Einsicht 08 Bulletin des Instituts

Fritz Bauer Institut Frühe Holocaustforschung Geschichte und MMitit BeiträgenBeiträgen vonvon DDanan DDiner,iner, Wirkung des Holocaust KKlauslaus KKempterempter uundnd MagnusMagnus BrechtkenBrechtken LESERZUFRIEDENHEITS-GARANTIE Editorial

nennen: Léon Poliakov, Philip Friedman, Szymon Datner, Janusz Gumkowski, Kazimierz Leszczyński sowie auch Wolfgang Scheffl er. Unsere Serie mit Beiträgen zu Leben und Wirken Fritz Bauers setzt Dieter Schenk (Schenklengsfeld/Berlin) mit seinem Text fort. Auf der Basis der Dokumente, die sich über die Umstände von Bau- ers Tod erhalten haben, versucht Schenk Klarheit über diesen viel diskutierten überraschenden Tod von Bauer zu gewinnen. Monique Eckmann (Genf) befasst sich mit pädagogischen Strategien gegen aktuelle Formen des Antisemitismus. Fast selbst- verständlich wird oft erwartet, dass historische Bildung über den Holocaust eine solche Strategie sei. Eckmann stellt aus ihrer Sicht als Professorin für Soziologie an der Fachhochschule für soziale Arbeit in Genf andere Strategien vor und begründet diese anhand ihrer Ana- lyse der heute virulenten Formen des Antisemitismus. Dabei ist in ihrer Argumentation nicht zuletzt eine Abgrenzung vom Rassismus Liebe Leserinnen und Leser, grundlegend, da die beiden Phänomene im pädagogischen Diskurs und in der Praxis regelmäßig zu wenig unterschieden werden. Saul Friedländer wird am 11. Okto- Anlässlich der Kontroverse um die religiöse Beschneidung von ber 2012 seinen 80. Geburtstag feiern. jüdischen Säuglingen und muslimischen Kindern – ein Streit, der Geboren im Jahre 1932 in Prag, ist nirgendwo so heftig geführt wird wie in Deutschland – bringen wir Friedländer nur mit knapper Not den einen wichtigen Debattenbeitrag von Michael Brenner (München). deutschen Mördern entkommen. Seine Eltern, die ihren Sohn in Frankreich der In tiefer Trauer verabschieden wir uns von zwei Menschen, die dem Obhut von Nonnen überlassen mussten, Institut und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Kollegen versuchten vergeblich, in die Schweiz und Freunde nahegestanden haben. Im hohen Alter von 88 Jahren zu fl iehen. An der Grenze wurden sie ging Arno Lustiger sel. A. von uns. Der Vorsitzende unseres Stif- abgewiesen und dadurch in den Tod tungsrates, Stadtrat Felix Semmelroth, würdigt in seinem Nachruf geschickt. Friedländer studierte in den den Historiker des jüdischen Widerstands. Vollkommen unerwartet 1950er Jahren in Paris und Genf und ist unser Kollege und Freund Ronny Loewy verstorben. Das Insti- promovierte 1963 mit einer Studie über die amerikanische Außenpo- tut wird bestrebt sein, von ihm begonnene Projekte zu vollenden. litik. Im Jahr 1990 entschloss er sich, eine umfassende Darstellung Detlev Claussen gedenkt in seinem Nachruf seines Freundes und des Dritten Reichs und der Juden zu schreiben. Das war nach seiner unseres Kollegen. Auseinandersetzung mit Martin Broszat, der die Wahrnehmung der Shoah durch die jüdischen Überlebenden und ihre Nachkommen als Prof. Dr. Raphael Gross »mythische Erinnerung« qualifi zierte, die eine sachliche und rati- am Main, im September 2012 onale Geschichtsschreibung behindere. Mit seiner in zwei Bänden vorgelegten integrierten Geschichte des Holocaust (München 1998, 2006) hat Friedländer gezeigt, dass Broszat sich irrte. Dan Diner (Leipzig) würdigt in seinem Beitrag zu Ehren von Saul Friedländer dessen großes Œuvre. Die Dokumentation und Erforschung des deutschen Mensch- heitsverbrechens begann bereits zur Tatzeit. Jüdische Historiker Lesen Sie taz.die tageszeitung wie Emanuel Ringelblum sammelten Dokumente, die Verfolgten fünf Wochen lang für nur 10 Euro, hielten in Tagebüchern und Chroniken das Geschehen fest. Der inklusive einer Ausgabe von Nachwelt sollten die am jüdischen Volk begangenen Verbrechen Le Monde diplomatique. bekannt werden. Das Angebot endet automatisch. In ihren Beiträgen würdigen Magnus Brechtken (München) www.taz.de/abo-garantie und Klaus Kempter (Heidelberg) die Arbeiten von Joseph Wulf und [email protected] Raul Hilberg. Viele andere frühe Holocaustforscher wären noch zu T (030) 2590 2590

Einsicht 08 Herbst 2012 Foto: Helmut Fricke, Frankfurter Allgemeine Zeitung 1

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Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main Exilforschung in der edition text + kritik 88 Angebote und Kontakt 88 Filme: Von Frankfurt nach Tel Aviv / Zeitzeugen-Videos 89 Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerungen und Geschichte 90 Lebendige Geschichte. Zeitzeugengespräche in der Budge-Stiftung

n e u Nachrichten und Berichte 30 EXILFORSCHUNG – Exilforschungen Ein internationales Jahrbuch Information und Kommunikation im historischen Band 30 / 2012 Prozess Fritz Bauer Institut Einsicht Aus dem Institut Exilforschungen im historischen Prozess 91 Der Nachgeborene. Zum Tod von Ronny Loewy / Im Überblick Forschung und Vermittlung 370 Seiten, € 35,– Detlev Claussen ISBN 978-3-86916-211-9 4 Das Institut / Mitarbeiter / Gremien Frühe Holocaustforschung 96 Nachruf: Prof. Dr. h.c. Arno Lustiger / Felix Semmelroth – Saul Friedländer zum 80. Geburtstag – 98 Auszeichnug: Robert-Goldmann-Stipendium 2012 Die Exilforschung ist auf dem Wege der Historisierung. Eine 16 »Fassungslosigkeit beschreiben«. Saul Friedländers Werk 100 Auszeichnug: Buber-Rosenzweig-Medaille 2013 übergreifende Bilanz steht indes noch aus. Mit Band 30 trägt zum Holocaust / Dan Diner 100 Aufruf: Leihgaben für Ausstellung zu Fritz Bauer gesucht das Jahrbuch – nach drei Jahrzehnten seines Erscheinens – 24 Vorläufer, nicht Wegbereiter: Die dokumentarische einige Bausteine dazu zusammen. Veranstaltungen Geschichtsschreibung von Joseph Wulf / Klaus Kempter Aus Kultur und Wissenschaft Halbjahresvorschau 32 »It is my intention to make this the defi nitive analysis 101 Berlin in Tel Aviv. Der Regisseur Arnon Goldfi nger über of the great Jewish catastrophe«. Raul Hilberg und die seinen Film DIE WOHNUNG / Igal Avidan n e 6 Lehrveranstaltungen Entwicklung der Holocaustforschung / Magnus Brechtken 104 Internetlexikon: Jüdische Displaced Persons in Bayern u 8 Tagung, Vorträge, Gespräche, Lehrerfortbildung, 105 Yfaat Weiss: Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken

Wanderausstellung Beiträge zu Leben und Wirken Fritz Bauers 106 Ausstellung über die Schicksale der Displaced Persons Inge Hansen-Schaberg Thöner Wolfgang (Hg.) Adriane Feustel 38 Die Todesumstände von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 106 Götz Aly: Ludwig-Börne-Preis 2012 (1903–1968) / Dieter Schenk 106 Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne ENTFERNT Entfernt Frauen des Bauhauses während der NS-Zeit – Pädagogik Frauen des Bauhauses Verfolgung und Exil Neuerscheinungen 44 Gegenmittel. Bildungsstrategien gegen Antisemitismen / während der NS-Zeit Aktuelle Publikationen des Instituts Monique Eckmann Verfolgung und Exil Ausstellungsangebote (Frauen und Exil, Band 5) etwa 250 Seiten, ca. € 26,– 12 Katharina Stengel: Hermann Langbein. Ein Auschwitz- Debatte Wanderausstellungen des Instituts ISBN 978-3-86916-212-6 Überlebender in den erinnerungspolitischen Konfl ikten 50 Vermeintliche Barbaren. Streit um die religiöse der Nachkriegszeit Beschneidung / Michael Brenner 107 Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung Band 5 stellt Frauen vor, die in Malerei, Grafik, Bildhauerei, 12 Werner Renz (Hrsg.): Interessen um Eichmann. Israelische der Juden in Hessen 1933–1945 Bühnenarbeit, Fotografie und Architektur ihre Darstel- Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften 108 Die IG Farben und das KZ Buna/Monowitz lungsfelder sahen und vom Bauhaus beeinflusst wurden 13 Fritz Bauer Institut, Sybille Steinbacher (Hrsg.): Holocaust 108 Ein Leben aufs neu. Das Robinson-Album oder sich von ihm emanzipierten. und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs 13 Monika Boll und Raphael Gross (Hrsg.): »Ich staune, dass Rezensionen Sie in dieser Luft atmen können«. Jüdische Intellektuelle Buch- und Medienkritiken in Deutschland nach 1945 13 Fritz Backhaus: Mayer Amschel Rotschild. Ein 52 Rezensionsverzeichnis: Liste der besprochenen Bücher 109 Publikationen des Fritz Bauer Instituts Levelingstraße 6 a [email protected] biografi sches Porträt 54 Rezensionen: Aktuelle Publikationen Jahrbuch / Wissenschaftliche Reihe / Schriftenreihe u.a. 81673 München www.etk-muenchen.de zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 112 Impressum

