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__________________________________________________________________________ 2 MUSIKSTUNDE mit Trüb Montag, 16. 9. 2013 „Interpretationsvergleich: Rosenkavalier“ (1) MUSIK: INDIKATIV, NACH CA. … SEC AUSBLENDEN Guten Morgen, meine Damen und Herren. Das Wort „Kritik“ erscheint uns urdeutsch, weil wir bekanntermaßen nicht damit sparen. Das ist aber ein Irrtum. Das Wort „Kritik“ kommt, auf dem Umweg über das französische critique, ausgerechnet aus dem Griechischen – dem Altgriechischen allerdings, der Sprache von Platon und Aristotéläs. Dort war die kritk´ä téchnä die „Kunst der Beurteilung“, und diese wiederum leitet sich her von dem Verb krínein, was „unterscheiden“ heißt oder „trennen“ und was folglich beinahe ein Synonym ist für „vergleichen“. Nicht jeder Kritiker vergleicht, außer mit seinem eigenen Geschmacksempfinden. Der Filmkritiker oder der Kunstkritiker kennen diesen Luxus z. B. nicht: Bei ihnen geht es in 99,9 Prozent der Fälle um ein Unikat. Aber der Musikkritiker ist ständig gezwungen zu vergleichen: Die Notenschrift kann er oft nicht lesen, und zu beurteilen braucht er etwa Beethovens Neunte oder „Die Zauberflöte“ schon lange nicht mehr. Aber welche Gesamtaufnahme der vier Brahms-Symphonien, von denen es über hundert im Katalog gibt, die beste ist, welche die zweit-, welche die drittbeste – das wollen wir von ihm hören, das wollen wir von ihm lesen! Und natürlich auch, wie uns das Konzert vorgestern abend gefallen hat. Bevor wir jetzt gleich einsteigen in unseren ersten Interpretationsvergleich, den „Rosenkavalier“ von Richard Strauss, will ich Ihnen ein kleines Beispiel geben. In Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“ gibt es eine Polonaise auf irgendeinem Fest, die schmissig und sogar ein bisschen rotzig den 3. Akt zündet. Eigentlich, denkt man, könne es davon keine wild von einander divergierenden Interpretationen geben; ein Dirigent würde das Stück etwas schwungvoller spielen lassen, ein anderer verhaltener – und das wär's auch schon gewesen. Wieder ein Irrtum. Der Teufel steckt im Detail, aber auch die Größe. Hören wir erst die ganze Polonaise, gespielt vom Orchester der Londoner Royal Opera Covent Garden, der Dirigent ist Sir Colin Davis. MUSIK: TSCHAIKOWSKY, EUGEN ONEGIN (POLONAISE), TRACK 1 (4:37) Tschaikowsky, die Polonaise aus „Eugen Onegin“, gespielt vom Orchester der Royal Opera Covent Garden, dirigiert von Sir Colin Davis. Vielleicht haben Sie es bereits bemerkt: Sobald der Polonaisen-Rhythmus richtig Fahrt aufnimmt, 3 hat Tschaikowsky einen synkopischen Bläsereinwurf komponiert, die vier Hörner und eine Trompete fahren scheinbar der Polonaise in die Parade, mit vier Noten in absteigender Linie. Zuerst mal wirkt das wie eine Polonaisen-Bremse, vor allem der synkopischen Natur des Einwurfs wegen. Die vier Hörner und die Trompete scheinen den Rhythmus zu stauen – und befeuern ihn aber gerade dadurch. Hier noch einmal die Stelle, gegen Ende unseres Ausschnitts: MUSIK: SPEZIAL-CD, ZUSPIEL 1 Haben Sie sie gehört, die scheinbare „Polonaisen-Bremse“, die vier Hörner und eine Trompete, die am Ende der zweigliedrigen Polonaisen-Periode synkopisch dazwischenzufahren scheinen, so dem Geschehen