Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/47

Deutscher

Stenografischer Bericht

47. Sitzung

Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Inhalt:

Begrüßung des neuen Abgeordneten (DIE LINKE) ...... 4345 C Waldemar Westermayer ...... 4337 A (DIE LINKE) ...... 4347 B Dr. (SPD) ...... 4348 B Tagesordnungspunkt 26: Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ a) Erste Beratung des von der Bundesregie- DIE GRÜNEN) ...... 4350 C rung eingebrachten Entwurfs eines Fünf- ten Gesetzes zur Änderung des Elften (CDU/CSU) ...... 4351 C Buches Sozialgesetzbuch – Leistungs- Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ ausweitung für Pflegebedürftige, Pfle- DIE GRÜNEN) ...... 4353 A gevorsorgefonds (Fünftes SGB XI-Än- derungsgesetz – 5. SGB XI-ÄndG) (SPD) ...... 4353 D Drucksache 18/1798 ...... 4337 B Pia Zimmermann (DIE LINKE) ...... 4354 D b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über das Erwin Rüddel (CDU/CSU) ...... 4355 C Ergebnis der Prüfung der Notwendig- (CDU/CSU) ...... 4356 C keit und Höhe einer Anpassung der Leistungen der Pflegeversicherung nach § 30 des Elften Buches Sozialgesetzbuch Drucksache 18/1600 ...... 4337 B Tagesordnungspunkt 27: c) Antrag der Abgeordneten Pia Zimmermann, a) Antrag der Abgeordneten Annalena Sabine Zimmermann (Zwickau), Diana Baerbock, , Bärbel Höhn, Golze, weiterer Abgeordneter und der weiterer Abgeordneter und der Fraktion Fraktion DIE LINKE: Menschenrecht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kohleaus- auf gute Pflege verwirklichen – Soziale stieg einleiten – Überfälligen Struktur- Pflegeversicherung solidarisch weiter- wandel im Kraftwerkspark gestalten entwickeln Drucksache 18/1962 ...... 4358 B Drucksache 18/1953 ...... 4337 C b) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- Hermann Gröhe, Bundesminister Schröter, , Dr. , BMG ...... 4337 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion Pia Zimmermann (DIE LINKE) ...... 4339 C DIE LINKE: Energiewende durch Koh- leausstiegsgesetz absichern (SPD) ...... 4341 A Drucksache 18/1673 ...... 4358 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 4342 C DIE GRÜNEN) ...... 4358 C Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 4344 C Dr. (CDU/CSU) ...... 4360 C II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ LINKE: Lebensversicherungen auf den DIE GRÜNEN) ...... 4361 D Prüfstand stellen – Kein Schnellverfah- ren zu Lasten der Versicherten Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 4364 A Drucksachen 18/1815, 18/2016 ...... 4391 B (SPD) ...... 4365 B Dr. h. c. (CDU/CSU) . . . . . 4391 C (CDU/CSU) ...... 4367 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE) ...... 4392 C (DIE LINKE) ...... 4369 B Manfred Zöllmer (SPD) ...... 4394 A Dr. (SPD) ...... 4370 C Dr. (BÜNDNIS 90/ Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 4395 C DIE GRÜNEN) ...... 4372 D (CDU/CSU) ...... 4396 D Barbara Lanzinger (CDU/CSU) ...... 4374 A (Heidelberg) (SPD) ...... 4398 D (SPD) ...... 4376 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 4378 C DIE GRÜNEN) ...... 4399 C

Namentliche Abstimmung ...... 4400 C Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Ergebnis ...... 4407 C desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungs- verzug im Geschäftsverkehr Tagesordnungspunkt 28: Drucksachen 18/1309, 18/1576, 18/2037 . . . . 4380 A Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Christian Lange, Parl. Staatssekretär BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einsetzung BMJV ...... 4380 B einer „Expertenkommission zur Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 4381 B die Unterlagen des Staatssicherheitsdiens- Dr. (CDU/CSU) ...... 4382 A tes der ehemaligen Deutschen Demokrati- schen Republik (BStU)“ (BÜNDNIS 90/ Drucksache 18/1957 ...... 4400 C DIE GRÜNEN) ...... 4383 B (CDU/CSU) ...... 4400 C Dirk Wiese (SPD) ...... 4384 B (DIE LINKE) ...... 4402 A Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/ CSU) ...... 4385 A Siegmund Ehrmann (SPD) ...... 4403 A Dr. (CDU/CSU) ...... 4385 C Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 4404 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 4386 B Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) ...... 4405 A (SPD) ...... 4387 B Jörg Hellmuth (CDU/CSU) ...... 4406 A Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 4388 A Nächste Sitzung ...... 4409 C Dr. (CDU/CSU) ...... 4389 C

Anlage 1 Tagesordnungspunkt 29: Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 4411 A a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Absicherung stabiler Anlage 2 und fairer Leistungen für Lebensversi- Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten cherte (Lebensversicherungsreformge- Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD) zur setz – LVRG) namentlichen Abstimmung über den von Drucksachen 18/1772, 18/2016 ...... 4391 A den Abgeordneten , Susanna b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Karawanskij, , weiteren Ab- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- geordneten und der Fraktion DIE LINKE ein- ordneten Susanna Karawanskij, Matthias gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ab- W. Birkwald, Dr. , weiterer schaffung der sachgrundlosen Befristung Abgeordneter und der Fraktion DIE (46. Sitzung, Tagesordnungspunkt 6 b) . . . . . 4411 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 III

Anlage 3 Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deut- schen Demokratischen Republik (BStU)“ (Ta- Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten gesordnungspunkt 28) ...... 4412 B Peer Steinbrück (SPD) zur namentlichen Ab- stimmung über den von den Abgeordneten Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta Krellmann, weiteren Abgeordneten und der Anlage 5 Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurf Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede des eines Gesetzes zur Abschaffung der sach- Abgeordneten Dr. (CDU/CSU) grundlosen Befristung (46. Sitzung, Tages- zur Beratung des Antrags: 20 Jahre nach ordnungspunkt 6 b) ...... 4412 A Kairo – Bevölkerungspolitik im Kontext in- ternationaler Entwicklungszusammenarbeit und der Post-2015-Agenda (46. Sitzung, Ta- Anlage 4 gesordnungspunkt 31) ...... 4413 D Zu Protokoll gegebene Rede des Abgeordne- ten Hartmut Koschyk (CDU/CSU) zur Bera- tung des Antrags: Einsetzung einer „Exper- Anlage 6 tenkommission zur Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Amtliche Mitteilungen ...... 4414 B

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(A) (C)

47. Sitzung

Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin : versicherung nach § 30 des Elften Buches Nehmen Sie bitte Platz. Ich wünsche Ihnen allen ei- Sozialgesetzbuch nen wunderschönen guten Morgen. Die Sitzung ist eröff- Drucksache 18/1600 net. Überweisungsvorschlag: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Ausschuss für Gesundheit (f) hat mit Ablauf des 30. Juni 2014 auf Ausschuss für Arbeit und Soziales ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Für sie ist der Kollege Waldemar Westermayer nach- Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), gerückt. Im Namen des gesamten Hauses begrüße ich Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der den neuen Kollegen sehr herzlich und wünsche eine gute Fraktion DIE LINKE Zusammenarbeit. Menschenrecht auf gute Pflege verwirklichen – (B) (Beifall) Soziale Pflegeversicherung solidarisch weiter- (D) Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung entwickeln darauf verständigt, während der Haushaltsberatungen Drucksache 18/1953 ab dem 9. September 2014 keine Befragung der Bundes- Überweisungsvorschlag: regierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Ausschuss für Gesundheit (f) Stunden durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage Finanzausschuss von Montag, dem 8. September, bis Freitag, dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 12. September 2014, festgelegt worden. Sind Sie damit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann verfah- die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- ren wir so. nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 c auf: Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Bundesminister Hermann Gröhe. gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetz- buch – Leistungsausweitung für Pflegebedürf- Hermann Gröhe, Bundesminister für Gesundheit: tige, Pflegevorsorgefonds (Fünftes SGB XI- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Änderungsgesetz – 5. SGB XI-ÄndG) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, Drucksache 18/1798 heute mit Ihnen den Entwurf des ersten Pflegestärkungs- Überweisungsvorschlag: gesetzes der Bundesregierung diskutieren zu können. Ausschuss für Gesundheit (f) Formal, dem Titel nach, handelt es sich um den Entwurf Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Ausschuss für Arbeit und Soziales Sozialgesetzbuch. Was aber dahintersteckt, ist alles an- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dere als formal. Es geht um ein Thema, das nahezu jede Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO und jeden in diesem Land betrifft, wenn nicht am eige- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- nen Leib, dann doch in der Familie, in der Verwandt- gierung schaft, im Freundeskreis, bei der Arbeit. Es geht um Pflege; es geht um gute Pflege. Darauf kommt es an. Bericht der Bundesregierung über das Ergeb- nis der Prüfung der Notwendigkeit und Höhe (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- einer Anpassung der Leistungen der Pflege- neten der SPD) 4338 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Bundesminister Hermann Gröhe (A) Und es kommt darauf an, dass wir 20 Jahre nach Ein- Dies bedeutet, vielen Menschen werden viele gute Jahre (C) führung dieser wichtigen Sozialversicherung einen ent- geschenkt – wahrlich ein Grund zur Freude! scheidenden, einen notwendigen Schritt nach vorne ge- hen. Ich bin davon überzeugt, dass der vorliegende Damit steigt zugleich die Zahl derjenigen an, die Gesetzentwurf der richtige Schritt ist, die Pflege in unse- voraussichtlich der Pflege bedürfen. Bis zum Jahr 2030 rem Land nachhaltig zu stärken. Knapp 2,5 Millionen – so schätzen wir – werden aus den heute 2,5 Millionen Menschen sind bei uns jeden Tag auf Pflegeleistungen Pflegebedürftigen dann 3,5 Millionen pflegebedürftige angewiesen. Das entspricht der Einwohnerzahl von Köln Menschen, also rund 1 Million mehr, geworden sein. und München zusammen. Rund 950 000 Frauen und Dabei weise ich ausdrücklich darauf hin: Pflege ist nicht Männer sind bei uns in gut 12 000 Pflegediensten und allein eine Sache des Alters. genauso vielen Pflegeheimen beschäftigt. Sie und die (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) unzähligen pflegenden Angehörigen engagieren sich tagtäglich in beeindruckender Weise für ihre Mitmen- Auch ein Unfall, eine tückische Krankheit können für je- schen. Herzlichen Dank für diesen Dienst! den von uns bedeuten, von einem Tag auf den anderen auf Pflege angewiesen zu sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Damen, meine Herren, in mehreren Gesetzen stellen wir deshalb in dieser Wahlperiode die Weichen Diese Zahlen zeigen die gesellschaftliche Dimension, für eine Stärkung unseres qualitativ hochwertigen Pfle- die das Thema Pflege besitzt. Aber es geht nicht um gesystems. Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist Zahlen. Es geht um Menschen. Es geht genau genom- dazu ein wichtiger erster Schritt. Wir stärken die Pflege- men um die Generation unserer Mütter und Väter, Men- bedürftigen. Wir stärken die Angehörigen. Wir stärken schen, denen wir alle unendlich viel verdanken. Eine die Pflegekräfte. gute und den Menschen in seinen individuellen Bedürf- nissen respektierende Pflege ist Ausdruck der Humanität Was heißt das konkret? Das bedeutet jährlich ein Plus unserer Gesellschaft. Es geht darum, dass diese Men- von 2,4 Milliarden Euro an Leistungen für die Pflegebe- schen die pflegerische Begleitung erfahren, die ihren dürftigen und ihre Angehörigen. Davon fließen rund persönlichen Bedürfnissen entspricht. Mit unserem Ge- 1,4 Milliarden Euro in die Stärkung der ambulanten setzentwurf stellen wir genau sie in den Mittelpunkt un- Pflege. Dies entspricht dem Wunsch der ganz überwie- serer Anstrengungen. genden Zahl der Pflegebedürftigen und ihrer Angehöri- gen, Pflege in den eigenen vier Wänden erleben zu kön- Dieser Bundesregierung liegen die Verbesserungen in nen. Alle Leistungsbeträge der Pflegeversicherung (B) der Pflege am Herzen. Das gilt auch für mich ganz per- werden um 4 Prozent angehoben, um der Preisentwick- (D) sönlich. Das zeigt sich darin, dass wir bereits ein gutes lung der letzten drei Jahre Rechnung zu tragen. halbes Jahr nach dem Regierungsstart heute dieses Ge- setz vorlegen. Das zeigt sich darin, dass seit April dieses Wichtig für die Pflege in den eigenen vier Wänden ist Jahres die Erprobung des neuen Begutachtungsverfah- der Umstand, dass wir die Unterstützung für den Umbau rens für den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff läuft. Und der eigenen Wohnung deutlich erhöhen. Da geht es mit- das macht sich auch an Personen fest. Ich freue mich, unter um kleine Maßnahmen, die das Leben wieder dass heute Staatssekretär Karl-Josef Laumann auf der vereinfachen oder sicherer machen, wie Haltestangen Regierungsbank Platz genommen hat. Als Pflegebevoll- oder -griffe oder der Umbau der Toiletten, der Badezim- mächtigter der Bundesregierung wird er nicht nur dieses, mer. All dies wollen wir verstärkt fördern. sondern auch weitere Gesetzeswerke intensiv begleiten. Pflege daheim. Der größte Pflegedienst in Deutsch- Er ist gleichsam Ohr und Sprachrohr für die Belange der land ist nach wie vor die Familie. Hier geht mein beson- Pflege innerhalb der Bundesregierung. Ich freue mich, derer Dank an die vielen Kinder und Enkel, Brüder und ihn bei dieser Aufgabe an meiner Seite zu wissen. Schwestern und alle Verwandten, die ihren Angehörigen oftmals im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) greifen. Herzlichen Dank! Dies trägt zur Menschlichkeit Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brau- unserer Gesellschaft unendlich viel bei. chen eine Pflege, die die Besonderheit eines jeden ein- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der zelnen Pflegebedürftigen wahrnimmt und berücksich- LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜND- tigt. Herzenswärme, Fachkompetenz und auch die Zeit NISSES 90/DIE GRÜNEN) für die kleinen Wünsche, das erhoffen wir uns von einer guten Pflege. Pflege und Pflegebedürftigkeit sind The- Meine Damen und Herren, jede Pflegesituation ist an- men, die uns alle bewegen und in Zukunft eine noch ders. Deswegen bedürfen die Pflegebedürftigen und ihre wichtigere Rolle spielen werden. Am Montag hat die Angehörigen passgenauer Hilfe für ihre jeweilige Le- OECD die aktuellen Gesundheitsdaten für Deutschland benssituation. Unterstützungsleistungen wie die Kurz- veröffentlicht. Demnach ist die Lebenserwartung in zeit-, Verhinderungs-, die Tages- und Nachtpflege sollen Deutschland bei Geburt auf nunmehr 81 Jahre gestiegen, deshalb weiter ausgebaut und besser miteinander kombi- und sie steigt weiter an. Ein heute 65-jähriger Mann darf niert werden können. Bisher wurden diese Leistungen erwarten, weitere gute 18 Jahre zu leben, eine gleichalt- zum Teil gegeneinander aufgerechnet. Das ändert sich rige Frau rund 21 Jahre. Wir werden also in den nächsten nun. Wer beispielsweise bereits ambulante Pflegeleistun- Jahren mehr ältere und alte Menschen unter uns haben. gen und/oder Pflegegeld bekommt, kann künftig dane- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4339

Bundesminister Hermann Gröhe (A) ben die Tages- und Nachtpflege ohne Anrechnung voll Wir werden zu Anfang des nächsten Jahres mit der (C) in Anspruch nehmen. Arbeit am zweiten Pflegestärkungsgesetz beginnen. Wenn wir die Erprobungsergebnisse aus der laufenden Erstmalig – dies ist mir auch ganz wichtig – werden Parallelbegutachtung haben, beginnt sofort der nächste Demenzkranke in der sogenannten Pflegestufe 0 Sach- Schritt: die Realisierung des in dieser Legislaturperiode leistungen der teilstationären Tages- und Nachtpflege in insgesamt umzusetzenden neuen Begutachtungsverfah- Anspruch nehmen können. Gerade für Familien mit de- rens. menziell erkrankten Pflegebedürftigen ist dies eine wichtige Verbesserung. Es ist übrigens ein Vorgriff auf Heute aber bringen wir den ersten kraftvollen Schritt den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff mit seinen künftig zur Verbesserung der Lage der Pflegebedürftigen, ihrer fünf Pflegegraden. Angehörigen und der Pflegekräfte auf den Weg. Neben der ambulanten Pflege nehmen wir auch eine Herzlichen Dank. Stärkung der stationären Pflege vor. Lassen Sie mich zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nächst aber einige Anmerkungen zu denen machen, die Tag und Nacht professionell in unseren Pflegediensten Vizepräsidentin Ulla Schmidt: und Pflegeheimen ihren Dienst tun. Ich habe bereits die Gelegenheit genutzt, ihnen für ihre wichtige Arbeit zu Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt danken. Sie leisten einen Dienst am Menschen und an das Wort Pia Zimmermann. der Gesellschaft, dessen Anerkennung sich auch in einer (Beifall bei der LINKEN) angemessenen Vergütung widerspiegeln muss. (Beifall im ganzen Hause – Pia Zimmermann (DIE LINKE): [CDU/CSU]: Mindestlohn!) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Herbst letzten Jahres legen sich in Wenn ich mir die Vergütungen der ausgebildeten Pfle- Deutschland in vielen Städten immer mehr Menschen gekräfte in einzelnen Bundesländern ansehe, stelle ich samstags fünf vor zwölf auf die Straße und auf Plätze. fest: Diese fallen immer noch sehr unterschiedlich aus. Damit wollen sie zum Ausdruck bringen, dass in der Bei gleicher Arbeit und gleicher Qualifikation gibt es Pflege hierzulande etwas nicht in Ordnung ist, dass die Unterschiede von bis zu 800 Euro im Monat. Ich bin si- Pflege hierzulande am Boden liegt. Ich selber habe cher, dass die Vertragspartner angesichts des ansteigen- 15 Jahre im Pflegebereich gearbeitet und weiß genau: den Fachkräftemangels in diesem Bereich hier zu weite- Sie legen sich auf die Straße für mehr Wertschätzung ren Angleichungen nach oben kommen werden und und Anerkennung ihrer Arbeit, für ein grundsätzlich an- (B) kommen müssen. deres Verständnis von Pflege und für eine menschenwür- (D) dige Pflege. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen, meine Herren, gute Pflege braucht Zeit. Deswegen treiben wir den Abbau überflüssiger Bü- Die Linke unterstützt dieses Anliegen; denn gute und rokratie voran und erhalten dabei die notwendige Quali- umfassende Pflege ist ein Menschenrecht. tätssicherung. Wir setzen auf Betreuung als Ergänzung Und was machen Sie, meine Damen und Herren von zur Pflege; denn Lebensqualität für den Pflegebedürfti- der Großen Koalition? Sie täuschen Handlungsbereit- gen hängt nicht nur an der fachlichen Pflege, sondern schaft vor, anstatt die Probleme in der Pflege ernsthaft auch an anderen Dingen wie Zuhören, Geselligkeit und anzugehen. Vorlesen; jeder von uns kennt solche Lebenssituationen. Deswegen ist es wichtig, dass wir im Rahmen dieses Ge- (Beifall bei der LINKEN – [CDU/ setzes eine halbe Milliarde Euro pro Jahr in die Hand CSU]: Das ist doch gar nicht wahr!) nehmen, um die Zahl der Betreuungskräfte in unseren Die Pflegeversicherung ist ungerecht. Als Teilleistungs- Pflegeeinrichtungen von 25 000 auf bis zu 45 000 zu er- versicherung macht sie gute Pflege vom Geldbeutel der höhen. Das bringt eine spürbare Verbesserung des All- Betroffenen abhängig, und das ist mit uns nicht zu ma- tags und der Lebenssituation in unseren Pflegeeinrich- chen. tungen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gute Pflege darf kein Privileg sein, sondern muss für Wie Sie wissen, werden wir neben diesen Leistungs- alle umfänglich zugänglich sein entsprechend den indi- verbesserungen zum 1. Januar 2015 jährlich rund 1 Mil- viduellen Bedürfnissen jedes einzelnen. liarde Euro in einen Pflegevorsorgefonds einzahlen mit dem Ziel, dann, wenn die sogenannte Babyboomer-Ge- Schauen wir uns einmal an, was Sie vorhaben. Sie neration ins Pflegealter kommt, zu erreichen, dass die wollen die Leistungen der Pflegeversicherung um 4 Pro- Pflegebeiträge nicht ins Uferlose steigen. Dies ist ein zent anheben, das heißt eine Erhöhung um 4 Prozent in konkreter Beitrag zur Generationengerechtigkeit. jeder Pflegestufe. Das verkaufen Sie als Verbesserung. Aber – das muss in aller Deutlichkeit gesagt werden – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hierbei handelt es sich um eine längst überfällige Anpas- neten der SPD) sung der Leistungen der immer teurer werdenden Pflege, 4340 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Pia Zimmermann (A) Herr Minister Gröhe, und zudem ist es eine unzurei- deren tragen Verantwortung, erledigen die Betreuungsar- (C) chende Anpassung. Sie selber schreiben in dem heute beit im Dauerlauf, und alle haben keine Chance, sich vorliegenden „Bericht der Bundesregierung über das Er- fort- und weiterzubilden. gebnis der Prüfung der Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung der Leistungen der Pflegeversicherung“, Die meisten Menschen, die in der Pflege arbeiten, ha- dass Sie noch nicht einmal die vollständige Angleichung ben diesen Beruf ergriffen, weil sie gerne mit Menschen an die Preisentwicklung vornehmen, weil diese in den zusammenarbeiten wollen. Für sie sind Gespräche, Jahren 2011 und 2012 vom hohen Anstieg der Energie- Unterstützung bei der Grundpflege sowie soziale Inter- preise bestimmt war. Dies, meine Damen und Herren, aktion elementarer Bestandteil ihres beruflichen Selbst- lasse ich ganz unkommentiert. verständnisses. Die Unterteilung von Pflege- und Sorge- arbeit in verschiedene Arbeitsprozesse, nämlich Pflege Nur so viel: Hier zeigt sich deutlich, dass die immer auf der einen Seite und Betreuung und Unterstützung auf wieder von den Verbänden formulierte Kritik an den feh- der anderen Seite, zerstört das Verständnis von umfas- lenden Regeln für diese Leistungsdynamisierung durch sender Pflege. Herr Minister, so wird umfassende Pflege die Pläne der Bundesregierung einmal mehr bestätigt weiter abgewertet, und eine Attraktivitätssteigerung der wird. Damit Anpassungen der Leistungen der Pflegever- Pflegeberufe findet nicht statt. sicherung nicht weiterhin von politischer Willkür und von politischem Gutdünken abhängig sind, fordern wir Meine Damen und Herren, kommen wir zur Bezah- eine gesetzliche, verbindliche jährliche Leistungsdyna- lung. Damit Lohndumping in der Pflege endlich ein Rie- misierung. gel vorgeschoben wird, muss der Pflegemindestlohn für Helferinnen und Helfer auf 12,50 Euro, wie es auch (Beifall bei der LINKEN) Verdi fordert, erhöht werden. Darüber hinaus muss die Pflege vollumfänglich ausfi- (Beifall bei der LINKEN) nanziert werden. Wir haben hier eine gesellschaftliche Verantwortung. Menschen mit Pflegebedarf, mit körper- Für Fachkräfte darf ein Bruttogehalt von 3 000 Euro lichen oder psychischen Beeinträchtigungen haben einen nicht unterschritten werden. Auch die Arbeitsbedingun- Anspruch auf eine gute umfassende Pflegeversorgung, gen für alle Beschäftigten in der Pflege müssen spürbar die sich nicht an Profiten orientiert, sondern an ihrem in- verbessert werden. Aber statt einer solchen Anerken- dividuellen Bedarf. nung der professionellen Pflegearbeit schaffen Sie mit (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE dieser Reform ein neues Einfallstor für prekäre Beschäf- LINKE]) tigung in der Pflege. Sie wollen Pflegesachleistungen in niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsangebote (B) Herr Minister Gröhe, diese Verantwortung darf nicht umwidmen. Die Pflegesachleistungen waren bisher für (D) ins Private abgeschoben werden. die Finanzierung von ambulanten Pflegedienstleistungen (Beifall bei der LINKEN) vorgesehen. Nun sollen aus diesen Mitteln Aufwands- entschädigungen für ehrenamtliche Helferinnen und Heute ist es so: Wer sich professionelle Pflege nicht leis- Helfer bezahlt werden. Meine Damen und Herren, so ten kann, ist auf die Unterstützung und auf ehrenamtli- geht das nicht. Das dahinterstehende Verständnis ist che Pflege aus der Familie und dem sozialen Umfeld an- doch Folgendes: Pflege kann jeder. – Das ist eine Miss- gewiesen. Wer wo wann von wem gepflegt wird, muss achtung der hochanspruchsvollen Arbeit der Pflege- aber eine selbstbestimmte Entscheidung der Betroffenen kräfte. sein. Diese Entscheidung darf natürlich nicht durch fi- nanzielle Nöte beschränkt werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass mit diesem Schritt ein eigenständiger Sektor an niedrigschwelligen Und da ist noch etwas: Sie haben die Personalsitua- Entlastungsangeboten geschaffen und der private Pflege- tion in der Pflege überhaupt nicht im Fokus Ihres politi- markt weiter ausgebaut werden soll. schen Handelns. Sie behaupten zwar, mit der ersten Stufe der Pflegereform die Personalsituation verbessern Meine Damen und Herren, die Linke fordert Sie auf: zu wollen, tatsächlich tun Sie das aber nicht. Herr Minis- Lassen Sie die Pflege nicht länger am Boden liegen! ter Gröhe, es kommt nicht nur darauf an, die Anzahl der Köpfe zu erhöhen, sondern es kommt auch darauf an, die (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ganzheitlichkeit in der Pflege wiederherzustellen und Wir wollen das Recht auf selbstbestimmte Pflege in den das, was wir haben, zu behalten. Wenn Sie auf der Seite Mittelpunkt stellen, sowohl für die Pflegebedürftigen als der Betreuungskräfte den Personalschlüssel erhöhen, auch für die Pflegenden. Pflege und Betreuung müssen aber auf der Seite der Pflegefachkräfte alles beim Alten sich an den individuellen Bedürfnissen der Pflegebedürf- lassen, senken Sie insgesamt das Pflegeniveau. tigen ausrichten. Angehörige und nahestehende Perso- (Beifall bei der LINKEN) nen müssen entlastet werden. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen unbedingt grundlegend verbessert Weder für die Pflegefachkräfte noch für die Betreuungs- werden. Das Pflegepersonal muss gerecht entlohnt wer- kräfte wird es weniger Belastung geben. Die einen tra- den. gen Verantwortung und müssen zusehen, wie sie im Schweinsgalopp ihre Arbeit erledigt bekommen; die an- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4341

Pia Zimmermann (A) Um all das verwirklichen zu können, braucht es eine Diese Bausteine – schauen Sie in unseren Koalitionsver- (C) entsprechende Finanzierung; das ist klar. Wir als Partei trag – haben wir miteinander verabredet. Wir wollen der Pflegegerechtigkeit nicht nur diesen ersten Umsetzungsschritt, sondern wir wollen die Ausbildungsreform und natürlich auch eine (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem bessere Verankerung sowie eine Verständigung mit Län- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sabine Weiss dern und Kommunen darüber, was deren Aufgabe ist. [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist ja ganz neu!) Frau Zimmermann, ich glaube, da sind wir einer Mei- schlagen Ihnen dafür die solidarische Bürgerinnen- und nung: Wir hier in Berlin, in diesem Saal, können nicht Bürgerversicherung vor. sagen, welche Infrastruktur in einer Stadt notwendig ist. Da müssen wir uns schon auf einen gemeinsamen Weg Vielen Dank. begeben. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Neben all diesen Punkten ist uns ein wichtiges Anlie- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Hilde Mattheis, gen, dass – das steht auch so im Koalitionsvertrag – in SPD-Fraktion. dieser Legislatur so schnell wie möglich die Reform des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Pflegebedürftigkeitsbegriffs kommt. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Hilde Mattheis (SPD): Wenn wir jetzt diese Schritte miteinander vereinba- Guten Morgen, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen ren, ist uns sehr wohl bewusst: Wir gehen damit einen und Kollegen! Vor ungefähr einem Jahr attestierte eine Weg und nehmen einige Leistungen vorweg, aber – auch Allensbach-Studie der Politik: Nur 64 Prozent der Be- das ist eine Vereinbarung, die wir getroffen haben – die völkerung glauben, dass sich bei der Pflege in der nächs- Reform dieses Begriffes wird kommen. Wenn nicht jetzt, ten Zeit etwas ändern werde. 56 Prozent glauben sogar, wann dann in einer Großen Koalition? dass die Politik überhaupt nicht in der Lage sei, für gute Wir wollen mit der Vorwegnahme von Pflegeleistun- Pflege zu sorgen. gen sehr schnell die Situation von Pflegebedürftigen und Diese Ergebnisse haben uns damals sehr beunruhigt. ihren Angehörigen verbessern. Wir haben lange darauf Ich glaube, wir haben uns in dieser Koalition auf einen gewartet. guten Weg gemacht, genau das zu widerlegen und zu sa- (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das (B) (D) gen: Wir sind bereit, und wir können in diesem Land für stimmt!) gute Pflege viel bewegen. – Ich fordere die Opposition auf, uns auf diesem Weg positiv und kritisch-konstruktiv In der letzten Legislaturperiode war der Erfolg in diesem zu begleiten. Bereich nur sehr eingeschränkt. In dieser Legislaturpe- riode – das zu sagen, gestatten mir die Fachpolitiker aller (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten anderen Fachrichtungen; man ist, wenn man mit Herz- der CDU/CSU) blut für eine Sache streitet, immer ein Stück weit mit Fundamentalkritik ist an der Stelle, an der es um Leis- Scheuklappen versehen – ist das, was Pflege anbelangt, tungsverbesserungen für Pflegebedürftige geht, nicht eines der zentralen Anliegen dieser Regierung. immer unbedingt dienlich. Wir wollen, dass in diesem (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Pia Land bessere Leistungen bei den Pflegebedürftigen und Zimmermann [DIE LINKE]: Dafür machen ihren Angehörigen ankommen. Das tun wir mit diesem Sie aber ganz schön wenig!) ersten Umsetzungsschritt. Jetzt stellen Sie sich vor, wir hätten hier sehr schnell (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE für alle Bereiche, die ich aufgezählt habe, etwas vorge- GRÜNEN]: Aber klein!) legt! Sorgfalt geht hier vor Schnelligkeit. Lassen Sie uns Wir wollen uns in dieser Legislaturperiode nicht nur mit in dieser Legislatur lieber „step by step“ die Punkte um- diesem einen Baustein zufriedengeben. Unser Grund- setzen, die wir miteinander vereinbart haben. konzept für bessere Pflege, für die Unterstützung von Die Verbesserungen, zu denen es in der ersten Stufe pflegenden Angehörigen und für mehr Anerkennung und kommen wird, sind nicht banal. Da geht es um bessere Wertschätzung – da finden Sie uns ganz massiv an Ihrer und flexiblere Leistungen für Angehörige. Da geht es Seite –, darum, einen Mix hinzubekommen: Wenn man die Leis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der tungen in der Kurzzeitpflege oder der Verhinderungs- CDU/CSU) pflege nicht voll ausschöpft, dann kann man im Rahmen der Leistungshinterlegung die Mittel, die für den einen unser Konzept sieht mehrere notwendige Bausteine vor. Bereich vorgesehen waren, für den anderen Bereich nut- zen. Das ist doch gut. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir nicht! – Pia Wir wollen, dass die Tages- und Nachtpflege stärker Zimmermann [DIE LINKE]: Dann müssen Sie unterstützt wird. Denn die Lebenssituation in den Fami- auch etwas tun!) lien ist einfach so, dass zum Beispiel Menschen mit De- 4342 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Hilde Mattheis (A) menz eine Tagesstrukturierung nicht mehr hinbekom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) men, dass Angehörige wenigstens in der Nacht oder der CDU/CSU) zeitweise am Tag entlastet werden wollen. Das ist doch Beim Thema Pflege braucht es nicht nur eine breite die Lebensrealität. gesellschaftliche Akzeptanz, sondern auch eine breite (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesellschaftliche Unterstützung. Pflege kommt nicht im- der CDU/CSU) mer laut daher. Sie betrifft einen Bereich des Lebens, in dem es darum geht, dass Menschen ihre Würde behalten Es wurde hier eine Individualisierung gefordert; auf können und zu garantieren, dass Solidarität in der Ge- diese Weise kann man sie ein Stück weit erreichen. sellschaft greift – eine Solidarität, die darauf beruht, dass diejenigen geben, die geben können, und diejenigen neh- Ein Punkt, der schon angeführt wurde, ist für uns von men können, die den Bedarf haben; das betrifft den An- Bedeutung: Wir wollen die Leistungen nach § 45 b fang und das Ende des Lebens. So definieren wir Gene- SGB XI verbessern und flexibilisieren. Das heißt auch, rationengerechtigkeit. sich damit auseinanderzusetzen – das ist von Wichtigkeit –: Wie kriegen wir es hin, zwischen einer Entlastungsleis- Lassen Sie uns das in die Tat umsetzen, damit die tung, einer Betreuungsleistung und einer Fachpflegeleis- Menschen davon überzeugt werden: Politik ist imstande, tung zu differenzieren und das Zusammenspiel so indivi- etwas für die Pflege zu tun. Das wollen wir gemeinsam duell zu gestalten, dass es wirklich dem Bedarf der tun. Menschen gerecht wird, Vielen Dank. (Beifall der Abg. [SPD]) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) anstatt einfach einen kategorischen Schnitt zu machen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: und für alle etwas zu hinterlegen? Wir selber können da- bei nicht den Bedarf im Einzelfall ermessen; aber wir Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Elisabeth können den Rahmen dafür angeben, dass sich Bedarfe an Scharfenberg, Bündnis 90/Die Grünen. individuellen Bedürfnissen ausrichten. Da machen wir jetzt mit diesem Gesetz einen ersten wichtigen Schritt Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und machen einen Knopf dran, so wie wir es jahrelang NEN): gefordert haben. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Weiterentwicklung in der Pflege, Neuorientierung Der zweite Punkt. Ja, wir brauchen mehr Pflegefach- in der Pflege, heute nun die Stärkung der Pflege – egal (B) kräfte. Sie haben es ausgeführt; wir alle sind uns da im welchen Namen Ihre Reform trägt, sie bleibt weit hinter (D) Grunde einig. Wie kriegen wir das hin? Da gibt es kei- den berechtigten Erwartungen der betroffenen Menschen nen Königsweg; da gibt es viele Wege. Ein Weg ist eine und auch der Expertinnen und Experten sowie der Ver- Ausbildungsreform. Ein weiterer ist, den Beruf so attrak- bände zurück. tiv zu machen, dass die Verweildauer erhöht wird, dass Menschen diesen Beruf so lange ausüben können, bis sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in die Lebensphase der Rente eintreten, und ihn nicht Auch innerhalb der Koalition scheint keine uneinge- vorher verlassen müssen, weil die psychische und kör- schränkte Harmonie zu herrschen. perliche Belastung so groß ist. Dazu brauchen wir ein Ausbildungsgesetz. Aber wir brauchen eben auch eine (Jens Spahn [CDU/CSU]: Doch, doch!) gute Bezahlung und einen guten Fachkräfteschlüssel. All Frau Kollegin Mattheis, Sie haben dieser Tage nochmals diese Punkte betreffen die Rahmenbedingungen; wir – übrigens vollkommen zu Recht – den unsinnigen Pfle- werden sie angehen. gevorsorgefonds infrage gestellt, und die Reihen werden immer dichter; die taz berichtet heute davon. Wir haben den Bereich der Vorsorge in der Tat stark im Blick. Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, Vor- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, wenn die taz be- sorge zu organisieren. Eine Möglichkeit ist, Geld anzu- richtet, dann ist das gefährlich!) sparen, womöglich aber mit dem Risiko eines hohen Re- Auf den unsinnigen Pflegevorsorgefonds komme ich alwertverlustes. Eine andere Möglichkeit ist, Gelder später noch einmal zurück. einzusetzen, um Vorsorge dafür zu treffen, dass es im Jahr 2030 bzw. 2033 genug Arbeitskräfte gibt, die Men- Zunächst stelle ich fest: Ja, wir brauchen eine bessere schen professionell pflegen können und in diesem Beruf Pflege, und dafür brauchen wir wesentlich mehr Geld. ihre Erfüllung finden. – Dass dieser Beruf erfüllt, dass Deswegen ist es im Grundsatz richtig, dass diese Koali- ihn sehr viele Menschen gerne ausüben möchten, zeigen tion den Beitragssatz zur Pflegeversicherung deutlich unter anderem die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit: anheben will; das ist unbestritten. Auf eine Ausbildungsstelle kommen drei Bewerber. An (Beifall des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) diesem Punkt müssen wir ansetzen. Wir wollen durch eine Erhöhung der Vorsorgemittel im Bereich Pflege da- Ich will auch nicht abstreiten, dass das eine gewisse poli- für sorgen, dass im Jahr 2030 genügend gut ausgebildete tische Kraft erfordert. Aber ich frage mich: Ist das schon Fachkräfte vorhanden sind, um die Menschen zu pfle- Leistung genug? Nein, es ist nicht genug; denn mehr gen. Geld allein ist kein Wert an sich, mehr Geld allein ist Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4343

Elisabeth Scharfenberg (A) auch keine Reform. Geld ersetzt keine Ideen, und diese frage an die Bundesregierung gerichtet. Das Ergebnis (C) Koalition hat keine Ideen. war: Sie konnten oder wollten keine halbwegs konkrete Zahl nennen oder sagen, was genau dieser Fonds eigent- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ lich bringt. Mit anderen Worten: Sie können Ihre eigene CSU und der SPD) Politik gar nicht erklären, weil Sie selbst nicht genau Sie haben keine Vision, wohin sich der Bereich Pflege in wissen, was der Fonds bringen soll, oder weil Sie genau unserer Gesellschaft entwickeln könnte. Sie haben kein wissen, dass der Fonds nichts taugt. mutiges, kein fortschrittliches Konzept, in welche Rich- (Zuruf von der SPD: Alternativen bitte!) tung Sie die pflegerische Versorgung in unserem Land weiterentwickeln wollen. Bis auf Herrn Spahn glaubt in dieser Koalition ja nicht wirklich jemand an diesen Unsinn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Woher wissen Sie Völlig klar ist: Wir können nicht weitermachen wie denn das? – [SPD]: Was bisher. Die Menschen in unserem Land wollen das auch haben Sie denn vor?) nicht, und doch machen Sie einfach so weiter. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Minister (Mechthild Rawert [SPD]: Das stimmt nicht!) Gröhe, wie erklären Sie denn eigentlich den Pflegebe- Sie setzen den Pflegezug auf die Schiene und lassen ihn dürftigen und den Angehörigen, den Pflegekräften und in die falsche Richtung fahren. Aber bei einem Zug, der den gesetzlich Versicherten, dass Sie zwar viel Geld aus- in die falsche Richtung fährt, ist eben auch jeder Halte- geben werden – es ist das Geld der Versicherten, das Sie bahnhof falsch. Auch wenn Sie uns hier erzählen, dass ausgeben –, aber die Probleme nicht wirklich angehen? dieser Zug durch blühende Landschaften in Form Ihrer Was sagen Sie den ausgepowerten Pflegekräften? Was wirr zusammengewürfelten Leistungsverbesserungen sagen Sie den überforderten pflegenden Angehörigen, fährt, können Sie es nicht schönreden. Am Ende des Ta- die mit ihren realen Problemen, mit denen sie sich tag- ges liefern Sie Stückwerk ab. Sie nehmen die wirklich täglich auseinandersetzen müssen, weiterhin alleingelas- brennenden Probleme nicht in Angriff. sen werden? Diese Menschen werden dieser Debatte heute kopfschüttelnd und enttäuscht folgen. Herr Gröhe, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie bleiben hier nicht nur Antworten schuldig – das Machen wir es konkret! muss ich Ihnen ganz offen sagen –, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt wollen wir (Mechthild Rawert [SPD]: Sie sollten schon es wissen!) mal besser zuhören! Das wäre hilfreich gewe- (B) sen!) (D) Sie haben wieder einmal die überfällige Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vertagt. sondern ignorieren auch die Lebenswelt und die Lebens- wirklichkeit genau derer, die eine echte Pflegereform (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist über- dringend gebraucht hätten. haupt nicht das Thema! Weiter! – [CDU/CSU]: Qualität geht vor Schnelligkeit, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Kollegin!) sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Ob er dann, wenn er überhaupt jemals kommt, die hohen Erwartungen erfüllt, die über Jahre geweckt wurden, Dieses Gesetz ist keine Pflegereform. Es ist allenfalls bleibt abzuwarten. Sie tun nichts für die Pflegekräfte. Sie eine Pflegeversicherungsreform, eine sehr teure, aber be- tun nichts gegen den Fachkräftemangel. Über die ange- stimmt keine fortschrittliche Reform. Pflege ist mehr, kündigte Reform der Pflegeausbildung sind Sie sich viel mehr als nur die Pflegeversicherung. Das müssen auch noch nicht einig. wir endlich alle begreifen. Sie müssen sich viel deutli- cher darauf besinnen, worum es bei den Betroffenen ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gentlich geht. Deswegen sollten Sie sich, deswegen soll- sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE ten wir uns alle fragen, welche Versorgung wir uns denn LINKE]) für uns selbst wünschen. Sagen Sie einmal ganz ehrlich: Sie haben auch noch nichts zur besseren Vereinbarkeit Wollen Sie für sich wirklich nur etwas mehr von dem, von Pflege, Familie und Beruf unternommen. Ebenso was wir schon haben? Das ist nämlich genau der Kurs, wenig schaffen Sie es, die Pflegeversicherung endlich den Sie hier fahren. Ist es wirklich damit getan, die Leis- nachhaltig und sozial gerecht zu finanzieren. tungen der Pflegeversicherung um 4 Prozent anzuheben? Ich will das nicht kleinreden, wirklich nicht. Stattdessen bleibt es dabei, dass sich die Privatversi- cherten konsequent aus der Solidarität mit den (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das tun Sie die Schwächsten entziehen können. ganze Zeit! Seit fünf Minuten!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber ist das die Antwort auf die Probleme, die wir in der Pflege haben, die dieses Land braucht? Dafür parken Sie 1 Milliarde Euro pro Jahr in einem Pflegevorsorgefonds, der nicht funktionieren kann. Auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – hier wird nur der Anschein von Nachhaltigkeit erweckt. Mechthild Rawert [SPD]: Welche Antwort Wir haben dazu vor einigen Wochen eine Kleine An- braucht denn dieses Land?) 4344 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Elisabeth Scharfenberg (A) Wird diese Antwort den Menschen die Angst vor einem So mutig es erscheinen mag, der Pflegeversicherung (C) unwürdigen Leben im Alter nehmen? mehr Geld zur Verfügung zu stellen, so kraftlos, beinahe feige, ist das, was Sie diesbezüglich am Ende des Tages (Volker Kauder [CDU/CSU]: Solange wir das anstellen. machen, haben wir keine Angst!) (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Die Rede ist Geht es nicht vielmehr darum, den Menschen eine Per- kraftlos! – Thomas Oppermann [SPD]: Das ist spektive zu eröffnen, damit sie selbstverständlich auch eine enttäuschende Rede!) bei Pflegebedürftigkeit an dieser Gesellschaft teilhaben können, Meine Fraktion, ich und auch die betroffenen Menschen im Land haben wirklich mehr von Ihnen erwartet. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Was sind denn Ihre Vorschläge? Noch kein einziger Vor- Vielen Dank. schlag!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – die Perspektive, dass ein Leben im Alter und bei Pflege- Tino Sorge [CDU/CSU]: Wir haben heute bedürftigkeit keine Last, sondern ganz normaler Be- auch mehr von Ihnen erwartet!) standteil unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ist? Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Thomas Oppermann [SPD]: Was schlagen Sie Vielen Dank. – Der nächste Redner ist Dr. Georg vor?) Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion. Teilhabe ist ein elementares Grundbedürfnis, ein ele- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. mentares Recht. Das spielt in Ihrem Reformwerk aber Dr. Karl Lauterbach [SPD]) überhaupt keine Rolle. Dabei ist es das, worum es uns allen im Kern geht. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Frau (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Scharfenberg und Frau Zimmermann, Ihre Kritik war Dazu braucht es ein grundlegendes Umdenken. Wir mir zu pauschal. müssen Pflege wieder stärker als Aufgabe und Verant- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wortung von uns allen und für uns alle begreifen. Ein neten der SPD – Elisabeth Scharfenberg bisschen Rumwerkelei an der Pflegeversicherung ist ein- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damit müs- fach zu wenig. Es braucht ein deutliches Signal zur Stär- sen Sie leben! – Britta Haßelmann [BÜND- (B) kung ambulanter Versorgungsstrukturen. Wir brauchen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird uns auch zu (D) einen neuen Pflegebegriff, mit dem nicht nur bestehende wenig sein, was jetzt kommt!) Leistungen der Pflegeversicherung erweitert werden, sondern mit dem flexible Formen von Leistungen bereit- Wenn man diesem Thema gerecht werden will, dann gestellt werden, Leistungen, die die Betroffenen bei der muss man schon beim Thema bleiben Führung eines selbstbestimmten Lebens wirklich unter- (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE stützen. GRÜNEN]: Ich habe das Thema auf den Punkt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gebracht!) Hilde Mattheis [SPD]: Das machen wir jetzt!) und die Substanz zumindest ein bisschen würdigen, dann Das Allerwichtigste ist: Die Pflege muss wieder dort muss man sich mit dem beschäftigen, was wir tatsäch- gestaltet und gesteuert werden, wo sie stattfindet, das lich verbessern. heißt vor Ort, in den Gemeinden, in den Vierteln, in den (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Quartieren, dort, wo die Menschen leben. Das kann eine NEN]: Dann legen Sie einmal los, Herr Pflegeversicherung alleine aber nicht stemmen. Wir Nüßlein! Aber inhaltlich!) müssen vor allem die Kommunen in die Lage versetzen und dabei unterstützen, diese Gestaltungsaufgabe wieder Wenn Sie im Detail Kritik üben wollen, können Sie das wahrnehmen zu können. Das ist die eigentliche Zu- gerne tun. Wenn Sie hier aber in Minioppositionsmanier kunftsaufgabe, um die es geht. in Bausch und Bogen alles pauschal verdammen, was wir hier machen, dann werden Sie nicht einmal Ihrer In Ihrem Koalitionsvertrag steht einiges dazu drin. Rolle als Opposition ordentlich gerecht. Dort steht auch, dass Sie sich mit der Situation der Kom- munen beschäftigen wollen und klären wollen, wie die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Rolle der Kommunen bei der Pflege gestärkt werden neten der SPD) kann. Nur, es passiert einfach nichts. Man hört rein gar Der Deutsche Bundestag hat vor 20 Jahren die Pflege- nichts von Ihnen dazu. versicherung beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tino Sorge [CDU/CSU]: Machen Sie doch NEN]: Jetzt mal zur Sache!) einmal die Augen und die Ohren auf! – Mechthild Rawert [SPD]: Sie müssen auf den Sie war damals gar nicht unumstritten, was man heute Herbst warten!) gar nicht mehr glauben mag; denn wir alle wissen, dass Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4345