2 Inhalt Einsicht 08 Herbst 2012 3 Fritz Bauer Institut Im Überblick

Mitarbeiter und Arbeitsbereiche

Direktor Prof. Dr. Raphael Gross

Administration Dorothee Becker (Sekretariat) Werner Lott (Technische Leitung und Mediengestaltung) Manuela Ritzheim (Leitung des Verwaltungs- und Projektmanagements)

Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Dr. Dmitrij Belkin (Zeitgeschichtsforschung) Dr. Christoph Dieckmann (Zeitgeschichtsforschung) Anne Gemeinhardt (Zeitgeschichtsforschung) Das Fritz Bauer Institut Prof. Dr. Werner Konitzer (stellv. Direktor, Forschung) Dr. Jörg Osterloh (Zeitgeschichtsforschung) Das Fritz Bauer Institut ist eine interdisziplinär ausgerichtete, un- Dr. Katharina Rauschenberger (Programmkoordination) abhängige Forschungs- und Bildungseinrichtung. Es erforscht und Dr. Wolfgang Treue (Zeitgeschichtsforschung) dokumentiert die Geschichte der nationalsozialistischen Massen- verbrechen – insbesondere des Holocaust – und deren Wirkung bis Pädagogisches Zentrum in die Gegenwart. des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt Das Institut trägt den Namen Fritz Bauers (1903–1968) und ist Dr. Wolfgang Geiger seinem Andenken verpfl ichtet. Bauer widmete sich als jüdischer Monica Kingreen Stiftungsrat Wissenschaftlicher Beirat Remigrant und radikaler Demokrat der Rekonstruktion des Rechts- Gottfried Kößler (stellv. Direktor, Pädagogik) systems in der BRD nach 1945. Als Hessischer Generalstaatsanwalt Manfred Levy Für das Land Hessen: Prof. Dr. Joachim Rückert hat er den Frankfurter Auschwitz-Prozess angestoßen. Dr. Martin Liepach Volker Bouffi er Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main Am 11. Januar 1995 wurde das Fritz Bauer Institut vom Land Ministerpräsident Prof. Dr. Moritz Epple Hessen, der Stadt Frankfurt am Main und dem Förderverein Fritz Archiv und Bibliothek Eva Kühne-Hörmann Stellv. Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main Bauer Institut e.V. als Stiftung bürgerlichen Rechts ins Leben geru- Werner Renz Ministerin für Wissenschaft und Kunst Prof. Dr. Wolfgang Benz fen. Seit Herbst 2000 ist es als An-Institut mit der Goethe-Universität Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen assoziiert und hat seinen Sitz im IG Farben-Haus auf dem Campus Freie Mitarbeiter, Gastwissenschaftler, Doktoranden Für die Stadt Frankfurt am Main: Universität Berlin Westend in Frankfurt am Main. Dagi Knellessen Peter Feldmann Prof. Dr. Dan Diner Forschungsschwerpunkte des Fritz Bauer Instituts sind die Be- Ursula Ludz Oberbürgermeister Hebrew University of Jerusalem/Simon-Dubnow-Institut für reiche »Zeitgeschichte« und »Erinnerung und moralische Auseinan- Dr. Ingeborg Nordmann Prof. Dr. Felix Semmelroth jüdische Geschichte und Kultur e.V. an der Universität Leipzig dersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust«. Gemeinsam mit Katharina Stengel Dezernent für Kultur und Wissenschaft Prof. Dr. Atina Grossmann dem Jüdischen Museum Frankfurt betreibt das Fritz Bauer Institut The Cooper Union for the Advancement of Science and Art, New York das Pädagogische Zentrum Frankfurt am Main. Zudem arbeitet das Für den Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.: Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber Institut eng mit dem Leo Baeck Institute London zusammen. Die aus Rat der Überlebenden des Holocaust Brigitte Tilmann Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main diesen institutionellen Verbindungen heraus entstehenden Projekte Vorsitzende Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp sollen neue Perspektiven eröffnen – sowohl für die Forschung wie Trude Simonsohn (Vorsitzende und Ratssprecherin) Herbert Mai Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf für die gesellschaftliche und pädagogische Vermittlung. Siegmund Freund 2. Vertreter des Fördervereins Krystyna Oleksy Die Arbeit des Instituts wird unterstützt und begleitet vom Wis- Dr. Heinz Kahn Staatliches Museum Auschwitz- Birkenau, Oświęcim senschaftlichen Beirat, dem Rat der Überlebenden des Holocaust Inge Kahn Für die Goethe-Universität Frankfurt am Main: Prof. Dr. Walter H. Pehle und dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. Dr. Siegmund Kalinski Prof. Dr. Werner Müller-Esterl S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main Prof. Dr. Jiří Kosta Universitätspräsident Prof. Dr. Peter Steinbach Katharina Prinz Prof. Dr. Luise Schorn-Schütte Universität Mannheim Abb.: Haupteingang des IG Farben-Hauses auf dem Campus Westend Dora Skala Dekanin, Fachbereich Philosophie und Prof. Dr. Michael Stolleis der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Foto: Werner Lott Tibor Wohl Geschichtswissenschaften Goethe-Universität Frankfurt am Main

