Freitag, 25.11.2011 | Woche 47 | 1. Jahrgang 5.– Aus der Community: 47 «Also ich bevür wortte diese Schproch iniziatife auch ;-)» Mirjam Stämpfli auf Facebook zu «Die SVP kämpft für die Sprache – und mit ihr» Webcode: @agjyg Zeitung aus Basel tageswoche.ch
Region
Die Baselbieter Regierung scheitert mit ihren Das unrealistischen Spitalplänen Noch in diesem Jahr wird Gesundheitsdirektor Peter Zwick mitteilen müssen, perfekte dass seine Spitalvorhaben auf dem Bruderholz überdimen- sioniert sind, Seite 16 Kind Kultur Wie Eltern 20 Jahre nach «Murder by Dialect» ist es in Basels ihre Sprösslinge Rap-Szene still geworden Black Tiger, P-27 & Co. gaben überfördern einst im Schweizer Rap den Ton an – jetzt fehlt der und überfordern, Nachwuchs, Seite 46 Seite 6
Interview Uni-Rektor Antonio Loprieno fordert mehr Mut von den Geisteswissenschaftlern Statt sich um Lehrstühle zu sorgen, sollen sich Geisteswissen- schaftler mehr in gesellschaft liche Debatten ein mischen, sagt der Basler Ägyptologe, Seite 28
Fotos: Michael Würtenberg, Tania Reinicke/Laif
TagesWoche Zeitung aus Basel Gerbergasse 30 4001 Basel Tel. 061 561 61 61
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Editorial 25. November 2011
Alles für das Kind von Urs Buess, Co-Redaktionsleiter
Nino war Fünftklässler, gewitzt, glänzte nicht tun sollen. Mein Image war angeschlagen, mit guten Noten, obwohl er häufig fehlte. Er für den Rest meiner Dorflehrer-Zeit galt ich als war Bauernsohn, und man hatte mir als Jung- Warmduscher, der Kinder verweichlicht. lehrer in einem Bündner Dorf schon bei der Jahre später, an einem ganz anderen Urs Buess Anstellung klargemacht, dass Absenzen der Ort: Jeden Abend spielt ein Vater mit seinem Bauernkinder nachsichtig zu behandeln seien. Drei jährigen auf dem Kinderspielplatz. Der Denn sie waren in gewissen Jahreszeiten auch Kleine trägt einen Velohelm. Eines Abends Arbeitskräfte. Nun beobachtete ich während frage ich den Vater, wieso das so sei. Damit er einer von Ninos Absenzen durchs Schulzim- sich bei einem Sturz nicht wehtue natürlich. merfenster, wie der Abwesende auf einem Beide Anekdoten eignen sich hervorragend, um Trak tor mit Anhänger die Strasse herauftucker- im Kreis einer gemütlichen Runde eine heftige Überbehütete te. Nicht etwa auf dem Beifahrersitz, sondern Diskussion zu entfachen. Über Kindererziehung, und überforderte am Steuer. Er war allein unterwegs, transpor- Kinderbetreuung, Kinderförderung und Weite- Kinder Lesen Sie dazu tierte einige Harassen Bier ins Restaurant res mehr. Alle waren mal Kinder, viele waren Eltern, alle haben irgendwann mit Kindern zu den Artikel oberhalb des Schulhauses, denn sein Vater war auf Seite 6 – auch noch ein bisschen Fuhrhalter. tun – ob sie sie nun mögen oder nicht. und diskutieren Der Elfjährige, so stellte ich fest, hatte schon Noch selten wurde Kindern so viel Aufmerk- Sie mit auf einiges Geschick beim Traktorfahren, er schal- samkeit zuteil wie heute, noch nie wurden in tageswoche.ch. tete vor einer engen Kurve einen Gang tiefer, Kinder so viele Erwartungen projiziert. Die wie es sich gehörte, musste dabei aber mit besten Voraussetzungen für eine unbeschwerte beiden Füssen und vollem Gewicht auf die Kindheit sind das aber nicht. Oder vielleicht Kupplung stehen. Sie ging etwas schwer. Es reg- doch? Die TagesWoche macht Kinder zum te sich mein Verantwortungsbewusstsein und Thema dieser Ausgabe und ist gespannt auf ich intervenierte bei den Eltern. Das hätte ich Ihre Reaktion. Webcode: @agmeh
Gesehen von Tom Künzli Tom Künzli ist als Illustrator für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften tätig. Der 37-Jährige wohnt in Bern.