Dr. Georg Nüßlein (A) diese Pflegeversicherung ein Erfolgsmodell ist, um das wie der Tages- und Nachtpflege. Damit greifen wir die (C) uns Europa mittlerweile beneidet. Wünsche der vielen pflegenden Angehörigen auf, entlas- tende und unterstützende Pflegeleistungen flexibler in (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE Anspruch nehmen zu können. GRÜNEN]: Das bloß nie bei den Menschen ankam!) Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich für eine weitere Flexibilisierung werben, insbesondere Wir haben in den letzten beiden Legislaturperioden be- im Hinblick auf die sechsmonatige Wartezeit im Bereich reits deutliche Verbesserungen vorgenommen: Wir ha- der Verhinderungspflege. Hier geht es darum, mehr ben Leistungen dynamisiert, Maßnahmen zur Entlastung Menschen zu motivieren bzw. ihnen die Möglichkeit zu pflegender Angehöriger und Zusatzleistungen für an De- geben, in einem plötzlich und überraschend auftretenden menz erkrankte Pflegebedürftige beschlossen; das ist Fall der Pflegebedürftigkeit häusliche Pflege zu prakti- nichts Neues. Zusammengenommen gab es dadurch zieren. Über diesen Punkt sollten wir im Laufe des Ver- Leistungsverbesserungen mit einem Volumen von über fahrens noch einmal diskutieren. 3 Milliarden Euro. Von einem Stillstand in der Pflegepo- litik zu sprechen, war also schon vor der Reform, über die wir heute in erster Lesung debattieren, falsch. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischen- (Beifall bei der CDU/CSU – Pia Zimmermann frage der Kollegin Zimmermann? [DIE LINKE]: Das stimmt! Sie war rückwärts- gewandt!) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Es geht weiter voran. Mit dem ersten Pflegestär- Ja, gern. kungsgesetz bringen wir in einer ersten Stufe – ich sage das ganz bewusst; hier hat die Nummerierung tatsächlich Vizepräsidentin Ulla Schmidt: einmal einen Sinn, weil es in dieser Legislaturperiode Frau Kollegin Zimmermann. zwei Reformstufen geben wird – die im Koalitionsver- trag vereinbarten Verbesserungen im Bereich Pflege auf Pia Zimmermann (DIE LINKE): den Weg. Dabei geht es um eine Vielzahl von Verbesse- rungen und um ein Volumen von 2,4 Milliarden Euro. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Nüßlein, dass Sie meine Frage zulassen. Wir haben vor, die Leistungsbeträge um 4 Prozent an- Sie haben gerade gesagt, dass Sie gerne möchten, zuheben. Dabei geht es um den Inflationsausgleich. dass Menschen möglichst lange in ihren eigenen vier (B) (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Wänden gepflegt werden können. Sie haben die Verhin- (D) GRÜNEN]: Das ist ja wohl auch eine Selbst- derungspflege und weitere Möglichkeiten angesprochen. verständlichkeit!) Das alles ist ja nur für einen bestimmten Zeitraum ge- dacht. Eine Person, die pflegebedürftig ist, muss aber – Da können Sie ruhig schreien. – Aber allein das ist meistens mehrere Jahre gepflegt werden. Dieser Zustand ganz wichtig für die Betroffenen, für die Pflegebedürfti- setzt ein, ändert sich meistens aber nicht mehr. Das sind gen. Mit dem von Ihnen viel gescholtenen Vorsorge- die Fälle, von denen ich ausgehe. fonds setzen wir ein Zeichen, Wie können wir mit Blick auf die zu pflegenden Per- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE sonen, aber auch mit Blick auf die Pflegenden eine Re- GRÜNEN]: Das ist aber ein teures Zeichen, gelung treffen, die verhindert, was meistens der Fall ist: und nutzlos!) dass die Frauen ihren Beruf aufgeben oder in Teilzeit ge- dass wir das System zukunftsfähig machen wollen. Auch hen müssen und dann, wenn sie nach der Arbeit, meinet- das sollten Sie aus meiner Sicht würdigen. wegen nach einem vierstündigen Arbeitstag, nach Hause kommen, bei besonders schweren Pflegefällen noch Die Leistungen im Bereich der häuslichen Pflege 20 Stunden am Tag im Stand-by-Modus sind, weil sie werden deutlich verbessert und flexibilisiert; denn wir bestimmte Pflegeleistungen erbringen müssen? Wie wollen jedem älteren Menschen ein selbstbestimmtes wollen Sie es regeln, dass die Pflege nicht auf den soge- Leben in der eigenen Wohnung ermöglichen, solange nannten größten Pflegedienst, den wir haben, nämlich das irgendwie geht. Das ist ein gerechtfertigter und der auf die Familie und das soziale Umfeld, zurückfällt? Wie wichtigste Anspruch älter werdender pflegebedürftiger können wir das so regeln, dass die Pflege professionell Menschen. durchgeführt wird und es auch zu einer Entlastung der (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Angehörigen und der pflegenden Personen kommt? GRÜNEN]: Ja! Aber was tun Sie dafür?) (Beifall bei der LINKEN) Dafür wollen wir das Zusammenwirken von Fachkräf- ten, Angehörigen und Ehrenamtlichen intensivieren. Die Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Bereiche ambulante Pflege, innovative Wohn- und Pfle- Zunächst einmal will ich in meiner Antwort auf Ihre geformen sowie stationäre Einrichtungen sollen Hand in Frage ganz ausdrücklich betonen, dass man die Pflege in Hand arbeiten. Den pflegenden Angehörigen helfen wir der Familie nicht durch professionelle Pflege ersetzen insbesondere durch die vorgesehenen Verbesserungen sollte. Die Pflege in der Familie müssen wir wertschät- im Bereich der Kurzzeit- und Verhinderungspflege so- zen; wir können sie gar nicht hoch genug bewerten. In 4346 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Dr. Georg Nüßlein (A) der Tat müssen wir auch mit Blick auf das Arbeitsrecht fall – Sie haben zu Recht gesagt, das sei nicht immer (C) die notwendigen Voraussetzungen schaffen, damit hier eine Frage des Alters –, können jetzt zusätzliche Betreu- Spielräume entstehen. Aber man kann natürlich nicht sa- ungs- und Entlastungsleistungen in Anspruch nehmen. gen: Auf der einen Seite wollen wir, dass in der Familie Damit räumen wir den Pflegebedürftigen mehr Wahl- gepflegt wird. Auf der anderen Seite stehen wir dem möglichkeiten ein. Das ist ja etwas, was Sie einfordern. aber kritisch gegenüber, weil die Pflege in der Familie Insofern sind wir da auf dem richtigen Weg. Ich hätte ge- nicht so professionell, wie wir es uns wünschen, durch- wünscht, dass Sie das mehr würdigen. geführt werden kann; das kam ja in Ihrer Frage zum Ausdruck. Wer seinen Anspruch auf ambulante Pflegesachleis- tungen nicht voll ausschöpft, der kann den nicht genutz- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nein! Das hat ten Betrag künftig für niedrigschwellige Angebote, etwa sie ja gar nicht gesagt!) in der Betreuung, verwenden. Auch das ist ein Beispiel für mehr Wahlmöglichkeiten. Im Gegenteil, das, was die ambulanten Dienste an dieser Stelle leisten, und das, was in der Familie leistbar Ich will noch einmal deutlich machen – ich habe das ist, sollte miteinander verknüpft werden. Ich sehe eine schon in meiner Antwort auf Ihre Frage gesagt –, dass Chance darin, dies fortzuführen. Ich will das überhaupt die Kritik mancher Pflegeverbände an dieser Neurege- nicht, wie Sie es gerade zwischen den Zeilen angedeutet lung nicht gerechtfertigt ist. Ich bin der festen Überzeu- haben, infrage stellen. Ganz im Gegenteil, ich glaube, gung, dass wir bei der Betreuung und Entlastung von dass es uns durch das, was wir vorhaben, gelingen wird, Pflegebedürftigen mehr ehrenamtlich tätige Menschen den ambulanten Bereich zu stärken und dafür Sorge zu brauchen und zum bürgerschaftlichen Engagement be- tragen, dass Pflege möglichst lange im familiären Um- reite Personen fördern müssen. Wenn wir den Anspruch feld praktiziert werden kann. Aber das geht eben nur un- haben: „ambulant vor stationär“, dann können wir dies ter bestimmten Bedingungen. nur mit Ehrenamtlern umsetzen. Wir wollen die Anfor- derungen an die Qualität nicht reduzieren oder infrage Für Personen, die so pflegebedürftig sind, dass die stellen. Ganz im Gegenteil: Wir werden die Anforderun- Pflege nicht mehr zu Hause zu leisten ist, gibt es statio- gen an die Qualität aufrechterhalten, aber zusätzlich die näre Einrichtungen, die wir an dieser Stelle ebenfalls Bedeutung des Ehrenamts in diesem Zusammenhang stärken, und zwar dadurch, dass wir mehr Personal zur ganz deutlich herausstellen. Verfügung stellen; der Personalschlüssel ändert sich ja. Deshalb kann ich nicht erkennen, warum man das in- Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskom- frage stellen sollte. Ganz im Gegenteil, wir tun das Rich- petenz in der sogenannten Pflegestufe 0 erhalten künftig tige, meine Damen und Herren. Zugang zu Leistungen der Tages- und Nachtpflege sowie (B) (D) (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Ich habe das der Kurzzeitpflege. Dies ist bereits ein wichtiger Schritt nicht infrage gestellt!) zur Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und betrifft auch die Frage, wie man die häusliche Pflege – Sie haben das infrage gestellt, befördert. (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Nein! – In der stationären Pflege – auch das habe ich ange- Mechthild Rawert [SPD]: Das hat sie gar nicht deutet – wird das Betreuungs- und Aktivierungsangebot gemacht!) schon vor Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbe- griffs erweitert und auf alle Pflegebedürftigen ausge- jedenfalls zwischen den Zeilen; dehnt. Das Betreuungsverhältnis wird auf eine Betreu- (Dr. [DIE LINKE]: Sie sollen nicht ungskraft zusätzlich für 20 Pflegebedürftige verbessert, zwischen den Zeilen lesen, sondern die Frage was den Einsatz von weiteren 20 000 Betreuungskräften beantworten!) möglich macht. Allerdings muss der Arbeitsmarkt diese Kräfte auch hergeben. Wir werden uns also auch Gedan- so habe jedenfalls ich Sie verstanden. Sonst müssen Sie ken darüber machen müssen, wie man im Rahmen von sich klarer ausdrücken. Ich hatte den Eindruck, dass Sie Arbeitsmarktmaßnahmen und durch Ausbildung die Vo- das infrage gestellt haben. raussetzungen dafür schafft, dass das gelingt. (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Ich habe Wer die von uns vorgesehenen Maßnahmen schlecht- eine andere Frage gestellt!) oder kleinredet, Frau Scharfenberg, verunsichert die Ich werbe ernsthaft dafür, dass wir an dieser Stelle Menschen und schadet der Akzeptanz der Pflegeversi- weiterarbeiten und uns Gedanken darüber machen, was cherung. wir noch tun können. Diejenigen, die ihre Wohnung al- (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE tersgerecht umbauen, werden wir mit Zuschüssen von GRÜNEN]: Ich habe die Punkte genannt!) bis zu 4 000 Euro unterstützen; das ist fast eine Verdopp- lung der bisherigen Obergrenze. Auch das ist ein Ansatz, Insofern tut mir persönlich die Pauschalkritik weh. Wenn um häusliche Pflege zu erleichtern. Außerdem sorgen Sie ein Detail kritisieren, dann ist das kein Thema; aber wir für eine weitere Angleichung der Leistungen bei kör- eine solche Pauschalität tut mir weh, weil Sie die Men- perlich und bei demenziell bedingter Pflegebedürftig- schen hinsichtlich dessen verunsichern, was wir im Rah- keit. Pflegebedürftige, die körperlich in stärkerem Maße men der Pflegeversicherung tatsächlich für die Pflegebe- eingeschränkt sind, zum Beispiel nach einem Schlagan- dürftigen leisten. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4347

Dr. Georg Nüßlein (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bedarf spricht und sie fragt, was sie sich wünschen, dann (C) neten der SPD – Pia Zimmermann [DIE hört man nur eines, nämlich mehr Zeit. LINKE]: Aber es bleibt eine Teilkaskoversi- cherung!) (Beifall bei der LINKEN) – Sie haben recht: Es bleibt eine Teilkaskoversicherung. Herr Kollege Nüßlein hat gerade sehr eindrucksvoll do- Das ist eine Frage, die man unter der Überschrift der Fi- kumentiert, dass auch diese Bundesregierung leider nanzierbarkeit, der Machbarkeit diskutieren muss. Es keine Antwort auf diese große Herausforderung hat. muss eine Teilkaskoversicherung bleiben, weil es näm- Wir alle haben eine Vorstellung davon, wie wir im Al- lich darum geht, das Pflegerisiko abzusichern. ter leben wollen. Dazu gehören größtmögliche Selbst- (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Aber damit ständigkeit und Teilhabe. Die Realität sieht für viele aber machen Sie die Pflege vom Geldbeutel abhän- leider ganz anders aus. Auch die Berichte über Zwangs- gig!) maßnahmen in der Pflege müssen uns, glaube ich, Sor- gen machen. Aus Personalmangel, aus Zeitmangel und Wir dürfen die Versicherung doch nicht so gestalten aus Unwissenheit werden Menschen gegen ihren Willen – das müsste Ihnen als Argument gefallen –, dass wir die angebunden oder hinter Bettgitter gesteckt. Diese Men- Erbschaft für die nächste Generation absichern. Darum schenrechtsverletzungen – das will ich noch einmal ganz kann es doch nicht gehen. Wenn man eine Vollkaskover- klar sagen – geschehen nicht aus Bosheit, sondern sind sicherung einführt, also eine Versicherung, ohne dass Ei- Ausdruck einer strukturellen Unterversorgung. genanteile zu leisten sind, dann sichert man im Grunde ( [CDU/CSU]: Trotzdem nicht bei weiten Teilen der Bevölkerung die Erbschaft der zulässig!) nächsten Generation, sonst nichts. Diese Unterversorgung müssen wir beenden; denn gute Ich will deutlich unterstreichen: Wir machen jetzt ei- Pflege ist ein Menschenrecht. nen ersten wichtigen Schritt und werden einen weiteren Schritt folgen lassen, der wohlüberlegt ist und mit dem (Beifall bei der LINKEN) wir den Pflegebegriff anpassen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass aus beiden Schritten eine runde Sache wird. Ich höre mit Freude, dass Sie zumindest zaghafte Ich bin gespannt, aber nicht gerade erwartungsvoll, ob Schritte der Verbesserung ankündigen. Ich sage aber Sie das am Schluss entsprechend würdigen und uns da- ganz klar: Mit Ankündigungen alleine wird sich die für loben werden. Ich glaube es nicht wirklich; aber Linke nicht abfinden. Wir werden weiter darauf achten, wünschen und hoffen darf man ja kurz vor Beginn der dass für die Menschen tatsächlich etwas passiert. (B) Sommerpause. (Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert (D) In diesem Sinne: Herzlichen Dank. [SPD]: Das passiert auch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, über den wir in Expertenkommissionen und hier im Hause über drei Wahlperioden diskutiert haben, bringt nur dann etwas für Vizepräsidentin Ulla Schmidt: die Menschen mit Pflegebedarf, wenn Teilhabe und Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt Selbstbestimmung im Mittelpunkt stehen. Hier sehe ich Kathrin Vogler das Wort. mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf leider noch (Beifall bei der LINKEN) keinen echten Fortschritt. Das ist eine vertane Chance. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Uns allen ist doch klar, dass wir für die Umsetzung einer Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen solchen grundlegenden Pflegereform viel Geld benöti- und Kollegen! Herr Nüßlein, wenn man Sie hat sagen gen. Die jetzige Erhöhung der Pflegeversicherungsbei- hören, welcher Reformbedarf hier auf einmal besteht, träge hat aber rein gar nichts mit Nachhaltigkeit zu tun. dann fragt man sich, wer eigentlich in den letzten Jahren in Deutschland regiert hat. Nach unserem Zeitplan werden wir heute Nachmittag um 13.20 Uhr das Lebensversicherungsreformgesetz be- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie Gott sei Dank raten. Die Menschen werden die Erfahrung machen, dass nicht!) das, was sie im Rahmen ihrer Lebensversicherungen fürs Das kann ja nicht die Union gewesen sein. Alter angespart haben, vor dem Hintergrund der Nied- rigzinssituation und der Finanzkrise eben nicht mehr si- (Beifall bei der LINKEN) cher ist. Wir wissen doch alle, und nicht erst seit gestern, dass (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja grundlegende Verbesserungen in der Pflege dringend Quatsch! Das ist absoluter Quatsch, was Sie notwendig sind. Wenn ich mit Pflegenden spreche hier erzählen! – Maria Michalk [CDU/CSU]: – ganz egal, ob es sich um Angehörige oder Beschäftigte Das ist doch auch wieder Quatsch! – Sabine in der ambulanten oder stationären Pflege handelt –, Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Sie sollten so et- dann höre ich immer nur: Stress, Zeitdruck, übermäßige was nicht sagen, wenn Sie davon nichts verste- Arbeitsbelastung. Wenn man mit Menschen mit Pflege- hen!) 4348 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Kathrin Vogler (A) Sie wollen dieses Modell der Lebensversicherung, bei Worum geht es bei dieser Reform eigentlich? Die (C) dem eine Rücklage für spätere Zeiten gebildet wird, mit Grünen haben vorgetragen, die Reform sei teuer. Es ist dem Vorsorgefonds auch auf den Bereich der sozialen richtig: Die Reform ist teuer. Darauf sind wir stolz. Wir Pflegeversicherung übertragen. sind stolz darauf, dass die Reform teuer ist, denn sie muss teuer sein. 6 Milliarden Euro, paritätisch finanziert. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist doch Un- Die Leistungen der Pflegeversicherung werden in zwei sinn!) Schritten um 20 Prozent erhöht. Das ist die größte Stei- Da die SPD jetzt offensichtlich erkannt hat, dass das gerung im Rahmen einer Sozialreform in den letzten hoch problematisch ist, und das strittig stellt, kann ich Jahrzehnten. Wir sind stolz darauf, die größte Reform Ihnen nur sagen: Bitte bleiben Sie hier hart! Sorgen Sie der Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen vorlegen zu dafür, dass das Struck‘sche Gesetz, dass eben nichts so können. Wir stehen dazu: Die Reform ist teuer. Aber ge- aus diesem Parlament herausgeht, wie es hineingekom- nau das brauchen wir auch. men ist, gerade bei diesem Vorsorgefonds eingehalten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – wird Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder GRÜNEN]: Das hat keiner infrage gestellt!) [CDU/CSU]: Sie gehen so heraus, wie Sie hi- Ich will auch ehrlich sagen: Diese Reform ist nicht neingegangen sind!) perfekt; das ist gar keine Frage. Ich möchte aber trotz- und dass die 1,2 Milliarden Euro jährlich, die die Union dem sagen: Das, was wir als Reform zum jetzigen Zeit- für spätere Zeiten bei Banken und in Aktienfonds parken punkt vorlegen, ist das Ergebnis dessen, was wir im Ko- möchte, jetzt unmittelbar für Verbesserungen für die alitionsvertrag über viele Wochen verhandelt haben. Ich Pflegebedürftigen und deren Angehörigen verwendet möchte Minister Gröhe ausdrücklich dafür danken, dass werden! er sich aus meiner Sicht sehr eng an den Vertrag gehalten hat, der in dieser Sache zielführend ist und den wir mit Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unbe- gutem Willen und im Konsens vereinbart haben. Daher dingt einen konkreten Zeitplan für die Umsetzung des gilt: Wir werden diese Reform verbessern können; das neuen Pflegebegriffs haben. Es muss auch sichergestellt ist gar keine Frage. Jeder Parlamentarier weiß: Wir wol- werden, dass kein pflegebedürftiger Mensch später len nicht verändern, sondern wir werden verbessern. schlechter gestellt ist als heute. Aber der Raum für Verbesserungen ist hier nicht groß; (Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert denn der eingebrachte Gesetzentwurf ist sehr gut. Dafür [SPD]: Bestandsschutz!) sind wir dankbar. (B) In der Perspektive brauchen wir aber Leistungen, die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) sich wirklich am individuellen Bedarf orientieren. Dafür Ehrlich gesagt habe ich nicht viel an Gegenvorschlä- werden wir uns als Linke weiter einsetzen. Wir werden gen gehört. Sie auch unterstützen, wenn wir Schritte in diese Rich- tung erkennen können. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das stimmt nicht!) (Beifall bei der LINKEN) Was haben wir an Vorschlägen – ich vermeide es, pole- misch zu sein – von den Grünen gehört? Die Pflege Vizepräsidentin Ulla Schmidt: muss für alle begreifbar sein. Die Pflege muss men- Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Karl schenwürdig sein. Wir müssen so gepflegt werden, wie Lauterbach, SPD-Fraktion. wir gepflegt werden wollen. – Das wollen wir alle. Aber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten was haben wir heute an konkreten Gegenvorschlägen ge- der CDU/CSU) hört? Wer erinnert sich an konkrete Gegenvorschläge? (Sabine Dittmar [SPD]: Keine!) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Keine konkreten Gegenvorschläge! Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss meine Rede umstellen. Als so später (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wahl- Redner in dieser Debatte dachte ich, dass über die Re- programm!) form schon alles gesagt worden wäre. Bisher hat man aber nicht viel dazu gehört. Das alles war sehr unspezi- Wir sind bereit, jederzeit mit Ihnen konkrete Gegenvor- fisch, schläge zu diskutieren. Sie müssen aber auch vorgetra- gen werden. Wir wollen die Reform im Geist einer ge- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE meinsamen Arbeit umsetzen. GRÜNEN]: Der Minister hat doch geredet, oder?) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE und nicht alles, was man gehört hat, war richtig. GRÜNEN]: Zuhören nützt manchmal!) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich will auf die Reform selbst zu sprechen kommen. Da wollen wir einmal wissen, was Sie zu bie- Ich komme zunächst einmal zur Dynamisierung der ten haben!) Leistungen. Hier wurde gesagt, die Dynamisierung der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4349

Dr. Karl Lauterbach (A) Leistungen müsse ein Automatismus sein und müsse (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (C) nicht jedes Mal verhandelt werden; das hat Frau Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie können über- Zimmermann vorgetragen. – Die Pflegeversicherung ist haupt nicht zuhören!) keine Vollkaskoversicherung. Die von Ihnen vorgeschla- – Wenn Sie eine Zwischenfrage haben, können Sie diese gene Dynamisierung würde nur Sinn machen, wenn es jederzeit stellen. Aber das Zwischenrufen nervt. – Es eine Vollkaskoversicherung wäre. kam überhaupt nicht zur Sprache, dass wir zahlreiche (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Da ist doch Maßnahmen unternommen haben, die Pflege unbürokra- Quatsch!) tischer zu machen. Wir haben dafür gesorgt, dass je- mand, der zu Hause einen anderen Menschen pflegt, Bei einer Teilkaskoversicherung muss jedes Mal neu aber kurzfristig verhindert ist, im Rahmen der Verhinde- verhandelt werden. Dann muss es einen Kompromiss rungspflege und der Kurzzeitpflege eine professionelle zwischen der Dynamisierung der Leistungen auf der ei- Pflegekraft organisieren oder den zu pflegenden Men- nen Seite und der Einführung neuer Leistungen auf der schen in eine Pflegeeinrichtung bringen kann. Die Tatsa- anderen Seite geben. Wir dynamisieren zwar nur um che, dass man ständig im Druck ist, wenn man für die 4 Prozent, aber das macht fast 1 Milliarde Euro aus. Zu- Eltern die Pflege übernimmt oder organisiert hat, dass sätzlich führen wir zahlreiche neue Leistungen ein. So- man dann, wenn etwas dazwischenkommt, gar nicht mit verbessern wir die Pflege durch die Dynamisierung weiß, wie es weitergeht, das ist einer der Hauptstressfak- und durch die Einführung neuer Leistungen. toren in der Pflege überhaupt. Viele Menschen sind in (Beifall der Abg. Sabine Dittmar [SPD]) Pflegeeinrichtungen, weil die Leute den Stress nicht be- wältigt bekommen, die Pflege auch dann ständig vorhal- Diese Freiheit muss das Parlament haben. Das ist bei ei- ten zu müssen, wenn es gerade nicht geht. Dem begeg- ner Teilkaskoversicherung der einzige Weg, auf sich ver- nen wir mit der deutlichen Flexibilisierung und Stärkung ändernde Verhältnisse rasch zu reagieren. der Verhinderungs- und der Kurzzeitpflege. Das ist eine wesentliche Entbürokratisierung. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Hier wurde auch von den Betreuungskräften gespro- chen. Frau Zimmermann, Sie haben gesagt – dafür gab Das ist das, was die Menschen, die Angehörigen und die es aus Ihren eigenen Reihen wenig Beifall –, die Links- zu Pflegenden, wünschen. Darauf sind wir eingegangen. partei sei die Partei der Pflegegerechtigkeit. Das wurde hier mit keinem Wort gewürdigt. (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Ja!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (B) Ist Ihnen aufgefallen, dass in Ihrer ganzen Rede die An- Das gilt genauso für die sogenannten Entlastungsleis- (D) gehörigen, die den größten Teil der Pflegeleistungen er- tungen. Wir machen es jetzt zum Beispiel möglich, dass bringen, nicht ein einziges Mal erwähnt worden sind? man die Betreuungsleistung umwidmen kann, indem man einfach für jemanden einkaufen geht. Wenn Sie sich (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist die Reform konkret vorstellen – es sind hier ja oft nur überhaupt nicht wahr!) Schlagworte, die vorgetragen werden –, dann betrifft das Sie haben sich ausschließlich auf die Pflegekräfte in den jemanden, der einkaufen geht und für jemanden sorgt. Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten konzentriert. Hier kann die Leistung abgerechnet werden, auch wenn Die Betreuer wurden dadurch von Ihnen abqualifiziert. es keine Betreuung ist. Wenn jemand Papierkram erle- Sie haben doch versucht, die Betreuer gegen die ausge- digt, zu einem Amt geht und so, dann kann das dem- bildeten Pflegekräfte auszuspielen. nächst abgerechnet werden. Das ist von uns auch ein Vertrauensbeweis gegenüber den Angehörigen. Denn (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Herr Lauterbach, wir gehen nicht davon aus, dass das ausgenutzt wird. wo sind Sie denn gewesen?) Wir vertrauen den Angehörigen und den Pflegenden, dass sie in dieser Zeit tatsächlich auch etwas für den zu Das ist unfair. Auch die Betreuer, egal ob Ehrenamtliche Pflegenden machen. Da sagen wir, ihr müsst nicht nach- oder Familienangehörige, leisten eine wichtige Arbeit. weisen, dass das immer nur Betreuungsleistungen sind, Wir dürfen in der Pflege die einzelnen Gruppen nicht ge- sondern diese sogenannten Ergänzungsleistungen, Ent- geneinander ausspielen. lastungsleistungen sind alles Maßnahmen, die im Kon- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kreten den Stress in der Familie und bei den zu Pflegen- den wegnehmen. Das halte ich für richtig. Das sind Ich sage Ihnen ganz offen: Ein gutes Wort und die unbürokratische und gute Wege. Zeit, den zu pflegenden Menschen einmal zuzuhören, ohne dass dabei gepflegt wird, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Genau, Der Begriff der Pflegebedürftigkeit wurde schon er- zuhören! Das ist das Stichwort!) wähnt. Da wird immer kritisiert, er kommt nicht schnell genug usw., usf. Machen wir uns doch nichts vor: Es hilft diesen Menschen oft mehr als das Waschen, Rasie- sind 2,5 Millionen Menschen, auf die der neue Pflegebe- ren und Saubermachen. Die menschliche Komponente dürftigkeitsbegriff langfristig angewendet wird. Wir wird vom Betreuer genauso geleistet wie von der ausge- wollen sicherstellen, dass niemand weniger bekommt, bildeten Pflegekraft. als ihm zusteht. Niemand soll schlechtergestellt werden. 4350 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Dr. Karl Lauterbach (A) Das muss in der Praxis funktionieren. Dieses Projekt hau Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) ruck einzuführen, wäre doch völlig unverantwortlich ge- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Maria Klein- wesen. Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Machen wir uns doch nichts vor: Das ist die größte Ver- NEN): änderung in der Art und Weise, wie wir eine Sozialleis- Liebe Präsidentin! Liebe Kollegen! Ich glaube, hier tung bezahlen. Wir wollen ja, dass die Dinge unbürokra- im Haus fehlt es nie an wertschätzenden Worten für die tischer und besser werden. Es wäre rücksichtsloser, Pflege. unverantwortlicher Populismus gewesen, wenn wir, ohne das in den Regionen auszutesten, dem „Druck der (Beifall bei der LINKEN) Straße“ nachgegeben und im Hauruckverfahren einen Aber an entscheidenden wertschätzenden Taten herrscht neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt hätten. seit Jahrzehnten in diesem Haus ein großer Mangel; das (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Die Straße ist müssen wir feststellen. der Druck?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Obwohl Sie hierzu nicht einen einzigen konkreten Vor- und bei der LINKEN) schlag zur Pflegereform vortragen können, erwarten Sie In der heutigen Diskussion geht es zum größten Teil um von uns, für die gesamte Bevölkerung ein kompliziertes die massiven Versäumnisse in den letzten acht Jahren. System einzuführen, ohne dass wir es ausgetestet haben. Deshalb müssen wir davon sprechen, dass die Pflege am Diese Verantwortungslosigkeit haben wir nicht. Wir ste- Boden liegt und dass die Pflegekräfte und die Familien- hen dazu. Wir führen das zu dem Zeitpunkt ein, an dem angehörigen nicht mehr können. es angemessen ist, und zwar so schnell wie möglich. Dieses Vertrauen haben wir verdient. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wo denn?) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Pia Das ist eigentlich die Grundsituation, über die wir nun Zimmermann [DIE LINKE]: Machen Sie ein- reden und die Sie überall vor Ort erleben. mal ein paar Schritte, statt stehen zu bleiben!) Dann haben Sie sich als Union in der letzten Legisla- Ich komme auch noch zu dem Pflegevorsorgefonds. turperiode in einem lang andauernden Streit mit der FDP Ich sage dazu schlicht und ergreifend meine persönliche erlaubt, die Probleme im Pflegebereich auszusitzen. Sie Meinung. Wir werden das diskutieren. Das ist ganz klar. haben nichts Materielles auf den Weg gebracht. Sie ha- Das geht in diese Runden hinein, in denen wir alles ver- ben nur kleinste Korrekturen vorgenommen und bei- (B) (D) bessern wollen. Aber ich sage einmal das, was ich per- spielsweise Stellen für Entlastungskräfte geschaffen. sönlich denke. Ich persönlich finde den Vorschlag nicht Das ist tatsächlich nicht die Lösung des Problems. Des- falsch. Denn wir müssen Folgendes bedenken: Wir wer- halb reden wir hier so kontrovers über den Pflegebe- den in 30 Jahren folgende Situation haben: Die Men- reich. schen werden durch sinkende Renten von Altersarmut Karl Lauterbach, es ist sicherlich schön, staatstragend bedrängt werden, die Familien werden zum Teil zerbrö- zu reden. Wenn man in einer Großen Koalition ist, ist ckelt sein, höhere Scheidungsquoten, weniger Kinder. das vielleicht auch notwendig. Aber ich muss wirklich (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wer ist denn an sagen: Die gleiche Rede, die Frau Scharfenberg eben ge- den sinkenden Renten schuld?) halten hat, hätten Sie vor einem Jahr genauso gehalten. Das halten wir fest. – Hören Sie doch einfach zu! – Die Differenz zwischen dem, was eine Familie dann finanziell und menschlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einbringen kann, und dem, was dann gefordert wird, und bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ wird für die Babyboomer-Generation größer sein als für CSU]: Niemals! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: jede andere Generation davor. Das war noch vor der Reform!) Daher halte ich es persönlich nicht für falsch, dass wir Kommen wir zum nächsten Punkt. Nachdem Sie sich einen Teil dieses Geldes – es sind ja nur 20 Prozent der endlich durchgerungen haben, meine Damen und Herren Ausgaben, die wir jetzt beschließen – zurücklegen und von der CDU/CSU, eine Erhöhung des Beitragssatzes in dann verbrauchen, wenn es die Leute benötigen. Das der Pflegeversicherung um insgesamt 0,5 Prozentpunkte gibt auch eine gewisse Sicherheit. Insoweit bin ich für und eine Ausweitung des Leistungskatalogs zu beschlie- jeden zusätzlichen Vorschlag dankbar. Aber wir stehen ßen, erlauben Sie sich, davon etwas für ein teures Sym- auch in diesem Punkt zum Koalitionsvertrag. Wir wer- bolprojekt abzuzwacken – es ist ein Drittel der Mehrein- den das diskutieren, aber wir stehen zum gesamten Pa- nahmen aus der Erhöhung um 0,3 Beitragssatzpunkte ab ket. Ich glaube, dass wir insgesamt ein Paket vortragen 1. Januar 2015 –, das kein einziges Problem lösen wird, werden, das die Pflege entbürokratisiert, das die Pflege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein Stück weit nachhaltiger macht und das die Pflege menschlicher macht. Davon bin ich überzeugt. weder bei den Angehörigen noch bei den Pflegekräften und auch nicht bei uns, den Finanziers und Beitragszah- Vielen Dank. lern. Was nutzt es mir, wenn ich 2035 einen um (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 0,14 Prozent geringeren Beitrag zur Kranken- und Pfle- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4351

Maria Klein-Schmeink (A) geversicherung zahle? Das ist Irrsinn, was Sie hier ma- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) chen. Sie parken das Geld quasi weg, das wir dringend Vielen Dank. – Nächster Redner ist Jens Spahn, für Entlastungen im Pflegebereich brauchen. Das ist der CDU/CSU-Fraktion. entscheidende Punkt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Jens Spahn (CDU/CSU): Nun kommen wir zum nächsten Punkt. Sie heben sehr Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! stark auf die Entlastung der Angehörigen ab. Es ist si- Das Thema der Pflege und die Frage, welche Herausfor- cherlich richtig, die verschiedenen Instrumente, die wir derungen Pflege für jeden Einzelnen bedeutet, sind mitt- heute haben, für die Entlastung zu flexibilisieren. Es lerweile in jeder Familie angekommen. Jeder hat als wäre überhaupt nicht nachvollziehbar, das nicht zu tun. Partner, als Kind, als Enkelkind erlebt, was es physisch und psychisch für eine Familie bedeutet, wenn jemand (Beifall des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) pflegebedürftig wird. Was heißt es eigentlich, pflegebe- dürftig zu sein? Darauf kann man sich aber nicht ausruhen. Wer sind denn diese zusätzlichen Betreuungs- und Assistenz- Am Ende heißt es, die Dinge des Alltags – waschen, kräfte? Ich kenne – wahrscheinlich genauso wie Jens aufstehen, essen – nicht mehr alleine tun zu können. Das Spahn – sehr viele solcher Kräfte bei uns im westlichen ist, glaube ich, eine Erkenntnis, die für jemanden, der Münsterland. Es handelt sich in der Regel um erfahrene dies nach 75, 80 oder 85 Jahren im Safte nicht mehr Hausfrauen, die nach der Familienphase und mit einer kann, ganz schwierig ist; sie ist nicht nur für den Betrof- Bezahlung in Höhe von 400 Euro in den entsprechenden fenen selbst schwierig, sondern auch für die Angehöri- Einrichtungen arbeiten. Das ist aber kein Zukunftskon- gen. In dieser Situation Unterstützung zu leisten, ist das, zept. Wir brauchen auf Dauer andere Wege, wenn wir was Pflegeversicherung am Ende tun soll. Wir können diesen wichtigen Teil abdecken wollen. den Schicksalsschlag der Pflegebedürftigkeit nicht ir- gendwie ungeschehen machen, aber wir können so gut (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es geht Unterstützung für die Familien, für den Pflege- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) dienst der Nation, leisten. Das Pflegestärkungsgesetz, das wir heute beraten, leistet einen ganz wichtigen Bei- Denn bei diesem Konzept wird darauf gesetzt, dass diese trag dazu, Familien und Pflegebedürftige in ihrer Situa- Frauen beispielsweise nicht in die Rentenversicherung tion zu unterstützen. einzahlen und nicht in einem regulären Vollzeitarbeits- (B) verhältnis stehen. Es handelt sich also um prekäre Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) dingungen, auf die wir nicht grundsätzlich setzen kön- neten der SPD) nen. Kollege Lauterbach hat recht: Da helfen nicht die grundsätzlichen wolkigen Worte, sondern es braucht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ganz konkrete Verbesserungen für die Pflegebedürftigen, und bei der LINKEN) ihre Angehörigen und die Pflegekräfte. Frau Mattheis pocht nicht umsonst darauf, das Geld, Wenn man einmal schaut, Frau Kollegin das Sie nun im Vorsorgefonds parken wollen, beispiels- Scharfenberg, was wir denn konkret tun, dann wird man weise für die Verbesserung der Ausbildung der Pflege- eine ganze Menge sehen. Das eine ist der ambulante Be- kräfte auszugeben. Wenn ich heutzutage ein Pflegesemi- reich. Ich habe gerade gesagt: Die Familien sind der nar besuche, dann sagen mir die Teilnehmer: Ich lerne Pflegedienst der Nation. Für die werden wir ganz kon- hier etwas, was ich eigentlich gerne tun würde. Aber ich krete Verbesserungen haben. Wir werden mehr Betreu- weiß schon heute, dass ich unter den hier herrschenden ungsleistung haben. Sie sagen, das sei nichts, aber ich Arbeitsbedingungen niemals länger als zehn Jahre arbei- glaube, dass es für viele wichtig ist, drei, vier oder fünf ten werde. – Das ist unwürdig für unsere Gesellschaft. Stunden Entlastung zu haben, zu wissen, dass man von Das dürfen wir nicht erst am Ende der Legislaturperiode zu Hause weg kann und sich einmal mit Freundinnen ändern, sondern das müssen wir schnell angehen. treffen kann, dass man einkaufen gehen kann oder ein- fach den Kopf von der 24-Stunden-Pflege freibekommen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kann, weil man weiß, dass jemand da ist und sich zu und bei der LINKEN) Hause um den Pflegebedürftigen kümmert. Das ist für Aber wahrscheinlich werden wir erleben, dass die Er- die, die konkret betroffen sind, eine große Hilfe. Es ist weiterung und die Neufassung des Pflegebegriffs, der kleinkariert, wie Sie, Frau Scharfenberg, das hier gerade endlich für mehr Zeit in der Pflege sorgen könnte, erst kritisiert haben. 2017, also am Ende der Legislaturperiode, kommen wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den. So sieht die Situation aus. Dann müssen wir uns auch ehrlich damit befassen und dürfen nicht nur drum Es ist auch eine konkrete Hilfe, dass zum 1. Januar herumreden. 2015 mehr Geld für die Familien zur Verfügung steht, weil wir die Sätze um 4 Prozent erhöhen, und es zusätz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liche Flexibilität gibt – Stichwort Verhinderungs-, Kurz- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) zeitpflege –, also das, was man braucht, um einmal eine 4352 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Jens Spahn (A) Auszeit für zwei oder drei Wochen nehmen zu können, Wir werden jetzt in zwei Schritten – auch darauf ist (C) was ganz wichtig ist. Wir erhöhen die Mittel – Geld, das hingewiesen worden – 6 Milliarden Euro mehr in der direkt bei den Betroffenen ankommt –, wir erhöhen die Pflegeversicherung ausgeben. Das ist bei einem System, Flexibilität. Das hilft den Menschen konkret. Ich finde, das heute einen Umfang von 22 Milliarden Euro hat, das kann man auch einmal in einer solchen Debatte aner- enorm. Das ist eine Erhöhung um ein gutes Viertel. kennen. Man muss nicht alles schlechtreden. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) GRÜNEN]: Das war auch absolut defizitär!) Das Gleiche gilt für die stationären Einrichtungen. Sie haben mit einem recht: Geld allein bringt nichts. Die Betreuungskräfte leisten nicht die klassische Pflege, Aber ohne zusätzliches Geld wird es auch nicht gehen. und das sollen sie auch nicht, sondern sie sind da zur zu- Deswegen ist das ein sehr wichtiger, großer Schritt, den sätzlichen Unterstützung, um Gespräche zu führen oder wir auch immer angekündigt haben; denn in einer älter um mit den Pflegebedürftigen spazieren zu gehen. Sie werdenden Gesellschaft werden für das gesellschafts- entlasten damit die Pflegekräfte und machen insgesamt politische Megathema Pflege am Ende alle mehr Geld möglich, dass mehr Zeit für den Einzelnen da ist. Das ist brauchen. es, was übrigens aus allen Pflegeeinrichtungen berichtet Jetzt kommt es darauf an – ich glaube, die genannten wird. Beispiele haben es deutlich gemacht –, dass dieses Geld am Bett ankommt, bei den Pflegebedürftigen, und nicht (Beifall bei der CDU/CSU) bei den Sozialhilfeträgern, dass es nicht irgendwo im Wenn Sie einmal vor Ort sind, dann werden Sie hören, System versickert, sondern ganz konkret am Bett in dass alle sagen: Es war eine der besten Maßnahmen der Leistungsverbesserungen, in zusätzliche Betreuungs- letzten Jahre, dass es diese Betreuungskräfte gibt. – Wir kräfte, in mehr Zeit investiert wird. Die Maßnahmen, die wollen die Zahl der Betreuungskräfte mehr als verdop- wir hier vorschlagen, stellen genau das sicher. Wir wol- peln. Das sind ganz konkrete Verbesserungen. Man len das zusätzliche Geld ganz konkret bei den Menschen könnte einmal anerkennen, Frau Kollegin Scharfenberg, haben. Es soll mehr Zeit, mehr Pflege, mehr Betreuung wie wir den Menschen helfen. bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Genau!) Seit zehn Jahren und länger wird über Bürokratieab- Das stellen wir sicher, auch wenn viele gerne gesehen bau geredet. Wir haben jetzt endlich beschlossen, dass hätten, dass das Geld an anderer Stelle ausgegeben wird. (B) nicht mehr alles aufgeschrieben wird, was den ganzen (D) Tag in der Pflege geleistet wird, sondern, um es einfach (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zu formulieren, es wird nur noch dokumentiert, was un- Nun zum Pflegebedürftigkeitsbegriff. Sie wissen ganz gewöhnlich oder anders als sonst ist. Nach allem, was genau, Frau Scharfenberg, dass man – auch wenn jetzt wir wissen, reduziert das die Bürokratie um mehr als ein zwei Gutachten vorliegen; das sagen die Pflegewissen- Drittel. Selbst wenn es nur die Hälfte davon ist, wäre das schaftler und die anderen Sachverständigen selber – eine deutliche Verbesserung. Zum ersten Mal gibt es ei- nicht vom einen auf den anderen Tag hätte regeln kön- nen konkreten Vorschlag, wie der Alltag der Pflegekräfte nen, dass Demenz und andere Einschränkungen im Alter verbessert werden kann. Diesen Vorschlag müssen wir besser berücksichtigt werden. jeder einzelnen Pflegeeinrichtung unterbreiten, damit die Verbesserungen konkret spürbar werden. (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! – Maria Klein- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist einfach kleinkariert, was Sie gerade abgeliefert Das sagen wir Ihnen seit Jahren!) haben. Sie haben nicht eine der konkreten Verbesserun- Eines machen wir nicht – das ist ganz wichtig –: Wir ma- gen, die den Menschen und den Pflegebedürftigen hel- chen kein Experiment mit 1 Million Menschen. fen, gewürdigt, (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch richtig so! – Gegen- GRÜNEN]: Das ist nicht meine Aufgabe!) ruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Sa- gen Sie das laut!) sondern Sie haben pauschal alles vom Tisch gewischt. Wenn das das Niveau ist, auf dem Sie die Debatte in den Jedes Jahr wird 1 Million Menschen in Deutschland in nächsten Wochen führen wollen, dann bitte schön. Ich der Pflegeversicherung neu daraufhin angeschaut, wel- glaube, wir haben gute Argumente und konkrete Vorha- che Unterstützung sie brauchen. Da machen wir nicht ben, die zeigen, dass wir wollen, dass es den Menschen mal eben, nur weil es ein theoretisches Gutachten gibt, in der Pflege ab dem 1. Januar besser geht. Wenn Sie, ein Gesetz, in dem wir regeln, was wir mit diesen Men- Frau Scharfenberg, pauschal bei Ihrer Position bleiben, schen machen. Möglicherweise stellen sich dann einige dann glaube ich nicht, dass das bei den Menschen an- schlechter; es gibt Unklarheiten und viel Durcheinander. kommen wird. Stattdessen untersuchen wir gerade in diesen Wochen parallel in der Praxis, in Studien, was sich konkret (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4353

Jens Spahn (A) ändert, um vor einer gesetzlichen Regelung herauszufin- (Beifall bei der CDU/CSU – Elisabeth (C) den, welche Folgen das hat. Das ginge – das wissen Sie Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ganz genau – nicht von heute auf morgen. Wir machen Nein! – Maria Klein-Schmeink [BÜND- das mit der nötigen Gründlichkeit. Ich glaube, damit ist NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Min- den Menschen am Ende am besten geholfen. deste!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das bringt mich abschließend zu dem Thema Vorsor- gefonds, Vorsorgen für die Zukunft. Der Jahrgang 1964 ist der geburtenstärkste Jahrgang, den Deutschland je- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: mals hatte. 1,4 Millionen Menschen wurden 1964 gebo- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der ren; Sie werden nie wieder so häufig zu 50. Geburtsta- Kollegin Scharfenberg? – Bitte schön. gen eingeladen wie dieses Jahr. Wir wissen schon jetzt, ab wann die alle etwa pflegebedürftig werden. Das Ri- siko, pflegebedürftig zu werden, besteht meistens ab 75, Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 80 Jahren. Wir wissen gleichzeitig, dass es zu diesem NEN): Zeitpunkt in Deutschland deutlich weniger Beitragszah- Vielen Dank, dass ich die Zwischenfrage noch stellen ler geben wird als heute. Da ist es doch vernünftig, Vor- darf. – Lieber Herr Kollege Spahn, Sie haben jetzt wun- sorge zu betreiben! Wenn man weiß, dass in den nächs- derbar ausgeführt, dass man das nicht von heute auf ten Jahren die Situation eintreten wird, dass wir morgen regeln und den Menschen überstülpen kann, besonders hohen Unterstützungsbedarf haben, weil es in dass das ein sehr großer Umschwung und eine sehr Deutschland besonders viele Pflegebedürftige und große Aufgabe ist. Wann ist Ihnen denn diese Erkenntnis gleichzeitig viel weniger jüngere Menschen, die Bei- gekommen? Sie sind jetzt seit acht Jahren in der Regie- träge zahlen können, geben wird, dann ist es doch kluge rung. Die Vorschläge liegen uns seit Jahren vor. Wenn Politik, über vier Jahre hinauszudenken und zu sagen: man vor vier Jahren angefangen hätte, sich damit aus- Wir sorgen vor, wir sparen an, und zwar nicht nur zum einanderzusetzen, dann wären wir jetzt an dem Punkt, Schutz der Beitragszahler, sondern vor allem zum dass wir das umsetzen könnten. Ich kritisiere nicht, dass Schutz der Pflegebedürftigen der Zukunft. Denn über- es Modellvorhaben gibt, sondern ich kritisiere den Zeit- mäßige Beiträge würden am Ende auch Debatten über punkt; ich kritisiere, dass es die erst jetzt gibt. Wann ist Leistungskürzungen bedeuten. Es braucht diesen Fonds, Ihnen die Erkenntnis gekommen, und hätte das nicht um auch die in der Zukunft Pflegebedürftigen zu unter- schon vor vier Jahren stattfinden können? Dann wären stützen. Deswegen wollen und werden wir ihn gemein- wir und die Menschen im Land schon ein ganzes Stück sam, wie dargestellt, schaffen. weiter. (D) (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE neten der SPD) LINKE]) Das ist Ihr Prinzip: Sie wollen das Geld am liebsten heute ausgeben. Es gibt viele Vorschläge, wie man das Jens Spahn (CDU/CSU): Geld, das wir jetzt sparen, heute noch zusätzlich ausge- Zunächst einmal sind wir und die Pflegebedürftigen ben kann. Sie leben eh im Vorgestern. Diese Koalition schon ein ganzes Stück weiter, denn wir haben in den denkt an morgen. Wir denken an die Zukunft. Wir führen letzten Jahren, auch im Vorgriff auf diese Debatte, schon zum ersten Mal in einem sozialen Sicherungssystem in viele zusätzliche Leistungen ermöglicht. Ich habe gerade Deutschland eine Säule ein, durch die zum Ausdruck ge- schon einige Leistungen für Menschen mit Demenz dar- bracht wird, dass wir nicht nur an heute denken, dass wir gestellt; es ist ja nicht so, als ob es heute gar keine Leis- nicht nur – in der Vergangenheit zu Recht erworbene – tungen gäbe. Weil wir wussten, dass diese Debatte noch Ansprüche bedienen; vielmehr sorgen wir auch dafür, Zeit braucht, haben wir in den letzten Jahren im Vorgriff dass dieses System fit für die Zukunft ist. Ich glaube, die bereits viele konkrete zusätzliche Verbesserungen auch Basis für die Beratungen der nächsten Wochen ist gut. für Menschen mit Demenz beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Zum Zweiten wissen auch Sie, dass das erste Gutach- ten aus der vorletzten Legislatur nicht gereicht hat. Frau Ministerin Schmidt, die seinerzeit im Amt war, hat da- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: mals gesagt, damit könne man noch nichts konkret um- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Mechthild setzen. Deswegen haben wir in der letzten Legislatur Rawert, SPD-Fraktion. weiter daran gearbeitet. Dass im Beirat alle, bis auf ei- nen, wieder mitgemacht haben, macht deutlich, dass alle Mechthild Rawert (SPD): erkannt haben, dass der Bedarf, weiter an diesem Thema Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gesagt, zu arbeiten, vorhanden ist. Jetzt haben wir die Basis. getan: Die SPD setzt sich schon seit langem mit dem Man kann immer sagen: zu spät; hätte schneller gesche- Thema Pflege auseinander. Gesundheitsministerin Ulla hen müssen. Aber jetzt haben wir die Basis, das gründ- Schmidt hat das Recht auf Beratung eingeführt, Pflege- lich und vernünftig zu machen. Wir tun das, und das ist stützpunkte, den Beirat zur Pflegebedürftigkeit, die Ein- das, was Sie eigentlich wurmt: dass wir es sind, die das richtungen zur Prüfung von Qualität und, und, und. jetzt vernünftig umsetzen. Ohne das wäre es nicht möglich, dass wir heute dieses 4354 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Mechthild Rawert (A) erste Pflegestärkungsgesetz überhaupt auf den Weg brin- Viertens. Wir wollen eine Entlastung der Menschen in (C) gen könnten. den Pflegeberufen erreichen, unter anderem durch Per- sonalmindeststandards. Ich selber bin keine Anhängerin (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dieser Flashmobs, wo man sich freiwillig auf den Boden Die SPD hat in Regierungs- und auch in Oppositions- legt, um damit zu symbolisieren: Tritt doch auf mich zeiten gründlich gearbeitet. Wir sind konstant am Ball drauf! Vielmehr bin ich eine Anhängerin davon, Pflege geblieben. Wir haben im Wahlkampf die 0,5-Prozent- tatsächlich stark zu machen, etwas, was hier in der Cha- Beitragssatzerhöhung gefordert. Ich bin dankbar, dass rité geschieht, das übrigens bundesweit als gutes Bei- diese Koalition diese Forderung jetzt umsetzt; denn das spiel dienen kann. Das halte ich für einen sehr viel sinn- ist die Grundlage dafür, dass wir mittlerweile über zu- volleren Weg. sätzlich 6 Milliarden Euro für den Bereich Pflege verfü- Ich finde es auch richtig – das ist eine der Forderun- gen. gen, die wir haben –, dass in der Pflege Tariflöhne ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zahlt werden müssen, einmal abgesehen vom Pflegemin- destlohn. Das ist noch eine andere Baustelle, die aber Wir haben schon vorhin über den Pflegebedürftig- schon bearbeitet worden ist. keitsbegriff gesprochen. Ja, seit Einführung der Pflege- Wir sagen auch, Tariflöhne dürfen nicht so angesehen versicherung wird darüber gesprochen, dass wir eine werden, dass hinterher jemand sagt: Das ist ein unwirt- Ausweitung von den somatischen über die kognitiven schaftliches Verhalten. – Das ist tatsächlich ein Punkt, bis hin zu den psychischen Einschränkungen brauchen. über den wir noch reden müssen. Das ist richtig; denn wir wollen mehr Selbstständigkeit. Wir wollen soziale Teilhabe, und wir wollen eine stär- Wir werden – fünftens – selbstverständlich auch et- kere Orientierung an Kommunikation. was zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf tun. Die meisten Angehörigen sind erwerbstätig, und wir sagen Gesagt, getan: Dieses Pflegestärkungsgesetz bringt natürlich nicht – das gilt nicht nur für die Männer, son- mehr und bessere Leistungen für Pflegebedürftige, für dern insbesondere für die Frauen –: Geht alle wieder in an Demenz Erkrankte. Vor allen Dingen bringt es mehr den Haushalt zurück. Gebt eure Erwerbstätigkeit auf. – und auch zusätzliche Leistungen für pflegende Angehö- Nein, wir suchen nach Wegen der Vereinbarkeit. Deswe- rige. gen gibt es ja den Rechtsanspruch auf Pflegezeit. Wir Vorhin ist gesagt worden, das wäre alles nichts, und werden ihn ausbauen. Vor allen Dingen werden wir eine auch wir würden es letztendlich als zu kleines Paket be- gesetzlich geregelte zehntägige bezahlte Auszeit für trachten. Es ist richtig – ich habe schon mitbekommen, pflegende Angehörige einführen. Auch das ist Bestand- (B) dass die Koalitionsvereinbarung intensiv gelesen worden teil der großen Baustelle Pflege. (D) ist –: Diese Debatte heute, die erste Lesung dieses Ge- Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ich setzentwurfs, ist ein Aufschlag: sage das nicht nur, weil mittlerweile jede und jeder ir- gendwie Ahnung davon hat bzw. in der Familie davon Erstens. Wir werden ein zweistufiges Verfahren zur betroffen ist, sondern ich sage das, weil derjenige, der Reform der sozialen Pflegeversicherung haben. Wir wer- von einer würdevollen Pflege spricht, auch Verantwor- den damit eine Dynamisierung des Leistungsrechts her- tung dafür übernehmen muss, dass diese würdevolle beiführen und somit mehr Geld – 4 Prozent zusätzlich Pflege ausfinanziert wird und geleistet wird durch quali- sind nicht zu unterschätzen – zur Verfügung stellen und fiziertes Personal, durch letztendlich liebevolle Angehö- damit den Eigenfinanzierungsanteil tatsächlich senken. rige, die das auch schaffen und für die es nicht nur eine Zweitens. Wir werden – es steht in der Koalitionsver- zusätzliche Belastung ist. einbarung; es ist also schon vereinbart – ein neues Pfle- (Beifall bei der CDU/CSU) geberufegesetz auf den Weg bringen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Ulla Schmidt: GRÜNEN]: Wann?) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Zimmermann? – Keine Panik, Maria. Wir werden es haben, und wir werden uns gegen Ende dieser Legislaturperiode die Hände schütteln. – Ein solches Gesetz sorgt für mehr Mechthild Rawert (SPD): Qualität durch mehr Fachkräfte. Alle wissen: In die Pfle- Ja. geausbildung muss investiert werden. Wir wollen – auch das steht in der Koalitionsvereinbarung – kein Schulgeld Vizepräsidentin Ulla Schmidt: mehr, und wir wollen mehr horizontale und auch verti- Ich mache darauf aufmerksam: Das ist die letzte Zwi- kale Durchlässigkeit im Kontext der Pflegeausbildung. schenfrage, die ich in dieser Debatte zulassen werde. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Pia Zimmermann (DIE LINKE): Drittens. Wir wollen eine qualifiziertere, wohnortnahe Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Pflegeberatung. Wir wollen einen Ausbau der Pflegestütz- Rawert, diese Frage muss jetzt natürlich kommen. Wenn punkte. Ja, die Zukunft der Pflege liegt im Quartier. Aber wir von Ausfinanzierung einer auskömmlichen Pflege auch das steht letztendlich in unseren Vereinbarungen. reden, dann steht natürlich auch die Frage der solidari- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4355

