dungsträger verschiedener staatlicher und regionaler Entwicklung, Ebenen mit nicht staatlichen Interessenorganisationen von Holland bis Dänemark und arbeiten gemeinsam an (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE einer nachhaltigen Entwicklung der Wattenmeerregion. GRÜNEN]: Was ist mit der Ökologie?) Sie haben eine gemeinsame Strategie für eine nachhal- die einen Beitrag zur Lissabonstrategie der EU leistet. tige Entwicklung der Region erarbeitet. Das ist ein Bei- spiel für praktiziertes integriertes Küstenzonenmanage- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carl- ment. Solche Potenziale müssen auch in Zukunft genutzt Ludwig Thiele [FDP]: Jade-Weser-Port!) werden. Integrativer Ansatz von IKZM bedeutet, dass wir be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nachbarte Politikbereiche einbeziehen. Das gilt insbe- neten der SPD und der FDP – Carl-Ludwig sondere für die Verzahnung zwischen Küstenthemen und Thiele [FDP]: Auch im Inland!) Meerespolitik. Maritime Themen erfahren zurzeit eine völlig neue Aufmerksamkeit. Wir diskutieren über das Die Bundesregierung hat im März der EU die natio- EU-Grünbuch zur integrativen Meerespolitik, wir disku- nale IKZM-Strategie vorgelegt. Gern möchte ich bei tieren über die EU-Meeresschutzstrategie, die in weni- dieser Gelegenheit den beteiligten Ministerien und den gen Tagen beim EU-Ministerrat zur politischen Einigung Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Dank der CDU/ ansteht. Es geht auch um die Zielsetzung, ein weltweites CSU-Fraktion für die geleistete Arbeit aussprechen. Netz von Meeresschutzgebieten auszuweisen. Ich nenne 7352 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Ingbert Liebing (A) auch die boomende maritime Wirtschaft. Die Meeresfor- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und für die (C) schung beschäftigt sich mit der Gewinnung von Energie- Geduld zu dieser späten Stunde. ressourcen aus dem Meer und neue marine Wirkstoffe (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der unterstützen den medizinischen Fortschritt. Es geht um FDP) die Sicherung von Nahrungsquellen aus dem Meer, ge- rade für die Entwicklungs- und Schwellenländer. Es geht auch um die Wechselwirkungen zwischen den Meeren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und dem Weltklima. Die Meere nehmen mehr als die Die Reden der Kollegen Dirk Becker, SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, Rainder Hälfte des weltweiten CO2-Ausstoßes auf und tragen da- mit eine wesentliche Last der globalen Klimaverände- Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir zu rung. Protokoll.1) Alle diese Themen finden direkt vor unseren Küsten Damit schließe ich die Aussprache. statt und beeinflussen unsere Küstenregionen. Der Kli- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- mawandel ist längst angekommen. Das Ausmaß von schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Katastrophen und Extremsituationen, die in den letzten heit auf Drucksache 16/3143 zu dem Antrag der Frakti- Jahren weltweit über Küstenregionen und deren Bevöl- onen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel kerung hereingebrochen sind, häufen sich auffällig. Wir „Integriertes Küstenzonenmanagement kontinuierlich haben bis jetzt Glück gehabt, dass die deutschen Küsten fortentwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag hiervon weitgehend weniger betroffen waren. Aber ge- auf Drucksache 16/2502 anzunehmen. Wer stimmt für rade in den Küstenregionen geht es jetzt auch um Anpas- diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthal- sungsstrategien und nicht um die Vermeidung des Un- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- vermeidlichen. men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei All diese Themen waren auch Gegenstand der Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung 5. Nationalen Maritimen Konferenz in der vergange- der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenom- nen Woche in Hamburg, einer, wie ich finde, ausgespro- men. chen erfolgreichen Veranstaltung, nicht zuletzt auch Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: dank der umsichtigen und kompetenten Leitung durch die neue maritime Koordinatorin der Bundesregierung, Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Staatssekretärin Dagmar Wöhrl. Bettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – SES 90/DIE GRÜNEN (D) Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Küstenstaatssekre- tärin!) Den kostenfreien Empfang von Rundfunk via Satellit sicherstellen Wie geht es jetzt weiter? Die Europäische Kommis- sion hat wieder zu Expertengesprächen eingeladen, die – Drucksache 16/3545 – im März stattfinden sollen. Wir müssen wachsam sein, Überweisungsvorschlag: dass bei der EU kein neues Bürokratiemonster geschaf- Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie fen wird. Mir ist wichtig – das sagt auch der Antrag der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Koalitionsfraktionen –, dass sich die Bundesregierung Verbraucherschutz im Rahmen der zukünftigen Weiterentwicklung von In- tegriertem Küstenzonenmanagement dafür einsetzt, den Die Reden sollen insgesamt zu Protokoll genommen unbürokratischen Charakter dieser Kooperation beizube- werden. Deswegen brauche ich die Aussprache nicht zu halten. Das ist auch wichtig, um die Menschen an den eröffnen. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Küsten mitzunehmen, die IKZM umsetzen und nutzen Dorothee Bär und Philipp Mißfelder, CDU/CSU, Jörg sollen. Tauss und Christoph Pries, SPD, Christoph Waitz, FDP, Dr. Lothar Bisky, Die Linke, und Grietje Bettin, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bündnis 90/Die Grünen.2) neten der SPD und der FDP) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Wir gehen davon aus, dass auf dieser Basis eine weitere Drucksache 16/3545 an die in der Tagesordnung aufge- EU-Richtlinie zu diesem Thema nicht kommt. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist gut!) Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Die Bundesregierung hat mit der Vorlage der nationa- len IKZM-Strategie einen wichtigen ersten Schritt getan. Beratung des Antrags der Abgeordneten Meine Fraktion begrüßt diesen Strategiebericht aus- Dr. Georg Nüßlein, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf drücklich. Jetzt stehen die Umsetzung und der Prozess Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion einer kontinuierlichen Fortentwicklung an. Dazu wollen der CDU/CSU sowie der Abgeordneten wir mit unserem Antrag der Koalitionsfraktionen einen Beitrag leisten. Ich bin sicher, er wird bei den Beteiligten 1) Anlage 6 seine Wirkung nicht verfehlen. 2) Anlage 7 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7353

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gabriele Überweisungsvorschlag: (C) Groneberg, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit tion der SPD Ausschuss für Tourismus Chancen und Herausforderungen der Ost- Haushaltsausschuss erweiterung der Europäischen Union (EU) für ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder die Entwicklungszusammenarbeit der EU Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton Hof- reiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Drucksache 16/3807 – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Statt fester Fehmarnbelt-Querung – Für ein Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Dr. Bärbel Kofler, SPD, ökologisch und finanziell nachhaltiges Ver- Hellmut Königshaus, FDP, Heike Hänsel, Die Linke, Ute kehrskonzept Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.1) – Drucksache 16/3798 – Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Überweisungsvorschlag: Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) sache 16/3807. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegen- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus stimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Haushaltsausschuss Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke sowie Ent- Diese Reden werden ebenfalls zu Protokoll genom- haltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen an- men. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Gero genommen. Storjohann, CDU/CSU, Hans-Joachim Hacker, SPD, Pa- trick Döring, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, Rainder Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.3) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ackermann, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Daniel den Drucksachen 16/3668 und 16/3798 an die in der Ta- Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Dem Beruf des Rettungsassistenten eine sind die Überweisungen so beschlossen. Zukunftsperspektive geben – Das Rettungs- (B) assistentengesetz novellieren Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie Zusatz- (D) punkt 10 auf: – Drucksache 16/3343 – 20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Stokar von Neuforn, Volker Beck (Köln), Jerzy Ausschuss für Bildung, Forschung und Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Technikfolgenabschätzung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Auch diese Reden werden zu Protokoll genommen. Einrichtung einer Polizeireformkommission Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Dr. Rolf Koschorrek, CDU/CSU, Dr. Margrit Spielmann, SPD, – Drucksache 16/3704 – Jens Ackermann, FDP, Frank Spieth, Die Linke, Überweisungsvorschlag: 2) Dr. Harald Terpe, Bündnis 90/Die Grünen. Innenausschuss Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Drucksache 16/3343 an die in der Tagesordnung aufge- Stadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Abgeordneter und der Fraktion der FDP verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Notwendigkeit einer Defizitanalyse des beste- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie Zusatz- henden Sicherheitssystems punkt 9 auf: – Drucksache 16/3809 – 19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz Heilmann, Dorothée Menzner, Heidrun Bluhm, Überweisungsvorschlag: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Innenausschuss KEN Diese Reden werden ebenfalls zu Protokoll genom- men. Es sind die Beiträge der Kollegen Günter Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung – Baumann, CDU/CSU, Wolfgang Gunkel, SPD, Dr. Max Fährkonzept verbessern Stadler, FDP, Petra Pau, Die Linke, und Silke Stokar von – Drucksache 16/3668 – Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.4)

1) Anlage 8 3) Anlage 10 2) Anlage 9 4) Anlage 11 7354 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- (C) Drucksachen 16/3704 und 16/3809 an den Innenaus- destag auf morgen, Freitag, den 15. Dezember 2006, schuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – 9 Uhr, ein. Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Die Sitzung ist geschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. (Schluss: 21.36 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7355

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 häfen im Sinne des Art. 1 § 2 Abs. 2 Nr. 2 gelten sollen, eine zu hohe Lärmeinwirkung zulassen, bevor den be- Liste der entschuldigten Abgeordneten troffenen Anwohnern zumindest das Recht auf passiven Lärmschutz durch bauliche Maßnahmen eingeräumt wird. Effektivere Grenzwerte entsprechend den für neue entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich oder wesentlich baulich erweiterte zivile Flugplätze vor- gesehenen Werten hätten nicht zu einer wirtschaftlichen Überforderung der Flughäfen geführt, sondern hätten be- Bierwirth, Petra SPD 14.12.2006 reits durch einen Preisaufschlag je Flugticket von 1 Euro finanziert werden können. Binder, Karin DIE LINKE 14.12.2006 Die auf Dauer angelegte Ungleichbehandlung von Bülow, Marco SPD 14.12.2006 Bestandsflugplätzen im Sinne des Art. 1 § 2 Abs. 2 Nr. 2 einerseits und von neuen oder wesentlich baulich erwei- Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 14.12.2006 terten zivilen Flugplätzen im Sinne des Art. 1 § 2 Abs. 2 DIE GRÜNEN Nr. 1 andererseits halten wir für nicht nachvollziehbar und sehen darin einen Verstoß gegen das verfassungs- Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 14.12.2006 rechtliche Gleichbehandlungsgebot, Art. 3 GG. Es geht in beiden Konstellationen um dieselbe Abwägung entge- Gabriel, Sigmar SPD 14.12.2006 genstehender Rechtsgüter; gerechtfertigt wäre allenfalls Hilsberg, Stephan SPD 14.12.2006 eine angemessene Übergangsfrist für Bestandsflughäfen, nicht aber eine Regelung, die die Bestandsflughäfen ge- Merten, Ulrike SPD 14.12.2006 gen neue Flughäfen mit einem dauerhaften Wettbe- werbsvorteil und Anlieger von Bestandsflughäfen mit Nitzsche, Henry CDU/CSU 14.12.2006 einer dauerhaft und erheblich höheren Gesundheitsge- fährdung belegt, als sie den Anliegern neuer Flughäfen Dr. Paziorek, Peter CDU/CSU 14.12.2006 zumutbar erscheint. Aus diesen Gründen werden wir dem Fluglärmgesetz Rix, Sönke SPD 14.12.2006 (B) auf der Drucksache 16/508 nicht zustimmen. (D) Teuchner, Jella SPD 14.12.2006

Dr. Scheer, Hermann SPD 14.12.2006 Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 14.12.2006 DIE GRÜNEN des Abgeordneten Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) zur Abstimmung über Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 14.12.2006 den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung Margareta DIE GRÜNEN des Schutzes vor Fluglärm in der Umgebung von Flugplätzen (Tagesordnungspunkt 7 a) Die Novellierung des 35 Jahre alten Fluglärmgesetzes Anlage 2 ist schon lange überfällig. Es liegt jetzt ein Kompromiss Erklärung nach § 31 GO in den Bereichen passiver Lärmschutz, Siedlungssteue- rung und Rechts- und Planungssicherheit vor, der sowohl der Abgeordneten Elisabeth Winkelmeier- für die Anwohner als auch für die Luftverkehrswirtschaft Becker, Ute Granold, Josef Göppel und Verbesserungen bringen soll. Ich begrüße es daher außer- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) ordentlich, dass dieses Gesetz heute in 2./3. Lesung den (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Ent- Deutschen Bundestag passieren wird. Es bedeutet in Sa- wurf eines Gesetzes zur Verbesserung des chen passiver Lärmschutz einen Schritt in die richtige Schutzes vor Fluglärm in der Umgebung von Richtung. Deshalb werde ich dem Gesetz heute zustim- Flugplätzen (Tagesordnung 7 a) men. Das Fluglärmgesetz trifft nach unserer Auffassung Der aktive Lärmschutz bleibt jedoch auch weiterhin keine sachgerechte Abwägung zwischen dem Interesse ungeregelt. Ich halte es daher für unbedingt notwendig, der Flughäfen an gewinnbringendem Betrieb und Pla- folgende weiter gehende Lösungen für die fluglärmge- nungssicherheit einerseits und dem Recht der Anlieger plagten Menschen auf den Weg zu bringen: Reduzierung auf körperliche Unversehrtheit andererseits. des Fluglärms; schärfere Grenzwerte, zum Beispiel Aufgrund der Ergebnisse der neueren Lärmwirkungs- 100/100-Regelung; größere Lärmschutzzonen; Betriebs- forschung ist nach unserer Überzeugung davon auszuge- beschränkungen, insbesondere Regelungen zu Nacht- hen, dass insbesondere die Werte, die für Bestandsflug- flugverfahren; Förderung des Einsatzes lärmarmer Flug- 7356 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) zeuge; neue Anflugverfahren, um die schutz und – nicht zu vergessen – der Energieeinspa- (C) Mindestüberflughöhen den Lärmschutzinteressen der rung. Bevölkerung, insbesondere bei Start und Landung, anzu- passen; Festlegung der Flugrouten unter Berücksichti- Eine klare Aufgabenteilung musste also her: Der gung der Fluglärmbelastung der Bevölkerung. Installateur verkauft, wartet und repariert. Der Schorn- steinfeger prüft und berät. Da sind zwei verschiedene Auch beim passiven Lärmschutz hätte ich mir mehr Tätigkeiten. Das Problem ist, dass die Bürger diese Auf- gewünscht. Leider waren weitere Verbesserungen koali- gabentrennung nicht immer erkennen. Und der feine Un- tionsintern nicht durchsetzbar. Das bedauere ich im Inte- terschied ist: Die Wartungsfirma nimmt die Messung resse aller fluglärmgeplagten Menschen in Deutschland. zwar vor, aber nur zur Kontrolle der durchgeführten Ar- So bleibt diese Fluglärmnovelle ein Entschädigungsge- beiten. Wer misst, darf nicht warten – und wer wartet, setz und kein Fluglärmvermeidungsgesetz. Wir dürfen in darf nicht messen. unseren Bemühungen, die Gesundheit der Menschen ak- tiv vor Fluglärm zu schützen, nicht nachlassen. Der Diejenigen, die das Schornsteinfegermonopol aufhe- Schritt im Bereich des aktiven Lärmschutzes muss daher ben wollen, müssen sich über die Folgen im Klaren sein. dringend folgen. Der Schornsteinfeger hat die Aufgabe, sämtliche Schornsteine oder Feuerstätten zu überprüfen. Ohne Ausnahme. Gerade weil es um Sicherheit und Gesund- heit geht, sollten wir nicht darauf setzen, dass die Bürger Anlage 4 freiwillig eine Schornsteinfeger-Dienstleistung in An- Zu Protokoll gegebene Reden spruch nehmen. Die hohe Kontrolldichte, das Von-Haus- zu-Haus-Prinzip und die damit einhergehende Sicherheit zur Beratung des Antrags: Mehr Wettbewerb sind dann nicht mehr gewährleistet. Im Jahr 2005 kamen im Schornsteinfegerwesen (Tagesordnungs- immer noch 120 Menschen in unserem Land durch einen punkt 13) häuslichen Unfall mit Kohlenmonoxid-Vergiftung ums Leben; Suizide sind hier ausgeklammert. Diese Zahl Lena Strothmann (CDU/CSU): „Oh, heiliger Sankt würde ohne die bewährten gesetzlich vorgeschriebenen Florian, verschon mein Haus, zünde andere an.“ Das ist Kontrollen ganz sicher steigen. Und mal Hand aufs nicht etwa das Motto der Lobbyisten in der Gesundheits- Herz: Ohne gesetzliche Vorgabe würden auch ganz si- debatte. Es ist vielmehr einer der bekanntesten Verse cher nicht alle regelmäßig zum TÜV fahren. über den Schutzheiligen der Feuerwehr und eben auch der Schornsteinfeger. Diese Verbindung zwischen Feuer- Mehr Wettbewerb heißt nicht, dass es kostengünstiger wird. In den deutschsprachigen Kantonen der Schweiz (B) gefahr und Schornsteinfeger ist kein Zufall. Im Jahr (D) 2005 gab es in Deutschland 1,2 Millionen Mängel an be- erfolgte 1996 die Freigabe des Monopols und – die stehenden, über 200 000 Mängel an geänderten und fast Preise stiegen bis zu 20 Prozent. In Deutschland machen 190 000 Mängel an neu errichteten Feuerungsanlagen. die Schornsteinfegergebühren derzeit bei den Miet- Dem stehen 3,5 Millionen Feuerwehreinsätze gegen- nebenkosten nur 0,5 bis 0,8 Prozent aus, hier wären also über. Kostensteigerungen zu erwarten. Das Schornsteinfegerhandwerk hat eine lange Tradi- Aber trotz aller Traditionen und vielleicht auch Be- tion. Auch die rechtlichen Grundlagen reichen weit ins sitzstandswahrung steht fest: Veränderungen sind unaus- 19. Jahrhundert zurück. Aber seit einigen Jahren ist eine weichlich. Die EU-Kommission hat bereits im Jahr 2003 heftige Diskussion im Gange. Die Vorwürfe reichen von das Vertragsverletzungsverfahren gegenüber der Bun- Gängelung des Bürgers über reine Bürokratie bis hin zu desrepublik Deutschland eingeleitet. Am 18. Oktober Doppelzahlungen und reiner Besitzstandswahrung. dieses Jahres hat sie als zweiten Verfahrensschritt die so genannte begründete Stellungnahme übermittelt. Zahl- Schauen wir einmal genauer hin. reiche Punkte des FDP-Antrages sind übrigens diesen beiden Schreiben entnommen. In diesen Tagen muss die Der Bezirksschornsteinfeger hat einen Rechtsstatus, Bundesregierung eine Stellungnahme nach Brüssel ge- der wesentlich durch öffentlich-rechtliche Elemente ge- ben, um eine Klage der EU-Kommission gegen Deutsch- kennzeichnet ist. Anders ausgedrückt: Das Schornstein- land beim EuGH abzuwenden. fegerwesen ist eine besondere Form der Privatisierung, bei der der Staat eine öffentliche Aufgabe einem selbst- Besondere Kritikpunkte der Kommission sind: Be- ständigen Gewerbetreibenden übertragen hat. Dieses schränkung des Zugangs zum Schornsteinfegerberuf; „Contracting-out“ ist doch eigentlich eindeutige FDP- Beschränkung der Ausübung auf nur einen Bezirks- Politik. Dass für diese Übertragung nur eine neutrale schornsteinfeger pro Bezirk; Verbot einer Tätigkeit au- Institution infrage kommt, liegt auf der Hand. Die Neu- ßerhalb des Kehrbezirks; Eintragung in eine „Bewerber- tralität darf nicht durch ein Interesse am Verkauf von liste“; eine mindestens zweijährige Tätigkeit im Betrieb neuen Produkten beeinträchtigt werden. eines Bezirksschornsteinfegers im betreffenden Bundes- land innerhalb der letzten drei Jahre; Pflicht zum Nach- Der hoheitliche Aspekt ist immens wichtig, da er weis der gesundheitlichen Eignung; Pflicht, den Wohn- direkt das Gemeinwohl betrifft, insbesondere in Bezug sitz im Kehrbezirk zu nehmen. auf Feuersicherheit und Emissionsschutz. Anders ge- sagt: Die neutrale Überprüfung, die Reinigungstätigkeit Die Eckpunkte für eine Reform des Schornsteinfeger- und die Beratung dienen der Sicherheit, dem Umwelt- rechts liegen nun vor; alle Fraktionen wurden informiert. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7357

(A) Eines ist klar: Wir müssen im nächsten Jahr eine Novelle Mängel einer Anlage, einschließlich der Befugnis zum Er- (C) vorlegen. Diese Novelle muss die Dienstleistungs- und lass einer Mängelbeseitigungs- oder Stilllegungsverfü- Niederlassungsfreiheit umsetzen. Die Tätigkeiten der gung, sowie die Feststellung der Betriebssicherheit einer Schornsteinfeger werden – so die Eckpunkte – auf einen Feuerungsanlage. Der Bezirksschornsteinfeger trifft bei hoheitlichen Kernbereich – auf eine reine Kontrolle – re- den genannten Tätigkeiten abschließende Entscheidun- duziert. Die restlichen Tätigkeiten werden im Wettbe- gen. werb frei angeboten. Die Residenzpflicht soll genauso wie das Nebenerwerbsverbot entfallen. Alle diejenigen Schornsteinfegerarbeiten, die keine Kontrollaufgaben beinhalten – das sind „Kehrarbeiten“ Ich glaube, dass wir mit diesem Rahmen eine gute und andere vorbereitende/technische Aufgaben –, wer- Lösung haben, die EU-konform ist und die auch dem den aus dem bisherigen Vorbehaltsbereich herausgenom- Verbraucher durch mehr Wettbewerb zugute kommt. Das men. Sie können bei entsprechender handwerksrechtli- Ergebnis findet auch die Unterstützung der Schornstein- cher Qualifikation frei ausgeführt werden. Die nicht fegerverbände. hoheitlichen Aufgaben werden damit für den Wettbe- werb geöffnet. Außerdem wird damit die Dienstleis- Der Berufsstand der Schornsteinfeger muss sich die- tungsfreiheit innerhalb der EU uneingeschränkt gewähr- sem Wettbewerb stellen. Er muss sich seiner eigenen Zu- leistet. kunft stellen. Denn dann stimmt auch weiterhin der Slo- gan: „Zum Glück … gibts den Schornsteinfeger“. Meine Damen und Herren von der FDP – Sie dürften mit diesen Neuregelungen höchst zufrieden sein. Damit Christian Lange (Backnang) (SPD): Den Kollegin- entfällt auch das Gebietsmonopol für die nicht hoheitli- nen und Kollegen von der FDP danke ich für die Gele- chen Tätigkeiten. Ich denke, wir dürfen uns darüber genheit, hier das weitere Vorgehen in Sachen Novellie- freuen, auch wenn selbstverständlich immer auch noch rung des Schornsteinfegergesetzes vorzustellen. Sie mehr Wettbewerb denkbar wäre. Allerdings ist die Si- konnte es ja bereits in der „Welt“ vom 7. Dezember 2006 cherheit der Feuerungsanlagen ein wichtiges und schüt- nachlesen. Die Bundesregierung hat sich auf Eckpunkte zenswertes Gut, das wir nicht so ohne weiteres aus der zur Novellierung geeinigt. Hand geben dürfen. Die Einstufung der Sicherstellung der Betriebssicherheit von Feuerungsanlagen als hoheit- Damit wird sich auch die EU-Kommission einver- liche Aufgabe halte ich für angemessen. standen erklären können, die eine Änderung des Schorn- steinfegergesetzes angemahnt hatte, um den Bestimmun- Kommt der Eigentümer seiner Verpflichtung, die gen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit und nach dem Schornsteinfegergesetz und der Kehrordnung die Dienstleistungsfreiheit zu genügen. Eine Klage vor vorgeschriebenen Schornsteinfegerarbeiten ausführen zu (B) dem EuGH wird damit verhindert. Seit dem 12. Dezem- lassen, nicht nach, werden diese ersatzweise durch den (D) ber 2006 hat die EU-Kommission auch Kenntnis über Bezirksschornsteinfeger ausgeführt. die Eckpunkte zur Novellierung des Schornsteinfegerge- Es gilt weiterhin die Gebührenordnung, da wir im setzes, weitere Verfahrensschritte gegen die Bundesre- freien Preiswettbewerb ein intransparentes System eta- gierung sind damit ausgeräumt. blieren würden, das den Kunden nicht nutzen dürfte. Die Zur Erinnerung: Die EU-Kommission hat mit Schrei- Gebühren werden sowohl für den Bereich der hoheitli- ben vom 2. April 2003 wegen des geltenden Schornstein- chen Aufgaben als auch für die ersatzweise Ausführung fegergesetzes ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die der „freien“ Schornsteinfegerarbeiten festgelegt. So ha- Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. Die vorherige ben wir ein offenes und für jeden nachvollziehbares Bundesregierung hatte bereits Anfang 2005 einen Novel- Preissystem. lierungsvorschlag vorgelegt, der leider aufgrund der Neu- Die Bezirke werden in Zukunft nicht mehr über Be- wahlen nicht mehr zum Zuge gekommen ist. werberliste nach dem Prinzip des längeren Wartens, son- Der Antrag der FDP unterstützt das Ziel der Bundes- dern über ein objektives, transparentes und diskriminie- regierung, mehr Transparenz und Wettbewerb in das rungsfreies Ausschreibungsverfahren vergeben. Auch im Schornsteinfegerwesen zu bringen. Die ersten Vorstel- hoheitlichen Tätigkeitsbereich wird damit mehr Wettbe- lungen der Bundesregierung werden diesen Anforderun- werb sichergestellt. Damit entfällt auch die Pflicht der gen gerecht werden: Der Aufgabenbereich, in dem ein vorherigen Eintragung in die Bewerberliste. Über die Bezirksschornsteinfeger im Bezirk ausschließlich tätig Bestellung entscheidet die zuständige Behörde. Die Kri- sein darf, wird im Vergleich zur derzeitigen Rechtslage terien für die Vergabe werden – für jeden nachvollzieh- ziemlich eingeschränkt. bar – durch das Schornsteinfegergesetz festgelegt. Die Bestellung erfolgt für zehn Jahre. Die Niederlassungs- Zur Erklärung: Der Bezirksschornsteinfeger ist eine und Dienstleistungsfreiheit innerhalb der EU ist für Be- natürliche Person (keine juristische Person, das heißt zum werber aus dem europäischen Ausland gewährleistet, in- Beispiel keine GmbH), die mit der Ausführung der ho- dem diese an der Ausschreibung von Bezirken teilneh- heitlichen Schornsteinfegeraufgaben in einem Bezirk be- men können. Es herrscht damit Chancengleichheit für traut ist. Zu dem Tätigkeitsbereich (hoheitliche Aufga- alle. Alle entsprechenden europäischen Qualifikationen ben), in dem der Bezirksschornsteinfeger ausschließlich und Ausbildungsabschlüsse werden hierbei anerkannt. tätig ist, gehören künftig nur noch die Kontrolle der den Eigentümern obliegenden Pflichten, Überprüfungsarbei- Erleichternd für das zukünftige Ausschreibungsver- ten in Bezug auf die Betriebssicherheit sowie auf etwaige fahren wird außerdem sein, dass das Erfordernis der vor- 7358 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) herigen praktischen Tätigkeit bei einem Bezirksschorn- quenzen für ihren Berufsstand überhaupt bewusst sind. (C) steinfegermeister zukünftig entfällt. Darüber hinaus wird Allein beim Kehren wollen Sie einen Wettbewerbs- die Residenzpflicht, die bisher gilt, aufgehoben. Auch markt. Glauben Sie tatsächlich, Wettbewerb entsteht, diese Neuregelung wird den Wettbewerb stärken. Das wenn Sie rund 60 Prozent der Tätigkeiten im Monopol Nebentätigkeitsverbot wird ebenfalls aufgehoben. Damit belassen? können Bezirksschornsteinfeger auch in anderen Berei- chen tätig werden. Das ist wichtig, um die Beschneidung Glauben Sie tatsächlich, dass Wettbewerb beim Keh- ihres bisherigen Aufgabenbereiches kompensieren zu ren entsteht, wenn der Bezirksschornsteinfeger weiterhin können. Ergänzend soll im Gesetz deswegen festgelegt die ordnungsgemäße Ausführung dieser Tätigkeit auch werden, dass der Bezirksschornsteinfeger die Vorbe- bei seinen Wettbewerbern überwacht? Hoffen Sie, dass haltsaufgaben ordnungsgemäß, gewissenhaft, unabhän- Brüssel Ihnen auf den Leim geht? Oder wollten Sie ein- gig und neutral erfüllen muss. fach nur Zeit gewinnen? Insbesondere für die Arbeitnehmervertreter dürfte es Immerhin wollen Sie an die Bewerberlisten ran. Das wichtig sein, zu hören, dass die Anzahl der Bezirke wei- ist ein kleiner Fortschritt. Durchschlagend ist der aber terhin erhalten bleiben soll. Denn es geht nicht nur um noch nicht. Am Monopol der Kehrbezirke halten Sie im Wettbewerb und Transparenz, sondern auch um den Er- Kern fest, auch wenn diese jetzt für zehn Jahre ausge- halt von bestehenden Arbeitsplätzen. Um dies zu ge- schrieben werden sollen. Es gibt also einen gewissen währleisten, wird die Anzahl der Bezirke zu einem be- Wettbewerb um den Markt. stimmten Stichtag festgeschrieben. Die bisherige Aber nach wie vor gibt es keinen Wettbewerb um die obligatorische Neueinteilung der Bezirke entfällt. Frei Kunden. Aus Verbrauchersicht heißt das: Weiterhin kann werdende Bezirke werden gleich nach In-Kraft-Treten der Dienstleister nicht gewechselt werden. Ob damit ein der Reform ausgeschrieben. Alle Bezirke sollen dann in- Qualitätswettbewerb in Gang kommt, ist äußerst frag- nerhalb von zehn Jahren nach In-Kraft-Treten des neuen lich. Sie wollen die Gebührenordnung beibehalten. Schornsteinfegergesetzes ausgeschrieben worden sein. Gleichzeitig wollen Sie, wie gesagt, die Kehrbezirke öf- Damit ergibt sich eine faktische Übergangsfrist, die es fentlich ausschreiben. Hier stellt sich die Frage: Sollen den Alt-Bezirksschornsteinfegern ermöglichen soll, in der Preis bzw. die Kosten bei der Vergabe keine Rolle den neuen Wettbewerb hineinzuwachsen. spielen? Die bisherigen Regelungen zur Altersversorgung blei- Für die FDP-Fraktion bedeuten Ihre Eckpunkte nur ben bestehen. Es werden lediglich Anpassungen vorge- einen ersten Schritt. In unserem Antrag haben wir darge- nommen, die möglicherweise durch die Reform des legt, dass ein wettbewerbliches Modell durchaus mög- (B) Schornsteinfegerrechts erforderlich werden. lich ist. Und in dem einen oder anderen Bundesland wer- (D) Die Reform soll zum 1. Januar 2008 in Kraft treten. den schon konkrete Wettbewerbsmodelle entwickelt. Dabei könnte der Auto-TÜV durchaus als Vorbild die- Meine Damen und Herren von der FDP: Ich denke, nen. Auch dort haben wir einen Bereich mit so genannter Sie und wir alle werden mit dem noch vorzulegenden Gefahrenneigung, der durch Institutionen überwacht Gesetzentwurf zufrieden sein können! Denn: Sowohl wird, die im Wettbewerb stehen. Wir sind der Überzeu- Arbeitnehmer- als auch Arbeitgebervertreter sind mit gung: Wettbewerb ist auch für die Schornsteinfeger den Vorstellungen der Bundesregierung über eine Novel- selbst eine Riesenchance. Die FDP-Fraktion will diesen lierung des Schornsteinfegergesetzes einverstanden. ehrbaren Beruf zukunftsfest machen, denn die Schorn- Bleibt zu hoffen, dass auch die EU-Kommission unsere steinfeger sind hervorragend qualifiziert und würden von Vorstellungen mit trägt. einer Marktöffnung profitieren. In einem Wettbewerbs- markt würde auch der Vorschlag der Bundesregierung Birgit Homburger (FDP): Kurz vor Ablauf der Frist Sinn machen, das Nebentätigkeitsverbot der Schorn- hat die Bundesregierung in Brüssel ihre Eckpunkte für steinfeger abzuschaffen. Die Schornsteinfeger könnten eine Reform des Schornsteinfegerwesens präsentiert. ihre exzellenten Kenntnisse breiter einsetzen. Man darf gespannt sein, wie diese Positionierung in Die nach Brüssel gemeldeten Eckpunkte der Bundes- Brüssel aufgenommen wird. Denn mehr Wettbewerb regierung reichen für eine wirkliche Marktöffnung nicht entsteht durch das Modell der Bundesregierung nur be- aus. Nach einem eklatanten Fehlstart ist Herr Glos aus dingt. Es ist äußerst fraglich, ob Brüssel den Vorschlag der Sommerpause als ordnungspolitischer Paulus ge- akzeptieren wird. Offenbar hofft die Bundesregierung kommen. Offenbar verwandelt er sich zum Beginn der wegen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auf eine Weihnachtspause zurück zum ordnungspolitischen Sau- milde gestimmte Kommission. Täuschen Sie sich da mal lus. Seinen marktwirtschaftlichen Ankündigungen fol- nicht. Denn überspitzt formuliert: Sie wollen aus Hand- gen in der Realität interventionistische Sündenfälle. werkern Beamte machen. Wenn der Bundeswirtschaftsminister seinen Wandel Sie wollen über die Hälfte der Aufgaben als hoheit- ernst meint, muss er bei der Reform des Schornsteinfe- lich definieren. Sie wollen, dass Schornsteinfeger Ver- gerwesens schleunigst nachbessern. waltungsakte erlassen können. Da kann man etwas ket- zerisch fragen: Muss der Schornsteinfeger zusätzlich in Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Schornsteinfe- Verwaltungspraxis geschult werden? Ich bin mir nicht si- ger, das ist kein Beruf des letzten Jahrhunderts. Auch die cher, ob den Schornsteinfegern die möglichen Konse- neuen Öl- und Gasheizungen müssen verantwortungs- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7359