tageswoche.ch Aktuell im Netz
Mehr als eine Zeitung: Proteste gegen den Abbau: «Lo stimulatore cardiaco»: Das grüne Dreieck Die TagesWoche berichtet täglich Schülerinnen und Lehrer protestieren ge- Christoph Marthalers Oper hat am Frei- markiert Beiträge aktuell im Web. Das sind unsere Online- gen die Sparmassnahmen des Kantons tagabend Premiere am Theater Basel. aus der Web- Schwerpunkte der kommenden Tage: Basel-Landschaft in der Bildung. Die Ta- Lesen Sie die Kritik am Wochenende auf Community und gesWoche berichtet fortlaufend. tageswoche.ch. lädt Sie ein, sich Bilder aus Kairo von Pascal Mora: Die ägyptische Revolution geht weiter. Mitfiebern und twittern: Bei der Oma im Puff: einzumischen. Der Zürcher Fotograf Pascal Mora, der Der FCB trifft im Cup-Achtelfinal auf Eine Alterssiedlung im Rotlichtmilieu? den arabischen Frühling in Tunesien den FC Wil. Wer live dabei sein will, Das gibts im Kleinbasel. Wie Lotti Ram- und Libyen dokumentiert hat, ist für braucht nicht zu frieren. Die Tages- seier (79) mit dem Strich vor ihrer Haus- die TagesWoche nach Kairo gereist. Woche berichtet am Samstag ab türe umgeht, zeigt die Reportage von Seine Bilder sind exklusiv auf tages- 17.30 Uhr live aus dem Bergholz. Cédric Christopher Merkli und Martina woche.ch zu sehen. Twitter-Hashtag: #rotblaulive. Rutschmann. Am Montag online.
TagesWoche 47 3 Persönlich 25. November 2011
Gefordert: Ida Schaffter
Personifizierter Advent Ida Schaffter verkauft bei sich auf dem Hof in Metzerlen Geschenke – und lädt das Dorf zu besinnlichen Stunden ein.
Foto: Cedric Christopher Merkli
Gäbe es eine Casting-Show mit dem Titel «Die Regi- diesen Tagen gemeinsam mit einem Kollegen auch noch bis on sucht die personifizierte Adventszeit», hätte Ida Schaff- zu zehn Meter hohe Tannen mit dem Traktor nach Metzer- ter (51) gute Chancen auf einen Sieg. Die Bäuerin tut das, len und Mariastein transportiert und aufgestellt. Das was viele andere Menschen nur für sich tun, für eine ganze Schmücken überlässt er den Gemeindearbeitern und – im Gegend: Sie schmückt und bastelt, mit Tannenzweigen, Falle von Mariastein – den Mönchen des Klosters. Und zu Kerzen, Mistelzweigen, Kugeln, Holz, Efeu – mit allem, Hause auf dem Hof ist eben die eigene Frau, die schmückt was ihr zur Verfügung steht und für alle, die wie sie das Be- – manchmal bis tief in die Nacht. sinnliche suchen in den dunklen Tagen vor Weihnachten. Ida Schaffter hat es dem hauseigenen Eierkirsch zu ver- Ida Schaffters Adventsausstellung in ihrem Bauernhof danken, dass aus einem Räumchen beim Hof ein Lädeli in Metzerlen-Mariastein ist ein vorweihnachtlicher Höhe- und nun eben ein Adventsort für alle geworden ist: Das punkt für die Bewohner im Bezirk Dorneck. «Das muss Jugendschutzgesetz verbietet den Verkauf von Alkohol man gesehen haben, es ist einmalig», sagt Esther Rupp, ohne Kontrolle darüber, wie alt die Käufer sind. Darum eine ehemalige Nachbarin der Bäuerin. Sie wird des Lobes hat die Bäuerin das Angebot vor dem Hof – ein Markt- nicht müde, wenn sie sagt: «Es kommt alles aus Idas Herz stand mit Kässeli – nach innen ausgeweitet und kümmert