Pia Zimmermann (A) schen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung im Raum. Ich wünsche allen eine schöne Sommerpause. Ich (C) Die SPD hat das ja im Wahlkampf auch proklamiert. Es lade Sie ein: Laden Sie uns ein! Erzählen Sie uns von Ih- war auch auf euren Fahnen zu lesen. Die Frage ist: Wann ren Pflegeerfahrungen! können wir denn damit rechnen? Wann bringt ihr das denn in die Koalition ein, damit wir tatsächlich zu einer Vizepräsidentin Ulla Schmidt: auskömmlichen Pflege kommen, die wirklich rundum Frau Kollegin, die Redezeit ist abgelaufen. finanziert ist? Mechthild Rawert (SPD): Mechthild Rawert (SPD): Schaffen wir gemeinsam eine bessere Pflege! Die SPD hat das Konzept der Bürgerversicherung so- Einen schönen Sommer! wohl für den Bereich Gesundheit als auch für die soziale Pflegeversicherung nicht aufgegeben. Wir haben aber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derzeit eine andere Koalitionsvereinbarung. Karl der CDU/CSU) Lauterbach hat vorhin gesagt, er sagte es persönlich. Okay, dann sage ich es auch persönlich. Ich trete in kei- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: nen Urheberstreit ein, wenn es um die Rechte für die Nächster Redner ist Erwin Rüddel, CDU/CSU-Frak- Pflegevorsorge geht. Das ist eindeutig „made by CDU/ tion. CSU“. Das ist so. Aber das Konzept wird von uns spä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- testens im nächsten Wahlkampf weiter betrieben; denn neten der SPD) wir glauben an die Parität. Wir glauben an eine gerechte Finanzierung. Wir glauben aber auch daran, dass es not- wendig ist, jetzt viel Geld – über 4 Milliarden Euro – für Erwin Rüddel (CDU/CSU): die Pflege bereitzustellen, und dass wir dieses auch um- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen setzen müssen. und Herren! 20 Jahre Pflegeversicherung. Eben sind die folgenden Begriffe gefallen: Pflege-Weiterentwicklungs- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gesetz, Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, Pflegestärkungs- gesetz. Das sind alles Gesetze, die sehr eng mit der Es wurde vorhin ein bestimmtes Bild von Familien CDU/CSU verbunden sind. Liebe Frau Kollegin beschrieben. Ich glaube nicht, dass – ich sage jetzt ein- Scharfenberg, auch die Grünen haben in Deutschland mal – die Familien in 20, 30 Jahren alle viel desaströser eine Zeit lang Verantwortung getragen, und in diesen sind oder Ähnliches mehr. Ich bin vielmehr davon über- Jahren stand die Pflege nicht auf ihrer Agenda. (B) zeugt, dass eines den Bereich Pflege noch mehr heraus- (D) fordert, nämlich die Vielfalt der unterschiedlichsten Le- Wir reden heute über die bedeutendste Reform der ge- benssituationen. Da sind selbstverständlich die Singles setzlichen Pflegeversicherung seit ihrer Einführung. Wir zu nennen. Es gibt 15-jährige Enkeltöchter, die quasi als sprechen über die umfassendste Leistungsverbesserung Einzige in der Familie wissen, wie der Medikamenten- für pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen. plan für die Oma aussieht. Es gibt mittlerweile Wohnge- Wir reden über verbesserte Arbeitsbedingungen für alle, meinschaften, wo die 102-jährige Mutter sich um das die in der Pflege tätig sind. Wir sprechen über geeignete Maßnahmen, um rechtzeitig dem demografischen Wan- Wohlergehen der 80-jährigen Tochter kümmert. del Rechnung zu tragen. Wir reden über mehr Qualität, Es geht aber auch darum, diskriminierungsfreie mehr Geld, mehr Betreuung und mehr Hände für gute Räume zu schaffen: wie zum Beispiel den „Lebensort Pflege in Deutschland. Vielfalt“ hier in Berlin, wie zum Beispiel das Wohn- und Die Pflegereform zählt zu den zentralen innenpoliti- Lesbenprojekt „RuT – Rad und Tat“. Wir brauchen auch schen Vorhaben der Koalition in dieser Legislaturpe- in dieser Richtung viel mehr Ideen und Kompetenzen. riode. Deshalb wollen wir den großen Wurf, und den werden wir umsetzen, verehrte Kolleginnen und Kolle- Wir brauchen eine kultursensible Pflege; denn eines gen von der Opposition. Diese Koalition hält ihr Wort, ist klar: Die Senioren und Seniorinnen aus dem Kreis der das sie den Pflegebedürftigen, den Angehörigen und den Zugewanderten sind eine der größten Gruppen, die mitt- Pflegekräften gegeben hat. lerweile – so sage ich jetzt einmal – in die Pflegebedürf- tigkeit gehen. Aber unser Pflegesystem hat für deren (Beifall bei der CDU/CSU – Maria Klein- spezielle Bedürfnisse noch viel zu wenig Kompetenzen. Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir mal hoffen!) Ich sage auch – das war ein Punkt, der hier vorhin zur Debatte geführt hat –: Ja, es bedarf noch der genaueren Auf die Details der Leistungsverbesserungen sind Abgrenzung zwischen den Tätigkeiten der Betreuungs- meine Vorredner bereits ausführlich eingegangen. kräfte, der Entlastungskräfte und auch der Pflegefach- Dass wir bei der Reform in zwei Stufen vorgehen, da- kräfte. Nichtsdestotrotz: Wir werden dieses Thema noch für gibt es gute Gründe. Die Abkehr von der Minuten- diskutieren. Wir werden auch noch andere Bereiche dis- pflege und die regelhafte Einbeziehung von an Demenz kutieren. Was ist zum Beispiel mit der Behandlungs- erkrankten Menschen kann sinnvoll erst nach wissen- pflege? Das können wir aber heute nicht mehr machen, schaftlicher Vorbereitung umgesetzt werden. Hier geht zumal meine Redezeit schon zu Ende ist. Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Die neue Systematik 4356 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Erwin Rüddel (A) muss in sich schlüssig sein und einheitlich angewendet Pflegereform mit einer ganzen Reihe weiterer Maßnah- (C) werden. Das sind wir den Pflegebedürftigen schuldig; men flankieren, wie dem Ausbau der Vorsorge in einem denn vom künftigen Pflegebedürftigkeitsbegriff sind neuen Präventionsgesetz oder der Förderung von inno- Hunderttausende von Menschen betroffen. vativen Versorgungsformen von niedergelassenen Ärz- ten oder Kliniken. Deshalb ist es richtig, das neue Begutachtungsverfah- ren in Modellversuchen auf seine Praxistauglichkeit zu Mit der Reform der Pflege und ihren Vorhaben im prüfen. Im Ergebnis werden alle, die ab einem bestimm- Gesundheitswesen verfolgt diese Koalition eine weit- ten Stichtag pflegebedürftig werden, nach den neuen Be- sichtige Politik, die sich konsequent an mehr Qualität dingungen begutachtet werden. Alle diejenigen, die be- und am Nutzen für die Betroffenen orientieren wird. reits eine Pflegestufe haben, erhalten Bestandsschutz. Vielen Dank. Bereits mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz haben wir Grundlagen für Verbesserungen zugunsten an De- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) menz erkrankten Menschen gelegt. Diesen Weg gehen wir mit dem Pflegestärkungsgesetz konsequent weiter. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Ich sage es noch einmal: Die Koalition hält ihr Wort und Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord- wird noch vor Ende der Legislaturperiode die zweite nungspunkt ist der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU- Stufe der Reform verabschieden, durch die Menschen Fraktion. mit demenziellen Erkrankungen in der Pflegeversiche- rung entscheidend besser gestellt sein werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch Verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und eine Bemerkung zum Thema Bürokratieabbau und Do- Kollegen! Wir besprechen heute die erste Stufe der Pfle- kumentation. Die Ombudsfrau für Entbürokratisierung gereform; so möchte ich es nennen. Sowohl in der häus- in der Pflege, Frau Beikirch, hat hervorragende Arbeit lichen als auch in der stationären Pflege gibt es immer geleistet. Jetzt kommt es darauf an, die Ergebnisse mög- mehr Menschen mit Demenzerkrankungen, was sich in lichst rasch mit allen Beteiligten umzusetzen. Weniger einer stärkeren Berücksichtigung im vorliegenden Ge- Bürokratie bedeutet mehr Zeit für Zuwendung. setzentwurf widerspiegelt. Über zwei Drittel aller Pfle- (Beifall bei der CDU/CSU) gebedürftigen in Deutschland werden nach wie vor zu Hause gepflegt. So viel dazu, dass Familie im Jahr 2014 Die Dokumentation muss auf das Maß reduziert wer- angeblich nicht mehr funktioniert. Ich kann nur sagen: (B) den, das zur Qualitätssicherung wirklich notwendig ist. Das ist das Leben des Generationenvertrages. Ich sage (D) Es muss uns um die Qualität der Ergebnisse gehen, um allen Angehörigen: Respekt und herzlichen Dank, dass das Wohlbefinden, die Gesundheit und die Selbststän- Sie sich tagtäglich dieser Aufgabe stellen. digkeit von Pflegebedürftigen und weniger um die Strukturqualität. Die Dokumentation sollte deutlich re- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- duziert werden, indem nur bei Abweichungen vom Re- neten der SPD) gelfall Dokumentation notwendig ist. Gesellschaftliche Veränderungen, neue Familien- strukturen sowie die berufliche Situation vieler pflegen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Angehöriger erfordern Maßnahmen zur Stabilisie- Ich denke in diesem Zusammenhang auch an das so- rung und flexibleren Gestaltung der häuslichen Pflege, genannte Wingenfeld-Modell. Hier liegt der Fokus da- die wir heute auf den Weg bringen. Deshalb tun wir das rauf, wie sich der Pflegezustand eines Bewohners im auch. Auch hinsichtlich der stationären Pflege besteht Laufe der Zeit verändert und wie sich die Pflege im Ein- Verbesserungsbedarf. Auch das gehen wir an. Hier erfol- zelfall konkret auswirkt, soweit das von den Mitarbei- gen weitere Verbesserungen der ergänzenden Betreuung tern beeinflusst werden kann. Wichtig ist mir vor allem, der Pflegebedürftigen. dass wir Qualität, Bürokratieabbau und Transparenz in Mit dem Gesetz werden viele notwendige Schritte der Pflege nicht gesondert betrachten, sondern als Drei- aufgegriffen, auf die meine Vorredner bereits eingegan- klang. Dazu gehört auch die Harmonisierung der Prüf- gen sind. Besonders wichtig ist, dass in einer späteren kriterien der Medizinischen Dienste der Krankenkassen zweiten Stufe dieser Pflegereform bis 2017 ein neuer und der Heimaufsicht. Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt wird. Dies ist not- (Beifall der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU]) wendig, da der bisherige Pflegebedürftigkeitsbegriff rein somatisch ausgerichtet war, nun aber auch andere we- Meine Damen und Herren, auch die Pflege kann nicht sentliche Aspekte wie Kommunikation und soziale Teil- isoliert betrachtet werden. Wir müssen deshalb die Zu- habe berücksichtigt werden können. Damit werden ins- kunft der Pflege innerhalb von Strukturen planen, in de- besondere für Menschen mit Demenzerkrankungen oder nen ambulante und stationäre Versorgung in der Pflege psychischen Problemlagen Verbesserungen einhergehen. zusammenwirken. Ein Beispiel ist die zugehende ärztli- che Versorgung von Pflegebedürftigen oder Vorkehrun- Aber ich sage nochmals – das möchte ich unterstrei- gen für Notfallsituationen an den Wochenenden. Sie chen –: „Satt und sauber“ ist nicht unsere Vorstellung helfen dabei, den Bewohnern belastende Klinikeinwei- von stationärer Pflege. In unserer Vorstellung ist die hy- sungen zu ersparen. Wir werden zudem unsere große gienische Versorgung und eine alters- und patientenge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4357

Erich Irlstorfer (A) rechte Ernährung eine Selbstverständlichkeit. Unser An- aufwand im Pflegebereich zu verringern. Das Bayeri- (C) spruch ist eine individuelle und vor allem auch sche Staatsministerium für Gesundheit und Pflege be- personifizierte Pflege, bei der das persönliche Gespräch, gleitet das Projekt Redudok von Einrichtungsträgern, der das kurze Innehalten am Pflegebett und somit auch Heimaufsicht München und des MDK. Die Dokumenta- Nächstenliebe und Menschlichkeit von Pflegerinnen und tions- und Kommunikationsstrukturen in Pflegeeinrich- Pflegern regelmäßig gelebt werden können und nicht die tungen werden in diesem Projekt kritisch analysiert und Ausnahme sind. Anregungen zum Bürokratieabbau erarbeitet. (Beifall bei der CDU/CSU – Maria Klein- Aber auch auf Bundesebene wird das Thema enga- Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da giert angegangen. Ich bin dem Patienten- und Pflege- werden wir aber bis 2017 warten müssen!) beauftragten der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, dankbar, dass er sich gerade auch bei diesem Thema en- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Diese gagiert. Bundesregierung setzt sich für eine massive Verbesse- rung im Bereich der Pflege ein. Das ist ein Hauptthema Eine neue Pflegedokumentation, die den inhaltlichen dieser Legislaturperiode und vor allem ein Zukunfts- und rechtlichen Anforderungen entspricht, ist entschei- thema für ganz Deutschland. Das dürfen wir nicht ver- dend, gerade auch für die Beschäftigten in der Pflege. schweigen, und wir lassen uns das auch nicht kleinreden. Denn diese Dokumentation stellt klar, dass nicht jede Aber ich sage auch: Die Pflegeversicherung hat einen einzelne Tätigkeit beschrieben werden muss und es Teilkaskocharakter. Staatliche Maßnahmen können hier trotzdem zu keinen negativen Haftungskonsequenzen für nur eine Säule der Unterstützung bilden. Gerade daher den einzelnen Beschäftigten kommt. Auch das ist eine ist es notwendig, ein gewisses Erwartungshaltungsma- Verbesserung. nagement zu betreiben und zu betonen, dass das alles nur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ein erster Schritt in die richtige Richtung ist. Es ist nicht neten der SPD) möglich, alles auf einmal zu erreichen. Doch unser tägli- ches Bestreben ist es, für Pflegebedürftige, für Angehö- Diese Bundesregierung investiert nicht nur in Stra- rige und für Beschäftigte im gesamten Pflegebereich ßen, Schienen und Gebäude – nein, diese Bundesregie- deutliche Verbesserungen herbeizuführen, die auch rung investiert in Menschen, in Bildung und Ausbildung, wirklich ankommen. weil wir alle wissen, dass die demografische Entwick- lung einen Fachkräftemangel erstens schon bewirkt hat Es gibt im Bereich der Pflege auch weitere wichtige und sich dieser zweitens noch verschärfen wird. Felder, auf denen Handlungsbedarf besteht. Dazu gehört vor allem die haus- und fachärztliche Versorgung. Hier Gleichzeitig wissen wir, dass Pflegeberufe schwere (B) stehen wir vor der Aufgabe, dass pflegebedürftige Men- Berufe sind, die leider oft finanziell und gesellschaftlich (D) schen immer noch zu oft für Routineuntersuchungen und unzureichend anerkannt werden. Mit anderen Worten: -behandlungen in Krankenhäuser transportiert werden Wenn wir wollen, dass eine angemessene Versorgung in müssen. Dies führt zu einer erheblichen Belastung der der Pflege gewährleistet wird, müssen wir sicherstellen, Pflegebedürftigen sowie zu enormen Kosten für das Ge- dass wir genügend Pflegerinnen und Pfleger ausbilden sundheitssystem. Weitere Schritte zur Verbesserung der und der Beruf so attraktiv ist, dass die ausgebildeten Situation sind aber notwendig. Wir dürfen uns hier auch Kräfte ihn gerne und lange ausüben. neuen Versorgungs- und Behandlungsformen nicht ver- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE schließen. GRÜNEN]: Stimmt! – Elisabeth Scharfenberg Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur in diesem [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wo in- Punkt besteht Verbesserungsbedarf. Deshalb bauen wir vestiert ihr da?) zum einen auf eine konservative Strategie, die ich vorhin Das heißt, dass sie Aufstiegsmöglichkeiten haben müs- mit den Worten Nächstenliebe und Menschlichkeit be- sen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ge- schrieben habe. Zum anderen bauen wir auf eine innova- währleistet sein muss, und vor allem, dass sie anständig tive Strategie, die zum Beispiel auch auf digitale Lösun- bezahlt werden und davon auch leben können müssen. gen bei der Pflege, vor allem bei der Dokumentation, setzt. Hier erkenne ich enorme Potenziale für telemedizi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nische Lösungen, die zu deutlichen Verbesserungen in neten der SPD und des Abg. Dr. Harald Terpe der Betreuung und Behandlung führen können. Wir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) brauchen ein Dokumentationssystem, das sich mehr an den wirklich wichtigen pflegerelevanten Bereichen aus- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: richtet und die Ergebnisqualität aufzeigt. Statt der reinen Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Dokumentation müssen künftig der Zustand und der Be- darf des Menschen sowie die Frage, wie es ihm geht, Erich Irlstorfer (CDU/CSU): stärker im Mittelpunkt stehen. Deshalb müssen wir nach der Sommerpause die Wei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen stellen, wie wir die Pflegeausbildung neu definie- neten der SPD) ren. Dazu brauchen wir aber auch die Bundesländer. Ich sage ganz deutlich: Monatliches Schulgeld für Auszubil- Vor diesem Hintergrund bin ich froh, dass wir in dende in der Pflege kann nicht die Antwort auf Pflege- Bayern Initiativen ergriffen haben, um den Bürokratie- kräftemangel sein. 4358 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Erich Irlstorfer (A) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich bitte jetzt die Kollegen, die den Saal verlassen (C) SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Karl Lauterbach wollen, dies zu tun. [SPD]: So ist es!) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Annalena Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluss Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen. der heutigen Debatte – – Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: NEN): Aber jetzt bitte zum Schluss. Schönen guten Morgen, sehr verehrte Frau Präsiden- tin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Wir brauchen einen Jawohl. – Ein herzliches „Vergelts Gott“ an alle Be- … Entwicklungspfad des konventionellen Kraft- teiligten! Ich hoffe, Sie stimmen diesem Gesetzentwurf werksparks, der mit den klimapolitischen Zielen zu. – Frau Präsidentin, herzlichen Dank. der Bundesregierung im Einklang steht. Insbeson- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dere muss vermieden werden, dass das nationale Klimaschutzziel verfehlt wird, wenn erneuerbare Energien ausgebaut und die Energieeffizienz ver- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: bessert wird, aber nicht im Gegenzug fossile Strom- Vielen Dank. Es ist immer so, dass wir alle gemein- erzeugung um- und abgebaut wird. sam die Redezeiten vereinbaren und deshalb auch alle gehalten sind, sie einzuhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich schließe damit die Aussprache. Jetzt müssten Sie von den Regierungsfraktionen ei- gentlich klatschen, weil das die Ansage aus dem Bun- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf desumweltministerium vom Frühjahr dieses Jahres ist, den Drucksachen 18/1798, 18/1600 und 18/1953 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das GRÜNEN]: Das Umweltministerium ist gar ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos- nicht da!) sen. geschrieben im Lichte des Weltklimaberichtes, der hier Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf: in Berlin vorgestellt wurde und sehr deutlich gemacht (B) (D) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten hat: Einen unkontrollierbaren Klimawandel können wir Annalena Baerbock, Oliver Krischer, Bärbel nur verhindern, wenn der größte Teil der weltweiten Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Kohlevorräte dort bleibt, wo er ist, nämlich unter der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erde. Kohleausstieg einleiten – Überfälligen Struk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN turwandel im Kraftwerkspark gestalten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Drucksache 18/1962 Es wundert nicht nur uns Grüne, dass ein paar Wo- chen nach der Veröffentlichung eines solchen Berichts, Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) den die Bundesregierung offiziell entgegengenommen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und hat, in Brandenburg beschlossen wird, genau das Gegen- Reaktorsicherheit teil zu tun, nämlich bis 2040 weiter Kohle auszubuddeln, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union die man eigentlich unter der Erde lassen wollte. Das b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva wundert, wie gesagt, nicht nur uns Grüne, sondern mitt- Bulling-Schröter, Caren Lay, Dr. Dietmar lerweile selbst die Amis. Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion In der New York Times hieß es, dass es schon etwas DIE LINKE „strange“ sei, also sehr merkwürdig und komisch, dass Energiewende durch Kohleausstiegsgesetz ab- die Kanzlerin auf der einen Seite beschließt, Klimapoli- sichern tik wieder zur Vorreiterpolitik zu machen, und auf der anderen Seite in Ostdeutschland ganze Dörfer ausradiert Drucksache 18/1673 werden. Auch uns als Klimapolitikern – da schließe ich Überweisungsvorschlag: die CDU/CSU und die SPD ein – ist es immer wieder Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) peinlich; denn wir haben, wenn wir auf internationalen Finanzausschuss Konferenzen angesprochen werden, wie es denn sein Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit könne, dass wir die erneuerbaren Energien ausbauen und Haushaltsausschuss unsere CO2-Emissionen trotzdem steigen, leider gar keine Antwort. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. des Abg. [DIE LINKE]) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4359

Annalena Baerbock (A) Nachdem es die Amerikaner begriffen haben, müssen den; denn die CDU/CSU hat sich leider – das müssen (C) auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/ wir zu unserem großen Bedauern feststellen – von die- CSU und SPD, begreifen: Deutschland kann nicht Ener- sem Thema verabschiedet. giewendeland werden wollen und gleichzeitig Kohleland Merkel hat beschlossen: bleiben; das geht nicht. ( [SPD]: Frau Merkel ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das immer noch!) und bei der LINKEN) Während andere Staats- und Regierungschefs in New Sie hätten gleich noch eine zweite Chance, das zu revi- York über das Weltklima diskutieren, möchte sie, Frau dieren. Aber leider setzt sich Ihre energiepolitische Merkel, lieber etwas anderes tun. Es heißt, sie habe Schizophrenie im EEG weiter fort. Das Erneuerbare- Wichtigeres zu tun. Energien-Gesetz wird zu einem „Erneuerbaren-Be- schneidungs-Gesetz“ zum Schutz der Kohle. Das ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wirklich absurd. – Da klatschen Sie auch noch? Das ist ja unglaublich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ( [SPD]: Weil Sie „Frau sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Merkel“ gesagt haben! – Thomas Jurk [SPD]: Da hilft es auch nichts, dass das Bundesumweltminis- Dafür, dass Sie höflich waren! – Wolfgang terium jetzt ein Aktionsprogramm – mittlerweile heißt es Tiefensee [SPD]: Das war nur der Beifall für „mittelfristiges Sofortprogramm“; auch sehr schizophren – „Frau“ Merkel!) auf den Weg bringen will – ich habe eingangs daraus zi- – Das ist ja nett, dass sie wenigstens bei dem Begriff tiert –; denn es ist zu befürchten, dass das Wirtschafts- „Frau“ klatschen. Schön, dass Sie so an einzelnen Wör- ministerium – der Minister selbst ist jetzt leider nicht da – tern hängen. auch diesmal wieder getreu nach dem Motto verfahren wird: Was schert mich das Geschwätz aus dem Bundes- (Thomas Jurk [SPD]: So viel Zeit muss sein!) umweltministerium? Anders kann man nicht erklären, Sie müssen sich also entscheiden, mit welcher Posi- dass die Bundesumweltministerin sehr richtig ankündigt, tion Sie nach New York reisen. Bisher ist unklar, wel- dass 2 Milliarden Zertifikate aus dem ETS genommen cher der SPD-Minister – Frau Hendricks, Herr Gabriel werden müssen, oder vielleicht Herr Steinmeier – nach New York fahren (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE wird. Aber wer auch immer fährt: Einer von denen muss GRÜNEN]: Das Umweltministerium ist abwe- eine Antwort darauf geben, was Deutschland zu der For- (B) send!) derung sagt – mit der Annahme des IPCC-Teilberichts (D) hat man das zugesagt –, dass man die Kohle in Zukunft aber die Bundesregierung in Brüssel die Position vertritt: unter der Erde lassen soll. Herausnahme von 900 Millionen Zertifikaten. Das reicht definitiv nicht aus. Das ist ein Affront gegen die Um- Damit Sie nicht ganz nackig dastehen, wenn Großbri- weltministerin. tannien sagt: „Also wir haben jetzt CO2-Grenzwerte ein- geführt, damit das Betreiben von Kohlekraftwerken aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) läuft“, damit Sie nicht ganz nackig dastehen, wenn Ähnlich ist es beim Entwicklungspfad für fossile Obama sagt Kraftwerke. Das Umweltministerium kündigt das groß ( [SPD]: Dafür bauen sie Atom- an – sogar im Spiegel steht, man wolle jetzt aus der Koh- kraftwerke!) lekraft aussteigen –, aber wenn man dann die Bundesre- gierung konkret fragt, antwortet wieder das Bundeswirt- – Herr Freese, jetzt regen Sie sich einmal ab. –: „Wir re- schaftsministerium. Dort heißt es: Nein, keineswegs, die duzieren unseren CO2-Austoß aus Kohlekraftwerken um Bundesregierung beabsichtige nicht, Kohlekraftwerke 30 Prozent“, haben wir als Opposition etliche Vor- vom Markt zu nehmen. – Das passt doch vorne und hin- schläge auf den Tisch gelegt, von denen Sie sich gerne ten nicht zusammen. welche aussuchen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir regen an, dass Sie sich in der Sommerpause ein- mal das Bergrecht vornehmen, und zwar nicht nur zum Liebe SPD, Sie müssen sich jetzt wirklich einmal ent- Thema Fracking, sondern auch zum Thema Kohle, um scheiden, ob Ihre Umweltministerin in der Regierung dann vorzuschlagen, dass in Zukunft neue Tagebaue noch eine Rolle spielen soll oder ob Herr Gabriel das nicht mehr genehmigt werden. jetzt alles einfach übernimmt. Sie müssen sich entschei- den, ob Umwelt- und Klimapolitik für Sie noch eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rolle spielen wird. und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Damit Sie in New York nicht im Schatten von Obama sowie bei der LINKEN) stehen müssen, regen wir an: Denken Sie darüber nach, wie Sie das Bundes-Immissionsschutzgesetz so ändern Denn ein bisschen Energiewende – das geht genauso we- können, dass die Menschen in Deutschland vor Queck- nig wie: ein bisschen schwanger; man muss sich ent- silber genauso geschützt sind wie in den USA. Wir regen scheiden, was man will. Sie sollten sich schnell entschei- insbesondere an – ich bitte darum, hier etwas genauer 4360 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Annalena Baerbock (A) zuzuhören –, dass Sie einen Plan vorlegen, wie Sie aus Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) der Kohle aussteigen können. Unser Vorschlag ist, CO2- NEN): Grenzwerte einzuführen. Das würde endlich Planungssi- Ich komme zum Schluss. – Nehmen Sie statt unseres cherheit in den fossilen Kraftwerkspark bringen. Es kann Antrags dann halt den DIW-Bericht, den Bericht des doch nicht sein, dass die Gaskraftwerke mittlerweile größten Wirtschaftsforschungsinstituts Deutschlands. vollkommen aus dem Markt gedrängt werden. Es kann Auch die haben einen Plan vorgeschlagen, der beinhal- auch nicht in Ihrem Sinne sein, Herr Pfeiffer, dass eine tet, über die Festlegung von CO2-Grenzwerten aus der Branche komplett plattgemacht wird. Kohle auszusteigen. Nehmen Sie sich das zu Herzen. Le- sen Sie das und machen Sie Ihre Vorschläge im zweiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Halbjahr. Denn eines geht nicht: nichts zu tun und den und bei der LINKEN) Kopf weiter in den Kohlesand zu stecken. Schauen Sie sich diesen Vorschlag einmal genauer an. Herzlichen Dank und einen schönen Sommer. Denn die anderen Länder könnten Sie in Lima oder in Paris fragen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ (Thomas Jurk [SPD]: Wir brauchen nicht stän- CSU: Wenn Sie weniger reden würden, wür- dig zu reisen!) den Sie weniger CO2 ausstoßen!) – es ist interessant, dass Sie mich dauernd belehren müs- sen. –: Wie kann es denn sein, dass fünf Kohlekraft- Vizepräsident : Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege werke in Deutschland genauso viel CO2 ausstoßen wie die 90 emissionsärmsten Länder der Welt? – Das ist Dr. Joachim Pfeiffer. doch unglaublich. Lassen Sie sich das einmal auf der (Beifall bei der CDU/CSU) Zunge zergehen. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Was ist das Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): für ein Vergleich?) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Baerbock, wir debattieren heute Ihre Antwort, liebe CDU, dass es doch völlig egal sei, ob über einen Antrag, den die Fraktion der Grünen einge- Deutschland international etwas tue, ist nicht zielfüh- bracht hat. Ich finde das, was Sie hier fordern, ziemlich rend. Wenn Sie nicht an die Kohle herangehen, werden unseriös. Es ist so, als ob man Äpfel mit Birnen verglei- wir keinen erheblichen Beitrag zum Klimaschutz leisten. chen würde. (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (D) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Oh!) Sie rufen immer herein, wie absurd das Ganze sei und Wie ist denn der Status quo der Stromerzeugung? Wir dass wir Grüne – das wird jetzt sicherlich auch von reden zunächst einmal über die Stromerzeugung in Herrn Pfeiffer kommen – Deutschland. Wir haben den Anteil der erneuerbaren Energien von 7 Prozent in 2000 auf heute 25 Prozent (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das hätten ausgebaut. Wir wollen und werden sie weiter ausbauen. Sie gern!) Tatsache ist, dass die Kohle heute 45 Prozent der Strom- den Industriestandort Deutschland ganz bewusst kaputt- versorgung in Deutschland erbringt. Die Kohle wird machen wollten. Deshalb zitiere ich zum Abschluss noch auf absehbare Zeit einen Großteil der Stromerzeu- nicht uns Grüne, sondern den Präsidenten der Weltbank gung erbringen müssen. Denn wir sind – dazu haben Sie – das ist sicherlich keine ökofundamentale Organisa- kein Wort gesagt – gerade dabei, aus der Kernenergie tion –, Dr. Jim Yong Kim: auszusteigen. Die Kernenergie hatte einen Anteil von 30 Prozent an der Stromerzeugung in Deutschland und Es gibt keine Ausreden mehr, 2014 muss das Jahr war und ist CO2-frei. des Klimaschutzes sein. Und nicht nur, um unseren (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Planeten zu schützen, sondern auch, um der Welt- NEN) wirtschaft einen neuen Schub zu verleihen. Wir hatten 2010 knapp 30 Prozent Kernenergie und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 10, 15 Prozent erneuerbare Energien. Das heißt, 45 Pro- In diesem Sinne hoffen wir auf Ihre zweite Halbzeit zent der Stromerzeugung waren CO2-frei. Im Zuge des 2014. Nutzen Sie die Sommerpause erkenntnisreich. Ausstiegs aus der Kernenergie ersetzen wir nur die Schauen Sie sich unsere Vorschläge an. Ich kann verste- Kernenergie durch die erneuerbaren Energien. Das ist hen, wenn Sie nicht mit einem grünen Antrag am Strand die Wahrheit. liegen wollen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Annalena Baerbock [BÜND- Vizepräsident Johannes Singhammer: NIS 90/DIE GRÜNEN]) Frau Kollegin Baerbock, ich erinnere Sie an die ver- Das ist Ihre Politik, die Sie favorisiert haben und die einbarte Redezeit. auch die Mehrheit des Hauses hier so beschlossen hat. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4361

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Ich war anderer Meinung, aber die Mehrheit hat es so Ich nenne ein weiteres Stichwort: Versorgungssicher- (C) beschlossen. Zur Wahrheit gehört das dazu. Heute stel- heit. Die Braunkohle ist – das ist nun wirklich unstrit- len Sie sich hierhin und beklagen, dass die Kohle unter tig – ein heimischer Rohstoff. Er ist in ausreichender CO2-Gesichtspunkten noch diese Rolle spielt, die sie Menge vorhanden, und er ist subventionsfrei, anders als – nach Ihrer Meinung – gar nicht mehr spielen müsste. andere Energieträger wie die erneuerbaren Energien, die Auch das gehört zur Wahrheit. wir gerade ausbauen. Die Braunkohle ist subventionsfrei und absolut wettbewerbsfähig. Die erschlossenen Tage- Die Entscheidung, die getroffen wurde, wurde so be- baue reichen noch für weitere 30 Jahre. Das ist übrigens gründet: Die Nutzung der Kernkraft ist unverantwortli- auch der zeitliche Horizont unserer energiepolitischen cher, und die Problematik bei der Kernkraft ist noch grö- Einsparziele, unserer CO -Reduktionsziele ßer. – Eines geht aber mit Sicherheit nicht: aus beidem 2 gleichzeitig auszusteigen. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das schaffen Sie eben nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wolfgang Tiefensee [SPD]) und des Ausbaus des Bereichs der erneuerbaren Ener- gien. In diesem Zusammenhang sprechen wir über 2050. Der Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland wird es sich nicht leisten können, gleichzeitig aus der Kern- Zu dem, was ich jetzt anspreche, haben Sie bisher energie und der Kohle auszusteigen. Um die Ziele zu er- nichts gesagt. Ich bin gespannt, was Sie im weiteren Ver- reichen, werden wir zwar im Lauf der Zeit aus beiden lauf dieser Debatte noch dazu sagen werden. Sie blenden Energien aussteigen, aber sicher nicht so, wie Sie es vor- die Realitäten aus, greifen in eine Schublade und arbei- schlagen. ten sich daran ab, ohne darauf zu achten, dass die Dinge zusammenpassen. – Braunkohle wird in Deutschland Ich finde es schon ein bisschen scheinheilig – das verstromt. Der Strom aus Braunkohle ist zu 90 Prozent muss ich sagen –, wenn Sie Fortschritte in den USA bei KWK-Strom der Emissionsreduzierung als Beispiel heranziehen, gleichzeitig aber kein Wort zur Schiefergasförderung sa- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen, obwohl dies der alleinige Grund dafür ist, dass die NEN]: Was?) CO2-Emissionen in den USA zurückgehen. und fließt in die Fernwärme. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE In den USA hat ein Fuel Switch von der Kohle zum Gas GRÜNEN]: So ein Schwachsinn!) stattgefunden. Allein deshalb sind die Emissionen in den Das heißt, ohne Braunkohle werden wir auch unsere (B) USA um 20 bis 25 Prozent zurückgegangen. So ist die KWK-Ziele nicht erreichen. (D) Kohle ersetzt worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: GRÜNEN]: Das sind zukünftige Pläne!) Wo soll denn die Wärme hin?) Das ist die andere Seite der Wahrheit. Aus diesem Be- – Zu 90 Prozent in Strom- und Fernwärmeerzeugung. reich wollen Sie aber auch aussteigen bzw. erst gar nicht Das ist doch unstrittig. in diesen Bereich einsteigen. Sie verteufeln diese Tech- nologie ja von vornherein. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wo in der Lausitz soll denn die ganze (Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜND- Wärme hin?) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Insofern ist das, was Sie uns hier heute erzählen, wirk- Vizepräsident Johannes Singhammer: lich unredlich. Herr Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Krischer? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wollen Sie denn Fracking?) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Selbstverständlich, gerne. Kommen wir zur Nutzung der erneuerbaren Energien. Wir haben zurzeit zwei Stromerzeugungssysteme. Aber Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nur die Energieerzeugung im Bereich der konventionel- Herzlichen Dank, Herr Kollege Pfeiffer, für die Mög- len Systeme kann eine gesicherte Leistung erbringen. lichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. Sie haben gerade Was nützt uns eine hohe installierte Leistung im Bereich eine ganz abenteuerliche These aufgestellt. Sie haben der Photovoltaik, wenn wir heute noch zu 100 Prozent behauptet, der in Deutschland erzeugte Strom aus Kapazitäten fossiler Energieträger, also konventioneller Braunkohle sei KWK-Strom und damit klimafreundlich. Kraftwerke, vorhalten müssen, um die Leistung zu ge- währleisten, wenn die Sonne nicht scheint? Beim Wind Ich komme aus einem rheinischen Braunkohlerevier. sind es 90 Prozent. Insofern ist es auch unredlich, wenn Die in den dortigen Kraftwerken stattfindende Braun- Sie hier behaupten, durch einen mengenmäßigen Ausbau kohleverstromung führt zu einer Leistung von ungefähr des Bereichs der erneuerbaren Energien wäre die benö- 10 000 Megawatt. Etwa 100 bis 200 Megawatt davon tigte Energie in Deutschland zu erzeugen. fließen in die Wärmenutzung. Am Ende fließen also nur 4362 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Oliver Krischer (A) ein paar Prozent in die Wärmenutzung. Könnten Sie mir (Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE (C) vor diesem Hintergrund erläutern, wie Sie auf die aben- GRÜNEN] nimmt wieder Platz) teuerliche These kommen, dass 90 Prozent des in – Die Frage ist noch nicht beantwortet, Herr Krischer. Deutschland erzeugten Braunkohlestroms KWK-Strom ist? (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Mir reicht es! Danke!) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): – Nein, die Frage ist noch nicht beantwortet; In Strom und KWK. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wenn Sie keine Ahnung haben, hören Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie lieber auf!) Ich stelle hier die umgekehrte Behauptung auf, dass ich sage Ihnen noch, wie wir unsere Ziele erreichen. 95 Prozent des in Braunkohlekraftwerken erzeugten Stroms reiner Kondensationsstrom mit Wirkungsgraden Sie haben, wie gesagt, die Technologie angesprochen, von teilweise unter 30 Prozent und entsprechenden Kli- und zwar zu Recht. Die CO2-Emissionen durch Kohle- maemissionen ist. Können Sie mir erklären, wie Sie zu verstromung betragen in Deutschland im Moment unge- Ihrer Behauptung kommen? fähr 380 Kilogramm je Megawattstunde. Weltweit sind es etwa 1 100 Kilogramm; das ist fast das Dreifache. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – heißt, die weltweiten Klimaziele – ich komme nachher Philipp Graf Lerchenfeld [CDU/CSU]: Dann noch auf die weltweite Situation zu sprechen – werden sagen Sie, wie Sie zu Ihrer kommen!) wir ohne die entsprechenden Wirkungsgrade in Deutsch- land nicht erreichen. Sind Sie etwa gegen die weltweiten Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Klimaziele? Ich hoffe nicht, dass dem so ist. Das kann ich gerne tun und es wiederholen – ich habe (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das vorhin schon gesagt –: 90 Prozent der Braunkohle- NEN]: Wir verstehen nicht mehr, was Sie sa- energie wird zur Erzeugung von Strom und Fernwärme gen! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eingesetzt. Wir werden die KWK-Ziele ohne Braunkohle NEN]: Sie haben richtig falsche Argumente nicht erreichen. gebracht, Herr Pfeiffer! Das ist doch unglaub- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich! Was Sie da machen, ist doch unseriös!) NEN]: Und wo gehen die restlichen 10 Pro- – Ja, die Argumente sind falsch; das ist klar, dass Sie das (B) zent hin, wenn sie nicht in Strom gehen? – sagen. (D) Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Pfeiffer, was rechnen Sie uns denn ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: da schon wieder vor?) Der hat doch überhaupt keine Ahnung! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – Noch einmal: Wir werden die KWK-Ziele ohne Braun- Das ist echt peinlich, Herr Pfeiffer! – Oliver kohle nicht erreichen. Wie die Situation in Ihrem Wahl- Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was kreis ist, weiß ich nicht im Detail. Aber schauen Sie sich Sie hier sagen, ist ja so ein Unsinn!) einmal an, wie KWK in den neuen Bundesländern einge- – Werden wir die KWK-Ziele ohne Braunkohle bis 2020 setzt wird. erreichen können, Herr Krischer? Nein. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wie viele Menschen leben denn da? NEN]: Ja! Der Strom geht doch zurück! Das Wen wollen Sie denn da mit Wärme versor- haben Sie selber gesagt!) gen?) Wie sieht die technologische Situation aus? Steinkoh- Deshalb haben auch Sie die KWK-Ziele mitbeschlossen. lekraftwerke haben in Deutschland einen Wirkungsgrad Bis zum Jahr 2020 wollen wir das KWK-Ziel von von 46 Prozent, Braunkohlekraftwerke von ungefähr 25 Prozent erreichen. 43 Prozent. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Genau! – NEN]: Das hat doch nichts mit der Braunkohle Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu tun!) NEN]: Nein!)

Dieses Ziel werden wir ohne die Braunkohle nicht errei- Was bedeutet das? Da Sie ja CO2-Emissionen einsparen chen. Das ist in der Sache ja wohl unstrittig; wollen, sage ich Ihnen: Der Wirkungsgrad beträgt im weltweiten Durchschnitt 30 Prozent. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist absurd!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aufhören, bitte!) das können Sie auch nachrechnen. – Sie wollen die Zahlen, die Fakten und die Realitäten Sie haben die Technologie angesprochen; dieses nicht wahrhaben. – Die CO2-Emissionen betragen unge- Thema können wir in der Tat gerne vertiefen. fähr 1 200 Gramm je Kilowattstunde. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4363

Dr. Joachim Pfeiffer (A) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ihr Problem ist: Sie haben eine Pippi-Langstrumpf-Men- (C) NEN]: So ein Quatsch! Die neuen haben talität; Sie verstehen nichts von der Sache und sind nicht 47 Prozent!) bereit, die Zusammenhänge zu akzeptieren. – Der weltweite Durchschnitt liegt bei 30 Prozent. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Antrag offensicht- GRÜNEN]: Ja, ja, der Durchschnitt!) lich nicht gelesen!) – Auch Sie haben gerade davon gesprochen, wie die Si- tuation weltweit ist. Dann fordern Sie auch noch Änderungen beim Berg- recht, da das Bergrecht angeblich zu alt sei. Wenn Sie so (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- denken, dann können Sie auch gleich die Abschaffung NEN]: Wollen Sie Durchschnittszahlen, oder des BGB fordern, schließlich ist das BGB aus dem Jahr wollen Sie es genau wissen?) 1900. Es ist aber ständig modernisiert worden. Gleiches gilt für das Bergrecht. Deutschland hat eines der mo- Jetzt zu unseren Kraftwerkskapazitäten. Sie wollen dernsten Bergrechte der Welt. den Export unserer Technologie ins Ausland unterbin- den. Sie haben im Ausschuss kürzlich beantragt, dass (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: unsere hocheffiziente Kohletechnologie nicht ins Aus- Oh!) land exportiert werden soll. Sie stellen sich also hierhin und beklagen die weltweit ansteigenden Emissionen. Unser Bergrecht hat sich bewährt und ist aufgrund der Aber ich frage Sie: Wie wollen Sie eine Reduzierung er- Anforderungen der EU ständig weiterentwickelt worden. reichen? Sie wollen aber gar kein modernes Bergrecht. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal, was Sie wollen. Wir wissen Mit erneuerbaren Energien!) nur, was Sie nicht wollen: Sie wollen kein Gas und keine Kohle importieren; Sie wollen die heimischen Rohstoffe Tatsache ist – ob es Ihnen gefällt oder nicht und unab- nicht abbauen; Sie wollen keinen Bergbau mehr in hängig davon, was wir in Deutschland machen oder Deutschland. – Genau da liegt das Problem. Das ist ein nicht machen –: 40 bis 50 Prozent der Kraftwerkskapazi- schwerer Fall von Aussteigeritis. täten, die weltweit neu gebaut werden, sind Kohlekraft- werke. Da das so ist und auf absehbare Zeit so bleiben (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE wird, sage ich Ihnen: Dafür sollten wir am besten unsere GRÜNEN]: Sie sind ein schwerer Fall!) eigene Technologie zur Verfügung stellen. Aber Sie wol- (B) len, dass diese Technologie weder in Deutschland noch Alle Technologien passen Ihnen nicht. Sie zeigen den (D) anderswo auf der Welt zum Einsatz kommt. Insofern ist Menschen Luftschlösser, indem Sie einzelne Themen das, was Sie tun, unredlich. Das passt vorne und hinten herausgreifen, die aber nicht zusammenpassen. Sie wol- nicht zusammen. len aus der Kohle- und aus der Gasförderung aussteigen, Sie wollen kein Freihandelsabkommen, und auch Fra- (Beifall bei der CDU/CSU) cking wollen Sie nicht zulassen. Mit Ihrer Aussteigeritis gefährden Sie den Industrie- und Investitionsstandort Noch einmal zu den CO -Emissionen. Sie fordern ei- 2 Deutschland. nen planwirtschaftlichen Eingriff in das System des Emissionshandels, einen Mindestpreis hier und Verände- (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer rungen dort. Sie wissen ganz genau, dass weder ein Koh- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch leausstieg noch das EEG dazu führen, dass auch nur alles Quatsch!) 1 Kilogramm oder 1 Gramm mehr CO eingespart wird. 2 Wir brauchen die Kohle in Deutschland so lange, bis (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE sichergestellt ist, dass die Energieversorgung auch hin- GRÜNEN]: Ach ja?) sichtlich der zugesicherten Leistung und der Bezahlbar- keit durch andere Technologien erfolgen kann. Sie dage- Entscheidend für die CO2-Einsparung in Europa ist der Emissionshandel. In diesem Rahmen wird festgelegt, gen wollen am liebsten aus der Realität aussteigen. Wir wie hoch die Emissionen im Industriebereich und im werden einen solchen Weg nicht zusammen mit Ihnen Stromerzeugungsbereich maximal sein dürfen. Das ist gehen, vereinbart, und das ist geltende Gesetzeslage. Sie wollen (Beifall bei der CDU/CSU) in dieses System planwirtschaftlich eingreifen, statt zu sagen: Wir brauchen eine Gesamtrevision und ein neues sondern werden den Industrie- und Wirtschaftsstandort Marktdesign, bei dem alle Aspekte – die Förderung der Deutschland so weiterentwickeln, dass wir eine sichere, Erneuerbaren, der Emissionshandel, die konventionellen saubere und bezahlbare Energieversorgung bekommen, Kraftwerke und KWK – aufeinander abgestimmt sind. ohne unseren Standort, wie es ihre Vorschläge bewirken Dazu sagen Sie kein Wort. Das ist nicht nur unredlich, würden, kaputtzumachen. sondern völlig daneben, auch in der Sache. Da wird überhaupt nichts funktionieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Wenig Beifall in den eigenen Rei- NEN]: Wovon reden Sie?) hen!) 4364 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

(A) Vizepräsident Johannes Singhammer: scheitert. Als Folge von Fehlentscheidungen gibt es (C) Vielen Dank. – Für die Linke spricht jetzt die Kolle- enorme Überschüsse an CO2-Zertifikaten, wodurch der gin Eva Bulling-Schröter. Preis in den Keller gefallen ist. Eine Tonne CO2-Ausstoß kostet derzeit unter 5 Euro. Im Grunde genommen (Beifall bei der LINKEN) müsste die Tonne CO2-Ausstoß aber mindestens 60 bis 80 Euro kosten, wenn der Emissionshandel den Betrieb Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): von Kohlekraftwerken ernsthaft infrage stellen soll. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Energiewende und Klimawandel haben einen mächtigen (Beifall bei der LINKEN) Gegner: die Braunkohleindustrie, die derzeit boomt wie Jetzt will man den Emissionshandel reparieren, indem nie. Braunkohlekraftwerke sind ein überkommenes Re- man einen Teil dieser Überschüsse vom Markt nimmt. likt aus dem fossilen Energiezeitalter. Wir müssen die Aber selbst wenn die Reform gelingt, werden immer Verstromung von Kohle so schnell wie möglich über- noch zu wenige Zertifikate herausgenommen. Die Ver- winden, wollen wir unseren Kindern nicht eine zerstörte suche, den Emissionshandel wiederzubeleben, werden Welt hinterlassen. Wenn ich sage „schnell“, dann heißt ihn leider nicht mehr retten. Der Patient Emissionshan- das für uns: 2040 ist Schluss. Dazu haben auch wir einen del ist klinisch tot. Antrag eingebracht. Nehmen wir einmal an, es würde tatsächlich gelingen, (Beifall bei der LINKEN) den Preis für eine Tonne CO2 auf jene 60 bis 80 Euro zu Im vergangenen Jahr sind in Deutschland so viele Ki- treiben, damit die Braunkohle hierzulande irgendwann lowattstunden Strom aus Kohle erzeugt worden wie seit vom Markt gedrängt wird. Was wären die Folgen, wenn wir solche enorm hohen CO -Kosten erzwingen wür- 20 Jahren nicht mehr. Kohlestrom stößt mehr CO2 aus 2 als jeder andere Energieträger; das ist hier unbestritten. den? Das käme der Umwelt sehr zugute, aber die Ver- Es ist völlig falsch, dass ausgerechnet die Kohle, der braucherinnen und Verbraucher würde das über den schmutzigste Energieträger, solch einen großen Erfolg Strompreis teuer zu stehen kommen, und das wollen wir feiert, in einer Welt, in der wir uns abmühen, den Klima- ja alle miteinander nicht. wandel in den Griff zu bekommen. Daran ändern auch Wie kommen wir aus dieser Zwickmühle heraus? Die die neuesten Zahlen nichts, die besagen, dass der Anteil Bundesregierung will den CO2-Ausstoß bis 2040 um der Kohle im letzten Halbjahr etwas zurückgegangen ist. 60 Prozent reduziert haben. Wir sagen: Bis zu diesem Kohlestrom ist billig, aber nur, weil seine immensen Datum muss es ein definitives Ende der Kohleverstro- Folgekosten für Gesundheit und Natur nicht in den Preis mung geben. (B) mit einfließen; das sagt Herr Pfeiffer leider nicht. Billig (D) (Beifall bei der LINKEN) ist er auch deshalb, weil alte Kohlekraftwerke, die die meisten Schadstoffe ausstoßen, jetzt viel profitabler sind Es ist ein Gebot der Stunde, so schnell wie irgend mög- als schadstoffarme Gaskraftwerke. Das beweist auch die lich aus der Kohleverstromung auszusteigen. Das ist Tatsache, dass es im ersten Halbjahr einen Produktions- nicht sofort möglich; das ist klar. Wir brauchen aber jetzt rückgang bei Gaskraftwerken um 25 Prozent gegeben ein Kohleausstiegsgesetz mit einem ambitionierten Aus- hat. Das ist wahnsinnig viel. Das müssen wir ändern. stiegsfahrplan. (Beifall bei der LINKEN) (Jens Koeppen [CDU/CSU]: Was sagt denn Der schmutzige deutsche Braunkohlestrom flutet auch der Wirtschaftsminister von Brandenburg das europäische Ausland. Auch dort beschwert man sich dazu?) darüber. Anders bekommen wir diesen Rückwärtsgang nicht in Die Kosten für den Kohlestrom tragen die Menschen. den Griff. Die gesundheitlichen Folgen wegen Quecksilberbelas- Wir wollen den Kohleausstieg vom Ende her denken tung, Atemwegs- und Kreislaufbeschwerden, verkürzte und schlagen Folgendes vor – bitte hören Sie zu –: kein Lebenszeit, die Kosten für die Vertreibung aus der Hei- Neubau von Kohlekraftwerken, kein Neuaufschluss von mat wegen Braunkohletagebauen, die Zerstörung riesi- Tagebauen, Stilllegung des letzten Kohlekraftwerks spä- ger Naturflächen – all diese Kosten tragen wir, die Bür- testens 2040, gerinnen und Bürger. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe das Gefühl, dem Kartell der Kohlelobby ist das egal. Das finde ich sehr schade. ab 2015 jährliche Begrenzung der Strommengen aus Kohlekraftwerken, ineffiziente Kraftwerke früher ab- (Beifall bei der LINKEN) schalten als effizientere, Übertragung von Reststrom- Die Vertreter der Kohleindustrie sitzen überall mit drin – mengen auf jüngere, effizientere Anlagen zulassen. auch hier im Deutschen Bundestag – und reden und ent- scheiden mit. Auch das ist wichtig: Der Kohleausstieg muss arbeits- markt- und sozialpolitisch flankiert werden. Mit den Be- Eigentlich sollte der Emissionshandel den CO2-Aus- triebsräten vor Ort muss eine Regelung getroffen wer- stoß über hohe Preise ja verringern. Dieser Plan ist leider den, mit der alle Beschäftigten in diesem Bereich völlig misslungen. Der Emissionshandel ist kläglich ge- zukünftig leben können. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4365