(A) voll überprüft werden. Es geht um Fragen der Umwelt, Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Energie und Sicherheit. Dinge, die man nicht einfach Die Bezirksmonopole der Schornsteinfeger passen nicht dem Wettbewerb freigeben kann, wie es die FDP in ih- in das europäische Wettbewerbsrecht Die Kommission rem Antrag fordert und wie es auch die EU-Kommission hat das seit 2003 laufende Vertragsverletzungsverfahren will. Wir sind aber nichts anderes gewöhnt. im Oktober verschärft, weil die Koalition nicht in der Lage war, sich auf einen EU-konformen Gesetzentwurf Aus guten Gründen legt das Schornsteinfegergesetz zu verständigen. Die Koalition hatte größte Schwierig- bewusst Kehrbezirke fest, in denen nur ein Bezirks- keiten, sich auf Eckpunkte für eine EU-konforme No- schornsteinfegermeister die Kehr- und Überprüfungsauf- velle zu einigen. Erst heute hat sie es geschafft. gaben vornimmt. Im Kern ist das eine hoheitliche Auf- gabe. Hier soll die Einhaltung staatlich festgelegter Dabei versucht die Bundesregierung, die Anforderun- Grenzwerte objektiv überprüft werden. Mit staatlich gen des europäischen Rechts zu erfüllen, ohne mehr festgelegten Gebühren. Eigeninteressen von privaten In- Wettbewerb als unbedingt notwendig zuzulassen. stallationsfirmen bleiben hier zu Recht außen vor. Die Bundesregierung hält an dem Prinzip der Mono- pole der Bezirksschornsteinfeger fest. Die Monopole Schon der Begriff „Schornsteinfegermonopol“ ist ge- werden zeitlich unbefristet vergeben. Verbraucherinnen nau genommen völlig fehl am Platz. Es geht um unsere und Verbraucher werden weiterhin keine Möglichkeit Sicherheit. Das dürfen wir nicht vergessen. Wir können haben, sich einen Schornsteinfeger auszuwählen und doch unsere Sicherheit nicht dem Wettbewerb opfern! etwa einen aus dem benachbarten Kehrbezirk zu beauf- tragen. Wettbewerb findet nicht statt. Heizungsmonteure Was sind die Erfahrungen der Liberalisierungen in dürfen die notwendigen Überprüfungen und Messungen den anderen Ländern? In der Schweiz sind nach der Frei- nicht übernehmen, auch wenn sie zum Beispiel im Rah- gabe des Schornsteinfegerhandwerks in den Markt die men eines Wartungsvertrages ohnehin regelmäßig die Preise um 20 Prozent gestiegen. Deswegen und im Inte- Heizungsanlage überprüfen. resse der Brandverhütung und des Umweltschutzes wird dort wieder umgedacht und das Kaminfegermonopol als Die Bundesregierung findet auch in diesem Rechtsbe- notwendig erachtet. Ähnlich aus anderen Ländern: 2003 reich nicht die Kraft zu umfassendem Bürokratieabbau. betraute die polnische Regierung das Schornsteinfeger- Bündnis 90/Die Grünen treten für mehr Wettbewerb handwerk wieder mit der Kehr- und Kontrollpflicht. auch bei den Schornsteinfegern ein. Das System der Ge- Nachdem diese 1989 abgeschafft wurde, kam es zu ver- bietsmonopole ist unzeitgemäß. Verbraucherinnen und mehrten Brandschäden, -unfällen und -toten. Verbraucher sollten die Möglichkeit erhalten, zum Bei- (B) Meine Damen und Herren von der FDP, ich empfehle spiel besonders in öko-effizienten Heiztechniken qualifi- (D) Ihnen, sich die Statistiken der EU-Länder über Vergif- zierte Schornsteinfeger zu beauftragen. tungen durch Kohlenmonoxid anzuschauen. Deutsch- Wir halten nichts von Bezirksmonopolen. Der Nach- land weist hier die niedrigste Rate auf. All dies geht auf weis der Durchführung der notwendigen Messungen die Arbeit unserer Bezirksschornsteinfeger zurück. kann gegenüber den Behörden auch auf anderem Wege dokumentiert werden. Zertifizierte Heizungsmonteure Anstatt diese bewährten Regelungen auf andere Län- und Schornsteinfeger können diese Aufgaben erfüllen. der zu übertragen, hat die EU-Kommission ein Vertrags- Die Tätigkeitsbereiche können perspektivisch miteinan- verletzungsverfahren gegen Deutschland eröffnet. Die der verschmolzen werden. Frage ist nun: Wie verhält sich die Bundesregierung? Die große Koalition zeigt einmal mehr, dass es ihr Die Linke ist der Meinung, Schornsteinfeger erledi- nicht um Wettbewerb und Zugangsgerechtigkeit, son- gen im Kern sicherheitsrelevante und hoheitliche Aufga- dern um die Bewahrung des Bestehenden geht. Mono- ben. Diese gehören – bei allen Änderungen, die auch pole werden verteidigt, diejenigen, die davon profitieren, Fachverbände und -innungen anregen – vor dem Wettbe- sollen nicht dem Wettbewerb ausgesetzt, sondern ge- werb geschützt. Wenn dies nicht gewährleistet ist, dann schützt werden. sollte die Bundesregierung vor den Europäischen Ge- richtshof ziehen. Anlage 5 Wir sehen uns hier im Einklang mit der Bevölkerung, in der der Schornsteinfeger ein hohes Ansehen genießt. Zu Protokoll gegebene Reden Nach einer Meinungsumfrage des Forsa-Instituts sind zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum neun von zehn Bundesbürgern mit ihrem Schornsteinfe- Pfändungsschutz der Altersvorsorge und zur ger zufrieden. Ähnlich viele halten die Überprüfungen Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung und Arbeiten des Schornsteinfegerhandwerks für not- (Tagesordnungspunkt 14) wendig und sinnvoll. Auch bei beim Schornsteinfegerhandwerk geht es um Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Schon in meiner die Frage: Wollen wir ein solidarisches Europa oder ein Rede zur ersten Lesung habe ich darauf hingewiesen, Europa des Sozial- und Umweltdumpings? dass in diesem Gesetzentwurf an sich zwei Materien mit- einander vermischt werden, die keinen direkten Bezug Die Regierung muss sich entscheiden. zueinander haben. Daher war es nur folgerichtig, auch 7360 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) zwei Anhörungen zu dem Gesetzentwurf durchzuführen, derartige Einschränkung nämlich nicht. Hier kann auch (C) einmal zum Pfändungsschutz und zum anderen zur In- auf Bank- und Fondssparpläne zurückgegriffen werden. solvenzanfechtung. Die Herausnahme des Begriffs „Rente“ aus dem Ge- So unterschiedlich, wie die Themen sind, verliefen setzentwurf dient daher der Klarstellung, dass der auch die beiden Anhörungen. Während bei der Anhö- Selbstständige nicht in der Wahlfreiheit seiner Altersvor- rung zum Pfändungsschutz die Sachverständigen fast sorge eingeschränkt wird, sofern der abgeschlossene durch die Bank von einer guten und wichtigen Sache Vertrag die Auflage erfüllt, zu einer lebenslangen Aus- sprachen und nur noch im Detail Änderungsvorschläge zahlung zu führen. hatten, sah dies für den Punkt Insolvenzanfechtung deut- Ein weiterer Punkt, der von fast allen Sachverständi- lich anders aus. Hier gibt es daher noch erheblichen Ge- gen vorgeschlagen wurde, war die Einbeziehung der sprächsbedarf. Folgerichtig ist es daher auch, dass wir Hinterbliebenenversorgung in den Pfändungsschutz. heute in zweiten und dritten Lesung wieder trennen, was Diese war im ursprünglichen Regierungsentwurf nicht nicht zusammengehört. vorgesehen. Hier herrscht in der Tat Handlungsbedarf. Lassen Sie mich zunächst zu dem heute inhaltlich zu Insbesondere in kleineren Betrieben ist es oft so, dass verabschiedenden Gesetzentwurf zum Pfändungsschutz zum Beispiel die Ehefrau im Unternehmen des Mannes kommen. Heute ist ein guter Tag für den Mittelstand in mitarbeitet. Eine eigene Altervorsorge für sie wird in der Deutschland. Mit der Verabschiedung des Gesetzent- Regel aber nicht abgeschlossen. Stattdessen wird in die wurfs sichern wir den Selbstständigen in Deutschland Lebensversicherung des Unternehmers ein Passus aufge- eine Versorgung im Alter. Damit ersparen wir es zukünf- nommen, der die Alterabsicherung des Ehepartners si- tig beispielsweise dem Handwerksmeister, der nach cherstellt. Daher war es richtig und wichtig, an dieser 30 Jahren Geschäftstätigkeit und Einzahlung zum Bei- Stelle nachzubessern, um die betroffenen Ehepartner spiel in eine private Rentenversicherung unverschuldet ebenfalls abzusichern. Wer im Familienunternehmen in die Insolvenz gerät, den Gang zum Sozialamt. Bald mitarbeitet, soll auch im Alter mit abgesichert sein. werden seine Beiträge in dem Umfang – aber auch nur in In der gestrigen Rechtsausschusssitzung wurde von dem Umfang – geschützt, wie sie auch für abhängig Be- der Opposition die Einfügung einer Definition des Hin- schäftigte pfändungssicher sind. terbliebenenbegriffs gefordert und inhaltlich verlangt, Wenn wir die Menschen in unserem Land dazu bewe- gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften in diese gen wollen, mehr eigene Vorsorge für das Alter zu be- Definition aufzunehmen. Auch wenn es sich hierbei um treiben, können wir ihnen auf der anderen Seite nicht eine Einzelfrage mit nur sehr geringer praktischer Be- einen Schutz der eingezahlten Gelder gänzlich vorent- deutung handelt, hierzu noch gerne ein paar Worte: Die (B) halten. Menschen, die den Weg in die Selbstständigkeit Einbeziehung des Lebenspartners findet sich im Renten- (D) gehen, nehmen ein hohes Risiko auf sich. Gleichzeitig recht bislang nur bei der gesetzlichen Rente wieder. Mit sind sie es, die neue Arbeitsplätze schaffen. Wollen wir dem Pfändungsschutz für die private Altersvorsorge be- die Menschen in ihrer Risikobereitschaft unterstützen, wegen wir uns als Gesetzgeber hier und heute aber ge- dann sollten wir ihnen für ihre Altersrente nicht jegliche rade nicht im Bereich der gesetzlichen Rentenversiche- Sicherheit nehmen. rung. In der Säule der privaten Rentenversicherung findet sich bei der Riesterrente, die staatlich durch das Die Altersvorsorge in Deutschland steht auf drei Pfei- Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorgeverträ- lern. Neben der gesetzlichen Rente stehen die Betriebs- gen bestimmt ist, ein Hinterbliebenenbegriff ohne Le- rente und die Privatrente. Bei der privaten Rente erleben benspartner. Das gilt ebenso für das Einkommensteuer- wir zurzeit eine kurios anmutende Ungleichbehandlung. gesetz und ist wichtig wiederum für die Rüruprenten. Es Während der sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wäre sicher keine gute Idee für den Gesetzgeber, inner- auch seine selbstständig abgeschlossene private Alters- halb einer Säule mit verschiedenen Hinterbliebenenbe- vorsorge vor den Zugriff der Gläubiger bis zu einem ge- griffen zu operieren. wissen Grad schützen kann, hat der Selbstständige die- ses Recht nicht. Dass gerade einem Selbstständigen der Die unterschiedlichen Säulen der Altersvorsorge kann Schutz seiner Altersvorsorge vorenthalten wird, wollen der Gesetzgeber allerdings durchaus unterschiedlich re- wir als Koalitionsfraktion nicht länger hinnehmen. geln. Nur innerhalb einer Säule muss der Staat auf eine Gleichbehandlung achten, sodass der Hinterbliebenen- Nach der Formulierung des Gesetzentwurfs der Bun- begriff des Zertifizierungsgesetzes aus meiner Sicht desregierung war zu befürchten, dass sich der Pfän- maßgeblich bleibt. dungsschutz auf Kapitallebensversicherungen und pri- vate Rentenversicherungen beschränken würde. Der Ich habe aber durchaus Verständnis dafür, wenn man Gesetzgeber macht aber dem Selbstständigen bei der die Frage der Einbeziehung von Lebenspartnerschaften Wahl seiner Produkte für die Absicherung im Alter zu in den Schutzkreis der Altersvorsorge schon im Gesetz- Recht keine Vorschriften. Wir wollen und dürfen über gebungsverfahren noch deutlicher klären will. Zu die- den Pfändungsschutz der Altersvorsorge nicht be- sem Zweck haben Grüne und FDP Änderungsanträge stimmte Vorsorgeprodukte zulasten anderer privilegie- zum Gesetzentwurf gestellt. Die Grünen haben ferner ei- ren, die die gleiche Sicherheit bieten. Letztendlich gibt nen Änderungsvorschlag als Formulierungshilfe für die es keinen sachlichen Grund, einen engen Rentenbegriff Bundesregierung gemacht. Diese Anträge wurden im zu wählen. Das hat der Gesetzgeber auf einem anderen Rechtsausschuss des Bundestages mit der Mehrheit der Feld bereits erkannt. Bei der Riesterrente kennt man eine Koalitionsfraktionen abgelehnt. Insofern dürfte auf Be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7361

(A) treiben der Opposition hin eine gewisse Klarstellung er- Selbstständigen im Falle einer extensiven Pfändung mit (C) reicht sein, wenn auch nicht in Ihrem Sinne. Steuermitteln aushelfen muss, obwohl dieser eigentlich fürs Alter privat vorgesorgt hatte. Ich teile daher die Ein Erfolg ist bei diesem Gesetz aber nicht nur der Auffassung der Bundesregierung, dass hier ein wirksa- Teil, den wir heute beschließen, sondern auch der Teil, mer Pfändungsschutz notwendig ist, um Sozialbedürftig- den wir herausstreichen werden. Wir haben gut daran ge- keit aufgrund von Zwangsvollstreckungen zu verhin- tan, heute nur Änderungen zum Pfändungsschutz zu ver- dern. abschieden. Der Teil „Insolvenzanfechtung“ bedarf noch eingehender Beratungen. Die Sachverständigen erteilten Zudem wird hierdurch dem Gesichtspunkt der in der Anhörung des Rechtsausschusses den vorgeschla- Gleichbehandlung entsprochen, da die öffentlich-rechtli- genen Änderungen, die de facto Finanzämter und Sozial- chen Rentenleistungen dem Pfändungszugriff so nicht versicherungsträger begünstigen, eine klare Absage. Bei unterliegen. Hinzu kommt, dass hierdurch ein weiterer den anstehenden Gesprächen mit den Kollegen aus dem Anreiz für eine private Altersvorsorge geschaffen wird, Sozial- und Finanzausschuss werden wir darauf Acht ge- und zwar nicht nur für Selbstständige, sondern auch für ben, dass die öffentlichen Gläubiger keine unangemes- die Bezieher gesetzlicher Renten als weitere Säule. Die sene Vorrangstellung gegenüber den anderen Gläubigern politische Forderung nach privater Vorsorge wird dieses erhalten werden. Aber es darf natürlich auch nicht zu ei- Gesetz damit tatkräftig unterstützen. nem Missbrauch von Insolvenzregelungen zulasten der öffentlichen Gläubiger kommen. Damit der neu eingeführte Pfändungsschutz nun nicht dazu ausgenutzt wird, Vermögenswerte rechtsmiss- Hier gibt es im neuen Jahr noch einiges zu tun. Ich bräuchlich dem Gläubigerzugriff zu entziehen, macht freue mich dabei auf einen konstruktiven Dialog mit den der Gesetzentwurf völlig zu Recht deutlich, dass der Berichterstattern der Fraktionen dieses Hauses. Pfändungsschutz selbstverständlich nur auf das Vorsor- gekapital beschränkt wird, das unwiderruflich der Al- Dirk Manzewski (SPD): Wir debattieren hier heute tersvorsorge gewidmet ist. in abschließender Lesung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Pfändungsschutz der Altersvor- Nur folgerichtig ist es deshalb, den Pfändungsschutz sorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzan- auf einen Bedarf zu begrenzen, der für die Existenzsi- fechtung. Das Negative an diesem Gesetzesentwurf war, cherung im Alter notwendig ist. Es geht um Existenzsi- dass er zwei Rechtsbereiche umfasste, die inhaltlich gar cherung und nicht um Vermögensaufbau. nichts miteinander zu tun haben und die – jeder für sich genommen – bereits genug Probleme beinhalteten. Das Richtig ist deshalb auch, dass durch das Gesetz ge- (B) Positive ist, dass sich an diesem Gesetzentwurf gezeigt währleistet wird, dass die Leistung erst mit Eintritt des (D) hat, das unser Parlamentarismus funktioniert. Rentenfalls bzw. nicht vor Vollendung des 60. Lebens- jahrs oder bei Berufsunfähigkeit erbracht wird und nicht Wir haben zu den beiden Rechtsbereichen des Gesetz- den Bestimmungen eines Dritten, außer für den Todes- entwurfs jeweils eine Anhörung durchgeführt und die fall, unterliegen darf. Anders als im ursprünglichen Ge- Resultate hieraus mit in unser Ergebnis einfließen las- setzentwurf vorgesehen, gilt Letzteres jedoch nicht für sen. Soweit es die Anpassung des Rechts der Insolven- die Hinterbliebenen des Schuldners. Auch diese werden zanfechtung betrifft, hat die Anhörung unsere Bedenken zukünftig von der neuen Regelung profitieren können. bestätigt. Hierdurch wäre nicht nur die so genannte Gläubigergleichbehandlung nicht mehr gewährleistet ge- Soweit hier heute Streit über den Begriff „Hinterblie- wesen; die beabsichtigten Regularien hätten auch dazu bene“ entbrannt ist, stelle ich für meine Fraktion klar, geführt, dass es in viel weniger Fällen als bisher über- dass wir diesen Begriff so interpretieren, wie er von der haupt noch zu einer Eröffnung des Insolvenzverfahrens höchstrichterlichen Rechtsprechung in zahlreichen Ent- gekommen wäre. Um es noch deutlicher zu sagen: Viel scheidungen definiert worden ist. Gut finde ich zudem, mehr Firmen als heute hätten eine Insolvenz nicht mehr dass sich der Pfändungsschutz nunmehr nicht nur auf überlebt. Lebens- oder private Rentenversicherungen beschränken soll. Die Altersvorsorge soll geschützt werden, nicht das Die angedachten Vorschriften zur Insolvenzordnung Produkt, und es ist nun einmal nicht von der Hand zu haben wir deshalb zunächst entfallen lassen. Aus den weisen, dass es für die Betroffenen interessantere Vor- gleichen Gründen konnte auch der im Jahressteuergesetz sorgemöglichkeiten gibt. Zu Recht wurde dann auch der angedachte § 251 AO vermieden werden. Gemeinsam tatsächliche Kapitalbedarf der unpfändbaren Beträge mit unseren Finanz- und Sozialpolitikern werden wir je- nochmals überprüft und der heutigen Zeit angepasst. doch gemeinsam nach Lösungen suchen, um Verluste der Sozialkassen durch das Insolvenzrecht zumindest zu Ich möchte mich bei Ihnen und dem BMJ für die kon- minimieren. struktive Zusammenarbeit bedanken und bitte um Zu- stimmung für das Gesetz. Soweit es den Pfändungsschutz der Altersvorsorge betrifft, hat die Anhörung deutlich gemacht, dass es sich insoweit um einen guten Gesetzentwurf handelt, der Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): – nach sich aus der Anhörung ergebenden Korrekturen – Gerne hätten wir dem Gesetz zugestimmt, nachdem es als sehr guter Gesetzentwurf heute hoffentlich verab- gelungen war, ihm die Giftzähne zu ziehen. Diese Gift- schiedet wird. Es ist nicht gerecht, dass der Staat einem zähne betrafen das Insolvenzrecht. 7362 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) In einer für die Bundesregierung vernichtenden An- Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Meine Fraktion (C) hörung kamen die Selbstständigen aus Wissenschaft und wird sich zum vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zum Wirtschaft, aus Justiz und Anwaltschaft unisono zu dem Pfändungsschutz der Altersvorsorge in der Fassung der Ergebnis, dass die geplante Privilegierung des Fiskus aktuellen Formulierungshilfe enthalten. Das hätte sehr und der Sozialkassen abzulehnen sei. Von, so wörtlich, leicht anders kommen können und es sah bis vorgestern der Zerstörung einer 120-jährigen Rechtskultur, vom Morgen auch noch völlig anders aus. Beinahe nämlich Rückfall in das 19. Jahrhundert und von mittelstands- wäre dieses Gesetzgebungsverfahren zu einem lehrrei- feindlicher Gesinnung war die Rede. chen Vorbild für einen echten parlamentarischen Diskurs geraten. Ich danke ausdrücklich den Rechtspolitikern der großen Koalition, dass Sie sich dieser Einsicht nicht verschlos- Wir waren an einem Punkt, wo wir einem Gesetz, das sen haben und dass Sie gegen Ihre eigene Bundesregie- durchaus noch Wünschenswertes offen ließ, dennoch un- rung und gegen Ihre eigenen Sozial- und Finanzpolitiker sere Zustimmung gegeben hätten. Denn ganz entgegen Ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass dieses Vorhaben den üblichen Gepflogenheiten gab es zu diesem Gesetz- nicht weiter verfolgt worden ist. entwurf im Verfahren des Rechtsausschusses echte in- haltliche Beratungen. Es gab echte inhaltliche Auseinan- Beim zweiten Teil des Gesetzentwurfs, beim Pfän- dersetzungen mit den Argumenten der Opposition und dungsschutz der Altersvorsorgen war die Vorlage ein- mit den Einwänden und Vorschlägen der geladenen deutig besser. Hier sind Sie den Empfehlungen der Sach- Sachverständigen. verständigen gefolgt, die Hinterbliebenen in den Für eine ganz kleine Weile gewannen wir den Ein- Pfändungsschutz einzubeziehen. Für eine Gleichstellung druck, dass selbst die Abgeordneten der Koalition nicht der Lebenspartner mit Ehegatten fehlte Ihnen dann aber mehr gewillt waren, die Gesetzgebungsvorschläge der die Kraft. Dass Sie sich damit wieder einmal selbst im Regierung kritiklos zu übernehmen, sondern zum Wohle Wege gestanden haben, ist umso bedauerlicher, weil das der Bürgerinnen und Bürger lieber ihre eigenen frei ge- Gesetz eben durchaus Gutes enthält. Die Richtung wählten Köpfe anstrengten. stimmt. Gläubiger- und Schuldnerinteressen werden zu einem gerechten Ausgleich gebracht, die Kultur der Wie fruchtbar dieser Ansatz sein kann, möchte ich Ih- Selbstständigkeit wird gefördert und Selbstständige wer- nen in der Kürze der Zeit an vier Beispielen illustrieren. den davor bewahrt, am Ende ihres Berufslebens auf steu- Der ursprüngliche Gesetzentwurf sah eine Neufas- erfinanzierte Transferleistungen angewiesen zu sein. Das sung des § 131 Insolvenzordnung vor, in deren Folge liegt auch im Interesse der steuerzahlenden Allgemein- sich der Fiskus unanfechtbar mit seinen Ansprüchen an heit. der Insolvenzmasse eines angeschlagenen Unterneh- (B) (D) Auch die Änderungen, die sich aus der Sachverständi- mens hätte schadlos halten können. Genau diese Selbst- genanhörung ergeben haben, gehen in Ordnung. Die Er- privilegierung der öffentlichen Hand hatte der Deutsche weiterung des Anlagespektrums über Lebensversiche- Bundestag – gemeinsam mit der veralteten Konkursord- rungen und private Rentenversicherungen hinaus wird nung – im Jahre 1993 aus guten Gründen und unter Bei- von der FDP ebenso mitgetragen wie die Erhöhung des fall der Fachwelt abgeschafft. Sachverständige und Op- unpfändbaren Betrages. position hatten deshalb frühzeitig darauf hingewiesen, dass die „Wiederanschaffung“ des Fiskusprivilegs das Leider können wir dem Gesetzentwurf dennoch nicht eigentliche Kernanliegen des Regelinsolvenzverfahrens zustimmen, da Sie sich wider besseres Wissen der Ein- sabotiere. sicht verschließen, dass eine Gleichstellung nach dem Kernanliegen des Regelinsolvenzverfahres ist es, die Gleichbehandlungsgrundsatz zwingend erforderlich ge- angeschlagenen Unternehmen nach aller Möglichkeit wesen wäre. Dies hat auch das Bundesjustizministerium wieder auf die Füße zu bringen, damit deren Beschäf- in seiner Formulierungshilfe vom 27. November 2006 tigte auch weiterhin in Lohn und Brot verbleiben. Davon ausdrücklich so festgestellt. Dort heißt es – ich zitiere profitiert im Übrigen auch die Liquidität der öffentlichen wörtlich –: Als Ergebnis der Anhörung des Rechtsaus- Kassen am dauerhaftesten. Diese Argumente griffen. schusses wird der Lebenspartner aus verfassungsrecht- Der Neufassungsvorschlag des Ministeriums wurde er- lichen Gründen – Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz – dem Ehe- satzlos gestrichen. gatten gleichgestellt. – Davon ist jetzt keine Rede mehr. Stattdessen heißt es jetzt in der Begründung geheimnis- Im Ausschuss wurde weiter eingewendet, dass die im voll: Hinterbliebene sind zumindest der Ehegatte, die Entwurf vorgesehene Höhe des pfändungsgeschützten Kinder und die Pflegekinder des Schuldners. Betrages für die Altersvorsorge auf veralteten Berech- nungen fußte. Auch dieser Einwand stieß auf Gehör. Die Wer so formuliert, formuliert unklar. Sagen Sie es Höchstbeträge wurden heraufgesetzt. Im Ausschuss doch offen heraus: Sie wollen keine Einbeziehung von wurde darüber diskutiert, den Pfändungsschutz auch auf Lebenspartnern. Sie verhalten sich widersprüchlich zu die Hinterbliebenen des Gläubigers ausdrücklich auszu- dem von Ihnen beschlossenen AGG. dehnen. Auch diese Überlegungen sind heute Teil des Entwurfstextes. Zu diesem Punkt hat die FDP noch einen Änderungs- antrag eingebracht. Wenn dieser heute keine Mehrheit Wir erzielten schließlich eine Einigung darüber, dass findet, müssen wir uns bei der Abstimmung über den der Pfändungsschutz zugunsten von Ehepartnern selbst- Gesetzentwurf leider enthalten. verständlich auch auf Lebenspartner Anwendung findet. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7363