4 Fritz Bauer Institut Einsicht 08 Herbst 2012 5 Veranstaltungen Halbjahresvorschau

Lehrveranstaltung Lehrveranstaltung Lehrveranstaltung Arbeitsfeld Museum Jüdisches Leben und Der Nationalsozialismus Zum 100. Geburtstag: Die Inszenierung jüdischer Verfolgung in der NS-Zeit in Schulbuch und Die erste biografische und Geschichte als zwei unterschiedliche Bildungsmedien werkgeschichtliche Themen im Unterricht der Würdigung Joseph Wulfs Sabine Kößling, Dr. Martin Liepach, Dr. Katharina Grundschule Dr. Wolfgang Geiger, Dr. Martin Liepach, Übung, Rauschenberger, Übung/Blockseminar, Einführungs- freitags, 14.00–16.00 Uhr (26. Oktober 2012 bis veranstaltungen: 31. Oktober und 7. November 2012, 15. Februar 2013), Goethe-Universität Frankfurt, 16.00–18.00 Uhr, Goethe-Universität Frankfurt, Campus Westend, IG Farben-Haus, Raum 3.501 Monica Kingreen, Seminar, donnerstags, 14.00–16.00 Campus Westend, Casino, Raum 1.801, Uhr (25. Oktober 2012 bis 14. Februar 2013), Goethe- Blockveranstaltungen: 1. und 2. Dezember 2012 Universität Frankfurt, Campus Bockenheim, Neue sowie 19. und 20. Januar 2013, 11.00–15.30 Uhr im Mensa, Raum 123 In dieser Übung sollen die Jüdischen Museum Frankfurt, Untermainkai 14/15 einschlägigen Geschichts- erscheint im November lehrbücher im Hinblick auf die Themati- 2012 Lehrveranstaltung Lehrveranstaltung Die Präsentation von Objek- In diesem Seminar wer- sierung des Nationalsozialismus und damit ten in Museen, ihre Auswahl den die Möglichkeiten und verbundener Themen analysiert werden. Ein »Arbeit macht frei« Kunst und Kulturpolitik und ihre Einbettung in ein Narrativ schaf- Grenzen ausgelotet, mit älteren Grundschul- besonderer Schwerpunkt wird dabei auf der Zur Bedeutung von in beiden deutschen Staaten fen Kontexte und evozieren eine spezifi sche kindern jüdisches Leben in Vergangenheit Darstellung der jüdischen Perspektive, des Perspektive auf ein Objekt. Im Falle der jü- und Gegenwart sowie die Verfolgung der Antisemitismus und des Verfolgungsaspekts »Arbeit« in national- im Schatten der NS-Ver- dischen Museen können diese Objekte ganz Juden in der NS-Zeit zu thematisieren. Ein- bis zum Holocaust liegen. Eingangs der Ver- sozialistischen Ethiken gangenheit 1945–1989 unterschiedlicher Natur sein: Vom religiösen schlägige hilfreiche Kinderbücher werden anstaltung erfolgt eine methodische Einfüh- Ritualgegenstand über Dokumente bis zu vorgestellt und kritisch betrachtet. rung zur Schulbuchanalyse. Prof. Dr. Werner Konitzer, Seminar, dienstags, Dr. Jörg Osterloh, Übung, mittwochs, 14.00–16.00 persönlichen Erinnerungsstücken haben sie Mehrere Exkursionen zu Stätten Frank- Der Nationalsozialismus ist die für 10.00–12.00 Uhr (23. Oktober 2012 bis 12. Februar Uhr (24. Oktober 2012 bis 13. Februar 2013), Goethe- sehr verschiedene Entstehungs-, Nutzungs- furter jüdischen Lebens heute und in der Deutschland und Europa einschneidendste 2013), Goethe-Universität Frankfurt, Campus Universität Frankfurt, Campus Westend, IG Farben- und Provenienzgeschichten, die für eine Vergangenheit sind ebenso vorgesehen und folgenschwerste Epoche der jüngeren Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Band 18 Westend, IG Farben-Haus, Raum 501 Haus, Raum 0.457 Präsentation im Museum interessant sein wie die Begegnung mit einem Zeitzeugen. Geschichte. Das Problem des Erinnerns und 2012. ca. 420 Seiten mit ca. 11 Abb., gebunden ca. € 64,95 D / € 66,80 A können. Jüdische Museen können religi- (Bitte für die Exkursionen etwas mehr Zeit Gedenkens im öffentlichen Raum, der Fra- ISBN 978-3-525-36956-2 »Arbeit« ist ein wichtiger 1945 lag auch das Kultur- ons-, kunst- oder kulturhistorische Einrich- einplanen.) An einem Freitagabend werden ge nach Schuld und Verantwortung sowie Der Auschwitz-Überlebende Joseph Begriff im Gefl echt der ver- leben in Deutschland in tungen sein. Aber sind sie auch Holocaust- wir in einer Synagoge an einem Gottesdienst des adäquaten Umgangs mit diesem Thema Wulf (1912–1974) war in Deutschland schiedenen nationalsozialistischen Ideologi- Trümmern: Tausende Künstler waren aus po- Museen? Und wie weit dürfen sie in die teilnehmen. zwischen Historisierung und Aktualisierung, der erste Historiker, der Bücher zum en. Dennoch hat er in den neueren Diskussio- litischen und »rassischen« Gründen aus dem Gegenwart reichen? In der Übung wird es Ein Kinderstadtführer zum früheren vor allem in der Schule, wirft immer wie- Holocaust publizierte. Um sein Leben nen über nationalsozialistische Moral bisher »Dritten Reich« emigriert, eine unbekannte darum gehen, verschiedene Objektgruppen jüdischen Leben in einer hessischen Klein- der neue Diskussionen auf. Schullehrbücher und Werk kreiste vor wenigen Jahren wenig Beachtung gefunden, während ihm Zahl ermordet worden. Zudem waren zahl- kennenzulernen, die Mehrdimensionalität stadt, der auch die Einschnitte für die jüdi- sind bedeutsame Medien der Geschichts- eine Kontroverse, ob die bundesdeut- in den älteren, auf die marxistische Theorie reiche Künstler wegen ihrer Nähe zum NS- von Objekten zu erfassen und sich die Per- schen Familien durch die NS-Verfolgung kultur, die einer praxisorientierten Kritik sche Zeitgeschichtsforschung natio- nalapologetisch war und die jüdische zurückgreifenden Analysen der Frankfurter Regime politisch belastet und ein erheblicher spektiven zu vergegenwärtigen, die in Be- beschreibt, wird vorgestellt. Für die Spuren- unterzogen werden müssen. Geschichtserfahrung – die Perspektive Schule, vor allem in der Antisemitismus- Teil der Kultureinrichtungen war im Krieg zug auf das jeweilige Objekt sinnvoll sind. suche in der Region zum früheren jüdischen Die Analyse der Schulgeschichtsbücher der Opfer – systematisch ausklam- theorie Horkheimers und Adornos, größere zerstört worden. Vor diesem Hintergrund Dabei werden wir uns mit wichtigen Ab- Leben werden Hinweise gegeben. Weitere wird daher Aspekte der historisch-sachli- merte. Klaus Kempter beleuchtet diese Bedeutung beigemessen wurde. Anhand ei- musste nach dem Ende des »Dritten Reiches« schnitten der deutsch-jüdischen Geschichte Möglichkeiten der Annäherung für ältere chen Faktizität und ihrer politisch-mora- Frage mit seiner biografischen Studie ner Lektüre von Texten aus dem National- die kulturelle Szene wieder aufgebaut werden. beschäftigen, und es wird auch eine Frage Grundschulkinder an diese Themen, wie lischen Bewertung mit den Formen ihrer neu. Er zeichnet das Porträt eines sozialismus, sowohl Alltagstexten wie theo- Die Übung fragt nach den Zäsuren und sein, wie ein Museum vorgeht, wenn die beispielsweise das Gedenkprojekt »Stol- didaktischen Umsetzung im Lehrbuch (Au- Außenseiters, dessen Beitrag zur Auf- retischen Texten, soll versucht werden, den Kontinuitäten im Kulturleben ab 1945. Im Fo- Objekte fehlen. persteine«, werden kritisch refl ektiert. torentext, Text- und Bildquellen, Arbeitsauf- klärung über die NS-Vergangenheit in seiner Tragweite erst in jüngerer Zeit Begriff in den Kontext nationalsozialistischer kus steht die kulturelle Entwicklung in beiden Beschränkte Teilnehmerzahl, Anmel- Anmeldungslisten werden am 15. Ok- träge) verknüpfen. Daneben sollen andere wahrgenommen wird. Ideologie einzuordnen. Darüber hinaus soll deutschen Staaten bis hin zum Fall der Berli- dung erforderlich! Anmeldung per E-Mail an: tober 2012 von 9.00–13.00 Uhr im Raum Bildungsmedien (Internetportale etc.) in die die Genese des Begriffs nachgezeichnet wer- ner Mauer. Besonderes Augenmerk soll dabei [email protected] IG 3.557 des Seminars für die Didaktik der Analyse einbezogen werden. den. Es soll versucht werden zu analysieren, der Auseinandersetzung mit dem NS-Regime Geschichte ausgelegt. Persönliches Erschei- welche Bedeutung der Begriff für national- und dem Holocaust gelten, die insbesonde- nen ist die Voraussetzung. sozialistische Ethik hatte, und nach Kontinu- re in der DDR immer auch im Zeichen der V&R 37070 Göttingen [email protected] www.v-r.de itäten und Diskontinuitäten gefragt werden. deutsch-deutschen Systemkonkurrenz stand.