heraus» – und Ida Schaffter selber scheint es fast ein we- sich nun persönlich um die Kunden. nig viel Lob zu sein; die Frau wirkt eher bescheiden. Der grosse Stress beginnt für sie erst jetzt, wo die Ad- Für Zurückhaltung ist jetzt aber die falsche Zeit. Ida ventsausstellung läuft: Täglich füllt sie Geschenkkörbe in- Schaffter und ihr Mann Kurt sind das Adventspaar der Re- dividuell und packt sie ein. Das kann bis Heiligabend um gion, obwohl er sagt, sie sei die treibende Kraft, er sei nur 19 Uhr dauern – doch dann ist Schluss. Dann tut Ida für die Bäume verantwortlich. Der Mann verkauft gut 100 Schaffter, was viele andere Menschen auch tun: feiern mit Christbäume aus eigenem Anbau und obendrein hat er in der Familie. Martina Rutschmann Webcode: @agmeg
TagesWoche 47 4 Inhalt 25. November 2011
WOCHENTHEMA REGION DIALOG Schöner Batzen für Regierungsräte Stimmen aus der Community Finanzdirektoren kassieren privat satte Honorare der Rheinsalinen 16 «Ich liebe die Krach um Spitäler auf müpfige Die Baselbieter Regierung scheitert mit ihren unrealistischen Plänen 17 Bericht erstattung Tierquälerische Machenschaften der @tageswoche. Zwerghunde sind beliebte Accessoires – viele werden illegal importiert 18 Eine Zeitung soll Stuttgart 21 hat Folgen für die Schweiz kritisch sein, Sagen unsere Nachbarn Ja zum neuen Bahnhof, dann wirds eng für die Neat 19 sonst muss ich
SCHWEIZ sie nicht lesen.» Arme Kinder! Zu viel Andy Wyss via Twitter Liebe und Fürsorge Natalie Rickli – die Hoffnung der SVP Die junge Winterthurer Nationalrätin macht SVP-Politik für ein urbanes Publikum erdrückt die Kleinen 20 Abenteuer, Streiche, Raufe- «Die Bericht- Grosser Marsch auf die Erbschaftsämter reien: Kinder müssen hand- Reiche wollen die drohende Erbschaftssteuer umgehen – das ist etwas peinlich erstattung der feste Er fahrungen machen, um 22 selbstständig zu werden. @tageswoche INTERNATIONAL Doch viele Eltern ziehen ihre zu FCB-Spielen Kleinen zu überbehüteten Ägyptens Muslimbrüder streben an die Macht Junge Gläubige emanzipieren sich von ihren Vätern und kämpfen für Demokratie ist schon nicht Narzissten heran, Seite 6 24 schlecht. Da sollte Deutschlands Sparkurs schadet der Wirtschaft sich die #BaZ INTERVIEW Immer mehr Menschen arbeiten zu wenig – die Konsumkraft schwindet 26 was überlegen.» TagesWoche: Was machen Dominik Stoecklin via Twitter Geisteswissenschaftler falsch? Antonio Loprieno: Sie sind zu wenig selbstkritisch. Mit SPORT mehr Reflexion würden sie Blaulicht merken, dass sie viel zu stark in der Defensive sind. Ihnen geht es immer nur um den Erhalt macht frisch, des Status quo. TagesWoche: Bleibt den Geisteswissenschaftlern Seite 34 anderes übrig, als zu verteidi- gen, was zu verteidigen ist? Der FC Basel bringt die Antonio Loprieno: Sie DIALOG Region zum Träumen: müssten wieder anfangen, Wochendebatte: Soll Einkaufen im Ausland erleichtert werden? Emotionen sind das einzige Vertrauen zu haben. Die Frage Emmanuel Ullmann (Grünliberale, BS) gegen Gerhard Schafroth (Grünliberale, BL) 37 Produkt, das der Club verkauft – muss lauten: Wie entwickle derzeit sehr erfolgreich, Seite 