in Wahrheit neue Fahrt gebend? Dieses Detail, meiner Ansicht nach so wichtig für das ganze Stück, wird von vielen Dirigenten einfach unterschlagen, oder jedenfalls in den Hintergrund gedrängt, sodass es, wenn man weiß: Es kommt, es muss kommen – gerade mal noch als ferne Farbe zu hören ist. Ausgerechnet der Effektmusiker Semyon Bychkov lässt sich das, immerhin mit den Berliner Philharmonikern!, durch die Lappen gehen: MUSIK: SPEZIAL-CD, ZUSPIEL 2 Haben Sie in dieser Aufnahme den synkopischen Einwurf der vier Hörner und der einen Trompete gehört? Ich nicht, oder fast nicht. Höchstens, wenn man weiß, dass er kommt – und dann ganz genau hinhört. Die Berliner Philharmoniker hätten das so herausmeißeln können wie das (eigentlich ja viel schwächere) Opernorchester bei Colin Davis – aber der Dirigent Semyon Bychkov fand es offenbar nicht so wichtig und setzte, wie sein Mentor Herbert von Karajan, auf wohligen Mischklang statt auf den eventuell verstörenden Spaltklang. Und noch eine dritte Aufnahme! Der Holländer Hans Vonk dirigiert mit der Staatskapelle Dresden so etwas wie den Kompromiss zwischen der englischen Synkopen-Attacke und dem Berliner Klangsfumato: Er deutet den Bläsereinwurf deutlich an – und zieht sich wieder daraus zurück. Das klingt dann so: MUSIK: SPEZIAL-CD, ZUSPIEL 3 Dass wir uns richtig verstehen: Ob man den „harschen“ Bläsereinwurf bei Colin Davis vorzieht oder den diskreteren hier bei Hans Vonk und der Staatskapelle Dresden, ist letztlich 4 Geschmackssache. Das muss jeder Hörer für sich selbst entscheiden. Ich jedenfalls mag die relative Drastik, mit der Tschaikowsky bei Davis auf die vermeintliche „Polonaisen-Bremse“ zu steigen scheint! Daher noch einmal dieser Ausschnitt, zum Abschluss des Themas „Eugen Onegin“: MUSIK: SPEZIAL-CD, ZUSPIEL 4 Die Oper „Der Rosenkavalier“ von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss ist so viel mehr als nur quirliges Eroticon aus dem lukullischen, dem falschen Rokoko: Studie über das Älterwerden, über die Einsamkeit, über Entfremdung. Die Hauptfiguren sind nicht die jungen Liebenden, Octavian und Sophie, Hauptfigur ist auch nicht der grobe Ochs – Hauptfigur ist, bis über den Geisterbahn-Mummenschanz des letzten Aktes hinaus, die Fürstin Werdenberg, die „Marschallin“, die der unweigerliche Verzicht dazu nötigt, weise zu werden. Oder zumindest abgeklärt. Oder zumindest: zu resignieren. Ohne diese Figur könnte das Konstrukt der Geschichte auch von Feydeau oder Labiche sein, eine französische Farce; erst die Marschallin gibt dem „Rosenkavalier“ Tiefe, ein Thema jenseits des puren Amüsements. Es gibt nicht viele so differenzierte, so komplexe Frauenfiguren in der Operngeschichte; vielleicht die liebende und ebenfalls entsagen müssende Brünnhilde, vielleicht, wenn man im „Don Giovanni“ Donna Anna und Donna Elvira als zwei Seiten einer Figur abbilden könnte: Nein, es sind wirklich nicht viele … Ich will, auch aus Zeitgründen, jetzt im wesentlichen zwei „Rosenkavalier“-Aufnahmen mit einander vergleichen: die der Superstar-Dirigenten im 20. Jahrhundert, Leonard Bernstein und Georg Solti – pikanterweise beide mit demselben Orchester, den Wiener Philharmonikern. Einen tollen Schwung hat schon die Orchestereinleitung bei