(A) Gerade diese Klarstellung war der Linksfraktion eine Beim Pfändungsschutz hatten wir den Geltungsbe- (C) echte Herzensangelegenheit. In der Entwurfsbegründung reich auch für die Hinterbliebenen gefordert, für Kinder, wurde auch ganz richtig festgehalten, dass Art. 3 des Lebenspartner und Ehegatten. Ohne diesen Pfändungs- Grundgesetzes die Gleichstellung von Lebenspartnern schutz droht die Existenzsicherung der Hinterbliebenen zwingend erforderlich macht. Umso ärgerlicher stimmen zu zerbrechen. Diese Kritik hatten wir bei der Anhörung die vorgestrigen – überstürzten – Änderungen am Ent- geäußert. Es war eine gute Erfahrung, dass die Formulie- wurf, nach denen die ausdrückliche Gleichstellung von rung des Justizministeriums in dem Entwurf zugunsten Lebenspartnern nun wieder aus dem Entwurf ver- der Hinterbliebenen geändert wurde, nachdem Kritik schwunden ist. Es findet sich im Übrigen kein Wort von allen Seiten geäußert wurde. mehr von Art. 3 des Grundgesetzes. Danach bekam die Union kalte Füße. CDU und CSU Ganz offenbar ist es der CDU/CSU-Fraktion in letzter erinnern sich an ihre ideologischen Vorbehalte gegen- Sekunde doch noch gelungen, ihren Koalitionspartner über Homosexuellen. Nach tagelangem Hin und Her vom Steuer zu schubsen und das Staatsschiff in Richtung folgte der Rückzieher: Pfändungsschutz für hinterblie- moralische Vergangenheit zurückzusteuern. Liebe Kolle- bene Ehegatten ja, für hinterbliebene Lebenspartner erst ginnen und Kollegen von der CDU/CSU, welche Veran- einmal nein. – Schließlich gibt es doch Gerichte, die sich lassung hatten Sie eigentlich, ein ansonsten gelungenes damit beschäftigen können. Gesetzesvorhaben in letzter Sekunde mit angestaubten, Damit will die Union den Pfändungsschutz von der altkonservativen Dogmen zu belasten? sexuellen Orientierung abhängig machen! Ist die Witwe hetero, schützt der Staat vor dem Zugriff der Gläubiger. An der Verfassung kann es jedenfalls nicht gelegen Ist die Witwe lesbisch, hat sie Pech gehabt und die Gläu- haben. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen bestä- biger dürfen sich bei ihrer Hinterbliebenenrente bedie- tigt, dass die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen nen. Lebensgemeinschaften im Einklang mit dem Schutzauf- trag des Art. 6 des Grundgesetzes steht. Der Verstoß gegen das allgemeine Gleichbehand- lungsgebot in Art. 3 GG ist offensichtlich. Auch mit dem Ich hoffe daher sehr, dass die Gerichte bei der An- neuen Allgemeinen Gleichstellungsgesetz ist es kaum zu wendung dieses Gesetzes – angesichts seines nun unkla- vereinbaren, in der Zivilprozessordnung nach der sexu- ren Wortlautes – trotzdem weiterhin von einer umfassen- ellen Orientierung zu unterscheiden. So sah es im Übri- den Gleichstellung der Lebenspartnerschaften ausgehen. gen auch das Justizministerium. Ich sagte eingangs: Dieses Gesetzesvorhaben hätte Und wie reagiert die SPD? Bereits bei der Diskussion (B) Testcharakter für den parlamentarischen Wettstreit um um die Beihilfe und das Personenstandsrecht und die (D) die besten Ideen haben können. Der Test verlief in wei- Standesamtzuständigkeiten hat sie gezeigt, dass ihr nicht ten Teilen glücklich und scheiterte am Ende doch an ei- mehr viel an den Rechten von Lesben und Schwulen zu nem Spielverderber: der CDU/CSU-Fraktion. liegen scheint. Es gibt also ein bisschen Streit in der Ko- alition, am Ende knickt die SPD ein und verzichtet auf eine Definition der geschützten Hinterbliebenen. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Pfändungsschutz der Altersvorsorge für Damit drücken sich die Koaltionsfraktionen vor ihrer Freiberufler und Selbstständige soll nun ausgeweitet Verantwortung als Gesetzgeber und schieben die Be- werden. Ähnlich wie bei der gesetzlichen Rentenversi- stimmung der geschützten Hinterbliebenen an die Ge- cherung soll die Alters- und Hinterbliebenenrente unter richte ab. Jetzt muss jede und jeder Betroffene seine bestimmten Voraussetzungen vor Vollstreckung ge- Rechte einzeln bei Gericht durchsetzen. schützt werden. Das ist ein vernünftiger Schritt, der Der Streit in der Koalition macht deutlich, dass die längst fällig ist. Union mit ihrem veralteten Familienbild Schwule und Der erste Entwurf der Bundesregierung hatte jedoch Lesben diskriminieren will. erhebliche Mängel: Beispielsweise blieben die Hinter- Daher mein eindringlicher Appell an die Kolleginnen bliebenen vollständig unberücksichtigt. Bestimmte Al- und Kollegen von der SPD: Lassen Sie es nicht zu, dass tersprodukte wie die Lebensversicherung wurden einsei- die Union ihre ideologische Verbohrtheit auf dem Rü- tig bevorzugt. Die Berufsunfähigkeit war von der cken der Hinterbliebenen austrägt! Denn es gibt keinen Altersvorsorge ausgenommen. sachlichen Grund, Schwule und Lesben vom Pfändungs- schutz auszuklammern! Nach einhelliger Kritik von uns und nahezu allen Sachverständigen wurde eine vollständig neu überarbei- tete Fassung vorgelegt. Dies betrifft auch das Insolvenz- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der recht. Wir Grünen hatten die geplanten Regelungen von Bundesministerin der Justiz: Wir wollen, dass Selbst- Anfang an deutlich kritisiert. Unterstützung erhielten wir ständige, die für ihre Altersvorsorge gearbeitet haben, im von nahezu allen Sachverständigen in der Anhörung des Alter nicht von Sozialleistungen abhängig sind – auch Rechtsausschusses. Wir begrüßen es, dass die Große Ko- dann nicht, wenn sie mit ihrem Unternehmen gescheitert alition die Gläubigergleichbehandlung fortsetzen will. sind. Die weiteren Änderungen der Insolvenzordnung Denn sie hat sich seit der großen Insolvenzrechtsreform aus dem Regierungsentwurf sollen nach der Beschluss- bewährt. So weit, so gut. empfehlung des Rechtsausschusses nicht weiter verfolgt 7364 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) werden. Das ist die richtige Entscheidung, weil wir so Anlage 6 (C) ohne Zeitdruck ausloten können, ob wir etwas tun müs- sen und wenn ja, was wir tun müssen, um bestimmten Zu Protokoll gegebene Reden öffentlich-rechtlichen Gläubigern zu helfen, ihre Aus- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des fälle im Insolvenzverfahren zu minimieren. Der Kollege Berichts: Integriertes Küstenzonenmanagement Manzewski ist bereits initiativ geworden und hat mit kontinuierlich fortentwickeln (Tagesordnungs- Fachleuten erste Gespräche geführt. punkt 16) Der Pfändungsschutz der Altersvorsorge wird na- hezu einhellig begrüßt. Dies gilt auch für die Änderun- Dirk Becker (SPD): Mit der nationalen Strategie im gen am Regierungsentwurf: etwa die Anhebung des ge- Rahmen des Integrierten Küstenzonenmanagements, schützten Kapitals von 194 000 auf 238 000 Euro und welche von der Bundesregierung am 22. März 2006 be- die Einbeziehung anderer Versorgungsmöglichkeiten schlossen wurde, folgt die Bundesregierung einer Emp- neben der Lebensversicherung oder der privaten Ren- fehlung des Europäischen Parlamentes und Rates vom 30. Mai 2002. tenversicherung. Für richtig halte ich die Entscheidung, auch Hinterbliebene in den Pfändungsschutz einzube- Vorab darf ich der Bundesregierung, und hier im Be- ziehen. Es wäre unzureichend, wenn man lediglich den sonderen dem federführenden Bundesumweltministerium, Schuldner selbst vor Pfändung schützt, nicht jedoch für die erarbeitete Bestandsanalyse sowie die angestellten seine Hinterbliebenen. Allerdings bedauere ich es, und strategischen Überlegungen herzlich danken. Ich werde ich sage das ganz offen, dass im Gesetzestext kein ganz auf diesen Bereich später noch kurz eingehen, möchte klares Signal für die Einbeziehung der Lebenspartner in aber bereits jetzt zusammenfassend feststellen, dass ich den Schutzbereich zustande gekommen ist. Ich bin in- Ihnen eine umfassende und gute Arbeit vonseiten der sofern jedoch zuversichtlich: Die Rechtsprechung wird SPD-Fraktion attestieren darf. den Hinterbliebenenbegriff zeitgemäß in diesem Sinne Damit zum Integrierten Küstenzonenmanagement, ausfüllen. mit dem wohl zunächst kaum ein Normalbürger etwas Dieses Gesetz ist auch ein wirtschaftspolitisches Si- anfangen kann. Zum besseren Verständnis möchte ich gnal. Wir wollen Menschen Mut machen, den Schritt in daher zunächst die Ziele, die mit dem IKZM verfolgt die Selbstständigkeit zu wagen. Dazu muss man ihnen werden, verdeutlichen, da so das Buchstabenmonster auch die Gewissheit geben, dass im Fall eines wirt- verständlicher wird. schaftlichen Scheiterns nicht ihre gesamte Altersvor- Beim IKZM geht es um die Gesamtbetrachtung der (B) (D) sorge durch Pfändung verloren geht und sie im Alter vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten der Küstenbereiche nicht auf öffentliche Unterstützungsleistungen angewie- und ihre ökologischen Belange. Im Mittelpunkt des sen sind. IKZM steht jedoch der Mensch – und dies gleich dreifach. Darüber hinaus wird das Gesetz einen weiteren An- So geht es um den Schutz menschlicher Lebensgrund- reiz dafür schaffen, die private Altersvorsorge auszu- lagen und Lebensräume jeweils im Einklang mit der bauen. Dies ist nicht nur für Selbstständige von erhebli- Meeresumwelt und um den Schutz des Menschen vor chem Gewicht, sondern hat als dritte Säule der sich selbst als Verursacher von Störungen im Gleichge- Alterssicherung auch für die Bezieher von gesetzlichen wicht der Küsten- und Meeresumwelt. Renten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Der Vor diesem Hintergrund will das IKZM den Küsten- neu eingeführte § 851 d ZPO, der einen Pfändungsschutz bereich als ökologisch intakten und wirtschaftlich pros- bei steuerlich geförderten Altersvorsorgevermögen vor- perierenden Lebensraum für den Menschen erhalten und sieht, wird in der Auszahlungsphase somit die so ge- entwickeln. Ich betone für meine Fraktion ausdrücklich nannte Riesterrente und die Rüruprente absichern. die gewählte Reihenfolge: ökologisch intakt vor wirt- Lassen Sie mich abschließend noch einmal auf die schaftlich prosperierend. Kritik eingehen, der im Gesetzentwurf vorgesehene Hierzu bietet das IKZM einen neuen, integrativen An- Pfändungsschutz sei zu eng, da nicht alle Möglichkeiten satz, der alle gesellschaftlichen Bereiche mit ihren unter- der Alterssicherung erfasst seien. Ich gestehe diese Kri- schiedlichen Interessen sowie den ökologischen Belangen tik gerne zu. Sicher war es wünschenswert, bereits in ei- einbezieht. ner ersten Regelung den großen Wurf zu realisieren und alle denkbaren Altersvorsorgeprodukte zu erfassen, etwa Dementsprechend wurden vonseiten des Umweltmi- auch die Immobilie. Allerdings habe ich Zweifel, ob wir nisteriums die betroffenen kommunalen Gebietskörper- dann bereits heute die abschließende Lesung eines sol- schaften, Bundesländer sowie Verbände, Vereine und Personen im Rahmen der Aufstellung der Bestandsana- chen Vorhabens abschließen könnten. Insofern bin ich lyse und den strategischen Überlegungen beteiligt. dankbar, dass die Mehrheit im Rechtsausschuss der Auf- fassung war, lieber in einem ersten Schritt die wichtigs- Im Ergebnis halten wir heute daher eine nationale ten Formen der Alterssicherung abzudecken, um dann in Strategie in den Händen, die alle relevanten Bereiche, Ruhe auszuloten, wie andere Anlageformen, also etwa die für eine Diskussion über den Erhalt und die Entwick- die Immobilie, abgesichert werden können. lung der Küsten von Bedeutung sind, berücksichtigt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7365

(A) Künftige politische Entscheidungen werden die auf- Herausforderung, Aufgabe und Zukunftschance für (C) gezeigten Herausforderungen und Konfliktbereiche im Deutschland und Europa. Die Entwicklung einer einheit- gegenseitigen Ausgleich zu lösen haben. Ich möchte hier lichen Meerespolitik verlangt eine sektorübergreifende nur drei Bereiche ansprechen: zum einen die unter- Koordination der betroffenen Bereiche. Nur ein integra- schiedlichen Nutzerinteressen, wie beispielsweise die tiver Politikansatz kann die diversen Nutzungs- und wirtschaftlichen Interessen der Schifffahrt, der Fischerei, Schutzinteressen zusammenführen und die Bedeutung der Energie- und Rohstoffgewinnung oder touristische der Meere und Küsten hervorheben. Eine stärkere Ver- Nutzungen, auf der anderen Seite die Interessen des knüpfung der verschiedenen maritimen Sektoren und Küstenschutzes, des Schutzes unseres Kulturerbes oder Akteure dient dabei auch einer Verfahrens- und Pla- ökologischer Belange. nungsbeschleunigung. Als zweiten Punkt möchte ich die gemeinsame Be- Politisch eine Trennung zwischen Meer und Küste drohung aller Nutzergruppen durch die Auswirkungen vorzunehmen entbehrt jeder Grundlage. Im Gegenteil des Klimawandels, wie die Übersäuerung der Meere und müssen wir weiterhin sogar noch die Wasser- und den Anstieg der Meeresspiegel, hervorheben. Grundwasserrahmenrichtlinie anschließen. Eine effek- tive europäische Meerespolitik ist eine strategische Als Drittes ist der Konfliktbereich des Wettbewerbs Querschnittsaufgabe der Europäischen Union, der Mit- der deutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich zu gliedstaaten und der nationalen Regionen. Dabei geht es nennen. insbesondere um die passgenaue Umsetzung und das Zu- Insbesondere vor dem Hintergrund der beiden letzt- sammenspiel der verschiedenen Schutzstandards wie genannten Punkte „Klimawandel“ und „internationaler zum Beispiel der FFH- und Vogelschutz-Richtlinie, der Wettbewerb“ wird deutlich, dass nationale IKZM-Strate- Wasserrahmenrichtlinie oder auch der Fischerei- und gien zwar einen wichtigen Grundbaustein darstellen. Agrarpolitik. Es ist notwendig, die Maßnahmen im Be- Entscheidend gerade für diese internationalen Heraus- reich der Meere und Küsten auf eine gemeinsame forderungen ist jedoch, aus den vielfältigen nationalen Grundlage zu stellen. Grundsteinen die Plattform für einen internationalen Wir können den Forderungen in diesem Antrag fol- Schutz der Küstenbereiche zu schaffen. gen, wenn auf europäischer Ebene von einer Verbindung Die von der Bundesregierung vorgelegte IKZM- oder Verzahnung des integrierten Küstenzonenmanage- Strategie ist ein guter nationaler Beitrag der Bundesrepu- ments und der EU-Meerespolitik zu einer gemeinsamen blik Deutschland und kann auch eine Vorbildfunktion für Meeresschutzstrategie die Rede ist. Dabei könnten die andere Staaten entfalten. Forderungen allerdings noch deutlicher formuliert sein. (B) (D) Wir fordern mit dem gemeinsamen Antrag von CDU/ Die Entwicklung einer Meeresschutzstrategie soll auf CSU- und SPD-Fraktion die Bundesregierung auf, nicht einer umfassenden Bestandsaufnahme der wirtschaftli- nur die nationale Strategie kontinuierlich weiter zu entwi- chen, sozialen und ökologischen Situation beruhen. Des- ckeln, sondern im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft gleichen sind die rechtlichen, politischen und adminis- 2007 die Zusammenführung eines europäischen IKZM- trativen Strukturen in Europa zu berücksichtigen. Die Prozesses voranzutreiben und auf die Vorlage aller natio- Strategie des IKZM könnte als Bestandteil der europäi- nalen IKZM-Berichte zu drängen. schen Meerespolitik ein Baustein dieser Bestandsauf- nahme in den Küstenräumen darstellen. Nur gemeinsam lassen sich die Bedrohungen der Küs- ten, zum Beispiel durch die Folgen des Klimawandels, Die Strategie des Integrierten Küstenzonenmanage- meistern. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung ments setzt auf eine gute Zusammenarbeit der betroffe- zu unserem Antrag. nen Sektoren. Eine solche Vernetzung muss dann auch für die verschiedenen politischen Prozesse und Zuständi- gen selbst gelten. Angelika Brunkhorst (FDP): Mit der EU-Ratsprä- sidentschaft im nächsten Jahr steht die Bundesregierung Die FDP begrüßt die aktuellen Anstrengungen der EU auch als Impulsgeber für die europäische Umweltpolitik und der Bundesregierung zum Schutz der Meere und in der Verantwortung. Wenn auch das Programm der um- Küsten. Deutschland profitiert als Küstenland von einer weltpolitischen Schwerpunkte aus dem Bundesumwelt- gesunden Meeresumwelt. Meere und Küstenregionen ministerium dem Bereich Meere und Küsten keinen ei- besitzen ein beträchtliches Potenzial für wirtschaftliches genen Schwerpunkt widmet, so ist die europäische Wachstum. Meerespolitik doch ein wichtiges Querschnittsthema. Meerespolitik ist Klimapolitik, Energiepolitik, Wachs- tumspolitik, Verkehrspolitik und Naturschutzpolitik. Lutz Heilmann (DIE LINKE): Leider haben auch die Meere und Küste sind dabei nicht voneinander zu tren- Ausschussberatungen meine schon in der ersten Lesung nen, sie beeinflussen sich nicht nur gegenseitig, sondern geäußerten Bedenken bestätigt, dass es diesem Antrag sind direkt voneinander abhängig. an Substanz fehlt. Ich honoriere zwar ihre gute Absicht, das Integrierte Küstenzonenmanagement weiter voran- Die FDP sieht in einer nachhaltigen Nutzung der zutreiben. In diesem Punkt sind wir uns wohl alle einig. Meere und Küsten, dem Schutz der Meeresumwelt und Es handelt sich hierbei um einen guten Ansatz, der ent- der verantwortungsvollen Entwicklung der maritimen sprechend weiter verfolgt, aber vor allem umgesetzt Wirtschaft und des Lebens an der Küste eine besondere werden muss. 7366 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Gerade dies werden Sie mit ihrem Antrag aber nicht mir nicht ausmalen, was Sturmfluten bei einem um einen (C) erreichen; insbesondere, weil Sie die Freiwilligkeit des Meter höheren Meeresspiegel in Hamburg und Bremen Ansatzes so hervorheben. Wenn alles nur auf freiwilliger anrichten werden. Deshalb halte ich die weitere Vertie- Basis laufen soll, ja, wie wollen Sie denn da Erfolge fung von Elbe und Weser für unverantwortlich – und für erreichen? Da müsste der Ansatz ja extrem überzeugend unnötig, wenn wir den Jade-Weser-Port entsprechend sein, dass sich alle Beteiligten darauf einlassen. Das Pro- ausbauen. blem ist aber doch – und da beißt sich die Katze in den Schwanz –, dass die vom BMU angekündigte Informa- Auch Deutschland muss sich endlich den Herausfor- tionsoffensive weiter auf sich warten lässt. Wenn niemand derungen des Klimawandels stellen, der nun einmal IKZM kennt, dann wird das aber doch wohl auch keiner nicht mehr abgewendet, sondern nur noch abgemildert freiwillig machen. werden kann. Wenn ich an die Inseln und besonders an die Halligen denke, sollte die Politik langsam anfangen, den Immerhin will das BMU ja jetzt eine zentrale Anlauf- Menschen zu sagen, wie diese Lebensräume bei einem stelle einrichten. Das aber kann doch nur ein erster Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter geschützt Schritt sein, dem noch viele weitere folgen mögen. Denn werden können. Gerade als Abgeordneter des Landes die nationale IKZM-Strategie ist ja vor allem eine mit den längsten Küsten Deutschlands und außerdem – durchaus gelungene – Bestandsaufnahme. Eine echte persönlich Betroffener, ich wohne selber nur ein paar Strategie aber im Sinne von Lösungsansätzen ist sie Kilometer von der Ostsee entfernt, appelliere ich an Sie, höchstens in Ansätzen. Dass trifft im Übrigen auch auf alles gegen den Klimawandel zu unternehmen und die die IKZM-Strategie des Landes Schleswig-Holstein zu, Menschen an den Küsten nicht allein zu lassen. die das Thema zwar theoretisch gut abhandelt, aber keine praktischen Handlungsvorschläge enthält. Vor Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Hintergrund bringt Ihr Antrag das Integrierte NEN): Erst einmal möchte ich ausdrücklich hervorhe- Küstenzonenmanagement nicht weiter. Sie nennen keine ben, dass die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen die konkreten Schritte, alles bleibt im Vagen. Initiative von CDU/CSU und SPD für ein Integriertes Ich habe schon in der ersten Lesung darauf hingewie- Küstenzonenmanagement unterstützt. Der Ansatz ist sen, dass wir vor allem Lösungen für die vielen Konflikte richtig. Das haben wir auch in unserem rot-grünen An- im Naturschutz finden müssen. Wir müssen endlich damit trag zur Fischereipolitik im Jahr 2005 zum Ausdruck ge- aufhören, die Natur immer und immer wieder wirtschaftli- bracht. chen Interessen zu opfern. Notwendig ist vor allem – und Kern des Integrierten Küstenzonenmanagements ist ich freue mich, dass das auch die SPD so sieht, auch die Integration der wirtschaftlichen und ökologischen wenn es im Antrag leider gerade nicht so formuliert ist –, (B) Entwicklung im Küstenraum. Sie nehmen in Ihrem An- (D) dass die Ökologie insbesondere in Bezug auf den Küs- trag Bezug auf die Lissabonstrategie. Ich möchte aber tenschutz Vorrang vor der wirtschaftlichen Entwicklung davor warnen, die Lissabonstrategie auf ihre wirtschaft- hat. Abgesehen davon, dass Sie die sozialen Aspekte in liche Dimension zu reduzieren. Es geht darum, sämtliche Ihrem Antrag leider völlig ausgeblendet haben, besteht Interessen in Übereinstimmung zu bringen: Naturschutz, hierbei doch kein Widerspruch zwischen Ökonomie und Küsten- und Meeresschutz. So können wir wirtschaftlich Ökologie. Es ist doch wohl unstrittig, dass die Küsten agile und lebenswerte Küstenräume schaffen bzw. erhal- der sensibelste Raum Deutschlands sind, insbesondere ten. Wenn man sich beispielsweise die Tourismusbran- wenn wir den Klimawandel und einen möglichen Meeres- che anschaut, dann wird deutlich, dass das eine das an- spiegelanstieg um einen Meter bis zum Ende dieses Jahr- dere bedingt. Ohne intakte Natur funktioniert der hunderts berücksichtigen. Hier ist nicht einfach die Tourismus an der Küste nicht. Die Touristen werden ein- Natur bedroht, hier sind konkret die Lebensräume vieler fach wegbleiben. Naturschutz ist kein Luxus, sondern Menschen und damit auch die Wirtschaft akut bedroht. ein harter Faktor wie auch die Förderung der wirtschaft- Deshalb halte ich es für unverantwortlich, dass die lichen Entwicklung. Das eine ist ohne das andere nicht Regierenden im Bund und in den Küstenländern weiter zu haben. so tun, als würde alles beim Alten bleiben. Da sich die Beim IKZM geht es vor allem darum, die Interessen- Länder untereinander nicht einig werden, sollen Elbe gruppen an einen Tisch zu bringen, um Probleme in ei- und Weser vertieft werden, damit Hamburg und Bremer- ner frühen Phase zu erkennen und Konflikte zu lösen, haven in der wirtschaftlich ungesunden Hafenkonkurrenz bevor sich die Fronten verhärten. Ansonsten wird man weiter bestehen können. Davon, dass der Jade-Weser- nicht erfassen können, welche Bedeutung das IKZM für Port ursprünglich dafür gedacht war, dass es eben keine die Küstenregionen entfalten kann. weiteren Vertiefungen mehr geben muss, davon redet heute kaum noch jemand. So haben wir dann bald drei Das IKZM soll kein neues Planungsinstrument sein, Tiefwasserhäfen, die sich gegenseitig Konkurrenz machen so Ihr Antrag. Grundsätzlich sehen wir das auch so. Es können; mit mehr als 7 Milliarden Euro Folgekosten, die gibt bereits hinreichend viele Planungsprozesse wie zum für die Hinterlandanbindungen der drei Häfen – natür- Beispiel die Raumordnung. Allerdings wollen wir Bünd- lich vom Bund – ausgegeben werden sollen, und einem nisgrüne schon, dass der Ansatz des IKZM formalisiert extrem steigenden Hochwasserrisiko für Hamburg und in diese Planungsprozesse integriert wird. Es ist etwas Bremen. Denn je tiefer die Flüsse, desto schneller fließt anderes, ob eine Behörde von allen Interessengruppen das Wasser nicht nur ab, sondern desto schneller, leichter Stellungnahmen einholt und diese dann im stillen Käm- und höher vom Meer in die Flüsse hinein. Ich möchte merlein auswertet, oder ob sie verpflichtet ist, alle Inte- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7367

(A) ressengruppen zusammenzubringen, um offen über die Anlage 7 (C) Planungsvorhaben zu reden und gemeinsam Lösungen Zu Protokoll gegebene Reden und Alternativen zu entwickeln. zur Beratung des Antrags: Den kostenfreien Das IKZM muss breit angelegt sein. Es müssen alle Empfang von Rundfunk via Satellit sicherstel- Wirtschaftsbranchen, Planungsaufgaben und Schutzinte- len (Tagesordnungspunkt 17) ressen im Küstenraum einbezogen werden. Wir begrü- ßen daher das nationale Strategiepapier zum IKZM, den das BMU im Auftrag der Bundesregierung vorgelegt Dorothee Bär (CDU/CSU): Ich denke Sie stimmen hat. Der Bericht wird der Anforderung gerecht, ökologi- mir zu, Ihr Antrag hat sich spätestens letzte Woche erle- sche und ökonomische Entwicklung gemeinsam zu be- digt. Letzte Woche gab das Bundeskartellamt bekannt, trachten. dass ProSiebenSat.1 seine Pläne aufgibt, digitales Fern- sehen durch SES ASTRA zu verschlüsseln. Wir begrüßen auch, dass sich die große Koalition in den ersten beiden Teilen ihres Antrages positiv zum Sie schreiben selbst in ihrem Antrag, dass die Ver- IKZM-Prozess äußert. Es reicht jedoch nicht, dass Sie träge zwischen den Programmveranstaltern und den Sa- die Regierung bei der Fortsetzung des IKZM-Prozesses tellitenbetreibern geprüft werden. Das ist nun geschehen, unterstützen wollen. Der Bundestag muss die Regierung das Kartellamt hat eine verbotene Kartellabsprache gese- damit beauftragen, den IKZM-Prozess tatsächlich fort- hen, ProSiebenSat.1 hat seine Pläne aufgegeben. Der zusetzen. Da die EU die Fortsetzung nur empfohlen hat, Wettbewerb um Endgeräte ist damit weiterhin gesichert. aber nicht vorschreibt, sind eine klare Positionierung Die Gefahr einer Markt- und Meinungskonzentration und ein klarer Arbeitsauftrag des Bundestages an die Re- – wie Sie es nennen – ist nicht mehr gegeben, dafür leis- gierung geboten. tet unser Kartellamt zu gute Arbeit. Schon in Ihrer Be- Ohne diesen Handlungsauftrag bleibt Ihr Antrag an gründung für den Punkt vier Ihres Antrages zur Markt- der entscheidenden Stelle wirkungslos. Was machen Sie konzentration lässt sich dabei ablesen, dass Sie auch denn, wenn die Bundesregierung entscheiden sollte, den diesen Antrag lediglich mit Ihrer Ideologie aufgebläht IKZM-Prozess abzubrechen? Ihr Antrag hindert die Re- haben. Ich zitiere: „Die Entscheidung über Vielfalt liegt gierung jedenfalls nicht daran. Enttäuschend ist außer- in der Hand dieser mächtigen Anbieter.“ Noch dramati- dem, dass der Forderungsteil Ihres Antrags nicht hält, scher hätte man es nicht formulieren können, um einem was die anfänglichen Ausführungen versprechen. Sie be- Antrag das Gewicht zu geben, das ihm inhaltlich fehlt. harren auf der Freiwilligkeit des IKZM-Verfahrens. Sie Sie beschwören die Gefahr herauf, dass ein einziger wollen nicht, dass die EU ihre Mitgliedstaaten verpflich- Anbieter den Zugang dominiert. Diese Annahme hat (B) tet, IKZM-Prozesse anzustoßen und durchzuführen. Sie sich mit letzter Woche nicht bestätigt. (D) setzen auf Freiwilligkeit und Entbürokratisierung, wo Verbindlichkeit und Überprüfbarkeit angebracht wären. Interessant finde ich aber die Tatsache, dass Sie offen- Wenn Sie Ihre Ausführungen über die Bedeutung des sichtlich eine Informationsgesellschaft für alle – wie Sie IKZM in den ersten Abschnitten Ihres Antrags ernst es nennen – einzig über das Fernsehen definieren. Sie meinen, dann kann der IKZM-Prozess in den einzelnen schreiben in Ihrem Antrag: Mitgliedstaaten der EU nicht freiwillig organisiert sein. Teile der Bevölkerung, die weniger zahlungskräftig Wir brauchen verpflichtende und überprüfbare Regelun- sind, werden sich die verschlüsselten Vollpro- gen auf EU-Ebene. Alles andere ist unglaubwürdig. gramme finanziell nicht leisten können. Die Folge Jetzt wäre der Zeitpunkt, die Initiative für ein EU- wäre eine Spaltung der Zuschauer in diejenigen mit weites Integriertes Küstenzonenmanagement zu ergrei- einem breiten Zugang zu Informationen und die an- fen. Die Europäische Kommission hat im vergangenen deren mit verringertem Zugang zu Informationen. Juni das Grünbuch zur Meerespolitik vorgelegt. Regie- Sie gehen also davon aus, dass unsere Bürger ihre In- rungen, Nichtregierungsorganisationen, Verbände und formationen einzig aus dem Fernsehen beziehen. Private sind eingeladen, sich in den Konsultationspro- zess einzubringen. Mit einem ambitionierteren Vor- Das ist für mich nicht nur eine dreiste Unterstellung schlag hätten Sie eine Vorreiterrolle für ein IKZM in der unseren Bürgern gegenüber, sondern auch eine Herab- Europäischen Union einnehmen können. So wachs- würdigung der Arbeit aller Medienschaffenden außer- weich, wie der Forderungsteil in Ihrem Antrag formu- halb des Fernsehens. Das Radio wird – was ich sehr be- liert ist, haben Sie diese Gelegenheit verstreichen lassen. dauere – ohnehin von den meisten – Kollegen – viel zu wenig wahrgenommen. Dass Sie aber mit diesem Antrag Zusammenfassend lässt sich sagen: Guter Plan, aber auch die Printmedien und das Internet völlig außen vor am Ende hat Sie der Mut verlassen, ein verbindliches lassen, ist für mich unbegreiflich. und durchsetzbares Integriertes Küstenzonenmanage- ment zu fordern. Über einen Appell geht Ihr Antrag Legen wir diesen Antrag und vor allem die darin ent- nicht hinaus. Weil der Antrag mutlos und unverbindlich haltenen Unterstellungen ad acta. ist, bleiben wir bei unserem Votum und werden uns ent- halten. Ich hätte mir etwas mehr Mut gewünscht, die Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Der Wettbewerb in Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen. Sollten Sie Deutschland funktioniert und mit ihm auch die Wettbe- dazu einen neuen Anlauf machen wollen, haben Sie un- werbsaufsicht durch das Kartellamt. Das haben die Er- sere Fraktion an Ihrer Seite. eignisse der letzten Woche deutlich gezeigt. Deshalb 7368 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) können wir die Bedenken in Ihrem Antrag nicht teilen, zu malen, wie dies in Ihrem Antrag geschieht, ist deshalb (C) dass in der Zukunft riesige Medienkonzerne die Qualität überzogen. des deutschen Fernsehens einschränken und sogar die Meinungsvielfalt in Gefahr ist. Ein Fazit möchte ich aus unserer Sicht dazu ziehen: Jeder Rundfunkveranstalter muss es selbst in der Hand Da sind Sie wieder einmal über das Ziel hinausge- haben, ob er sich verschlüsseln lassen will oder nicht. schossen! Ein Beispiel: Gerade die USA weisen eine Das Kartellamt hat hier jedoch die Aufgabe, Transparenz vorbildliche und erstaunliche Meinungsvielfalt auf, ob- bei den Gebühren und den technischen Zugangsmöglich- wohl dort ganz andere Strukturen des Fernsehens vor- keiten herzustellen. Das funktioniert, wie der Rückzug herrschen und sehr viel verschlüsselt ausgestrahlt wird. von ProSiebenSat.1 gezeigt hat. Deshalb ist Ihr Antrag Wir sollten also nicht immer den Untergang des Abend- überflüssig. Und deshalb lehnen wir ihn ab. landes heraufbeschwören, wenn neue technische – und um nichts anderes handelt es sich zunächst – Instrumente Christoph Pries (SPD): Dem Rundfunk kommt wie die Grundverschlüsselung von Fernsehprogrammen nicht nur als Mittel der Unterhaltung und Bildung, son- eingeführt werden sollen. Die Grundverschlüsselung dern auch im Hinblick auf eine potenzielle Meinungsbe- von Signalen bedeutet nämlich gerade nicht, dass alle einflussung große Relevanz zu. Auf Grundlage der Er- diese Angebote zu Pay-TV werden. In Österreich bei- fahrungen aus dem Dritten Reich, das auch eine spielsweise, das den öffentlich-rechtlichen ORF ver- Kommunikationsdiktatur war, hat der Gesetzgeber bei schlüsselt, ist dies auch nicht passiert! der Konzeption der Mediengesetzgebung daher insbe- Der Rückzug der Sendergruppe ProSiebenSat.1 von sondere dem Rundfunk eine besondere Bedeutung zuge- seiner ursprünglichen Absicht, digitales verschlüsseltes wiesen. Fernsehen einzuführen, zeigt uns vielmehr, wie gut in Das duale System, das sich auf dieser Grundlage in Deutschland Markt und Marktaufsicht funktionieren: Deutschland etabliert hat, ist ein Erfolgsmodell. Umso Das Bundeskartellamt hatte den Verdacht, dass es Kar- wichtiger ist es daher, dieses System unter den sich än- tellabsprachen zwischen den Sendergruppen ProSieben- dernden Bedingungen einer digitalisierten Welt zu be- Sat.1 und RTL gegeben hat und eine Abmahnung des wahren. Die Medienwelt und damit einhergehend auch Geschäftsmodells „Grundverschlüsselung“ angedroht. die zugrunde liegenden Rechtsnormen befinden sich der- Daraufhin hat sich ProSiebenSat.1 am 5. Dezember 2006 zeit in einem tief greifenden Wandel. Dieser Wandel aus diesem Geschäftsmodell zurückgezogen. Das ist ein vollzieht sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. normaler Vorgang in einer gut funktionierenden Markt- wirtschaft und muss vonseiten der Politik gar nicht kom- Das Tempo ist so groß, dass Anträge die sich mit der (B) mentiert werden. Thematik befassen, teilweise bereits bei ihrer ersten Le- (D) sung im Bundestag irrelevant geworden sind. Auch bei Wer sagt denn, dass die Verbraucher überhaupt bereit dem heute zur Debatte stehenden Antrag von Bünd- sein werden, Geld für verschlüsselte Programme zu zah- nis 90/Die Grünen wurde das parlamentarische Proce- len? Vielleicht verspekulieren sich ja die Sender und das dere durch die Entwicklung in der Realität überholt. ganze Modell der gebührenpflichtigen Entschlüsselung Nicht nur, dass viele der Forderungen der Antragsteller digital ausgestrahlter Programme rechnet sich gar nicht. in die Zuständigkeit der Länder fallen, diese Thematik Nach den Erfahrungen der letzten Jahre in Deutsch- somit auch in die Länderparlamente gehört. Auch die land mit Pay-TV kann man zumindest ein bisschen skep- primäre Stoßrichtung der Initiatoren, nämlich die kos- tisch sein, ob deutsche Zuschauer zusätzliches Geld für tenfreie Rundfunknutzung via Satellit sicherzustellen, ist den Empfang von Fernsehprogrammen ausgeben wol- durch die Entscheidung des Bundeskartellamtes vom len. Der deutsche Fernsehmarkt funktioniert nämlich an- 6. Dezember 2006 hinfällig geworden. ders als in den USA oder Großbritannien. Das mag daran liegen, dass der deutsche Fernsehzuschauer ein Stück Wie Sie wissen, hat das Bundeskartellamt die hier zur weit durch das vergleichsweise hohe Niveau der privaten Diskussion stehende Satellitengebühr vergangene Wo- Fernsehanbieter verwöhnt ist. Wer das Privatfernsehen che untersagt. Als Begründung wurde angeführt, dass in anderen Ländern kennt, weiß, wovon hier die Rede eine verbotene Kartellabsprache zu vermuten sei und ist. dass beide Senderfamilien sich über die Verschlüsselung ihrer Satellitenprogramme eine zusätzliche Erlösquelle Bei einem einzigen Punkt müssen wir jedoch aufpas- am Wettbewerb vorbei erschlossen hätten. ProSieben- sen: Es muss für den Zuschauer ein diskriminierungs- Sat.1 hat mittlerweile den Rückzug von den ursprüngli- freier Zugang zu den öffentlich-rechtlichen Programmen chen Plänen verkündet. RTL wird vermutlich bald fol- sichergestellt sein, da diese durch Gebühren finanziert gen; denn das alleinige Festhalten an den Plänen würde werden. Eine zusätzliche Freischaltgebühr wäre hier mit deutlichen Werbeeinbrüchen einhergehen. Auch höchst problematisch. wenn damit die Etablierung einer weiteren Pay-TV- Plattform in Deutschland vorerst gescheitert ist, so Wenn der freie Zugang zu den öffentlich-rechtlichen glaube ich, dass dies nicht der letzte Versuch war, zu- Programmen jedoch gewährleistet ist, dann steht es je- sätzliche Formen des Bezahlfernsehens in Deutschland dem frei, seinen Lieblingsspartenkanal zu abbonieren. zu etablieren. Dass er sich hierfür registrieren lassen muss, ist völlig normal. Das passiert bei jedem Zeitungsabonnement. Fakt ist, dass sich die so genannten Free-to-Air-Pro- Hier gleich wieder den gläsernen Kunden an die Wand gramme im digitalen Zeitalter immer schwerer finanzie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7369