Eva Bulling-Schröter (A) (Jens Koeppen [CDU/CSU]: Was sagt denn versuchen nur, der Regierung irgendetwas um die Ohren (C) der Wirtschaftsminister von Brandenburg zu hauen –, finde ich schade und dem Thema nicht ange- dazu? Er sagt doch genau das Gegenteil!) messen. Dafür sind Konversionsprogramme und eine soziale Ab- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sicherung notwendig. Ich finde auch: Es ist ein bisschen grenzwertig, wenn (Beifall bei der LINKEN) Sie beispielsweise auf Großbritannien und dessen Rolle Ich verstehe die Angst der Kohlekumpel. Das ist mir als im Zusammenhang mit der Kohleverstromung verwei- Betriebsrätin doch nicht fremd. Wichtig ist, dass sich sen und dabei verschweigen, dass in Großbritannien alle darauf einstellen können. neue Atomkraftwerke gebaut werden. Ich finde, auch das ist nicht so ganz glaubwürdig. Ich meine, es wird langsam Zeit, diesen wichtigen Schritt in verantwortungsvoller Weise zu tun. Das ist im (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sinne des Klimas wirklich notwendig. Beweisen Sie, Ich will nur für all die, die den Antrag nicht gelesen dass Sie nicht am Tropf der Kohlelobby hängen und dass haben, die Frage stellen: Gibt es bei den Grünen das Ihnen die Gesundheit, die Umwelt und das Klima wich- Ziel, die gemeinsam vereinbarten Treibhausgasminde- tiger sind als die Profite der Kohleindustrie. Ich denke, rungspotenziale im Hinblick auf 2050 vorzuziehen? Die- wir sollten uns von den Relikten des vergangenen Jahr- ses Ziel gibt es nicht. In Ihrem Antrag steht: Es bleibt bei hunderts trennen – für zukünftige Arbeitsplätze im Be- der Vereinbarung, bis 2050 eine Reduktion der Treib- reich der regenerativen Energien und in vielen anderen hausgase um 80 bis 95 Prozent zu erreichen. Bereichen mit Perspektive und mit guten Löhnen. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Leute, die vor Ort ar- Wenn Sie hätten glaubwürdig bleiben wollen, hätten beiten, sind sehr qualifiziert. Hier können wir Qualifika- Sie sagen müssen: Wir wollen schneller aus der Kohle- tionsprogramme und Strukturprogramme durchführen. verstromung aussteigen, um das genannte Ziel nicht Das ist dringend notwendig; denn sonst gibt es Pro- 2050, sondern schon 2045 oder 2040 zu erreichen. – Das bleme. machen Sie aber nicht. Das heißt, Sie bleiben bei genau diesen Vereinbarungen. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Toll!) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich wird es immer Probleme geben. Aber Sie wol- Es gibt diese Vereinbarung gar nicht, Herr len nicht nach vorne schauen, sondern sagen hier einfach Becker!) (B) Nein. (D) Das ist nach meiner Einschätzung etwas problematisch. Danke. Das Gleiche gilt für die Linksfraktion. Die Linksfrak- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten tion hat immerhin gesagt: Wir haben das Ziel, bis 2040 des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) aus der Kohleverstromung auszusteigen. – Das heißt also: Die Linke will zehn Jahre, bevor die genannten Vizepräsident Johannes Singhammer: Treibhausreduktionen erreicht werden sollen, aus der Nächster Redner ist der Kollege Dirk Becker für die Kohleverstromung aussteigen. Das Problem ist aber Sozialdemokraten. auch hier: Sie wollen zwar bis 2040 aus der Kohlever- stromung aussteigen, bleiben aber bei der Gesamtstrate- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gie, bis 2050 die Treibhausgasemissionen um 80 bis der CDU/CSU) 95 Prozent zu reduzieren. Das heißt, Sie hätten zwar dann weniger CO2-Emissionen aus der Kohleverstro- Dirk Becker (SPD): mung, aber die Gesamtmenge wollen Sie nicht reduzie- ren. Da fehlt eine schlüssige Systematik. Das ist nicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! glaubwürdig. – Frau Baerbock möchte eine Zwischen- Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen! Ich frage stellen. meine es wirklich ernst: Ich habe mir sehr viel Mühe ge- macht, Ihren Antrag und auch den Antrag der Linken zu lesen, weil ich weiß, dass das Thema Klimaschutz für Vizepräsident Johannes Singhammer: Sie ausgesprochen wichtig ist. Ich bitte darum, abzuwägen: Wenn wir Zwischenfra- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen zulassen, wird die Debatte auf der einen Seite natür- NEN]: Für Sie nicht?) lich sehr lebendig, auf der anderen Seite wird aber die Sitzungsdauer verlängert. Die Sitzungsleitung hat ange- – Für uns auch. Darum habe ich es ja gemacht. sichts einer sehr ambitionierten Tagesordnung die Mög- lichkeit, Zwischenfragen nicht zuzulassen. Davon In dem Antrag habe ich ein paar Punkte entdeckt, bei möchte ich jetzt Gebrauch machen, damit wir zügig wei- denen ich gedacht habe: Das werden wir in den nächsten terkommen. Jahren ernsthaft diskutieren müssen. Das wussten wir aber schon länger. Es tut mir leid, sagen zu müssen: Die ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Art und Weise, wie Sie dieses Thema versemmeln – Sie Die Moderation war länger als die Frage!) 4366 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

(A) Dirk Becker (SPD): Ich würde Sie bitten, sich einmal die Pressemitteilung (C) Mit Blick auf die Fraktion der Grünen habe ich die anzugucken, die von und von Frau Bitte, dass wir uns mit dieser Thematik einmal ernsthaft Hendricks war. Ich sage das nur deshalb, damit kein fal- auseinandersetzen. Ich habe nach der sehr emotionalen scher Eindruck hängenbleibt. Debatte über die Reform des EEG, die ich nachvollzie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hen kann, die Hoffnung: Es ist jetzt wirklich an der Zeit, der CDU/CSU – Annalena Baerbock [BÜND- dass wir uns mit dem gesamten energiepolitischen Um- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sie hat im Aus- bau, der jetzt mit der Energiewende zwingend kommen schuss etwas anderes gesagt!) muss, intensiver und fundierter auseinandersetzen; denn auf viele Fragestellungen haben wir alle noch keine Darüber hinaus haben sich auch die Börsenstrom- schlüssige Antwort. preise in Deutschland teils drastisch reduziert. Sie alle kennen das. Im Prinzip ist man ja immer ein Freund fal- Nach der Sommerpause, Frau Baerbock, wird die lender Preise, aber in diesem Fall führt das leider zu fata- prinzipielle energiepolitische Diskussion kommen: Wie len Fehlentwicklungen. sieht das Marktdesign aus? Was brauchen wir vor dem Hintergrund von Versorgungssicherheit und von Netz- Durch diese fallenden Preise steigen die Kosten für stabilität? die hocheffizienten, modernen Kraftwerke, für die KWK-Anlagen, während neben den erneuerbaren Ener- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gien insbesondere sehr günstige, aber auch ineffiziente NEN]: Da kommt nichts!) Anlagen mit einem hohen CO2-Ausstoß die Strompro- Wie gehen wir mit der Struktur der deutschen Energie- duktion sicherstellen. versorgung grundsätzlich um? Hier brauchen wir uns nichts vorzumachen: Auch der Eines ist klar und unstrittig: Wir wollen und brauchen Minister hat mehrfach gesagt, wenn es bei dieser Ent- den Erfolg dieser Energiewende, weil wir unsere Kli- wicklung bleibt, kriegen wir insgesamt ein Akzeptanz- maschutzziele einhalten wollen, aber auch, weil die problem mit der Energiewende. Daher müssen wir Maß- Minimierung unserer Abhängigkeit, insbesondere von nahmen ergreifen, um hier gegenzusteuern. Energieimporten, ein Akt und ein Gebot der volkswirt- Ich sage noch einmal ausdrücklich mit Blick auf die schaftlichen, der ökonomischen Vernunft ist. Darum Grünen und auch mit Blick auf die Linkspartei: Wir ste- wollen wir den Erfolg dieser Energiewende bis 2050. hen zu dem gemeinsamen Ziel der Reduktion der CO2- (Beifall bei der SPD) Emissionen bis zum Jahr 2050. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) Es gibt für diese Energiewende weltweit kein Vorbild. (D) Das macht es sehr schwierig, herauszufinden, welcher NEN]: Die steigen aber, statt zu sinken!) Weg richtig ist. Was aber nicht geht, ist, dass wir weiter- Und ich sage auch ausdrücklich: Wenn man eine Reduk- hin eine fragmentierte Energiepolitik machen: gestern tion der CO2-Emissionen um 80 bis 95 Prozent bis 2050 die Reform des EEG, jetzt das Kohleausstiegsgesetz, will, erfordert das im Klartext die vollständige Dekarbo- morgen dies und übermorgen jenes. Ich bin dem Wirt- nisierung der Stromversorgung. schafts- und Energieminister ausgesprochen dankbar, dass er diese Woche einen Fahrplan, eine Zehn-Punkte- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Agenda vorgelegt hat, mit der erstmals die Energie- NEN]: Dann darf kein Kohlekraftwerk mehr wende insgesamt strukturiert und systematisiert wird. Es laufen! Genau darum geht es! – Annalena wird so für alle nachvollziehbar, welche Probleme jetzt Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zu lösen sind und was bis zum Ende der Legislaturpe- ist unser Vorschlag!) riode vorliegen muss, damit die Energiewende Erfolg Das ist völlig unstrittig. hat. Ich möchte, wenn ich darf, Herr Präsident, einmal (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kurz aus einer Drucksache aus der letzten Legislaturpe- der CDU/CSU) riode zitieren. Es heißt dort: Es gibt aber auch Fehlentwicklungen – wir haben das Im Sinne einer effizienten Ausnutzung fossiler gehört –: Die Strompreisentwicklung und die Entwick- Brennstoffe muss bis zur Erreichung des Ziels der lung der CO2-Zertifikatspreise sind anders verlaufen, als Vollversorgung aus Erneuerbaren Energien eine es noch vor wenigen Jahren prognostiziert worden war. Modernisierung des konventionellen Kraftwerks- parks unter Erreichung höchstmöglicher Wirkungs- Sie haben Frau Hendricks angesprochen, die gefor- grade erfolgen. … Hierzu werden über Instrumente, dert habe, 2 Milliarden Zertifikate aus dem Markt zu wie des Immissionsschutzgesetzes, die gesetzlichen nehmen. Außerdem habe sie ein Vorziehen der Einfüh- Anforderungen an die Wirkungsgrade so anzupas- rung der Marktstabilitätsreserve auf 2017 ins Spiel ge- sen sein, dass Kraftwerke, die nicht dem aktuellen bracht. Sie haben dabei den Eindruck erweckt, das sei Stand der Technik entsprechen – – gegen die Meinung des Wirtschaftsministeriums erfolgt. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist unser Antrag!) NEN]: Rausgekommen sind nur 900 Millio- nen!) – Was ist das? Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4367

Dirk Becker (A) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) NEN]: Das ist entweder euer oder unser Vor- neten der SPD) schlag!) – Ja, Sie haben in der Tat recht. Das ist ein Zitat aus dem Andreas Jung (CDU/CSU): Energiekonzept der SPD-Bundestagsfraktion aus dem Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jahr 2011. Nachdem in dieser Debatte schon die eine oder andere Zahl umstritten war, will ich eine Zahl vorwegstellen, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die – wie ich hoffe – unumstritten sein wird, weil sie NEN]: Aber ihr macht es nicht!) nämlich vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesys- Da Sie sagen, Sie hätten hier das Rad neu erfunden, teme kommt. Dieses Institut hat in diesen Tagen wieder sage ich Ihnen: einmal berechnet, welche Energiequelle am meisten zum deutschen Strommix beiträgt. Das war bis zum Jahr (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE 2007 die Kernenergie. 2007 wurde die Kernenergie von GRÜNEN]: Sagen wir doch gar nicht!) der Braunkohle abgelöst. Bis zum gesamten letzten Jahr Bereits 2011 haben wir darüber gesprochen. Wenn Sie blieb es dabei, dass die Braunkohle am meisten zum jetzt wieder mit dieser Märchenstunde kommen, wir Strommix beitrug. In den ersten sechs Monaten dieses würden nichts machen, dann muss ich Sie darauf hinwei- Jahres haben die erneuerbaren Energien zum ersten Mal sen, dass ich gerade erwähnt habe, dass ab Herbst die die Braunkohle überholt. Sie trugen rund 81 Terawatt- Debatte über diese Punkte beginnen wird. Sie haben stunden zum Energiemix bei, während die Braunkohle doch auch vom Bundeswirtschaftsminister die Agenda rund 69 Terawattstunden beitrug. Die erneuerbaren bekommen, dass ein Grünbuch erstellt werden wird, dass Energien sind nun Tabellenführer im deutschen Strom- wir uns in einem sehr intensiven, ernsten Prozess mit all mix. Darüber sollten wir uns erst einmal gemeinsam diesen Fragen, auf die wir die Antwort heute noch nicht freuen. abschließend kennen, auseinandersetzen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Annalena NEN]: Grünbuch! Weißbuch! Ihr müsst etwas Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: machen!) Deswegen kann die Kohle auch schrittweise rausgehen!) Hören Sie jetzt bitte einmal auf, hier immer zu sagen, wir machten nichts. Nehmen Sie zur Kenntnis: Die Ar- Das zeigt im Übrigen, dass wir bei allen berechtigten (B) beitsagenda liegt vor, und bringen Sie sich bitte sachlich und notwendigen Debatten über den richtigen Weg bei (D) in die Diskussion ein. der Förderung der erneuerbaren Energien vorankommen und dass die erneuerbaren Energien Schritt für Schritt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die tragende Säule in unserem Energiesystem werden. der CDU/CSU) Die heutige Debatte dient dazu, die Frage zu klären, wie Uns liegt daran, Versorgungssicherheit, Netzstabilität, wir auf diesem Weg vorankommen. Warum machen wir die klimapolitischen Ziele, das eigentlich? Die Förderung der Erneuerbaren ist kein Selbstzweck, sondern hat letztlich eine dienende Funk- (Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ tion. Sie dient der Sicherstellung der Stromversorgung DIE GRÜNEN]) der Wirtschaft und der Privathaushalte. Dabei werden keine neuen Risiken eingegangen wie beispielsweise aber auch das Thema Preisstabilität zusammenzubekom- beim Fracking, das es erforderlich macht, Chemikalien men. Ich lade Sie wirklich ein: Lassen Sie sich dann mit in den Boden zu pumpen. Wir werden im Herbst diesbe- uns auf eine sachliche Debatte ein! züglich ein konsequentes Gesetz verabschieden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da Ich weiß, die letzten Tage und Wochen waren auch bin ich mal gespannt! – Dr. aus anderen Gründen für manche emotional sehr schwie- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen rig. Das liegt auch an der EEG-Debatte. Ich wünsche uns wir hoffen!) allen ein bisschen Zeit für Ruhe, um dann vielleicht auch wieder Kraft für eine sachliche Debatte zu tanken. Die Förderung der Erneuerbaren führt dazu, dass wir Schritt für Schritt auf die Kernenergie verzichten und die Herzlichen Dank. Risiken des Umgangs mit radioaktivem Material aus- schließen können und dass wir unseren CO -Ausstoß, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 2 also den Ausstoß an Treibhausgasen, reduzieren können. Die Bestandsaufnahme zeigt, dass wir das erste Ziel er- Vizepräsident Johannes Singhammer: reichen, den zurückgehenden Anteil der Kernenergie in Vielen Dank. – Ich darf insbesondere anmerken, dass vollem Umfang durch den aufwachsenden Anteil der Er- Sie sehr vorbildlich mit der Redezeit umgegangen neuerbaren zu ersetzen, dass wir aber das zweite Ziel sind. – Jetzt spricht der Kollege Andreas Jung von der noch nicht erreichen, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. CDU/CSU. Dieser steigt im Moment. Warum ist das so? Das liegt 4368 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Andreas Jung (A) daran, dass Gaskraftwerke durch Kohlekraftwerke vom der Meinung, dass die Entscheidung, mit dem Backloa- (C) Markt verdrängt werden. Das ist erst einmal die Analyse. ding zunächst einmal Zertifikate vom Markt zu nehmen, richtig war. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung Nun stellt sich die Frage, woran das liegt. Es liegt sagt: Wir müssen jetzt einen Schritt weiter gehen. Wir nicht an der deutschen Gesetzgebung – es ist mir wich- begrüßen den Vorschlag, den die EU für die Marktstabi- tig, das zu sagen –, sondern maßgeblich am Emissions- litätsreserve gemacht hat, nämlich die Anzahl der Zerti- handel der Europäischen Union, fikate flexibel an die wirtschaftlichen Entwicklungen an- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zupassen. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung sagt, NEN]: Und da hat Deutschland nicht mitge- dass das früher als 2020 geschehen muss; es muss in den wirkt?) nächsten Jahren passieren, weil die Zeit drängt und das maßgeblich für den CO2-Ausstoß innerhalb der Europäi- der zurzeit schwächelt bzw. daniederliegt. Dabei kann es schen Union ist. nicht bleiben. Hier muss repariert und verändert werden. Wir brauchen eine nachhaltige und zeitnahe Reform des (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) europäischen Emissionshandels. Ich lade alle ein, dass wir gemeinsam darum ringen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und weil in der Europäischen Union diese Diskussion noch der SPD) nicht ausgetragen ist. Dort wird die Entscheidung getrof- fen, da werden die maßgeblichen Beschlüsse gefasst. Wenn wir das nicht schaffen, wird die Vorreiterrolle, Wir können natürlich darüber diskutieren, wie wir diese die die EU und insbesondere Deutschland im Klimapro- Maßnahme flankieren. Wir werden im Herbst über Ka- zess einnehmen, infrage gestellt. Auf den Klimakonfe- pazitätsmärkte sprechen. Ich will sehr dafür werben, renzen schaut man bislang mit Respekt auf Deutschland dass wir dabei insbesondere die Versorgungszeit in den und erkennt unsere Rolle an. Auf Dauer wird das aber Blick nehmen, also fragen, welche Kraftwerkskapazitä- gefährdet werden, wenn unser CO -Ausstoß steigt. 2 ten wir brauchen, um eine sichere Versorgung mit Ener- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und gie sicherzustellen, dass wir aber gleichzeitig fragen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie welchen Beitrag diese Kapazitäten zur Energiewende des Abg. Dirk Becker [SPD]) leisten und welche Rolle sie beim CO2-Ausstoß spielen. Das ist sicherlich eine der Debatten, die wir ergänzend, Um unsere Rolle beibehalten zu können, müssen wir in neben der Debatte über das Kraft-Wärme-Kopplungsge- Europa dieses Problem lösen. Dabei ist der Emissions- setz, hier auf nationaler Ebene führen können. handel das Herzstück. Ich möchte noch hinzufügen, dass, wenn wir über den Ich bin froh – der Kollege Becker hat das bereits an- (B) CO2-Ausstoß in Deutschland sprechen, der Energieer- (D) gesprochen –, dass es eine abgestimmte Position der zeugung eine wichtige Bedeutung zukommt, aber eben Bundesregierung gibt, die auf die Entscheidungen, die nicht die alleinige Bedeutung. Deshalb halte ich es auch wir schon getroffen haben, aufsetzt. Wir alle wissen, für richtig, dass die Bundesregierung in diesem Jahr ein dass wir lange – ich sage: zu lange – um die Entschei- Sofortprogramm Klimaschutz angekündigt hat, mit dem dung zum Backloading gerungen haben. Es war aber die Lücke, die auf dem Weg zur Erreichung unseres diese Bundesregierung, die schon in den ersten Tagen 2020-Ziels noch besteht, geschlossen werden kann, und die Entscheidung getroffen hat, eine erste Reparatur dass dabei die ganze Breite der Sektoren in den Blick ge- beim Emissionshandel vorzunehmen. Was ist das Pro- nommen werden soll. blem? Im Rahmen des Emissionshandels gibt es so viele Zertifikate, dass die Preise in den Keller gefallen sind. Ich will ausdrücklich dazusagen, dass die Haltung un- serer Fraktion ist, dass ein besonderer Schwerpunkt auf (Beifall der Abg. Barbara Lanzinger [CDU/ Energieeffizienz gelegt werden soll. Am besten ist es, CSU]) Energie erst gar nicht zu verbrauchen. Zuerst ist man von 30 Euro und dann von 17 Euro ausge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gangen. Nun liegt der Preis zwischen 4 und 6 Euro, also der SPD) in Regionen, die dazu führen, dass Braunkohlekraft- werke rentabel und Gaskraftwerke unrentabel werden. Es kann nicht darum gehen, dass man, wenn man in der Woran liegt das? Das liegt daran, dass von Anfang an Badewanne sitzt, noch weiter Wasser einlaufen lässt und viele Zertifikate auf dem Markt waren. In der Wirt- dabei weniger umweltfreundliche Energie durch um- schaftskrise ist dann die Produktion eingebrochen. Da- weltfreundlichere Energie ersetzt, sondern am besten ist mit ging der CO2-Ausstoß automatisch zurück. Gleichzei- es, wenn überhaupt keine Energie verloren geht, und das tig ist aber die Anzahl der Zertifikate gleich geblieben. bedeutet, den Stöpsel in die Badewanne zu stecken. Des- Seitdem gibt es eine Bugwelle, die wir vor uns herschie- halb sind wir für Energieeffizienz. ben. Deshalb kann ein Eingriff in den Emissionshandel Wir glauben, dass ein besonderer Schwerpunkt der nur die Ultima Ratio sein, das letzte Mittel; denn das ist Gebäudebereich sein muss. Ich will ausdrücklich dafür ein marktwirtschaftliches System, das von Verlässlich- werben, dass wir die öffentlichen Gebäude in den Blick keit lebt. nehmen, den Sanierungsfahrplan verbessern und den Aber wann, wenn nicht in dieser Situation und bei Prozess beschleunigen. Wir sollten aber auch darüber solchen CO2-Preisen, ist es Zeit und notwendig, von ei- nachdenken, wie wir ohne Zwang im privaten Gebäude- ner solchen Ultima Ratio zu sprechen? Deshalb bin ich bereich mehr Anreize schaffen können, um in diesem Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4369

Andreas Jung (A) Bereich, den wir alle im Übrigen schon seit vielen Jah- Warum legen wir zur heutigen Plenarsitzung einen (C) ren als schlafenden Riesen bezeichnen, schneller voran- solchen Antrag vor? Für einen erfolgreichen Klima- zukommen. schutz ist ein Ausstieg aus der Kohleverstromung unse- rer Meinung nach unerlässlich. Diese Meinung teilt auch Dazu muss der Nationale Energieeffizienz-Aktions- der Vorsitzende des Sachverständigenrates für Umwelt- plan, den wir im Koalitionsvertrag verabredet haben, mit fragen, Martin Faulstich. Gegenüber der Zeit sagte er am Leben gefüllt werden. Es wird die Frage sein, welchen 4. Mai mit Blick auf die Bundesregierung – ich zitiere Beitrag jeder dazu leisten kann. Da geht es auch um Un- mit Erlaubnis des Präsidenten –: ternehmen, die mit Energiemanagementplänen weitere Beiträge leisten können. Energieeffizienz ist ein beson- Wenn sie den Klimaschutz wirklich ernst nimmt, ders wichtiges Thema, und da wollen wir uns kraftvoll dann kommt sie aber am Kohleausstieg nicht vor- einbringen. bei. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) In Deutschland existiert schon seit längerem, gerade Zuletzt will ich die Mobilität ansprechen. Wir müssen was die Frage der Treibhausgase angeht, eine Lücke bei uns auf den Weg machen, um zu einer nachhaltigen Mo- der Erfüllung des Minderungsziels. Seit 2010 steigen die bilität zu kommen. Ich halte das Ziel der Bundesregie- Treibhausgasemissionen in Deutschland sogar wieder. rung, die Elektromobilität voranzubringen, für richtig. Sie alle wissen, dass den größten Anteil an diesem An- Ich halte es für notwendig, dass wir entsprechende Maß- stieg die emissionsintensive, aber betriebswirtschaftlich nahmen auf den Weg bringen. Das soll ebenfalls in die- preiswerte Braunkohleverstromung hat. Nach wie vor sem Herbst mit dem Elektromobilitätsgesetz passieren. stammen 25 Prozent der in Deutschland erzeugten Elek- Wir sind auf dem richtigen Weg, weil für uns der trizität aus der Braunkohle. Schwerpunkt Forschung und Entwicklung ist. Jetzt geht Vor diesem Hintergrund sagen wir: Damit muss end- es aber auch darum, wie wir den einen oder anderen An- lich Schluss sein. reiz setzen können, um die Hürde, die es noch gibt, um ein Elektroauto zu erwerben, überwinden zu können. (Beifall bei der LINKEN) Auch diese Diskussion steht jetzt an. Die werden wir Wir sind bis zu einem bestimmten Grade aus der Atom- führen. Für die Union gilt: Wir werden uns kraftvoll ein- kraft ausgestiegen – noch nicht ganz; es wird in Deutsch- bringen. land nach wie vor Atomstrom produziert. Als Nächstes Wir stehen hinter den Klimaschutzzielen, die wir, na- müssen wir meines Erachtens vor allen Dingen aus der tional wie europäisch, vereinbart haben und die wir auf dreckigen Braunkohleverstromung aussteigen, um in der Klimakonferenz durchsetzen wollen. Wir werden Deutschland die Energiewende hinzubekommen. (B) (D) durch die Weichenstellungen, die wir national vorneh- (Beifall bei der LINKEN) men und auf europäischer Ebene beeinflussen können, alles dafür tun, dass die Klimakonferenz in diesem Jahr Ich weiß, wovon ich rede. Ich komme aus Nordrhein- in Lima und vor allem im nächsten Jahr in Paris zu ei- Westfalen, wo es Garzweiler II gibt. Vor diesem Hinter- nem Erfolg wird. Der Klimawandel schreitet voran. Er grund denke ich, dass es absolut an der Zeit ist – nicht hat schon jetzt dramatische Auswirkungen. Die Weltge- nur aus Gründen des schmutzigen oder sauberen Stroms, meinschaft muss jetzt handeln, um diesen Prozess zu sondern auch mit Blick auf die Landschaftsfragen –, aus stoppen. Dabei haben wir eine besondere Verantwor- dieser Form der Energiegewinnung endlich auszustei- tung, und der wollen wir gerecht werden. Deshalb ma- gen. chen wir uns auf diesen Weg. Klimaforscher wie der ehemalige NASA-Direktor Herzlichen Dank. James Hansen gehen davon aus, dass schon die bislang ausgestoßenen Treibhausgase eine 2-Grad-Erwärmung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – auslösen könnten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Weltklimarat in seinen Studien. Mit Planeten lassen sich GRÜNEN]: Dann mal los!) allerdings keine Kompromisse ausverhandeln. Deswe- gen sagen wir: Es muss Schluss damit sein, dass Klima- Vizepräsident Johannes Singhammer: schutzziele im Interesse der Stromkonzerne und der Der Kollege Hubertus Zdebel spricht jetzt für die energieintensiven Industrie mit Füßen getreten werden. Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Wer den Klimaschutz ernst nimmt, muss endlich auf die Klimaforschung hören. Die Wissenschaft spricht Hubertus Zdebel (DIE LINKE): eine deutliche Sprache. Für halbherzige Klimaschutz- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen maßnahmen ist keine Zeit mehr. und Herren! Die Fraktion Die Linke hat für die heutige Plenarsitzung einen Antrag auf ein Kohleausstiegsgesetz (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- vorgelegt. Infolge eines solchen Gesetzes könnte – zu- NIS 90/DIE GRÜNEN) mindest fordern wir das – spätestens 2040 das letzte Vor diesem Hintergrund ist die völlig verfehlte Ände- deutsche Kohlekraftwerk vom Netz gehen. rung des EEG – das wird heute noch Thema sein – eine (Beifall bei der LINKEN) Katastrophe. Die Koalition hat das in seiner ursprüngli- 4370 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Hubertus Zdebel (A) chen Form so erfolgreiche EEG zerstört. Über das Er- man über flankierende Maßnahmen diskutieren. (C) gebnis kann sich die Kohlelobby nur freuen. Durch die Das kann ein Kohleausstiegsplan sein … Befreiung von der EEG-Umlage sparen die Tagebaue 250 Millionen Euro, die Braunkohlekraftwerke 630 Mil- Recht hat sie. lionen Euro. Das besagt eine Studie des BUND, die vor (Beifall des Abg. Ralph Lenkert [DIE einigen Wochen bei einer Anhörung des Umweltaus- LINKE]) schusses vorgestellt wurde. Für einen solchen Kohleausstiegsplan setzen wir Lin- Damit gefährdet die Bundesregierung nicht nur die ken uns auf jeden Fall ein, sei es in Brandenburg, sei es Energiewende in Deutschland, sondern auch die auf in- in Nordrhein-Westfalen oder sei es anderswo. ternationaler Ebene. Denn Deutschland hat – besser for- muliert wäre vielleicht: hatte – in dieser Frage eine Vor- Herzlichen Dank. reiterrolle. Dass die Bundesregierung die Energiewende (Beifall bei der LINKEN – Oliver Krischer hierzulande ausbremst, ist Wasser auf die Mühlen der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Branden- Energiewendegegner anderswo in der Welt. Auch diese burg! Oh!) Zusammenhänge müssen klar werden. Sie haben gerade zu Anfang der Diskussion im euro- Vizepräsident Johannes Singhammer: päischen Sektor auf einige Widersprüchlichkeiten, was Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege die Energiepolitik angeht, aufmerksam gemacht. Ich bin Matthias Miersch. ganz bei Ihnen, wenn Sie zum Beispiel erwähnen, dass andere europäische Länder jetzt wieder verstärkt auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Atomkraft setzen und dass man bestimmte Entwicklun- der CDU/CSU) gen in Europa nicht ausblenden darf. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Matthias Miersch (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Das muss man meines Erachtens deutlich formulieren. glaube, die Debatte hat gezeigt, dass wir hier mit einem sehr kontrovers diskutierten Thema beschäftigt sind. Es Ich bin sehr daran interessiert, mit Ihnen einen wirk- handelt sich um ein Thema, das letztlich zentrale lich sachorientierten, konstruktiven Dialog darüber zu Menschheitsfragen berührt. Wir machen das hier alles führen, wie eine Energiewendepolitik in Deutschland nicht zum Selbstzweck. Ich glaube, wir erkennen alle an, vor dem Hintergrund der allgemeinen weltwirtschaftli- dass das, was wir augenblicklich erleben – den konti- chen Entwicklung – Stichwort „Ressourcensicherheit“ – nuierlichen Anstieg der CO -Emissionen und darüber hi- (B) geführt werden kann. Damit habe ich gar keine Pro- 2 (D) naus viel gefährlicherer Gase –, dringend gestoppt wer- bleme. Allerdings müssen Sie auch tatsächlich dazu be- den muss. Ich glaube, da sind wir alle uns in diesem reit sein, die Entwicklung hier in eine vernünftige Rich- Haus einig, liebe Kolleginnen und Kollegen. tung zu lenken und Deutschland nicht die Vorreiterrolle zu nehmen, die es bisher hatte; denn dass es diese Rolle (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat, ist sehr wichtig. der CDU/CSU und der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Wenn wir ehrlich miteinander umgehen, dann stellen Was wir im Moment erleben, ist eine Rolle rückwärts wir fest, dass sowohl auf der internationalen Ebene wie im Interesse der großen Konzerne, deren Börsenkurse in auf der europäischen Ebene wie auf der nationalen Gefahr waren. Dort liegt nach meiner Einschätzung der Ebene – in diesem Parlament, aber auch, das sage ich eigentliche Grund dafür, dass das EEG vor kurzem geän- ganz deutlich, innerhalb der einzelnen Fraktionen, inner- dert worden ist. Eine Rolle rückwärts erleben wir in vie- halb der einzelnen Parteien, in den Bundesländern, im len Bereichen, gerade was die Braunkohleverstromung Bundestag – unterschiedliche Konzepte existieren. Nach angeht. Einen Dialog über all das würde ich mit Ihnen meiner Auffassung gibt es niemanden, der heute sagen ganz gerne einmal vertiefend führen wollen. Dazu ist kann: Wir haben ein Patentrezept, um diese große heute leider keine Zeit; aber bei nächster Gelegenheit Menschheitsherausforderung tatsächlich in den Griff zu sollten wir das tun. bekommen. Das festzustellen, gehört, finde ich, zur Ehr- lichkeit einer solchen Debatte. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD – Oliver Krischer Ich will noch kurz auf die Emissionspreise eingehen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bestreitet Wie bereits etliche betont haben, ist es so, dass es da auf- niemand!) grund der viel zu hohen Anzahl an Zertifikaten, die auf dem Markt sind, dringend Änderungen bedarf, was das Umso begrüßenswerter finde ich es, dass wir hier ganze Handelssystem angeht. Ich will zum Schluss Frau heute diese Debatte führen. Frau Baerbock, ich weiß Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsfor- nicht, ob ich die grünen Anträge in den Strandkorb schung zitieren. Sie hat vor kurzem gesagt: – wenn ich im Urlaub einen in Anspruch nehme – mit- nehme. Da die Bundesregierung diesbezüglich gerade Um Braunkohlestrom zu vermindern wären aber Vorarbeiten leistet, bin ich mir sehr sicher, dass wir im CO2-Preise von 40 bis 50 Euro pro Tonne CO2 not- Herbst darum ringen müssen, wie wir auf dieses Pro- wendig. Da dies eher unwahrscheinlich ist, muss blem zumindest mit einer nationalen Antwort reagieren. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4371

Dr. Matthias Miersch (A) Ich will mich über die Ziele nähern und fragen, ob wir (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) dort miteinander gehen können. Ich glaube, niemand kann NEN]: Sehr gut!) mit der heutigen Situation, wie wir sie vorfinden, zufrie- den sein. Niemand darf damit zufrieden sein, dass hoch- Diese Sache müssen wir auch als Umweltpolitiker im- effiziente Gaskraftwerke augenblicklich durch Kohle- mer wieder berücksichtigen. kraftwerke verdrängt werden. Das darf nicht sein, liebe (Beifall der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ Kolleginnen und Kollegen. DIE GRÜNEN] – Oliver Krischer [BÜND- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt konkret!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Jetzt, Herr Krischer, kommen wir zu der Frage, wel- geordneten der CDU/CSU) che Antworten wir geben. Ich glaube, dass das Handeln Ich finde, es kann auch niemandem in diesem Hause der internationalen Staatengemeinschaft entscheidend recht sein, dass der europäische Emissionshandel und ist. Das soll nicht heißen, dass wir auf nationaler Ebene damit das, was wir durch ihn erreichen wollten, nämlich nichts tun sollen. die Verteuerung von klimaschädlicher Energiegewin- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE nung, am Boden liegt und der Energie- und Klimafonds GRÜNEN]: Müssen!) praktisch leer ist. Auch das darf uns in diesem Haus nicht zufriedenstellen. Aber wir brauchen auch die anderen. Mit dem Emis- sionshandel wurde ein System entwickelt, um mit markt- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem wirtschaftlichen Instrumenten zu versuchen, diese He- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- rausforderung in den Griff zu bekommen. Nach meiner geordneten der CDU/CSU) persönlichen Auffassung müssen wir im Herbst in die- Wir dürfen auch nicht damit zufrieden sein, dass die sem Haus als Erstes darüber diskutieren, ob dieser euro- päische Emissionshandel überhaupt reanimierbar ist. CO2-Emissionen in Deutschland im vergangen Jahr ge- stiegen und nicht gesunken sind. Damit darf keiner in (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Haus zufrieden sein, liebe Kolleginnen und Kol- NEN]: Richtig!) legen. Diese Grundsatzfrage, finde ich, müssen wir diskutieren. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie geordneten der CDU/CSU) bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Ich habe Sie aufmerksam beobachtet und gesehen, es (D) haben irgendwie alle geklatscht. Wenn wir die Anträge von Linken und Grünen, die wir heute diskutieren, lesen, dann stellen wir fest, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf die Antworten von beiden Seiten unterschiedlich sind, des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!) – Jetzt müssen wir gucken, Herr Krischer, wie wir es von also auch die Opposition unterschiedliche Wege vor- der Metaebene auf die konkrete Ebene kriegen. Ich bin schlägt, und darüber müssen wir diskutieren. mir sicher, dass wir über die eine oder andere Frage dis- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kutieren müssen. Aber – das will ich vorweg sagen – es Deswegen haben wir die Debatte hier!) muss klar sein, dass wir Ökologie, Ökonomie und so- ziale Gerechtigkeit nicht gegeneinander ausspielen kön- Ich glaube aber, Frau Baerbock und Herr Krischer, ei- nen und dürfen. nes hat sich im Vergleich zu den letzten vier Jahren mas- siv geändert: Wir haben eine Bundesregierung, die nach (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Brüssel fährt und erstmals dort sagt: Der Emissionshan- der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜND- del geht so, wie er augenblicklich aufgestellt ist, nicht. – NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird immer un- Endlich gibt es eine deutsche Bundesregierung, die in konkreter! – Zuruf des Abg. Brüssel ambitioniert für die Reform wirbt, liebe Kolle- [Havelland] [DIE LINKE]) ginnen und Kollegen. – Jetzt hören Sie doch erst einmal zu, und dann regen Sie (Beifall bei der SPD – Oliver Krischer sich auf! Aber ich komme gleich noch dazu. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo? – Bärbel Als Umweltpolitiker liegt mir daran, zu sagen: Der Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das se- Gleichsatz dieser drei Werte geht nicht; hen wir aber nicht!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Andere Länder sind anders unterwegs. Dazu muss NEN]: Jetzt wird es noch philosophisch!) man sehen, dass die Briten das locker machen können. Der Kollege Becker hat zu Recht darauf hingewiesen. denn die industrielle Überlebensfähigkeit in Deutschland Nur, der britische Weg, in die Atomkraft wieder einzu- und der soziale Ausgleich gehen nicht zusammen, wenn steigen, ist nicht unser Weg und darf nicht unser Weg die Natur unwiderruflich zerstört wird. sein! 4372 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Dr. Matthias Miersch (A) (Beifall bei der SPD und der LINKEN – tet. Wir werden auch darüber im Herbst diskutieren kön- (C) Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE nen. Da wird es eine Fülle von kommunalen, nationalen GRÜNEN]: Das hat ja auch niemand gesagt!) und Ländermaßnahmen geben, und wir werden die Frage stellen müssen, ob unser Ziel „40 Prozent Reduk- Deswegen, finde ich – da, lieber Kollege Pfeiffer, tion bis 2020“ mit diesen Maßnahmen erreicht wird. müssen wir wahrscheinlich noch alle zusammen mitei- nander ringen –, ist das, was Professor Edenhofer und Herr Krischer, dann werden wir um die einzelnen andere vorschlagen, nämlich über CO2-Mindestpreise zu Maßnahmen miteinander ringen müssen. Sie haben ei- reden, eine Möglichkeit. Dies greifen die Grünen in ih- nige genannt; Barbara Hendricks hat andere genannt. Ich rem Antrag ja auch auf. Wir müssen überlegen, Markt- hoffe sehr, dass es uns gelingt, bei diesem großen Thema wirtschaft und – Sie sagen jetzt: Planwirtschaft; ich sage: einen Konsens zu finden. Ordnung – Mindestpreise in irgendeiner Form zusam- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- menzubringen; denn nur Markt bringt nichts. Das ist je- NEN]: Da müssen Sie erst mal mit Pfeiffer re- denfalls meine Überzeugung, liebe Kolleginnen und den!) Kollegen. Ähnlich wie bei der Atomkraft ist es hier sehr einfach, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten als Opposition etwas in die Debatte zu werfen. Damit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kann man super bestehen. Das ist ja auch Ihre Aufgabe. Aber darüber hinaus werden wir uns die Frage stellen Aber letztlich werden wir nur eine Lösung finden, wenn müssen, ob das ausreicht. Deswegen plädieren wir So- wir alle mitnehmen. Das haben wir beim Atomkonsens zialdemokratinnen und Sozialdemokraten in unseren geschafft. Etwas Ähnliches ist dringend notwendig beim Energiekonzepten auch für eine Mehrwegestrategie. Ja, Thema Kohle. wir brauchen ein internationales Abkommen, spätestens Lassen Sie uns das gemeinsam machen! Lassen Sie in Paris im nächsten Jahr. Ja, wir brauchen europäische uns die Sommerpause meinetwegen als schöpferische Antworten. Aber wir brauchen auch nationale Wege. Pause begreifen und dann im Herbst miteinander die (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Maßnahmen diskutieren! Ich glaube, hier haben wir ei- GRÜNEN]: Genau! – Oliver Krischer nen langen Weg vor uns. Aber wir haben bei der Atom- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schlagen energie gezeigt: Es geht gemeinsam. – Das würde ich wir vor!) mir auch hier wünschen. Der Kollege Jung hat die Gebäudesanierung und die Mo- Vielen Dank. bilität angesprochen. Ich nenne noch die Landwirtschaft. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (B) Aber auch ordnungspolitische Maßnahmen sind zumin- (D) dest zu diskutieren. Vizepräsident Johannes Singhammer: (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Jetzt hat das Wort der Kollege Oliver Krischer für GRÜNEN]: Ja, das schlagen wir vor!) Bündnis 90/Die Grünen.

Ich war bis vor kurzem ein Verfechter der CO2-Steuer. Nach der Rechtsprechung zur Brennelementesteuer Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): muss ich allerdings sagen, dass das juristisch wohl nicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ganz einfach werden wird. Lieber Herr Miersch, das war jetzt einmal ein vernünfti- ger Beitrag, der die Sache auf den Punkt gebracht hat. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das stimmt!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deswegen werden wir uns nach meiner Auffassung auch über weitere ordnungsrechtliche Ansätze unterhalten – Ja, das war ein Kompliment. Das hat sich wohltuend müssen, wenn wir beispielsweise um Effizienzstandards unterschieden von dem und steht in diametralem Gegen- von Kraftwerken ringen. satz zu dem, was Herr Pfeiffer und andere eben gesagt haben. (Beifall des Abg. Dirk Becker [SPD] – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- GRÜNEN]: Genau!) SES 90/DIE GRÜNEN) Ich glaube, das wäre eine Maßnahme, die wir flankie- Eines ist doch klar wie Kloßbrühe: Es geht nicht mehr rend einsetzen könnten, liebe Kolleginnen und Kollegen. um das Ob des Kohleausstiegs; es geht nur noch um das Wie, darum, wie wir das organisieren. (Beifall bei der SPD – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen Sie unserem Antrag zustimmen! – Oliver sowie des Abg. Harald Petzold [Havelland] Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: [DIE LINKE]) Dann stimmen Sie doch zu!) Wenn wir unsere Klimaschutzziele ernst nehmen – mi- Wir werden darüber hinaus noch über ganz andere nus 80 Prozent bis minus 95 Prozent bis Mitte des Jahr- Maßnahmen reden, an denen Barbara Hendricks gerade hunderts –, dann wird es kein Kohlekraftwerk mehr ge- im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative arbei- ben dürfen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4373

Oliver Krischer (A) Wir müssen uns die Frage stellen: Lassen wir das jetzt Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden, dass Na- (C) alles irgendwie geschehen, oder reden wir so wie Herr turressourcen zerstört werden, um dann zu 60 Prozent Pfeiffer? Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Er tritt aus Wasser bestehende Braunkohle zu fördern und in die Klimaschutzziele in die Tonne. – Die Frage, meine Kraftwerken zu verfeuern. KWK findet dort nicht statt, Damen und Herren, müssen Sie beantworten; die müs- Herr Pfeiffer, weil diese Kraftwerke Wirkungsgrade un- sen Sie als Große Koalition beantworten. Da sind Sie ein ter 30 Prozent haben. Das ist nicht einmal Technik des bisschen im Nebulösen geblieben. 20. Jahrhunderts, das ist Technik des 19. Jahrhunderts. Das ist nicht modern. Das ist nicht zukunftsweisend. Da- Wir haben konkrete Vorschläge gemacht. Wir haben mit muss endlich Schluss sein, meine Damen und Her- konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt. Man kann an- ren. dere Vorschläge machen. Aber nichts zu tun, so wie es Herr Pfeiffer vorgeschlagen hat, das wird nicht gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Da werden wir Sie nicht rauslassen. und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deshalb brauchen wir auch endlich ein Ende des Tage- und bei der LINKEN) baus. Meine Damen und Herren, es ist doch völlig irre: Im Ich will noch einen anderen Aspekt anführen. Bei Energiewendeland Deutschland – das muss man sich Kohle reden wir völlig zu Recht über Klimaschutz, CO2. einmal auf der Zunge zergehen lassen; das wird weltweit Das ist ein ganz entscheidendes Thema. Wenn wir Kli- sehr wohl registriert – steigen die CO2-Emissionen. Das maschutzziele erreichen wollen, dann müssen wir an die ist das Energiewendeparadoxon, gegen das wir dringend Kohlekraftwerke denken. Wer anderes erzählt, erzählt etwas unternehmen müssen. Es kann doch nicht sein, Unsinn. Aber es gibt noch andere Punkte. Kohlekraft- dass in meiner Heimat, im Rheinischen Braunkohle- werke sind inzwischen bei manchen Schadstoffen die revier, Kraftwerke aus den 60er-Jahren 8 000 Stunden, größten Schadstoffquellen in Deutschland. Ich will nur 365 Tage im Jahr rund um die Uhr, laufen und brummen, ein Beispiel herausgreifen. während nebenan ein hochmodernes Gaskraftwerk steht, (Thomas Jurk [SPD]: Quecksilber!) sein Geld nicht verdient, nicht laufen kann, stillsteht. Das, meine Damen und Herren, müssen wir ändern. – Quecksilber. Ja, Sie haben es begriffen. Dazu haben wir konkrete Vorschläge gemacht, die Ihnen auf dem Tisch liegen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Die größte Emissionsquelle für Quecksilber, für einen Union an der Stelle klar sagt, wie sie dazu steht, hochgiftigen Stoff, sind Braunkohlekraftwerke. Es ist doch ein Irrwitz, dass in den USA, einem Land, das nun (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: wirklich nicht für seine Umweltstandards bekannt ist, (B) (D) Wir auch!) viel strengere Quecksilbergrenzwerte gelten als in Deutschland. Diese Werte werden mit einer Technologie anstatt dumpfbackige Parolen in die Welt zu setzen. eingehalten, die in Deutschland entwickelt worden ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn wir diese Grenzwerte in Deutschland einführten, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) müsste jedes alte Kohlekraftwerk stillgelegt werden. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns deutsche Technologie Unsere Antwort ist: Wir müssen über den Emissions- und deutsches Know-how anwenden, damit endlich mit handel reden. Ich hoffe – bei der Union bin ich mir nicht diesem Irrsinn von Quecksilberemissionen, die die Ge- ganz sicher –, dass es wenigstens hier einen Konsens sundheit und die Umwelt belasten, Schluss ist. Es müs- gibt. Das allein wird das Problem aber nicht lösen. Wir sen endlich Umweltstandards eingeführt werden, die sagen: Wir brauchen CO -Grenzwerte für fossile Kraft- 2 dem Stand der Technik entsprechen. Da, meine Damen werke nach britischem Modell. Das hat nichts mit der und Herren, hat die Große Koalition bisher versagt, ge- Atomkraft in Großbritannien zu tun. Die Briten haben nauso wie vorher Schwarz-Gelb. Es gab genug Gelegen- sie; daran können wir uns orientieren, damit es auch eu- heiten, das zu tun. Auch das müssen wir anpacken. ropäisch funktioniert. Dabei kann man in keinen Kon- flikt mit der Kommission geraten, weil es dort praktiziert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird. Das schlagen wir Ihnen kombiniert mit einem öko- und bei der LINKEN) logischen Flexibilitätsmarkt vor. Das ist unser Angebot Zum Schluss, eines ist klar: Das Kohlezeitalter ist de- für die Debatte, die jetzt ansteht. Wenn das am Ende die finitiv zu Ende. Die Träumereien, die es vor einigen Jah- Vorschläge der Großen Koalition sind, dann haben Sie ren einmal gab, von 30 neuen Kohlekraftwerken – auch uns auf Ihrer Seite. Aber bisher habe ich dazu konkret Sigmar Gabriel und der eine Christ- oder Sozialdemo- nichts gehört. Ich habe von der Union gehört, dass sie krat sprachen begeistert davon –, sind vorbei. Alle, die in darüber überhaupt nicht reden will. Offensichtlich hat Kohle investiert haben, schreiben heute tiefrote Zahlen. sie die Vorstellung, dass es bis zum Jahr 2100 Kohle- Es ist zum Albtraum geworden. Wir müssen uns jetzt um kraftwerke in Deutschland geben soll. So habe ich Herrn den Strukturwandel im fossilen Kraftwerkspark im Zu- Pfeiffer verstanden, meine Damen und Herren. sammenhang mit dem Ausbau der Erneuerbaren im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sinne des Klimaschutzes kümmern, aber auch, um In- vestitionssicherheit in der Energiewirtschaft zu schaffen. Wir Grüne sagen klipp und klar – auch das gehört dazu –: Es muss in Deutschland endlich Schluss sein, Deshalb, meine Damen und Herren, verstehen Sie un- dass ganze Landschaften abgebaggert werden, dass seren Antrag, den wir heute hier vorlegen, als Angebot, 4374 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Oliver Krischer (A) um einen Strukturwandel zu schaffen; denn die Zeit für Nun habe ich mir allerdings schon die Frage gestellt, (C) einen organisierten Kohleausstieg ist überfällig. Das warum Sie diesen Antrag überhaupt noch stellen. Wir müssen wir gemeinsam anpacken. haben den Koalitionsvertrag, und wir haben einen Zeit- plan des Wirtschaftsministeriums zur Umsetzung wichti- Ich danke Ihnen. ger Schritte im Rahmen der Energiewende – der Kollege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Becker hat schon darauf hingewiesen –, übrigens auch und bei der LINKEN) zur Reform des Emissionshandels und der Einführung einer Marktstabilitätsreserve. Vizepräsident Johannes Singhammer: An die Fraktion der Grünen gerichtet sage ich: In Ih- Nächste Rednerin ist die Kollegin Barbara Lanzinger rer Kleinen Anfrage, die Sie am 4. Juni 2014 an die Bun- für die CDU/CSU. desregierung gerichtet haben und die am 26. Juni 2014 beantwortet wurde, haben Sie ja detaillierte Fragen zu (Beifall bei der CDU/CSU) den geplanten Vorhaben zur Erreichung der gesetzten Klimaschutzziele gestellt. Ich erläutere gerne jetzt noch Barbara Lanzinger (CDU/CSU): einmal unsere Vorhaben in dieser Legislaturperiode: Wir Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- brauchen und wollen zügig ein neues marktwirtschaft- gen! Kohle ist auf Dauer auch für uns keine Lösung. liches Strommarktdesign. Deshalb wird nach der Som- merpause ein strukturierter und offener politischer (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dialog über das Strommarktdesign in Deutschland be- NEN]: Aha!) ginnen. Im Herbst 2014 wird das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie dann ein Grünbuch zum zukünf- Ich denke, daraus haben wir nie einen Hehl gemacht. tigen Strommarktdesign veröffentlichen, welches öffent- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich konsultiert und im Jahr 2015 zu einem Weißbuch NEN]: Außer Herr Pfeiffer! – Gegenruf des mit konkreten Lösungsvorschlägen weiterentwickelt Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: So ein werden soll. Im Rahmen dieses Dialogs über das neue Quatsch!) Marktdesign geht es für uns ausdrücklich nicht um die Subventionierung alter Kohlekraftwerke, sondern um ei- Wir alle wollen langfristig aus der Kohle aussteigen. Wir nen sehr viel breiteren Ansatz. sehen das ganz genauso. Alles andere wäre paradox in der Energiewende. Kaum jemand arrangiert sich mit ei- (Beifall bei der SPD – Harald Petzold [Havelland] ner neuen Stromtrasse vor der Haustür, wenn durch sie [DIE LINKE]: Da sind wir ja gespannt!) immer mehr statt immer weniger klimabelastender (B) Bayern setzt sich dafür ein, Umweltbelange, Versor- (D) Strom transportiert wird. Aber ich sage jetzt einmal: Erst gungssicherheit und Bezahlbarkeit in eine verträgliche die Atomkraft, jetzt die Kohle, alles auf einmal geht Balance zu bringen. Viele Jahre lang stand der Aufbau nicht. von Kapazitäten aus erneuerbaren Energien sehr im Vor- (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: dergrund. Ich denke, ich kann sagen: Wir in Bayern wis- Das sagt auch keiner!) sen, wovon wir reden. Wir sind an der Spitze bei der Er- zeugung von Strom aus erneuerbaren Energien – im Bei uns würde man dann auf gut Bayerisch sagen: Ge- Gegensatz zu Nordrhein-Westfalen zum Beispiel. Wir mach, gemach, net oalles oaf oimoa, schee loangsoam. decken bereits 36 Prozent unseres Stromverbrauchs aus (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE erneuerbaren Energien. GRÜNEN]: Haben Sie den Antrag gelesen? – (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Erzählen Sie mal etwas zur Windener- NEN]: Haben Sie Herrn Miersch zugehört?) gie in Bayern!) Eines ist klar: Wir wollen eine Versorgung mit einem Wir alle wissen aber auch: Leistung durch erneuer- intelligenten Energiesystem ohne Kohlestrom und mit bare Energien ist nicht durchgängig sicher und auch mehr marktwirtschaftlicher Steuerung statt staatlicher nicht grundlastfähig. Regulierung. Wir als CSU haben bereits im Januar 2014 in Wildbad Kreuth – darauf möchte ich ganz bewusst (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verweisen – eine konsequente und klimafreundliche NEN]: Was ist denn mit der Windenergie in Umsetzung der Energiewende beschlossen. Dazu gibt es Bayern?) einen Plan, den wir als Koalition gemeinsam formen Die Energiewende bedeutet die Umstellung unseres ge- – wir sind gerade dabei – und umsetzen werden. Die samten Energiesystems. Dafür brauchen wir verlässliche Energiewende ist weitaus mehr als nur das Drängen, aus Rahmenbedingungen – das möchte ich heute auch noch der Kohlekraft auszusteigen. Wir müssen schon aufpas- einmal erwähnen –, wie es zum Beispiel bei einem Ka- sen, dass bei den derzeitigen Grundstrukturen unserer pazitätsmarkt der Fall sein kann. Energieversorgung keine Versorgungslücke entsteht. Deshalb ist alles gut durchdacht anzugehen. Wichtig ist, Für einen Kapazitätsmarkt brauchen wir eine techno- denke ich – ich glaube schon, dass wir uns da auch einig logieoffene, wettbewerbliche und europakompatible Lö- sind –, dass in Bezug auf die Versorgungssicherheit sung. Notwendig sind die Einbeziehung gesicherter Er- Gründlichkeit vor Schnelligkeit geht. zeugungskapazitäten, von Speichern – dahinter setze ich Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4375