42 ich meine Wissenschaft weiter, Gastkommentar Strafrechtler Rico Nido über die wirkungslose bedingte Geldstrafe und nicht: Wie rette ich diese 38 KULTUR Professur? Bildstoff Basel, isch dyy Räp Henning Bock bannt den Charme von Buenos Aires in zauberhafte Fotos Das ganze Interview mit 39 verbyy?: Fünf Hip-Hopper dem Basler Uni-Rektor ziehen Bilanz, Seite 46 SPORT Antonio Loprieno ab Seite 28 Jacques Rogge im Gespräch AGENDA Der Präsident des Olympischen Komitees über Geld und Ethik im Sport 44 Kultwerk: «Cottonwood hill» KULTUR (1971), der ultimative Klang trip von Brainticket, Seite 61 Tomi Ungerer Der brillante Zeichner wird 80 – und ans Aufhören denkt er noch lange nicht 50 Wochenendlich in Wien, ein perfektes Ziel vor Weihnachten, Seite 62
Impressum, Seite 36
TagesWoche 47 5 Wochenthema 25. November 2011 Traurig schöne Kinderwelt Kinder kriegt man nicht mehr, Kinder plant man. Trotzdem ist das Leben für die Wunschkinder nicht lustiger geworden. Von Monika Zech
E ltern wollen immer das Beste für ihr Kind. Das und auch besser damit um. Doch so einfach ist dieser ser – und wertvoller – das Glück, wenn die ersehnte war schon vor 20 und vor 50 Jahren so. Das gilt auch Schluss nicht. Denn da ist zunächst einmal die Natur, Schwangerschaft eintritt. Nichts soll von nun an heute. Und noch nie wussten Eltern so viel über Kin- die manchen Frauen einen Strich durch ihren so dieses späte Glück trüben. dererziehung wie heute. Sie haben Ratgeber gelesen, wohlüberlegten Plan macht. Die Chance, auf natür- Kurse besucht, sich über die verschiedenen pädago- lichem Weg schwanger zu werden, nimmt nämlich gischen Konzepte informiert – und trotzdem läuft mit zunehmendem Alter ab. Bei einer 40-Jährigen ist einiges schief. Denn vielen Eltern genügt nicht mehr sie etwa achtmal kleiner als bei einer 25-Jährigen. Hecheln und pressen das Beste für ihr Kind, sie wollen, dass es das Beste Zum (Mutter-)Glück gibts jedoch die Reproduktions- ist von allen. Das Kind ist ihr Projekt, das um jeden medizin! Hormonbehandlungen, künstliche Befruch- will geübt sein Preis gelingen muss. Nichts wird dem Zufall überlas- tung, Embryonentransfers, in gewissen Ländern auch sen, keine Zeit vertrödelt, jede Gefahr aus dem Weg Leihmütter, machen möglich, was die Natur nicht geräumt. Mit der Folge, dass immer mehr Kinder sich vorgesehen hatte. Ich behaupte, noch nie war es so kompliziert schwan- nichts zutrauen oder – wie in den USA beobachtet – So ist es kein Wunder, dass sich die Zahl der ger zu sein wie heute. Egal ob die Schwangerschaft zu Narzissten gezüchtet werden (siehe Seite 12). zwecks Fortpflanzung behandelten Frauen in der durch künstliche Befruchtung zustande kam oder Schweiz zwischen 2002 und 2010 fast verdoppelt nicht, kaum kündigt der Teststreifen ein positives Er- hat, von 3467 auf 6492. Seit der Geburt von Louise gebnis an, gehts richtig los mit Angst und Unsicher- Brown, dem ersten Retortenbaby der Welt, vor gut heit. Weitere Tests sind angesagt. Nackenfaltenmes- Das Familienglück wird 30 Jahren wurden weltweit inzwischen vier Mil- sung, Bluttest, Fruchtwasserpunktion – alles, um lionen