(A) ren lassen, die klassische Spot-Werbung für die Rund- auch anderen Vermarktungsplattformen – und damit (C) funkanbieter mehr oder weniger ausgereizt ist. Die Konkurrenten – den Zugang zu den Haushalten ermög- Sender können und dürfen momentan nicht mehr Wer- licht. Ich bin nicht traurig darüber, dass die Pläne von bung zeigen. Gleichzeitig zersplittert der Rundfunk- ProSiebenSat.1 und vermutlich auch RTL durch das markt und damit der „Werbekuchen“ immer stärker. Veto des Kartellamtes zunächst auf Eis gelegt wurden. Wir müssen daher zur Kenntnis nehmen, dass Rund- Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Sender funkanbieter auf Basis der bisherigen Finanzierung in sich durch eine Systemumstellung langfristige Vorteile Form von Gebühren und Werbeeinnahmen sich nur sichern und neue Geschäftsfelder erschließen wollen. schwerlich neue Märkte werden erschließen können. Wenn aber die Zuschauer die Umstellung von Free-TV Das Anbieten neuer Inhalte gegen Bezahlung ist daher auf Pay-TV, von der sich in erster Linie die Anbieter ei- für die Anbieter – und möglicherweise auch für die Kun- nen Zugewinn versprechen, langfristig finanzieren sol- den – eine interessante Option. Grundsätzlich ist auch len, ohne einen konkreten Mehrwert dadurch zu erhal- nichts dagegen einzuwenden, solange dabei nicht tele- ten, sind Bedenken angebracht. kommunikations- und kartellrechtliche Anforderungen auf der Strecke bleiben. Ich glaube, dass die jetzt gescheiterten Pläne von SES Der zu beobachtende Trend hin zum Bezahlfernsehen Astra, RTL und ProSiebenSat.1 den Grundstock für den charakterisiert die privaten Programme zudem als das, Aufbau einer flächendeckenden Infrastruktur für Pay- was sie sind: nicht nur Medienunternehmen, sondern an TV darstellen. der Börse notierte, global aufgestellte Wirtschaftsunter- Die TV-Unternehmen haben ein großes Interesse da- nehmen. Genau aus diesem Grund brauchen wir aber ran, dass Bezahlfernsehen Normalfernsehen wird und auch weiterhin eine vorrangig über Gebühren finanzierte werden in absehbarer Zeit sicherlich neue Wege be- und somit von kommerziellen Einflüssen weitgehend schreiten, dieses Ziel zu erreichen. unabhängige Sendervielfalt. Nur so ist gewährleistet, dass in einer sich zunehmend kommerzialisierenden Welt zu erkennen bleibt, wer Sprachrohr finanzieller In- Jörg Tauss (SPD): Wir beraten heute in erster Le- teressen ist und wer nicht. Verschlüsselung – so sie denn sung den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ kommt – sollte daher auch nur einen Teil des Rundfunk- Die Grünen „Den kostenfreien Empfang von Rundfunk spektrums abdecken und dieses nicht komplett beherr- via Satellit sicherstellen“. Auch wenn sich die Dringlich- schen. keit eines solchen Antrages zum Glück ein Stück weit erledigt hat, so begrüße ich das Anliegen des Antrages Ich denke, nach der Entscheidung des Kartellamtes im Grundsatz. Dies um so mehr, weil es bei den Vorha- (B) haben die Mitglieder der mehr als 16 Millionen poten- (D) ben hinsichtlich der Einführung einer Digitalpauschale ziell betroffenen Satellitenhaushalte tief aufgeatmet. nicht nur um ein angeblich neues Geschäftsmodell der Hätten diese doch plötzlich festgestellt, dass ihre bisheri- gen Empfangsgeräte nur noch Elektroschrott sind. Sie Infrastrukturanbieter und der privaten Fernsehanbieter wären gezwungen gewesen, sich neue Decoder zu kau- handelt, sondern letztlich um eine grundsätzliche Frage fen, egal ob sie Pay-TV oder Free-TV nutzen. im Verhältnis zwischen öffentlich-rechtlichem und pri- vaten Rundfunk. Sicherlich ist es nicht verwerflich, wenn Rundfunk- sender Bedürfnisse befriedigen wollen, von denen die Die Fernsehsendergruppen ProSiebenSat.1 und RTL Zuschauer noch gar nicht wissen, dass diese Bedürfnisse planten gemeinsam mit dem Satellitenbetreiber SES AS- bei ihnen existieren. Solange der Zuschauer selbst ent- TRA über die digitale Satellitenvertriebsplattform Enta- scheiden kann, wofür er zahlt, und solange er auch einen vio die bisher frei empfangbaren Fernsehprogramme entsprechenden Gegenwert bekommt, spricht nichts ge- beider Senderprogrammen nunmehr digital und ver- gen diese Form von Mehrwertschaffung. schlüsselt anzubieten. Damit sollte eine zukunftsfähige Lösung für das digitale Fernsehen entstehen. Eine solche Abzulehnen ist dies jedoch aus meiner Sicht, wenn zukunftsfähige Lösung sei aber natürlich auch mit die Etablierung eines solchen Systems die Nutzer unter erheblichen Kosten verbunden, wofür die so genannte Zugzwang setzt. Wenn sich der Mehrwert nicht er- Digitalpauschale eingeführt werden müsste. Der TV-Zu- schließt, wenn die Gefahr besteht, dass öffentlich-recht- schauer hätte daher das digitale Angebot nur dann nutzen liche Anbieter diskriminiert werden und wenn – wie in können, wenn er über ein entsprechendes digitales Satel- diesem Fall – die Gefahr von kartellrechtlich relevanten litenempfangsgerät verfügt und eine monatliche Grund- Absprachen besteht. Nicht zu vergessen: Der Verlust an gebühr zur Entschlüsselung – eben die so genannte Digi- Freiheit, da sich zukünftig den Betreibern mein Fernseh- talpauschale – hierfür entrichtet. Im Gespräch waren verhalten im Detail erschließt. hierfür 3,50 Euro. Mit dem technischen Vorgang der Ent- Noch ein anderer Aspekt ist wichtig: Wir müssen auf- schlüsselung ginge die Möglichkeit der spezifischen passen, dass sich beim Fernsehen die digitale Spaltung, Adressierbarkeit des Endkunden einher, dessen Nut- die wir bei der Internetversorgung schon seit langem an- zungsverhalten jederzeit analysiert, registriert und zu prangern, nicht wiederholt. Diese Gefahr ist gegeben, Vermarktungszwecken verwendet werden könnte – aus wenn die Kosten der Systemumstellung zu hoch sind datenschutzrechtlicher wie auch aus verbraucherschutz- und wenn bei der Verschlüsselung von digitalen Ange- rechtlicher Sicht hätten hier noch zahlreiche Fragen be- boten kein offener Gerätestandard gewährleistet ist, der antwortet werden müssen. 7370 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Unklar war zunächst, ob und in welcher Höhe die der Beteiligten hätte bei dem besagten Vorhaben den (C) Programmveranstalter an der monatlichen Zugangsge- Verbrauchern jedenfalls kaum eine Chance gelassen, bühr beteiligt werden. Presseberichten war jedoch zu sich gegen das geplante Vorhaben zu wehren. Schon aus entnehmen, dass die Programmveranstalter an den Ein- diesem Grund muss daher ein Missbrauch im Interesse nahmen teilhaben sollen. aller Zuschauer verhindert werden. Darüber hinaus stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Balance der dua- Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fordert len Rundfunkordnung, wenn die Verschlüsselung der mit ihrem Antrag die Bundesregierung auf, das Entste- privaten Programme auf allen Übertragungswegen und hen des gläsernen Kunden zu verhindern, indem im Falle einer Grundverschlüsselung Regelungen zur Sicherung gegen Gebührt durchgesetzt werden solle. Diese Frage des Datenschutzes getroffen werden, die den Missbrauch wird sich vermutlich in gar nicht langer Zeit erneut stel- verhindern; einen offenen Standard der Entavio-Platt- len, sei es bei der Übertragung über Kabel, Satellit oder form sicherzustellen, der verhindert, dass ein einziger In- auch über das Internet, hier gilt es entsprechende Ant- frastrukturanbieter über den Zugang dominiert; sich ge- worten seitens des Gesetzgebers zu finden. genüber den Bundesländern dahin gehend einzusetzen, dass Regelungen getroffen werden, die den freien Emp- Christoph Waitz (FDP): Ich erinnere mich an eine fang von Vollprogrammen des Rundfunks garantieren, der ersten Werbungen zur Einführung des Kabelfernse- und auch zukünftig die Kommunikationsfreiheit der hens in Deutschland. Mitte der 80er-Jahre saß ein älterer Bürgerinnen und Bürger geschützt und der Zugang zu Herr auf einer Bank und erzählte, was er am Abend zuvor Sendern und Signalen gewährleistet bleiben, und dass im Kabelfernsehen gesehen hatte. Dies war nicht nur der klare Regelungen formuliert werden, die sicherstellen, Startschuss des Kabelfernsehens; durch die Vielzahl der dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkprogramme von empfangbaren Programme war dies auch der Durch- einer Gebühr für die Satellitenübertragung ausgespart bruch für das private Fernsehen. Allen, die damals über bleiben. Zugleich setzt sich die Fraktion des Bündnis- Kabelfernsehen verfügen wollten, war klar: Für diese ses 90/Die Grünen dafür ein, dass der Rundfunkempfang Leistung muss man eine Gebühr zahlen. Und so ist es bis über die dritte Infrastruktur – nämlich über DVB-T – un- heute geblieben. Kabelfernsehen ist nicht kostenlos verschlüsselt bestehen bleibt und dass geprüft werden empfangbar. müsse, ob sich aus dem Zusammengehen von Inhaltean- bietern und Infrastrukturanbietern neue Bewertungsnot- Heute diskutieren wir über die Verschlüsselung von wendigkeiten in Bezug auf die Marktmacht und die Mei- Programmen, die in digitalisierter Form über Satelliten nungsvielfalt ergeben könnten. empfangbar sind. Und wir diskutieren heute über die Das Bundeskartellamt hatte nach Bekanntwerden des Frage, ob man für den Empfang satellitengestützter Pro- (B) (D) Vorhabens ein Verfahren zur Missbrauchskontrolle ein- gramme eine Gebühr fordern darf, sei es für den Ersatz geleitet, um – aufgrund der starken Marktstellung der von Infrastrukturkosten oder als Gegenleistung für die Satellitenbetreiber wie auch der privaten Fernsehsender, Bereitstellung von Programminhalten durch private das heißt der mit der Verschlüsselung verbundenen Vor- Rundfunkanbieter. gabe proprietärer Verschlüsselungstechniken und der Ich weiß, wie emotional diese Diskussion unter ande- daraus folgenden Abhängigkeit der Endgerätehersteller rem in den Medien geführt worden ist. Man konnte gar sowie der Chancennachteile anderer Mitbewerber – zu den Eindruck gewinnen, die beabsichtigten Pläne zur überprüfen, ob und inwieweit die neuen Plattformen den Einführung einer Satellitengebühr brächten das Abend- Tatbestand des Missbrauches einer marktbeherrschenden land an den Rand des Zusammenbruchs. Und es wurde Stellung erfüllen. Am 6. Dezember 2006 hat das Bun- der Eindruck vermittelt, hier versuche jemand, sich zu deskartellamt das Ergebnis dieser Prüfung bekannt gege- Unrecht zu bereichern. Darum will ich an dieser Stelle ben und die geplante Satellitengebühr mit der Begrün- eines klarstellen: Ich kann nicht nachvollziehen, mit dung untersagt, dass eine verbotene Kartellabsprache zur Begünstigung dieses Geschäftsmodells möglich sei. welchem Recht Satellitenbetreiber angeprangert werden, Diese Entscheidung des Bundeskartellamtes ist richtig wenn sie planen, nur das einzuführen, was in der Kabel- und wichtig und wird seitens der SPD-Bundestagsfrak- industrie schon seit Jahrzehnten gang und gäbe ist. tion ausdrücklich begrüßt. Wir Liberale haben schon immer betont: Es ist aus Unabhängig von den Forderungen des Antrages, die unserer Sicht nur natürlich, dass man für Dienstleistun- aufgrund der Entscheidung des Bundeskartellamtes und gen oder Waren ein Entgelt zu zahlen hat. Dies gilt für der von ProSiebenSat.1 angekündigten Aufgabe der Ver- infrastrukturelle Dienstleistungen, zu denen das Kabel- schlüsselungspläne zu einem großen Teil hinfällig ge- fernsehen, aber auch ein Internet- oder Telefonanschluss worden sind, wird in den Beratungen des Ausschusses gehören, und dies gilt auch für Programminhalte, die uns für Kultur und Medien und des Unterausschusses „Neue täglich angeboten werden. Im öffentlich-rechtlichen Medien“ zu prüfen sein, ob – seitens der Länder im Fernsehen zahlen wir alle für diese Leistung durch Ent- Rundfunkstaatsvertrag oder auch seitens des Bundes – richtung der gerätebezogenen GEZ-Gebühr, aus Sicht darüber hinaus gesetzgeberisches Handeln notwendig der Liberalen ein Anachronismus. Auch für privates ist, um auch in Zukunft innerhalb des verfassungsrecht- Fernsehen muss gezahlt werden. Eine Gebühr für privates lich gebotenen Rahmens die Vielfalt und die freie Emp- Fernsehen blieb uns in Deutschland bislang nur deshalb fangbarkeit des Fernsehen bzw. auch Rundfunks – auch erspart, weil das frei empfangbare private Programm in digitaler Form zu sichern. Die starke Marktstellung werbefinanziert ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7371

(A) Aber wenn wir über Werbung reden, dann müssen wir des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Warum also nicht (C) auch beachten, dass der Werbemarkt starken Schwan- auch in Deutschland? kungen unterworfen ist. Damit ist der private Rundfunk zum einen von diesen Werbeschwankungen, die auch In einem sind wir uns, so glaube ich, alle einig: Die Einnahmeverluste bedeuten, abhängig. Zum anderen Verschlüsselung darf nicht zu einer Bottleneck-Situation wächst der Werbemarkt nicht unendlich, sodass das führen. Es muss sichergestellt werden, dass jeder Nutzer Wachstum und damit auch die Angebotsverbesserung an alle Programme und jedes Programm an alle Nutzer bei den privaten Anbietern begrenzt wird, während die gelangen kann. Daher begrüße ich das Bekenntnis von Gebühreneinnahmen der öffentlich-rechtlichen Sender Ferdinand Kayser, dem Präsidenten und Vorstandsvorsit- seit Jahren stabil sind und sogar noch mit Maßgabe der zenden von SES ASTRA, anlässlich des Expertenge- Entscheidungen der Kommission zur Ermittlung des sprächs im Unterausschuss Neue Medien, dass alle Ge- Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, KEF, steigen rätehersteller unter Beachtung von Mindeststandards können. Dies alles muss man wissen, wenn man über Receiver herstellen und anbieten können sollen und dass die Kritik an den Verschlüsselungsplänen redet, die allen Programmanbietern die Plattform von SES dem Antrag der Grünen zugrunde liegt. ASTRA zur Nutzung zur Verfügung stehen soll. Bei aller Verschlüsselung muss natürlich der Schutz Wir Liberalen können nichts Falsches darin sehen, dass der Verbraucherdaten, wie in anderen Bereichen auch, mithilfe der Verschlüsselung versucht werden soll, den gewährleistet sein. Sprechen aus datenschutzrechtlichen Kunden, wie in so vielen anderen Geschäftsbeziehungen Gründen keine Argumente gegen die Verschlüsselung, auch, adressierbar zu machen. So können dem Konsu- so kann man sie den Infrastruktur- und den Programm- menten bei Wunsch andere, das Fernsehen begleitende, anbietern auch nicht verweigern. Solange die Pläne von interaktive Angebote gemacht werden. So lassen sich in SES ASTRA nicht gegen Wettbewerbs- und Kartellrecht einem gesättigten Markt neue Geschäftsmodelle entwi- verstoßen, gibt es keinen Grund, dagegen vorzugehen. ckeln, die den privaten Rundfunk fit für das Zeitalter der Vielmehr muss der Ausbau von DVB-T unser Ziel sein. Digitalisierung machen. So verbessert sich der Service Damit hat der Verbraucher einen Übertragungsweg, der für jeden einzelnen Zuschauer. Vergessen wir nicht: unverschlüsselt bleibt. Wichtig ist, dass das Senderangebot Telekommunikationsanbieter und Internetdienstleister über DVB-T weiter verstärkt wird. sind schon in den Startlöchern und könnten zu ernst- zunehmenden Konkurrenten für öffentlich-rechtliche und private Rundfunkanbieter werden. Wir Liberale ver- Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Auch wenn die Sen- folgen das Thema Vertikale Integration aufmerksam. dergruppe ProSiebenSat.1 soeben ihren Plan fallen ließ, Sollte es hier zu einer Verschiebung der Kräfte kommen, den Satellitenempfang ihrer Programme mit Gebühren (B) werden wir die Situation, so wie die Kartellbehörden zu belegen, bleiben die Forderungen Ihres Antrages den- (D) auch, sehr genau prüfen. Verwehren wir dem Rundfunk noch aktuell. Wir von der LINKEN unterstützen Ihren nicht, sich für diese Herausforderung zu wappnen. Antrag! Es ist für mich nachvollziehbar, wenn man versucht, Im vorliegenden Fall erfolgte der Rückzug ja nicht im die Einnahmeseite zum Teil berechenbarer zu gestalten, Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern indem man den Werbeeinnahmen eine Gebühr zur Seite wegen eines schwebenden Verfahrens des Bundeskartell- stellt. Dieses Modell praktizieren ARD und ZDF seit amtes. Das witterte nämlich verbotene Absprachen mit Jahren. Warum soll der private Rundfunk nicht auch eine RTL. Es müssen aber die Verbraucherinteressen im Vor- Art Gebühr erheben können, die neben der Werbung Ein- dergrund stehen! nahmen generiert? Letzten Endes, da bin ich mir sicher, Der Privatsenderverband verteidigt die Verschlüsse- wird der mündige Verbraucher selbst entscheiden, in lung in der digitalen Welt als eine unverzichtbare Vo- welchem Umfang er für Angebote zahlen möchte. Daher raussetzung zum Schutz vor unberechtigten Zugriffen. sollten wir dem Verbraucher die Entscheidung überlas- Das sehen Verbraucherschützer und die öffentlich-recht- sen und ihn nicht bevormunden. lichen Sender anders. Warum? Auch urheberrechtlich hat die Verschlüsselung Vor- Nun, die Verbraucherzentralen warnen schon länger teile: Der Rechteerwerb von Programminhalten wird vor der Ausweitung von Bezahlfernseh-Konzepten im durch die Verschlüsselung und die damit einhergehende Zusammenhang mit den Verschlüsselungsplänen. Sie Adressierbarkeit künftig einfacher und kostengünstiger. fordern von den Ländern das Verbot der Verschlüsselung Überreichweiten mussten bislang mit einem prozentualen von frei empfangbaren Vollprogrammen im Rundfunk- Aufschlag auf die Lizenzgebühren entlohnt werden. Die staatsvertrag. Außerdem sollen die Landesmedienanstal- Adressierbarkeit macht es jetzt möglich, das Empfangs- ten den Sendern Auflagen zur unverschlüsselten Aus- gebiet genau einzugrenzen. Der Aufschlag entfällt. Die strahlung bestimmter Programme machen. Anderenfalls Eingrenzbarkeit ist auch beim Erwerb von Sportübertra- drohe dem Rundfunk die totale Kommerzialisierung. gungsrechten nicht unwesentlich und könnte in Zukunft Und genau so ist es, denn zur Kasse gebeten würde auf zur Voraussetzung für den Erwerb dieser Rechte werden. jeden Fall der Kunde. Der Austausch von Decodern und Ohne Verschlüsselung keine WM-Spiele für den deut- die ursprünglich geplante Monatspauschale von schen Rundfunk. Ich denke, dass bei dieser Sachlage 3,50 Euro hätten nach Berechnungen der Verbraucher- auch ARD und ZDF in Sachen Verschlüsselung umdenken zentralen fast eine halbe Milliarde Euro pro Jahr zusätz- würden. In Österreich funktioniert die Verschlüsselung lich in die Kassen des Satellitenbetreibers SES ASTRA 7372 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) gespült. Gut für das Unternehmen, schlecht für die Zu- cherstellen wollen, brauchen wir einen freien und ge- (C) schauerinnen und Zuschauer und darum muss dem Ein- rechten Zugang zur Information. Die Verschlüsselung halt geboten werden. des Fernsehprogramms via Satellit, das der Zuschauer nur gegen Bezahlung wieder entschlüsseln kann, geht Einen zweiten Punkt im Antrag der Grünen unterstüt- deshalb in die falsche Richtung. Die Entscheidung eini- zen wir ausdrücklich: Auch die LINKE will die Entste- ger Sender, ihr Programm entgeltlich zu verschlüsseln, hung des „gläsernen Kunden“ verhindern! Wenn Rund- funk und Fernsehen als ausschließlich kommerzielles stellt eine Verknappung von Informationen dar. Das ist Geschäftsmodell gehandhabt werden, wird der Wettbe- gerade bei Vollprogrammen ein fatales Signal. Das duale werb um den genau adressierbaren und kontinuierlich Rundfunksystem in Deutschland hat sich bewährt. Wir zahlenden Endkunden zum beherrschenden Thema wer- müssen alles daran setzen, dieses aufrecht zu erhalten den. und die Tendenz zum Bezahlfernsehen zu stoppen. Der publizistische Auftrag und die gesellschaftliche Der vor kurzem erklärte Verzicht von ProSiebenSat.1, Funktion der Medien bleiben dann auf der Strecke und für den digitalen Empfang via Satellit ein Entgelt zu ver- das darf nicht sein. langen, ist ein gutes Signal. Wenn wir die Zuschauer von den Vorteilen der Digitalisierung überzeugen wollen, Aber damit nicht genug: Auf diese Weise wird die darf diese nicht gleichzeitig mit neuen Gebühren verbun- Wahl des Angebots für den „User“ oder „Kunden“ zur den sein. Die Kosten für Informationsquellen im digita- Preisfrage. len Zeitalter dürfen nicht ins Unendliche steigen. Gerade Die digitale Spaltung der Gesellschaft wird neue Di- in der digitalen Welt müssen wir eine Grundversorgung mensionen annehmen. Dies gilt es zu verhindern. sicherstellen. Der Informationsbezug darf nicht nur Privileg wohlhabender Leute sein. Deshalb muss insbe- Aus all diesen Gründen ist es wichtig, dass die Politik sondere das öffentlich-rechtliche Fernsehprogramm über sich mit den neuen Entwicklungen in der Medienbranche alle Kanäle – ob Kabel, Satellit oder IPTV – frei emp- beschäftigt, Regulierungsnotwendigkeiten identifiziert fangbar sein. Der Blick in andere Länder zeigt uns: Pay- und Instrumente dafür schafft, oder wie es der ZDF-In- TV verbessert das Programmangebot keineswegs, son- tendant Markus Schächter in seiner Eröffnungsrede bei dern macht Qualitätsfernsehen teuer. Selbst für den der Medienwoche Berlin-Brandenburg ausdrückte: Durchschnittsbürger kann es mittelfristig unbezahlbar Die Weiterentwicklung von Vielfalt und Qualität ist werden. In den USA ist Vielfalt nur mit hohen Kosten die bessere Alternative gegenüber kleinkarierten verbunden möglich und wird deshalb nur einer kleinen und zu kurz gedachten betriebswirtschaftlichen Schicht zuteil. Wir wollen keine amerikanischen Zu- (B) Überlegungen der Pay-Euphorie. Prüfen wir kri- stände im deutschen Fernsehen. (D) tisch, wie Fehlentwicklungen verhindert werden können. Entwerfen wir Modelle, die beides möglich Immer wieder tauchen Verschlüsselungspläne auf. machen: die technologische und inhaltliche Weiter- Argumente dafür sind meist die wegbrechenden Werbe- entwicklung der elektronischen Medien und die märkte. Auch der Satellitenbetreiber Astra will im kom- Vielfalt und Qualität unserer Rundfunklandschaft. menden Jahr mit der Verschlüsselung der digitalen Pro- grammübertragung beginnen. Nach dem Rückzug von Recht hat er! ProSiebenSat.1 haben sich RTL und Astra leider keines- wegs ebenfalls von ihren Plänen verabschiedet Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich wage zu behaupten, dass die bestehende Medienland- Die Verschlüsselung bisher frei empfangbarer Fern- schaft in Deutschland trotz so mancher zu kritisierenden sehprogramme wäre ein Wendepunkt im deutschen Fern- Punkte in ihrer Vielfalt noch immer einzigartig ist, und sehen. Die Absichten, Fernsehprogramme gegen Entgelt ich behaupte, dass auch das Fernsehangebot in Deutsch- zu verschlüsseln, sind erste Schritte zum Bezahlfernse- land außergewöhnlich breit ist – auch wenn leider Quan- hen. Sie sind außerdem ein deutliches Anzeichen dafür, tität nicht immer mit Qualität einhergeht. dass sich die Machtstrukturen hierzulande verschieben. Dagegen brauchen wir effektive Regelungen. Früher war Für uns Grüne ist wichtig: Fernsehen ist nicht allein entscheidend, wer die Inhalte produziert. Um die Gefahr als Wirtschaftsgut zu sehen; für uns ist es vor allem ein vorherrschender Meinungsmacht zu verhindern, wurde Kulturgut. Das bedeutet aber auch, dass wir die Rahmen- den Sendern eine Beschränkung anhand eines maximalen bedingungen so setzen müssen, dass nicht nur die Wer- Meinungsanteils auferlegt. Dieser Ansatz ist zunehmend beindustrie und die Wirtschaftsunternehmen von unserer lückenhaft. Die Orte der Medienmacht verlagern sich. Medienlandschaft profitieren. Die Bürgerinnen und Bür- Nicht mehr die Sender sind die zentralen Player. Im Ge- ger müssen im Mittelpunkt stehen. genzug werden die Konzerne viel mächtiger, die Infra- Wir alle wissen: Die Vielfalt der Medien bildet die struktur anbieten und eigene Netze bereithalten, seien es Grundlage der Meinungsbildung – und ist somit eines Kabelnetzbetreiber, die Telecoms oder die Satellitenbe- der wichtigsten Güter einer Demokratie. Bürgerinnen treiber. Sie kaufen Inhalte ein, die sie in ihre Netze oder und Bürger – egal ob arm oder reich – müssen die Mög- über Satelliten einspeisen. Als Infrastrukturanbieter un- lichkeit haben, sich umfassend und aus verschiedenen terliegen sie aber ganz anderen Regulierungskriterien als Quellen zu informieren. Aus diesen Gründen sind wir klassische Medien. Hier dürfen nicht länger verschiedene überzeugt: Wenn wir eine demokratische Teilhabe si- Maßstäbe angesetzt werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7373