6 Veranstaltungen Einsicht 08 Herbst 2012 7 Vortrag Tagung Sonntag, 21. Oktober 2012 Gespräch Vortragsreihe beider noch in der Rechtsphilosophie und 18.00 Uhr Begrüßung: Raphael Gross Staatsrechtslehre und der Moralphilosophie Elisabeth Hollender Fritz Bauer in der 18.10 Uhr Grußwort: Jörg-Uwe Hahn, Hes- Geschichte der Juden Recht und Moral in Deutschland nach 1945 eine Rolle? Judaistik in Frankfurt: deutsch-jüdischen sischer Justizminister in Deutschland von 1945 im Nationalsozialismus In der Vorlesungsreihe wird das Ver- Neue Perspektiven Nachkriegsgeschichte 18.30 Uhr Detlev Claussen: »Unter uns. Die bis zur Gegenwart und in der Nachkriegszeit hältnis von Recht und Moral im Natio- Remigranten Fritz Bauer, Max nalsozialismus und in der Zeit nach dem Horkheimer und Theodor W. Ein Gespräch mit Michael Nationalsozialismus alternierend von Montag, 1. Oktober 2012, 19.00 Uhr, Jüdisches 21. und 22. Oktober 2012, Goethe-Universität Adorno treffen sich in Frankfurt« Brenner, Lena Gorelik Montags, 5. November 2012 bis 4. Februar 2013, Rechtstheoretikern und Moralphilosophen Museum Frankfurt, Untermainkai 14/15. Frankfurt, Campus Westend, Grüneburgplatz 1, und Salomon Korn (die Termine der einzelnen Vorträge siehe unten), dargestellt und analysiert. Eine gemeinsame Veranstaltung des Jüdischen Casino-Gebäude am IG Farben-Haus, Raum 1.801 Montag, 22. Oktober 2012 Goethe-Universität Frankfurt, Campus Westend, Museums, des Fritz Bauer Instituts, des Martin-Buber- Grüneburgplatz 1, Casino-Gebäude am Lehrstuhls für Jüdische Religionsphilosphie und des 10.00 Uhr Katharina Stengel: »H.G. Adler Sonntag, 4. November 2012, 18.00 Uhr, IG Farben-Haus, Raum 1.801 Veranstaltungstermine Präsidiums der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Fritz Bauer gehört zu den und Hermann Langbein: Die Jüdisches Museum Frankfurt, Untermainkai 14/15 › 5. November 2012, 18.00 Uhr bedeutendsten und juris- schwierige Rolle der Verfolgten Prof. Dr. Oliver Lepsius (Bayreuth/Chica- Das Frankfurter Seminar tisch einfl ussreichsten deutsch-jüdischen in den NS-Prozessen« Unter dem Titel Geschichte Nationalsozialistische go): »Moral und Recht in den Anfängen für Judaistik wurde 1969 als Remigranten der bundesrepublikanischen 11.15 Uhr Katharina Rauschenberger: der Juden in Deutschland Rechtstheorien hoben den des nationalsozialistischen Rechts« dritter Lehrstuhl für Judaistik an einer deut- Geschichte. Diese Tagung wird erstmals den »Recht schaffen und politisch von 1945 bis zur Gegenwart (C.H. Beck, Unterschied zwischen Moral bzw. Sittlich- › 26. November 2012, 18.00 Uhr schen Universität gegründet. Aufbauend auf deutsch-jüdischen Kontext seines Lebens handeln. Fritz Bauer und Henry München) erschien Mitte September 2012 keit und Recht so weit wie möglich auf. Prof. D. Herlinde Pauer-Studer (Wien): einer philologischen Ausbildung der Studie- und Wirkens ins Zentrum rücken. Wir fragen Ormond – ein Vergleich« ein von Michael Brenner herausgegebener »Recht ist nach deutscher Auffassung nicht »Zum Verhältnis von Moral und Recht im renden, stand die Arbeit an Texten seitdem danach, wie die öffentlichen Facetten der 12.15 Uhr Klaus Kempter: »Institutionali- Sammelband, der das von Michael M. May- eine Sache willkürlichen Beliebens, auch Nationalsozialismus« im Mittelpunkt von Forschung und Lehre. Person Fritz Bauers mit seinem Leben als sierung der Holocaustforschung? er publizierte Standardwerk der Deutsch- nicht der äußeren Zweckmäßigkeit und › 3. Dezember 2012, 18.00 Uhr Wie auch an anderen judaistischen Lehr- »jüdischer« Remigrant zusammenhängen – Joseph Wulf und das ›Internati- jüdischen Geschichte in der Neuzeit um Nützlichkeit, sondern eine mit dem sittli- Prof. Dr. Joachim Vogel (München): stühlen galt das Hauptinteresse der antiken unabhängig davon, in welcher Weise Bauer onale Dokumentationszentrum‹ einen fünften selbstständigen Band ergänzt. chen und religiösen Leben der Gemeinschaft »Einfl üsse des Nationalsozialismus auf und rabbinischen Epoche. Im Verlauf der selbst sein Judentum beschrieb. am Wannsee« Erstmals schildert dieser Band auf der eng verbundene Lebensordnung, die den das Strafrecht und die Wahrnehmung die- Zeit erweiterte sich das Themenspektrum ins In der Bundesrepublik war eine ganze 14.30 Uhr Lena Foljanty: »Die Rechtsthe- Grundlage breiter Archivrecherchen, wie Einzelnen mit eigenem Geltungsanspruch ser Einfl üsse in der Rechtsgeschichte der Mittelalter und in die Neuzeit; die Judaistik Reihe jüdischer Juristen, Historiker und orie Fritz Bauers im Kontext der jüdisches Leben sich nach dem Holocaust gegenübertritt und sie innerlich bindet«, so Nachkriegszeit« (Der Veranstaltungsort versteht sich seit langem als breit angelegte Vertreter von Interessenverbänden in un- Diskussionen der Nachkriegszeit« über sechs Jahrzehnte in Deutschland ent- schrieb der nationalsozialistische Rechts- wird noch bekannt gegeben.) Kulturwissenschaft. terschiedlichen Bereichen damit befasst, 16.00 Uhr Volker Rieß: »Fritz Bauer und die faltete, welche Rolle es für die deutsche Ge- theoretiker Karl Larenz 1934. Und in den › 14. Januar 2013, 18.00 Uhr Die Berufung einer Juniorprofessorin Aufklärung über die Verbrechen des Holo- Zentrale Stelle in Ludwigsburg – sellschaft in West und Ost spielte und wie »Nationalsozialistischen Leitsätzen für ein Prof. Dr. Michael Schefczyk (Frankfurt an für europäisch-jüdische Geschichte 2010 caust zu betreiben, Rechtsbeistand zu ge- Personen, Konsens und Dissens« im wiedervereinigten Deutschland durch die neues Strafrecht« von 1938 formulierte der Oder): »Zum Verhältnis von Recht und und die Wiederbesetzung des Lehrstuhls ben, Interessen von Verfolgten zu vertreten 17.00 Uhr Ronen Steinke: »Fritz Bauer und Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetuni- nur kurz und bündig: »Deut- Moral in Jaspers Schuldfrage« 2011 bieten Anlass, das Profi l der Judaistik und Wiedergutmachungsansprüchen eine die Interview-Affären 1963 und on die am schnellsten wachsende jüdische sches Rechtsgefühl und deutsches Sittlich- › 21. Januar 2013, 18.00 Uhr in Frankfurt und die Kooperation mit an- rechtliche Grundlage zu verschaffen. Sie 1965« Gemeinde der Welt entstand. Nach dem Ho- keitsempfi nden sind eins.« Was bedeutet Prof. Dr. Werner Konitzer (Frankfurt am deren Institutionen, wie dem Fritz Bauer stießen dabei nicht nur auf Zustimmung, 18.00 Uhr Liliane Weissberg: »Kommentar locaust galt Deutschland den meisten Juden dieses Ideal der Einschmelzung des Unter- Main/Frankfurt an der Oder): »Einfache Institut, dem Jüdischen Museum und der sondern vielmals auf Skepsis, die dem Um- zur Tagung« als »blutgetränkte Erde«, auf der jüdisches schiedes von Sittlichkeit, Moral und Recht Sittlichkeit. Otto Fritz Bollnow und die Martin-Buber-Professur für Jüdische Reli- stand geschuldet war, dass sie Juden waren. Leben unmöglich erschien. Dennoch bildete für die nationalsozialistische Rechtstheorie Veränderung der Moral nach der Nieder- gionsphilosophie, neu zu beschreiben. Auch wenn ihre Verbindung untereinan- Kontakt in den ersten Nachkriegsjahren das besetzte und Rechtspraxis? Was besagt sie auf der schlagung des NS-Regimes« der oft nur eine lose und zeitlich befristete Dr. Katharina Rauschenberger Deutschland eine Durchgangsstation für jüdi- anderen Seite für eine Analyse nationalso- › 4. Februar 2013, 18.00 Uhr Prof. Dr. Elisabeth Hollender hat sich 2001 war, schufen sie mit ihrer Arbeit ein eigenes Fritz Bauer Institut sche Überlebende aus Osteuropa. Ein kleiner zialistischer Vorstellungen von »Ethik« und Dr. Lena Foljanty (Frankfurt am Main): Tel.: 069.798 322-26 in Jüdischen Studien an der Gerhard Merca- Netzwerk. Fax: 069.798 322-41 Teil von ihnen blieb und baute gemeinsam »Moral«? »Zur Auseinandersetzung mit Naturrecht tor Universität GH Duisburg habitiliert. Zu- Gefördert durch das Hessische Ministe- [email protected] mit überlebenden und aus dem Exil zurück- Mit der Niederschlagung des NS durch und Rechtspositivismus in der Staats- letzt war sie Professorin für die Religion des rium der Justiz, für Integration und Europa, gekehrten deutschen Juden wieder jüdische die Alliierten und der Einrichtung zweier rechtslehre der frühen Bundesrepublik« Judentums in Geschichte und Gegenwart an durch die Sebastian Cobler Stiftung für Bür- Gemeinden auf. International renommierte deutscher Staaten waren die Rechtssysteme der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2011 ist gerrechte und den Arbeitskreis selbständiger Zeithistoriker beschreiben die Entwicklung einer deutlichen Veränderung unterworfen. sie Professorin für Judaistik am Seminar für Kultur-Institute e.V. – AsKI aus Mitteln des der Gemeinden, die Politik des Zentralrats Dennoch transformierten sich Recht und Judaistik der Goethe-Universität Frankfurt Beauftragten der Bundesregierung für Kul- und seiner Vorsitzenden, die »Wiedergut- Moral nur allmählich. Wie weit und in wel- am Main. tur und Medien aufgrund eines Beschlusses machung« und den Umgang mit altem und cher Form bestimmte das Fortwirken natio- des Deutschen Bundestages. neuem Antisemitismus. Das Buch dürfte für nalsozialistischer Moral noch die Rechtsauf- Die Tagung ist öffentlich, Anmeldung längere Zeit zum Standardwerk über das jüdi- fassungen der frühen Bundesrepublik? Wie erwünscht. sche Leben in Deutschland seit 1945 werden. weit spielte die Vorstellung einer Identität