Barbara Lanzinger (A) mehrere Ausrufezeichen; Fragezeichen könnte man und wird. Ich denke, den gewaltigen Unterschied kennen (C) theoretisch auch setzen –, eines Lastmanagements sowie wir alle: Die Atomkraft birgt weitaus höhere Risiken als die Verstetigung von erneuerbaren Energien, die sehr die Kohlekraft, was einen möglichst schnellen Ausstieg verlässlich Strom liefern, wie zum Beispiel Wasserkraft aus der kommerziellen Atomenergienutzung rechtfertigt. und Biogas. Wir brauchen die richtige Mischung. So sieht es im Übrigen auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen. Er bescheinigt, dass ein Kohleausstieg Es ist gut, dass Sie ebenso wie wir die Speicher als und eine vollständige Versorgung mit Strom aus erneuer- wichtigen Bestandteil der Umstrukturierung unseres baren Quellen technisch erst ab 2040 realisierbar sind, Energiesystems betrachten. Es wäre gut gewesen – das und ich denke, darauf gründet auch der Antrag der Lin- sage ich heute sehr deutlich –, wenn wir es geschafft hät- ken. ten, das Thema Speicher in das EEG einzupflegen. Das ist leider nicht geschehen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist ja mal eine Ansage!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wieso haben Sie es denn nicht ge- Klar ist auch: Die Bedeutung der Kohle muss in dem macht? Sie haben doch die Mehrheit!) Maße schrumpfen, in dem die Bedeutung der erneuerba- ren Energien wächst; darüber besteht auch in der Gesell- Im Kapazitätsmarkt werden konventionelle Kraft- schaft durchaus Konsens. werke weiter eine Rolle spielen. Sie sind auf absehbare Zeit zur Deckung der Residuallast und damit zur Ge- Lassen Sie mich unsere bayerische Umweltministerin währleistung der Versorgungssicherheit unverzichtbar. Ilse Aigner zitieren. Sie hat einen sehr treffenden Ver- Diese konventionellen Kraftwerke müssen jedoch drin- gleich gezogen: gend einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der Die Energiewende … ist kein Spaziergang, sondern CO -Reduktionsziele leisten; es ist von mehreren Kolle- 2 eine anspruchsvolle Bergtour, bei der man Kondi- gen ausgeführt worden. Deshalb werden an einen zukünf- tion braucht und die Fähigkeit, bei Unvorhergese- tigen Kraftwerkspark hohe Anforderungen hinsichtlich henem auch mal die Route anzupassen oder das Effizienz, Emissionen, Flexibilität und Verfügbarkeit ge- Tempo zu ändern. stellt. Hier kommen – auch das wurde schon diskutiert – Gaskraftwerke oder Gasturbinen infrage, die teilweise (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit Biogas sowie regenerativ erzeugtem Wasserstoff und NEN]: Sie ist ja eine Philosophin! Das wusste Methan betrieben werden könnten. ich noch gar nicht!) Neben dem Einsatz hocheffizienter und flexibler Gas- Man muss auch mal stehen bleiben, wenn es zum Bei- (B) kraftwerke ist jedoch der europäische Emissionshandel spiel Unwetter gibt; das weiß jeder, der schon mal im (D) – auch darauf wurde schon eingegangen – das wichtigste Gebirge war. Entscheidend ist jedoch, dass es aufwärts regulatorische Instrument zur Reduktion der CO2-Emis- geht, dass man – ich bleibe bei diesem Vergleich – das sionen. Ich denke schon, dass die zu günstigen Preise Gipfelkreuz vor Augen hat, das die Richtung und das – auch das wurde gesagt – ein wesentlicher Grund für Ziel vorgibt. Dieses Ziel ist eine sichere, bezahlbare, den Anstieg der Kohlestromproduktion sind; sie führen umweltfreundliche Energieversorgung in einem gut dazu, dass sich die klimaschonenden und effizienten durchdachten Energiesystem. Gaskraftwerke nicht rentieren. Auch deshalb müssen wir Je schneller wir die Kohle nicht mehr brauchen, desto dringend gemeinsam mit der EU-Kommission an neuen besser – das sage ich ganz deutlich. Wir können den marktwirtschaftlichen Modellen arbeiten und auf natio- Ausstieg aus der Kohle allerdings erst dann gezielt pla- naler Ebene über unser System der Strombörse diskutie- nen, wenn wir ein funktionierendes Marktdesign haben; ren. erst dann können wir sicher sein, eine ausreichende Ver-

Neben der Umstrukturierung des bisherigen CO2- sorgungssicherheit zu gewährleisten. Emissionszertifikatehandels gilt es aber auch, an ande- Zum Schluss wünsche ich allen einen schönen ren Stellen weiterzuarbeiten. Die Sicherstellung der Zu- Sommer, auch einen Arbeitssommer; ich gehe davon verlässigkeit und der Bezahlbarkeit unserer Energiever- aus, dass wir nicht nur Ferien haben, sondern auch zu sorgung kann nicht allein dadurch erreicht werden, dass Hause arbeiten. Ich wünsche, dass alle Kraft tanken kön- wir weitere Kapazitäten zubauen, ohne über einen Ab- nen, damit wir im Herbst in aller Sachlichkeit und Ruhe bau von Kapazitäten im Kohlebereich zu diskutieren. mit Verantwortungsbewusstsein und einem Stück Gelas- Erforderlich sind Maßnahmen zur Umsetzung verbind- senheit weiterdiskutieren können. licher Effizienzvorgaben. Wir haben ein riesiges Ener- gieeffizienzpotenzial von mindestens 10 bis 15 Prozent, Vielen herzlichen Dank. das wir nutzen können, um den Leistungsbedarf zu redu- zieren und dadurch Lasten zu verschieben. Ich denke (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schon, es ist allerhöchste Zeit, insgesamt verantwor- tungsbewusster mit Energie umzugehen. Vizepräsident Johannes Singhammer: Danke auch, Frau Kollegin Lanzinger. – Für die So- Auch wenn wir alle aus der Kohle aussteigen wollen, zialdemokraten spricht jetzt der Kollege Thomas Jurk. müssen wir uns dessen bewusst sein, dass sich der Koh- leausstieg über etliche Jahrzehnte hinziehen und auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht nach dem Muster des Atomausstiegs erfolgen kann der CDU/CSU) 4376 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

(A) Thomas Jurk (SPD): 3 Prozent pro Minute hoch- und runterfahren. Das heißt (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten konkret: Man kann bei einer Gesamtleistung von Damen und Herren! Die Energiewende muss gelingen, 675 Megawatt bis zu 250 Megawatt in einer Viertel- und zwar unter ökonomischen, sozialen und ökologi- stunde hoch- oder runterregeln. Das ist eine gewaltige schen Aspekten. Das löst man nicht mit einem „den Leistung. Das ist auch dringend notwendig, um passge- Schalter umlegen“. Die Energiewende ist für mich kein naue Lösungen dann zu finden, wenn es mal mehr, mal unendliches Experimentierfeld, sondern es gibt Rahmen- weniger Sonnen- und Windstrom gibt. Und deshalb bedingungen, die wir beachten müssen. Als ehemaliger sollte man zur Kenntnis nehmen: Das ist ein wichtiges Elektrotechniker sage ich dazu: Es gibt Gesetzmäßigkei- Element für unsere Energiewende. ten, die auch wir als Politiker nicht außer Kraft setzen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- können. neten der SPD – Oliver Krischer [BÜND- Sehr geehrter Herr Kollege Krischer, Sie haben als NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das jetzige Beispiel die Energiepolitik in Großbritannien genannt. Modell! Wollen Sie denn noch weitere Kohle- Also, ich möchte keine Verhältnisse wie in Großbritan- kraftwerke? Sagen Sie doch einmal was dazu!) nien. Bundesminister Gabriel hat am Montag seine 10-Punkte- (Dirk Becker [SPD]: So ist es!) Energie-Agenda zu zentralen Vorhaben der Energie- wende für die 18. Legislaturperiode vorgestellt; einige Soweit ich weiß, plant man in Großbritannien, Kern- Vorredner sind bereits darauf eingegangen. Ich finde, es kraftwerke unter Zuhilfenahme von Einspeisevergütun- ist ein sehr gutes Papier und es lohnt, gelesen zu werden, gen zu errichten. auch vor dem Hintergrund, dass es klare Aussagen zum (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Strommarktdesign enthält; ich erinnere an die Arbeits- weise: Grünbuch, Weißbuch und entsprechende Geset- NEN]: Ich habe von CO2-Grenzwerten gespro- chen und ausdrücklich nicht von Atomkraft!) zesvorhaben. Das macht deutlich, dass wir nicht nur mit unseren Nachbarländern grenzüberschreitende Lösungen Das gehört auch zur Wahrheit dazu. Wollen Sie das brauchen, sondern in der Europäischen Union insgesamt. wirklich? Neue Erzeugerstrukturen, wie sie in den letzten Jah- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren aufgewachsen sind, verlangen daran angepasste der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜND- Netze. Sowohl bei Übertragungs- wie auch bei Verteil- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch albern!) netzen gibt es riesigen Investitionsbedarf. Das alles muss finanziert werden. (B) Es ist völlig richtig, was einige Vorredner betont ha- (D) ben: Ein paralleler Ausstieg aus der Atomkraft und aus An dieser Stelle möchte ich den Verteilnetzbetreibern der Braunkohle wird nicht funktionieren können. durchaus meinen Dank und meine Anerkennung zollen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- In den letzten Monaten und Jahren haben sie Hervorra- NEN]: Aha, also doch nicht! Was hat denn gendes geleistet, um die Versorgungssicherheit in unse- Herr Miersch eben gesagt? Was ist denn da rem Land aufrechtzuerhalten. jetzt bei den Sozialdemokraten?) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es ist Ihnen schon einmal vorgetragen worden, aber da- Auch hier macht die 10-Punkte-Energie-Agenda von mit Sie es sich vor Augen führen: Sigmar Gabriel klar: Wir brauchen Vorgaben und vor al- (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ja, die len Dingen eine zeitliche Rahmensetzung, damit auch wollen es nicht kapieren!) dieser riesige Kraftakt des Netzausbaus bewältigt wer- den kann. Woraus erzeugen wir unseren Strom in Deutschland? 45 Prozent Kohle, 15 Prozent Kernkraft, 25 Prozent er- Ich komme zum Thema Bergrecht. Ich habe mir sa- neuerbare Energien. Ich möchte gerne, dass der letztge- gen lassen, dass das ein altes Thema ist, das auch Sie, nannte Anteil weiter steigt. Aber wir alle wissen doch, Kollege Krischer, immer wieder vor sich hertragen. dass erneuerbare Energien volatil sind. Deshalb müssen (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir uns als Politiker darum kümmern, dass die Rahmen- NEN]: Bundesrat!) bedingungen, auch was die Speicherung anbetrifft, ver- bessert werden. Ich glaube, die Bundesregierung ist ge- Selbst wenn es in Deutschland keine Kohlekraftwerke rade dabei. gäbe, wäre die rohstoffliche Bedeutung für viele Bran- chen unserer Volkswirtschaft darin abgebildet. Es ist Ein anderer wichtiger Punkt ist für mich für das Ge- klar: Da braucht man eine Gesetzgebung. lingen der Energiewende notwendig, und das ist die Re- gelbarkeit. In diesem Zusammenhang komme ich zu den (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von einigen so verhassten Braunkohlekraftwerken. NEN]: Das stellt niemand in Zweifel!) Ich komme aus einer Region, in der vor kurzem ein Seit 1982 haben wir mit dem einheitlichen Bergrecht, neuer Block ans Netz gegangen ist, der Block R in Box- das damals in Deutschland geschaffen wurde, eine solide berg. Er hat übrigens einen Wirkungsgrad von 44 Pro- Grundlage geschaffen, die am 3. Oktober 1990 auf das zent. Dieser Block lässt sich im Lastmanagement zu je Gebiet der ehemaligen DDR übertragen wurde. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4377

Thomas Jurk (A) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Was hat das mit dem Thema zu (C) NEN]: Ja, schlimm genug!) tun? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt baggern sie aber weiter!) Natürlich gab es noch weitere Vorläufer von Vorschrif- ten, aber ich bitte Sie von den Grünen: Tun Sie doch – Ich bin jetzt bei der Region angekommen. Kohle ist ein nicht so, als hätten Sie ein altes und völlig überholtes regionaler Wirtschaftsfaktor – Herr Krischer, das werden Gesetz vor sich. Sie selbst für NRW nicht bestreiten können – für Bran- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- denburg, für Sachsen und für Sachsen-Anhalt. Ganz ne- NEN]: Haben Sie schon was vom Garzweiler- benbei reden wir über einen einheimischen Energieträ- Urteil gehört?) ger, genau so, wie das auch auf die erneuerbaren Energien zutrifft. – Das Garzweiler-Urteil legt jeder so aus, wie er es braucht; auch wir haben eine Meinung dazu. Wenn Sie Im Koalitionsvertrag ist dazu völlig richtig ausge- ganz in Ruhe darüber nachdenken, stellen Sie fest: So führt: weit ist man da manchen nicht entgegengekommen; das Die Energiewende ist für die neuen Länder sowohl interpretieren Sie hinein. als Produktionsstandort für Anlagen als auch für die Auch die SPD-Bundestagsfraktion hat in der jüngsten Erzeugung erneuerbarer Energien eine große Zeit Bedarf nach Weiterentwicklung des Bergrechts ge- Chance. Auch die Braunkohle spielt nach wie vor sehen, eine bedeutende Rolle für die Wirtschaftsstruktur. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bei manchen Antragstellern hatte ich den Eindruck NEN]: Aha!) – spontan fällt mir das Bild vom Hebelumlegen ein –: ohne es abschaffen zu wollen. Jetzt beschließen wir einmal den Strukturwandel. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in meiner Heimatre- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE gion, in ganz Ostdeutschland haben wir seit 24 Jahren ei- GRÜNEN]: Wer sagt denn, er wolle es ab- nen ständigen Strukturwandel – mit unterschiedlichem schaffen?) Erfolg. Deshalb ist es wichtig, darauf hinzuweisen – Sie haben (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Das wis- es wahrscheinlich vergessen, deshalb sage ich es jetzt sen wir schon! – Oliver Krischer [BÜND- noch einmal –: Uns geht es um die Beteiligung der Öf- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir in NRW fentlichkeit, zum Beispiel von Gemeinden, von Umwelt- auch!) und Wasserbehörden. Besonders wichtig ist uns eine (B) (D) frühzeitige Bürgerbeteiligung auch, um die Akzeptanz – Ich glaube, das kann man nicht vergleichen, Herr für bergrechtliche Verfahren zu erhöhen. Krischer. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Berg- (Wolfgang Tiefensee [SPD]: 50 Jahre!) recht muss an die Anforderungen einer modernen, auf- geklärten und an Teilhabe interessierten Gesellschaft an- Das hat noch eine andere Dimension. Viele Probleme, gepasst werden. die wir im Osten haben, die wir jetzt gerade lösen, wer- den Sie auch in Westdeutschland einholen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann passen Sie es an!) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wollen Sie gerade neuen Tagebau? – Oliver Ich sage Ihnen aus meiner Erfahrung heraus: Es gibt Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie keine undemokratischen Verfahren. Schaue ich mir die wollten doch nicht abgebaggert werden! – Erweiterung des Tagebaus in meiner Heimat an, so kann Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ich feststellen, dass die Mitglieder des Braunkohleaus- Aber Sie baggern ab! – Steffi Lemke [BÜND- schusses oder der regionale Planungsverband in seiner NIS 90/DIE GRÜNEN]: Schamlos ist das!) Verbandsversammlung sehr verantwortungsbewusst das umgesetzt haben, was sie an Informationen bekommen Ich bin froh, dass diese Planung zu Ende ist und dass haben. Sie haben übrigens nicht nur Vorlagen von berg- wir ganz genau wissen, was wir vor uns haben. Deshalb bautreibenden Unternehmen, sondern auch Hinweise aus ist es notwendig, einen richtigen Planungsrahmen zu ha- der Bevölkerung aufgegriffen. Nicht jeder war damit ben. Sie haben nicht vor 1990 in meiner Heimat gelebt einverstanden. Am Ende gehört es zur Demokratie dazu, und können sich kein Bild machen. dass man abstimmt. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Baerbock, ich hatte im Gegensatz zu Ihnen nicht Wissen Sie, wo ich gelebt habe?) das Glück, vor 1990 einen solchen Rechtsstaat erleben zu können. Mein Heimatort wäre im Jahre 2010 abge- Was Sie jetzt machen, ist eine pauschale Verurteilung baggert worden, hätte es die DDR noch gegeben. Ich bin derjenigen, die dort leben. Das weise ich mit Entschie- sehr froh, dass die Menschen 1989 dafür gesorgt haben, denheit zurück. dass das zu Ende war. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE NEN]: Wo hat Frau Lemke gewohnt?) 4378 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Thomas Jurk (A) Da bin ich bei einem wichtigen Punkt. Auch in der träger zur Stromerzeugung mehr und mehr reduziert (C) Braunkohlewirtschaft hat es enorme Anpassungspro- werden können. Das ist ja auch das Ziel des Ausbaus der zesse gegeben. Wir hatten 1990 noch rund 140 000 Be- erneuerbaren Energien. In diesem Zusammenhang wird schäftigte in diesem volkswirtschaftlichen Sektor – der Anteil der Braunkohle sinken. sicherlich völlig aufgebläht. Momentan arbeiten in Ost- deutschland 11 000 Leute direkt im Tagebau, in Kraft- Vizepräsident Johannes Singhammer: werken. Rechnet man mit einem Multiplikator von zwei, Herr Kollege Jurk, denken Sie an die vereinbarte Re- kommt man ungefähr auf die Effekte, die durch Dienst- dezeit. leister und Zulieferer entstehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Struk- Thomas Jurk (SPD): turwandel führt auch zu neuen Landschaftsstrukturen. Ja, ich sehe gerade die Uhr, Herr Präsident. – Ich sage Das sind einerseits Chancen für den Tourismus – wenn noch einen schönen Schlusssatz: Wir betrachten die ich an die Seengebiete denke –, aber auch Chancen, der Braunkohle als Brückentechnologie, die wir so lange be- Natur Flächen wieder zurückzugeben. Stetiger Wandel nötigen, bis wir unser Ziel einer klimaneutralen Energie- braucht Zeit. erzeugung erreicht haben. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deshalb baggern Sie ab! Geht’s noch? Was ist der CDU/CSU) das denn?) – Das, was Sie sagen, ist alles zu vereinfacht, Frau Vizepräsident Johannes Singhammer: Höhn. Das ist der Sache nicht angemessen. Sie setzen Vielen Dank. – Abschließender Redner zu diesem Ta- sich nicht mit Argumenten auseinander. gesordnungspunkt ist der Kollege Jens Koeppen, CDU/ CSU. (Beifall bei den Abgeordneten der CDU/CSU – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) GRÜNEN]: Aber Sie! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt der Jens Koeppen (CDU/CSU): Richtige!) Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer wenn Strukturwandel braucht seine Zeit. Sie können jetzt wir über den Kohleausstieg reden – alle Monate wieder –, gern einmal aufstehen. Ich bin ja noch relativ neu in die- dann geht es sehr emotional zu. Aus meiner Sicht ist das sem Parlament. Ich kenne aus dem Sächsischen Landtag verständlich. Sie von den Grünen sind mit Ihren Anträ- (B) Mikrofone; von diesen aus kann man Zwischenfragen (D) gen immer sehr beharrlich und sehr konsequent. stellen. Ich bin bereit, sie zu beantworten. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD – Annalena Baerbock NEN]: Genau!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wurden ja nicht zugelassen!) Das nötigt mir natürlich Respekt ab. Allerdings sind Sie immer auch sehr dogmatisch. Deswegen müssen Sie da- Stetiger Wandel braucht Zeit. Wir haben für die Re- mit rechnen, dass wir Ihre Anträge beharrlich und konse- gion übrigens auch gute Konzepte. Da wird nicht alles quent zurückweisen, weil Ihre Anträge keiner wirklich gelöst werden können. Das ist doch gar keine Frage. sachlichen Betrachtung standhalten. Aber es gibt in diesem Zusammenhang nach wie vor eine sehr hohe Akzeptanz für die Braunkohle. Das sollte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – man auch einmal zur Kenntnis nehmen. Es gab im Jahr Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 2013 eine repräsentative Umfrage von Forsa in allen NEN]: Sie lehnen doch sowieso jeden Antrag Landkreisen und Städten der Region. Zwei Drittel der von uns ab!) Befragten haben auf die Frage – ich lese sie Ihnen vor, Wir wollen ruhig und sachlich, damit Sie wissen, was gefragt wurde –: „Ist zur Siche- rung der langfristigen, zuverlässigen und kostengünsti- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gen Versorgung mit Energie die Erweiterung des Braun- Das sind wir!) kohletagebaus in der Lausitz notwendig?“, mit Ja aber auch ein bisschen emotional antworten. Eigentlich geantwortet. ist es schade, dass wir jetzt, am letzten Sitzungstag vor Ich verstehe alle, die von Braunkohletagebauen be- der Sommerpause, noch einmal anderthalb Stunden lang troffen sind und die ihre Heimat verlassen müssen. Das darüber reden müssen. Wir haben in Plenarsitzungen, in ist ein unglaublich schmerzhafter und harter Prozess, der Ausschusssitzungen und in AG-Sitzungen darüber ge- begleitet werden muss. Ich sage aber auch sehr deutlich: sprochen, und immer wieder wurde dasselbe thematisiert Die Menschen in der Region wollen keine falschen Ver- und wurden dieselben Anträge gestellt. sprechungen, und sie wissen, was wichtig für sie ist. Die Geschichte ist eigentlich sehr schnell erzählt: Der Lassen Sie mich die Debatte zusammenfassen. Eines überstürzte Ausstieg aus der Kohleverstromung – das ist klar geworden: In dem Maße, in dem der Ausbau und haben letztendlich alle Redner gesagt – ist derzeit nicht die Systemintegration der erneuerbaren Energien voran- machbar, jedenfalls nicht ohne größere volkswirtschaft- schreiten, wird der Einsatz der Braunkohle als Energie- liche Risiken. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4379

Jens Koeppen (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Tschechien; auch das ist nicht der richtige Weg. Deswe- (C) der SPD) gen kommt es zur nächsten Absurdität – das stand neu- lich auch in der Zeitung –: dass Russland bzw. Putin uns Zur Historie gehört auch – auch das haben alle gesagt –, Strom aus noch nicht einmal gebauten Kernkraftwerken dass es einen politischen Beschluss gibt, aus der Kern- in Kaliningrad anbietet. Das ist völlig absurd. Wollen Sie energieerzeugung auszusteigen. Wir haben noch nicht diesen Weg etwa gehen und sich in diese Abhängigkeit beschlossen, aus der Kernenergienutzung auszusteigen, begeben? Ich denke, das ist nicht der Sinn der Energie- aber wir haben beschlossen, aus der Kernenergieerzeu- wende. gung auszusteigen. Im Jahr 2003 betrug der Anteil des Stroms aus Kernenergie noch 27 Prozent, im Jahr 2013 (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE 15 Prozent. Auch diese 15 Prozent weiter zurückzufah- GRÜNEN]: Nur weil er es anbietet, müssen ren und damit weiter auszusteigen, ist kein Thema. wir es doch nicht annehmen! – Oliver Krischer Gleichzeitig überstürzt aus der Kohleverstromung aus- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Partei zusteigen – das haben alle Redner gesagt –, wäre aber wollte mal die Stromleitung dafür bauen!) energiepolitischer und volkswirtschaftlicher Harakiri. Die Kohle wird eine Brücke sein – da haben Sie alle Nahezu jede zweite Kilowattstunde, Frau Baerbock, recht; Barbara Lanzinger hat darauf hingewiesen, Herr wird durch Kohleverstromung erzeugt. 2003 waren es Jurk auch –, logischerweise aber eine Brücke hin zu er- noch 50 Prozent, 2013 waren es 45 Prozent, und jetzt neuerbaren Energien. Sie kann keine Brücke zu einem sind es noch etwas über 40 Prozent. anderen fossilen Energieträger sein, aus meiner Sicht je- Wir sollten uns eigentlich das Thema der erneuerba- denfalls nicht. Anders als bei der Kernenergie müssen ren Energien vornehmen, anstatt an den anderen Themen wir den Ausstieg synchron betreiben: herumzudaddeln; denn der Ausbau der erneuerbaren (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Energien ist eine Erfolgsgeschichte. 2003 betrug der An- NEN]: Genau das schlagen wir vor!) teil des Stroms aus erneuerbaren Energien 7,5 Prozent, und jetzt sind es 25 Prozent. Das ist ein Erfolg. Lassen synchron mit den neuen Technologien, synchron mit den Sie uns doch darüber reden. Lassen Sie uns darüber re- erneuerbaren Energien, synchron mit den Speichern, die den, wie wir auf diesem Gebiet weiterkommen können, wir teilweise noch nicht haben, synchron mit den Net- um dann synchron aussteigen zu können. zen, bestenfalls natürlich mit den vorhandenen Netzen, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und synchron mit der Grundlast bzw. mit nutzbarer NEN]: Das bremsen Sie gerade ab! Also, Herr Energie. Es nützt uns nichts, wenn wir erneuerbare Ener- Koeppen!) gien nur installieren, sie aber dann, wenn sie gebraucht werden, nicht zur Verfügung stehen. Unser Ziel muss (B) (D) Zu glauben, den 45-prozentigen Anteil der Kohle sein, wegzukommen von der Renditeversorgung und heutzutage durch Gas ersetzen zu können, und das wieder hinzukommen zur Energieversorgung. schnell, ist aus meiner Sicht schlicht und ergreifend naiv. Sie sprechen in Ihrem Antrag von steigenden Emis- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE sionen. Aber Sie haben dabei nicht bedacht, dass die GRÜNEN]: Deswegen ein Fahrplan! Schritt- Braunkohleverstromung sehr viel effizienter geworden weise!) ist. Das mag Sie nicht zufriedenstellen, aber es ist zu- mindest so. 2013 wurde mehr Strom aus Kohle produ- Ich jedenfalls möchte nicht, dass wir in Abhängigkeit ziert; das ist richtig. Dafür wurde aber weniger Kohle von unsicheren Gaslieferanten geraten, von Staaten wie verbrannt. Das ist ein Szenario, das dargestellt wurde. Es – das kann man ruhig sagen – Russland. Ich möchte geht um die NO - und die SO -Werte. Bei NO sind wir keine nationale Klima- und Umweltpolitik. Sie wollen x 2 x so weit, dass wir den Wert von 1990 halbiert haben. Bei keine Kohleverstromung in Deutschland. Sie wollen na- SO beträgt der Wert, von der Basis 1990 ausgehend, türlich auch kein Fracking in Deutschland. Sie wollen 2 7 Prozent. Lediglich 6 Prozent aller Feinstaubemissio- keine CCS-Technologie in Deutschland. Aber ist es denn nen kommen von Kraftwerken; alles andere ist auf den sinnvoll, fossile Energien im Ausland zu fördern und in Straßenverkehr und auf andere Bereiche zurückzufüh- Deutschland zu verbrennen? Das ist doch auch kein ren. Weg. Zum Quecksilber – Sie haben es angesprochen – kann (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- man sagen: Beim Quecksilber ist die Situation kritisch; NEN]: Wollen Sie denn Fracking?) gar keine Frage. Aber europäische Kraftwerke machen Eine rein nationale Orientierung – das ist klar – ist nicht weniger als 2 Prozent der weltweiten Quecksilberemis- sinnvoll. Das ist nicht mein Verständnis von einem sinn- sionen aus. Auch das kann uns nicht zufriedenstellen, vollen Umgang mit fossilen Energieträgern. aber das sind erst einmal die Fakten. Die Produktion ei- ner Leuchtstofflampe oder einer Energiesparlampe ir- Der eilige und national einseitige Kernenergieausstieg gendwo auf der Welt trägt jedoch mehr zum Quecksilber- führte bereits zu einigen Absurditäten; das kann uns na- ausstoß bei als die Kraftwerke. türlich auch bei der Kohle passieren. Bei den erneuerba- ren Energien haben wir an Tagen mit geringer Abnahme Zu Ihren Forderungen zum Emissionshandel sei ge- natürlich einen negativen Strompreis; das kennen wir sagt: ETS ist ein marktwirtschaftliches Instrument. Es ist alle. An Tagen mit großem Bedarf hingegen kaufen wir kein Instrument, um den Energiemix staatlich festzule- Strom aus Kernenergie in Frankreich oder Temelin in gen. Es ist auch kein Instrument, um die Staatskasse zu 4380 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Jens Koeppen (A) füllen; das sage ich, weil Sie immer wieder den Klima- Der Entwurf hat das Ziel, eine bessere Zahlungsdiszi- (C) fonds ansprechen. Ein Mindestpreis führt dazu, dass das plin im Geschäftsverkehr zu fördern. Wir wollen vor al- ganze System ad absurdum geführt wird. Ein Eingriff len Dingen Handwerk und Mittelstand davor schützen, der EU-Ebene wäre ein Eingriff in den Energiemix der dass sie ihren verhandlungsstärkeren Auftraggebern zur Nationalstaaten. Begleichung des Entgelts oder zur Überprüfung der Ware lange Fristen einräumen und damit praktisch kos- Meine Damen und Herren, die Energiewende ist auf tenlosen Kredit gewähren müssen. Vor allem diese Un- einem guten Weg. Im ersten Halbjahr 2014 waren die er- ternehmen können sehr schnell in eine finanzielle neuerbaren Energien die wichtigste Stromquelle in Schief- oder gar Notlage geraten, wenn sie gegenüber ih- Deutschland. Sie haben die Braunkohle abgelöst; das rem Geschäftspartner in Vorleistung gehen und zu lange wurde heute schon gesagt. Das ist der richtige Weg, und auf ihr Geld warten müssen, während sie ihre eigenen da müssen wir hin. Die Braunkohle durch eine andere Zahlungsverpflichtungen sofort erfüllen müssen. fossile Energiequelle zu ersetzen, ist aus meiner Sicht energiepolitischer Unfug. Der Entwurf beschränkt deshalb das Recht, vertrag- Ich widme die letzten drei Minuten meiner Redezeit, lich Zahlungs-, Abnahme- und Überprüfungsfristen zu die ich noch habe, dem heutigen Fußballspiel und höre vereinbaren. Dies gilt vor allem für Verwender von All- ein bisschen früher auf. gemeinen Geschäftsbedingungen. Nach den intensiven Diskussionen, die schon in der letzten Wahlperiode ge- Vielen Dank. führt worden sind, sind wir der Überzeugung, dass es (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sachgerecht ist, Klauseln im Zweifel als unwirksam an- zusehen, in denen sich ein Schuldner vorbehält, erst nach mehr als 30 Tagen zu zahlen. Der Entwurf weicht damit Vizepräsident Johannes Singhammer: geringfügig von den Vorgaben der Richtlinie ab, die eine Ein nicht völlig unbedeutender Hinweis. – Damit solche 30-Tage-Frist nur für öffentliche Auftraggeber als schließe ich die Aussprache. Zahlungsschuldner vorsieht. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Eine dramatische Verschärfung der geltenden Rechts- den Drucksachen 18/1962 und 18/1673 an die in der Ta- lage ist dabei freilich nicht zu befürchten; denn schon gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. heute orientiert sich die Rechtsprechung bei der Beurtei- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann lung der Wirksamkeit einer solchen Klausel an besagter sind diese Überweisungen so beschlossen. 30-Tage-Frist. Der Entwurf bleibt vielmehr dem schon Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 auf: geltenden hohen Schutzniveau des deutschen Rechts treu (B) und vermeidet es, den geltenden Kontrollmaßstab aufzu- (D) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- weichen. Zugleich lässt er genügend Spielraum, um auch regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- künftig die Besonderheiten einer Vertragsbeziehung zu zes zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im berücksichtigen, die im Einzelfall die Vereinbarung län- Geschäftsverkehr gerer Fristen rechtfertigen. Drucksachen 18/1309, 18/1576 Dementsprechend wird auch das Recht, Klauseln mit Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Überprüfungs- und Abnahmefristen zu verwenden, stär- schusses für Recht und Verbraucherschutz ker beschränkt. Hier sind Fristen im Zweifel unangemes- (6. Ausschuss) sen, wenn sie mehr als 15 Tage betragen. Vereinbaren die Vertragsparteien individualvertragliche Zahlungs-, Drucksache 18/2037 Überprüfungs- oder Abnahmefristen, müssen dabei Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für künftig in Übereinstimmung mit der Richtlinie folgende diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Weil ich Maßstäbe eingehalten werden: keinen Widerspruch sehe, gehe ich davon aus, dass Sie alle damit einverstanden sind. Erstens. Lässt sich ein Unternehmer eine Zahlungs- frist von mehr als 60 Tagen einräumen, so ist diese Ver- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der einbarung nur wirksam, wenn sie „ausdrücklich getrof- Bundesregierung, Herrn Staatssekretär Christian Lange. fen“ und „nicht grob unbillig“ ist. Zweitens. Dieselben Wirksamkeitsanforderungen gel- Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes- ten, wenn sich Unternehmer oder öffentliche Auftragge- minister der Justiz und für Verbraucherschutz: ber Überprüfungs- und Abnahmefristen von mehr als Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und 30 Tagen einräumen lassen. Herren! Ich freue mich, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämpfung Drittens. Im Hinblick auf vereinbarte Zahlungsfristen von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr die im Jahr gelten, wenn der Zahlungsschuldner ein öffentlicher 2011 überarbeitete Richtlinie zur Bekämpfung von Zah- Auftraggeber ist, wie bereits erwähnt, strengere Anfor- lungsverzug im Geschäftsverkehr umsetzen. Dabei be- derungen; Stichwort: Vorbildfunktion der öffentlichen stand durchaus Zeitdruck; denn die Umsetzungsfrist ist, Hand. Eine Frist von mehr als 30 Tagen ist nur dann wie Sie wissen, seit über einem Jahr abgelaufen, und die wirksam, wenn sie „ausdrücklich getroffen“ und „sach- EU-Kommission hat bereits ein Vertragsverletzungsver- lich gerechtfertigt“ ist. Eine Zahlungsfrist von mehr als fahren eingeleitet. 60 Tagen ist hingegen in jedem Fall unwirksam. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4381

Parl. Staatssekretär Christian Lange (A) Diese Regeln sollen nun also in der Praxis umgesetzt gere Zeit nicht zahlt, dann kann das für das kleine Unter- (C) werden. Hierzu wird beitragen, dass Unternehmensver- nehmen aufgrund mangelnder Möglichkeiten zur Zwi- bände das Recht haben werden, Ansprüche auf Unterlas- schenfinanzierung existenzbedrohend sein. sung von gesetzeswidrigen AGB oder entsprechende Geschäftspraktiken gerichtlich geltend zu machen. Zurück zu Ihrem Gesetzentwurf. Ich will mich dabei Kleine und mittlere Unternehmen erhalten damit Unter- auf drei Punkte beschränken: stützung bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche. Genau Zum Ersten. Das hier verfolgte Ziel, durch gesetzli- das wollen wir, meine Damen und Herren. che Höchstfristen zeitige Rechnungszahlungen zu garan- Die neuen Regelungen sollen nun möglichst schnell tieren, begrüßen wir. Im Gesetzentwurf ist das für den in Kraft treten. Sie sollen auch für bereits bestehende Bereich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen auch Dauerschuldverhältnisse gelten. Es wäre nicht mit dem gut gelungen. Hier können sich Unternehmen nicht mehr Ziel des Schutzes der Gläubiger vereinbar, weit in die von vornherein 90 Tage als Zahlungsfrist ausbedingen. Zukunft hinein an vereinbarten Zahlungs-, Überprü- Grundsätzlich dürfen es jetzt nur noch 30 Tage sein. fungs- oder Abnahmefristen festzuhalten, die nach (Beifall bei der LINKEN) neuem Recht nicht mehr möglich wären. In diesen Fäl- len soll das neue Recht gelten, sofern die Leistung, für Viele große Unternehmen verschafften sich bisher zu- die ein Zahlungsziel vereinbart wurde, nach dem lasten des Handwerks einen zinslosen Kredit. Das ist ein 30. Juni 2016 erbracht wurde. Diese lange Übergangs- Skandal, der auch beendet gehört. frist lässt hinreichend Zeit, um bestehende Rahmenver- träge anzupassen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten So weit, so gut. der CDU/CSU) Im Bereich der individuellen Verträge ohne Allge- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zah- meine Geschäftsbedingungen lassen Sie jedoch noch lungsmoral zu verbessern, ist das Ziel. Ich glaube, dass eine Frist von 60 Tagen zu – in Ausnahmefällen sogar der Gesetzentwurf der Bundesregierung dafür sorgen von mehr als 60 Tagen. wird, dass Deutschland auch zukünftig ein verlässlicher Rechtsstandort für Schuldner und Gläubiger sein wird, (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Es und bitte Sie um Ihre Unterstützung und Zustimmung. gibt keine Begründung dafür!) Herzlichen Dank. In Teilen der mittelständischen Wirtschaft besteht hier die Befürchtung, wie wir aus der Anhörung wissen, dass (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dieses Schlupfloch künftig vermehrt ausgenutzt werden (D) könnte. Hier müssen Sie nachbessern. Vizepräsident Johannes Singhammer: Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner (Beifall bei der LINKEN) ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Richard Zweiter Punkt. Ihr Gesetzentwurf ist nach wie vor zu Pitterle. kompliziert gestaltet. Bereits in der öffentlichen Anhö- (Beifall bei der LINKEN) rung waren sich die geladenen Sachverständigen unei- nig, wie einzelne Regelungen Ihres Gesetzentwurfs aus- zulegen sind. Nun frage ich Sie, meine Damen und Richard Pitterle (DIE LINKE): Herren der Regierungskoalition: Wie soll es für kleine Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin- und mittelständische Unternehmen möglich sein, dieses nen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf Gesetz richtig auszulegen, wenn sich bereits die Sach- soll der Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr bekämpft verständigen in der Anhörung, die ausgewiesenermaßen werden. Im Klartext: Es soll dafür gesorgt werden, dass Experten auf diesem Gebiet sind, nicht auf eine Ausle- die Rechnungen bei Geschäften zwischen Unternehmen gung einigen konnten? Ihnen dürfte ja wohl bewusst zügig beglichen werden. – So weit das erklärte Ziel. sein, dass der Bäcker oder der Elektroinstallateur in der Ich kann Ihnen aber gleich vorwegsagen: Die Frak- Regel keine tiefer gehenden Kenntnisse über die Niede- tion Die Linke wird sich bei der Abstimmung über Ihren rungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs hat – geschweige Gesetzentwurf enthalten; denn es gibt zwar Positives an denn eine eigene Rechtsabteilung, die hier weiterhelfen Ihrem Gesetzentwurf, aber auch Negatives bzw. Schwä- könnte. chen; dazu werde ich noch Stellung nehmen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Dritter und letzter Punkt. Sie hätten die Arbeit im Ich bin seit 1990 als Rechtsanwalt im Bereich des na- Ausschuss nutzen sollen, meine Damen und Herren von tionalen und internationalen Wirtschaftsverkehrs tätig. der Regierungskoalition, um hier noch einmal nachzu- Glauben Sie mir: Ich weiß, dass an der zeitigen Zahlung bessern und entsprechende Änderungen vorzunehmen. von Rechnungen – gerade bei kleinen und mittleren Un- Doch was machen Sie stattdessen? Sie bringen zwar ei- ternehmen – allzu oft Existenzen hängen. Nehmen Sie nen Änderungsantrag ein, doch der beinhaltet fast nur als Beispiel die Handwerkerin oder den Handwerker von Änderungen zum Erneuerbare-Energien-Gesetz, die mit nebenan: Wenn einmal ein größerer Auftraggeber län- der vorliegenden Materie null zu tun haben. 4382 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Richard Pitterle (A) Meine Damen und Herren, das muss ich Ihnen leider Wie ist die Ausgangslage? Die Ausgangslage ist so, (C) ganz grundsätzlich sagen: Zwar drängt die Zeit manch- dass in Europa in vielen Fällen Rechnungen nicht zeit- mal, aber der Mischmasch, den Sie hier zusammenrüh- nah beglichen werden. Wir in Deutschland sind in einer ren, hat mit seriöser parlamentarischer Arbeit kaum et- noch vergleichsweise guten Situation. Aber auch bei uns was zu tun. werden Rechnungen in manchen Fällen nicht so schnell beglichen, wie man sich das wünscht. Man sieht, dass in (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten vielen anderen europäischen Ländern die Zahlungskultur des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geradezu dramatisch ist. Man sieht auch, dass in vielen Im Gegenteil: Mit den Änderungen zum EEG bringen Ländern innerhalb Europas gerade die Zahlungskultur Sie hier eine Materie ein, die überhaupt nicht im Sachzu- der öffentlichen Hand schlecht ist, dass in manchen Län- sammenhang zu diesem Gesetzentwurf steht. Vielleicht dern die öffentliche Hand Rechnungen viel schleppender wissen Sie es nicht, was, nebenbei bemerkt, recht be- bezahlt, als dies private Einheiten tun. denklich wäre, aber ein solches Vorgehen entspricht we- Deshalb ist es richtig, dass die Kommission hier tätig der der Geschäftsordnung dieses Hauses noch der Ver- geworden ist. Es reicht nicht aus, den Zahlungsverkehr fassung unseres Landes. in einem Binnenmarkt in einzelnen Ländern zu bekämp- Vielen Dank. fen, sondern das muss grenzüberschreitend geschehen, weil auch der Geschäftsverkehr grenzüberschreitend ist. (Beifall bei der LINKEN) Wir halten auch den Ausgangspunkt der Kommission für richtig, an die öffentliche Hand, bei der die Missstände Vizepräsident Johannes Singhammer: im Augenblick am größten sind, besonders strenge Maß- stäbe anzulegen. Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege Dr. Stephan Harbarth. Wir wollen heute den vorliegenden Gesetzentwurf verabschieden. In diesem Gesetzentwurf sind strikte Re- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geln für den Versuch vorgesehen, Zahlungsfristen in die neten der SPD) Zukunft zu verlagern. Wir sind der Auffassung: Wer eine Leistung erbringt, hat das Recht, dass er dafür zeitnah Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Geld sieht. Deshalb gehen wir an vielen Stellen weit Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! über die Richtlinie hinaus. Wir machen keine Eins-zu- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein eins-Umsetzung, sondern im Sinne der Interessen der guter Tag für den Mittelstand in Deutschland. Wir brin- Gläubiger, gerade auch im Sinne des Mittelstands, der (B) gen ein wichtiges Projekt auf den Weg, das den Mittel- auf Liquidität in besonderer Weise angewiesen ist, gehen (D) stand in seiner tagtäglichen Arbeit unterstützt. Es ist un- wir über die Richtlinie hinaus. Das ist ein gutes Signal serer Fraktion seit jeher ein großes Anliegen gewesen, für den Mittelstand. Mittelstandspolitik nicht in Sonntagsreden zu betreiben, sondern in praktische Politik umzusetzen. So handhaben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wir das, seit wir ab dem Jahr 2005 wieder mitregieren Strikte Regelungen gibt es insbesondere im Bereich dürfen. Deshalb freuen wir uns, dass wir mit dem heu- der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wo eigentlich tigen Tag wichtige Akzente für den Mittelstand in die Musik spielt. Es ist vorgesehen, dass alle Zahlungs- Deutschland setzen können. fristen, die über 30 Tage hinausgehen, im Zweifel un- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wirksam sind. Damit soll erreicht werden, dass gerade neten der SPD) Handwerksbetriebe, mittelständische Betriebe, Bauun- ternehmen und andere nicht mehr in gleicher Weise wie Wir erreichen heute gewissermaßen das Ende einer in der Vergangenheit Gefahr laufen, eine Zeitlang auf mehrjährigen Wanderung. Diese Wanderung begann zu Fehlbeträgen sitzen zu bleiben; denn sie müssen mit die- Beginn der letzten Legislaturperiode, als der Entwurf ei- sem Geld arbeiten. Bei einem Handwerksbetrieb, der ein ner Richtlinie der EU über die Bekämpfung von Zah- oder zwei große Rechnungen verschickt und dann mona- lungsverzug im Geschäftsverkehr auf dem Tisch lag. Wir telang auf das Geld wartet, kann man sich die Konse- als Deutscher Bundestag haben damals – ich empfand quenzen lebhaft vorstellen: Arbeitsplatzverlust oder so- das als sehr starkes und sehr gutes Signal nach Brüssel – gar Insolvenz. Deshalb ist es sehr gut, dass wir hier tätig eine in diesem Hause einstimmig verabschiedete Stel- werden. lungnahme nach Artikel 23 Grundgesetz abgegeben. Herr Kollege Pitterle, dass verschiedene Sachverstän- Wir haben darin festgestellt, dass der Entwurf der dige zu Bestimmungen in Gesetzen immer wieder unter- Kommission an einer Vielzahl von Punkten aus Sicht der schiedlicher Meinung sind, ist ein relativ normaler Vor- deutschen Rechtskultur unvertretbar und inakzeptabel gang. Dazu fällt mir auch im Bürgerlichen Gesetzbuch war. Wir haben damals sehr klare Kritik formuliert. Das eine Reihe von Bestimmungen ein. Ich erinnere zum war ein deutliches Signal nach Brüssel, und wir haben Beispiel daran, dass dort auf die Begrifflichkeit „Treu uns sehr gefreut, dass dieses Signal in Brüssel gehört und Glauben“ rekurriert wird. Da gilt der alte Grundsatz: wurde. Der Deutsche Bundestag war mit seiner Stellung- drei Juristen, drei Meinungen. nahme erfolgreich: Die Richtlinie wurde an vielen Stel- len positiv verändert. (Marcus Held [SPD]: Vier Meinungen!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4383