aus serhalb des Mutterleibs gezeugte Kinder ganz sicher zu sein, dass alles gut wird. Ganz sicher? auf später verschoben geboren. Eben nicht, denn bei jedem Testergebnis kommt Wenn sich etwas problemlos vermehren konnte, noch die Wahrscheinlichkeitsgrösse hinzu. Die Un- dann waren es Kinderwunschzentren. «Planen Sie sicherheit bleibt. Monatliche Ultraschallunter- Es fängt schon bei der Zeugung an. Seit Frau nicht Ihre Familie genau so, wie Sie Ihre Karriere planen», suchungen, vor 20 Jahren nur bei Risikoschwanger- mehr einfach so schwanger wird, ist sie älter, wenn heisst es dann etwa in der Werbung eines solchen schaften angesagt, sind heute normal. Die dabei sie daran denkt, dass sie jetzt gerne noch ein Kind be- Zentrums. Alles ist machbar. Theoretisch. Denn zum gemachten Bilder sind inzwischen dreidimensional – käme. Seit den 1970er-Jahren hat der Anteil der un- einen ist nicht alles erlaubt, was machbar wäre. In auch wenn das Kind jeweils etwa den Lärm einer ter 30-jährigen Mütter in der Schweiz stetig abge- der Schweiz etwa sind die Gesetze zur Fortpflan- durchfahrenden U-Bahn aushalten muss, die Unter- nommen, während der der 35-jährigen und älteren zungsmedizin im Vergleich mit anderen europäi- suchung gehört zum Standard. zunimmt. Na und? Älter heisst reifer, könnte man sa- schen Ländern streng. Und zum anderen sind die Die Bilder helfen, die Beziehung zum Ungeborenen gen, heisst: geht bewusster das Abenteuer Kind ein Behandlungen nicht immer erfolgreich. Umso grös- aufzubauen. Frau kann ja das Kind danach im Hapto-
TagesWoche 47 6 Wochenthema 25. November 2011
Immer im Mittelpunkt, adrett, sauber, präsentabel – aber stets Prinzessin spielen zu müssen, ist ganz schön anstrengend. Foto: Redux/Anzenberger
TagesWoche 47 7 Wochenthema 25. November 2011
Was für ein Treiben: keine Eltern weit und breit. Ohne Helm und Flügeli – nicht auszu denken, was hier passieren könnte! Foto: Bullspress/Mirrorpix
nomie-Kurs wieder beruhigen. Sie wissen nicht, was sie den Coiffeurtermin absagen solle, sie habe grad sich insgesamt wohl zum Besseren gewandelt. Wäh- das ist? Das ist das, was wahrscheinlich schon meine erfahren, dass Haarfärbemittel das Ungeborene rend die Generation unserer Grosseltern noch glaub- Grossmutter, meine Mutter und auch ich während der schädigen könnten. te, eine Erziehung ohne hin und wieder eine Tracht Schwangerschaften gemacht haben, aber intuitiv und Eine fast religiöse Entscheidung ist die Frage nach Prügel sei eigentlich gar keine Erziehung, wird heute gratis: hin und wieder über den Bauch streicheln und dem Wie und Wo gebären. Haus- oder Spitalgeburt, das Schlagen von Kindern zu Recht ge ächtet, in mit dem kleinen Wurm da drin ein bisschen reden. im Wasser, sitzend, liegend oder stehend. Mit Deutschland und Österreich ist es sogar gesetzlich Heute ist Haptonomie einer von unzähligen Kursen, schmerzstillenden Mitteln oder ohne, per Kaiser- verboten. die werdenden Eltern angeboten werden und die viele schnitt oder natürlich. In Schwangerschaftsforen In der Schweiz wurden Versuche von Kinder- glauben macht, sie absolvieren zu müssen. Bauchtanz