8 Veranstaltungen Einsicht 08 Herbst 2012 9 Pädagogik Gespräch European Leo Baeck Lecture Series Vortrag Wanderausstellung Gezeigt wird, wie das Deutsche Reich durch die Reichsfluchtsteuer, zahlreiche Deportationen Saul Friedländer Martin Bauer (Hamburg) Prof. Dr. Norbert Frei Legalisierter Raub Sonderabgaben und schließlich durch den Fortbildung für Lehrkräfte zum 80. Geburtstag Kontexte transzendieren. Zum Tag des Gedenkens Der Fiskus und die vollständigen Vermögenseinzug sowohl an und Pädagogen Norbert Frei, Dan Diner Ernst Tugendhats für die Opfer des Ausplünderung der Juden denen verdiente, die in die Emigration ge- trieben wurden, wie an jenen, die blieben, und Raphael Gross Universalismus Nationalsozialismus in Hessen 1933–1945 weil ihnen das Geld für die Auswanderung Donnerstag, 22. November 2012, 10.00–17.00 Uhr, im Gespräch mit fehlte oder weil sie ihre Heimat trotz allem 16. Januar bis 7. April 2013, Ehemaliges Polizeigefängnis Klapperfeld, Montag, 10. Dezember 2012, 18.15 Uhr Montag, 28. Januar 2013, 11.00 Uhr, Goethe- nicht verlassen wollten. Nach den Deporta- Saul Friedländer Regionalmuseum Wolfhager Land e.V. Klapperfeldstr. 5, Frankfurt am Main, (Neuer Termin!) Goethe-Universität Frankfurt, Universität Frankfurt, Campus Westend, IG Farben- Ritterstraße 1, 34466 Wolfhagen. tionen kam es überall zu öffentlich angekün- Veranstaltung in Zusammenarbeit zwischen dem Campus Westend, Casino, Raum 1.802 Haus, Raum 1.314 (Eisenhower-Raum) International Tracing Service (ITS), der Initiative Sonntag, 2. Dezember 2012, 11.00 Uhr, Mai bis Oktober 2013, Dreieich Museum, digten Auktionen aus »jüdischem Besitz«: »faites votre jeu« und dem Pädagogischen Zentrum Kammerspiel Frankfurt, Neue Mainzer Straße 17, Burg Hayn, Fahrgasse 52, 63303 Dreieich. Tischwäsche, Möbel, Kinderspielzeug, Frankfurt am Main. Eintritt: 8 Euro Ernst Tugendhat vertritt Eine gemeinsame Veran- Geschirr und Lebensmittel wechselten die eine »Moral der universel- staltung des Fritz Bauer Die Ausstellung »Legalisier- Besitzer. Es werden drei pädagogi- Saul Friedländer gehört zu len Achtung«. Sie kommt in dem Impera- Instituts und des Präsidiums der Goethe- ter Raub« beschäftigt sich Weitere Informationen zur Ausstellung sche Zugänge zum Thema den bedeutendsten Holo- tiv »Instrumentalisiere niemanden!« zum Universität Frankfurt. mit jenen Gesetzen und Verordnungen, die auf Seite 107 in diesem Heft und auf un- »Deportationen« vorgestellt: Der Workshop caustforschern der Gegenwart. Anlässlich Ausdruck. Der Philosoph beansprucht, da- ab 1933 auf die Ausplünderung jüdischer serer Website: www.fritz-bauer-institut.de/ der Initiative »faites votre jeu« zeigt am seines 80. Geburtstags werden drei mit ihm mit die für unser moralisches Bewusstsein Prof. Dr. Norbert Frei ist Inhaber des Lehr- Bürger zielten. Sie stellt die Beamten der legalisierter-raub.html Beispiel des Polizeigefängnisses Klapper- seit vielen Jahren verbundene Historiker mit maßgebliche Konzeption des Guten iden- stuhls für Neuere und Neueste Geschich- Finanzbehörden vor, die die Gesetze in Ko- feld Aspekte des NS-Terrors auf und geht ihm über seine Biographie, seine Methode tifi ziert zu haben. Zu den Voraussetzun- te am Historischen Institut der Friedrich- operation mit weiteren Ämtern und Instituti- anhand von Einzelbiografi en auf Haft und der Geschichtsschreibung und sein Werk gen dieses Moralbewusstseins gehört eine Schiller-Universität Jena und leitet das Jena onen umsetzten, und sie erzählt von denen, Deportation ein. So entsteht ein Überblick diskutieren. Vorstellung davon, was es heißt, das gute Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. die Opfer dieser Maßnahmen wurden. über die Verfolgung verschiedener Grup- Eine gemeinsame Veranstaltung des Je- Mitglied einer moralischen Gemeinschaft pen zwischen 1933 und 1945. Der Work- na Centers Geschichte des 20. Jahrhunderts, zu sein. Dass wir überhaupt Mitglied einer shop des ITS veranschaulicht anhand des des Simon-Dubnow-Instituts, des Fritz Bau- solchen Gemeinschaft sein, das heißt mora- Beispiels von Deportationen aus dem Raum er Instituts und des Jüdischen Museums lisch urteilen wollen, lässt sich aber nicht be- Düsseldorf die Bürokratie und die Akteure Frankfurt mit Unterstützung des C.H. Beck gründen, sondern nur motivieren. Letztlich Die Jugendbegegnungsstätte Anne Frank und die Hessische Landeszentrale für politische Bildung laden ein: BEGLEITPROGRAMM auf deutscher Seite in der Planung und im Verlags und des Fördervereins Fritz Bauer fundiert ein Akt der Selbstbestimmung diese Ablauf der Deportationen. Institut e.V. Mitgliedschaft. Er zeigt, dass Menschen ei- DO 15.11.2012, 19 Uhr | PROLOG: »Anne Frank in der DDR – Wirkung Der Workshop des Pädagogischen Zen- gene Perspektiven im Lichte von Gründen »Das hat’s bei uns nicht gegeben!« und Deutungen ihres berühmten Tagebuchs«. Vortrag von Dr. Sylke Kirschnick, Jugendbegegnungsstätte Anne Frank trums erschließt ausgehend von Fotodoku- Anmeldung dezentrieren können. Deshalb leben sie als menten der Deportation aus Hanau vom Jüdisches Museum Frankfurt vernünftige Tiere nicht bloß in Situationen Antisemitismus in der DDR FR 30.11.2012, 19 Uhr | AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG: »Das hat’s bei 30. Mai 1942 zum einen die Situation der Christine Wern und Kontexten, sondern in einer Welt. Sie ist Eine Ausstellung der Amadeu-Antonio-Stiftung uns nicht gegeben!« Antisemitismus in der DDR. Einführung von Dr. Heike [email protected] Deportation inmitten des Alltags der »Volks- der Schauplatz ihres moralischen Handelns. Radvan, Jugendbegegnungsstätte Anne Frank gemeinschaft«. Zum anderen eröffnet die Eine Kooperationsveranstaltung des 1.12.2012-24.1. 2013 DI 15.1.2013, 19 Uhr | ABENDVERANSTALTUNG in Kooperation mit der Analyse der Fotos Zugang zu den Biografi en Fritz Bauer Instituts, des Jüdischen Muse- Di-Fr 10-17 Uhr Jüdischen Volkshochschule Frankfurt: »Das hat’s bei uns nicht gegeben? der Deportierten. ums Frankfurt und des Leo Baeck Instituts So 12-18 Uhr Zur Aufarbeitung der NS-Diktatur in Ost- und Westdeutschland nach 1945«.