Dr. Stephan Harbarth (A) Deshalb kann der Umstand, dass zu einzelnen Passagen Überlassen wir dies der Exekutive, indem wir deren Vor- (C) verschiedene Rechtsauffassungen bestehen, nicht dazu lagen nicht einmal mehr lesen, bevor wir sie verabschie- führen, dass wir sagen: Das ist kein guter und zustim- den, geht es eben schief. Gewaltenteilung hat ihren Sinn. mungsfähiger Entwurf. Das gilt umso mehr, als gerade An diese alte Weisheit sollte sich auch eine Große Koali- bei Fragen des Zahlungsverkehrs, die sich jeden Tag tion erinnern. stellen, die Gerichte mit Sicherheit sehr schnell Rechts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sicherheit schaffen werden. Das ist komplett anders als und bei der LINKEN) an vielen anderen eher entlegenen Stellen der Materie. Aber zurück zum vorliegenden Gesetzentwurf. Als Der Gesetzentwurf ist durch die Sachverständigenan- Erstes stellen wir fest, dass auch ein geordnetes Verfah- hörung noch einmal bestätigt worden. Deshalb würde ren inklusive Sachverständigenanhörung nicht immer ich Sie auch bitten – Sie haben ja noch ein paar Minuten eine Garantie für eine gelungene Gesetzgebung ist. Die Zeit –, dass Sie sich vielleicht noch einmal in Ruhe über- europäische Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungs- legen, ob Sie einem derart guten Entwurf nicht doch zu- verzug im Geschäftsverkehr zielt darauf ab, die Zah- stimmen möchten. Sie haben das ja damals bei der Stel- lungsdisziplin zu verbessern. – So weit, so gut. lungnahme getan. Wir würden es begrüßen, wenn wir auch hier wieder ein einstimmiges Signal im Sinne des Es soll in Europa eine „Kultur der unverzüglichen Mittelstandes hinbekämen. Zahlung“ entstehen. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen sollen von der Last des Gläubigerkredits Lassen Sie mich noch eine Bemerkung als Parlamen- befreit werden. Das Ziel ist gut, und in Deutschland war tarier machen. Ich glaube, dass es ein Zeichen des Mutes die Gesetzeslage auch bisher schon eindeutig. Der bishe- und ein Zeichen aufrechten Ganges ist, dass die hand- rige § 271 BGB schreibt sinngemäß vor, dass die Zah- werklichen Fehler, die in der vergangenen Woche offen- lung nach erfolgter Leistung vom Gläubiger sofort ver- kundig im Rahmen der EEG-Reform begangen wurden, langt werden kann, wenn nichts anderes vereinbart nun rasch korrigiert werden. Das haben die Menschen so worden ist. verdient. Ich sage als Parlamentarier aber auch, dass ich es mir sehr wünschen würde – so herausfordernd und so In der Praxis wurden 2012 in Deutschland Zahlungs- komplex die Materien für die Ministerien auch sein mö- ziele von durchschnittlich 24 Tagen vereinbart. Weil das gen –, dass derartige Dinge, dass man bereits wenige in anderen EU-Ländern teilweise schlechter läuft, schreibt Tage nach Verabschiedung einer Reform eine Reparatur die Richtlinie als Obergrenze für vereinbarte Zahlungs- vornehmen muss, in Zukunft unterbleiben. fristen bis zu 60 Tage vor. Wir werden diesem Gesetz heute zustimmen, weil es, Man kann aber eine EU-Richtlinie auch umsetzen, in- (B) wie bereits gesagt, ein gutes Signal für den Mittelstand dem man über sie hinausgeht. (D) ist. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wenn man sich die Werte aus Deutschland ansieht und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) das Ziel einer Beschleunigung ernst nimmt, sollte man daher für den neuen § 271 a BGB einen Wert von maxi- Vizepräsident Johannes Singhammer: mal 30 Tagen erwarten. Das würde der Richtlinie eben- Nächste Rednerin ist für Bündnis 90/Die Grünen die falls entsprechen und wäre der Praxis angemessen. Kollegin Katja Keul. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Anderenfalls ist zu befürchten, dass sich der neue Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und § 271 a BGB mit seinen 60 Tagen künftig als gesetzli- Kollegen! Der Gesetzentwurf zur Beschleunigung des ches Leitbild etabliert und sich die Praxis sogar noch Zahlungsverkehrs verdient es eigentlich, aufmerksam verschlechtert. diskutiert zu werden. Es geht dabei um die Umsetzung einer EU-Richtlinie, nach der große und starke Auftrag- Alle Sachverständigen haben in der Anhörung betont, geber gegenüber kleineren Auftragnehmern mit einer wie wichtig es ihnen sei, dass im Rahmen Allgemeiner schwächeren Verhandlungsposition nicht unendlich lange Geschäftsbedingungen maximal 30 Tage vereinbart wer- Zahlungsfristen aushandeln können sollen. Leider wird den dürfen, und gaben sich damit zufrieden. Das ist auch dieses Gesetzvorhaben jetzt dazu missbraucht, hierin nachvollziehbar, da diese Experten überwiegend Ver- Reparaturen für das völlig chaotisch zustandegekom- bände vertraten, die ohnehin fast ausschließlich mit mene EEG unterzubringen. Inhaltlich wird gleich mein AGB, also mit vorformulierten Geschäftsbedingungen, Kollege dazu noch einiges sagen, von mir nur zum Ver- arbeiten. Für die allgemeinere Vorschrift des § 271 a fahren noch eine rechtspolitische Anmerkung. BGB interessieren die sich naturgemäß weniger. Danach dürfen es auch 60 Tage sein. Man kann daran sehen, dass es eben doch Sinn macht, dem Parlament die Gesetzgebung zu überlassen. Ich sehe jedoch nicht, warum nicht auch an dieser Stelle Rücksicht auf die Gepflogenheiten in Deutschland (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genommen wird. 30 Tage wären für alle angemessen und und bei der LINKEN) ausreichend – egal ob AGB oder individuelle Verträge. 4384 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Katja Keul (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Richtung Industrie. Deshalb freuen wir uns als Sozial- (C) und bei der LINKEN) demokraten heute ganz besonders, dass wir Sie wieder auf den Pfad der Tugend bringen konnten und Sie wieder Außerdem unterscheiden Sie dann noch zwischen pri- Politik für Mittelstand und Handwerk machen. Schön, vaten und öffentlichen Auftraggebern. Bei den Kommu- dass Sie uns da gefolgt sind! nen wollen Sie ebenfalls nur 30 Tage zulassen. Die Be- gründung dafür ist überhaupt nicht plausibel. Einmal (Beifall bei der SPD – Dr. Volker Ullrich heißt es, die Öffentlichen seien besonders langsam – das [CDU/CSU]: Wir brauchen in Sachen Mittel- haben wir gerade gehört –, und dann wieder, die Öffent- stand keine Belehrung! – Gegenruf des Abg. lichen sollten mit gutem Beispiel vorangehen. Beides Marcus Held [SPD]: Jeder kann sich entwi- mag ja stimmen. Das begründet aber nicht, warum man ckeln!) den privaten Auftraggebern mehr Spielraum lassen will. – Ich sehe, dass Sie im Vergleich zur letzten Legislatur- Was für die einen recht ist, sollte für die anderen billig periode dazugelernt haben. sein. Letztlich interessiert den Handwerker nicht, ob er wegen ausstehender Zahlungen von Kommunen oder Fair Play unter Geschäftspartnern muss wieder unser von Privatunternehmen in Not kommt. Hauptsache, das Ziel sein. Dazu trägt auch der vorliegende Gesetzent- Geld kommt. wurf bei. Im Handel wird zeitweise erst 90 Tage nach Erhalt der Ware gezahlt. Das kann nicht sein. Ich habe Meine Fraktion wird den Gesetzentwurf ablehnen, schon in der ersten Lesung gesagt: Wir alle müssen an weil wir eine einheitliche Obergrenze von 30 Tagen für der Kasse im Supermarkt direkt bezahlen. Deshalb kön- nötig halten, wenn man den Zahlungsverkehr in Deutsch- nen nicht so lange Zahlungsfristen gelten. Es muss wie- land tatsächlich beschleunigen will. Ein Beschleunigungs- der eine Selbstverständlichkeit sein, dass schnell gezahlt gesetz, das nichts beschleunigt, sollte man lieber ganz wird und kleine Unternehmen ihr Geld bekommen. lassen. Staatssekretär Lange hat darauf verwiesen, dass gerade Vielen Dank. Großkonzerne, die mit enormen Summen operieren, durch die Streckung der Zahlungsfristen einen Zinsge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN winn in ihren operativen Gewinn einplanen, und das auf sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE dem Rücken von kleinen und mittleren Unternehmen, LINKE]) die dadurch um ihre Existenz bangen. Das geht nicht. Dem schieben wir mit diesem Gesetzentwurf einen Rie- Vizepräsident Johannes Singhammer: gel vor, und das ist gut so. Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Dirk Wiese. (D) der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Besonders ist an dieser Stelle die Neuregelung des § 308 bei den Allgemeinen Geschäftsbedingungen – das Dirk Wiese (SPD): ist der wichtigste Punkt im Gesetzentwurf – hervorzuhe- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ben. Ich glaube, hier haben wir eine sehr gute Regelung Kollegen! Mit der heutigen Verabschiedung des vorlie- gefunden, insbesondere bei den Übergangsfristen. Ich genden Gesetzentwurfs setzen wir einen wichtigen danke dem Kollegen Dr. Harbarth, dass wir uns in den Punkt bei der Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Ge- Verhandlungen verständigt haben. Das ist ein guter Weg, schäftsverkehr; denn bisher mussten gerade mittelständi- den wir hier gefunden haben. sche Betriebe und das Handwerk viel zu oft finanziell in Vorleistung treten. Rechnungen durch die Auftraggeber Ich kann nur sagen: Die rot-schwarze Bundesregie- wurden zumeist erst verspätet gezahlt. Lange Zahlungs- rung legt mit dem Gesetzentwurf ein wirksames Instru- fristen von teilweise über drei Monaten waren nicht sel- ment vor, um die Zahlungsmoral im Geschäftsverkehr zu ten an der Tagesordnung. Für die kleineren und mittleren verbessern. Wir sorgen mit diesem Gesetzentwurf dafür, Unternehmen barg dieser Zeitrahmen ein großes finan- dass ein Plus in den Geschäftsbüchern auch ein tatsächli- zielles Risiko; denn sie liefen in dieser Zeit Gefahr, ei- ches Plus auf dem Konto ist. Entsprechend positiv sind gene Rechnungen und Angestellte nicht mehr bezahlen auch die Reaktionen, die uns in den vergangenen Tagen zu können. Das war und ist eine soziale Ungerechtigkeit. erreicht haben. Einige Verbände haben geschrieben: Die Dem setzen wir mit dem heutigen Gesetzentwurf ein Bundesregierung setzt ein deutliches Zeichen zur Be- Ende. kämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. Schlechter Zahlungsmoral und unverhältnismäßig lan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen Zahlungsfristen wird so künftig ein wirksamer Rie- der CDU/CSU) gel vorgeschoben. – In einer anderen Stellungnahme heißt es: Die Bundesregierung hat die Lage der Branche Liebe Frau Winkelmeier-Becker, ich habe heute Mor- verstanden, und der Gesetzentwurf gibt die richtige Ant- gen aufmerksam im Handelsblatt gelesen, dass Sie im wort auf die Probleme. Namen von Mittelstand und Handwerk diesen Gesetz- entwurf sehr begrüßen. Ich erinnere mich noch an die Kurzum: Sozialdemokraten und Wirtschaft, das passt. Stellungnahmen aus der letzten Legislaturperiode, in der Davon verstehen wir etwas. Wir waren gerne behilflich, Sie einen anderen Koalitionspartner hatten und ein dia- sozusagen die Fehler der letzten Legislaturperiode zu metral entgegengesetztes Ziel verfolgten, nämlich mehr korrigieren. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4385

Dirk Wiese (A) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Dr. Silke Launert (CDU/CSU): (C) müsst ihr jetzt noch der Wirtschaft erklären! – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen NEN]: Da ist eine Zwischenfrage!) Tagen hört man in den Medien und in der politischen – Ja. Diskussion oft, wie wichtig es ist, die deutsche Wirt- schaft zu schützen, und dass wir sie doch nicht über die Maßen belasten dürfen. Was aber oft übersehen wird, ist: Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Was ist die deutsche Wirtschaft? Was macht das Gros Da muss ich jetzt doch einmal nachhaken, lieber Herr der deutschen Wirtschaft aus? Genau das sind nämlich Kollege. Sind Sie bereit, den Werdegang dieses Geset- die kleinen und mittelständischen Unternehmen. zesvorhabens zur Kenntnis zu nehmen? Damals hatte unser Koalitionspartner, das FDP-Ministerium, einen an- Zwei Drittel aller sozialversicherungspflichtigen Ar- deren Entwurf – die Eins-zu-eins-Umsetzung – einge- beitsplätze werden von diesen gestellt. Sie sind oft noch bracht. Es war die Union, die sich damit eben nicht ab- familiengeführt, identifizieren sich oft in besonderer gefunden hat, sondern sich dafür starkgemacht hat, dass Weise mit ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wir eine mittelstandsfreundliche Lösung bekommen. und der Region, in der sie ansässig sind, und unterstüt- Der Entwurf ist dann der Diskontinuität anheimgefallen. zen vor Ort kulturelle Einrichtungen und Sportvereine. Aber es war gerade unser Ansatz, diese Differenzierung Deshalb ist es so wichtig, dass man diese kleinen und hinzubekommen und dem Mittelstand den Weg zu eb- mittelständischen Unternehmen im Blick hat; denn, wie nen. schon angesprochen, sie sind nicht nur das Fundament der Wirtschaft, sondern eine tragende Säule unserer Ge- Genauso ist es jetzt umgesetzt worden. Das Ministe- sellschaft. rium hat einen Lernprozess durchgemacht und uns einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Sind Sie be- Deshalb müssen wir bei allen Entscheidungen, die wir reit, das zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn Sie damals in diesem Parlament treffen, besonders auf die Interes- noch nicht Mitglied des Hohen Hauses waren? sen dieser kleinen und mittelständischen Unternehmen (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Rücksicht nehmen. Ich freue mich daher, dass das mit NEN]: Das ist ja wie in einer Ehe!) dem Gesetz zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr gelungen ist, weil wir genau auf die Mich würde Ihre Stellungnahme dazu interessieren. Interessen dieser Gruppe achten.

Dirk Wiese (SPD): Wir setzen eine EU-Richtlinie um, die das Ziel hat, (B) Geschätzte Frau Kollegin, ich stimme Ihnen an der die Zahlungsmoral zu verbessern. Das ist gut, wir haben (D) Stelle vollkommen zu. es schon mehrfach gehört. Wenn jemand ewig nicht zahlt, ist die Gefahr für den, der geliefert hat, groß, in In- (Beifall bei der CDU/CSU) solvenz zu kommen. Oft stehen kleine Unternehmen der Marktmacht des größeren Unternehmens gegenüber und Ich glaube, wir haben hier gemeinsam einen guten lassen sich deshalb auf Zahlungsfristen ein, die sie ei- Entwurf vorgelegt, und wir beide stimmen der Feststel- gentlich gar nicht tragen können. Aber man will halt den lung zu, dass es gut ist, dass der Entwurf, der in der letz- Auftrag nicht verlieren. Dem wollen wir einen Riegel ten Legislaturperiode vorgelegt worden ist, genauso we- vorschieben. Wir wollen grundsätzlich die Zahlungsfris- nig die parlamentarischen Hürden überwunden hat wie ten begrenzen, bei Individualverträgen auf 60 Tage, bei die FDP die 5-Prozent-Hürde. den Allgemeinen Geschäftsbedingungen auf 30 Tage. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das heißt, bei diesen vorformulierten Bedingungen, bei denen das Risiko, dass man etwas unterschreibt, was Lassen Sie mich zum Abschluss kommen. Ich glaube, man nicht so genau gelesen hat, größer ist, will man wir stärken das Handwerk und den Mittelstand mit dem strengere Anforderungen stellen. Das finde ich auch gut vorliegenden Gesetzentwurf. Das freut mich als Sauer- so. länder – das muss ich an dieser Stelle sagen – ganz be- sonders; denn im Sauerland haben Handwerksberufe und Natürlich ist es trotzdem möglich, im Einzelfall Ver- mittelständische Familienunternehmen nicht nur eine träge über einen längeren Zeitraum individuell auszu- lange Tradition, sondern sie sind eben auch eine kultu- handeln. Aber – und genau da schafft der Entwurf Klar- relle und gesellschaftliche Bereicherung für das Leben heit – das muss ausdrücklich geregelt sein, und es darf vor Ort. im Hinblick auf die Belange des Gläubigers nicht grob Vielen Dank. unbillig sein. Hier haben wir für Rechtssicherheit und Schutz gesorgt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben bewusst auf Branchenausnahmen verzich- tet, was natürlich nicht heißt, dass es sich aus der Natur Vizepräsidentin : des Geschäfts nicht auch einmal ergeben kann, dass man längere Fristen hat; das kann ja auch im Interesse des Als nächste Rednerin hat die Kollegin Silke Launert Gläubigers sein. Aber wir setzen da ein Stoppschild, wo das Wort. die Regelung zum Nachteil des Gläubigers ist und letzt- (Beifall bei der CDU/CSU) lich der Vertragspartner seine Marktmacht ausnutzt. 4386 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Dr. Silke Launert (A) Ein Stoppschild setzen wir auch bei den Abnahme- Um es gleich zu sagen: Wir enthalten uns. (C) oder Überprüfungsfristen. Grundsätzlich wollen wir diese in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen auf maximal (Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Überlegen 15 Tage nach Leistungserhalt begrenzen. Gleichzeitig Sie sich das noch einmal gut!) läuft ab Leistungserhalt auch die Zahlungsfrist. Wir wol- Kollege Pitterle hat sich dazu schon geäußert. Ich len verhindern, dass man durch das Aneinanderreihen möchte aber sagen, dass wir den Verbesserungen im dieser Fristen die Zahlungsfrist insgesamt verlängert. EEG sehr wohlwollend gegenüberstehen. Davon profitieren das Baugewerbe und das Handwerk, diejenigen, die in der Praxis in besonderer Weise von In- (Beifall des Abg. Marcus Held [SPD]) solvenzen betroffen sind, wenn nicht gezahlt wird. Das sind auch diejenigen, die sehr häufig wochen-, manch- Denn die Linke ist eine Partei der Energiewende. Be- mal monatelang mit Materialien und Lohnkosten in Vor- standsschutz und Fristverlängerungen für Biogasanlagen leistung gehen. sind natürlich im Sinne der Energiewende. Ein weiterer Aspekt ist die Entschädigung für die Bei- (Beifall bei der LINKEN) treibungskosten. Immer wenn jemand nicht zahlt, muss Wie Sie wissen, haben wir der Novellierung des Er- der andere seinem Geld hinterherrennen. Das ist aufwen- neuerbare-Energien-Gesetzes nicht zugestimmt, weil wir dig und kostet Geld, nämlich Anwalts- und Inkassoge- es dabei mit einem Ende der Ökostromförderung auf Ra- bühren. Die in der Richtlinie angemahnten Maßnahmen ten zu tun haben. Der heutige Antrag mildert Einschnitte haben wir in Deutschland zum Teil schon umgesetzt. bei der Biomasseförderung immerhin etwas ab. Wenn jemand in Zahlungsverzug ist und einen Schaden verursacht, hat der andere einen Schadensersatzan- Biogas ist ein wichtiger Bestandteil einer sauberen spruch. Nur, wie sieht die Praxis aus? Ich muss den Energieversorgung und auch die einzige erneuerbare Re- Schaden beweisen. Ich muss vor Gericht und ihn einkla- gelenergie, wenn die Sonne einmal nicht scheint und der gen. Oft ist es in der Praxis aber so, dass der Schaden Wind einmal nicht weht. Diesem Umstand trägt aller- sich nur auf einen kleineren Betrag beläuft. Ein kleines dings das gesamte EEG, das wir letzte Woche beschlos- oder mittelständisches Unternehmen, das keine Rechts- sen haben, nicht Rechnung. Der Ausbau von Biomasse abteilung hat, scheut oft vor einer gerichtlichen Aus- wird abgewürgt, und Fachleute sagen uns immer wieder, einandersetzung; es scheut die Beweissituation. Oder es dass nicht einmal der angestrebte Ausbau auf 100 Mega- kommt zu Gerichtsverfahren mit kleinen Beträgen. Für watt erreicht werden wird, weil die Vergütung drastisch diese Fälle haben wir jetzt eine Neuregelung: Wir sehen abgesenkt wird. einen pauschalen Schadensersatzanspruch in Höhe von (B) 40 Euro vor. Das ist praktikabel. Ich hoffe, dass dadurch Warum beschäftigen wir uns heute eigentlich noch (D) einige Verfahren vermieden und die Gerichte entlastet einmal mit Ihrem sogenannten Neustart der Energie- werden. wende, und das nach Wochen des Tauziehens zwischen Brüssel, Berlin und den Ländern? Weil Sie die Rechte Ein weiterer Aspekt, der heute, glaube ich, noch nicht des Parlaments mit Füßen treten, weil Ihr „großer Wurf“ angesprochen wurde, ist die Anhebung des Verzugs- ein mit heißer Nadel gestricktes Provisorium ist. Die zinses auf 9 Prozent. Bei der derzeitigen Zinssituation ist Medien haben ja auch von einem „unsauberen Herum- jedem klar: Das könnte durchaus die Zahlungsmoral doktern“ geschrieben. Das ist also der Grund, meine Da- stärken. men und Herren. Ich gehe davon aus, dass dieses Gesetz insgesamt die (Beifall bei der LINKEN) Zahlungsmoral stärken wird. Deshalb bitte ich Sie alle, zuzustimmen. Alle reden vom Mittelstand. Ich bitte Sie: Ich möchte vor allem daran erinnern, wie unwürdig Lassen Sie uns hier und heute ganz konkret etwas für sich Regierung und Koalition gegenüber der Minderheit den Mittelstand tun. verhalten, wie schlampig die Koalition einfach arbeitet Vielen Dank. und wie sie Fehlerhaftes übernommen hat, was ihr die Regierung diktiert hat. Es heißt, wir hätten es hier mit ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nem Parlamentsgesetz zu tun. Es sind ja alle Gesetze Parlamentsgesetze. Die Koalition übernimmt die Formu- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: lierungshilfen aus dem Ministerium und winkt sie eins Als nächste Rednerin hat die Kollegin Eva Bulling- zu eins quasi im Guttenberg-Verfahren, nämlich per Schröter das Wort. Copy-and-paste, durch das Parlament. (Beifall bei der LINKEN) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ein bisschen verändert worden ist das Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ganze ja!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was das mit Parlamentsdemokratie zu tun hat, das müs- Die Linke freut sich natürlich, noch einmal etwas zum sen Sie uns hier noch einmal erklären. großen EEG sagen zu dürfen, wenn auch im Zusammen- hang mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Zahlungsver- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- zug im Geschäftsverkehr; das ist etwas verwirrend, wie NIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder ich finde. [CDU/CSU]: Machen wir!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4387

Eva Bulling-Schröter (A) Gestern hat sich auf Nachfrage herausgestellt, dass Zahlungsfristen schützen, dafür sorgen, dass mittelstän- (C) vonseiten der Regierung noch weitere Dinge geändert dische Betriebe nicht zu lange auf ihr Geld warten müs- wurden. Nicht einmal der Kollege Dr. Pfeiffer, der ja sen – sowohl von öffentlichen wie auch von privaten Mitglied des Wirtschaftsausschusses ist, wusste Be- Vertragspartnern –, und sicherstellen, dass allgemeine scheid, worüber da genau abgestimmt wurde. Das finde Geschäftsbedingungen nicht mehr einfach von einem ich schon ein bisschen scharf, muss ich sagen. großen Auftraggeber vorgegeben werden können. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD) Das ist nicht scharf, das ist typisch!) Warum ist es so wichtig, dass sich die Zahlungsdauer Ich halte das auch für einen dicken Hund. verkürzt? Weil Unternehmen des Handwerks und des Mittelstandes in aller Regel in Vorleistung treten, weil Dann ist uns unterstellt worden: Sie sind ja nicht fä- sie Material bestellen, weil sie die Aufträge vorbereiten hig, diese fünf Seiten zu lesen. und weil sie dann über einen längeren Zeitraum das (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!) Werk ausfertigen. Unternehmen des Handwerks und des Mittelstandes leiden aus diesem Grunde häufig unter den – Man sollte nicht immer von sich auf andere schließen, finanziellen Folgen ausbleibender Zahlungen. Kollege. Wir sorgen mit dem heutigen Beschluss dafür, dass (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- dem ein Ende gesetzt wird. NIS 90/DIE GRÜNEN) Ich finde, Sie haben sich wirklich blamiert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir können überhaupt nicht lesen! Deswegen sind wir für Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen anstän- Hörbücher, weil wir nicht lesen können!) dige Löhne erhalten; das haben wir gestern mit dem Ge- setz zum Mindestlohn beschlossen. Aber auch die Unter- Wir haben in den Sommerferien hoffentlich die Zeit, nehmen sollen eine faire Chance haben, ihre das EEG wirklich durchzulesen. Ich bin gespannt, wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ordentlich und viele unbeabsichtigte Fehler sich durch dieses Eilverfah- vor allem pünktlich zu bezahlen. Das unterstützen wir ren noch eingeschlichen haben. Ich sage Ihnen: Machen mit dem heutigen Gesetzentwurf. Sie in Zukunft Ihre Hausaufgaben als Abgeordnete und Regierung wirklich besser. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wir unterstützen mit diesem Gesetz auch die positive (B) (D) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Entwicklung in Deutschland, dass Unternehmensinsol- Volker Kauder [CDU/CSU]: Hausaufgaben venzen weiter zurückgehen, und steigern die Liquidität sind was für die Schule! Gehen Sie mal dort- in den Unternehmen. Und wir unterstützen den Mittel- hin!) stand und das Handwerk, weil hier rund 15,7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt sind. Das sind fast 60 Prozent aller sozialver- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: sicherungspflichtigen Beschäftigten. Für diese Men- Als nächster Redner hat der Kollege Marcus Held das schen, meine Damen und Herren, schaffen wir mit dem Wort. heutigen Gesetz mehr Sicherheit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU) Wir als SPD machen damit deutlich: Wir stehen an Marcus Held (SPD): der Seite des Mittelstands. Wir stehen an der Seite der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind dafür, dass Innovation und soziale Gerechtig- keit auch in Zukunft in Deutschland im Mittelpunkt ste- Die Bundesregierung setzt mit ihrem Gesetzent- hen. Das erreichen wir mit dem Gesetz zum gesetzlichen wurf ein deutliches Zeichen zur Bekämpfung von Mindestlohn, das wir in dieser Woche beschlossen ha- Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. Schlechter ben, und jetzt mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Zahlungsmoral und unverhältnismäßig langen Zah- Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. lungsfristen wird so künftig ein wirksamer Riegel vorgeschoben. Vielen Dank. Dies ist nicht nur meine Meinung, dies ist nicht nur Mei- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nung der SPD-Fraktion; dieses Zitat stammt von Holger Schwannecke, dem Generalsekretär des Zentralverban- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: des des Deutschen Handwerks. Als nächster Redner hat der Kollege Oliver Krischer das Wort. Aber nicht nur das Handwerk in Deutschland bewer- tet den heutigen Gesetzentwurf positiv. Die heutige Ent- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Warum redet der scheidung ist ein wichtiges Signal für den Mittelstand, so oft? – Michael Grosse-Brömer [CDU/ mit dem wir grundsätzlich vor unverhältnismäßig langen CSU]: Der Krischer hat schon viel geredet! – 4388 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Marcus Held [SPD]: Wir müssen ihn mal ver- Wenn Sie das jetzt notdürftig reparieren, zusammen (C) warnen! Gelbe Karte!) mit angeblichen redaktionellen Fehlern, die keine redak- tionellen Fehler sind, sondern auch substanzielle Fehler, Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dann ist das keine Glanzleistung, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt mal zur Sa- Ehrlich gesagt, bin ich entsetzt darüber, che! – Marcus Held [SPD]: Genau! Zur Sa- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was? che!) Sie sind immer entsetzt!) sondern dann ist das schiere Notwendigkeit. dass kein einziger der 500 Abgeordneten der Großen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Koalition den Mut hat, hier nach vorne zu kommen und Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt mal zum einmal etwas zu dem EEG-Desaster zu sagen, das Sie Zahlungsverkehr!) gerade dabei sind zu reparieren. Das ist unglaublich. Sie machen aber dann noch etwas: Sie ändern die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stichtagsregelung im EEG. Das hätten Sie auch vor einer und bei der LINKEN) Woche machen können. Vor einer Woche war der Sach- Vor einer Woche hat Sigmar Gabriel hier gestanden verhalt genau der gleiche. Sie packen aber dieses Gesetz und hat jeden zum Querulanten erklärt, der den An- durch die Fehler, die Sie produziert haben, noch einmal spruch hat, nicht nur fünf Seiten Vorblatt zu lesen, son- an einer Stelle inhaltlich an. Da fragt man sich ja: Wa- dern ein 204-seitiges Gesetz komplett lesen zu wollen. rum an dieser Stelle, bei den Biomethananlagen? Heute steht er vor den Trümmern dessen, was er hier er- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Damit Sie sich zählt hat. aufregen können!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich habe gar nichts dagegen. Aber warum packen Sie und bei der LINKEN) die Stichtagsregelung nicht insgesamt an, so wie es der Da frage ich mich: Was ist das für ein Demokratiever- Bundesrat mit großer Mehrheit gefordert hat? ständnis, wenn hier nicht einmal der Herr Großwesir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirtschaftsminister sitzt, nicht einmal das Wirtschafts- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ministerium vertreten ist und Sie hier alleine gelassen werden, um die Trümmer dieser Politik zu beseitigen, Warum ändern Sie nicht all die anderen Dinge, die in meine Damen und Herren? Was ist das für ein Parla- diesem Gesetz falsch sind? Das frage ich Sie, meine Da- (B) mentsverständnis? men und Herren von der Großen Koalition. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich will Ihnen die Antwort liefern, warum das so ist: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Union hat gemoppert. Sie hat intern gemoppert über dieses desaströse Verfahren. Ich kann Ihnen sagen: Hätten Sie auf die Vorschläge der Opposition, hätten Sie auf meine Kollegin Britta (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was heißt denn „ge- Haßelmann gehört, die Ihnen gesagt hat: „Lassen Sie uns moppert“? Können Sie das mal erklären?) eine Anhörung machen, lassen Sie uns fünf Tage Zeit Sie haben dann ein kleines Bonbon eingefordert. Das nehmen“, dann wäre dieses Desaster nicht passiert. mussten der Herr Wirtschaftsminister und die Sozialde- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mokraten Ihnen liefern. Deshalb gab es für die CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN) noch ein Geschenk bei den Biogasanlagen; denn die wollten das haben. Das ist Politik, wie sie die Große Ko- Das haben Sie arrogant weggebügelt. Jetzt stehen Sie alition macht. Es geht nicht mehr um die Sache, sondern da und müssen hier eine peinliche Reparaturnummer es geht einfach nur noch darum: Wie kommt man zum machen und haben nicht einmal die Größe, sich bei den besten Deal, damit man das Gesicht wahrt? Kollegen dafür zu entschuldigen, deren Gesetz hier ge- kapert wird. Das ist ein absolutes Unding. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Piratenspra- Das, meine Damen und Herren, ist nicht in Ordnung. che: „kapern“! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das sage ich in aller Deutlichkeit. Das ist Ihnen noch gar nie passiert in Ihrer Re- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie moppern hier gierungszeit? – Marcus Held [SPD]: Seien Sie zu viel! Hören Sie auf zu moppern!) doch nicht so aufgeregt, Herr Krischer!) Wenn man das EEG insgesamt sieht, dann merkt man: Das eine, was Sie gemacht haben, muss man sich auf Sie stehen ja absolut vor dem Desaster. Wir haben ges- der Zunge zergehen lassen: Sie haben nonchalant einen tern gehört: In Brüssel ist nichts geregelt. Eingriff in den Bestand vorgenommen, der dazu geführt hätte, dass 1 000 Biogasanlagen in Deutschland in die (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hören Insolvenz getrieben worden wären. Das haben Sie mit Sie jetzt mal auf zu moppern!) Ihrem Verfahren in Kauf genommen. Herr Almunia ist nicht bereit, das an der Stelle zu akzep- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tieren. Es ist völlig offen, ob das Gesetz am 1. August in Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4389

Oliver Krischer (A) Kraft treten kann. Das heißt, Ihre ganze Brechstangenpo- Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): (C) litik hat überhaupt nichts gebracht. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Lieber Kollege Krischer, wer hätte das gedacht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass Sie einmal versuchen, zum Gesetz zur Bekämpfung Dann haben Sie noch Herrn Oettinger, der qua Amt von Zahlungsverzug zu reden. das deutsche EEG eigentlich schützen sollte; (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. [CDU/CSU]: Was hat GRÜNEN]: Sie haben das doch aufgesetzt! – denn das jetzt mit dem Zahlungsverzug zu Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tun?) NEN]: Ist das EEG da drin oder nicht?) nach dem Urteil des EuGH in der letzten Woche hätte er – Natürlich haben wir das aufgesetzt. Ich finde es völlig auch allen Grund, das zu tun. Was erzählt Herr in Ordnung – bei allen Aufgeregtheiten heute –, dass wir Oettinger, dem Sozial- und Christdemokraten sowie dann, wenn vor der Sommerpause die Notwendigkeit be- Christsoziale eine Laufzeitverlängerung geben? Er er- steht, zählt, das EEG sei nicht mehr reformierbar und gehöre (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: abgeschafft. Wer solche Freunde in der EU-Kommission Die Notwendigkeit? Ihre Trümmer!) hat, der braucht keine Feinde mehr, wenn es um die deutsche Energiewende geht. redaktionelle Fehler zu korrigieren, Gleichlauf mit Über- gangsvorschriften herzustellen und Korrekturen im (Volker Kauder [CDU/CSU]: Deswegen brau- Sinne der Rechtssicherheit vorzunehmen, das an dieser chen wir Sie!) Stelle machen. Das muss an der Stelle einmal klar gesagt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie haben uns doch gerade gesagt, dass Sie zustimmen sowie bei Abgeordneten der LINKEN – wollen. Wo ist das Problem? Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Schluss Sie haben das einmal als Omnibusgesetz bezeichnet, mit dem Moppern jetzt!) ein Verfahren, das jetzt genutzt wird. Selbst die Oppo- Meine Damen und Herren, wir werden selbstver- sition fährt gern Omnibus. Ich kann mich noch gut er- ständlich der notwendigen und überfälligen Reparatur innern, meine Damen und Herren, dass Sie uns hier im des EEG an der einen Stelle zustimmen. letzten Jahr, als es um ein Gesetz gegen den Missbrauch im Geschäftsverkehr ging, Änderungsanträge präsentiert (B) (Zurufe von der CDU/CSU: Ah! – Beifall bei haben, die Ihre Meinung zur Mietpreisbremse und zur (D) Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Abgeordnetenbestechung enthielten. Da haben Sie auch Das ändert aber nichts daran, dass dieses Gesetz ein De- ganz vorn im Omnibus gesessen. Das ist ein Verfahren, saster ist, das zwar parlamentarisch nicht besonders schön ist, aber das man zur Not auch einmal wählen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ein Desaster für die Energiewende, für die Investitionssi- neten der SPD – Michael Grosse-Brömer cherheit, für die Branche der erneuerbaren Energien, für [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Da müsst den Klimaschutz und für die Bürgerenergien. ihr auch klatschen!) (Marcus Held [SPD]: Im Gegenteil!) Meine Damen und Herren, damit kommen wir wieder zum eigentlichen Thema des Gesetzes zurück. Der Ent- Da kommen Sie nicht mehr raus, auch nicht mit Ihrem wurf aus der letzten Legislaturperiode unterschied nicht unwürdigen Verfahren in diesem Parlament. Ich hoffe zwischen Individualvereinbarungen und den für die nur, dass Leute zum Gericht gehen und das problemati- Wirtschaft wichtigen Allgemeinen Geschäftsbedingun- sieren werden, was Sie hier veranstalten. gen. Außerdem sah der Entwurf eine Zahlungsfrist von Ich danke Ihnen. 60 Tagen für alle vor, für Verbraucher und Unternehmer. Jedenfalls im Handwerk und auch in der Bauwirtschaft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wäre das keine Verbesserung gewesen, und das hätte Marcus Held [SPD]: Ha! Gegen die deutsche eher zu einer Verschlechterung der Zahlungsmoral ge- Wirtschaft! Ja, das ist die klare Ansage! – Ge- führt. genruf des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, gegen euren Murks, Jetzt kommen wir zu den 30 Tagen. Das Gesetz bringt nicht gegen die Wirtschaft!) natürlich auch für andere Branchen Veränderungen. Es muss sich noch zeigen, ob das für Automobilindustrie und Handel eine gute Regelung ist. Ausgesprochen posi- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: tiv wird sie sich für Handwerk und Bauwirtschaft aus- Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege wirken. Die anderen Branchen haben Strukturen, die wir Heider das Wort. in Zukunft genauer beobachten müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Im Handwerk und in der Bauwirtschaft werden über- neten der SPD) wiegend Werkverträge vereinbart. Bei solchen ist der 4390 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Dr. Matthias Heider (A) Gläubiger der Entgeltforderung vorleistungspflichtig. dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen (C) Daher sind kurze Zahlungsfristen okay. In der Automo- wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dafür? – Das bilwirtschaft dagegen werden zwischen Automobilher- sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – steller und Zulieferer zumeist Verträge geschlossen, auf Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Das ist die die das Kaufrecht, Herr Kollege Wiese, Anwendung fin- Fraktion Die Linke. Damit ist der Gesetzentwurf in det. Auch bei Werklieferungsverträgen ist das so. Die zweiter Beratung angenommen. Zahlungen, die dort in einem rollierenden Gutschriften- Wir kommen zur system jeweils zum Ende des nächsten Monats ausgelöst werden, sehen im Detail etwas anders aus, sodass man dritten Beratung das alles nicht über einen Leisten schlagen sollte. Wir und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem müssen aufmerksam beobachten, wie das läuft. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Auch im Einzelhandel haben wir meistenteils Kauf- Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen. Wer recht. Hier liegt das Problem darin, dass Einzelhändler, enthält sich? – Die Linke. Damit ist der Gesetzentwurf die Ware von Einzelhändlern oder Lieferanten kaufen, mit den Stimmen der Koalition angenommen. nicht absehen können, in welchem Zeitraum sie die Ware (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- absetzen. Daher muss die Ware zwischenfinanziert wer- NEN]: Frau Präsidentin, ich hatte Teilung der den. Ich wage, heute zu prognostizieren, dass sich das Abstimmung beantragt! Das ist ganz klar, weil über kurz oder lang auf die Verbraucherpreise auswirken wir beim EEG zustimmen werden! – Gegenruf wird. des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist abgestimmt! Ende! – Britta Haßelmann Trotzdem ist das Gesetz, so wie es jetzt ausgestaltet [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, ich ist, ein gutes Gesetz. Es hilft dem Mittelstand. Ich hoffe, hatte das beantragt!) dass es bei den Branchen, die vom Volumen her größer sind und im internationalen Rechtsverkehr besondere Es war Teilung der Abstimmung beantragt. Deshalb Bedürfnisse haben, möglich sein wird, entsprechende In- bitte ich um Verständnis, dass wir die Abstimmung wie- dividualvereinbarungen zu treffen. Ob das möglich ist, derholen. Wir stimmen zuerst über den Antrag der Tei- ist die Frage. Wir haben natürlich das Problem, Herr lung ab. Staatssekretär, dass wir uns mit dieser gesetzlichen Re- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gelung von den anderen Mitgliedstaaten in Europa deut- NEN]: Nein!) lich abheben. Auch da werden wir beobachten müssen, ob sich das Gesetz auf die Wahl deutschen Rechts für – Wir wiederholen die Abstimmung, und zwar geteilt. (B) Lieferverträge und auf den Rechtsstandort Deutschland Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (D) auswirken wird. Ich kann das, genau wie Sie, heute nicht empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- absehen. Aber wir tun gut daran, uns die beiden Bran- che 18/2037, den Gesetzentwurf der Bundesregierung chen anzusehen. auf Drucksache 18/1309 in der Ausschussfassung anzu- Es ist gut, dass noch eine Änderung hinzugekommen nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? ist, wonach alle Marktbeteiligten die Möglichkeit haben, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen bis zum Jahr NEN]: Über den Änderungsantrag der Koali- 2016 anzupassen. Im Juni 2016 müssen diese Anpassun- tionsfraktionen müssen wir zuerst abstimmen! – gen vollzogen sein. Ich glaube, dass diese Übergangs- Volker Kauder [CDU/CSU]: Soll ich mal vor- frist ausreichend ist, um für die Branchen, die Unterneh- schlagen, wie es geht? – Heiterkeit bei der men, aber auch die Verbraucher etwas im Sinne der CDU/CSU) Zahlungssicherheit und der Zahlungsschnelligkeit zu Ich gehe davon aus – so habe ich Frau Haßelmann ver- tun. Damit gehen wir in die Sommerpause. Nach der standen –, dass Sie folgende Teilung wollen: auf der einen Sommerpause werden wir mit den Beobachtungen be- Seite eine Abstimmung über die Drucksache 18/1309 und ginnen. auf der anderen Seite eine Abstimmung über die Druck- Vielen Dank. sache 18/1576. Ist das zutreffend, oder ist das nicht zu- treffend? Ansonsten müssen Sie mir jetzt bitte kurz er- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) läutern, welche Teilung Sie wollen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt macht doch Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: keinen Zirkus!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache. Nachdem nun geklärt ist, worüber eine getrennte Ab- stimmung erreicht werden soll, wiederholen wir die Ab- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- stimmung noch einmal. Aller guten Dinge sind drei. Es desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur wird eine getrennte Abstimmung über Artikel 4 ge- Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. wünscht. Deshalb ziehe ich das jetzt vor. Ich lasse zu- Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz emp- nächst abstimmen über Artikel 4 auf Drucksache 18/2037. fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Wer stimmt dafür? – Das sind alle. Wer stimmt dagegen? – che 18/2037, den Gesetzentwurf der Bundesregierung Niemand. Wer enthält sich? – Auch niemand. Damit ist auf den Drucksachen 18/1309 und 18/1576 in der Aus- Artikel 4 auf Drucksache 18/2037 einstimmig angenom- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die men. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4391

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Jetzt lasse ich über den Gesetzentwurf im Übrigen ab- Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): (C) stimmen, und zwar in der Ausschussfassung, wie es vor- Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Seit hin angekündigt worden ist. Wer stimmt dem Gesetzent- dem Ausbruch der Weltfinanzkrise im Jahr 2008 haben wurf in der Ausschussfassung zu? – Das sind die wir in Deutschland, in Europa und weltweit vieles unter- Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/ nommen, um einer Wiederholung dieser Ereignisse vor- Die Grünen. Wer enthält sich? – Die Linke. Damit ist der zubeugen. Mit Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Gesetzentwurf in der Ausschussfassung mit den Stim- Schäuble haben wir konsequent Regulierungs- und Sta- men der Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/ bilitätsgesetze auf den Weg gebracht. Allerdings kämp- Die Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen fen wir an manchen Fronten heute noch immer damit, worden. Das war die zweite Beratung. die Folgen der Finanzmarktkrise zu bewältigen. Wir kommen nun zur Zu diesen Folgen gehört auch die anhaltende Niedrig- dritten Beratung zinspolitik der Notenbanken. Seit fünf Jahren sinken die Zinsen. Für eine Trendumkehr gibt es keine Hinweise. und Schlussabstimmung. Wir stimmen jetzt über den Vielmehr hat die EZB ihren Leitzins gerade erst wieder Gesetzentwurf insgesamt, so wie wir ihn eben beschlos- gesenkt und sogar Negativzinsen für Einlagen bei der sen haben, ab. Wer stimmt dem Gesetzentwurf, so wie Zentralbank eingeführt. Das bedeutet, Kredite werden wir ihn in der zweiten Lesung beschlossen haben, zu? – billiger, was einerseits Verbraucher und Investoren freut. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Das bedeutet aber auch, dass die Kapitalerträge zurück- Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die gehen, wodurch zum Beispiel private Vorsorge- und Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Spareinlagen entwertet werden. Ein erheblicher Teil der Linken angenommen. privaten Altersvorsorge in Deutschland steckt in Lebens- versicherungen. Deshalb besteht die Notwendigkeit zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit kommen wir diesem Lebensversicherungsreformgesetz. jetzt zu den Tagesordnungspunkten 29 a und 29 b: Rund 88 Millionen derartige Versicherungsverträge a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gibt es in Deutschland aktuell. Damit ist die Lebensver- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes sicherung eine der wichtigsten Spar- und Altersvorsor- zur Absicherung stabiler und fairer Leistun- geformen in unserem Land. Gegenwärtig erleben wir die gen für Lebensversicherte (Lebensversiche- paradoxe Situation, dass Lebensversicherungen umso rungsreformgesetz – LVRG) mehr Geld ausschütten müssen, je niedriger die Zinsen Drucksache 18/1772 sind. Bewertungsreserven entstehen, weil der Marktwert (B) von Kapitalanlagen bei sinkenden Zinsen über dem frü- (D) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- heren Kaufpreis liegt. Dabei handelt es sich um Buchge- ausschusses (7. Ausschuss) winne ohne realen Zuwachs von Finanzmitteln; es gibt Drucksache 18/2016 also keinen echten Wertzuwachs. Das kann nach Adam Riese auf Dauer nicht gut gehen. Deshalb müssen wir b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- die Vorschriften zur Beteiligung an den Bewertungs- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu reserven bei festverzinslichen Wertpapieren – nicht bei dem Antrag der Abgeordneten Susanna Aktien und Immobilien – anpassen. Karawanskij, Matthias W. Birkwald, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Deutsche Bundesbank warnt in einem langfristi- DIE LINKE gen Stressszenario nicht umsonst davor, dass mehr als ein Drittel der deutschen Lebensversicherungen in einem Lebensversicherungen auf den Prüfstand stel- Umfeld langanhaltender Niedrigzinsen bis 2023 die Ei- len – Kein Schnellverfahren zu Lasten der genkapitalanforderungen nicht einhalten können. Das ist Versicherten der langfristige Ausblick, den wir als Verantwortliche Drucksachen 18/1815, 18/2016 berücksichtigen müssen. Dieser Verantwortung kommen wir heute mit diesem Gesetz nach. Über die Beschlussempfehlung werden wir später na- mentlich abstimmen. Zu dem Gesetzentwurf der Bun- Es wäre absolut fahrlässig, die Warnungen nicht ernst desregierung liegen zwei Änderungsanträge und ein Ent- zu nehmen. Wenn wir nicht handeln, fahren wir zwangs- schließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. läufig einen wesentlichen Teil der privaten Altersvor- sorge vor die Wand. Das gebe ich all jenen zu bedenken, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für allen voran der Opposition in diesem Hause, die seit Wo- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich chen mit falschen Argumenten und ohne einen eigenen keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. vernünftigen Lösungsansatz gegen die nun vorliegende Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Lösung polemisieren. Manchmal habe ich den Eindruck, Herr Dr. Michelbach das Wort. Sie haben geradezu Freude daran, den Menschen Zu- kunftsängste zu bereiten. Ich kann Sie nur warnen: Hö- Wenn sich alle Kolleginnen und Kollegen gesetzt ha- ren Sie mit den Verunsicherungskampagnen auf! Letzten ben – ich bitte auch alle Kolleginnen und Kollegen in Endes gibt es bei den garantierten Leistungen keine Ver- den ersten Reihen darum –, können wir mit der Ausspra- änderungen. Sie müssen deutlich machen, dass es hier che beginnen. – Herr Michelbach, Sie haben das Wort. nur um die Bewertungsreserven geht. Das kann man 4392 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) doch nicht in einen Topf werfen. Sonst verursacht man aber wir sind noch nicht über den Berg. Deswegen ist es (C) Zukunftsängste und Verunsicherung. Das lehnen wir ab; notwendig, dass wir auch in Zukunft entsprechende Ge- wir müssen den Menschen für die Zukunft Sicherheit ge- setzentwürfe einbringen. In diesem Sinne ist heute ein ben. guter Tag für die Stabilität unseres Finanzmarktes, für die Versicherten, für die Anbieter und für die Produkte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lassen Sie uns dieses Gesetz beschließen! neten der SPD) Vielen Dank. Es steht außer Frage, dass der Gesetzgeber auf die Entwicklung bei den Bewertungsreserven reagieren (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) muss. Es kann nicht sein, dass das Auslaufen der Ver- träge von 7 Millionen Versicherten einen Nachteil für Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: mehr als 80 Millionen verbleibende Versicherte bedeu- Als nächste Rednerin hat die Kollegin Susanna tet. Ansonsten wäre mittel- und langfristig die Fähigkeit Karawanskij das Wort. der Versicherungsunternehmen in Gefahr, ihre zugesag- ten Zinsgarantien einzuhalten. Eine solche Situation darf (Beifall bei der LINKEN) nicht eintreten. Das ist im Interesse der Versicherungs- unternehmen, aber insbesondere auch im Interesse der Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Versicherten. Wir bevorteilen niemanden, sondern wol- Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr len den Ausgleich. Wir wollen Verteilungsgerechtigkeit geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ausge- und eine Balance zwischen den bestehenden Interessen. wogen und gerecht haben Sie, Herr Finanzminister – wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haben es jetzt noch einmal vom Kollegen Michelbach neten der SPD) gehört –, das Gesetz zur Reform der Lebensversicherun- gen genannt. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, kön- nen wir nur durch einen gerechten Interessenausgleich (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Aber bewältigen. Es ist meine feste Überzeugung, dass ein holla! – Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist es ja solcher Interessenausgleich mit dem vorliegenden Ge- auch!) setzentwurf erreicht wird. Der Leitgedanke der Solidar- Das ist, wenn man sich das Gesetz anschaut, aber nicht gemeinschaft und der Verteilungsgerechtigkeit steht im zu erkennen. Vordergrund. Deshalb wird von allen Beteiligten, also von den Versicherungsunternehmen, den Eigentümern (Beifall bei der LINKEN) – das ist ganz wichtig – und natürlich auch von den Ver- (B) Es gibt keinen fairen Interessenausgleich zwischen den (D) sicherten, ein angemessener und ausgewogener Beitrag Versicherten und den Versicherungsunternehmen. verlangt. Wir haben darauf geachtet, dass, sollten sich die Bewertungsreserven für die Versicherten ändern, (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das auch die Eigentümer, die Aktionäre in Form von Aus- ist doch ein Popanz!) schüttungen daran beteiligt werden. Damit stärken wir Sie sind vor der Versicherungslobby – man muss es ein- die Eigenkapitalausstattung, die die Versicherungen fach so sagen – eingeknickt. nach der Solvency-II-Vereinbarung in Zukunft verstärkt benötigen. So schafft das Reformgesetz eine gerechte (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, hingefal- Verteilung der Lasten zwischen Eigentümern und Versi- len!) cherten. Darüber hinaus werden wir die Überschussbe- Sie haben Ihr Ziel verfehlt. teiligung der Versicherten an das Niedrigzinsumfeld anpassen. Die Versicherten werden in Zukunft mit min- (Beifall bei der LINKEN) destens 90 Prozent an den Risikoüberschüssen beteiligt Die Versicherungsbranche jammerte, es müsse schnell statt wie bislang mit 75 Prozent. Überschüsse verbleiben gehandelt werden, und ruck, zuck wird ein Gesetz auf im Sondervermögen. den Weg gebracht, das für viele Versicherte – 62 Millio- Zudem stärkt das Gesetz die Handlungsmöglichkeiten nen können davon betroffen sein –, der Aufsichtsbehörden. Es ist ganz wichtig, dass wir den ( [CDU/CSU]: Positiv betrof- Aufsichtsbehörden für das Versicherungswesen das rich- fen!) tige Werkzeug an die Hand geben, damit gefährliche Fehlentwicklungen frühzeitig erkannt und effektiv be- gravierende Auswirkungen hat, die noch gar nicht über- kämpft werden können. Damit leistet das Gesetz einen blickt werden können, weil die entsprechenden Daten wichtigen Beitrag zur Stabilität der Lebensversicherun- fehlen. Bislang sind sie nur bruchstückhaft vorhanden. gen. Jedes andere Handeln wäre ein Verstoß gegen eine (Volker Kauder [CDU/CSU]: Punkt!) seriöse Finanzpolitik. Wir haben nach wie vor das Ziel, mit unserer Finanzpolitik zu einer Stabilisierung beizu- Nun frage ich mich, wie schlimm es wirklich um die tragen. Lebensversicherer steht. Heute war im Handelsblatt zu lesen, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs- Wir haben die Krise in vielerlei Hinsicht erfolgreich aufsicht einen Stresstest vorgenommen hat. Dort haben bekämpft; alle Lebensversicherer positiv abgeschnitten. „Die Risi- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!) kotragfähigkeit der deutschen Versicherungswirtschaft Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4393

Susanna Karawanskij (A) ist weiterhin stabil“, heißt es dort. Ich frage Sie: Warum – vereinfacht gesagt – weniger gutgeschrieben. Wir sa- (C) dann eine solche Hast? Warum wollen wir nicht ausgie- gen: Das ist eine Frechheit. big und vor allen Dingen umfassend diskutieren und dann ein wirklich gutes Gesetz auf den Weg bringen? (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau! Das ist eine Frechheit! (Beifall bei der LINKEN) Das muss weg!) Konkret zum Gesetzentwurf. Es gibt durchaus Punkte, – Ja, das ist eine Frechheit. die wir unterstützen. Gut ist in unseren Augen, die Zu- Meine Damen und Herren, bei Lichte betrachtet führung aus den Risikoüberschüssen – Sie haben es ge- bringt dieses Gesetz den Versicherten wenig Gutes. Sie rade gesagt – auf 90 Prozent anzuheben. Wir sind aller- sanieren vielmehr die Versicherungskonzerne. Die tra- dings der Meinung, dass auch die Kostenüberschüsse auf gen das dann auf dem Rücken der Versicherten aus. Wir 90 Prozent anzuheben sind. sagen: Da muss umgesteuert werden: (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Eine Ausschüttungssperre an die Aktionäre und Ei- Erstens. Gewinne und Erträge, die mit Kundengel- gentümer der Versicherung ist ebenfalls etwas, das wir dern erwirtschaftet werden, grundsätzlich begrüßen. Wir sind aber der Meinung, dass wir hier nachbessern müssen, um dies umgehungs- (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Alles enteig- sicher zu machen. nen!) (Beifall bei der LINKEN) sollen bei den Kunden bleiben. Das bedeutet, die Min- destzuführungsquoten bei den Überschusstöpfen müssen Die am Ende der Gesetzesberatungen hinzugekom- auf einheitlich 90 Prozent angehoben werden, auch bei mene Beschränkung variabler Vergütungen, also Boni, den Kostenüberschüssen; die sind nämlich noch nicht Gratifikationen, Zulagen bei den Vorständen, begrüßen dabei. wir ebenfalls. Wir hätten es auch begrüßt, wenn die Of- fenlegung der Provisionen, was lange im Gesetzentwurf Zweitens. Die Bewertungsreserven können nicht mit enthalten war, dringeblieben wäre. Schon während der Taschenspielertricks sozusagen von der Ausschüttung Expertenberatung im Finanzausschuss wurde im Ticker ausgenommen werden. gemeldet, dass diese vom Tisch seien. Die Versiche- rungslobby hat schon gejubelt, während die Sachver- (Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist ein gutes ständigen bei der Anhörung noch über einen veralteten Stichwort für Ihre Rede!) (B) Gesetzentwurf diskutiert haben. Das ist nicht nur ein Af- Wir sagen: Ziehen Sie die Einschränkung der Beteili- (D) front den Experten gegenüber. gung der Versicherten an den Bewertungsreserven zu- rück bzw. verzichten Sie darauf! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Vielmehr zeigt sich hier, dass die Bundesregierung im Zweifel wieder einmal dem Druck der Versicherungs- Drittens. Wir brauchen in den Unternehmen Transpa- lobby nachgibt. renz, wie welche Überschüsse und stille Reserven in welcher Höhe ermittelt, verteilt und ausgekehrt werden. (Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist doch Blöd- Das komplette Überschuss- und Reservesystem gehört sinn! Vollkommener Unsinn!) auf den Prüfstand. Das ist nicht im Sinne der Versicherten. Hier wird der Dieses Hickhack um die kapitalgebundenen Lebens- Weg für Falschberatung bereitet. Die Geheimniskräme- versicherungen zeigt nur eines: Die private Altersversor- rei bei den Provisionen bleibt bestehen. Nein, Sie sind gung erodiert. nicht an der Seite der Versicherten. Sie betreiben Versi- cherungslobbyschutz statt Versichertenschutz. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die fünf Minuten sind aber um!) (Beifall bei der LINKEN) Nur mit geschickter Lobbyarbeit schaffen Sie es, diese Sie behaupten, es gäbe die dringende Notwendigkeit, am Leben zu erhalten. Mit diesem Gesetz missbrauchen sofort zu handeln. Sie behaupten auch, dass Sie inner- Sie das Vertrauen der Versicherungsnehmer. Deswegen halb der Versichertengemeinschaft solidarisch vorgin- lehnen wir es ab. gen. In Wahrheit spielen Sie die Versicherungsnehmer gegeneinander aus. Bis jetzt konnte mir auch noch nie- (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder mand die Frage beantworten, wie viele der langlaufen- [CDU/CSU]: Das wissen wir jetzt!) den hochverzinsten Wertpapiere tatsächlich zur Bedie- nung ausscheidender Kunden verkauft werden mussten. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Letzten Endes bedeutet nämlich die Reduzierung der Be- Als nächster Redner hat der Kollege Manfred Zöllmer teiligung an den Bewertungsreserven aus den festver- das Wort. zinslichen Wertpapieren für jeden Kunden eine Kürzung. Die jetzt ausscheidenden Kunden sehen es schwarz auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weiß; da ist es offensichtlich. Den Bestandskunden wird der CDU/CSU) 4394 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