(A) Unserer Regierung scheint dieses zukunftsweisende liche wie soziale Anbindung der neuen Nachbarn küm- (C) Thema jedoch egal zu sein. Hier richte ich mich vor al- mern. lem an meine lieben Kollegen und Kolleginnen von der CDU: In einer Ihrer Reden zur Fernsehrichtlinie haben Vorab eine Anmerkung zur Integrationsfähigkeit der Sie gefordert, die medienpolitische Richtschnur so zu EU: Mit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien gestalten, dass „es einen Rundfunk für alle gibt, bei dem braucht die EU eine Verschnaufpause. Die Integration Menschen nicht zum Objekt des Fernsehmachers herab- von zwölf neuen, wirtschaftlich schwachen Ländern, die gewürdigt werden“. Das sind schöne Worte. Setzen sie sich teils von Jahrzehnten sozialistischer Misswirtschaft diese doch mal beim Thema Verschlüsselung in konkrete noch nicht erholt haben, braucht Zeit. Gleichzeitig muss Taten um. Auch scheint es der großen Koalition egal zu sich die EU klar machen, dass sie nur gelingen wird, sein, dass durch diese neuen Verschlüsselungssysteme wenn auf immer neue Kompetenzen und Eingriffe in die der „gläserne Zuschauer“ immer mehr zur Realität wird. nationalstaatliche Souveränität verzichtet und das Subsi- Hier wird erneut deutlich, dass unsere Regierung – ins- diaritätsprinzip endlich ernst genommen wird. besondere die Union – Medienpolitik als Wirtschafts- Die EU hat fortan neue Nachbarn: Russland, Weiß- politik begreift. Es wird nicht auf die Bedürfnisse der russland, die Ukraine, Serbien, Kroatien sowie 2007 Gesellschaft, sondern in erster Linie auf die der Medien- nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens die Türkei, industrie eingegangen. Mazedonien und die Republik Moldau. Bei verschlüsselten Programmen muss sich zukünftig Apropos Nachbarn: Bei der Türkei muss dieser Status registrieren lassen, wer eine Freischaltung will. Mit der so bleiben. Eine Aufnahme der Türkei kommt für mich Verschlüsselung geht also die individuelle Adressierung persönlich, aber auch für viele Kollegen gerade aus der der Empfangsgeräte einher. So können die Satellitenan- CSU nicht infrage. Dabei geht es nicht um die Erfüllung bieter erkennen, welche Zuschauerin, welcher Zuschauer der wirtschaftlichen Voraussetzungen. Dabei geht es wann was im Fernsehen sieht. Das ermöglicht nicht nur auch nicht um die Haltung der Türkei in der Zypern- den gezielten Einsatz von Werbung, sondern führt vor al- frage, wenngleich ich mich schon über die Dreistigkeit lem zu einer unzulässigen Datensammlung. Dagegen wundere, mit der die Türkei hier auftritt. treten wir entschieden ein. Nein, es geht darum, dass die Türkei weder geogra- Vielfalt und eine partizipative Mediengesellschaft bil- fisch noch kulturell zu Europa gehört. Deshalb setzen den sich nicht von allein. Ich möchte die große Koalition wir uns ein für die privilegierte Partnerschaft, bei der das daher dringend auffordern, unsere Bedenken ernst zu freundschaftliche Miteinander flexibel und in Ausrich- nehmen und sich endlich dafür einzusetzen, dass wir tung auf beide Seiten gestaltet werden kann. Das Thema (B) auch in 20 Jahren noch eine vielfältige Medienlandschaft Zypern zeigt doch einmal mehr, dass die Türkei gerade (D) in Deutschland haben. Wer hier allein auf Unternehmer- diese Flexibilität braucht und sich mit einer Vollintegra- freundlichkeit achtet, gefährdet die gewachsene Medien- tion schwer tun würde. landschaft in Deutschland. Ich hoffe auf Einigkeit und Unterstützung unseres Antrags; denn hier müssen wir als Wenn wir jetzt das richtige Maß halten und die EU Medien- und Kulturpolitiker gemeinsam handeln. weder mit Beitritten noch inhaltlich überfordern, gilt: Die Osterweiterung der EU ist die größte Chance für Frieden und Zusammenarbeit in diesem Jahrhundert. Mit ihr wurde die historische Spaltung des europäischen Anlage 8 Kontinents überwunden. Zu Protokoll gegebene Reden Aus der entwicklungspolitischen Perspektive bietet zur Beratung des Antrags: Chancen und die Erweiterung eine Chance, Konfliktprävention nicht Herausforderungen der Osterweiterung der nur in angrenzenden Krisenregionen, sondern weltweit Europäischen Union (EU) für die Entwick- zu verbessern. Wesentliche Fortschritte sind auf diese lungszusammenarbeit der EU (Zusatztagesord- Weise bei der Lösung von Grenzdisputen, Nationalitäten- nungspunkt 8) konflikten und Minderheitenproblemen bereits erreicht worden. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Wir beschäftigen Ich begrüße ausdrücklich eine stärkere Beteiligung der uns heute mit einem zentralen Thema der Entwicklungs- EU am Krisenmanagement als Reaktion auf spezifische zusammenarbeit der Europäischen Union, und zwar mit regionale Bedrohungen. Damit stellt die EU ihre Bereit- der Frage: Wie sieht die Entwicklungszusammenarbeit schaft unter Beweis, einen größeren Teil der Last der nach der EU-Osterweiterung aus? Konfliktbeilegung in den Nachbarstaaten und anderen Regionen zu übernehmen. Im Mai 2004 sind die Länder Polen, die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Ungarn, Slowe- Die Osterweiterung der EU beinhaltet jedoch auch nien, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern der Herausforderungen für die EU-Entwicklungszusammen- EU beigetreten. Die CSU hat sich dabei immer für das arbeit. Am 22. November 2005 wurde die gemeinsame „Regattaprinzip“ statt des „Big Bang“ ausgesprochen, Erklärung „Europäischer Konsens über die Entwick- sich aber nicht durchgesetzt. Jetzt geht es einerseits um lungspolitik“ des Rates verabschiedet. Die europäische die Frage: Wie schaffen wir den Integrationsprozess in- Verfassung hätte die Entwicklungszusammenarbeit der EU tern? Andererseits müssen wir uns um die wirtschaft- geregelt. Sie ist allerdings nicht ratifiziert. Und jeder, der 7374 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) noch immer einer Ratifizierung des bisherigen Konvent- ben innerstaatlich den Integrationsprozess ausgezeichnet (C) entwurfs nachhängt, missachtet die demokratische umgesetzt und haben im Zusammenspiel mit allen Mit- Entscheidung vieler Bürgerinnen und Bürger mehrerer gliedstaaten der EU einen positiven Beitrag zu mehr Staaten. Europa darf aber nicht mit Demokratieverzicht Frieden, Stabilität und Demokratie geleistet. Diese Bi- gleichgesetzt werden. lanz ist erfreulich und zeigt, dass seit 2004 ein erfolgrei- cher Integrationsprozess begonnen hat. Um so entschei- Die neuen EU-Länder haben jedenfalls den Acquis com- dender ist es nun, die Chancen und Herausforderungen munautaire der EU übernommen und treten ferner in die der Erweiterung der EU für die europäische Entwick- zahlreichen Kooperations- und Partnerschaftsabkommen lungszusammenarbeit zu beleuchten und zu befördern. mit den Entwicklungsländern ein. Insbesondere ist hier das Abkommen von Cotonou zu nennen. Des Weiteren Der Europäische Entwicklungskonsens, von Kom- werden die neuen Mitgliedstaaten zu dem Europäischen mission und Europäischem Rat im November 2005 Entwicklungsfonds finanziell beitragen. angenommen, fasst die Ziele einer europäischen Ent- wicklungspolitik nochmals zusammen. Das alles über- EU-Beitritt heißt also nicht nur Strukturbeihilfen zum wölbende Ziel ist die weltweite Armutsminderung. Aufbau des eigenen Landes. EU-Beitritt heißt auch: ent- Dabei stehen die Erreichung der Millenniumsentwick- wicklungspolitische Verantwortung für ärmere Länder und lungsziele und die Förderung nachhaltiger Entwick- Regionen und die Mitgestaltung der globalen Ordnungs- lungsprozesse im Vordergrund. Es gibt viele Wege, auf politik. Konsequenz: Insgesamt wurden 290 Millionen denen diese Ziele angestrebt werden. Euro an öffentlicher Entwicklungszusammenarbeit für das Jahr 2004 von den neuen Mitgliedstaaten bereitgestellt. Zu den Schwerpunkten einer europäischen Entwick- lungspolitik gehören daher: Handel und regionale Inte- Allerdings: Die ODA-Quoten variieren von Land zu gration; Umwelt und nachhaltige Nutzung natürlicher Land zwischen 0,01 Prozent und 0,1 Prozent. Die neuen Ressourcen, Wasser und Energie; Infrastruktur, Trans- Mitgliedsländer werden somit aller Voraussicht nach in port, Kommunikation und Ländliche Entwicklung; absehbarer Zukunft den Monterrey-Konsens, sprich das Landwirtschaft und Nahrungssicherheit; Good Gover- 0,39-Prozent- bzw. 0,33-Prozent-Ziel, nicht erreichen nance, Demokratie und Menschenrechte; Konfliktprä- können. vention und fragile Staaten; Sozialer Zusammenhalt und Beschäftigung. Um diese konkreten Ziele zu erreichen, Der „Europäische Konsens über die Entwicklungs- ist die Steigerung des Volumens der öffentlichen Ent- politik“ legt dazu fest: Die neuen Mitgliedstaaten der EU wicklungsbeiträge sowie der Effizienz der Hilfen eine werden sich bemühen, ihre ODA-Quote bis 2010 im Verpflichtung aller Mitgliedstaaten der EU. So bringt der Rahmen ihrer jeweiligen Haushaltsaufstellungsverfahren EU-Beitritt für die neuen Mitgliedstaaten die entwick- (B) auf den Wert 0,17 Prozent anzuheben, sie werden sich be- (D) lungspolitische Verantwortung für ärmere Regionen und mühen, ihre Quote bis 2015 auf 0,33 Prozent zu erhöhen. Länder mit sich. Sie bringt aber auch neue finanzielle Die großen Anstrengungen der neuen Mitgliedstaaten, Verpflichtungen mit sich und macht auch in diesem Be- ihrer Geberrolle gerecht zu werden, müssen wir anerken- reich eine effiziente Geberkoordination erforderlich. Der nen. europäische Konsens über die Entwicklungspolitik sieht Die zukünftige Entwicklungszusammenarbeit der vor, dass die neuen Mitgliedstaaten sich bemühen wer- neuen Mitgliedstaaten wird sich voraussichtlich weiterhin den, bis 2015 die ODA-Quote auf 0,33 Prozent ihres auf die Nachbarregionen der Staaten konzentrieren. Aus Bruttonationaleinkommens zu heben. thematischer Sicht konzentrierten sich die entwicklungs- Um die neuen Mitgliedstaaten mit ihrer neuen Geber- politischen Bemühungen vor allem auf die Weitergabe rolle und entwicklungspolitischen Verantwortung nicht eigener Transformationserfahrungen sowie die Armuts- allein zu lassen, bedarf es auch eines Einsatzes vonseiten bekämpfung. Das ist richtig und in unserem Interesse. Ich der deutschen Politik. Die Opposition hat sich in diesem sage das gerade im Hinblick auf den Transformations- Zusammenhang lange ausgeschwiegen und keine Initia- prozess. Auch wir in Deutschland haben unterschätzt, tive gezeigt. Um so wichtiger ist der heute vorliegende welch verheerende Wirkungen 40 Jahre Sozialismus nach Antrag, der dazu ein Konzept vorträgt. sich ziehen und wie schwierig es ist, den wirtschaft- lichen, technischen aber auch gesellschaftlich-sozialen Der Erfolg einer fortschreitenden europäischen Inte- Totalschaden, den die Sozialisten hinterlassen haben, zu gration hängt von einer guten innereuropäischen Koope- beseitigen. Die hier schmerzlich und teuer gemachten ration unter den Mitgliedstaaten ab. Nur so wird es uns Erfahrungen muss man weitergeben und in der Zusam- für die Zukunft gelingen, eine Verfassung für Europa zu menarbeit mit den neuen Nachbarn gezielt nutzen. Unser erreichen, mit der die EU ein Fundament bekommt, auf Interesse ist es darum, die Integration der EU-Beitritts- welchem zukünftig auch eine gemeinsame Sicherheits- länder in die Entwicklungszusammenarbeit der EU zu und Außenpolitik und eine gemeinsame Entwicklungs- fördern. Die Ansatzpunkte dazu sind vielfältig und im politik glaubhaft und stark umgesetzt wird. Denn gerade hier zu debattierenden Antrag genannt. den neuen Mitgliedstaaten kommt eine besondere Ver- antwortung zu, regionale Stabilität in Osteuropa zu be- fördern und zwischenstaatliche Unsicherheiten abzu- Dr. Bärbel Kofler (SPD): Die Europäische Kommis- bauen. sion hat im November 2006 in ihrer Mitteilung an das Europäische Parlament eine positive Bilanz der EU-Er- Auch der Erfolg einer gemeinsamen EU-Entwick- weiterung gezogen. Die zehn neuen Mitgliedstaaten ha- lungspolitik ist nur zu erreichen, wenn alle Mitgliedstaa- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7375

(A) ten gemeinsam an einem Strang ziehen. Wir deutschen Antrag gefordert wurde. Das mag Ihnen hier genügen, (C) Entwicklungspolitiker haben uns die weltweite Armuts- dürftig bleibt es trotzdem. bekämpfung auf die Fahnen geschrieben. Dazu gehört aber auch eine Beförderung der europäischen Entwick- Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft lungspolitik, indem wir im Verbund mit den neuen Mit- müssen Sie aber ehrgeiziger sein. Die Bundesrepublik gliedstaaten dieses Ziel angehen. Deutschland hat traditionell, jedenfalls solange Liberale den Kurs in der Bundesregierung mitbestimmt haben, Konkret heißt das für uns, dass wir den neuen Mit- immer zwischen Groß und Klein und Nord und Süd aus- gliedern beim Aufbau und Ausbau von entwicklungs- gleichend gewirkt. Dieser Rolle sollte die Bundesregie- politischen Institutionen durch Beratung und Fortbil- rung auch jetzt gerecht werden und mit konstruktiven dung zur Seite stehen. Bei dieser Unterstützung dürfen Vorschlägen zur überfälligen Reform der europäischen wir aber nicht nur in eine Richtung denken. Vielmehr Entwicklungszusammenarbeit aufwarten. Der vorliegende müssen wir uns auch fragen, was wir von den neuen Mit- Antrag ist jedoch nur ein dürftiges Lippenbekenntnis. gliedstaaten lernen können. Als Nationen, die in den ver- Konkrete Maßnahmen, die im Rahmen der EU-Ratsprä- gangenen zehn Jahren immense Transformationen sidentschaft eingeleitet werden könnten, fehlen völlig. durchlaufen haben, sind die neuen EU-Mitglieder gerade vor dem Hintergrund ihrer Transformationserfahrung für Dabei fällt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in eine die europäische Entwicklungspolitik von großem Wert. Zeit, in der die begonnenen Reformen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit dringend fortgesetzt und Unser Antrag ebnet den Weg für eine effizientere eu- weiterentwickelt werden müssen. Deutschland als einer ropäische Entwicklungspolitik zur Bekämpfung der der größten Geber – und ab 2008 sogar absolut größter weltweiten Armut und macht zugleich eine entwick- Geber – zum 10. Europäischen Entwicklungsfonds steht lungspolitisch sinnvolle Begleitung der eingeleiteten Re- da in einer besonderen Verantwortung, aber es muss auch formprozesse der EU möglich. Diesem Antrag nicht zu- das größte Interesse haben, dass mit dem Geld seiner zustimmen, heißt, sich diesen Aufgaben nicht zu stellen. Steuerzahler verantwortungsvoll umgegangen wird. Da Sie ja offenbar erst vor wenigen Tagen Zeit fanden, Hellmut Königshaus (FDP): Trotz der großen Eile, sich mit dem Thema zu befassen, wollen wir Ihnen nach- mit der dieser Antrag hier durch das Plenum gejagt und sehen, dass Ihnen wohl auch die Zeit nicht reichte, sich beschlossen werden soll, habe ich mich zunächst über die geografische Lage der neuen Mitgliedstaaten anzu- den Antrag gefreut. Er entspricht nämlich – fast schon sehen. Entgegen Ihrer Vermutung sind die Türkei und wortgleich – im ersten Teil unserem eigenen Antrag auf Mazedonien keine neuen Nachbarn der EU. Zu beiden Drucksache 16/2833. Wir fordern dort, dass die Trans- (B) haben wir bereits durch Griechenland eine gemeinsame (D) formationserfahrungen der neuen Beitrittskandidaten in EU-Außengrenze. Vielleicht studieren Sie da nochmals die entwicklungspolitischen Erfahrungen der EU einbe- die Europakarte. zogen werden müssen. Schön, dass Sie diese Anregung gleich aufgenommen und umgesetzt haben. Da Sie so offenkundig aus dem Mustopf steigen, wollen wir Ihnen gerne behilflich sein und noch einmal auf- Nur: Leider haben Sie es bei dieser Feststellung be- zeigen, welche Reformen jetzt anstehen, genauer: noch wenden lassen. Danach kommt nur heiße Luft. Konkrete ausstehen. Das erste Ziel einer Reform muss eine klare Überlegungen zur Integration der neuen Mitgliedstaaten Aufgabenverteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten in den Bereich der europäischen Entwicklungszusam- und der Europäischen Union sein. Wenn nämlich selbst menarbeit bleiben aus. Weder gehen Sie darauf ein, wie die alten Mitgliedstaaten nicht mehr überblicken, wofür die Interessen und Erfahrungen der neuen Mitgliedstaaten die EU in der Entwicklungszusammenarbeit zuständig ist integriert werden können, noch haben Sie ein Konzept, und wo die Mitgliedstaaten selbst, wie sollen dann die wie die europäische Entwicklungszusammenarbeit mit so neuen EU-Mitgliedstaaten Durchblick haben? Die EU- vielen neuen Partnern, alles ehemalige Nehmerländer, Kommission muss sich endlich wieder auf ihre Kernauf- gestaltet werden soll. Obwohl die Erweiterung in dieser gaben konzentrieren. Die seit Jahren zu beobachtende Hinsicht viele Chancen, aber eben auch Risiken mit sich kontinuierliche Ausdehnung der EU-Aktivitäten der bringt, beschränken sich Ihre Ausführungen auf Feststel- Kommission auf diesem Feld muss beendet werden. lungen und einen Lobgesang auf das BMZ. Warum Denn die Beschlusslage im Rat ist unverändert. Die Mit- eigentlich? Es ist ja schlimm genug, dass die Kolleginnen gliedstaaten haben sich mit Blick auf den Subsidiaritäts- und Kollegen der Koalition bei uns Liberalen Anleihen grundsatz ausdrücklich gegen eine Ausweitung der ge- aufnehmen müssen, nur um überhaupt noch vor dem meinschaftlichen Entwicklungspolitik entschieden, und Beitrittstag einen eigenen Antrag hinzubekommen. Viel dabei sollte es auch bleiben. schlimmer ist es, dass es das BMZ für die Bundesregie- rung nicht geschafft hat, hierzu ein schlüssiges Konzept „Europäische“ Entwicklungszusammenarbeit macht nur zu entwickeln. Sinn, wenn die EU nicht als weiterer Geber, der im Wett- bewerb zu den einzelnen Mitgliedstaaten steht, auftritt. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Sie Im Mittelpunkt der Arbeit der EU-Kommission muss die mit Ihrer Mehrheitsmacht durchgesetzt haben, den An- Geberkoordination stehen. Sie soll koordinieren, wenn trag so schnell ohne jede Beratung in den Ausschüssen mehrere Mitgliedstaaten gemeinsam ein Projekt durch- zu beschließen: Weil nämlich nichts Wesentliches darin- führen wollen. Die Entwicklungspolitik der Europäi- steht, was nicht schon vor Wochen von uns in unserem schen Union muss sich auf solche Länder und Themen 7376 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) beschränken, die von den nationalen entwicklungspoliti- besondere Erwartungen mit der deutschen Ratspräsi- (C) schen Aktivitäten nicht abgedeckt werden. dentschaft. Sie erwarten nicht nur eine Lösung der Ver- fassungskrise, sondern auch mutige politische Impulse Es ist richtig, dass der Beitritt neuer Mitgliedstaaten in vielen anderen politischen Bereichen. eine besondere Herausforderung an den entwicklungspo- litischen Acquis darstellt, sei es in finanzieller Hinsicht, Mit diesem Antrag werden alle ohnehin äußerst sei es in Bezug auf die inhaltliche Ausgestaltung der bescheidenen Erwartungen an ein konstruktives Heran- europäischen Entwicklungszusammenarbeit. Die neuen gehen der deutschen Ratspräsidentschaft allerdings bitter Mitglieder haben sich durch ihren Beitritt verpflichtet, enttäuscht. Wir hätten, trotz aller negativen Erfahrungen die Entwicklungspolitik der Union mit zu tragen. 1980 mit Ihnen im ersten Jahr dieser angeblich großen Koali- verwendeten beispielsweise die osteuropäischen Länder tion, mehr erwartet. Hoffentlich hat die Bundesregierung lediglich 0,06 Prozent des BNE für Entwicklungszusam- selbst dort mehr auf der Pfanne! Unser schon lange vor- menarbeit. Die finanzielle Eingliederung dieser Staaten liegender Antrag mag ihr den Weg weisen. in die europäische Entwicklungspolitik mit dem Ziel der 0,7-Prozent-ODA-Quote kann daher nur schrittweise Heike Hänsel (DIE LINKE): Die Bundesregierung erfolgen. Wir müssen da rücksichtsvoll mit unseren sieht die Schwerpunkte der Entwicklungszusammenar- neuen Partnern umgehen. beit im Rahmen der Osterweiterung in den Bereichen Aber wir müssen auch anerkennen, dass die Beitritts- Konfliktmanagement in Krisenregionen, im Monterrey- länder andere Schwerpunkte in der Entwicklungszusam- Konsens, in der Paris-Agenda und in den Wirtschafts- menarbeit setzen. Eine wichtige Rolle spielt beispielsweise partnerschaftsabkommen mit den AKP-Staaten. So um- die Weitergabe von Transformationserfahrungen. Eine fair fangreich die Agenda, so banal ist letztendlich die angelegte Integration der neuen Beitrittskandidaten be- Schlussfolgerung in Ihrem Antrag, nämlich: Weiter so! rücksichtigt diese entwicklungspolitischen Erfahrungen. Die Linke fordert dagegen einen grundlegenden Politik- wechsel in der jetzigen Außen- und Wirtschaftspolitik Dazu zählt auch, dass diese neuen Mitglieder keine der Europäischen Union, um Entwicklung für die Länder Sonderbeziehungen zu den ehemaligen Kolonien unter- des Südens nicht länger zu blockieren. Wir fordern zu- halten. Es wird kaum gelingen, ihnen begreiflich zu ma- dem eine parlamentarische Kontrolle des Europäischen chen, warum wir manchmal gar nicht so arme AKP-Staa- Entwicklungsfonds und lehnen es strikt ab, aus diesem ten besser behandeln als die häufig sehr viel ärmeren Fonds Militäreinsätze in Afrika zu finanzieren, wie es Nicht-AKP-Staaten. Schließlich ist diese unterschiedliche die Afrika-Fazilität vorsieht. Behandlung heute in der Tat nicht mehr zu rechtfertigen. Entweder sind diese Staaten und Gebiete bedürftig, dann In dem Antrag der Bundesregierung kritisieren wir (B) sollten sie nach den allgemeinen Kriterien im Rahmen der konkret folgende Punkte: Erstens. Dem positiven Bezug (D) Entwicklungszusammenarbeit gefördert werden. Sind sie im Antrag auf das europäische Krisenmanagement in be- es nicht – oder nicht mehr –, dann sollten auch keine Steu- nachbarten und anderen Konfliktregionen können wir ermittel zur Verfügung gestellt werden. uns nicht anschließen, gerade dann nicht, wenn wir das EU-Krisenmanagement in Osteuropa betrachten. Die Aufgabe der Bundesregierung muss es sein, während Rolle der EU in der jugoslawischen Krise haben wir oft der deutschen EU-Ratspräsidentschaft einen Fahrplan kritisiert. Diese an den eigenen Interessen orientierte für die Umsetzung dieser Ziele aufzustellen. In einem Politik setzt sich fort mit der anhaltenden militärischen ersten Schritt muss die längst überfällige Integration des Präsenz auf dem Balkan, einer einseitigen, weitere Sepa- Europäischen Entwicklungsfonds in den EU-Haushalt ration begünstigenden Haltung im Konflikt um den Ko- und damit die Gewährleistung einer – derzeit noch sovo und mit einer hermetischen Abriegelung der „Fes- fehlenden – parlamentarischen Kontrolle umgesetzt tung Europa“ gegenüber migrationswilligen Menschen werden. Die Europäische Kommission hat selbst die aus osteuropäischen Ländern. Entwicklungshilfe darf vollständige Einbeziehung der Zusammenarbeit mit den nicht in den Kontext von Flüchtlingsabwehr gestellt wer- AKP-Staaten in den EU-Haushalt gefordert und als den, wie sich das heute unter dem Motto „Regionale „Veränderung in Richtung Normalität“ bezeichnet. Dem Schutzprogramme“ vollzieht. können wir Liberalen nur nachdrücklich zustimmen. Wir haben bereits zu Beginn der Legislaturperiode Die Integration des EEF in den EU-Haushalt sorgt den Rückzug der Bundeswehr aus Bosnien-Herzegowina zudem für Budgetklarheit. Die damit gewährleisteten und die Beendigung der ALTHEA-Operation gefordert. Kontrollrechte des Europäischen Parlaments führen zu Dort müssen zivile und soziale Aufbauprozesse verstärkt Transparenz und mehr Legitimität der europäischen Ent- werden, denn bis heute ist die Lebenssituation für die wicklungszusammenarbeit. Als der größte Beitragszah- Menschen in dieser Region nicht einfach, viele junge ler muss die Bundesregierung ihre starke Position nut- Menschen verlassen Bosnien-Herzegovina wegen feh- zen, um die Eingliederung des EEF in den EU-Haushalt lender Perspektiven. Die weiter andauernde Militärprä- voranzutreiben. senz bindet die finanziellen Ressourcen falsch. Für den Kosovo fordern wir eine neutrale Vermittlung durch Diese Punkte hätten Sie in Ihrem Antrag erwähnen Deutschland und die übrigen EU-Staaten in der Kontakt- müssen. Ein Antrag, der offenbar nur als Lobgesang auf gruppe. das BMZ gemeint war, wird der Sache und den Heraus- forderungen nicht gerecht. Unsere europäischen Partner, Die EU setzt in ihrer gemeinsamen Außen- und Si- allen voran unsere neuen Mitgliedstaaten, verbinden cherheitspolitik zunehmend auf militärische Instru- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7377