(Ferienschließung vom Nicola Galliner Foto: Vortrag von Prof. Dr. Michael Wolffsohn, Gemeinderatssaal der Jüdischen London. 22.12.2012-13.1.2013) Gemeinde, Westendstraße 43, Frankfurt a.M. Leitung | Mirja Keller, Initiative »faites votre jeu« Martin Bauer hat Philosophie, Literatur und JBS Anne Frank DO 24.1.2013, 10-18 Uhr LEHRERFORTBILDUNG: »Antisemitismus in Hansaallee 150 der Migrationsgesellschaft: Hintergründe und pädagogische Handlungs- Gottfried Kößler, Pädagogisches Zentrum Frankfurt Religionswissenschaft studiert. Nach ver- Dr. Susanne Urban, International Tracing Service (ITS) 60320 Frankfurt a.M. strategien« mit Fachvorträgen und didaktischen Angeboten, Jugend- schiedenen Verlagstätigkeiten, zuletzt als Tel: 069 / 56 000 20 begegnungsstätte Anne Frank, Anmeldung erforderlich Chefl ektor des Fischer Taschenbuch Verla- www.jbs-anne-frank.de DO 24.1.2013, 19 Uhr | ABENDVERANSTALTUNG: »Antisemitismus, ges und Herausgeber der Neuen Rundschau, Kleine Auguststraße Nr.10 im Jahr 1979. Auf der Brandmauer ist der Abdruck Rechtsextremismus und zivilgesellschaftliche Perspektiven im wieder - redigiert er seit 2002 im Hamburger Institut der Synagoge zu erkennen, die bis zur Pogromnacht 1938 hier stand. vereinigten Deutschland. Erscheinungsformen | Erklärungsansätze | für Sozialforschung den Mittelweg 36. Er ist Gegenstrategien«. Vortrag von Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber mit Podiumsdiskussion, Jugendbegegnungsstätte Anne Frank auch Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Ideengeschichte. Weitere Informationen: www.jbs-anne-frank.de, www.hlz.hessen.de

10 Veranstaltungen Einsicht 08 Herbst 2012 11 Neuerscheinungen Aktuelle Publikationen des Instituts

Werner Renz (Hrsg.) Fritz Bauer Institut, Sybille Steinbacher (Hrsg.) Monika Boll und Raphael Gross (Hrsg.) Dr. Monika Boll ist Philosophin, Publizistin und Kuratorin. Für das Jüdische Museum Interessen um Eichmann Holocaust und Völkermorde »Ich staune, dass Sie in die- Frankfurt kuratierte sie die Ausstellungen Israelische Justiz, Die Reichweite des ser Luft atmen können« »Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine deutsche Strafverfolgung Vergleichs Jüdische Intellektuelle in Rückkehr nach Deutschland« (2009) und »Für Marcel Reich-Ranicki« (2010). und alte Kameradschaften Deutschland nach 1945 Prof. Dr. phil. Raphael Gross ist Direktor des Leo Baeck Instituts in London und leitet das Jüdische Museum in Frankfurt am Main sowie das Fritz Bauer Institut.

Mitarbeiterpublikation: Katharina Stengel Deutschland ausgeliefert. Er überleb- Fritz Backhaus te – im Widerstand engagiert – die Kon- Hermann Langbein zentrationslager Dachau und Auschwitz. Mayer Amschel Rothschild Ein Auschwitz-Überleben- 1954 wurde er Generalsekretär des Inter- Ein biografi sches Porträt der in den erinnerungs- nationalen Auschwitz Komitees, das gegen Jahrbuch 2012 große Widerstände versuchte, in der bun- Wissenschaftliche Reihe zur Geschichte und Wirkung des Holocaust Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 28 politischen Konfl ikten desdeutschen und österreichischen Gesell- des Fritz Bauer Instituts, Band 20 Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2013, Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag, 2012, schaft eine Wahrnehmung der Verbrechen Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag, 2012, broschiert, 384 S., € 14,99, ISBN: 978-3-596-18909-0 der Nachkriegszeit 332 S., € 34,90, EAN 9783593397504 248 S., € 24,90, EAN 9783593397481 Erscheinungstermin: 25. Januar 2013 von Auschwitz durchzusetzen. Er engagierte sich für die Strafverfolgung der Täter, die Entschädigung der Opfer, die Erforschung Der Prozess gegen Adolf War der systematische Mas- Dieses Buch versammelt der Lagergeschichte. Mit zunehmender Di- Eichmann 1961 vor dem senmord an den Juden im 14 Porträts jüdischer Geis- stanz zur Kommunistischen Partei geriet er Jerusalemer Bezirksgericht leitete fünfzehn Dritten Reich eines von vielen staatlich organi- teswissenschaftler und Künstler, die nach zwischen die Fronten des Kalten Kriegs. Jahre nach dem Ende des »Dritten Reichs« sierten Verbrechen im 20. Jahrhundert? Wenn 1945 nach Deutschland zurückkehrten oder Hermann Langbein trug maßgeblich zum die Ära der Zeugenschaft der Opfer ein. Dem dem so war: Was bedeutet das für die viel dis- dort wieder publizistisch wirkten. Zu ihnen Zustandekommen des Frankfurter Ausch- Angeklagten Eichmann in seinem Glaskas- kutierte Vorstellung von der Singularität des gehören die Schriftsteller Jean Améry, Ar- witz-Prozesses bei und bezeugte seine Er- ten traten die Überlebenden des Holocaust Holocaust? Auf die Frage, inwiefern sich der nold Zweig, Paul Celan und der Literatur- innerungen in Büchern wie Menschen in gegenüber und bezeugten vor aller Welt die Holocaust in die Liste der Völkermorde einrei- wissenschaftler Peter Szondi, die Religions- Auschwitz. präzedenzlosen Verbrechen der Deutschen. hen lässt, hat die zeitgeschichtliche Forschung historiker Hans-Joachim Schoeps und Jacob Freiburg: Verlag Herder, 2012, HERDER spektrum, Anhand bisher unausgewerteter Quellen In Bonn löste der Prozess Sorgen und Be- noch keine klare Antwort gefunden. In diesem Taubes, der Staatsrechtler Hans Kelsen, die 176 S., 11 Abb., € 12,99, ISBN 978-3-451-06232-2 zeichnet Katharina Stengel das Leben die- fürchtungen aus – die Adenauer-Regierung Band refl ektieren die Autorinnen und Autoren Politologen Ernst Fraenkel und Hannah Wissenschaftliche Reihe ses Auschwitz-Überlebenden als politischem schickte zur Beobachtung des Verfahrens über den historischen Ort des Holocaust in der Arendt sowie die Philosophen/Soziologen Mit ihm begann der Aufstieg des Fritz Bauer Instituts, Band 21 Akteur der Nachkriegszeit nach. eine Delegation nach Israel. Die Autorin- Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie Karl Löwith, Max Horkheimer, Theodor W. der Rothschilds zum mäch- Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag, 2012, nen und Autoren beleuchten den Eichmann- fragen nach Bezügen zu anderen Gewaltver- Adorno und Ernst Bloch. tigsten und weltweit größten Bankhaus. 635 S., Hardcover, gebunden, € 34,90 EAN 9783593397887 Katharina Stengel hat Mittlere und Neue Prozess in seinem zeithistorischen Kontext. brechen, beispielsweise den stalinistischen, Sie wurden verjagt, sie hatten fl iehen Fritz Backhaus schildert den Werdegang Geschichte, Soziologie und Politikwissen- Sie belegen erstmals die Teilfi nanzierung und sie diskutieren im Lichte der Ansätze können – und kamen jetzt in ein Land, das des Mayer Amschel Rothschild vom klei- schaft an der Goethe-Universität Frankfurt der Verteidigung Eichmanns durch altna- und Erträge der noch relativ jungen Disziplin sie nur selten willkommen hieß. Und das sich nen Frankfurter Münzhändler zum einfl uss- Das Leben Hermann Lang- am Main studiert und ist freie Mitarbeiterin zistische Kreise und zeigen darüber hinaus der komparativ ausgerichteten Genozidfor- dennoch mit ihnen schmücken wollte, das reichen Bankier, dessen Söhne die Staaten beins (1912–1995) war des Fritz Bauer Instituts. aufgrund bisher unausgewerteter Quellen schung Stärken und Grenzen des Vergleichs. sie brauchte bei der geistigen Erneuerung. Europas fi nanzierten. ein Leben in Extremen: Aufgewachsen in die Verfl echtungen des Prozesses mit der Dieser Band schreibt ein spannendes Wien, trat er 1933 der Kommunistischen deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte. Dr. Sybille Steinbacher ist – nach Stationen Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte im Fritz Backhaus ist stellvertretender Direktor Partei bei, nahm nach dem »Anschluss« in München, Bochum, Harvard, Jena und Spannungsfeld von Schuldverdrängung und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main Österreichs am Spanischen Bürgerkrieg Werner Renz ist wissenschaftlicher Mitar- Frankfurt am Main – Professorin am Institut -leugnung, Wiedergutmachung, Aufarbei- und Herausgeber verschiedener Bücher, teil und wurde 1941 von Frankreich nach beiter des Fritz Bauer Instituts. für Zeitgeschichte der Universität Wien. tung und gesellschaftlicher Verunsicherung. u. a. zu Ignaz Bubis und Leo Baeck.