werden die verschiedenen Methoden zuweilen mit schützern, die körperliche Strafe auch hierzulande für Schwangere, Hypnose-Therapie, Yoga – es gibt al- einer Heftigkeit diskutiert, als ob die ganze Zukunft mit einem Verbot zu belegen, von rechtskonservati- les Denkbare und Undenkbare. des Kindes davon abhängen würde. ven Kreisen stets abgeblockt. Mit dem Argument: Ein Werdende Väter schnallen sich in speziell für sie paar hinter die Ohren oder ein Klaps auf den Hintern ausgerichteten Kursen Bäuche um, damit sie auch ein habe noch keinem geschadet. In diesen Kreisen ver- bisschen schwanger sind. Überhaupt, ein Paar, das weist man denn auch gerne, sobald irgendeine prob- heute keinen Geburtsvorbereitungskurs macht, gilt Drillmütter haben lematische Entwicklung bei Kindern und Jugend- geradezu als verantwortungslos. Denn richtig gebä- lichen öffentlich diskutiert wird, auf diese ren will gelernt sein, das ist uns schliesslich nicht in Hochkonjunktur «antiautoritäre» Erziehung der 68er. Die heutige die Wiege gelegt worden. Hecheln, pressen kann nur, Wohlfühl- und Kuschelpädagogik habe damit Einzug wer das genügend geübt hat. gehalten, tönt die immergleiche Leier. Wissen hilft gegen Angst, sollte man meinen. Nun ist das Kind da, es ist gesund. Alles ist gut gegan- Dabei hätte gerade A. S. Neill, der 1973 verstorbene Doch was Kinderkriegen und Kinderhaben betrifft, gen, seine Eltern sind glücklich. Das war schon immer schottische Pädagoge, der als «Vater» der sogenannt scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Eine Frauen- so und ist heute noch so. Auch die Sorge um das Wohl- antiautoritären Erziehung in die Geschichte einging, ärztin erzählte mir einmal, wie oft sie Schwangere ergehen dieses kleinen Wesens ist und war wohl allen keine Freude an der heutigen Entwicklung. Der der- beruhigen müsse, weil diese etwas gelesen hätten, liebenden Eltern gemein. Und doch ist vieles anders zeit grassierende Förderwahn wäre ihm ebenso ein das sie verunsichere. Eine beispielsweise, die ein geworden. Vieles besser: Die Kindersterblichkeit ist – Graus wie die angstgesteuerten Eltern, die Helikop- Möckli Parmesan gegessen hatte: Käse aus Rohmilch zumindest in der westlichen Welt – dank Wohlstand tern gleich ständig über ihren Kindern kreisen. Neill sei doch aber strengstens verboten – ob sie notfall- und verbesserter Gesundheits ver sorgung enorm zu- vertrat die Ansicht, dass Kinder von Natur aus Freu- mässig vorbeikommen könne. Eine andere fragte, ob rückgegangen. Auch die Erziehungsmethoden haben de am Lernen haben. Dass sie diese Freude aber ver-
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Steril und abgepackt. Kein Schmutz, keine Gefahr, kein Abenteuer. Für Puppen ist das okay, aber für Kinder? Foto: Redux/Laif