Solti, sie ist sozusagen mitreißend. Ihre generelle Beschwingtheit trägt den Hörer mühelos auch über die reflexiveren Momente der Partitur: Der Temperamentsbolzen Solti zündet hier, was er nur zünden kann. Das ist freilich erkauft durch ein gewisses al-fresco – Neben- und Zwischenstimmen werden niedergewalzt, alles ordnet sich dem Ziel einer sozusagen kulinarischen Kinetik unter. MUSIK: R. STRAUSS, ROSENKAVALIER (EINLEITUNG), CD 1, TRACKS 1 + 2 (10:57; ACHTUNG! BITTE IN 2 RAUSGEHEN, BEVOR GESANG BEGINNT!; CA. 3:36) So weit die „Rosenkavaliers“-Einleitung bei Solti. In den Anfangstakten unterscheidet sich die Aufnahme mit Leonard Bernstein nicht so sehr: Die derben Instrumentationseffekte „sitzen“ hier wie dort. Dann trennen sich die Wege. Bernstein, so hört man, hat viel genauer gearbeitet als Solti, 5 seine Einleitung ist nachdenklicher, auch zärtlicher; Neben- und Zwischenstimmen erblühen, er lässt sich Zeit dafür – 30 Sekunden mehr als Solti! -, man lauscht einem oft intimen Klanggeflecht, während man bei Solti nur mitgespült wurde wie auf einer Wildwasser-Rutschbahn. Solti ist dominant emphatisch, Bernstein hinterfragt; wenn ich den Vergleich von eben noch einmal aufgreifen darf: Solti dirigiert in der Einleitung eine französische Farce auf wienerisch. Bei Bernstein aber klingt bereits die Tragödie der Marschallin an … MUSIK: R. STRAUSS, ROSENKAVALIER (EINLEITUNG), CD 1, TRACKS 1 + 2 (12:34; ACHTUNG! BITTE WIE ZUVOR IN 2 RAUSGEHEN, BEVOR GESANG BEGINNT!; CA. 4:03) Zweimal die Einleitung zum „Rosenkavalier“, einmal dirigiert von Georg Solti, dann von Leonard Bernstein, in beiden Fällen spielten die Wiener Philharmoniker, bei Solti mitreißend-schwungvoll, bei Bernstein auch reflexiv, selbstverloren – zwei sehr subtil unterschiedliche Aufnahmen. Und so geht es auch weiter: Solti peitscht bravourös durch, Bernstein lässt sich Zeit – manches Mal: sehr viel Zeit -, um in der Partitur Dinge zu entdecken, von denen vor ihm wahrscheinlich nur der Komponist Richard Strauss etwas wusste. Orchestral ist Bernsteins „Rosenkavalier“ ohne Zweifel der berührendste, der philosophischste, auch der mitfühlendste, glänzend „gearbeitet“ mit einem Spitzenorchester, das sich selbst übertrifft. Aber dann kommen natürlich, wir sind ja in der Oper, noch die Sänger ins Spiel, eine nicht ganz zu überhörende Größe – und das Bild verkehrt sich geradezu in sein Gegenteil! Bernstein hat mit Christa Ludwig als Marschallin, Gwyneth Jones als Octavian, Lucia Popp als Sophie und Walter Berry als Ochs einfach die schwächere Sängerriege; Solti mit Régine Crespin, Yvonne Minton, Helen Donath und Manfred Jungwirth fast so etwas wie ein dreamteam. So spielt das Leben, zumindest auf der Opernbühne … Im 1. Akt „Rosenkavalier“ hat die Fürstin Werdenberg, die Marschallin, von A bis Z nur Verdruss. Ihr jugendlicher Liebhaber, der Graf Rofrano alias Octavian, driftet weg von ihr, sie spürt das; man zankt sich nur noch, und sie ahnt, dass da was im Busch ist mit einer Jüngeren. Der grobschlächtige Vetter Ochs auf Lerchenau poltert unangemeldet herein und macht ihre Kopfschmerzen nahezu unerträglich. Danach das sogenannte lévée, worin die Fürstin ihren Friseur, Putz- und Perückenmacher empfängt, daneben die Hofintriganten,