12 Veranstaltungen Einsicht 08 Herbst 2012 13 AUSSTELLUNGEN JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT

ERINNERUNG – BILD – WORT ARNOLD DAGHANI UND CHARLOTTE SALOMON 12. OKTOBER 2012 – 3. FEBRUAR 2013

Wie erzählen jüdische Künstler von ihrem Leben und der Verfolgung unter der NS-Diktatur? Können ihre Werke zugleich beides sein: Zeitdokumente und Kunstwerke? Diesen Fragen nähert sich die Aus- stellung zu Arnold Daghani (1909–1985) und Charlotte Salomon (1917–1943).

Neben den offensichtlichen Gemeinsamkeiten, die beide Künstler miteinander haben, etwa die enge Verbindung von Bild und Text oder ihre Zeitzeugenschaft, werden in der Gegenüberstellung die sehr unterschiedlichen Konzepte bildnerischer Narrative sichtbar.

So ist Salomons Perspektive vorrangig die sehr persönliche einer jungen Frau, deren emotionale und familiäre Verstrickungen den ÄR[PVUHSLU9HOTLUIPSKLUPUKLTKPL(\ZNYLUa\UN\UK=LYMVSN\UN Charlotte Salomon, aus: „Leben? oder Theater?“, 1940–42 durch den NS-Staat erst allmählich eine immer dramatischere Prä- Joods Historisch Museum, Amsterdam, © Charlotte Salomon Foundation, Emil Behr, mit seiner Frau Hedwig (links) und ihrem senz gewinnen. Daghanis Aquarelle aus Lager und Ghetto spiegeln Amsterdam, Charlotte Salomon® gemeinsamen Sohn Werner (rechts), © Monique Behr dagegen in beinahe dokumentarischer Nüchternheit die Alltäg- SPJORLP[KLY=LYMVSN\UN^PKLY:LPULR UZ[SLYPZJOL)LÄUKSPJORLP[[YP[[ hinter der Absicht zurück, Zeugnis abzulegen. sche Ausgabe löste zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen Kriegs- AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG MITTWOCH 12. DEZEMBER 2012, 19.00 UHR verbrecher in den westukrainischen Zwangsarbeitslagern aus, bei DONNERSTAG 29. NOVEMBER 2012, 19.00 UHR ZEUGENSCHAFT, SZENISCHES ERINNERN UND DIE Mit der Ausstellung wollen wir aber auch auf die künstlerische Qua- denen Daghani auch als Zeuge aussagte. TRADIERUNG DES TRAUMAS lität und Modernität des Werks der beiden Künstler aufmerksam EMIL BEHR – BRIEFZEUGENSCHAFT VOR, AUS, Gespräch mit Dr. phil. Kurt Grünberg, Dr. med. Friedrich Markert machen, das auffällige Parallelen zu denen der zeitgenössischen 15 Uhr The Painter Arnold Daghani – an Introduction to His Work NACH AUSCHWITZ und den Kuratoren der Ausstellung Kunst aufweisen. Vortrag in englischer Sprache von Deborah Schultz MUSEUM JUDENGASSE MUSEUM JUDENGASSE 16 Uhr Kuratorenführung durch die Ausstellung mit Erik Riedel 30. NOVEMBER 2012 – 31. MÄRZ 2013 SAMSTAG, 10. NOVEMBER 2012, 19:00 UHR Die Teilnehmerzahl für Vortrag und Führung ist begrenzt, Die beiden Psychoanalytiker Kurt Grünberg und Friedrich Markert KUNST ODER DOKUMENT? Anmeldung unter [email protected] erforderlich. Vor wenigen Jahren fand die Enkelin von Emil Behr (1900–1983) in gehen davon aus, dass das extreme Trauma der Shoah trans- ZUR AKTUELLEN RELEVANZ VON KÜNSTLERISCHE 18 Uhr Das Grab ist im Kirschgarten einer Kiste einen Ordner mit der lapidaren Aufschrift „Angestellten- generational weitergegeben wird. Diese Trauma-Tradierung erfolgt ZEUGNISSEN VON HOLOCAUST UND VERFOLGUNG Lesung aus Tagebuch und Briefen Arnold Daghanis mit vertrag; KZ-Haft“. Darin enthalten waren Dutzende von Briefen, durch nicht nur über die Sprache, sondern wesentlich über Szenen, die JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT Helge Heynold die sie das Schicksal ihrer Familie im „Dritten Reich“ nachvollziehen Überlebende vor allem unbewusst mit ihren Nachkommen gestalten. konnte. Im Zentrum dieser Ausstellung steht das Leben ihres jüdischen LernNacht mit Vorträgen von Inge Jaehner (Felix-Nussbaum-Haus MITTWOCH, 5. DEZEMBER 2012, 19.00 UHR Großvaters Emil Behr von seinem 38. Lebensjahr an. Er arbeitete Im Gespräch mit den Kuratoren der Ausstellung, werden die Osnabrüc k), Felicitas Heimann-Jelinek (Wien) und Edward van CHARLOTTE SALOMON ALS KÜNSTLERIN IM KONTEXT in einem jüdischen Altersheim, wurde jedoch 1944 nach Auschwitz Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des in der Ausstellung ent- Voolen (Joods Historisch Museum, Amsterdam) sowie Führungen DER DOCUMENTA 13 deportiert, nachdem er versucht hatte, sein Gehalt einzuklagen. Er wickelten Konzepts der Briefzeugenschaft diskutiert. durch die Ausstellung Erinnerung – Bild – Wort. Talk mit Carolyn Christov-Barkargiev überlebte und trat später als Zeuge in den Voruntersuchungen zum JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT Frankfurter Auschwitzprozess auf. Neben neun erhaltenen Briefen DONNERSTAG 24. JANUAR 2013, 19.00 UHR Künstlerische Zeugnisse des Holocaust wurden lange vor allem als von Emil Behr aus Auschwitz werden weitere Briefe aus dem umfang- WEITER ERZÄHLEN – TRADIERUNG VON ZEUGNISSEN Zeitzeugnisse wahrgenommen, für deren Beurteilung Authentizität und 08. JANUAR 2013, 18 UHR reichen Konvolut ausgestellt. So lässt sich seine Geschichte vor ZWISCHEN ANEIGNUNG UND TRANSFORMATION historische Wahrhaftigkeit als maßgeblich galten. Diese einseitige CHARLOTTE und nach der Deportation nahezu vollständig rekonstruieren. Podiumsdiskussion Sichtweise scheint sich mittlerweile zu verändern, so dass sich auch BRD/NL 1980, R: Franz Weisz JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT zunehmend ästhetische und kunsthistorische Zugänge bis hin zur D: Birgit Doll, Elisabeth Trissenaar, Brigitte Horney Eine Ausstellung des Jüdischen Museums in Kooperation mit Kontextualisierung mit zeitgenössischer Kunst eröffnen. :WPLSÄST 4PU6T< dem Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Johann Aus literarischer, historischer und künstlerischer Sicht wird es darum KINO DES DEUTSCHEN FILMMUSEUMS Wolfgang Goethe-Universität. gehen, verschiedene Zugänge zu Zeugnissen des Holocaust dar- SONNTAG, 25. NOVEMBER 2012 zustellen und miteinander in Beziehung zu setzen. Die Veranstaltung MALER UND ZEITZEUGE 15. JANUAR 2013, 18 UHR Der Katalog mit Beiträgen u.a. von Harald Welzer, Beate Meyer, gehört zum Begleitprogramm der beiden Ausstellungen „Erinne- Studientag zu Arnold Daghani CHARLOTTE – LEBEN ODER THEATER? Kurt Grünberg, Friedrich Markert und Ina Hartwig erscheint im rung – Bild – Wort. Arnold Daghani und Charlotte Salomon“ und JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT Frankreich 1992, R: Richard Dindo Wallstein Verlag. „Emil Behr – Briefzeugenschaft vor, aus, nach Auschwitz“. +VR\TLU[HYÄST4PU+- Der Studientag eröffnet einen Zugang zum komplexen Werk Daghanis, KINO DES DEUTSCHEN FILMMUSEUMS PUKLTIPVNYHÄZJOL\UKaLP[NLZJOPJO[SPJOL)La NLPUH\MLPUHUKLY JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT MUSEUM JUDENGASSE Untermainkai 14/15 Kurt-Schumacher-Str. 10 bezogenen Schichten von Bild und Text verwoben sind. MITTWOCH, 30. JANUAR 2013, 19.00 UHR 60311 Frankfurt am Main 60311 Frankfurt am Main NOTHING HAPPENED: CHARLOTTE SALOMON AND Tel. (069) 212–35000 Tel. (069) 297 74 19 Bereits im Zwangsarbeitslager hat Daghani ein Tagebuch begon- AN ARCHIVE OF SUICIDE Fax (069) 212–30705 [email protected] ÖFFNUNGSZEITEN nen, in dem er detailliert seine Erlebnisse im Lager und später die Buchvorstellung in englischer Sprache mit Darcy Buerkle www.juedischesmuseum.de Di – So 10 – 17 Uhr, Mi 10 – 20 Uhr Flucht mit seiner Frau festgehalten hat. Die 1960 erschienene deut- JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT Mo geschlossen Einsicht Forschung und Vermittlung