(A) mente. Das wird besonders in dem von Ihnen mehrmals Mit dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten stellt (C) angeführten Verfassungsvertrag deutlich. Die Linke ist sich die Aufgabe, sie in das System der gemeinschaftli- entschieden gegen die Militarisierung europäischer Poli- chen Entwicklungspolitik zu integrieren. Potenziell be- tik und fordert stattdessen einen europäischen zivilen steht hierbei die Möglichkeit, das Profil und die Beson- Friedensdienst. Das wäre ein kohärentes Instrument für derheit der europäischen Entwicklungszusammenarbeit die Entwicklungszusammenarbeit, nicht das Militär! insgesamt zu stärken. Bisher, so muss man nüchtern fest- stellen, ist nicht hinreichend klar, wo, mit welchen Mit- Zweitens: Die ständig wiederholte Betonung der Ko- teln und in welcher Abstimmung mit den Mitgliedstaa- härenz im Entwicklungskonsens ist zur reinen Phrase ten die EU ihre Entwicklungspolitik umsetzen will. Die verkommen. Schauen Sie sich doch das Verhältnis von Themenvielfalt der europäischen EZ lässt so gut wie alle Handels- und Entwicklungspolitik der EU an! Handelsli- Formen der Kooperation zu. Die Arbeitsteilung mit den beralisierungen in vielen sensiblen Bereichen werden Mitgliedstaaten ist offenbar bestenfalls in Ansätzen ge- den AKP-Staaten im Rahmen der Verhandlungen zu den geben. Bessere Ergebnisse in der europäischen EZ set- Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs) aufgezwun- zen aus unserer Sicht jedoch zukünftig eine gezielte Ar- gen. Der Europäische Entwicklungsfonds wird dann beitsteilung voraus. dazu missbraucht, die schwerwiegenden Folgen der Die regionalen Prioritäten der Beitrittsländer in der Marktöffnungen für die Menschen in den AKP-Staaten Entwicklungskooperation liegen im Kaukasus, Zentral- abzumildern. Entwicklungszusammenarbeit verkommt asien und in Südosteuropa. Die Erfolge und Fehler beim zum Anhängsel neoliberaler Wirtschaftspolitik. Wir for- Neuaufbau staatlicher Institutionen, die Erfahrungen mit dern ein Moratorium für die EPA-Verhandlungen, das radikalen gesellschaftlichen Umbrüchen der Beitrittslän- jetzige Verhandlungsmandat muss entzogen und gänz- der sind geeignet, um in vergleichbaren Umbruchsitua- lich neu formuliert werden. tionen beratend tätig zu werden. Im besten Fall kann die Erfahrung der Demokratisierung auf staatlicher Ebene, Schließlich: Leider wiederholt sich auch in diesem aber auch durch das Wirken der zahlreichen Nichtregie- Antrag das Festhalten am EU-Verfassungsvertrag. Die- rungsorganisationen aus den osteuropäischen Ländern ser Verfassungsvertrag ist eindeutig gescheitert, und das befördert werden. zu Recht. Die Menschen in Frankreich und den Nieder- Der Antrag beschreibt im Wesentlichen, was ohnehin landen haben erkannt, dass dieser Vertrag einen An- schon von der Bundesregierung angestoßen worden ist. schlag auf die sozialen Rechte bedeuten würde. Wir wol- Er greift keinen qualitativ neuen Aspekt auf. Deshalb len ein anderes Europa entwickeln, das sozial, kann man eigentlich nicht widersprechen und ich wun- ökologisch und friedlich nach innen und außen ist. Das dere mich nur über einen solch wenig fortschrittlichen wäre auch der beste Beitrag für Entwicklungsmöglich- (B) Antrag. Natürlich ist es sinnvoll, wenn die Bundesregie- (D) keiten der Länder des Südens. rung auch personell die Diskurse über die Ausgestaltung der Entwicklungszusammenarbeit und die Einbindung der Beitrittsstaaten unterstützt. Fortbildung von Exper- Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die EU- ten und Praktika in deutschen Institutionen der Entwick- Entwicklungspolitik hat uns in diesem Jahr wiederholt be- lungszusammenarbeit sind unterstützenswert. Und wer schäftigt und wird dies auch zukünftig tun. Ich erinnere an wäre schon gegen die Fortsetzung eingeleiteter Reform- den „Europäischen Konsens“, die Erklärung zur EU-Ent- prozesse in der EU? Der Antrag versäumt allerdings zu wicklungspolitik. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind benennen, wo die Blockaden einer stärkeren Abstim- der weltweit größte Geber von Entwicklungsgeldern. Und mung zwischen bilateraler und europäischer Entwick- um mehr Einheitlichkeit zu erreichen, hat die Europäische lungszusammenarbeit bestehen. Er schlägt keinen Bogen Union mit der europäischen Entwicklungsstrategie sich zu anderen Politikfeldern – wie der Handelspolitik –, auf erstmals nicht nur einen Rahmen für die Politik der Ge- denen eine entwicklungsfreundliche Haltung der Bei- meinschaft, sondern auch für die ihrer 25 Mitgliedstaaten trittsstaaten angezeigt wäre. Dass die Koalitionsfraktio- gesetzt. In diesem Kontext bewegen sich nun auch die nen dem Thema die rechte Brisanz nicht zutrauen, zeigt neuen Mitgliedstaaten, deren historische Erfahrungen im sich daran, dass wir zu später Zeit und ohne Überwei- Transformationsprozess – vermutlich in besonderem sung in die Ausschüsse darüber befinden. Meine Frak- Maße in den benachbarten Regionen – hilfreich sein kön- tion wird sich bei dem Antrag enthalten. nen bei der Gestaltung entwicklungspolitischer Koopera- tion. Anlage 9 Eine vertiefte Entwicklungskooperation in den Bei- trittsländern wird aber auch im umfassenderen Sinne von Zu Protokoll gegebene Reden Bedeutung sein, zum Beispiel bei der gerade stockenden zur Beratung des Antrags: Dem Beruf des Ret- Welthandelsrunde. Ohne die gesamteuropäische Bereit- tungsassistenten eine Zukunftsperspektive ge- schaft, zu einer „Entwicklungsrunde“ beizutragen, wer- ben – Das Rettungsassistentengesetz novellieren den keine entsprechenden Kompromisse zu finden sein. (Tagesordnungspunkt 18) Dies betrifft durchaus Felder wie die Agrarpolitik, wo Interessen der Beitrittsstaaten auf die von Entwicklungs- Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): Das 1989 in Kraft ländern treffen. Die Höhe und Ausgestaltung der Agrar- getretene Gesetz über den Beruf der Rettungsassistentin subventionen und Agrarexportsubventionen sei hier er- und des Rettungsassistenten, RettAssG, regelt sowohl die wähnt. Ausbildung als auch die Aufgaben der Rettungs- 7378 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) assistenten: die Notfallversorgung von (Schwer-)Verletz- inhaltliche Ausbildung muss sie optimal auf diese Situa- (C) ten am Ort des Unfallgeschehens bis zum Eintreffen des tionen vorbereiten. Deshalb werden ärztliche Experten Notarztes und die Assistenz bei Maßnahmen des Arztes wie auch Rettungsassistenten, die über eine entspre- sowie die qualifizierte Betreuung von Schwerkranken chende Praxiserfahrung verfügen, bei der Erstellung des beim Transport in eine Klinik. Es ist unbestritten, dass die Gesetzentwurfs gehört und einbezogen. Nach jetziger Aufgaben der Rettungsassistenten im Zuge des medizini- Kenntnis spricht fachlich und inhaltlich vieles dafür, die schen Fortschritts, insbesondere des technischen Fort- Ausbildungszeit für den Beruf des Rettungsassistenten schritts in der Gerätemedizin, zunehmend anspruchsvol- zu verlängern – auch wenn dies erhebliche Mehrkosten ler und verantwortungsvoller wurden. bedeutet. Es geht bei der Novellierung aber nicht allein Der Beruf des Rettungsassistenten ist ein reglemen- um die Ausbildungszeit und -inhalte, sondern auch ganz tierter Heilberuf, der nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG in wesentlich darum, die Kompetenzen und Aufgaben des die Zuständigkeit des Bundes fällt. Das Rettungsassis- Rettungsassistenten sowie die von ihm zu erfüllenden tentengesetz ist damit von dem derzeit laufenden Verfah- Anforderungen zu konkretisieren. Nicht zuletzt muss das ren zur Umsetzung der EU-Berufsanerkennungsrichtli- neue Gesetz den Rettungsassistenten wesentlich mehr nie betroffen und wird zurzeit ebenso wie andere Rechtsklarheit bieten. Als diejenigen, die als Erste am Gesetze, die unter diese Richtlinie fallen, zunächst bis Unfallort eintreffen, müssen sie klar und eindeutig wis- zum 20. Oktober 2007 im Hinblick auf die Anforderun- sen, was in schwierigen Situationen für sie zu tun und zu gen der EU geändert. Hierzu wird das BMG ein Gesamt- verantworten ist. Nach derzeitiger Rechtslage läuft die paket vorlegen, in dem alle reglementierten Heilberufe Ausübung von heilkundlichen Tätigkeiten am Einsatzort des Bundes enthalten sind. unter dem Aspekt „rechtfertigender Notstand“ und es wird oft unter der so genannten Notkompetenz gehan- Das Rettungsassistentengesetz wurde von 1989 bis delt, die rechtlich nicht eindeutig geregelt und unter Ex- heute insgesamt 13-mal geändert. Seitens der CDU/ perten umstritten ist. Dies bedeutet, dass sich die Ret- CSU-Fraktion sehen wir ebenso wie die Bundesregie- tungsassistenten oft juristisch in einer nicht eindeutig rung die Notwendigkeit, dass das Rettungsassistentenge- geregelten „Grauzone“ befinden, indem sie vor die setz nach der Vielzahl von Änderungen und Anpassun- Frage gestellt sind: Helfe ich jetzt – und überschreite ich gen jetzt zeitnah in dieser Legislaturperiode novelliert damit möglicherweise meine Kompetenzen – oder warte wird. Dies teilte die Bundesregierung im Juli dieses Jah- ich noch auf den Arzt? Dies hat beispielsweise die Bun- res auch bereits auf eine entsprechende Anfrage der desärztekammer bereits vor einigen Jahren veranlasst, FDP-Fraktion mit. Im Vorfeld der Novellierung hat die eine Liste von Maßnahmen vorzulegen und zu empfeh- Bundesregierung bei den Bundesländern Daten zur Or- len, die nach ihrer Überzeugung von Rettungssanitätern (B) ganisation ihrer jeweiligen Rettungsdienste und zur Fi- vor Ort ergriffen werden sollten. (D) nanzierung der Rettungsassistentenausbildung erhoben. Diese Angaben sind eine wichtige Grundlage für die Die Ständige Konferenz für den Rettungsdienst hat konkrete Ausgestaltung praxistauglicher neuer Regelun- unter dem Vorsitz von Professor Karl-Heinz Altemeyer, gen. Die Neuformulierung und Aktualisierung des Ge- Klinikum Saarbrücken, Anfang 2005 ein Eckpunktepa- setzes bedarf dieser umfangreichen Vorarbeiten, die un- pier zur Novellierung des Rettungsassistentengesetzes ter anderem sowohl die Strukturen der Rettungsdienste vorgelegt, an dem auch die Bundesländer, Berufsvereini- als auch die zu veranschlagenden Kosten betreffen. Die gungen und andere Betroffene mitgewirkt haben. Darin unterschiedlichen Strukturen der Rettungsdienste in den wurden für die Ausbildung Strukturen und Vorschläge einzelnen Bundesländern müssen zum Beispiel bei der erarbeitet, die sehr sinnvoll und sicherlich auch gut ge- Entscheidung berücksichtigt werden, inwieweit die Aus- eignet dafür sind, als eine maßgebliche Grundlage für bildung stärker intensivmedizinisch oder praxisorientiert die anstehende Novellierung des RettAssG zu dienen. auszurichten ist. Ebenfalls in diesen Eckpunkten findet sich der Vor- Wir sind uns darin einig, dass die Vielfalt unterschied- schlag, mit der Novellierung auch eine neue Berufsbe- lichster Notfälle ebenso wie die mitunter sehr hohe psy- zeichnung einzuführen. Insbesondere vor dem Hinter- chische Belastung im Einsatz von den Rettungs- grund, dass sich die Bezeichnung „Rettungsassistent“ assistenten eine umfassende und qualifizierte Ausbildung nicht recht eingebürgert hat, ist es sinnvoll, eine neue verlangen. Sie müssen in der Lage sein, am Unfallort bis Berufsbezeichnung einzuführen, die den neuen Kompe- zum Eintreffen des Notarztes eigenständige und eigen- tenzen und Qualifikationen des Berufs entspricht und verantwortliche Entscheidungen zu treffen und selbst- eine stärkere Signalwirkung hat. ständig zu handeln. Wir werden im Rahmen der Novellie- rung des RettAssG durch eine diesen Anforderungen Die Bundesregierung erledigt die erforderlichen Vor- angemessene, solide Ausbildungs- und Prüfungsordnung arbeiten zur Novellierung des Rettungsassistentengeset- dafür sorgen, dass die Rettungsassistenten auch künftig zes, die insbesondere deshalb notwendig sind, weil die über ein fundiertes Fach- und Sachwissen verfügen, das Organisation der Rettungsdienste den Bundesländern sie dazu befähigt, selbst unter dem oft erheblichen Zeit- obliegt, sehr sorgfältig und wird das neue Gesetz in die- druck am Unfallort kompetente und verantwortungsvolle ser Legislaturperiode dem Bundestag zur Beratung und Entscheidungen zu treffen. Entscheidung vorlegen. Wir lassen uns auch durch den heute von der FDP-Fraktion eingebrachten Antrag nicht Wir wissen, dass die Rettungsassistenten zunehmend unter Zeitdruck setzen; denn es geht darum, bundesweit Anfahrtszeiten der Notärzte überbrücken müssen. Die einheitliche Grundlagen zu sichern, die bundesweit eine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7379

(A) hohe Qualität und Wirksamkeit der medizinischen Erst- Das BMG hat bereits wiederholt deutlich gemacht, (C) versorgung am Unfallort gewährleisten. dass das Eckpunktepapier der Ständigen Konferenz für den Rettungsdienst als geeignetes Material für die Novel- lierung der Ausbildung der Rettungsassistenten angesehen Dr. Margrit Spielmann (SPD): Mit dem vorliegenden wird. Bevor es jedoch zu einem Entwurf eines Gesetzes Antrag der FDP werden Missstände im Bereich des Ret- zur Novellierung des Rettungsassistentengesetzes kommt, tungsdienstes, die sich aus der derzeitigen Regelung der wie Sie von der FDP es in Ihrem Antrag fordern, müssen Ausbildung zum Rettungsassistenten ergeben, dargestellt. die offenen Fragen geklärt werden. Die Bundesregierung wird aufgefordert, durch Novellie- rung der Ausbildung Abhilfe zu schaffen. So hängt die Struktur der Ausbildung, also das Verhält- nis von Unterricht und praktischer Ausbildung, ganz we- Von der Arbeit der Rettungsassistenten und -assisten- sentlich von der Ausgestaltung der Kompetenzen ab. Eine tinnen hängen oft Menschenleben ab. Sie sind rund um Ausbildung, die zum Beispiel die eigenständige Notfall- die Uhr im Einsatz, leisten Hilfe und spenden Trost. Wer versorgung am Einsatzort ermöglichen soll, bedarf eines sich für diesen Beruf entscheidet, muss mit Schmerz, vergleichsweise umfangreichen Ausbildungsanteils in den Krankheit und Tod umgehen können und bereit sein, intensivmedizinischen Bereichen des Krankenhauses, um Verantwortung zu übernehmen. die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten sicher zu erlernen. Nach Angaben von Verdi befinden sich zurzeit 3 600 Rettungsassistenten und -assistentinnen in der Für den Fall der Zahlung einer Ausbildungsvergütung Ausbildung; vor fünf Jahren waren es nur 2 200. Nach ist die Finanzierung zu klären. Da sich der Rettungsdienst ihrer Ausbildung arbeiten sie bei Hilfsorganisationen aus Gebühren, Beiträgen und Entgelten finanziert, die wie dem Arbeiter-Samariter-Bund und dem DRK, bei zwischen den Trägern des Rettungsdienstes und den Feuerwehren, Rettungsflugdiensten, an Flughäfen und Krankenkassen verhandelt werden, gibt es keine Möglich- bei privaten Krankentransportunternehmen. In vielen keit der Finanzierung über die GKV. Um zur Klärung Bundesländern muss in jedem Rettungswagen oder -hub- dieser Fragen beizutragen, wurde eine Umfrage bei den schrauber mindestens ein Rettungsassistent bzw. eine Ret- Ländern initiiert. tungsassistentin an Bord sein. Unabhängig von der Ausbildungsvergütung entstehen Wenn sie gerade nicht im Notfalleinsatz sind, beför- auch sonstige Kosten durch eine Verlängerung der Ausbil- dern sie Kranke und Hilfsbedürftige. Sie arbeiten in dung auf drei Jahre, zum Beispiel durch steigende Anfor- Schichten und müssen Bereitschaftsdienste leisten. Im derungen an die Qualifikation der Lehrer. Die Erfahrungen Einsatz versorgen sie Notfallpatienten bis zum Eintreffen mit dem neuen Krankenpflegegesetz zeigen, dass eine (B) des Notarztes. Sie assistieren dem Notarzt und sind sorgfältige Befassung mit der Kostenfrage unabdingbar ist. (D) gleichzeitig Vorgesetzte von Rettungssanitätern und Neben den im Antrag angesprochenen Punkten ist aus Rettungshelfern. Rettungsassistenten sind zunehmend Sicht des BMG außerdem die Frage der Übergangsvor- gefordert, längere Anfahrtszeiten für Notärzte zu über- schriften klärungsbedürftig, weil die angestrebte Ausbil- brücken, und müssen deshalb mit besser definierten dung eine Überleitung der bisherigen Rettungsassistenten Kompetenzen ausgestattet werden, zu denen sie entspre- ohne zusätzliche Nachqualifikation nicht zulassen dürfte. chend ausgebildet sind. Das derzeitige Berufsbild wird Ungeklärt ist außerdem die Einbindung der Feuerwehren, den tatsächlichen Anforderungen an die Arbeit im die insbesondere in den Städten in nicht unerheblichem Rettungsdienst nicht gerecht. Umfang am Rettungsdienst beteiligt sind. Außerdem stellt sich die Frage der Anrechnung der bisherigen Ausbildun- Die Aussage der FDP, dass das Berufsbild des Rettungs- gen auf die neu geregelte Ausbildung. assistenten schlecht definiert und die Berufsbezeichnung missverständlich sei, ist hingegen zurückzuweisen. Das Wir lehnen den Antrag deshalb ab. Nach Klärung die- Rettungsassistentengesetz regelt eine Ausbildung und ser Fragen soll die Novellierung des Gesetzes noch in definiert nicht einen Beruf. Die Berufsdefinition erfolgt dieser Legislaturperiode erfolgen. im Rettungsdienst vielmehr durch die Länder, die hier die alleinige Zuständigkeit haben und in ihren Rettungsdienst- Jens Ackermann (FDP): Die Rettungskräfte in gesetzen dem Personal im Rettungswesen die entsprechen- Deutschland leisten eine hervorragende Arbeit, eine Ar- den Aufgaben zuweisen. Auch ist die Berufsbezeichnung beit, die angesichts der Bedeutung der schnellstmögli- „Rettungsassistent“ nicht missverständlich. Sie hat sich chen Erstversorgung bei Notfällen nicht ausgiebig genug allerdings in der Öffentlichkeit nicht gegen die gängigere gewürdigt werden kann. Für die FDP-Fraktion möchte Bezeichnung „Rettungssanitäter“ durchgesetzt, was im ich allen Rettungskräften den ihnen gebührenden Dank Ergebnis zu Missverständnissen führt. Diese haben ihre für ihre Arbeit aussprechen. Weil die Arbeit der Rettungs- Ursache jedoch nicht in den gesetzlichen Regelungen. assistenten so wichtig ist, haben sie auch Recht auf ein Gesetz, welches ihren Leistungen und Möglichkeiten Die Tatsache, dass die Schüler und Schülerinnen die entspricht, ein Gesetz, das ihnen einen verbindlichen Kosten des Lehrgangs tragen, ist in den Berufsgesetzen, Rahmen gibt. die die Ausbildungen zu den Heilberufen regeln, üblich. Bei dem Beruf des Rettungsassistenten handelt es sich Der Antrag, den meine Fraktion eingebracht hat, ist im Übrigen schon jetzt um einen Heilberuf im Sinne von dringend notwendig, die Umsetzung noch viel dringli- Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Grundgesetz. cher. Bei all der guten Arbeit und dem Einsatz der Ret- 7380 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) tungskräfte ist es unsere Pflicht, diesen Rettungsassis- Unterschied es bei der Theorie der Krankenpfleger und (C) tenten durch zeitgemäße Rahmenbedingungen ihre der der Rettungsassistenten gibt. Ich bin in beidem aus- Arbeit auf höchstem technischen und praktischen Ni- gebildet und ich versichere Ihnen: Es gibt keinen. Wa- veau zu ermöglichen, im Interesse der Rettungsassisten- rum erhalten Krankenpfleger eine klassische Berufsaus- ten, aber vor allem auch im Interesse der Patienten. bildung und Rettungsassistenten nicht? Das Recht auf eine ordentliche Ausbildung sollen beide haben, wenn Das Rettungsassistentengesetz stammt aus dem Jahr uns wenigstens etwas an diesen Berufen liegt. Eine klas- 1989. Seit dieser Zeit hat sich viel geändert, was Dia- sische Berufsausbildung würde endlich die peinliche Si- gnose- und Therapiemöglichkeiten in der Notfallmedizin tuation beheben, dass die Auszubildenden im Rettungs- angeht. Wir brauchen ein Gesetz auf Höhe der Zeit, wel- dienst ihre Ausbildung selbst zahlen müssen. Es würde ches den Rettungsassistenten zur Ausübung ihres Beru- auch dazu führen, dass die Leistungserbringer wieder fes genügend rechtliche Handhabe auf den Weg gibt. ausbilden, was sie zurzeit dank übereifriger, kurzsichti- Wir brauchen ein Gesetz, das den Beruf des Rettungsas- ger Gewerkschaftsfunktionäre nicht mehr können. Nur sistenten zeitgemäß definiert. Unseren Antrag zusam- weil die Gewerkschaft Verdi die Einklagbarkeit von mengefasst bedarf es folgender gesetzgeberischer Ände- Praktikumsgehältern gerichtlich durchgesetzt hat, geht rungen, um die Situation von Rettungsassistenten zu die Zahl der freien Ausbildungsstellen zurück. Ein klei- verbessern: Erstens. Der Beruf des Rettungsassistenten nes Rettungsdienstunternehmen oder eine Hilfsorganisa- muss als Heilberuf anerkannt werden. Zweitens. Die tion kann diese Kosten nicht tragen. Diesen Notstand Ausbildung muss der Aufgabe entsprechend in eine klas- kann nur eine geregelte klassische Berufsausbildung in- sische Berufsausbildung umgewandelt werden. Dabei nerhalb eines novellierten Rettungsassistentengesetzes sollen ständige Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen die beheben. Flexibilität der Rettungsassistenten im Beruf ermögli- chen und die Qualität sichern. Drittens. Die Rettungs- Mit einer Anerkennung des Berufes des Rettungsas- assistenten brauchen eine klar definierte Handlungskom- sistenten als Heilberuf und der Umwandlung in eine petenz. klassische Berufsausbildung gibt es die Chance, eine Lassen Sie mich dies näher erläutern: Die übermäßige Durchlässigkeit und Flexibilität der Medizinalfachberufe Belastung eines Rettungsassistenten geht über das für je- zu erreichen, die allen nutzt: Kosten können durch ge- den von uns Vorstellbare hinaus. Es sind nicht nur die meinsame Ausbildungselemente gespart werden. Die schrecklichen Bilder am Einsatzort oder der Lauf gegen Auszubildenden und Angehörige aus den Medizinal- die Zeit, die Stress auslösen. Es sind auch Gewissensfra- fachberufen können wechseln, sich Ausbildungs- und gen, mit welchen der Rettungsassistent während des Ein- Beschäftigungsdauer anrechnen lassen – ihr Berufsleben freier gestalten. Fort- und Weiterbildungen sichern da- (B) satzes vom Gesetzgeber allein gelassen wird. Er oder sie (D) ist der oder die Erste am Ort und soll die ersten Maßnah- rüber die lebensnotwendige Qualität und geben den men bis zum Eintreffen des Notarztes einleiten, darf aber Fachkräften die Möglichkeit, den technischen Anforde- nicht alles tun, was in den praktischen und technischen rungen in ihrem Beruf standzuhalten, daran zu wachsen. Möglichkeiten stünde – ein Gewissenskonflikt, der völ- – Rettungsassistent muss ein Heilberuf sein. In diesem lig unnötig ist. Zusammenhang möchte ich nur kurz auf die Berufsbe- zeichnung verweisen, die in der Bevölkerung oft miss- Die geltende Rechtslage ist unkomplett. Es fehlt den verstanden wird, weil sie unklar ist. Ein neues Gesetz Rettungsassistenten die Handlungskompetenz, auch Re- könnte diesen Missstand beheben. gelkompetenz genannt. Den Rettungsassistenten wird zugemutet, vor der Durchführung einer medizinischen Unser Antrag stellt ganz besonders die Verständigun- Maßnahme zu prüfen, ob die Voraussetzung für die gen der Ständigen Konferenz für den Rettungsdienst he- Durchführung einer Notkompetenzmaßnahme, letztlich raus, weil sie zeigen, dass es Konsens auf diesem Gebiet also die Voraussetzungen des gerechtfertigten Notstands geben kann und es diesen Konsens geben muss. Dem gemäß § 34 StGB, vorliegen. Lediglich eine Stellung- können wir uns in diesem Hohen Haus nicht verschlie- nahme der Bundesärztekammer zur Notkompetenz des ßen. Rettungsassistenten gibt dem Rettungsfachpersonal vor Ort Vorgaben, selbst wenn diese zu eng gefasst und nicht Mir liegt eine Novellierung des Rettungsassistenten- in jeder Notsituation anwendbar sind. Dies bleibt nicht gesetzes zum Wohle aller sehr am Herzen; denn sie ist allein eine Forderung der Rettungsassistenten, sondern dringlich. Deswegen erwähne ich die ungerechten Kür- wird auch von Notärzten unterstützt; denn es geht nicht zungen der Fahrtkosten um drei Prozent in der so ge- um Amtsanmaßung, es geht um die notwendige Grund- nannten Gesundheitsreform nur am Rande. Ich kann es versorgung bis zum Eintreffen des Notarztes. Die Erfah- aber nicht verschweigen, denn es geht an die Substanz rungen aus der Vergangenheit zeigen, dass die Rettungs- der Hilfsorganisationen und der privaten Rettungsunter- assistenten die Erweiterung dieser Kompetenz sehr nehmen. Es kann nicht sein, dass der Eindruck erweckt dezidiert und gewissenhaft umsetzen können. wird, die Rettungsdienste verlängern unnötigerweise die Rettungs- und Krankentransporte, obwohl sie nur das Grundvoraussetzung ist natürlich, dass der Beruf des umsetzen, was zunächst vom Arzt angeordnet und von Rettungsassistenten endlich als Heilberuf anerkannt der Krankenkasse abgesegnet worden ist. Anderes zu be- wird. Zwar ist das Rettungswesen Ländersache, aber der haupten ist unfair und macht Stimmung gegen diejeni- Bund muss die Vorgaben machen und den Beruf für ganz gen, die mehr als nur Dienst nach Vorschrift schieben. Deutschland definieren. Mir soll einer erklären, welchen Die Fahrten werden oftmals länger, weil Krankenhäuser Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7381

(A) geschlossen werden. Das ist ein Resultat der Gesund- nach dem Berufsbildungsgesetz ausspricht. Wir möchten (C) heitspolitik. damit wesentliche Elemente einer betrieblichen dualen Berufsausbildung herstellen. Bei der ganzen verfehlten Gesundheitspolitik, die kein Mensch versteht und keinem nützt, appelliere ich an Außerdem empfehlen wir, die Berufsbezeichnung Sie, wenigstens einmal zum Wohle der Patienten zu ent- Rettungssanitäter/Rettungssanitäterin zu wählen, da die scheiden und diejenigen, die letztendlich für deren Über- bisherige Berufsbezeichnung den Assistenzcharakter zu leben nach Notfällen verantwortlich sind, mit Hand- stark betont. Mit der von uns gewünschten Berufsbezeich- lungskompetenz, verbesserten Bildungsangeboten und nung wird die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung nachhaltiger Qualität auszustatten. Ich appelliere an Sie, dieses Fachberufes im Rettungsdienst hervorgehoben. den Antrag zu unterstützen und gemeinsam ein neues, modernes Gesetz zu schaffen, das dem Beruf des Ret- Ich gehe davon aus, dass wir in den weiteren Beratun- tungsassistenten eine wirkliche Zukunftsperspektive gen in den Ausschüssen bezüglich unserer Vorschläge gibt. Es geht um eine ganze, engagierte Berufsgruppe, es noch zu eindeutigen Regelungen kommen können. geht aber in letzter Linie um die Notfallpatienten. Um Gleichzeitig hoffe ich, dass die Koalition das Anliegen, deren Willen sollten wir gerade hier die höchste Qualität einen Beruf mit Zukunft zu schaffen, unterstützt. anstreben und die kann es nur mit einem neuen, novel- Es ist bedauerlich, dass die dem Bundesgesundheitsmi- lierten Rettungsassistentengesetz geben. Lassen Sie es nisterium seit dem Frühjahr 2005 vorliegenden Vor- uns gemeinsam angehen! Unser Angebot steht. schläge bisher nicht zu einer Novellierung des Rettungs- assistentengesetzes geführt haben. Deshalb ist ein Frank Spieth (DIE LINKE): Der Antrag der FDP Beschluss des Bundestages erforderlich. „Dem Beruf des Rettungsassistenten eine Zukunftsper- spektive geben – das Rettungsassistentengesetz novellie- Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ren“ wird von meiner Fraktion nicht nur begrüßt, sondern Die Güte und Zielschärfe eines Gesetzes muss sich idea- in wesentlichen Teilen unterstützt. lerweise immer wieder in der gesellschaftlichen Wirk- Der Rettungsdienst hat, wie andere Berufe im Gesund- lichkeit beweisen. So gesehen, wird das Rettungsassis- heitswesen, mit erheblichen Nachwuchsproblemen zu tentengesetz aus dem Jahre 1989 den heutigen kämpfen. Die Attraktivität eines Berufes hängt wesentlich Anforderungen an eine qualitativ hochwertige Ausbil- von seinen Qualifikationsmerkmalen ab, die von der Aus- dung von Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitätern bildung und den Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten längst nicht mehr gerecht. Es mag verwundern und viel- bestimmt werden und schließlich auch die Einkommens- leicht mangelnder Kommunikation zwischen Protago- nisten und politischen Entscheidungsträgern geschuldet (B) bedingungen beeinflussen. (D) sein, dass trotz des Reisensburger Memorandums, das Die Ausbildung zum Rettungsassistenten/-assistentin im Ergebnis eines interdisziplinären Workshops bereits in der Bundesrepublik weist aufgrund der anachronisti- 1996 auf erhebliche Defizite hinwies, und trotz einer schen Sonderstellung im Berufbildungssystem gravierende Reihe von Eckpunkte- und Positionspapieren aus der Unzulänglichkeiten auf. Das Rettungsassistentengesetz Fachwelt in den letzten Jahren, einschließlich der Vor- von 1989 schreibt eine zweijährige Ausbildung an Ret- schläge der ständigen Konferenz für den Rettungsdienst, tungsassistentenschulen vor. Innerhalb der zweijährigen das Problem erst jetzt die Legislative erreichte. Dies Ausbildung ist dann ein einjähriges Praktikum abzuleisten. kann sich die FDP mit ihrer diesbezüglichen Kleinen Diese Ausbildung weist diverse Schwächen auf, die mit Anfrage und dem vorliegenden Antrag zu Recht als Ver- einer Novellierung des Rettungsassistentengesetzes dienst zurechnen. behoben werden sollten. Eine Verzahnung von Theorie und Praxis findet nach Angaben der Betroffenen nicht Wer eine effektive Hilfe im Falle eines lebensbedroh- im notwendigen Maß statt. Die Voraussetzungen und lichen Notfalls erwartet, der wird sich schnell darüber im Anforderungen an die Lehrassistenten sind nicht geregelt, Klaren sein, dass dafür nur gut ausgebildete Rettungsas- sodass an vielen Schulen der Unterricht von pädagogisch sistentinnen und Rettungsassistenten in Mitverantwor- unqualifizierten Lehrassistenten erteilt wird. tung genommen werden können, denen auch entspre- chende Handlungskompetenzen eingeräumt werden. Ein Teil der Nachwuchssorgen im Rettungsdienst hat Moderner Rettungsdienst lässt sich nicht mehr nach dem seinen Grund in dem Schulgeld, das von den Schulen er- Motto „Warte bis der Arzt kommt“ erfolgreich gestalten. hoben wird. Das Schulgeld in Höhe von 2 500 bis Deshalb sollte das Ausbildungsniveau dem Ausbil- 3 000 Euro muss von den Schülerinnen und Schülern aus dungsniveau einer examinierten Krankenschwester an- eigener Tasche bezahlt werden. Darüber hinaus kommt gepasst werden, zumal eine dreijährige Ausbildung auch eine Ausbildungsvergütung für die Auszubildenden in EU-konform ist. Neben der Frage der Ausbildungsquali- diesem System nicht vor. tät, die unseres Erachtens nur ausgerichtet an verbindli- Deshalb ist die von der ständigen Konferenz für den chen bundeseinheitlichen Standards, beispielsweise auf Rettungsdienst geforderte Novellierung des Rettungsassis- Basis von Richtlinien medizinischer Fachgesellschaf- tentengesetzes dringend erforderlich. ten, erfolgen sollte und der Frage eines definierten Be- rufsbildes mit klar zugewiesenen Kompetenzen, gilt es, Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sich die Fragen der Zugangsvoraussetzungen, Ausbildungs- meine Fraktion über die von der ständigen Konferenz auf- zertifizierung und Zugangsgerechtigkeit zu klären. Zu- gestellten Eckpunkte hinaus für eine Ausbildungsordnung gangsgerechtigkeit und die gesellschaftliche Anerken- 7382 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) nung eines Berufes sind untrennbar auch mit einer schen der CDU und SPD in Schleswig-Holstein vom (C) gesicherten Finanzierung verbunden, einschließlich ei- 16. April 2005 ist dieses Verkehrsprojekt als vorrangig ner kostenfreien Ausbildung und angemessener Ausbil- zu realisierendes Projekt festgeschrieben. Auch CDU dungsvergütung. Bei diesen letztgenannten Fragen wür- und SPD in Mecklenburg-Vorpommern sprechen sich in den wir im Rahmen einer parlamentarischen Diskussion ihrem Koalitionsvertrag vom 6. November 2006 nicht den Antrag der FDP gern verbessern helfen, den wir an- grundsätzlich gegen den Bau der festen Fehmarnbelt- sonsten als Auftakt für die nunmehr auch von der Regie- Querung aus, lehnen jedoch den Einsatz öffentlicher Fi- rung als Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP in nanzmittel und die Abgabe von Staatsgarantien hierfür Aussicht gestellte Gesetzesnovellierung positiv bewer- ab. Die Freie und Hansestadt Hamburg spricht sich ten. ebenfalls für den Bau der Brücke zwischen Fehmarn und Lolland aus. Dänemark hat ein großes Interesse an einer raschen Anbindung nicht nur des Königreiches, sondern Anlage 10 des gesamten skandinavischen Raumes an Deutschland und Mitteleuropa und will die feste Fehmarnbelt-Que- Zu Protokoll gegebene Reden rung deshalb schnell realisiert wissen. zur Beratung der Anträge: Am 21. April 2006 verständigten sich daher Bundes- minister Tiefensee, der dänische Verkehrsminister, – Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que- Flemming Hansen, sowie der Minister für Wissenschaft, rung – Fährkonzept verbessern Wirtschaft und Verkehr des Landes Schleswig-Holstein, – Statt fester Fehmarnbelt-Querung – Für ein , auf einen Zeitplan. Dabei ist für ökologisch und finanziell nachhaltiges Ver- die Entscheidung über das Projekt feste Fehmarnbelt- kehrskonzept Querung eine erneute Bewertung verschiedener Finan- zierungsmodelle vorgesehen. Die Vorbereitung der (Tagesordnungspunkt 19 und Zusatztagesord- weiteren Schritte obliegt einem deutsch-dänischen Len- nungspunkt 9) kungsausschuss. In den Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes – TEN – sind die feste Gero Storjohann (CDU/CSU): Wir diskutieren Verbindung über den Fehmarnbelt sowie die Eisenbahn- heute einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen strecken für die Anbindung in Deutschland und Däne- und der Linksfraktion zum Bau der festen Fehmarnbelt- mark in der Liste der vorrangigen Projekte enthalten. Querung. In diesen Anträgen sprechen sich beide Frak- Während Minister und Parlamentarier der großen Koali- tionen gegen den Bau dieser kombinierten Straßen-Ei- tion das Projekt vorantreiben, reiben sich Linksfraktion und die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen einmal senbahn-Verbindung zwischen der Insel Fehmarn in (B) mehr an der Stärkung der Infrastruktur in der gesamten (D) Deutschland und der Insel Lolland in Dänemark sowie Ostseeregion. Dazu ist beiden Fraktionen nahezu jedes den damit notwendigen Hinterlandanbindungen aus. Be- Argument recht. gründet wird die Ablehnung in beiden Anträgen unter anderem mit dem Ergebnis einer Studie zum Nutzen- Beginnen wir mit dem von Bündnis 90/Die Grünen Kosten-Verhältnis dieses Verkehrsprojekts, welches weit und Linksfraktion aufgestellten Argument, die feste Feh- unter demjenigen für ein optimiertes Fährkonzept liege, marnbelt-Querung werde genauso unwirtschaftlich sein weswegen letzterem aus volkswirtschaftlichen Gründen wie der Herrentunnel in Lübeck und der Warnowtunnel der Vorzug zu geben sei. Des Weiteren wird in dem An- in Rostock. Hier ist festzuhalten: Die feste Fehmarnbelt- trag ausgeführt, dass sich die Kosten für die Brücke an- Querung ist mit diesen Projekten überhaupt nicht ver- gesichts der sehr geringen prognostizierten Verkehrs- gleichbar. Wenn man um den Fehmarnbelt herumfahren mengen nicht über eine Nutzerfinanzierung durch will, dann muss man einen großen Umweg über Jütland Trassengebühren für die Schienennutzung und Mautge- und Fünen in Kauf nehmen. Dieser nimmt nicht nur bühren für Kraftfahrzeuge refinanzieren ließen. Deswe- mehr Zeit in Anspruch, er ist durch die Brückenmaut am gen sei ein rein privatwirtschaftlicher Bau und Betrieb Großen Belt zwischen den Inseln Fünen und Seeland der festen Fehmarnbelt-Querung ausgeschlossen und auch teuer. Zweite Alternative der Umfahrung des Belts eine finanzielle Beteiligung des Bundes nicht zu recht- wäre das Ausweichen über die Fährverbindung fertigen. Dies hätten auch die negativen Erfahrungen mit Rostock–Gedser, was ebenfalls erheblich Zeit in An- anderen Public-Private-Partnership-Projekten gezeigt, spruch nehmen würde. Diese Sachlage gibt es beim Her- wie etwa die Tunnelprojekte in Lübeck und Rostock. Die rentunnel und beim Warnowtunnel eben nicht: Wie in Linksfraktion behauptet darüber hinaus, dass dieses Ver- Lübeck besteht das Hauptproblem des Warnowtunnels in kehrsprojekt keinen Beitrag zur wirtschaftlichen Ent- Rostock darin, dass es kostenlose Alternativen gibt. So- wicklung der Region leiste. So weit die Anträge. wohl Herrentunnel als auch Warnowtunnel können von den Verkehrsteilnehmern unter Inkaufnahme eines kur- Lassen Sie mich zunächst einmal festhalten: Es ist er- zen Umweges umfahren werden, was viele Autofahrer klärter politischer Wille des Königreiches Dänemark auch tatsächlich tun. Beim Fehmarnbelt ist die Sachlage und der Bundesrepublik Deutschland, die feste Feh- hingegen eine völlig andere. Ein weiterer wichtiger As- marnbelt-Querung zu realisieren. Im Koalitionsvertrag pekt in diesem Zusammenhang ist, dass die Gebühr für vom 11. November 2005 haben sich CDU, CSU und die Fahrt über die Brücke die Kosten für die Fähre nicht SPD dafür ausgesprochen, sich für die Realisierung der übersteigen wird. Es kann also ohne längere Wartezeit festen Fehmarnbelt-Querung als internationales PPP-Re- der Fehmarnbelt schneller und zum gleichen Preis über- ferenzvorhaben einzusetzen. Im Koalitionsvertrag zwi- quert werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7383