(A) Manfred Zöllmer (SPD): entsprechend zu handeln. Ziel ist es, die Unternehmen (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und anzuhalten, selbstständig rechtzeitig tätig zu werden. Kollegen! Dass dieser Gesetzentwurf kontrovers disku- Zweitens. Wir wollen die Versicherungskunden zu- tiert wird, konnten wir eben erleben. künftig stärker an den Risikogewinnen der Unternehmen Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Ist beteiligen, statt bisher zu 75 Prozent in Zukunft zu dieses Gesetzesvorhaben notwendig? Wir müssen zur 90 Prozent. Das heißt, wir stellen die Versicherungsneh- Kenntnis nehmen, dass es in Deutschland deutlich mehr mer besser als bisher. Lebensversicherungsverträge gibt als Einwohner. Für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sehr viele Menschen ist dies eine ganz wesentliche Säule der CDU/CSU) ihrer Altersversorgung. Sie sind deshalb existenziell da- rauf angewiesen, auf Dauer stabile Lebensversicherun- Drittens. Wir wollen die Eigentümer beteiligen. Das gen zu haben. machen wir, indem wir eine Ausschüttungssperre für Di- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) videnden in das Gesetz schreiben. Diese Ausschüttungs- sperre greift, wenn ein sogenannter Sicherungsbedarf Sie haben Garantieversprechen bekommen, auf die sie vorliegt. Die Aktionäre müssen sich also in Zukunft an sich auch in Zukunft verlassen können müssen. den Krisenlasten der Unternehmen beteiligen. Die Auf- sicht kann dies anordnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Was gefährdet nun die Stabilität? Das ist das aktuelle Wir wissen, dass das bei Unternehmen mit einem Ge- Niedrigzinsumfeld. Dieses Niedrigzinsumfeld war vor winnabführungsvertrag nicht greift. Aber bei einem Ge- zehn Jahren überhaupt nicht in Sicht. Die durchschnittli- winnabführungsvertrag muss dann das Mutterunterneh- che Rendite deutscher Anleihen beträgt 1,6 Prozent, und men haften und frisches Geld zur Verfügung stellen. der durchschnittliche Garantiezins der Lebensversiche- Damit schaffen wir sogar noch mehr Sicherheit als nur rungen beträgt 3,2 Prozent. Nun muss man nicht unbe- mit einer Ausschüttungssperre. Wir können Aktionäre dingt zwölf Semester Volkswirtschaft studiert haben, natürlich nicht zwingen, frisches Geld zur Verfügung zu liebe Frau Karawanskij, um zu erkennen: Da gibt es ein stellen. Problem. Viertens. Wir wollen die Abschlusskosten senken. Ergänzend hat die Deutsche Bundesbank einen Fi- Die bilanzielle Anrechenbarkeit, die Zillmerung, soll auf nanzstabilitätsbericht veröffentlicht und deutlich ge- 25 Promille verringert werden, damit diese Kosten in (B) macht, dass langfristig – ich betone: langfristig – bei Zukunft geringer werden. (D) einem anhaltenden Niedrigzinsumfeld über ein Drittel der deutschen Lebensversicherungsunternehmen die ver- Fünftens. Wir werden die Garantiezinsen für Renten- sprochenen Garantieleistungen nicht einhalten können. und Kapitallebensversicherungen für Neuverträge – ich Die BaFin hat auf diese Probleme hingewiesen. Auch betone: für Neuverträge – zukünftig auf 1,25 Prozent die Sachverständigen haben in unserer Anhörung auf senken. Dies ist im aktuellen Niedrigzinsumfeld drin- diese Probleme hingewiesen, und zwar durchgängig alle. gend erforderlich. (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Nicht Sechstens. Wir schaffen eine größere Transparenz für alle!) Verbraucherinnen und Verbraucher. Die Unternehmen sollen den Kunden gegenüber detaillierter ausweisen, Es besteht Handlungsbedarf. Oder gibt es hier irgendje- welche Gewinne erwirtschaftet werden und wie viel da- manden, der sagen kann, wie sich in Zukunft das Zins- von an die Kunden geht. umfeld entwickeln wird? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der CDU/CSU) Diese Probleme sind nicht neu. Wir unternehmen den Wir sind nicht dem Vorschlag gefolgt, Abschlusspro- zweiten Anlauf zur Lösung. Der erste Anlauf ist geschei- visionen offenzulegen. Warum nicht? Weil das eine tert, da wir gemeinsam mit den Grünen gesagt haben: Fehlsteuerung der Konsumenten zur Folge hätte. Wir wollen eine Beteiligung der Unternehmen bei der langfristigen Stabilisierung der Lebensversicherungen. – (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist Das machen wir jetzt. Wir wollen ein Gesetz, das die das!) Verbraucherinnen und Verbraucher stärkt, die Unterneh- Warum? Es gibt ganz unterschiedliche Vertriebswege men an den Kosten beteiligt und eine faire Verteilung der mit ganz unterschiedlich hohen Abschlussprovisionen. Überschüsse für die gesamte Versichertengemeinschaft vorsieht. Ein Entwurf dieses Gesetzes liegt nun vor. Was (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: sind die Kernpunkte? Genau!) Erstens. Wir verbessern die Eingriffsbefugnisse der Ein Angestellter bei einer Sparkasse bekommt eine nied- Versicherungsaufsicht BaFin. Mögliche Risiken müssen rige Abschlussprovision, ein selbstständiger Versiche- frühzeitig erkannt werden. Die Aufsicht muss in der rungsmakler eine hohe, weil er viele Versicherungen hat, Lage sein, auch uneinsichtige Unternehmen zu zwingen, weil er ein eigenes Unternehmen hat. Aber die Gesamt- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4395

Manfred Zöllmer (A) kosten können sich unterscheiden, müssen sich aber Konfuzius hat einmal gesagt: Wer etwas will, sucht (C) nicht unterscheiden. Wege. Wer etwas nicht will, sucht Gründe. – In diesem Fall haben Sie nach Gründen gesucht, nicht zu wollen. Wenn man eine solche Summe ausweist, dann führt das dazu, dass sich die Versicherungsnehmer an der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Größe in Euro und Cent orientieren und möglicherweise eine falsche Entscheidung treffen, weil diese Größe sie Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: in die Irre führt. Deshalb werden wir in Zukunft, orien- Als nächster Redner hat der Kollege Gerhard Schick tiert an den Riester-Verträgen, Angaben zum Preis-Leis- das Wort. tungs-Verhältnis machen und eine Kennziffer für die Entwicklung und für die Minderung der Wertentwick- lung insgesamt ausweisen. Dann können diese Anlage- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- formen auch mit anderen Anlageformen verglichen wer- NEN): den, und wir haben eine Kenngröße, die sicherstellt, dass Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hier mehr Transparenz für die Kunden geschaffen wird. Ich glaube, es ist genau anders. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es ist immer anders!) Wir werden – siebtens – bei den Unternehmen, bei denen ein Sicherungsbedarf besteht, weil die Marktzin- Es gibt viele Gründe, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. sen unterhalb der Garantiezinsen liegen, die Beteiligung Sie reden sich die Lage gerade schön, obwohl Sie vor ei- der Kunden an den Bewertungsreserven festverzinsli- nem Jahr, als Sie noch in der Opposition waren, über ge- cher Wertpapiere kürzen. Damit stellen wir die Genera- nau dieselben Themen ganz anders gesprochen haben. tionengerechtigkeit für das gesamte Versicherungskol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lektiv sicher. Liebe Frau Karawanski, das Geld und bei der LINKEN) bekommen nicht die Unternehmen – das sollten Sie in- zwischen aber verstanden haben –, sondern es wird nur Deswegen lohnt ein Blick zurück. Vor eineinhalb Jah- anders an die Versicherungsnehmer verteilt. ren hat der Bundesfinanzminister einen Gesetzentwurf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) vorgelegt, bei dem es im Kern um das Gleiche ging, um das es auch heute geht. Wir wollen nicht nur 5 Prozent begünstigen und die übri- gen 95 Prozent im Regen stehen lassen, sondern wir (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Da- wollen 100 Prozent begünstigen; das ist ein ganz wichti- mals hätten Sie ruhig auch mal Verantwortung (B) ger Punkt. übernehmen können!) (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es ging nämlich um die Begrenzung der Ausschüttung von Bewertungsreserven. Als die Öffentlichkeit, auch Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Kern aufgrund der parlamentarischen Arbeit, erfuhr, um was ein ausgewogenes Reformgesetz, das Unternehmen, es ging, gab es einen großen Protest. Ein CDU-Parteitag Aufsicht, Versicherte und Vertrieb in die Pflicht nimmt hat gesagt: Dieses Gesetz ist schlecht. – Ein CDU-Par- und damit auch im Hinblick auf die Mammutreform Sol- teitag! Und er hatte recht. vency II die notwendigen Anpassungen vornimmt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Es ist wirklich schade, dass sich die Grünen so verhal- Volker Kauder [CDU/CSU]: Ein Bundespar- ten, wie sie sich verhalten. Das ist wirklich ein Rückfall teitag sogar!) in den Fundamentalismus. Herr Schick, Sie haben sich hier hingestellt und gesagt: Ja, es besteht die Notwendig- – Ja, Herr Kauder, es war ein Bundesparteitag der CDU. keit, zu handeln. – Dann haben Sie gesagt, Sie hätten all (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!) das Gute erfunden. Aber dann lehnen Sie den Gesetzent- wurf ab? Sie haben noch nicht einmal einen Änderungs- Ich erinnere Sie gerne daran; denn dieser Bundespartei- antrag eingebracht. tag der CDU hat unsere Kritik, dass dieser Gesetzent- wurf nicht ausgewogen war, bestätigt. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch noch sachlich falsch, Seither haben Sie sich aber nicht darin geübt, eine was Sie hier sagen! Haben Sie denn nicht im klare Fundierung Ihres Gesetzentwurfs vorzunehmen, Ausschuss den Antrag von Bündnis 90/Die sondern haben in der Öffentlichkeit erst einmal eine Grünen gelesen, den Sie mitgezeichnet haben, Pause eingelegt. Auch jetzt haben Sie wieder versucht, weil Sie ihn gut fanden? Haben Sie denn ge- zwischen Europawahl und Sommerpause das Verfahren schlafen?) so kurz wie möglich zu halten, damit möglichst wenig Diskussion um dieses Gesetz entstehen kann. – Ja, das war ein gemeinsamer Antrag. Aber warum ha- ben Sie dem Gesetzentwurf dann nicht zugestimmt? Wa- (Zuruf von der SPD: Unfug!) rum denn nicht? Ich meine aber, dass man bei einem Gesetz, das das (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Licht der Öffentlichkeit scheut, schon einmal die Frage Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stellen muss, warum Sie Angst vor der öffentlichen Dis- NEN]: Dazu sage ich aber gleich etwas!) kussion haben. 4396 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Dr. Gerhard Schick (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir fest, dass Sie an entscheidenden Stellen nach wie vor (C) und bei der LINKEN – Manfred Zöllmer einen blinden Fleck haben. [SPD]: Ziemlicher Unfug!) Provisionsoffenlegung. Hierzu gab es im Gesetzent- Wir haben schon vor eineinhalb Jahren gesagt: Was es wurf schon einmal einen guten Ansatz. Anstatt diesen zu braucht, ist eine klare Analyse, wie es dem Sektor geht, verbessern und mehr Transparenz zu schaffen, haben Sie was die Handlungsnotwendigkeiten sind. Wir haben da- das zur Seite gewischt und sehen jetzt eine Effektivkos- mals gefordert, dass ein Szenario ausgearbeitet werden tenregelung vor. Aber was bleibt, ist die Situation, dass muss, dass einmal dargelegt wird, wie die Entwicklung ein Kunde, wenn ihm ein Vermittler gegenübersitzt, im Bereich Versicherungen in den nächsten Jahren aus- nicht weiß, welches finanzielle Interesse dieser Berater sieht; denn das Versicherungsgeschäft ist ein langfristi- hat, ihm möglicherweise einen Vertrag zu empfehlen, ges, da muss man einige Jahre in die Zukunft schauen. der dem Vermittler mehr Provision bringt statt eine bes- sere Leistung für den Kunden. Genau diese Transparenz Es hieß immer, ein solches Szenario könne man nicht braucht es, wenn wir provisionsorientierte Fehlberatung entwickeln. Nun hat uns die Bundesbank aber genau das zurückdrängen wollen und dafür sorgen wollen, dass die vorgelegt, von dem Sie immer gesagt haben, das ginge Menschen die Produkte bekommen, die auch gut für sie nicht, weil Sie keine klare und transparente Diskussion sind. Das muss doch das Ziel sein. wollten. Dies haben wir aber erst am Montag für die An- hörung bekommen, also vor vier Tagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist doch nicht wahr!) Sie gehen an drei weitere Bereiche praktisch über- haupt nicht heran. Es ist im Vertrieb nach wie vor der – Natürlich, erst dann lag das vor. Fall, dass Menschen ohne ausreichende Qualifikation Versicherungen, die komplizierte Produkte sind, verkau- Die Bundesbank bestätigt – das ist der entscheidende fen dürfen. Diese Lücke bei den gebundenen Vermittlern Punkt –, dass es Handlungsbedarf gibt; diesen habe ich schließen Sie nicht. auch nicht geleugnet. Aber die Bundesbank bestätigt auch, wie wichtig es ist, nicht nur auf Kundenseite etwas Wir haben nach wie vor das Problem, dass das Pro- zu tun, sondern dass auch eine wirksame Ausschüttungs- dukt Lebensversicherung intransparent ist und Men- sperre für die Eigentümer bestehen muss; denn sonst schen selbst mithilfe von Sachverständigen nicht sehen bliebe es bei einer zu großen Anzahl von Unternehmen, können, ob das, was sie ausgezahlt bekommen, auch das die bei einem Stressszenario in Schwierigkeiten kom- ist, was ihnen zusteht. An dieser Stelle machen Sie prak- (B) men könnten. tisch nichts. (D) Jetzt haben wir einen Gesetzentwurf vorliegen, von Auch die Eigenkapitalausstattung – das ist der dritte dem wir wissen, dass die darin vorgesehene Ausschüt- Punkt – bleibt ein Problem. Das werden wir in der tungssperre bei vielen Unternehmen überhaupt nicht nächsten Zeit angehen müssen. Die Eigenkapitalausstat- greift. Das ist ein massives Problem. tung von Lebensversicherungsunternehmen in Deutsch- land ist unterirdisch gering; im Durchschnitt beträgt sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1,4 Prozent. Auch an dieses Problem gehen Sie nicht sowie bei Abgeordneten der LINKEN) richtig heran. Der Chef der Finanzaufsicht hat, als wir ihn danach ge- Daher müssen wir sagen: Das Gesetz ist zwar besser fragt haben, gesagt, das sei ein politisches Signal. Wir als das letzte, aber weit weg von gut. Deswegen werden brauchen hier aber kein politisches Signal, sondern eine wir es ablehnen. effektive Ausschüttungssperre, die dafür sorgt, dass Danke. nicht nur die Kunden, sondern auch die Eigentümer der Versicherungsunternehmen ihren fairen Beitrag zur Sta- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bilisierung dieser Branche leisten. und bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das Gesetz ist gut!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Manfred Zöllmer [SPD]: Dann zitieren Sie ihn Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: richtig, was er dann noch gesagt hat!) Als nächste Rednerin hat die Kollegin Anja Karliczek das Wort. Wie sieht die Gesamtbewertung dieses Gesetzes aus unserer Sicht aus? Inzwischen sind auch auf unsere Ini- (Beifall bei der CDU/CSU) tiative ein paar Verbesserungen vorgenommen worden. Deswegen habe ich bei der ersten Lesung gesagt, der Anja Karliczek (CDU/CSU): Gesetzentwurf heute sei besser als der, der vor einein- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten halb Jahren eingebracht worden ist; dazu stehe ich auch. Kolleginnen und Kollegen! Herr Schick, als Erstes Aber der Maßstab kann doch nicht zwischen „sehr möchte ich Ihnen sagen: Wir haben keine Angst vor Dis- schlecht“ und „schlecht“ sein; der Maßstab muss doch kussionen, aber die Stabilität der Lebensversicherer ist sein, was die Anforderungen an die Reform der Lebens- davon abhängig, dass keine übermäßige Liquidität mehr versicherungsbranche in Deutschland sind. Da stellen abfließt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4397

Anja Karliczek (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen der einzelnen Lebensversicherer sind. Daraus ergibt (C) neten der SPD) sich der sogenannte Sicherungsbedarf. Dieser Siche- rungsbedarf wird den stillen Reserven aus festverzins- Erlauben Sie mir vorweg eine Bemerkung zum Vor- lichen Wertpapieren einerseits und dem Bilanzgewinn wurf der Medien – ich habe das beim letzten Mal in der andererseits entgegengestellt. Erst wenn sich stille Las- Diskussion auch von Ihnen gehört, Frau Karawanskij –, ten und stille Reserven wieder die Waage halten, haben wir würden unliebsame Gesetzentwürfe immer nur ge- die Menschen die Sicherheit, dass sie im Alter auch un- gen Mitternacht oder bei einem Spiel der deutschen Fuß- ter extremen Bedingungen eine Leistung bekommen. ballnationalmannschaft verabschieden. Jetzt ist es ge- rade 14 Uhr, und das Spiel ist erst heute Abend. Wir tun Sind die garantierten Leistungen nicht sicher, ist es das hier also öffentlich und transparent. den Versicherern verboten, die vielbeschworenen Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – wertungsreserven auf festverzinsliche Wertpapiere oder Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Ich bin auch eine Dividende an die Aktionäre auszuzahlen. Herr beeindruckt!) Schick, ich kann nur sagen: An dieser Stelle machen wir genau den Unterschied. Wir geben das Signal, dass Haf- Wir verabschieden heute das Lebensversicherungsre- tung und Risiko zusammengehören. Deswegen macht es formgesetz. Das parlamentarische Verfahren verlief sehr einen Unterschied, ob wir die Aktionäre beteiligen, in- zügig und in einer sehr guten Zusammenarbeit. Sehr ge- dem sie eine Zeit lang keine Dividende bekommen, oder ehrter Herr Dr. Meister, an dieser Stelle möchte ich mich ob wir in Gewinnabführungsverträge eingreifen. ganz herzlich bei Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Finanzministerium dafür bedanken. Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hatten immer ein offenes Ohr für unsere vielen Fragen, neten der SPD) die sich aus diesem umfangreichen Gesetzentwurf erge- ben haben. Im Gegenzug werden wir den Höchstrechnungszins für neue Verträge von 1,75 Prozent auf 1,25 Prozent sen- (Beifall bei der CDU/CSU) ken. Ich meine, auch dies ist fair; denn wenn wir den Die Altersvorsorge und damit die Kapitallebensversi- Menschen, die heute im Versicherungskollektiv sind, ei- cherung als ein wesentlicher Bestandteil ist ein zentrales nen Beitrag zur Sicherung des Systems abverlangen, Anliegen vieler Menschen. Es gibt fast 90 Millionen dann dürfen wir im Gegenzug zukünftigen Versicherten Verträge. Damit hat jeder durchschnittlich mehr als ei- keine Versprechungen machen, die diesen Sicherungsbe- nen Vertrag. Deswegen geht dieses Thema fast jeden an. darf weiter erhöhen. Wichtig ist – das ist festzuhalten –: Wir greifen nicht in die heutige Auszahlungssystematik (B) Frau Karawanskij, es waren nicht die Versicherer, ein, sondern bauen einen Sicherungsmechanismus ein. (D) sondern es war die Deutsche Bundesbank, die schon in ihrem Finanzstabilitätsbericht 2013 festgestellt hat: „Das (Beifall bei der CDU/CSU) Niedrigzinsumfeld birgt ein beachtliches Gefährdungs- potenzial“ für circa ein Drittel unserer Lebensversiche- Dass wir damit richtig liegen, zeigt schon der Charak- rer. Ein Drittel: Das sind 30 Versicherer, die sogar ter der Kapitallebensversicherung. Sie ist einerseits eine 43 Prozent der Beiträge erheben, 30-mal ein Kollektiv, Absicherung der Familie gegen einen frühen Tod – wer dem die Menschen heute noch vertrauen, 30-mal ein einmal ein Haus gebaut hat, der weiß, wie wichtig es ist, Kollektiv, aus dem jeder im Alter garantierte Zahlungen die Familie vor dem Ausfall eines Verdieners abzusi- erwartet, heute, aber eben auch morgen und übermorgen. chern –, andererseits ist sie auch ein Instrument des Risi- Deswegen handeln wir, und zwar jetzt. koausgleichs in der Zeit. Gemeinschaftliches Sparen und Anlegen ermöglicht bessere Konditionen der Anlage und Die Finanz- und Staatsschuldenkrise hat Europa vor eröffnet die Möglichkeit, größere Renditeschwankungen große Herausforderungen gestellt. Wir haben schon viel über einen langen Zeitraum abzufedern. Wer das nicht getan, um Risiken künftig besser zu erkennen und zu zur Kenntnis nimmt, der handelt fahrlässig. mindern. Trotzdem ist Vertrauen verloren gegangen. Vertrauen ist aber eine ganz wichtige Säule für unsere (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wirtschaft, insbesondere für unsere Finanzwirtschaft. [Erfurt] [SPD]) Nach wie vor vertrauen die Menschen jedoch der Ka- An dieser Stelle, Herr Schick, möchte ich die Eigen- pitallebensversicherung mit ihrem garantierten Zins. Da- kapitalausstattung von Versicherungsunternehmen an- mit dieses Vertrauen gerechtfertigt bleibt, müssen wir sprechen. Die Finanzierung von Eigenkapital verursacht gemeinsam dafür sorgen, dass die garantierten Leistun- Kosten, die am Ende immer der Verbraucher zu zahlen gen aus dieser Versicherung auch sicher und stabil blei- hat. Die Einführung der Lebensversicherung vor knapp ben. Das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, 200 Jahren war immer der gemeinschaftliche und damit und ich meine, wir tun das fair und ausgewogen; denn kostengünstige Risikoausgleich, einer der großen Vor- alle Beteiligten müssen einen Beitrag leisten. teile einer individuellen Absicherung im Kollektiv. Des- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- halb ist das Vermögen der Solidargemeinschaft eigen- neten der SPD) mittelfähig und auch bei einer Schieflage heranzuziehen. Deshalb wird es der Sache nicht gerecht, so zu tun, als Dazu ist eine Systematik entwickelt worden, die of- wenn diese historische Tatsache aktiv herbeigeführt wor- fenlegt, wie hoch die nicht ausfinanzierten Verpflichtun- den wäre. 4398 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Anja Karliczek (A) Die Finanzkrise und damit neue Rahmenbedingungen Finanzdienstleistungsaufsicht. Zukünftig kann sie von (C) haben uns gelehrt, dass wir eine Eigenkapitalstärkung den Versicherern verlangen, dass diese sich langfristiger unserer finanzwirtschaftlichen Unternehmen brauchen. mit den erwarteten Geschäftsergebnissen, der Risiko- Mit Solvency II haben wir dafür aber bereits einen Kata- tragfähigkeit und auch der Solvabilität ihres Unterneh- log, der im kommenden Jahr in nationales Recht umge- mens auseinandersetzen. Dies ermöglicht beiden Seiten setzt wird. Damit die Unternehmen diese Herausforde- tiefere Einblicke in das Unternehmen, eine in volatilen rung überhaupt stemmen können, wird es einen und finanzpolitisch schwierigen Zeiten aus meiner Sicht Übergangszeitraum von 16 Jahren geben, innerhalb des- sehr sinnvolle Maßnahme. sen alles umgesetzt ist. Genau deswegen ist es heute Alles in allem bleibt festzuhalten: Die Ausgewogen- richtig und wichtig, die Finanzstabilität der Unterneh- heit des Gesetzentwurfes wurde in der öffentlichen An- men und damit die Solidargemeinschaft der Versicherten hörung von fast allen Experten anerkannt. Mit dem Le- zu stärken. bensversicherungsreformgesetz tragen wir der Sorge um (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine stabile Alterssicherung Rechnung. Wer vorsorgt, neten der SPD) soll sich auch in Zukunft darauf verlassen können, dass er die garantierten Versprechen seiner Altersvorsorge Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir noch wirklich erhält. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Schritt weiter. Seit langer Zeit wissen wir, dass es wird ein System etabliert, mit dem dieses Ziel erreicht neben der gesetzlichen Rente weiterer Vorsorge für den wird. Deshalb bitte ich im Namen der Koalitionsfraktio- Lebensabend bedarf. Dafür gibt es unterschiedliche nen CDU/CSU und SPD um Ihre Zustimmung. kapitalgedeckte Systeme. Unter ihnen kann jeder frei wählen. Diese Wahlfreiheit kann aber nur der effektiv (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nutzen, der vergleichen kann. Dazu brauchen wir Trans- parenz. Da die Lebensversicherung aber ein hoch regu- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: liertes und sehr komplexes Produkt ist, müssen wir mit Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege möglichst einfachen Mitteln Transparenz der Kosten Binding das Wort. – Ich habe an die Kolleginnen und herstellen. Deshalb haben wir uns entschieden, diese Kollegen die Bitte, den Geräuschpegel etwas zu senken. Transparenz der Kosten über eine sogenannte Gesamt- kostenquote herzustellen. Das bedeutet: Die Versicherer (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das macht der werden künftig in ihren Produktinformationsblättern Lothar schon alleine!) ausweisen: Wie viel Rendite kosten mich die Kosten der Der Kollege Binding hat zwar eine laute Stimme, aber es Lebensversicherung? Damit verfolgen wir ein analoges wäre trotzdem für uns alle entspannter, wenn der Pegel Verfahren zu Riester-Verträgen. Es ist ein wichtiger (B) etwas gesenkt wird. (D) Schritt, um unterschiedliche Altersvorsorgeprodukte vergleichbar zu machen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Doch nicht nur die Vergleichbarkeit ist ein wichtiges Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Schlussredner zu Kriterium. Altersvorsorge ist eine sehr langfristige Auf- diesem Tagesordnungspunkt möchte ich noch einmal et- gabe. Kurzfristige Veränderungen verursachen meistens was zur Dimension sagen. Wir haben 90 Millionen Le- hohe Kosten und konterkarieren die Möglichkeit, den bensversicherungsverträge. Da ist ein Volumen von etwa Zinseszinseffekt bei Kapitalanlagen zu nutzen. Wir wol- 860 Milliarden Euro gebunden, also ein Drittel des Brut- len das Interesse an einer langfristigen Bindung zwi- toinlandsproduktes, und da sind 80 Milliarden Euro stille schen Versicherern und Versicherten stärken. Deshalb Reserven. Um die geht es den ganzen Tag. Dazu ist begrenzen wir mit der Absenkung des Höchstzillmersat- schon viel gesagt worden. zes die Aktivierung der Abschlusskosten. Die weiterge- hende Forderung, die Abschlusskosten gesetzlich zu be- Gerhard Schick hat gesagt, wir hätten vor einem Jahr grenzen, wie wir das schon gehört haben, lehnen wir ab. ganz anders gesprochen. Das stimmt, denn das heutige Es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, in die Preisfin- Gesetz ist Lichtjahre von dem Entwurf entfernt, den wir dung einzugreifen. Das ist in einer sozialen Marktwirt- letztes Jahr vorgelegt bekamen. schaft Aufgabe des Wettbewerbs. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Insofern ist es richtig, anders zu formulieren. Es er- Auch die Forderung nach einer Änderung der Kosten- schreckt mich ein wenig, dass du immer noch so formu- gewinnbeteiligung lehnen wir ab. Mit einer hälftigen lierst wie im letzten Jahr. Aufteilung der Kosten stellen wir nämlich sicher, dass (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das Interesse des Unternehmens, im Sinne der Kunden möglichst effizient zu arbeiten, überhaupt erhalten Denn das zeigt ja, es ist eine gewisse Erkenntnisverwei- bleibt. gerungshaltung. Aus meiner Sicht ein letzter, sehr wichtiger Schritt, Das ist eine schwierige Angelegenheit, denn wir ha- den wir mit diesem Gesetzentwurf gehen: Wir stärken ben damals nicht von Ausschüttungssperre gesprochen, die Aufsichtsmöglichkeiten der Bundesanstalt für wir haben nicht von der höheren Beteiligung an den Ri- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4399

Lothar Binding (Heidelberg) (A) sikogewinnen gesprochen, wir haben nicht von der er- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) höhten, wenn auch nicht vollständigen Transparenz der Der Kollege Schick erhält das Wort für eine Kurz- Provisionen und der Honorarberatung gesprochen, und intervention. insbesondere haben wir damals nicht darüber gespro- (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh, chen, dass nicht nur die stillen Reserven zu verteilen wä- oh!) ren, diese 80 Milliarden Euro. Es ist eine gute Idee, die nur für 5 Prozent der Versicherten bereitzustellen – ja, – Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das gehört zu eine gute Idee für die 5 Prozent! Wir wollen die stillen den parlamentarischen Gepflogenheiten. Reserven für 100 Prozent der Versicherten verfügbar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) machen. Dann wird ein gerechter Gesetzentwurf daraus.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Auch haben wir früher die stillen Lasten nicht themati- NEN): siert. Auch die stillen Lasten sollen korrekt verteilt wer- Weil die Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion und den. Insofern ist das eine sehr kluge Gesetzgebung. von der SPD-Fraktion mich sehr persönlich angespro- chen haben, möchte ich jetzt doch noch einmal kurz die Man muss schon sagen: Wenn man sich um alle küm- Gelegenheit zur Reaktion haben. mert, ist die Sache schwierig. Natürlich, die Versiche- rungskonzerne kümmern sich um sich. Die wollen Ge- Der erste Punkt ist der zum Verfahren. Es ist ein Ver- winne machen, wollen die bescheidenen Gehälter für fahren, das nur möglich geworden ist, weil wir aus- ihre Manager auszahlen. Dafür haben wir Verständnis. nahmsweise im Finanzausschuss die Anhörung schon Aber auch die Verbände kämpfen natürlich für sich, für beschlossen hatten, bevor hier die erste Lesung erfolgte, ihre Reputation, für ihren Einfluss, ihre Einnahmen. und im Bundesrat ein Fristverzicht zugelassen worden Auch das ist verständlich. Auch die Makler kämpfen, ist. In der Folge war es so knapp, dass der Normenkon- häufig natürlich selbstlos. trollrat entgegen den Bestimmungen der Geschäftsord- nung dieser Bundesregierung nicht die Zeit hatte, Stel- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) lung zu nehmen. Wenn das nicht ein extrem kurzes Die kümmern sich aber auch um sich. Jetzt ist die Frage: Verfahren für ein so wichtiges Gesetzgebungsverfahren Wer kümmert sich in all diesem Lobbyismus eigentlich ist, dann weiß ich nicht, was ein kurzes Verfahren ist. um die Versicherten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD) und bei der LINKEN) Halten Sie sich wenigstens an die Geschäftsordnung Ih- (B) und zwar nicht nur um die Neuversicherten, nicht nur (D) rer Bundesregierung! Wenn das kein Maßstab ist! um die Altversicherten, nicht nur um die Versicherten in spe, also um die zukünftig Versicherten? Denn wir haben Dann zu der Frage des Vergleichs und ob wir uns da eine Solidargemeinschaft, die in Deutschland eine ganz jetzt irgendwie Argumente zusammensuchen. Wir haben wichtige Funktion hat. Wer kümmert sich eigentlich um immer gesagt: Wir verschließen uns einer fairen Rege- die Versicherten? Die Antwort ist: Wir alle. Denn die lung nicht. – Wir haben gemeinsam vor einem Jahr ge- einzelnen Versicherten haben keine Lobby. Wir sind die sagt – das waren unsere Vorschläge im Vermittlungsver- Lobby der Versicherten. fahren –, dass wir im Vertrieb auch die Qualifikation der gebundenen Vermittler regeln wollen. Nichts davon steht (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nun im Gesetz. Deshalb ist dieses Gesetz ein sehr gelungener Versuch, Es wäre ebenfalls notwendig gewesen, die Frage zu zwischen all diesen einen Ausgleich zu finden. Deshalb klären, ob die Ausschüttungssperre funktioniert. Das war sind wir auch so davon überzeugt. einer der zentralen Punkte, die ich in der ersten Lesung Aber es gibt ja nichts, was nicht irgendwie noch den noch gelobt habe. Aber die Anhörung hat klar gezeigt: Restzweifel in sich trüge. Deshalb wollen wir eine Eva- Die Ausschüttungssperre funktioniert bei einigen Unter- luierung machen, weil keiner weiß, wie sich in Zukunft nehmen nicht. Deswegen kann man nicht behaupten, wir Dinge am Markt entwickeln. Wenn wir dann die Eva- suchten Gründe für eine Ablehnung. Vielmehr haben wir luierung haben, bekommen wir einen ganz stabilen Pfad, sehr gute Gründe, zu sagen: Dieses Gesetz leistet keinen um Versicherte gerecht zu behandeln. fairen Ausgleich. Warum ereifere ich mich so? Der Grund ist einfach: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einmal angenommen, wir ruinierten die Versicherungen. und bei der LINKEN) Dann stelle sich hier jeder vor, wie unsere Gesellschaft aussähe, wenn wir keine Versicherungen mehr hätten. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Deshalb wollen wir die Lebensversicherung stabili- Die Kollegen verzichten auf eine Erwiderung. sieren. Ich glaube, dass die Versicherten mit diesem Ge- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- setz eine gute Zukunft haben. desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Schönen Dank und alles Gute. Absicherung stabiler und fairer Leistungen für Lebensver- sicherte. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2016, den 4400 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird (C) 18/1772 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu Ihnen später bekannt gegeben.1) liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2025 ab. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Koalitions- Einsetzung einer „Expertenkommission zur fraktionen. Wer enthält sich? – Die Fraktion Bündnis 90/ Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten Die Grünen. Damit ist der Änderungsantrag auf Druck- für die Unterlagen des Staatssicherheitsdiens- sache 18/2025 mit den Stimmen der Koalition abgelehnt tes der ehemaligen Deutschen Demokrati- worden. schen Republik (BStU)“ Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ände- Drucksache 18/1957 rungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2026. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Die Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu Wer stimmt dagegen? – Die Koalitionsfraktionen. Wer keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. enthält sich? – Damit ist auch dieser Änderungsantrag Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Marco mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt Wanderwitz erhält als erster Redner das Wort. worden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der neten der SPD) Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt da- Marco Wanderwitz (CDU/CSU): gegen? – Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Wer Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! enthält sich? – Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf in Unmittelbar vor der parlamentarischen Sommerpause zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition ange- haben wir uns als letzte Debatte ein durchaus gewichti- nommen worden. ges Thema vorgenommen, die Einsetzung einer Exper- Wir kommen zur tenkommission zur Zukunft der Stasi-Unterlagen-Be- hörde. Die bewegenden Bilder von der Erstürmung der dritten Beratung Stasizentrale in der Normannenstraße hier in Berlin am (B) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem 15. Januar 1990 gingen um die Welt. Ich habe heute Vor- (D) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – mittag die Gelegenheit genutzt, mir einige dieser Bilder Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der anzuschauen. Für viele in Deutschland, aber auch da- Gesetzentwurf mit der Mehrheit der Koalitionsfraktio- rüber hinaus wurden sie zu einem der Symbole der Be- nen angenommen worden. freiung vom Willkür- und Unterdrückungsapparat der SED. Die Stasi, das Ministerium für Staatssicherheit, Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- nach eigener Wahrnehmung „Schild und Schwert der ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksa- SED“, war der Inbegriff der Diktatur der DDR. Es war che 18/2027. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- die Oppositionsbewegung, die die geplante völlige Ver- trag? – Die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – nichtung der Stasiunterlagen verhinderte, indem sie fast Die Koalitionsfraktionen. Wer enthält sich? – Bünd- alle Bezirks- und Kreisdienststellen der ehemaligen nis 90/Die Grünen. Dann ist auch dieser Entschließungs- Staatssicherheit besetzte. Leider ist es in einigen Bezir- antrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt worden. ken gleichwohl gelungen, sehr viel Aktenmaterial zu Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp- vernichten. Was übrig geblieben ist, sind 150 laufende fehlung auf Drucksache 18/2016 fort. Unter Buchstabe b Kilometer Akten, darunter rund 1,3 Millionen Fotos. empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Unmittelbar mit der Sicherstellung folgten die Offen- Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1815 mit dem legung der Akten und damit die Weichenstellung für die Titel „Lebensversicherungen auf den Prüfstand stellen – tiefgreifende Aufarbeitung der SED-Diktatur. Mit der Kein Schnellverfahren zu Lasten der Versicherten“. Wir Stasi-Unterlagen-Behörde haben wir als Deutscher Bun- stimmen nun über den Buchstaben b der Beschlussemp- destag – ich war damals noch nicht dabei; aber manche fehlung auf Verlangen der Fraktion Die Linke nament- der heutigen Kolleginnen und Kollegen waren schon im lich ab. Hohen Haus – die rechtliche Grundlage für die Aufarbei- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre tung der Stasiunterlagen und die Zugänglichmachung für Plätze einzunehmen. Ist das überall der Fall? – Es ist der Opfer, Forschung und Bildungsarbeit geschaffen. Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung über Buch- Heute beschließen wir die Einsetzung einer Experten- stabe b der Beschlussempfehlung. kommission, die uns als Deutschem Bundestag Rat- Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine schläge geben soll, wie wir nach 2019 mit diesem The- Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der menkomplex weiter verfahren sollen. Bis 2019 haben Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- 1) Ergebnis Seite 4407 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4401

Marco Wanderwitz (A) wir noch eine gesetzliche Grundlage, auf der die Stasi- Die wissenschaftliche Erforschung der SED-Diktatur (C) Unterlagen-Behörde, die BStU, arbeitet. darf sich aber nicht auf das Wirken der Staatssicherheit beschränken. Ich glaube, sie muss künftig noch stärker Wir als Union haben großen Wert darauf gelegt, dass die Rolle der SED, der Spinne im Netz in der ehemali- der Kommissionsauftrag offen formuliert wird und dass gen DDR, in den Fokus nehmen. wir, was die Strukturen betrifft, der Expertenkommission keine Vorgaben machen; denn sie soll ihre Vorschläge (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Und der Block- frei unterbreiten, allerdings auf der Grundlage der Auf- parteien, nicht zu vergessen!) gabenstellungen, die das Stasi-Unterlagen-Gesetz be- inhaltet. In der ersten Debatte im Deutschen Bundestag zum Stasi-Unterlagen-Gesetz 1991 führte unser damaliger Das Stasi-Unterlagen-Gesetz hat sich bewährt. Wir CDU/CSU-Fraktionskollege Johannes Gerster aus: haben es seit seinem Inkrafttreten 1991 insgesamt acht- mal novelliert. Ich denke, es ist ein Beispiel für ein gutes Wir brauchen Regelungen, die den effektiven Gesetz. Schutz der Opfer und deren Persönlichkeitsrechte sichern. … Die Opfer des Stasi-Terrors müssen er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fahren – soweit sie dies wollen –, was die Bespitze- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE lungsorgane über sie zusammengetragen haben. GRÜNEN) Das ist auch heute eine gültige Forderung. Ich möchte Der Zugang zu den Stasiakten und ihre weitere Er- ein paar Zahlen liefern, die unterlegen, dass das eine schließung bleiben wichtige Voraussetzungen für die nö- richtige Aussage war: tige weitere Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das ist wei- testgehend, über die Fraktionsgrenzen hinweg – bis auf Seit Bestehen der Stasi-Unterlagen-Behörde gab es die bekannte Ausnahme –, Konsens. rund 3 Millionen Anträge auf Akteneinsicht, rund 3,3 Millionen Ersuchen für eine Überprüfung auf eine (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wie kommen Stasitätigkeit, fast 30 000 Forschungsaufträge und rund Sie darauf?) eine halbe Million Anträge auf Rehabilitierung oder Bereits 1994 forderte die PDS die Schließung der Be- Strafverfolgung. Schon das allein zeigt, dass diese Ar- hörde, weil sie die Menschen in den neuen Ländern an- beit auch in Zukunft unverzichtbar ist. geblich diskriminiere und unter Generalverdacht stelle. Lieber Roland Jahn – Sie sitzen oben auf der Besu- Ich zitiere aus Bundestagsdrucksache 13/4359 aus der chertribüne –, Ihre Behörde hat sowohl im Inland wie im 13. Wahlperiode des Bundestages, einem Gesetzentwurf Ausland hohes Ansehen und große Akzeptanz. Vielen der PDS für ein viertes Gesetz zur Änderung des Stasi- (B) Staaten, nicht nur in Osteuropa, dient Ihre Arbeit als (D) Unterlagen-Gesetzes von 1996: Vorbild. Ihnen, Ihrer Amtsvorgängerin, Ihrem Amtsvor- Die Persönlichkeitsrechte der als Täter charakteri- gänger und Ihren Mitarbeitern möchte ich heute im Na- sierten offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter des men des Hauses Dank für Ihre Arbeit sagen. Ihr Selbst- Ministeriums für Staatssicherheit … der DDR sind verständnis als Opferbehörde ist auch das unsere. weitgehend aufgehoben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Das ist völliger Unsinn, aber es ist eine klar erkennbare BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Geisteshaltung, die Sie bis heute einnehmen. geordneten der LINKEN) (Stefan Liebich [DIE LINKE]: So ein Die DDR war eine Diktatur, in der Menschenrechte Quatsch!) massiv verletzt wurden, man der Willkür der Stasi aus- Mit uns in der Regierungsverantwortung – ich glaube, geliefert war, man Angst haben musste, seine Meinung das trifft auch auf die beiden anderen einbringenden zu sagen; Millionen Biografien wurden fremdbestimmt. Fraktionen zu – wird es keinen Schlussstrich unter die Mehr als 250 000 Menschen wurden in der DDR aus SED-Unrechtsaufarbeitung geben, heute nicht und auch politischen Gründen verhaftet. Über 1 000 Menschen in Zukunft nicht. verloren ihr Leben an der innerdeutschen Grenze. Ja, an der DDR klebt auch Blut. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen schaue ich zum Abschluss meiner Rede nach links und stelle ganz einfach wieder einmal die Ich möchte deshalb den Kolleginnen und Kollegen Frage, ob Sie, die Linken, es heute über die Lippen brin- der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, gen, diese Diktatur ohne Wenn und Aber als Unrechts- speziell meinen beiden Berichterstatterkollegen Siegmund staat zu bezeichnen. Ehrmann und Harald Terpe, für die gemeinsame Erarbei- tung des Antrages in sehr kollegialer Atmosphäre herz- (Beifall bei der CDU/CSU) lich danken. Ich glaube, das ist auch ein gutes Zeichen für die Zeit nach 2016, wenn uns die Kommission ihre Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ergebnisse vorlegt. Ich hoffe und glaube, dass wir dann Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner in ähnlicher Einhelligkeit und konstruktiver Atmosphäre hat der Kollege Stefan Liebich das Wort. gemeinsam miteinander die nötigen Novellen auf den Weg bringen können. (Beifall bei der LINKEN) 4402 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

(A) Stefan Liebich (DIE LINKE): PDS-Fraktion in der Volkskammer gewählt wurde, ma- (C) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! chen sie nicht leichter, wenn Sie diese Debatte so lange Vor wenigen Tagen starb in Leipzig der Pfarrer der Ni- vor sich herschieben. Wenn Sie nur halb so viel Ihrer kolaikirche Christian Führer. In einem Interview bezo- Energie in Überlegungen zur Zukunft der Behörde ge- gen auf den Herbst 1989 hat er gerade mit Blick auf steckt hätten wie in jene Überlegungen über die Aus- junge Menschen gesagt: grenzung unserer Fraktion, dann hätten Sie unserem Land mehr geholfen. Der Aufklärungsbedarf ist hoch, weil niemand un- ter den Zuhörern je zuvor in einer Weltanschau- (Beifall bei der LINKEN) ungsdiktatur gelebt hat. Wir haben drei Prämissen für die Zukunft der Be- Und er ergänzte: hörde. Erstens. Der Zugang der Betroffenen zu den Ak- Das einzige Mittel gegen die Staatssicherheit war ten muss gesichert bleiben, unter welchem Türschild die Offenheit. auch immer. Zweitens. Die Expertise der Behörde für die Forschungs- und Bildungsarbeit darf nicht verloren ge- Ich finde es gut, dass wir heute endlich über die Zu- hen. Drittens. Natürlich, Herr Wanderwitz, es darf kei- kunft dieser Behörde sprechen, die weit mehr ist als nen Schlussstrich unter die Debatte über die DDR geben. Nachlassverwalterin des Ministeriums für Staatssicher- heit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Darauf werden wir konsequent dringen, auch in der Es kann eigentlich niemanden in diesem Hause, außer Arbeit der Kommission selbst; wobei das mit dem „wir“ vielleicht Herrn Wanderwitz, überraschen, wenn ich jetzt wahrscheinlich etwas schwierig wird. Sie haben nun ver- sage, dass meine Fraktion die Einsetzung einer Exper- abredet, dass von den 14 Mitgliedern 12 von der Koali- tenkommission zur Zukunft der Stasi-Unterlagen-Be- tion und 2 von der Opposition vorgeschlagen werden hörde begrüßt. Wir fordern das schon sehr lange. Unsere dürfen. Angesichts der verrückten Debatten, über die ich Partei, Die Linke, hat als Rechtsnachfolgerin der PDS im Vorfeld gelesen habe, dass wir eventuell gar keinen eine ganz besondere Verantwortung bei der Diskussion Vorschlag machen dürften, sollten wir uns jetzt vielleicht über die DDR-Geschichte – das stimmt –, die die Ge- freuen, dass wir wenigstens einen Platz vorschlagen dür- schichte eines Teils unseres Landes ist. fen. Ich will es aber einmal andersherum aufzäumen: 2 Wir haben aus unserer Geschichte gelernt: von 14, das ist nun wirklich kein Grund für unbändigen Jubel. Wir haben hier eine lange Debatte über Minder- Ein Sozialismusversuch, der nicht von der großen (B) heitenrechte gehabt. Ich finde, das spiegelt diese Zusam- (D) Mehrheit des Volkes demokratisch gestaltet, son- mensetzung hier nicht wider. Ich finde es, ehrlich gesagt, dern von einer Staats- und Parteiführung autoritär auch schade, dass die Grünen dabei mitgemacht haben. gesteuert wird, muss früher oder später scheitern. Schade ist auch, dass im Antragstext nichts über die (Beifall bei der LINKEN) Transparenz der Beratung der Kommission steht und So steht es im Programm unserer Partei, und wir du- schon gar nichts von begleitenden öffentlichen Debatten. cken uns auch nicht weg. Das ist in den Protokollen der Dabei wird das für die vielen Bürgerinnen und Bürger, Sitzungen dieses Hauses nachlesbar. Wir haben uns im- die aus der DDR kommen, und ihre Nachkommen eine mer wieder für all diejenigen eingesetzt, die in der DDR besonders wichtige Frage; denn die Menschen wollen Unrecht erlitten haben und Opfer von staatlicher Willkür natürlich daran teilhaben, wie die Forschungsarbeit fort- geworden sind. Gerade deshalb, Herr Wanderwitz, ist es gesetzt wird und wie und vor allen Dingen wo künftig völlig inakzeptabel, dass wir als zugleich größte Opposi- die Akten eingesehen werden können. Sie haben das tionsfraktion insbesondere auf Betreiben Ihrer Fraktion wahrscheinlich nicht mit böser Absicht getan, sondern es von der Erarbeitung und Einbringung dieses Antrages einfach so vergessen. Das wäre Ihnen nicht passiert, ausgeschlossen wurden. Dieses Spielchen können Sie wenn Sie uns an der Mitarbeit beteiligt hätten. nun wirklich langsam einmal beenden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Es sind nicht nur Details. Deshalb werden wir uns der Roland Jahn hat gesagt, er fände es gut, wenn die De- Stimme enthalten. Gleichwohl wünsche ich der Exper- batte über die Kommission ausreichenden Abstand von tenkommission bei ihrer Arbeit namens meiner Fraktion parteipolitischen Auseinandersetzungen hätte. Es wäre viel Erfolg; denn diese Arbeit ist für uns alle wichtig. schön, wenn Sie sich das zu Herzen genommen hätten. Ich möchte zum Abschluss unseren ehemaligen Al- Noch ein Blick auf die CDU/CSU. Sie haben bereits terspräsidenten Stefan Heym zitieren, der in seinem im Jahr 2009 eine Expertenkommission in Aussicht ge- Buch 5 Tage im Juni völlig zu Recht formulierte, dass stellt. Dann ist vier Jahre lang nichts passiert. Ich glaube, nur der sich der Zukunft zuwenden kann, der seine Ver- die Arbeit des Beauftragten für die Stasi-Unterlagen, gangenheit bewältigt hat. Ich hoffe, dass die Kommis- Roland Jahn – der übrigens auch von vielen Kolleginnen sion dazu einen wichtigen Beitrag leisten wird. Wir wün- und Kollegen meiner Fraktion ins Amt gewählt wurde, schen ihr für ihre Arbeit viel Erfolg. wie übrigens schon der erste Stasi-Unterlagen-Beauf- tragte, Joachim Gauck, von vielen Abgeordneten der Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4403