lören, wenn Angst vor schlechten Noten und Sank- lich. Diese Liebe, schreibt der bekannte, diesen Mai ihre Kids ebenso stylen können. Die Vorbilder-Kids tionen sie beherrsche. Es würde ihn schaudern, wenn verstorbene deutsche Erziehungswissenschaftler haben übrigens nie eine Schnudernase, auch keine er wüsste, dass chinesische und andere Drill-Mütter Wolfgang Bergmann in seinem wahrscheinlich letz- aufgeschürften Knie oder Dreck auf der Designer- Hochkonjunktur haben. Dass Kinderkrippen beson- ten Buch «Lasst die Kinder in Ruhe!», scheine jedoch hose. Erkältet? Husten? Durchfall? Beim Spielen ders gefragt sind, die ein spezielles Förderprogramm oft wie erstickt unter den von Eltern selbst nicht einen Arm gebrochen? O Gott! Wenn Klein-Suri so für die Kleinen anbieten. Frühchinesisch oder Früh- durchschauten Leistungszwängen. Die da lauten: etwas passierte, würde man bestimmt lesen können, englisch zum Beispiel. Er würde sich im Grab um- «Mein Kind muss ganz toll sein», so Bergmann, dass Mama und Papa deswegen jemanden mit einer drehen, wenn er lesen müsste, wie kürzlich in einem «sonst wird es seine Zukunft nicht bewältigen.» Das Klage in Millionenhöhe bestrafen. Beitrag im «Magazin» eine Mutter voller Stolz ihre seelische Leben vieler Kinder sei zu grossen Teilen «Tigermutterqualitäten» zum Besten gab. Die ihrer auf reiner Repräsentation aufgebaut, «auf sauberer siebenjährigen Tochter ein 45-Stunden-Woche-Lern- und glitzernder Selbstdarstellung (...)». pensum abverlangt, damit sie dereinst «im Konkur- In seiner extremsten Art zeigt sich das bei der Immer und überall kreisen renzkampf um einen Platz in einer guten Universität aktuellen Hollywood-Prominenz. Während noch vor bestehen» kann. zehn, zwanzig Jahren Stars mit Kindern kaum zu se- die Helikopter-Eltern hen waren, ist die Regenbogenpresse heute vollge- pflastert mit Bildern und Geschichten vom Nach- wuchs aus der Glitzerwelt. Und das scheint sich gut Auch wenn hierzulande solche Klagen unmöglich Karriere-Kids – verloren zu verkaufen, denn sonst wäre das deutsche Verlags- sind, der Trend, jede nur erdenkliche Gefahr für die haus Gruner + Jahr wohl nie auf die Idee gekommen, Kinder zu eliminieren, ist längst bei den schweize- in der Glitzerwelt das Promimagazin «Gala» noch mit einem «Gala- rischen Eltern angekommen. Es ist nicht lange her, Kids» zu ergänzen. Wo zum üblichen Gala-Blick ins da probten besorgte Eltern in Basel den Aufstand, Familienleben der Brangelinas, Beckhams, Klum- weil in der Nähe eines Spielplatzes ein Strauch mit Doch was hat der momentane Förderwahn mit der Seals und wie sie alle heissen ein paar Extraseiten giftigen Beeren gepflanzt war. Obwohl heute kaum ebenfalls verbreiteten Überbehütung zu tun? Oft geboten werden. noch ein Kind ohne Begleitung eines Elternteils auf geht beides Hand in Hand: mit dem einen Ziel, dass Ganz wichtig jeweils die Information, welches einem Spielplatz rumtobt, der Strauch musste weg. dieses so sorgfältig geplante kleine Wesen einst Zeug- Modelabel Mami, Papi und Kids – ja, die heutigen Oder durch einen unüberwindlichen Zaun von den nis hervorragender Eltern sein wird. Von Eltern, die Kinder nennt man Kids, wenn man nicht von vorges- Kindern getrennt werden, ich weiss das Ergebnis des alles richtig gemacht haben. Aus lauter Liebe natür- tern sein will – tragen. Damit gewöhnliche Eltern Aufstands nicht mehr genau. Ich fragte mich nur da-
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