(A) Es ist bedauerlich, dass insbesondere die Bundestags- tens. Im Tourismus, in dem schon heute beide Regionen (C) fraktion von Bündnis 90/Die Grünen dies anscheinend besondere Stärken hätten, werde die feste Verbindung nicht zur Kenntnis nehmen will. In der von Ihnen in Ih- sowohl das Marktpotential als auch die Wettbewerbsfä- rem Antrag zitierten Antwort auf die Große Anfrage Ih- higkeit gegenüber konkurrierenden Standorten verbes- rer Parteifreunde in Schleswig-Holstein wird ausgeführt, sern. Drittens. Im Exportbereich sei insbesondere ein dass die Gesamtreisezeit zwischen Puttgarden und Wachstum für kleine und mittelständische Unternehmen Rödby per Schiff einschließlich Einchecken und Aus- sowie für herkömmliche Waren und Güter sowohl in be- checken derzeit durchschnittlich 59 Minuten beträgt. stehenden als auch in neuen Märkten zu erwarten, wenn Nach der Verkehrsprognose „Fehmarn Belt Forecast die verbesserte Infrastruktur zu einer Reduzierung der 2002, Fehmarnbelt Traffic Consortium, April 2003“ Exportkosten führe. Viertens. Im Cluster Gesundheits- würde bei einem umgesetzten optimierten Fährkonzept wirtschaft/ Medizintechnik ermögliche die feste Verbin- mit sechs Doppelend-Ro/Ro-Fähren, die eine höhere dung Storströms Amt und Kreis Ostholstein, sich gegen- Reisegeschwindigkeit haben, eine verringerte Liegezeit seitig zu ergänzen und so die Wettbewerbsfähigkeit in in Rödbyhavn und Puttgarden vorweisen sowie bei einer beiden Regionen zu steigern. Erweiterung der zum Meer führenden Fahrrinnen auf Dies alles zeigt: Die feste Fehmarnbelt-Querung zwei Spuren im Ergebnis die Gesamtreisezeit auf 52 Mi- bringt erhebliche Vorteile. Wir dürfen und wir werden nuten reduziert werden – also sieben Minuten weniger uns der Zukunft daher nicht verschließen, wie es die als jetzt. Mit einer festen Fehmarnbelt-Querung würde Linksfraktion und die Fraktion von Bündnis 90/Die Grü- die Überfahrt für einen PKW hingegen nur circa 12 Mi- nen mit ihren Anträgen heute zum Ausdruck bringen. In nuten beziehungsweise für einen Lkw circa 18 Minuten den Ausschussberatungen werden wir hierüber noch zu dauern. Für den Bahnverkehr ist hier mit einer noch ge- sprechen haben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ringeren Fahrzeit zu rechnen, weil die Züge im Gegen- lehnt die Vorstellungen der Linksfraktion und der Frak- satz zum Kraftfahrzeugverkehr keine Mautstelle zu pas- tion von Bündnis 90/Die Grünen zur festen Fehmarn- sieren haben, da die Kosten für die Brückenpassage belt-Querung, wie sie in den uns jetzt vorliegenden An- schon im Fahrpreis enthalten wären. Dies würde die At- trägen zum Ausdruck kommen, ab. traktivität der Bahn zwischen der Region Hamburg/Lü- beck und der Öresundregion beträchtlich erhöhen und Hans-Joachim Hacker (SPD): Seit Jahren wird somit ein Plus für den Umweltschutz bedeuten. Nicht das Projekt einer festen Fehmarnbelt-Querung disku- umsonst sind somit in den Leitlinien für den Aufbau des tiert. In diese Erörterung haben sich Wirtschafts- transeuropäischen Verkehrsnetzes – TEN – neben dem verbände, Umweltschutzorganisationen, Vertreter der Projekt als solchem auch die Schienenhinterlandanbin- betroffenen Gebietskörperschaften und andere interes- (B) dungen in der Liste der vorrangig zu realisierenden Vor- sierte Kreise eingeschaltet. Bei der Bewertung der beiden (D) haben enthalten. Der Ausbau des gesamten Schienenwe- vorliegenden Anträge der PDS-Fraktion und der Frak- ges über den Fehmarnbelt kann daher als tion von Bündnis 90/Die Grünen sind zu allererst die be- grenzüberschreitendes Projekt von den TEN-Mitteln stehenden Absprachen zwischen den beteiligten Staaten profitieren. heranzuziehen. In ihrem Antrag behauptet die Linksfraktion ferner, Wie ist der Stand der Dinge? Nach Unterzeichnung eine feste Fehmarnbelt-Querung würde keinen Beitrag des Staatsvertrages zwischen Dänemark und Schweden zur wirtschaftlichen Entwicklung der Region leisten; po- über eine feste Verbindung über den Öresund im Jahr sitive wirtschaftliche Effekte würden allenfalls überwie- 1991 verabredeten die Bundesregierung und die dänische gend in der Bauphase erwartet. Eine vom Bundesminis- Regierung, die Errichtung einer festen Fehmarnbelt- terium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und dem Querung zwischen Deutschland und Dänemark zu unter- dänischen Transport- und Energieministerium in Auftrag suchen. Seit 1995 sind umfangreiche Machbarkeitsstu- gegebene Studie vom Februar 2006 zeichnet hier ein dien erarbeitet worden, die der Schaffung einer gemein- vollkommen anderes Bild. Diese Studie hat die dynami- samen Entscheidungsgrundlage dienen sollen. Im Juni schen und strategischen Effekte einer festen Verbindung 2004 haben der deutsche und der dänische Verkehrsmi- über den Fehmarnbelt für den Kreis Ostholstein und nister eine Gemeinsame Erklärung über die Zusammen- Storströms Amt auf Lolland untersucht. Diese beiden arbeit bei der Weiterentwicklung einer festen Fehmarn- Regionen sind heutzutage im jeweiligen Land etwa an- belt-Querung unterzeichnet. Bei einem erneuten Treffen derthalb Stunden von einer dynamischen Metropole im Juni 2005 stimmten der damalige Bundesverkehrs- – Kopenhagen beziehungsweise Hamburg – entfernt. minister Dr. Manfred Stolpe und sein dänischer Amts- Eine feste Fehmarnbelt-Querung werde zukünftig die Si- kollege Flemming Hansen überein, die Arbeiten an der tuation dahin gehend verändern, dass die beiden Regio- Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung wie vereinbart nen in der Mitte von zwei Metropolen liegen. Dadurch, auszuführen. so die Studie, entstünden neue Herausforderungen für die ökonomische Entwicklung beider Regionen. Der ein- Im Mittelpunkt und als wichtige Grundlage für eine fachere Marktzugang und die Möglichkeiten einer ver- Entscheidungsfindung über die Vorbereitung eines Staats- besserten Kooperation seien dabei besonders hervorzu- vertrages auf Regierungsebene stand die Prüfung folgen- heben. Die Studie von „Copenhagen Economics & der Fragen: die Suche nach einem sicheren Finanzierungs- Prognos“ kommt dabei zu folgenden Ergebnissen: Ers- modell, die Auswahl einer optimalen technischen Lösung tens. Das Baugewerbe werde in der Bauphase der Feh- und komplexe Fragen aus dem Bereich des Umwelt- marnbelt-Verbindung einen Aufschwung erleben. Zwei- schutzes. 7384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass dieses Pro- verfahren durchzuführen wären, wenn für das Projekt (C) jekt einschließlich der Schienenhinterlandanbindungen in grünes Licht gegeben wird. Das Umweltkonsultations- die Liste der vorrangig zu realisierenden Vorhaben der verfahren hat neben zustimmenden Bewertungen auch Leitlinien für den Ausbau des transeuropäischen Ver- Bedenken gegen die Projektrealisierung zum Ausdruck kehrsnetzes – TEN – enthalten ist, sind die Erfordernisse gebracht. Diese Bedenken und weitere Stellungnahmen für optimale Hinterlandanbindungen für Schiene und sollen in die weiteren Untersuchungen einbezogen werden. Straße dazugekommen. Diese komplexen Fragestellun- Gutachten sind sicherlich zu jenen Fragen erforderlich, gen befinden sich derzeit in einer umfassenden fach- bei denen kein ausreichender Wissensstand dokumen- lichen Untersuchung und Prüfung. Für mich erschließt tiert werden kann. Diese Untersuchungen können aber sich die Logik der beiden Anträge nicht, in dieser Phase erst dann erfolgen, wenn die Grundsatzentscheidung ge- der umfangreichen Prüfungen aller maßgeblichen Frage- fällt ist. stellungen die Arbeiten an der Projektstudie einzustellen. Würde man den Anträgen folgen, würden die bisherigen In den Diskussionen der letzten Monate ist die Frage Arbeiten ohne die Ermittlung eines belastbaren Prüf- der Ausgestaltung der Finanzierung immer wieder the- ergebnisses eingestellt. Das wäre nicht sachgerecht und matisiert worden. Es ist richtig und das sage ich für die im Übrigen muss es als Illusion angesehen werden, dass SPD-Bundestagsfraktion nachdrücklich: Aus einer festen sich die dänische Regierung auf eine solche Option ein- Fehmarnbelt-Querung als PPP-Projekt dürfen keine lässt. unkalkulierbaren Risiken für den Bundeshaushalt entste- hen. In die laufenden Prüfungen ist daher diese Fragestel- Ich halte wenig von der Spekulation im politischen lung ernsthaft zu untersuchen. Ein tragfähiges Finanzie- Bereich, ob denn nun wirklich noch in diesem Jahr eine rungskonzept muss zwingend die Frage beantworten, wie Entscheidung über die feste Fehmarnbelt-Querung durch ein mögliches Staatsgarantiemodell und Investitionen aus die Bundesregierung vorbereitet wird, oder ob dieses zu dem Bereich des Privatsektors am besten miteinander Beginn des Jahres 2007 erfolgt. Bei der Größe des zu un- kombiniert werden können. tersuchenden Vorhabens und der damit in Verbindung stehenden Fragestellungen aus den Bereichen Infrastruk- Die aus heutiger Sicht maßgeblichen Fragestellungen turpolitik und Umweltschutz sowie der damit verbunde- sind im April dieses Jahres von Bundesverkehrsminister nen finanziellen Konsequenzen halte ich das Prinzip mit seinem dänischen Amtskollegen Qualität vor Zeitdruck für überzeugender. Und natürlich Flemming Hansen und dem Verkehrsminister Schles- muss im Prüfungsverfahren eine Abwägung der Interessen wig-Holsteins, Dietrich Austermann, erörtert worden. aller direkt oder indirekt betroffenen norddeutschen Län- Die Schrittfolge in der Untersuchung und Beantwortung der erfolgen. Die Prüfung der Idee der Schaffung einer fes- der sich stellenden Fragen ist der Pressemitteilung des (B) ten Fehmarnbelt-Querung muss mögliche Auswirkungen Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwick- (D) auf den Tourismus und die regionale Wirtschaftsstruktur lung vom 21. April 2006 zu entnehmen. Ich fasse die auf Fehmarn und im Kreis Ostholstein einschließen. zentralen Aussagen dieser Pressemitteilung zusammen: zunächst abschließende Überprüfung der dem Projekt Im Koalitionsvertrag vom November 2005 ist die zugrunde liegenden teilweise neuen Annahmen – wie Prüfung der Fehmarnbelt-Querung als internationales beispielsweise die Verkehrsprognose, die Bau- und PPP-Referenzvorhaben festgeschrieben. Mir ist schon Betriebskosten und die Höhe des Mittelzuschusses aus klar, dass die beiden Oppositionsfraktionen, die nach dem Programm der transeuropäischen Netze, darauf auf- den heute zu beratenden Anträgen die Projektunter- bauend eine erneute Bewertung verschiedener Finanzie- suchungen beenden wollen, nicht die Umsetzung des rungsmodelle, Prüfung der Finanzierungserfordernisse Koalitionsvertrages als ihre Sache ansehen. Einsichtig zum Ausbau der Hinterlandanbindungen im Rahmen der müsste den Antragstellern aber sein, dass kurz vor Ende Priorisierung der Verkehrsinfrastruktur sowie Auswer- der umfangreichen Prüfphase ein Beschluss des Bundes- tung der im Umweltkonsultationsverfahren aufgeworfe- tages mit dem geforderten Inhalt unlogisch ist. Deshalb nen Fragen. kann die SPD-Bundestagsfraktion zu den beiden Anträ- gen nur eine klare Ablehnung erklären. Dieser Fragenkomplex muss jetzt zeitnah beantwortet werden. Erst die Beantwortung dieser Fragen schafft die Man könnte an dieser Stelle eigentlich die Ausführun- solide Grundlage für Entscheidungen, die in der Bundes- gen zum Thema beenden. Wegen der Bedeutung, der mit regierung und im Deutschen Bundestag zu treffen sind. dem Projekt verbundenen komplexen Fragestellungen Die beiden vorliegenden Anträge gehen gerade den um- will ich aber noch auf folgende Fakten hinweisen: Zu gekehrten Weg. Sie greifen ein Ergebnis voraus, ohne den Umweltaspekten einer festen Fehmarnbelt-Querung die erforderlichen Prüfergebnisse abzuwarten. Das ist und den Erfordernissen für leistungsfähige Hinterland- kein solides Verfahren und deswegen lehnt die SPD- anbindungen hat ein informelles Konsultationsverfahren Bundestagsfraktion die Anträge ab. stattgefunden, dessen Ergebnisse im Oktober 2006 veröf- fentlicht worden sind. Die Öffentlichkeit, Verbände und Behörden hatten während eines sechswöchigen Zeitraumes Patrick Döring (FDP): Mit den vorliegenden Anträ- die Möglichkeit, ihre Bewertungen zu den umweltrele- gen machen die Kollegen der beiden kleineren Opposi- vanten Fragen in den Prüfungsprozess einzubringen. tionsfraktionen sich die Sache zu einfach. Es ist zwar Dieses Umweltkonsultationsverfahren ersetzt nicht die zweifellos richtig, dass bei der Frage nach dem Für und Umweltverträglichkeitsprüfungen und Öffentlichkeits- Wider einer festen Fehmarnbelt-Querung erhebliche Un- beteiligungen, die nach den nationalen Genehmigungs- sicherheiten bestehen. Die Kolleginnen und Kollegen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7385

(A) scheinen jedoch davon auszugehen, dass positive Pro- und die erstaunliche Entwicklung der ländlichen Regio- (C) gnosen sich nie und nimmer bewahrheiten können. Sie nen zwischen Bremen und Dortmund, die heute ihre Pro- scheinen im Gegenteil zu glauben, dass nur diejenigen dukte nach Hamburg, ins Ruhrgebiet und weit darüber Recht behalten können, die erst einmal den schlimmsten hinaus liefern, hätten wir nie erlebt. anzunehmenden Ausgang unterstellen. Vor dem Hintergrund auch dieser Erfahrung aus mei- Diesen dogmatischen Pessimismus kennen wir ja leider ner niedersächsischen Heimat muss ich daher feststellen, schon zur Genüge auch aus anderen politischen Debatten. dass eine feste Fehmarnbelt-Querung grundsätzlich gro- Ich gebe indes die Hoffnung nicht auf – man glaubt ßes Potenzial hat. Das Projekt ist nicht von ungefähr Teil schließlich an die menschliche Vernunftbegabung –, dass der Transeuropäischen Netze – Teil also eines euro- Sie noch lernen werden, Investitionen und Baumaßnah- päisch gedachten Infrastrukturnetzes, dessen Zielsetzung men nicht nur als ach so schändlichen Eingriff in die Natur über den lokalen, regionalen und selbst nationalen Rah- zu sehen, sondern auch die möglichen positiven Effekte zu men hinausweist. erkennen und zu würdigen. Eine rationale Politik verlangt hier nach einer nüchternen Abwägung. Und da kann und Den vorliegenden Anträgen – mit ihrer kleinteiligen muss im Zweifelsfall zum Beispiel der Eingriff in ein öko- Perspektive, ohne jeden Blick für größere Zusammen- logisches System geduldet werden, wenn auf der anderen hänge und sozioökonomische Dynamik – kann die FDP- Seite deutliche Effizienzsteigerungen zu erwarten sind, Fraktion daher nicht folgen. Mit dieser dogmatisch pes- die schließlich besonders auch unserer Umwelt in ihrer simistischen Haltung werden wir keine vernünftigen Gesamtheit zugute kommen können. Zum Beispiel durch Antworten auf die Fragen finden, die sich uns im Zu- die Verkürzung von Transportwegen und die damit ver- sammenhang mit der Fehmarnbelt-Querung doch tat- bundene Emissionsreduzierung. Kosten und Nutzen eines sächlich stellen. Denn natürlich kann die Ablehnung ei- Projektes können und dürfen nicht nur lokal isoliert, son- nes in der Sache schlicht auf falschen Annahmen und dern müssen in größeren Zusammenhängen betrachtet dogmatischen Überzeugungen basierenden Antrages werden. Kurz und gut – das möchte ich an dieser Stelle nicht heißen, dass die FDP im Umkehrschluss diesem einigen Nachhaltigkeitsaposteln einmal gerne ins Stamm- Projekt bedingungslos zustimmt. Aber es muss eben da- buch schreiben –: Es ist keine nachhaltige Politik, ein rum gehen, die richtigen Fragen zu stellen und zu versu- Biotop zu retten und dafür auf die deutliche Reduzierung chen, diese ohne ideologische Vorbehalte zu beantwor- großer Umweltbelastungen an anderer Stelle zu verzich- ten. ten. Andersherum wird ein Schuh daraus. Die in diesem Zusammenhang vielleicht wichtigste Die kategorische Ablehnung einer festen Fehmarn- Frage ist, in diesen Zeiten klammer Kassen, die nach der belt-Querung durch die hier vorliegenden Anträge kann Priorität dieses Projektes. Die über 4 Milliarden Euro für (B) (D) ich daher nicht teilen. Es ist nicht seriös, wenn Sie zum dieses Projekt, selbst wenn sie privat finanziert und von Beispiel die Steigerung des prognostizierten Verkehrs- der EU bezuschusst werden, und die weiteren 1,25 Milli- aufkommens infolge einer festen Querung pauschal und arden Euro für die Hinterlandanbindung in Deutschland, unbegründet in Abrede stellen – und auf der anderen werden an anderer Stelle fehlen. Angesichts der drama- Seite mögliche soziale und ökologische Risiken über- tisch schlechten Entwicklung der Investitionen in die spitzen und als unabwendbares Faktum hinstellen. Mit deutschen Fernstraßen, die unter Rot-Grün begann und dieser Haltung wäre ein erfolgreiches Projekt wie die durch die große Koalition nahtlos fortgesetzt wird, muss Öresundbrücke – deren positive Entwicklung ja selbst aber jeder investierte Euro wenigstens dreimal umge- der Antrag der Linken nicht infrage zu stellen wagt – dreht werden, bevor man ihn ausgibt. Die bisher vorlie- niemals Wirklichkeit geworden. Auch andere positive genden Studien geben hierüber jedoch nur unzureichend Effekte werden von Ihnen schlicht negiert – etwa mögli- Aufschluss. Auch hier gilt also: Das Projekt darf nicht che regionale und überregionale Beschäftigungsauswir- für sich alleine betrachtet, sondern muss in einem größe- kungen sowie zig Millionen eingesparte Tonnen- und ren Zusammenhang beurteilt werden, der da lautet: Ist Personenkilometer pro Jahr. dies die beste Anlage, die unser Staat und unsere Volks- wirtschaft für 6 Milliarden Euro wählen können. Ich Sie argumentieren zum Beispiel, dass diese Querung beurteile dies zugegebenermaßen – in Kenntnis der zahl- eine intensivere Verflechtung der Regionen Ostholstein reichen, sich infolge eines täglich wachsenden Investiti- und Storstroms Amt nicht erwarten lasse. Einmal abge- onsrückstandes verschlimmernden Defizite der deut- sehen davon, dass es bezeichnend ist, in welch kleinräu- schen Verkehrsinfrastruktur – etwas skeptisch. migen Achsen Sie denken und dabei die bedeutenden Verkehrsströme über Hamburg und Südschweden voll- Hier müssen wir ehrlich und europäisch kalkulieren. kommen ausblenden, denken Sie auch noch statisch und Die bisher vorliegenden Studien sind in meinen Augen leugnen das Potenzial der Menschen, diese neue Verbin- jedoch noch zu sehr auf die herkömmliche volkswirt- dung zu ihrem Vorteil zu nutzen. Mit ihrer Haltung wäre schaftliche oder, sagen wir treffender: nationalökonomi- die A 1 von Bremen in das Ruhrgebiet in den 60er-Jah- sche Perspektive konzentriert. Um die tatsächliche Be- ren wahrscheinlich nie gebaut worden. Eine intensivere deutung und Auswirkung einer Fehmarnbelt-Querung Verflechtung der überwiegend ländlich geprägten Kreise tatsächlich einschätzen zu können, muss dieses Projekt in dieser Region – Vechta und Cloppenburg – wäre ja in seinem europäischen, übernationalen Rahmen unter- „nicht zu erwarten“ gewesen. Die Lastkraftwagen von sucht und bewertet werden. Dabei müssen wir auch in Hamburg ins Ruhrgebiet würden sich also noch heute Rechnung stellen, welche Auswirkungen zum Beispiel über langsame Strecken oder große Umwege quälen, der demografische Wandel und im Zuge dessen die 7386 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) Schrumpfung und Alterung der ländlichen Regionen, eine Große Anfrage entnommen. Wenn Sie also mit den (C) vor allem aber auch das Wachstum zum Beispiel des Angaben nicht einverstanden sind, wenden Sie sich bitte Großraumes Hamburg haben wird. Nur eine solche Stu- direkt an Minister Austermann. die, die dynamische und europäische Faktoren in Rech- nung stellt, wird uns bei dieser Entscheidung wirklich Wobei ich wirklich nicht verstehe, wie er angesichts weiterhelfen. dieser Fakten den Brückenbau trotzdem so vehement be- fürwortet. Das müsste sich eigentlich auch die Bundes- Über diese grundsätzlichen Fragen dürfen auch die regierung fragen, die mir auf eine schriftliche Frage zur Detailprobleme nicht vergessen werden. Wie etwa soll Fehmarnsundbrücke geantwortet hat, dass sie keinen Be- im Rahmen der festen Querung mit der denkmalge- darf für einen Ausbau dieser zweispurigen Brücke und schützten Fehmarnsundbrücke umgegangen werden? des eingleisigen Schienenabschnitts sieht. Wenn man Vor allem aber: Wie erreichen wir gegebenenfalls eine aber nicht einmal auf der viel mehr befahrenen Verbin- optimale Hinterlandanbindung der Fehmarnbelt-Que- dung vom Festland nach Fehmarn vier Autospuren benö- rung? Ohne die Fertigstellung der A 22 und eine feste tigt, dann kann eine 4,2 Milliarden Euro teure Brücke Elbquerung nördlich von Hamburg würde das Projekt nach Dänemark mit vier Spuren nun wirklich keinen förmlich in der Luft hängen. Auch hier gilt es, Zusam- Sinn machen. menhänge und Wechselwirkungen zu beachten. Ich weiß, Sie werden in Ihren Reden gleich darauf Einer der wirksamsten Indikatoren für die Zukunfts- hinweisen, dass das Projekt ja gar nicht vom Bund ge- trächtigkeit eines solchen Projektes ist und bleibt aber baut werden soll, sondern dass dieses Bauwerk als öf- der Markt. Wenn sich private Investoren finden, die die fentlich-private Partnerschaft, mit der neuen Zauberfor- Fehmarnbelt-Querung realisieren wollen, dann sollte der mel ÖPP oder PPP, realisiert werden soll. Aber auch für Staat dies im Rahmen einer öffentlich-privaten Partner- einen privaten Investor rechnet sich das Projekt nicht. schaft auch nachdrücklich, zum Beispiel durch die Be- Weil es eben keinen echten Verkehrsbedarf gibt, kann reitstellung angemessener Anbindungen, unterstützen. der geringe Verkehr die extrem hohen Investitionskosten Wobei jedoch an dieser Stelle dazu auch klar gesagt sein niemals erwirtschaften. muss: Das muss dann auch eine ehrliche Partnerschaft Deshalb kann das Projekt nur funktionieren, wenn sein. Es darf nicht so enden, dass der Staat mit einer Deutschland und Dänemark massive finanzielle Unter- Bürgschaft die Risiken und Verluste trägt, während der private Anbieter die Gewinne einstreicht. Eine solche stützung leisten. Das wird dann verharmlosend Anschub- finanzierung genannt, wobei Sie verschweigen, dass es Konstruktion zerstört die Funktion des Marktes als Ent- dabei um etwa 1 Milliarde Euro geht – plus 1,2 Milliarden deckungsverfahren; denn wo eine Investition ohne Ri- siko ist, da findet keine ehrliche Bewertung statt. für den Ausbau der Hinterlandanbindungen, die in jedem (B) Fall anfallen. (D) Die vorliegenden Anträge können so immerhin im Auch die EU soll mal eben 20 Prozent der Baukosten Ausschuss eine mit Ruhe und Maß geführte Diskussion übernehmen, wobei Sie so tun, als ob das Geld vom um die feste Fehmarnbelt-Querung bewirken. Wir müs- Himmel fällt. Die gleichen, die hier massiv eine EU- sen die Potenziale ehrlich benennen und die Investition Finanzierung einfordern, beschweren sich doch bei jeder in ihrer Priorität gegenüber anderen dringlichen Maß- EU-Haushaltsberatung über die hohen Zahlungen nahmen ergebnisoffen prüfen und gewichten. Wenn wir Deutschlands an die EU. im Ausschuss dabei weiterkommen, hätten diese An- träge wenigstens Nutzen. Das andere Modell, das von Dänemark bevorzugt wird, heißt Staatsgarantiemodell. Vorbild ist dabei die Lutz Heilmann (DIE LINKE): Meine Fraktion hat Verbindung über den Öresund zwischen Kopenhagen diesen Antrag heute eingebracht, weil die Bundesregie- und Malmö. Ich warne Sie aber davor, sich von den an- rung noch dieses Jahr über den Bau der gut 5 Milliarden geblichen Erfolgsmeldungen blenden zu lassen. Die ab- Euro teuren Brücke über den Fehmarnbelt entscheiden soluten Verkehrszahlen dort liegen nicht höher, als sie wollte. Anfang der Woche nun konnte ich der Presse ent- für den Fehmarnbelt vorhergesagt werden. Und die in nehmen, dass diese Entscheidung erst im Januar fallen der letzten Zeit verzeichneten Verkehrszuwächse beru- wird. Ich freue mich, dass wir mit unserem Antrag einen hen auf einem Anstieg bei den täglichen Pendlern, die ersten Erfolg verbuchen konnten. wiederum durch erhebliche Preisnachlässe begünstigt wurden. Mit großen Pendlerströmen sollten Sie beim Lassen Sie sich von den Hochglanzprospekten nicht Fehmarnbelt aber besser nicht rechnen; denn Sie verbin- täuschen. Dieses Projekt birgt nicht nur große Risiken den nicht zwei wirtschaftlich prosperierende Zentren, für die Umwelt, es macht auch volkswirtschaftlich kei- sondern zwei landwirtschaftlich und touristisch geprägte nen Sinn. Seien Sie ehrlich, ein Projekt mit einem Nut- Regionen. Kopenhagen und Hamburg werden drei Stun- zen-Kosten-Verhältnis von 1,2 hätte es niemals in den den voneinander entfernt bleiben; da wird niemand pen- Bundesverkehrswegeplan geschafft. Und selbst mit die- deln. ser Zahl muss man vorsichtig sein, da die Annahmen über den Verkehrszuwachs auf schwachen Füßen stehen. Außerdem sollten Sie sich einmal die Bilanzen anse- hen. Der Betreiber der Öresundbrücke hat allein im Jahr In diesem Zusammenhang ein Hinweis: Diese Zahl 2005 etwa 100 Millionen Euro Verlust gemacht, davon habe ich wie viele andere Angaben in diesem Antrag der konnten aber 65 Millionen Euro durch interne Verrech- Antwort der Landesregierung Schleswig-Holsteins auf nung wieder hereingeholt werden – zulasten des däni- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7387