Stefan Liebich (A) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- takt gemacht hat, sondern es waren die Stasizentralen in (C) neten der SPD) Leipzig und dann später in Rostock und in Erfurt. Dort in der Fläche – das zeigt, wie stark der Unmut war – hat Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: es angefangen, am 4. Dezember 1989, und am 15. Januar Als nächster Redner hat der Kollege Siegmund 1990 folgten schließlich die Aktionen um die Norman- Ehrmann das Wort. nenstraße. Alles das ist zu bedenken. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Zentral und im Mittelpunkt stand, das Instrumenta- rium des Datenschutzes, der Aufklärung, der Forschung, aber auch der Rehabilitierung in das Gesetz zu schrei- Siegmund Ehrmann (SPD): ben. Aber unmittelbar nach der Wiedervereinigung 1990 Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hat die Enquete-Kommission, die sich mit dem Un- Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir heute, un- rechtssystem der DDR auseinandergesetzt hat, die Quel- mittelbar vor der parlamentarischen Sommerpause, vor len und Akzente der Geschichtspolitik weiterentwickelt. der sitzungsfreien Zeit, den Auftrag erteilen, eine Exper- tenkommission zu berufen, die sich mit der Zukunft der So erinnere ich an die Stiftung Aufarbeitung, die ein Stasi-Unterlagen-Behörde beschäftigt. Dies tun wir im ganz wichtiger Partner ist und das Thema weit über die Jahre 2014, 25 Jahre nach der friedlichen Revolution. Aufgabenstellung der Stasi-Unterlagen-Behörde entwi- ckelt hat. Herr Liebich hat an Christian Führer erinnert, den mutigen Pfarrer, Seelsorger, den Mutmacher der Leipzi- Wir haben uns im Gedenkstättenkonzept des Jahres ger Demonstrationen, ein wichtiger Mann der Freiheits- 2008 den Auftrag gegeben, den wir heute erfüllen, näm- bewegung. Ich möchte aber auch an Reinhard Höppner lich eine Expertenkommission einzusetzen. Wir haben erinnern, der vor wenigen Wochen verstorben ist. Bei dort als Parlament ausdrücklich unterstrichen und be- beiden handelt es sich um große Persönlichkeiten, deren kundet, dass es nicht um eine Schlussstrichdebatte gehen Andenken wir bewahren sollten. Das gilt insbesondere kann; wir haben aber auch zum Ausdruck gebracht, dass für Höppner, der in vielen schwierigen Debatten auch die Stasi-Unterlagen-Behörde keine Behörde auf Dauer, der Volkskammer seine Erfahrungen als ehemaliger auf Ewigkeit ist, sondern dass es zu einem bestimmten Synodaler einbringen konnte. Zeitpunkt die Chance geben muss, darüber sorgfältig zu reflektieren. Das soll mithilfe dieser Expertenkommis- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie sion geschehen. bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es gibt verschiedene Prüffelder, die sorgfältig ins Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Auge zu fassen sind: (B) Kollegen, der Ruf nach Freiheit 1989 mündete sehr (D) schnell und direkt in den unbedingten Willen nach Auf- Da geht es um das Verhältnis der Bundesstelle, der klärung, nach Aufklärung der Stasiverbrechen und des Zentrale, zu den Außenstellen. Das schließt die Frage Stasiunrechts. Ich persönlich kann nur sagen: Ich bin tief ein: Wie ist künftig der Zugang zu den Akten? Wie ist im Westen geboren, habe aber eine leichte Ahnung da- dieser rechtlich zu organisieren? von bekommen, was das bedeutet, als wir uns in den Es geht um das weite Feld der Forschung. Wie ist das 60er-, frühen 70er-Jahren mit Freunden aus der jungen eigentlich justiert, die behördeninterne Forschung im Gemeinde des Kirchenkreises Selo in Ostberlin getrof- Verhältnis zur universitären Forschung? fen haben. Ich erinnere mich an einen Besuch von Ver- wandten in Erfurt in den 70er-Jahren. Das war schon „Erinnern für die Zukunft“ ist das Thema der politi- wirklich bedrückend. schen Bildung. Da stellen sich Fragen der Zusammenar- beit und Kooperation im Verhältnis zur Stiftung Aufar- Überträgt man das auf das, was die Repressionen beitung, aber auch zur Bundeszentrale für politische letztendlich bedeuteten: Wir wissen heute sehr genau, Bildung oder/und zu den Landeszentralen für politische wie Freiheit und Menschenwürde verletzt und einge- Bildung. schränkt wurden. So macht das den zwingenden Wunsch verständlich, die Dokumente zu sichern, zu recherchie- Schließlich geht es um die Weiterentwicklung der au- ren, was los ist, und dies auch in einen rechtlichen Rah- thentischen Orte. Es reicht nicht aus, zu träumen, dass men zu passen. Insofern ist das Gesetz, das die Arbeit auf den Dächern der Normannenstraße möglicherweise der Stasi-Unterlagen-Behörde heute beschreibt, etwas, irgendwann die Rolling Stones spielen, sondern es geht was eigentlich zentral dem einzigen und frei gewählten vor allen Dingen um die Frage: Welche pädagogischen Parlament der ehemaligen DDR geschuldet ist, nämlich Impulse gehen nicht nur an diesem Ort? Wie können der Volkskammer. Dort ist der Ursprung verabschiedet weit über die Normannenstraße hinaus eventuell andere worden. 1991 hat dann der Deutsche Bundestag dieses authentische Orte genutzt werden? Gesetzeswerk, das immer aus der Mitte des Parlaments initiiert wurde, weiterentwickelt und als Auftrag in un- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) sere Gesetzgebung übernommen. Alles das sind Fragen, die wir zu klären haben. Dazu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gehört auch die Frage des Umgangs mit den Bürgerar- chiven. Da sind zu nennen das Robert-Havemann-Ar- Meine Damen und Herren, erinnern möchte ich auch chiv, aber auch das Archiv der Bürgerbewegung Leipzig daran: Es war nicht die Normannenstraße, die den Auf- oder das Matthias-Domaschk-Archiv. Alle diese Fragen 4404 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Siegmund Ehrmann (A) sind sorgfältig ins Auge zu fassen, um für die Zukunft man auf verschiedenen Seiten gestanden. An diesem (C) wichtige Impulse zu setzen. Abend habe ich das in der eigenen Familie deutlich er- kennen müssen. Ich bedanke mich bei allen, die intensiv an dem An- trag mitgewirkt haben. Ich freue mich, dass wir uns jetzt In der Wendezeit haben also viele Menschen, damals gemeinsam auf den Weg machen. getragen von der Bürgerbewegung und denen, die für die Herr Liebich, die Tatsache, dass die Experten nach ei- neue demokratische Entwicklung eingetreten sind, die nem bestimmten Vorschlagsrecht benannt werden, heißt Stasizentralen besetzt. Es ist auch schon gesagt worden, nicht zwingend, dass diejenigen, die zum Beispiel meine dass es in Berlin nicht zuerst die Normannenstraße war. Fraktion beruft, glühende sozialdemokratische Partei- Sie ist als Letzte besetzt worden. Daraus ist quasi ein fö- gänger sind. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass viele deraler Aspekt der Vergangenheitsbewältigung gewor- der Experten, aus welcher Ecke sie auch vorgeschlagen den, der bis heute in der Existenz der Außenstellen auf werden, uns fachlich sehr fundiert eine Orientierung ge- Grundlage des Stasi-Unterlagen-Gesetzes fortgeschrie- ben werden. Es wird eine Kommission des Deutschen ben wird. Das war, glaube ich, auch gut. Bei dieser Art Bundestages sein. Wir werden sie begleiten. Es geht um der Aufarbeitung von Geschichte handelt es sich in wichtige Weichenstellungen. Ich wünschte mir, dass wir Deutschland und international um einen beispiellosen es tatsächlich schaffen, bis zum Frühjahr 2016 Orientie- Prozess, weil er das erste Mal ermöglicht hat, sich un- rung zu bekommen, um ebendiese Weichen zu stellen. mittelbar mit der eigenen Geschichte auseinanderzuset- zen und die Schmerzen, die damit verbunden sind, un- Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es danach eine mittelbar zu erleben. Das hat für die Zukunft eine viel weitergehende geschichtspolitische Debatte geben muss. heilendere Wirkung, als wenn man Jahrzehnte auf die Man muss das Rad nicht permanent neu erfinden. Es gibt Aufarbeitung der Geschichte warten muss und die viele öffentliche Einlassungen zu all den Themen, die Schmerzen dann beginnen. Insofern war diese Entschei- ich gerade kurz touchiert habe. Ich glaube zum Beispiel, dung der letzten demokratisch frei gewählten Volkskam- dass die Arbeit der Sabrow-Kommission, die seinerzeit mer – mein Vater hat übrigens auch an dieser Entschei- durchaus zu Debatten geführt hat, Inhalte enthält, die uns dung mitgewirkt – sehr richtig. Ich glaube, diesen Geist weiterführen können. Insofern glaube ich, dass wir alle müssen wir weiter in die Zukunft tragen. diese Anregungen in einem qualifizierten geschichts- politischen Dialog aufgreifen und so das Gedenkstätten- Man muss ganz klar sagen, dass der Auftrag an die konzept fortschreiben sollten. Expertenkommission, sich über die Zukunft der Behörde Ich freue mich darüber, dass wir diese Arbeit gewis- zu unterhalten, nicht als Signal der Abwicklung verstan- sermaßen unmittelbar vor der Sommerpause hier ge- den werden darf. Hier ist die Orientierung am bisherigen (B) (D) meinsam in Gang setzen. Gesetz ganz klar vorhanden. Es geht um eine Weiterent- wicklung. Warum muss es um eine Weiterentwicklung Herzlichen Dank. gehen? Auch deshalb, weil wir bei der Zusammenset- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) zung der Zuhörer – oben auf der Tribüne, aber auch hier im Saal – feststellen müssen, dass es Verantwortliche aus Ost und West und aus älteren und jüngeren Generationen Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: sind. Wir hatten heute zwei Redner, die sagten, sie haben Als nächster Redner hat der Kollege Harald Terpe das keine eigene Erfahrung aus diesen interessanten Tagen Wort. gemacht. Auch dieses Feld soll mit der Expertenkom- mission bearbeitet werden. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Wie muss eine Behörde und das, was damit zusam- und Kollegen! Zunächst möchte ich mich auch dem Ge- menhängt, für die zukünftigen Generationen gestaltet denken an Herrn Führer und Herrn Höppner anschlie- werden? Die geschichtliche Dimension wird dort noch ßen, gleichzeitig aber sagen, dass es auch vieler anderer viel größer, weil es in die zukünftigen Generationen hi- zu gedenken gilt, die in der Zeit aktiv gewesen sind und neinwirkt. Ich sage aber auch, natürlich dürfen die Ge- die viel dazu beigetragen haben, dass wir heute über un- fühle und Erfahrungen der Verfolgten und Bespitzelten, sere Vergangenheit in dieser Weise diskutieren können. also der Opfer, bei der Diskussion nicht auf der Strecke bleiben. Deswegen ist es auch gut, dass wir bei der Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, auftragung der Expertenkommission einen Schwerpunkt bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- auf Rehabilitation und Opferhilfe gelegt haben. Es ist geordneten der LINKEN) darüber hinaus wichtig – darauf verweise ich zum Ab- Gestaltung der Zukunft erfordert, sich den Anforde- schluss meiner Rede –, zu sagen, es handelt sich unab- rungen der Vergangenheit zu stellen und sich dieser zu hängig von der Aufarbeitung der eigenen Geschichte um vergewissern. Sie können mir glauben, dass ich bei der einen Aktenbestand, der stellvertretend für viele ver- Auseinandersetzung mit diesem Thema natürlich auch nichtete Aktenbestände der ehemaligen DDR steht. Wir die eigene Vergangenheit reflektiere. Ich war am 4. De- wissen, dass bestimmte Parteiarchive nur noch teilweise zember 1989 in Rostock bei der Besetzung der Stasibe- erhalten sind. Deswegen ist es auch ganz wichtig, den hörde und gehörte zur Verhandlungskommission. Ich Bestand in seiner Gesamtheit zu erhalten und nicht durch gebe etwas preis: Es ist ein Typikum in der deutschen nachträgliche Bewertungen größere Bestände zu ver- Geschichte, dass man häufig feststellt: Als Familie hat nichten. Darauf lege ich einen Schwerpunkt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4405

Dr. Harald Terpe (A) Zum Schluss lassen Sie mich sagen: Ich glaube, dass diese Behörde eine wichtige gesellschaftspolitische Auf- (C) es richtig ist, zu sagen, dieser Prozess ist ergebnisoffen; gabe erfüllt hat und immer noch erfüllt. natürlich nicht ganz ergebnisoffen, weil wir auch einen Auftrag erteilt haben. Ich bin sehr gespannt auf die Er- Die Aktenführung des MfS war, wenn ich das so for- gebnisse und denke, dass die Experten am Ende empfeh- mulieren darf, typisch deutsch. Wer je eine Akte zu Ge- len werden, dass wir den Zugang zu den Akten wie sicht bekommen hat, erkennt darin die erschreckende bisher sichern, dass wir auch eine regionale Erinne- Gründlichkeit eines perfiden Systems. Sensible Akten rungskultur erhalten und Forschung, Wissenschaft und über eine Vielzahl von Menschen galt es zu sichern, auf- geschichtliche Aufarbeitung kombinieren. zubereiten, zu archivieren und den Menschen auf Antrag zu öffnen. Kollege Wanderwitz hat darauf hingewiesen: In diesem Sinne wünsche ich der zukünftigen Exper- Rund 3 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben bisher tenkommission, dass sie gute Vorschläge macht – wir Akteneinsicht beantragt und sich damit auf einen oft werden darüber ja noch debattieren –, und Ihnen allen schmerzhaften Weg in die eigene Vergangenheit bege- von meiner Seite einen schönen Sommer. ben. 2009 erreichte die Zahl der Anträge mit über 100 000 in einem Jahr einen Höhepunkt. Die Zahl ist Vielen Dank. seitdem auf rund 64 000 Anträge im Jahr 2013 zurück- (Beifall im ganzen Hause) gegangen. Gleichwohl beweist auch diese Zahl, dass die Aufgabe des Bundesbeauftragten noch längst nicht zu Ende ist. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, der nächste Redner, Hinter der Behörde stand von Anfang an ein An- Hartmut Koschyk, hat seine Rede zu Protokoll gege- spruch: Wir wollen begreifen. Wir wollen begreifen, wie ben.1) das System der Staatssicherheit funktionierte. Wir wol- len begreifen, welche Strukturen dahinterstanden. Wir (Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE wollen begreifen, wie das Leben der Menschen davon LINKE]) betroffen war. Deshalb erhält jetzt Matthias Schmidt das Wort. Der Gedanke der Aufklärung war ebenso prägend für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zahlreiche Forschungsanfragen. Knapp 30 000 Anträge der CDU/CSU) von Wissenschaftlern und Journalisten belegen dies. Auch das ist eine enorme Zahl. Eine Vielzahl von For- schungsarbeiten ist auf der Basis der Akten entstanden. Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Sie haben uns dem Anspruch des Begreifenwollens nä- (B) Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr ge- hergebracht, nicht selten mit Schmerzen, individuell und (D) ehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! kollektiv. Heute verändern sich die Forschungsanfragen. Sehr geehrter Herr Jahn! Liebe Kolleginnen und Kolle- Internationale Forschungskooperationen haben längst gen! Wir sprechen heute über die Zukunft der Stasi-Un- den Fokus erweitert. terlagen-Behörde. So steht es an der Tafel, auf der bei uns im Bundestag immer das Thema der Debatte ange- Viele dieser Erkenntnisse sind in die politische Bil- kündigt wird. Korrekt müsste es lauten: Wir reden über dungsarbeit eingeflossen. Das war und ist von hoher Be- die Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die deutung. Nicht nur die Bundeszentrale für politische Bil- Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen dung und die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED- DDR, kurz BStU. Die Bevölkerung hat diese Bezeich- Diktatur haben diese Erkenntnisse in ihren Bildungspro- nung nie verwandt, sondern sie hat die Behörde immer grammen aufgegriffen, sondern auch viele kleinere Ein- kurz nach dem jeweiligen Bundesbeauftragten bezeich- richtungen und Institute. Lernen aus der Geschichte: net. Zunächst war es die Gauck-Behörde, später die Dazu hat der BStU mit seiner Arbeit einen großen Bei- Birthler-Behörde, und jetzt, Herr Jahn, ist es eben die trag geleistet. Das wollen wir fortführen. Jahn-Behörde. Gleichwohl ist die Arbeit dieser Behörde nicht als Im ersten Jahrzehnt unter der Leitung des heutigen Daueraufgabe angelegt. Schon länger stellt sich die Bundespräsidenten Gauck etablierte sich in unserem ge- Frage, wie wir zukünftig mit der Behörde umgehen, was samtdeutschen Sprachgebrauch sogar das Wort „gau- mit den Akten geschehen soll und wie wir den Zugang cken“. Es bezog sich auf die Überprüfung, mit der im öf- für Wissenschaft und Bürger sichern. Und noch immer fentlichen Dienst festgestellt werden sollte, ob jemand sind nicht alle Akten erschlossen. für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet hat Bereits Ende 2008 hat der Bundestag bei der Fort- oder nicht. Die Bezeichnung „gaucken“ ist dann auf die schreibung des Gedenkstättenkonzepts festgelegt, dass beiden Nachfolger nicht mehr übertragen worden, was eine unabhängige Expertenkommission die Aufgaben auch zeigt, dass die Behörde in einem Wandel steht. In des BStU analysieren und neu bestimmen soll. Seitdem jedem Fall aber verbinden sich mit dieser Einrichtung sind mehr als fünf Jahre vergangen, und es wird Zeit, viele Tausend Schicksale von Menschen, Ehen, Fami- den Auftrag aus dem Gedenkstättenkonzept umzusetzen. lien, Arbeitskollegen und Freundschaften, überwiegend Wir wollen mit dem Antrag eine Expertenkommission in der ehemaligen DDR. Wir sind uns hier einig, dass ins Leben rufen, die Bilanz zieht und Handlungsempfeh- lungen zur Zukunft des BStU erarbeitet. Dabei geht es 1) Anlage 4 keineswegs um einen Abschluss, sondern vielmehr um 4406 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Matthias Schmidt (Berlin) (A) eine Neujustierung der Aufarbeitung. Der Aktenzugang ren. Ich kann Ihnen sagen: Der Aufbau insbesondere in (C) soll ebenso gesichert bleiben wie der wichtige Auftrag den 90er-Jahren war schwierig; aber die Aufarbeitung der historischen und politischen Bildung. Viele Fragen dieses Teils der Geschichte war ungleich schwieriger. sind zu klären, wie die nach der Zukunft der Außenstel- len oder nach dem Ort der Archivierung der Akten. Wieder einige Jahre später – wir dachten, die Aufar- beitung wäre im Wesentlichen abgeschlossen – bekam Die Aufarbeitung der SED-Diktatur muss fortgeführt ich noch einmal einen Bescheid zugesandt; es war ein werden; da, meine liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Einzelbescheid. Der betreffende Mitarbeiter war als wir uns sicherlich einig. Die Handlungsempfehlungen Hausmeister angestellt, wie schon vor der Wende. Wir der Kommission sollen den Weg dafür weisen. Lassen dachten zuerst: Der Fall ist eindeutig. Es gab zahlreiche Sie uns mit der Einberufung der Expertenkommission Berichte über kleinere Geldprämien. Aber dann wurde nun endlich diesen Weg beschreiten. uns irgendwie klar: Irgendetwas stimmt hier nicht. Auch ich darf Ihnen von dieser Stelle eine angenehme Als wir den Mitarbeiter zum Gespräch geholt haben, Sommerpause und uns allen heute Abend ein erfolgrei- hat er uns unter Tränen geschildert, was sich seinerzeit ches Fußballspiel wünschen. abgespielt hat. Er hatte – das nur am Rande – eine Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. schwierige Kindheit und Jugend. Er war Hausmeister ei- ner Kegelbahn, teilweise hat er dort übernachtet. Dort (Beifall im ganzen Hause) haben die hauptamtlichen Mitarbeiter der Dienststelle vor Ort regelmäßig ihre Kegelabende durchgeführt. Die- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ser Hausmeister bekam dann als Entschädigung ein paar Als letzter Redner in dieser Debatte hat Jörg Mark zugesteckt. Um das zu dokumentieren bzw. zu ver- Hellmuth das Wort. rechnen, haben die hauptamtlichen Mitarbeiter die Be- richte selbst geschrieben und ihn nur unterschreiben las- sen. Meine Damen und Herren, so pervers war dieses Jörg Hellmuth (CDU/CSU): System. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass ich an dieser Stelle als gelernter Erst zu diesem Zeitpunkt wurde mir vollends be- DDR-Bürger von einigen ganz persönlichen Erfahrun- wusst, wie wichtig das Instrument Stasi-Unterlagen-Ge- gen mit dem System der Staatssicherheit bzw. dem Um- setz für die tatsächliche Aufarbeitung in unserem demo- gang mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz erzähle. kratischen Rechtsstaat ist. Nach mehreren Gesprächen Es war im Sommer 1987, als ich von meinem Onkel und nochmaliger Recherche in dem Fall des Hausmeis- (B) aus Dortmund eine Einladung zum Besuch einer Tante ters haben wir dann eine Entscheidung getroffen. Ich (D) bekam; es war, glaube ich, der 86. Geburtstag. Ich bin kann Ihnen sagen: Er arbeitet heute noch als Hausmeis- dann, wie es üblich war, zum Volkspolizei-Kreisamt ge- ter in dieser Behörde. gangen und habe die Formalitäten erledigt. Ich hatte mit Die Einsetzung einer Expertenkommission ist genau niemandem im Ort darüber gesprochen. Zwei Tage spä- der richtige Weg. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt ter sprach mich ein Arbeitskollege darauf an, dass ich noch keinen Schlussstrich ziehen. Möge die Experten- zum 86. Geburtstag fahren wollte. – Das, meine Damen kommission uns entsprechende Hinweise geben, die uns und Herren, war die erste Begegnung mit dem Staats- hinterher in die Lage versetzen, die Weichen zu stellen sicherheitssystem. Die Staatssicherheit war eben nicht für die hoffentlich letzte Etappe der Aufarbeitung dieses nur in der Normannenstraße oder in Leipzig; sie war düsteren Kapitels unserer Geschichte. Das sind wir den überall, fast in jedem Dorf. – Interessant an dieser Epi- Opfern schuldig. Ich bitte um Zustimmung zu diesem sode ist noch: Ich durfte fahren, aber meine Geschwister, Antrag. die einige Landkreise weiter südlich wohnten, durften nicht fahren. Es war also Willkür. Danke schön. Einige Jahre später – es war nach der Wende; ich war (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem mittlerweile in kommunalpolitischer Verantwortung – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. habe ich ein Paket mit Stasiunterlagen entgegennehmen Stefan Liebich [DIE LINKE]) müssen. Bei Auswertung dieser Unterlagen stellte sich heraus: Wir mussten über 20 Mitarbeiter entlassen. Meine Damen und Herren, zum damaligen Zeitpunkt Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: habe ich noch etwas mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz Ich schließe die Aussprache. gehadert. Natürlich sind wir damals angetreten, dieses Land aufzubauen; natürlich haben wir unseren Wählern Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag auch versprochen, aufzuarbeiten. Aber wir hatten keiner- der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die lei Erfahrung: Wie sollte das denn geschehen? Wie sollte Grünen auf Drucksache 18/1957 mit dem Titel „Einset- man die Zumutbarkeit feststellen? zung einer Expertenkommission zur Zukunft der Be- hörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Auch unsere Berater aus den alten Bundesländern Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen De- konnten uns da nicht allzu hilfreich zur Seite stehen. Un- mokratischen Republik“. Wer stimmt für diesen Antrag? – zählige Gespräche folgten, dramatische Szenen haben Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist sich abgespielt, meine sehr verehrten Damen und Her- dieser Antrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4407

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) und den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfeh- (C) haltung der Linken angenommen. lung des Finanzausschusses zu den Drucksachen 18/1815 und 18/2016 mitteilen: Abgegeben wurden 538 Stim- Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die Sitzung men. Mit Ja haben gestimmt 437, mit Nein haben ge- schließe, muss ich Ihnen noch das von den Schriftführe- stimmt 47, 54 haben sich enthalten. rinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der

Endgültiges Ergebnis Dr. Hans-Peter Friedrich Steffen Kampeter Abgegebene Stimmen: 538; (Hof) Steffen Kanitz Karsten Möring davon Hans-Joachim Fuchtel Anja Karliczek Carsten Müller ja: 437 Alexander Funk Bernhard Kaster (Braunschweig) nein: 47 Ingo Gädechens Dr. Stefan Kaufmann Stefan Müller (Erlangen) enthalten: 54 Dr. Dr. Dr. Georg Kippels Dr. Ja Jürgen Klimke Helmut Nowak Dr. Georg Nüßlein CDU/CSU Ursula Groden-Kranich Jens Koeppen Hermann Gröhe Florian Oßner Klaus-Dieter Gröhler Carsten Körber Dr. Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Dorothee Bär Markus Grübel Rüdiger Kruse Thomas Bareiß Dr. Roy Kühne Dr. Martin Pätzold Julia Bartz Monika Grütters Günter Lach Ulrich Petzold Günter Baumann Dr. Uwe Lagosky Dr. Joachim Pfeiffer Fritz Güntzler Dr. Karl A. Lamers Sibylle Pfeiffer (Börde) Andreas G. Lämmel Dr. (B) (D) Dr. André Berghegger Dr. Stephan Harbarth Ulrich Lange Dr. Jürgen Hardt Barbara Lanzinger Dr. Silke Launert Alois Rainer Dr. Dr. Stefan Heck Dr. Dr. Maria Böhmer Dr. Matthias Heider Dr. (Potsdam) Dr. (Chemnitz) Philipp Graf Lerchenfeld Dr. Jörg Hellmuth Dr. Johannes Röring Klaus Brähmig Rudolf Henke Dr. Norbert Röttgen Dr. Matthias Lietz Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Ralph Brinkhaus Dr. Wilfried Lorenz Cajus Caesar Alexander Hoffmann Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Jan-Marco Luczak Norbert Schindler Alexandra Dinges-Dierig Franz-Josef Holzenkamp Dr. Heiko Schmelzle Margaret Horb Thomas Mahlberg Christian Schmidt (Fürth) Marie-Luise Dött Bettina Hornhues Hansjörg Durz Charles M. Huber Dr. Jutta Eckenbach Anette Hübinger Hans-Georg von der Marwitz Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Hubert Hüppe Hermann Färber Erich Irlstorfer (Altötting) (Weil am Reiner Meier Rhein) Sylvia Jörrißen Dr. Christina Schwarzer Ingrid Fischbach Andreas Jung Dr. Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Axel E. Fischer (Karlsruhe- Maria Michalk Dr. Patrick Sensburg Land) Dr. Egon Jüttner Dr. h. c. Hans Michelbach Bernd Siebert Bartholomäus Kalb Dr. Dr. Hans-Werner Kammer Philipp Mißfelder Johannes Singhammer 4408 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Tino Sorge Dr. Frank-Walter Steinmeier (C) Jens Spahn Sören Bartol Birgit Kömpel Christoph Strässer Dr. Bärbel Bas Dr. Hans-Ulrich Krüger Lothar Binding (Heidelberg) Helga Kühn-Mengel Franz Thönnes Christian Lange (Backnang) Wolfgang Tiefensee Christian Freiherr von Stetten Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. Karl Lauterbach Carsten Träger Edelgard Bulmahn Steffen-Claudio Lemme Rüdiger Veit Rita Stockhofe Marco Bülow Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Vöpel Dr. Petra Crone Kirsten Lühmann Matthäus Strebl Dr. Birgit Malecha-Nissen Dirk Wiese Thomas Stritzl Dr. Waltraud Wolff (Heilbronn) Dr. (Wolmirstedt) Lena Strothmann Sabine Dittmar Dr. Matthias Miersch Gülistan Yüksel Michael Stübgen Martin Dörmann Dagmar Ziegler Dr. Sabine Sütterlin-Waack Elvira Drobinski-Weiß Dr. Siegmund Ehrmann Bettina Müller Dr. Jens Zimmermann Michaela Engelmeier-Heite Michelle Müntefering Manfred Zöllmer Astrid Timmermann-Fechter Petra Ernstberger Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Volker Ullrich Dr. Thomas Oppermann Nein Dr. Mahmut Özdemir (Duisburg) Elke Ferner DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Michael Vietz Dr. Jeannine Pflugradt (Kleinsaara) Ulrich Freese Matthias W. Birkwald Sven Volmering Sigmar Gabriel (Minden) Christel Voßbeck-Kayser Dr. Wilhelm Priesmeier Eva Bulling-Schröter Dr. Iris Gleicke Dr. Marco Wanderwitz Dr. Simone Raatz Sevim Dağdelen (B) Dr. (D) Gabriele Groneberg Mechthild Rawert Klaus Ernst Uli Grötsch Stefan Rebmann Diana Golze (Hamburg) Wolfgang Gunkel Gerold Reichenbach Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Carola Reimann Dr. Sabine Weiss (Wesel I) Rita Hagl-Kehl Heike Hänsel Sönke Rix Dr. Karl-Georg Wellmann Ulrich Hampel Inge Höger Dr. Waldemar Westermayer (Peine) René Röspel Sigrid Hupach Susann Rüthrich Peter Wichtel Marcus Held Bernd Rützel Annette Widmann-Mauz Susanna Karawanskij Heinz Wiese (Ehingen) Dr. Barbara Hendricks Annette Sawade Klaus-Peter Willsch Heidtrud Henn Axel Schäfer (Bochum) Katrin Kunert Elisabeth Winkelmeier- Dr. Becker Caren Lay Gabriele Hiller-Ohm (Essen) Dr. Dorothee Schlegel Barbara Woltmann Ralph Lenkert Dr. Eva Högl Ulla Schmidt (Aachen) Stefan Liebich Heinrich Zertik Matthias Ilgen Matthias Schmidt (Berlin) Dr. Gesine Lötzsch Christina Jantz (Wetzlar) Dr. Carsten Schneider (Erfurt) Gudrun Zollner Cornelia Möhring Thomas Jurk Dr. Alexander S. Neu (Spandau) SPD Johannes Kahrs Christina Kampmann Harald Petzold (Havelland) Ingrid Arndt-Brauer Richard Pitterle Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Dr. Petra Sitte Marina Kermer Heinz-Joachim Barchmann Norbert Spinrath Dr. Dr. Azize Tank Martina Stamm-Fibich Frank Tempel Dr. Hans-Peter Bartels Dr. Bärbel Kofler Kathrin Vogler Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4409

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) (Köln) Sylvia Kotting-Uhl (Augsburg) (C) Birgit Wöllert Dr. Oliver Krischer Corinna Rüffer Jörn Wunderlich Stephan Kühn (Dresden) Elisabeth Scharfenberg Hubertus Zdebel Ekin Deligöz Markus Kurth Sabine Zimmermann Katharina Dröge Dr. Gerhard Schick (Zwickau) Steffi Lemke Kordula Schulz-Asche Dr. Thomas Gambke Dr. Dr. Wolfgang Strengmann- Nicole Maisch Kuhn Enthalten Kai Gehring Peter Meiwald Hans-Christian Ströbele Katrin Göring-Eckardt Dr. Harald Terpe CDU/CSU Beate Müller-Gemmeke Uda Heller Britta Haßelmann Özcan Mutlu Jürgen Trittin Bärbel Höhn Dr. Julia Verlinden BÜNDNIS 90/ Doris Wagner DIE GRÜNEN Cem Özdemir Beate Walter-Rosenheimer Katja Keul Dr. Valerie Wilms Maria Klein-Schmeink Brigitte Pothmer Annalena Baerbock Tom Koenigs Tabea Rößner

Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am (Beifall im ganzen Hause) Schluss unserer heutigen Debatte. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Ich wünsche Ihnen allen eine erholsame Sommer- destages auf Dienstag, den 9. September 2014, 10 Uhr, pause – ich glaube, wir können das alle gut gebrauchen –, ein. und ich freue mich auf ein Wiedersehen im September. Die Sitzung ist geschlossen. Heute Abend werden wir sicherlich viel Spaß haben und (Schluss: 15.14 Uhr) alle gemeinsam der deutschen Mannschaft ganz kräftig die Daumen drücken.

(B) (D)

Anlagen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4411

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Alpers, Agnes DIE LINKE 04.07.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 04.07.2014

Bätzing-Lichtenthäler, SPD 04.07.2014 Dr. Schröder, Ole CDU/CSU 04.07.2014 Sabine Dr. Schulze, Klaus-Peter CDU/CSU 04.07.2014 Beyer, Peter CDU/CSU 04.07.2014 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 04.07.2014 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 04.07.2014 Ulrich, Alexander DIE LINKE 04.07.2014 Brand, Michael CDU/CSU 04.07.2014 Dr. Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 04.07.2014 Dörner, Katja BÜNDNIS 90/ 04.07.2014 DIE GRÜNEN Weinberg, Harald DIE LINKE 04.07.2014

Flisek, Christian SPD 04.07.2014 Dr. Weisgerber, Anja CDU/CSU 04.07.2014

Flosbach, Klaus-Peter CDU/CSU 04.07.2014 Werner, Katrin DIE LINKE 04.07.2014

Freitag, Dagmar SPD 04.07.2014 Wicklein, Andrea SPD 04.07.2014

Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 04.07.2014 Wöhrl, Dagmar G. CDU/CSU 04.07.2014

(B) Gohlke, Nicole DIE LINKE 04.07.2014 (D) Anlage 2 Dr. Hahn, André DIE LINKE 04.07.2014 Erklärung nach § 31 GO Hartmann, Michael SPD 04.07.2014 des Abgeordneten Dr. Hans-Joachim Dr. Hirte, Heribert CDU/CSU 04.07.2014 Schabedoth (SPD) zur namentlichen Abstim- mung über den von den Abgeordneten Klaus Hochbaum, Robert CDU/CSU 04.07.2014 Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta Krellmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE Irlstorfer, Erich CDU/CSU 04.07.2014 LINKE eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der sachgrundlosen Befristung Kühn (Tübingen), BÜNDNIS 90/ 04.07.2014 (46. Sitzung, Tagesordnungspunkt 6 b) Christian DIE GRÜNEN In der letzten Legislaturperiode hat sich die SPD- Leutert, Michael DIE LINKE 04.07.2014 Bundestagsfraktion unter anderem mit dem Antrag „Langfristige Perspektive statt sachgrundlose Befris- Maag, Karin CDU/CSU 04.07.2014 tung“ (Drucksache 17/1769) klar für die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung ausgesprochen. Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 04.07.2014 Auch im SPD-Wahlprogramm zur Bundestagswahl Mortler, Marlene CDU/CSU 04.07.2014 2013 ist diese Position ebenso klar formuliert worden: „Die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung von Dr. Mützenich, Rolf SPD 04.07.2014 Arbeitsverträgen wollen wir abschaffen, den Katalog möglicher Befristungsgründe überprüfen.“ Dafür tritt die Nietan, Dietmar SPD 04.07.2014 SPD auch inhaltlich weiterhin ein. Poschmann, Sabine SPD 04.07.2014 Es ist bedauerlich, dass in den Koalitionsverhandlun- gen mit CDU und CSU keine Abschaffung der sach- Poß, Joachim SPD 04.07.2014 grundlosen Befristung vereinbart werden konnte und in der aktuellen Regierungskoalition daher derzeit leider Rief, Josef CDU/CSU 04.07.2014 keine parlamentarische Mehrheit dafür vorhanden ist. 4412 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

(A) Im Koalitionsvertrag der Großen Koalition von CDU/ Erinnern wir uns: In einem weltweit einmaligen Vor- (C) CSU und SPD konnten jedoch viele wichtige und lange gang wurden 1989/90 im Zuge der friedlichen Revolution geforderte Verbesserungen für Arbeitnehmerinnen und in der DDR die Dienststellen des ehemaligen Ministe- Arbeitnehmer vereinbart werden, die für gute Arbeit und riums für Staatssicherheit der DDR von Demonstranten gegen prekäre Beschäftigung, wozu auch die sachgrund- besetzt. Damit wurde die Auflösung dieser Geheimpoli- lose Befristung zählt, wirken werden. Beispielsweise der zei erzwungen. Zeitweise wurden Dienststellen der ehe- gesetzliche Mindestlohn, die Ausweitung des Arbeitneh- maligen DDR-Geheimpolizei besetzt, um die Vernich- mer-Entsendegesetzes auf alle Branchen – wodurch hö- tung von Akten zu stoppen. Ziel war es, dass jeder here Branchenmindestlöhne möglich sind – sowie die Betroffene das gesetzliche Recht auf Einsicht in seine erleichterte Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeits- Akten erhalten sollte. erklärung von Tarifverträgen, die dann für alle Beschäf- tigten und Arbeitgeber einer Branche gelten. Zudem Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereini- werden Werkverträge und Leiharbeit stärker reguliert gung, an dem Millionen Ostdeutsche nach 56-jähriger bzw. gegen deren Missbrauch vorgegangen. Herrschaft von Diktatoren, die sie durch ihre friedliche Revolution abgeschüttelt hatten, endlich freie Bürger Im Koalitionsvertrag haben sich die Bundestagsfrak- sein durften, wurde der heutige Bundespräsident tionen von CDU/CSU und SPD auf ein einheitliches Ab- Joachim Gauck zum Sonderbeauftragten der Bundes- stimmungsverhalten im Deutschen Bundestag verstän- regierung für die Stasi-Unterlagen ernannt. Ende De- digt. Daher werde ich dem Gesetzentwurf der Fraktion zember 1991 trat schließlich das Stasi-Unterlagen-Ge- Die Linke nicht zustimmen. setz in Kraft, und aus dem „Sonderbeauftragten“ wurde 1991 der erste „Bundesbeauftragte für die Unterlagen Die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung wird des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“. aber auch weiterhin mein erklärtes politisches Ziel blei- ben, wofür ich mich auch zukünftig einsetzen werde. Die Behörde des Bundesbeauftragten, BStU, leistet seit 23 Jahren einen unschätzbaren Beitrag zur persönli- chen und öffentlichen Auseinandersetzung mit der SED- Anlage 3 Diktatur, und das Interesse an der Akteneinsicht ist wei- terhin groß. Insgesamt 6 876 003 Ersuchen und Anträge Erklärung nach § 31 GO gingen von 1992 bis Ende 2013 bei der Behörde des des Abgeordneten Peer Steinbrück (SPD) zur na- Bundesbeauftragten ein, darunter über 2,98 Millionen mentlichen Abstimmung über den von den Abge- Anträge von Bürgern auf Auskunft, Akteneinsicht und ordneten Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Herausgabe, davon 80 611 im Jahr 2011, 88 231 im Jahr (B) Jutta Krellmann, weiteren Abgeordneten und 2012 und 67 743 in 2013. Mit dem zeitlichen Abstand (D) der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- zum Ende der DDR sinkt naturgemäß die Zahl derer, die wurf eines Gesetzes zur Abschaffung der sach- noch nicht in ihre Unterlagen geschaut haben. Trotz grundlosen Befristung (46. Sitzung, Tagesord- rückläufiger Zahlen muss aber auch in Zukunft gewähr- nungspunkt 6 b) leistet sein, dass es zu keiner Verschlechterung bei der Nutzung der Akten durch Bürgerinnen und Bürger, For- Ich habe nach der falschen Abstimmungskarte gegrif- schung, Bildung, Medien und öffentlicher Stellen fen. Mein Votum lautet Nein. kommt. Die Behörde des Bundesbeauftragten bleibt auch in Anlage 4 Zukunft für die demokratische und rechtsstaatliche Auf- arbeitung der SED-Diktatur von hoher Bedeutung, und Zu Protokoll gegebene Rede diese Rolle wird auch nicht angetastet werden. Die Taten des Abgeordneten Hartmut Koschyk (CDU/ des DDR-Unrechtsstaates dürfen nicht vergessen wer- CSU) zur Beratung des Antrags: Einsetzung den! Sie sind Mahnung an uns alle, uns tagtäglich die einer „Expertenkommission zur Zukunft der Werte unserer freiheitlich-demokratischen Grundord- Behörde des Bundesbeauftragten für die Unter- nung vor Augen zu führen. Insbesondere im Hinblick lagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe- auf die kommenden Generationen, die keine eigenen Er- maligen Deutschen Demokratischen Republik fahrungen mit der Zeit der deutschen Teilung besitzen, (BStU)“ (Tagesordnungspunkt 28) ist es wichtig, die Erinnerungskultur an das erlittene Un- recht lebendig zu halten. Wir alle können stolz sein: Denn Deutschland ver- 25 Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur hat sich dankt seine staatliche Einheit in Freiheit vor allem dem inzwischen erfreulicherweise eine breite und vielfältige Mut der Bürgerinnen und Bürger. Die Sehnsucht der Institutionenlandschaft entwickelt, die die Auseinander- Menschen nach Freiheit hatte die SED in ihrem Macht- setzung mit der zweiten, der kommunistischen Diktatur bereich zwar unterdrücken, aber nicht auslöschen kön- in einem Teil unseres Landes auf allen Ebenen befördert. nen. Deutsche Einheit und Fall der Mauer stehen für die An dieser Stelle sei nur die Bundesstiftung zur Aufarbei- Kraft, die von den Werten Freiheit, Demokratie und Zi- tung der SED-Diktatur, deren Stiftungsrat ich angehöre, vilcourage ausgeht, und die Kraft, die in einem Volk ste- das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig sowie die Bun- cken kann, wenn es entschlossen ist, diesen Werten Gel- des- und Landeszentralen für politische Bildung ge- tung zu verschaffen. nannt, aber auch die vielen Vereine, Opferverbände und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4413

(A) Gedenkstätten an historischen Orten der Repression. Unrechts und die Auswertung der Akten der Stasi weiter (C) Heute nimmt die Bundesbehörde des Bundesbeauftrag- vorangehen – auch wenn parallel eine Expertenkommis- ten somit nicht mehr allein gebündelt die wesentlichen sion über die Zukunft der Bundesbehörde des Bundesbe- Aufgaben der Aufarbeitung der Tätigkeit des Staats- auftragten beraten wird. sicherheitsdienstes wahr. Es gilt zu klären, wie die Aufgaben der Behörde des CDU, CSU und SPD haben daher in ihrem Koali- Bundesbeauftragten langfristig und in Zusammenarbeit tionsvertrag festgeschrieben, eine Expertenkommission mit anderen Institutionen effizient und sachgerecht fort- einzusetzen, die bis zur Mitte der Legislaturperiode Vor- geführt werden. Hierzu wird die Expertenkommission schläge erarbeitet, wie und in welcher Form die aus dem Handlungsempfehlungen erarbeiten, die dem Deutschen Stasi-Unterlagen-Gesetz, StUG, resultierenden Aufgaben Bundestag als Grundlage für weitere Entscheidungen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats- über die Zukunft der Bundesbehörde des Bundesbeauf- sicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, BStU, fortge- tragten und zur Weiterentwicklung der Aufarbeitung der führt werden und wann das geschieht. DDR-Diktatur dienen werden. Insbesondere auch als stellvertretender Stiftungsrats- Im Hinblick auf die Zusammensetzung der Experten- vorsitzender der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED- kommission haben wir uns darauf verständigt, dass die- Diktatur“ und langjähriges Mitglied des Beirates beim ser keine aktiven Mitglieder des Deutschen Bundestages Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicher- angehören werden. Wir verdeutlichen damit den Men- heit der ehemaligen DDR danke ich allen Kolleginnen schen in unserem Land, von welch großer gesellschafts- und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass politischer Bedeutung über Parteigrenzen hinweg die sie gemeinsam mit den Fraktionen von CDU/CSU und Aufarbeitung des erlittenen DDR-Unrechts in unserem SPD die Errichtung genannter Expertenkommission un- Land ist und bleibt. terstützen und den Antrag zur Einsetzung einer „Exper- tenkommission zur Zukunft des Bundesbeauftragten für Wir wollen die Aufarbeitung der kommunistischen die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema- Diktatur in der ehemaligen DDR ein Vierteljahrhundert ligen DDR, BStU“ mitgezeichnet haben. Gemeinsam nach ihrer friedlichen Überwindung zukunftsfähig ma- setzen wir damit fraktionsübergreifend ein Zeichen der chen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Evaluation Geschlossenheit und Entschlossenheit, die Erinnerung einer Einrichtung, die 1990 zur Sicherung, Erschließung an das erlittene Leid unzähliger Bürgerinnen und Bürger der Stasi-Unterlagen und der mit ihnen verbundenen An- in unserem Land lebendig zu halten und dass Willkür- fragen auf Akteneinsicht in den verschiedenen Zusam- akte und Terror seitens der Staatsgewalt in unserem menhängen geschaffen worden war. Wir haben gelernt, Land nie wieder sein werden! dass die Aufarbeitung von Diktaturen ein langwieriger (B) Prozess ist, in dessen Verlauf immer wieder neue Fragen (D) Wenn meine Fraktion gemeinsam mit den Fraktionen gestellt oder alte Fragen neu gestellt werden. Die Aus- der SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag an einandersetzung mit der kommunistischen Diktatur ist das Haus stellt, eine Expertenkommission zu bestellen, dabei kein Selbstzweck, sondern soll den Unterschied die über die Zukunft des Büros des Bundesbeauftragten zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen einfachen, befinden soll, dann geschieht dies nicht mit der Absicht, aber in der Konsequenz immer totalitären Heilsverspre- einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der kommunis- chen und den Mühen der demokratischen Ebene deutlich tischen Diktatur in Deutschland zu ziehen. Im Gegenteil, machen. Und diese Aufgabe bleibt dauerhaft bestehen. wir sind der Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur eine dauerhafte, gesamtgesell- schaftliche und im besten Sinne gesamtdeutsche Auf- Anlage 5 gabe bleibt. Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede Die Expertenkommission soll ergebnisoffen, aber un- ter klaren Prämissen, eine Empfehlung abgeben, wie die des Abgeordneten Dr. Georg Kippels (CDU/ Aufgaben der Bundesbehörde des Bundesbeauftragten CSU) zur Beratung des Antrags: 20 Jahre nach langfristig weiter erfüllt werden können. Denn eines ist Kairo – Bevölkerungspolitik im Kontext inter- klar: Der Zugang zu den Stasiakten muss mindestens in nationaler Entwicklungszusammenarbeit und der bisherigen Form gewährleistet bleiben, und auch die der Post-2015-Agenda (46. Sitzung, Tagesord- Auseinandersetzung mit der Stasi als dem wichtigsten nungspunkt 31) Repressionsinstrument der SED bleibt eine dauerhafte Aufgabe der schulischen und vor allem auch außerschu- Vor 40 Jahren startete in Bukarest ein weltweites Um- lischen historisch-politischen Bildung. Ob diese und an- denken. Menschenrechte, Menschenwürde und die Stär- dere Aufgaben in der bisherigen institutionellen Form kung des Individuums wurden zum Kern der internatio- weiterverfolgt oder anderen Institutionen übertragen nalen Bevölkerungspolitik. Menschenrechte dürfen nicht werden sollen, wird Untersuchungsgegenstand der Ex- nur Männerrechte sein. In Konsequenz daraus rückte der pertenkommission sein. Die Einrichtung der Experten- Stand von Frauen in der Gesellschaft in den Fokus. kommission wird aber in keiner Weise die Möglichkeit Heute herrscht genauso Konsens darüber, dass Frauen der Bürgerinnen und Bürger, der Medien und der öffent- das Fundament einer demokratischen Gesellschaft sind, lichen Stellen zur Akteneinsicht nachteilig beeinflussen. wie Konsens darüber herrscht, dass eine wachsende Selbstverständlich werden die Aufarbeitung des DDR- Weltbevölkerung nur durch die weltweite Gleichberech- 4414 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014

(A) tigung von Frauen in den Griff zu bekommen ist. einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen (C) Simone de Beauvoir schrieb 1949 und damit 25 Jahre absehen: vor der ersten Weltbevölkerungskonferenz in Das an- dere Geschlecht: „Am Rande der Welt situiert zu sein, ist keine günstige Ausgangslage für einen, der vorhat, Finanzausschuss die Welt neu zu erschaffen.“ Da Gewalt, Rechtlosigkeit – Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof und Unterdrückung heute aber immer noch die Lebens- Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsordnung über situation von zig Millionen Frauen vor allem, aber nicht den Vollzug der Steuergesetze, insbesondere im Arbeit- nur in Entwicklungs- und Schwellenländern kennzeich- nehmerbereich nen, ist unsere aktive Unterstützung der Gleichstellung Drucksachen 17/8429, 18/770 Nr. 7 der Frauen oberstes Gebot. Dies stellen wir klar mit un- serem Antrag dar. Haushaltsausschuss Indien hat in der letzten Zeit immer wieder internatio- nal Schlagzeilen gemacht durch brutalste Vergewalti- – Unterrichtung durch die Bundesregierung gungen bei denen fast immer der Tod des Opfers in Kauf Bericht der Bundesregierung über bislang geprüfte Op- genommen wurde oder das Opfer im Anschluss an die tionen zur Steigerung von Attraktivität und Wettbe- werbsfähigkeit sowie über Maßnahmen zur stärkeren Tat ermordet wurde. In den Krisen- und Kriegsgebieten Berücksichtigung von Öffentlich-Privaten Partner- dieser Welt wird Vergewaltigung zunehmend als Waffe schaften als Beschaffungsvariante der öffentlichen gebraucht. Dies ist keine neue Problematik, und ich Hand würde mir wünschen, dass es diesbezüglich international Drucksache 17/13749 ähnliche Aufschreie geben würde wie bei einem Schiedsrichterfehler in der laufenden Fußballweltmeis- – Unterrichtung durch die Bundesregierung terschaft, jedoch ist die steigende Entwicklung in Zahl Haushaltsführung 2012 und Brutalität ein wachsendes Unrecht, dem entschieden Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich- begegnet werden muss. Systematische Vergewaltigun- tungsermächtigungen im ersten Vierteljahr des Haus- gen wie in Ruanda, in Bosnien oder im Kongo müssen haltsjahres 2012 international geächtet werden. Drucksachen 17/9863, 18/770 Nr. 8 Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist mit der Kon- – Unterrichtung durch die Bundesregierung ferenz zu sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten in Haushaltsführung 2012 London diesen Monat vollzogen worden, an der Vertre- Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich- ter von 117 Nationen sowie von Hilfs- und Menschen- tungsermächtigungen im zweiten Vierteljahr des Haus- (B) (D) rechtsorganisationen teilgenommen haben. Dort wurde haltsjahres 2012 ein Protokoll verabschiedet, das Richtlinien festlegt, wie Drucksachen 17/10556, 18/770 Nr. 9 sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten als solche er- – Unterrichtung durch die Bundesregierung kannt und verfolgt werden kann. Haushaltsführung 2012 Darüber hinaus müssen wir jedoch auch den Opfern Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich- jegliche Unterstützung gewähren, um mit den Folgen der tungsermächtigungen im dritten Vierteljahr des Haus- Vergewaltigungen umzugehen. haltsjahres 2012 Drucksachen 17/11727, 18/770 Nr. 10 Neben den Aspekten der Rechte von Frauen und der Gewalt gegen Frauen ist der Aspekt der Bildung von – Unterrichtung durch die Bundesregierung zentraler Bedeutung. Auch dies betont unser Antrag. Nur Haushaltsführung 2012 wenn es gelingt, Mädchen und Frauen denselben Zugang Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich- zu Bildung zu ermöglichen wie Jungen und Männern, tungsermächtigungen im vierten Vierteljahr des Haus- können sie Rechte erlangen und auch wahrnehmen. Nur haltsjahres 2012 durch Bildung werden Frauen befähigt, qualifizierter Ar- Drucksachen 17/12605, 18/770 Nr. 11 beit nachzugehen. Nur mit qualifizierter Arbeit können Frauen ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten und Un- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben abhängigkeit erlangen. mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Mit unserem Antrag „20 Jahre nach Kairo – Bevölke- Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- rungspolitik im Kontext internationaler Entwicklungszu- ner Beratung abgesehen hat. sammenarbeit und der Post-2015-Agenda“ unterstützen wir die weltweite Ermächtigung von Frauen und fordern Auswärtiger Ausschuss wir auch die Bundesregierung auf, dem nachzukommen. Drucksache 18/419 Nr. A.9 EP P7_TA-PROV(2013)0418 Drucksache 18/419 Nr. A.10 Anlage 6 EP P7_TA-PROV(2013)0446 Drucksache 18/1393 Nr. A.2 Amtliche Mitteilungen EuB-BReg 27/2014 Drucksache 18/1393 Nr. A.3 Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie EuB-BReg 35/2014 gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von Drucksache 18/1393 Nr. A.4 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Freitag, den 4. Juli 2014 4415

(A) EuB-BReg 36/2014 Drucksache 18/419 Nr. A.36 (C) Drucksache 18/1393 Nr. A.5 Ratsdokument 16603/13 EuB-BReg 37/2014 Drucksache 18/544 Nr. A.16 Drucksache 18/1393 Nr. A.7 Ratsdokument 17144/13 EuB-BReg 39/2014 Drucksache 18/544 Nr. A.17 Drucksache 18/1393 Nr. A.8 Ratsdokument 17268/13 EuB-BReg 40/2014 Drucksache 18/1393 Nr. A.20 Drucksache 18/1393 Nr. A.9 Ratsdokument 8415/14 EuB-BReg 41/2014 Drucksache 18/1393 Nr. A.12 Ratsdokument 7941/14 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/1393 Nr. A.13 Drucksache 18/1393 Nr. A.31 Ratsdokument 7942/14 Ratsdokument 7956/14 Drucksache 18/1393 Nr. A.14 Drucksache 18/1393 Nr. A.32 Ratsdokument 7943/14 Ratsdokument 8194/14 Drucksache 18/1393 Nr. A.15 Ratsdokument 7944/14 Drucksache 18/1393 Nr. A.16 Ausschuss für Arbeit und Soziales Ratsdokument 8595/14 Drucksache 18/1524 Nr. A.1 Drucksache 18/419 Nr. A.104 Ratsdokument 8547/14 Ratsdokument 16472/13 Drucksache 18/1707 Nr. A.1 Ratsdokument 9467/14 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Drucksache 18/419 Nr. A.155 Innenausschuss EP P7_TA-PROV(2013)0423 Drucksache 18/419 Nr. A.21 Drucksache 18/822 Nr. A.35 EP P7_TA-PROV(2013)0384 EP P7_TA-PROV(2014)0109 Drucksache 18/419 Nr. A.23 Drucksache 18/1048 Nr. A.17 EP P7_TA-PROV(2013)0419 EP P7_TA-PROV(2014)0173 Drucksache 18/419 Nr. A.24 EP P7_TA-PROV(2013)0444 Drucksache 18/419 Nr. A.29 Ausschuss für Bildung, Forschung und Ratsdokument 14529/13 Technikfolgenabschätzung Drucksache 18/419 Nr. A.34 Drucksache 18/642 Nr. A.12 Ratsdokument 16596/13 Ratsdokument 5856/14 Drucksache 18/419 Nr. A.35 Drucksache 18/1707 Nr. A.7 Ratsdokument 16597/13 Ratsdokument 9770/14 (B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-7980