(A) schen Steuerzahlers. Durch die Hintertür holt man sich Die Fördergelder der Europäischen Union für die trans- (C) also auch beim Staatsgarantiemodell eine staatliche Fi- europäischen Verkehrsnetze, kurz TEN, fließen spärlich. nanzierung ins Haus. Daneben erhält der private Betrei- Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben die ber wegen der Staatsbürgschaft günstige Kredite. Der finanziellen Mittel für die vorrangigen Projekte von den Staat bürgt aber auch für die Rendite der Investoren, die veranschlagten 20 Milliarden Euro auf 6,7 Milliarden möglicherweise sogar 12 Prozent betragen soll. Ja, sol- Euro gekürzt. Die Finanzierung ist außerdem an die Be- che Geschäfte möchte wohl jede und jeder gerne ma- dingungen Beginn der Konstruktionsphase im Jahr 2007 chen. Wenn Millionen Menschen staatlich verordnet un- und Sicherstellung der Hinterlandanbindung geknüpft. ter dem Existenzminimum leben müssen, sind solche Allein die Hinterlandanbindung wird um die 1,2 Milliar- Geschäfte, oder besser Geschenke, aber nicht ange- den Euro kosten, die nicht im Bundesverkehrswegeplan bracht. eingestellt sind. Dass sie im zweiten Investitionsrahmen- plan 2011 bis 2015 bereitgestellt werden, ist daher nicht Angesichts der mageren Verkehrsprognosen muss zu erwarten. auch ein Scheitern des Projektes mit einer möglichen In- solvenz des Betreibers in Betracht gezogen werden. Den Ausweg sollte eine öffentlich-private Partner- Wenn man sich die beiden Tunnel in Rostock und Lü- schaft weisen. Doch die potenziellen Investoren sind beck ansieht, ist das gar nicht so unwahrscheinlich; denn vom Projekt nicht überzeugt. Auf der Investorenkonfe- beide konnten nur mit weit reichenden finanziellen Zu- renz am 22. September kamen Zweifel auf, ob das Ver- geständnissen am Leben gehalten werden. Wenn das kehrsaufkommen tatsächlich so hoch sein wird, dass sich Projekt scheitern sollte, dann würden Deutschland und die Investitionen über Mauteinnahmen rentieren. Daran Dänemark allein auf der Brücke – und den Schulden – zweifelt auch die Bundesregierung: Sie lässt das zu er- sitzen bleiben. wartende Verkehrsaufkommen noch einmal prüfen und will die Finanzierungsmodelle neu bewerten. Lassen Sie die Finger von diesem finanziellen Wag- nis, das für den Verkehr von und nach Skandinavien Potenzielle Investoren verlangen eine staatliche Be- nicht gebraucht wird. Es gibt eine Verbindung auf dem teiligung in Form von Staatsgarantien. Die Bundesregie- Landweg über Jütland. Und es gibt eine funktionierende rung würde das Risiko für Investitionen in Höhe von Fährverbindung, die problemlos verbessert werden rund 5,5 Milliarden Euro für den Bau der Querung und könnte – zu einem Bruchteil der Kosten und wesentlich zusätzliche 1,2 Milliarden Euro für die Anbindung auf schneller, als die Brücke fertig gestellt sein könnte. Da- deutschem Gebiet allein tragen. Staatsgarantien sind öf- für gibt es wegen der geringen Verkehrsmengen derzeit fentliche Gelder. Wenn es der geplanten festen Fehmarn- aber keinen Bedarf und deswegen für die Brücke auch belt-Querung so ergeht, wie den Projekten Herrentunnel Lübeck, Rostocker Warnowtunnel, Öresund-Querung (B) nicht. Gehen Sie verantwortlich mit den Steuergeldern (D) um und lassen Sie die Finger von dieser Brücke. und Eurotunnel muss am Ende der Steuerzahler die Ze- che zahlen. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Punkt drei: Das Mammutprojekt gefährdet Arbeits- Die Pläne zum Bau einer festen Verbindung über den Feh- plätze. Auf deutscher Seite arbeiten 600 Menschen für marnbelt sind ein ökologisches Abenteuer, finanziell un- die Reederei Scandlines an den Standorten Rostock, vertretbar und kosten Arbeitsplätze. Zudem würde die Puttgarden und Mukran auf Rügen, auf dänischer Seite feste Fehmarnbelt-Querung das Aus für die Fährlinie sind 500 Menschen direkt für Scandlines tätig. 1 100 Ar- Scandlines bedeuten, die Puttgarden und Rodby verbin- beitsplätze stehen infrage. Derzeit leben auf der Insel det. Eine zukunftsfähige Infrastrukturplanung sieht an- Fehmarn 2 340 Menschen direkt vom Tourismus. Auch ders aus. für eine der Haupteinnahmequellen der Region sind Ein- bußen zu erwarten. Punkt eins: Das Projekt Fehmarnbelt-Querung ist ein ökologisches Abenteuer. Naturschutzorganisationen wie Eine feste Fehmarnbelt-Querung wäre das Ende für der BUND warnen vor den erheblichen ökologischen die Fährverbindung. Das räumt das schleswig-holsteini- Konsequenzen für den Vogelzug. Gefährdet sind auch sche Wirtschaftsministerium in seiner Antwort auf eine die Bestände an Robben, Schweinswalen und Fischen. Große Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen im Septem- Zu befürchten sind auch die Folgen für den Wasseraus- ber ein. Darin heißt es: „Die völlige Einstellung des tausch in der Ostsee durch gestörte Strömungsverhält- Fährverkehrs ist nicht unwahrscheinlich“. Die dänische nisse. Regierung, Anteilseigner der Scandlines, denkt offenbar darüber nach, die feste Querung mit Erlösen aus dem Eine feste Querung bedeutet, dass ein Teil des Güter- Verkauf der Scandlines zu finanzieren. Auch die Deut- transports auf die Straße verlagert würde. Dabei wollte sche Bahn AG hat ihren 50-prozentigen Anteil an der das Bundesverkehrsministerium doch den „Modal Shift“ Reederei Scandlines zum Verkauf angeboten. Der briti- fördern und den Güterverkehr von der Straße auf Schiff sche Kapitalfonds 3i-Group-PLC und die Baltic Ferry und Schiene verlagern. Development Group, hinter der sich die Deutsche See- reederei in Rostock und ein Tochterunternehmen der Punkt zwei: Die Finanzierung ist nicht sichergestellt. Allianz-Versicherung verbergen, haben bereits Interesse Wer soll für die Gesamtkosten in Höhe von geschätzten angemeldet. 6,7 Milliarden Euro aufkommen? Die schleswig-holstei- nische Landesregierung plant mit Geld, das gar nicht da Was wir brauchen, ist ein ökologisch und ökonomisch ist. Die Bundeskanzlerin hat einen Rückzug gemacht. nachhaltiges Verkehrskonzept. Wir sollten mit den knap- 7388 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) pen öffentlichen Geldern die Fährverbindung erhalten, die Medien von dem umfassenden Reformvorhaben (C) das Fährkonzept optimieren und in zukunftsfähige Infra- informiert wurden“. Dies trifft nicht zu, denn ein Brief strukturen investieren. Ein Baustein ist die Wasserstra- an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundespoli- ßenverbindung zwischen den deutschen Seehäfen und zei wurde am 16. November 2006 zugestellt; zeitgleich den Ostseeanrainern. Der Nord-Ostsee-Kanal ist die ent- wurden die Innenminister der Länder über das Reform- scheidende Route für Tourismus und Güterverkehr im vorhaben informiert. Wenn die Abgeordneten der Grü- Ostseeraum. Daher machen wir uns dafür stark, den nen dies nicht mehr ganz parat haben, sollten sie den Ausbau prioritär zu behandeln und das Planfeststellungs- Artikel „Schäuble plant Umbau der Bundespolizei“ der verfahren zügig noch im Jahr 2008 abzuschließen. Dabei „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom Freitag, den sind der Erhalt der am Kanal gelegenen Biotope sowie 17. November 2006 lesen. Darin heißt es explizit, dass die naturschutzgerechte Entsorgung bzw. Weiterverwen- ab Donnerstag, 16. November 2006, die „Führungsstäbe dung des Baggergutes zu berücksichtigen. und Mitarbeiter der Bundespolizei von den bevorstehen- den Veränderungen unterrichtet“ wurden, „ebenso die Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung Innenminister der Länder“. auf, auf die Anteilseigner dänische Regierung und Deut- sche Bahn AG einzuwirken, die Vogelfluglinie zu erhal- Ich denke, die Abgeordneten sind sich einig, dass eine ten und das Fährkonzept der Scandlines zu optimieren, Reform der Bundespolizei zwingend notwenig ist. auch wenn die Anteilseigner ihre Anteile an Scandlines Deutschland steht vor neuen Herausforderungen, die verkaufen sollten. auch in der Organisationsstruktur der Bundespolizei ver- ankert werden müssen. Eines der wichtigsten Themen in den nächsten Jahren ist die Verlagerung der östlichen Anlage 11 Außengrenzen der Europäischen Union nach dem Schengenbeitritt Tschechiens und Polens. Damit werden Zu Protokoll gegebene Reden stationäre Grenzkontrollen nach den Schengenrichtlinien zur Beratung der Anträge: nicht mehr benötigt. Jedoch bedeutet das im Um- kehrschluss mitnichten, dass die Zahl der Bundespolizei- – Einrichtung einer Polizeireformkommission kräfte in diesen Regionen reduziert werden darf und kann. Zur Abwehr der vermehrten illegalen Einwande- – Notwendigkeit einer Defizitanalyse des be- rungen, auch im Hinblick auf Schleusertätigkeiten, und stehenden Sicherheitssystems zum Schutz gegen terroristische Bedrohungen brauchen (Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesord- wir mehr mobile Einsatzkräfte. Evaluationen haben be- nungspunkt 10) reits ergeben, dass mobile und operative Polizeiarbeit ef- (B) fizienter gegen Schleuser- und organisierte Kriminalität (D) wirken können als stationäre Grenzkontrollen. Deshalb Günter Baumann (CDU/CSU): Bevor ich zu den ist es das erklärte Ziel, die operative Arbeit und die poli- Anträgen seitens des Bündnisses 90/Die Grünen und der zeiliche Präsenz zu stärken. Ferner will man auch eine FDP komme, möchte ich ein paar Worte zu der hervorra- Effizienzsteigerung durch die Reduzierung der institu- genden Arbeit der Bundespolizei verlieren. Die rund tionellen Stellen erreichen. Jedoch ist eines ganz klar zu 40 000 Beschäftigten der Bundespolizei haben aufgrund sagen: Es ist sicher, dass niemand seine Beschäftigung ihres Auftrages, übertragen durch das deutsche Grund- verlieren wird. gesetz und durch Bundesgesetze, eine wichtige Schlüs- selposition zum Schutz der nationalen Sicherheit inne. Die Bediensteten der Bundespolizei wurden über die Die Aufgaben der Bundespolizei erstrecken sich nicht groben Umrisse des Reformvorhabens informiert und nur auf die Sicherung unserer Außengrenzen; die Bun- keinesweges, wie die Grünen behaupten, vor vollendete despolizei nimmt auch Aufgaben bei der Bahn und bei Tatsachen gestellt. In der Zwischenzeit ist eine Projekt- der Luftsicherheit wahr. Darüber hinaus unterstützt die gruppe eingerichtet worden, die das Reformkonzept Bundespolizei Einsätze, etwa bei der Sicherung von detailliert ausarbeiten wird. In diesen Prozess sind die Fanmeilen und Stadien während der Fußball-WM. Die- Bundespolizei und die Personalvertretung umfangreich ses komplexe Aufgabengebiet spiegelt den Stellenwert eingebunden. Somit wird im Zusammenhang mit den ge- der Bundespolizei im Sicherheitssystem Deutschlands planten Veränderungen über alle Einzelheiten ausgiebig wider. Auch ihre vielfältigen Erfahrungen in der interna- beraten. Schon allein deshalb ist der Antrag der Grünen tionalen Zusammenarbeit gewinnen für die innere Si- auf Einsetzung einer Polizeireformkommission abzuleh- cherheit Deutschlands und der Europäischen Union im- nen. Dies würde nämlich nur doppelten Aufwand und im mer mehr an Bedeutung. Genau aus diesem Grunde sind Endeffekt doppelte Bürokratie bedeuten. die Veränderungen in der Organisationsstruktur so wich- tig, damit die Bundespolizei zukunftsfähig bleibt. Sowohl der Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen als auch der FDP fordern eine umfassende Betrachtung der Ich komme nun zum Antrag des Bündnisses 90/Die Schnittstellen zu den Aufgabenbereichen der anderen Grünen zur „Einrichtung einer Polizeireformkommission“, Sicherheitsbehörden in Deutschland, also des Bundes- der – wie schon vorangegangene Anträge in dieser Wahl- kriminalamtes, der Länderpolizeien und der Nachrich- periode zuvor – fehlerhafte Basisinformationen enthält. tendienste. Beide Anträge gehen davon aus, dass es im Dies kann man gleich im ersten Absatz des vorliegenden deutschen Sicherheitssystem in den letzten Jahrzehnten Antrags feststellen. Hierin behaupten Bündnis 90/Die zu erheblichen Doppelstrukturen und ungenauer Auf- Grünen, dass „die Bediensteten der Bundespolizei über gabenverteilung gekommen sei; dies solle durch Evalu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7389

(A) ierungen und Umsetzung der entsprechenden Ergebnisse nisationsänderung zu beteiligen sind und wie und wann (C) aufgehoben werden. Hierzu ist zu bemerken, dass die die Öffentlichkeit unterrichtet wird. Eine breit angelegte Organisationsreform der Bundespolizei keine Verände- Diskussion im Internet erscheint deshalb nicht sehr sinn- rung der Aufgabenverteilung unter den einzelnen Sicher- voll zu sein. heitsbehörden mit sich bringen wird. Es wird bei den bestehenden gesetzlich geregelten Zuständigkeiten der Weiterhin wird eine umfassende Aufgabenkritik, ver- Bundespolizei, der Länderpolizeien und der anderen bunden mit der Überprüfung von Doppelfunktionen und Sicherheitsbehörden bleiben. Dies gilt im Besonderen der Schnittstellenproblematik zu den Länderpolizeien und anderen Sicherheitsbehörden angemahnt. Ich gehe auch für den Bereich der kriminalpolizeilichen Ermitt- davon aus, dass das BMI mit seinen Arbeitsgruppen lungen. Hierbei nimmt die Bundespolizei auch in Zu- selbstverständlich diese Umstände bei der Aufstellung der kunft nur die ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben rund 30 000 Beamten beachten wird, weil im Hinblick auf wahr. Es ist Unsinn, Schnittstellen zu den Aufgaben- künftige Aufgaben im Rahmen der EU-Erweiterung spä- bereichen der Länderpolizeien und den weiteren Sicher- testens 2008 die Einbettung in ein europäisches Sicher- heitsbehörden in Deutschland zu definieren, wenn sie heitssystem zu berücksichtigen sein wird. Das erfordert bereits gesetzlich klar definiert sind. Dies ist der Fall. einen effektiven Kräfteeinsatz im Rahmen der Gewähr- Darüber hinaus fordert die FDP in ihrem Antrag, dass leistung der inneren Sicherheit. die behördliche Zusammenarbeit verbessert und effektiver gestaltet werden soll. Dies ist doch schon allein durch Inzwischen hat übrigens das BMI eine Projektgruppe das Gemeinsame-Dateien-Gesetz auf den Weg gebracht unter Einbeziehung führender Beamter der Dienststellen und des Ministeriums sowie der Personalräte einberufen, worden. Durch diese neuartige Vernetzung können sich die die vorliegenden Eckpunkte nunmehr in ein Feinkon- die 38 Sicherheitsbehörden in Deutschland besser aus- zept überführen sollen. tauschen. Somit ist auch diese Forderung hinfällig. Als Fazit ist festzuhalten, dass beide Anträge abzulehnen Abschließend bleibt festzustellen, dass Bundesminister sind, da sie einerseits einen erhöhten Bürokratieaufwand Dr. Schäuble zugesagt hat, meine Fraktion als Koalitions- zur Folge hätten und andererseits bereits vollzogene partner an dem Fortgang des Verfahrens zu beteiligen. Ich Maßnahmen, etwa eine Verbesserung der Zusammenarbeit bin mir sicher, dass auch die Fraktion des Bündnisses 90/ der Sicherheitsbehörden oder eine Polizeireformkom- Die Grünen ebenfalls daran teilhaben kann, nämlich bei mission, fordern. den Beratungen im Innenausschuss. Der vorliegende An- trag auf Bundestagsdrucksache 16/3704 ist deshalb abzu- lehnen. Wolfgang Gunkel (SPD): Der Antrag der Fraktion (B) des Bündnisses 90/Die Grünen kritisiert das Vorgehen Zum Antrag der FDP-Fraktion ist zu bemerken, dass (D) des Bundesministeriums des Innern bei der Reform der die Reform der Bundespolizei, besser Organisations- Bundespolizei. Der Umbau der Polizei sei im Geheimen strukturveränderung, dazu herhalten soll, die Notwen- als „Reform von oben“ entwickelt worden. Die Bediens- digkeit einer Defizitanalyse der bestehenden Sicherheits- teten der Bundespolizei wurden lediglich über die Me- systeme zu konstruieren. Sicherlich ist es grundsätzlich dien darüber informiert. nicht falsch, eine verbesserte Koordinierung und Zusam- menarbeit polizeilicher und nachrichtendienstlicher Stel- Wenn man weiß, welche Tätigkeit der für diesen Ent- len im Zuge der Terrorismusbekämpfung anzustreben, wurf der Neuorganisation mitverantwortliche Staats- jedoch verfehlt dieses Ansinnen bei dem Thema Bundes- sekretär Dr. August Hanning vor seinem Wechsel in das polizeineuorganisation das Ziel. Innenministerium ausübte, wird man diese „Geheimniskrä- merei“ vielleicht verstehen – immerhin war Dr. Hanning Die Aufgaben der Bundespolizei sind in erster Linie vorher Chef des Bundesnachrichtendienstes. Sicherungsaufgaben gegen illegale Einwanderung bzw. illegale Einreise in die Bundesrepublik Deutschland Ich stimme den Antragstellern darin zu, dass die man- durch den polizeilichen Einzeldienst sowie in zweiter gelnde Information nicht positiv zu bewerten ist. Dass die Linie Unterstützung der Länderpolizeien bei Großereig- Angehörigen der Bundespolizei und die Personalräte/Ge- nissen, Veranstaltungen und demonstrativen Aktionen werkschaften bei der Entwicklung des Eckpunktepapiers durch die vorgehaltenen geschlossenen Einheiten und in nicht „mitgenommen“ wurden, ist für den weiteren Ab- dritter Linie auch Kriminalitätsbekämpfung in spezifi- lauf des Verfahrens nicht förderlich. Man muss abwarten, schen Aufgabenbereichen. ob es gelingt, dieses Defizit auszugleichen. Indirekt dient dieses Spektrum der Vollzugstätigkei- Es gibt allerdings auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, ten auch der Terrorismusbekämpfung, ist jedoch nicht dass eine Beteiligung in Zukunft nicht stattfinden wird. speziell darauf abgestellt. Insofern ist das angestrebte Ist es doch gesetzlich vorgeschrieben, die Personal- Reformziel, die Bundespolizei auf den Wegfall der vertretungen zu beteiligen. § 78 Abs. l Nr. 2 des Bundes- Personenkontrollen durch den Eintritt der neuen EU- personalvertretungsgesetzes räumt dem Personalrat ein Mitgliedstaaten in das Schengener Informationssystem Mitwirkungsrecht bei der Auflösung, Einschränkung, im Dezember 2007 vorzubereiten und aktionsfähig zu Verlegung oder Zusammenlegung von Dienststellen ein. machen, vorrangig. Von einer schweren Vertrauenskrise zu sprechen halte ich deshalb für etwas übertrieben. Außerdem bin ich der Wie schon im Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ Meinung, dass das BMI allein dafür verantwortlich ist, Die Grünen – Internetforum – wird auch hier gefordert, welche externen Sachverständigen im Prozess der Orga- in einem „offenen“ Verfahren diese Strukturveränderung 7390 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006

(A) darzulegen. Dieses ist mit Verlaub gesagt untunlich, weil Insgesamt kommt die FDP-Fraktion zu dem Ergebnis, (C) auch die Organisation einer Sicherheitsbehörde mögli- dass nach der Veränderung der Aufgabenstellung der chen Straftätern Aufschluss darüber gibt, mit welchen Bundespolizei Organisationsänderungen nicht von vorne- Mitteln sie gegebenenfalls Kriminalitätsbekämpfung herein ausgeschlossen werden können, dass der Weg und die ihr obliegenden Aufgaben zu erfüllen gedenkt. hierzu aber nur über ein offenes und transparentes Ver- fahren gehen kann, welches sowohl die betroffenen Mit- Eine „parlamentarische“ Offenlegung ist dagegen arbeiter als auch das Parlament angemessen einbezieht. eine Selbstverständlichkeit.

Abschließend bleibt festzustellen, dass auch der An- Petra Pau (DIE LINKE): Erstens. Bundesinnen- trag der FDP-Fraktion abzulehnen ist. minister Wolfgang Schäuble hat eine Reform der Bun- despolizei angekündigt. Er tat dies über die Medien. Das Dr. Max Stadler (FDP): Das Bundesinnenministe- kritisieren die Betroffenen, das kritisieren die Gewerk- rium hat in den letzten Wochen erhebliche Unruhe bei schaften, das kritisieren die Grünen und das kritisiere der Bundespolizei und beim Bundesamt für Verfassungs- auch ich. Diese Ankündigungspolitik via Medien ist ein- schutz verursacht. Offenbar über die Köpfe der Betroffe- fach schlechter Stil. nen hinweg sind Organisationsreformen angekündigt worden. Dies war kein guter Stil. Es wäre Zeichen einer Dieser schlechte Stil ist auch in der Sache überflüssig. modernen Personalführung, solche Reformen mit den In meinen Gesprächen, die ich jüngst beim Bundespoli- Betroffenen und nicht gegen sie zu beginnen. zeipräsidium Ost hatte, wurde ziemlich deutlich: Auch dort geht man von einem umfangreichen Reformbedarf Die Art und Weise des Vorgehens, die vom Bundesin- aus und es gibt auch die Bereitschaft, umfangreiche Re- nenministerium zu verantworten ist, ist leider dazu ge- formen umzusetzen. eignet, die betroffenen Sicherheitsbehörden von ihren eigentlichen Kernaufgaben abzulenken, denn verständli- Nun hat die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen cherweise wollen Mitarbeiter Klarheit darüber haben, ihre Kritik in einen Antrag gegossen. Darin fordert sie wie es mit ihnen beruflich weitergeht. die Einsetzung einer Polizeireformkommission. Das finde ich nun wieder übertrieben, zumal man den Unabhängig davon ist die FDP-Fraktion der Meinung, schlechten Stil eines Ministers nicht einfach zum Besse- dass eine Analyse über Organisationsmängel des beste- ren kommissionieren kann. henden Sicherheitssystems durchaus erforderlich ist. Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Zollfahndung und Zweitens. Die Grünen argumentieren, die Polizeire- Länderpolizeien arbeiten häufig nebeneinander her. Eine form muss über eine Organisationsreform hinausgehen. (B) Sicherheitsarchitektur, die Reibungsverluste und Dop- Sie müsse sich auch neuen inhaltlichen Aufgaben stel- (D) pelarbeit vermeiden würde, existiert nicht. len. Genannt werden zum Beispiel „die zahlreichen Poli- zeimissionen im Ausland“ und „Aufgabenverlagerun- Gerade deshalb ist aber eine isolierte Reform der gen“, die sich aus dem Schengenabkommen ergeben. Bundespolizei, wie sie jetzt offenbar vom Bundesinnen- Das alles und mehr, so Bündnis 90/Die Grünen, müsse ministerium angestrebt wird, der falsche Weg. Notwen- „auf solide gesetzliche Grundlagen gestellt werden“. Ge- dig wäre zunächst eine Bestandsaufnahme vor allem nau hier will ich einhaken und auf Innenminister dazu, welche Kompetenzüberschreitungen es zwischen Schäuble zurückkommen. Der will nämlich auch mehr den verschiedenen Sicherheitsbehörden gibt. Kompe- als eine Organisationsreform. Er sieht die Bundespolizei tenzüberschreitungen führen notwendigerweise zu unnö- als Teil einer neuen Sicherheitsarchitektur. tiger Doppelarbeit. Ein zielgerichteter und sparsamer Einsatz der finanziellen und personellen Ressourcen der Wir wissen, dass die Unionsparteien weiterhin die Sicherheitsbehörden wäre aber äußerst wünschenswert. Bundeswehr im Innern einsetzen wollen. Und wir wis- sen, dass die Polizei zunehmend im Ausland eingesetzt Die Reform darf auch nicht am Parlament vorbeilau- wird, übrigens ohne jeden Parlamentsvorbehalt. Hier fen. Es war ebenfalls kein guter Stil des Bundesinnen- gibt es in der Tat eine Gesetzeslücke. Wir brauchen also ministeriums, vage Pläne in der Presse anzukündigen auch für die Polizei ein Parlamentsbeteiligungsgesetz. und erst auf Aufforderung des zuständigen Innenaus- schusses sich dort zu einer Berichterstattung bereit zu er- Drittens. Aber wenn ich den Bundesinnenminister auf klären. der Berliner Sicherheitskonferenz am 8. Dezember 2006 richtig verstanden habe, dann schwebt ihm neben der Da noch unklar ist, welche Inhalte die vom Bundesin- Bundeswehr und neben der Bundespolizei etwas Drittes nenministerium gebildete Arbeitsgruppe im Einzelnen vor: halb Polizei, halb Armee in einem, also eine Art vorschlagen wird, kann dazu jetzt auch nicht Stellung weltweit agierende universelle Eingreiftruppe für alle genommen werden. Aus Sicht der FDP ist allerdings Fälle. vorsorglich anzumerken, dass wir einer Ausweitung der Auslandseinsätze der Bundespolizei skeptisch gegen- Das wiederum wäre mehr als eine Reform, die mit überstehen. Zumindest müsste endlich ein Parlaments- schlechtem Stil angekündigt wird. Und das wäre auch vorbehalt für die Verwendung von Bundespolizeibeam- mehr, als Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag be- ten im Ausland eingeführt werden, wie er bei der schreiben und mit einer Kommission nebst Internetportal Bundeswehr vom Deutschen Bundestag durchgesetzt bewerkstelligen wollen. Wir hätten es mit einer neuen worden ist. Qualität militärischer Innen- und Außenpolitik zu tun. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006 7391

(A) Dies wäre ein weiterer Schritt auf einem Weg, den Präsidien erreichen will. Mittelbehörden in diesem Be- (C) Die Linke ohnehin kritisiert. Ich habe unlängst aufge- reich müssen in der Tat zur Disposition gestellt werden. zeigt, wie die neue Sicherheitsarchitektur mit dem Die Zusammenfassung der Polizeiämter in Polizeidirek- Grundgesetz kollidiert und damit mit der Gesell- tionen mit Kompetenzen aus den bisherigen Präsidien schaftsarchitektur. Dem demokratischen Rechtsstaat kann durchaus am Ende der Diskussion stehen. wird Boden entzogen. Darum geht es, nicht nur um schlechten Stil. Mir greifen aber diese rein organisatorischen Ver- schiebungen zu kurz. Die Frage, was ist die Aufgabe einer Bundespolizei im föderalen Gefüge der Bundes- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE republik, lässt sich nicht durch eine Konzentration der GRÜNEN): Bundesinnenminister Schäuble will die Behörden allein lösen. In Deutschland ist man allzu Bundespolizei, den früheren Bundesgrenzschutz, refor- schnell dazu übergegangen, alten Behörden neue Aufga- mieren. Das ist ein gutes Vorhaben. Doch er legt gleich ben zu geben um ihr Überleben zu sichern. Kaum sind zu Beginn einen Fehlstart hin. Er beginnt diesen Prozess die Schlagbäume verschwunden, kontrolliert der Zoll die nicht mit einem Dialog, sondern mit einem geheimen Schwarzarbeit. Der Bundesgrenzschutz wird umgetauft. Eckpunktepapier aus dem eigenen Haus. Die Reform Er nennt sich jetzt Bundespolizei. Aber was wird aktuell wird so zu einem Werk von ganz oben. wirklich gebraucht, worin liegt ihr genauer Auftrag? Richtig wäre es gewesen, Beschäftigte und Gewerk- Wir haben daher die Einrichtung einer Reformkom- schaften, also Praktiker und ihre Erfahrungen, in die Ent- mission beantragt (Drucksache 16/3704). Dieses Gre- wicklung des Konzepts einzubeziehen. Das Ergebnis ist mium mit Fachleuten aus Verwaltung, Politik und Wis- nun eine schwere Vertrauenskrise zwischen dem Innen- senschaft soll gemeinsam mit den Betroffenen und ihren minister und den Bediensteten der Bundespolizei. Das Gewerkschaften über grundlegende Reformen beraten war vermeidbar. Dieses schwere Versäumnis bei der und durchdachte Vorschläge ausarbeiten. Es geht nicht Kommunikation kann sogar den Erfolg der Reform nur um Strukturen und Organisation. Es muss auch die selbst beeinträchtigen. Aufgabenstellung neu besprochen werden. In der Sache sehen auch wir die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform. Ich habe auch die Gewerkschaf- Zu klären ist auch, wie Auslandseinsätze aussehen ten in diesem Sinne verstanden, dass sie sich nicht zur und wie deren parlamentarische Kontrolle sichergestellt Lobby überholter Strukturen machen. wird. Es kann nicht sein, das Polizeibeamte des Bundes oder der Länder weniger parlamentarische Aufmerksam- Wir Grüne haben eine Umgestaltung schon seit lan- keit bekommen als die Soldaten. Auch Polizeibeamte gem gefordert. Die Entwicklung des Schengenraums leisten einen gefährlichen Dienst, dessen Erforderlich- (B) macht eine Verwaltungsstruktur überflüssig, die noch keit immer wieder überprüft werden muss. (D) auf die Kontrolle der nationalen Außengrenzen ausge- richtet war. Es reicht aber auch nicht aus, nur Behörden Dieser grundlegende Prozess einer Reform der Bun- hin- und herzuschieben. Wir brauchen darüber hinaus despolizei muss transparent gestaltet werden. Er darf auch eine grundsätzliche Neubestimmung der Aufgaben nicht länger als geheime Chefsache am Parlament und an einer Bundespolizei. Dazu gehört auch der Bereich von den Beschäftigten vorbeigehen. Aus- und Fortbildung. Ich freue mich auf die Beratungen im Innenausschuss Der Bundesinnenminister hat Recht, wenn er für die des Bundestages zu diesem Thema. Wir sollten uns auch eigentliche Polizeiarbeit mehr personelle Kapazitäten auf eine Anhörung verständigen, um den Diskussions- durch die Straffung der Strukturen von gegenwärtig fünf prozess voranzubringen.

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