»Fassungslosigkeit beschreiben« Saul Friedländers Werk zum Holocaust

von Dan Diner

»Am 29. September 1941 erschossen die Deutschen in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew 33.700 Juden aus der Stadt. Als sich die Gerüchte über das Massaker verbrei- Dan Diner, geboren 1946, ist Professor teten, äußerten manche Ukrainer anfangs Zweifel. ›Ich weiß nur für Neuere Geschichte an der Hebrä- eines‹, schrieb Irzna Choroschunova an jenem Tag in ihr Tagebuch, ischen Universität zu Jerusalem und ›da geht etwas Schreckliches, etwas Entsetzliches vor sich, etwas Direktor des Simon-Dubnow-Instituts Unfassbares, das man nicht verstehen, begreifen oder erklären kann.‹ für jüdische Geschichte und Kultur an Einige Tage später war ihre Ungewissheit verfl ogen: ›Eine klei- der Universität Leipzig. Er ist zudem ne Russin begleitete ihre Freundin zum Friedhof (am Eingang zur Saul Friedländer Foto: Werner Lott Ordentliches Mitglied der Philologisch- Schlucht), aber sie kroch von der anderen Seite durch den Zaun. Sie historischen Klasse der Sächsischen sah, wie nackte Menschen nach Babi Jar gebracht wurden, und hörte Akademie der Wissenschaften zu Leip- Schüsse aus einem Maschinengewehr. Es gibt immer mehr solche Auf den ersten Blick erscheint Friedländers historische Dreitei- klassischer Geschichtsschreibung bemerkenswerterweise aber vor zig sowie Autor zahlreicher Publikati- Gerüchte und Berichte. Sie sind so ungeheuerlich, dass man sie lung der Ereignisgeschichte des Holocaust konventionell. Sie durch- dem Hintergrund der in den letzten zwei Jahrzehnten aufgehäuften onen zur Geschichte des 20. Jahrhun- gar nicht glauben kann. Aber wir sind gezwungen, sie zu glauben, schreitet den Zeitraum des Geschehens in klassischer Periodisierung Befunde der Forschung. Dies vor allem dann, wenn berücksichtigt derts, der jüdischen Geschichte, denn die Erschießung der Juden ist eine Tatsache. Eine Tatsache, – von der Eroberung Polens 1939 bis zu dem Angriff auf die Sowjet- wird, dass die Erforschung des Holocaust zunehmend der Tendenz der Geschichte des Vorderen Orients die uns jetzt zum Wahnsinn zu treiben beginnt. Es ist unmöglich, union 1941; von den im Sommer erfolgenden, fl ächendeckenden Mor- ausgesetzt ist, immer kontextloser zu werden – will heißen: eine Ge- und der deutschen Geschichte, vor- mit diesem Wahnsinn zu leben. Die Frauen rings um uns weinen. den der Einsatzgruppen in der zwischen Ostsee und Schwarzem Meer schichte des Holocaust, die das Ereignis mehr und mehr verinselt, nehmlich des Nationalsozialismus und Und wir? Am 29. September, als wir dachten, sie würden in ein gelegenen ethnischen Schütterzone des östlichen Europa bis zu den indem sie es den Umständen des Zweiten Weltkrieges weitgehend des Holocaust. Seine Bücher erschei- Konzentrationslager gebracht, haben wir auch geweint. Aber jetzt? im Frühherbst anhebenden Planungen und ersten Umsetzungen einer entzieht. Diese Tendenz zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass nen u. a. in arabischer, englischer, he- Können wir wirklich weinen? Ich schreibe hier, aber mir stehen die systematischen Vernichtung – der sogenannten »Aktion Reinhard«; sie der kausalisierenden Bedeutung aufeinanderfolgender Ereignisse, bräischer, polnischer, russischer, tsche- Haare zu Berge.‹ Währenddessen ging der Krieg im Osten in seinen von den beschleunigenden Maßgaben einer industriell organisierten dem Gewicht jeweils getroffener Entscheidungen und den von ihnen chischer und türkischer Übersetzung. vierten Monat.«1 Massentötung bis hin zu den Todesmärschen in der Schlussphase des ausgehenden sowie von Personen zu verantwortenden Handlungen Monographien (Auswahl): Zeiten- So eröffnet Saul Friedländer den mit »Massenmord« überschrie- Krieges. Diese konventionell daherkommende Gliederung gibt dem immer weniger Beachtung schenkt. An ihrer statt nehmen Deutungen schwelle. Gegenwartsfragen an die benen und den Zeitraum vom Sommer 1941 bis Sommer 1942 be- historiographischen Unternehmen sein äußeres Gerüst. Sie hält den überhand, die sich von den eigentlichen historischen Ereignissen der Geschichte, München 2010. Aufklärun- handelnden zweiten Teil seines dreigliedrigen großen wie umfäng- Autor an zu einer Wahrung der Grundmuster des historischen Ver- wirklich gewesenen Zeit entfernen. Zu verantwortende Handlungen, gen.Variationen der Moderne, Zürich lichen Werkes über den Holocaust. Der erste Teil ist mit »Terror« laufs bei strikter Achtung der Wirkungsmacht zentraler Ereignisse; Umstände und Kausalitäten werden zugunsten solcher Interpretati- 2008. Gegenläufi ge Gedächtnisse. Über überschrieben und behandelt die Zeit vom Herbst 1939 bis zum sie verpfl ichtet ihn auf den Kanon des Bekannten, und sie diszipli- onsweisen abgesenkt, die sich vom gewesenen Geschehen zunehmend Geltung und Wirkung des Holocaust, Sommer 1941. Der dritte Teil trägt die emblematische Bezeichnung niert ihn, sich stets des umfassenden Kontexts des Gesamtgeschehens entfernen. Sie neigen dazu, sich vom eng an die realen Abläufe ge- Göttingen 2007. Versiegelte Zeit. Über »Shoah«. Das ist die Zeit vom Sommer 1942 bis zum Frühjahr 1945. zu vergewissern: den beständig sich verändernden Umständen der bundenen politisch-historischen Deutungskorsett zu entfernen, um den Stillstand in der islamischen Welt, Kriegsführung, den wesentlich gleichbleibenden Konditionen der in einer gleichsan überhistorischen und vergleichenden Perspektive Berlin 2005. Das Jahrhundert verste- großen Politik und den hintergründigen Rochaden und Schwankun- anthropologische Verallgemeinerungen, Erscheinungen von Mas-

hen. Eine universalhistorische Deutung, 1 Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung, Das Dritte Reich und die Juden, gen der Diplomatie. Als ganz und gar nicht konventionell erweisen sentötung schlechthin, ins Zentrum der Erkenntnis zu rücken. So München 1999. Zweiter Band, 1939–1945, München 2006, S. 225. sich diese ereignisgeschichtlich verhältnismäßig fi xen Maßgaben gesehen versichert sich die nur vorgeblich konventionell erscheinende,

16 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 17 eng an den Ablauf der Ereignisse haltende Struktur der Präsentation Zeit 1933–1939. Jene Periode konnte noch einem Rhythmus folgend Einfachheit als ein glänzendes Stilmittel insofern, als sie zu den in einer sinnfälligen Erzählstruktur verwoben, in der die Modi der Friedländers der Grundvoraussetzungen dessen, was unter Geschichte beschrieben werden, der bei aller jener Zeit innewohnenden Drama- unverfälschten Ursprüngen historischer Repräsentation zurückkehrt Erzählung selbst eine der ordnenden Kraft von Theorie analoge überhaupt zu verstehen ist. Bei der von ihm praktizierten strikten tik dem Takt von solchen Abläufen und den ihnen innewohnenden und alle über lange Dauer aufgehäuften Deutungen und Interpreta- Wirkung zukommt. Es wäre sicherlich keine unzumutbare Anma- Periodisierung des Gegenstandes geht es demnach um so etwas wie Zeitabläufen entsprach, wie sie politisch-administrativen Vorgängen tionen gleichsam unterläuft. Vielleicht ist dies nach all den Jahren ßung, die Vermutung zu äußern, Saul Friedländer habe mit diesem eine narrative Wiedergewinnung der Voraussetzungen dessen, was zu den Bedingungen des Friedens gemeinhin angemessen sind. Die bemühter Beschäftigung mit dem Holocaust die einzig noch ver- Werk auch die von Martin Broszat geäußerte Kollektivunterstellung historisches Urteilen als solches überhaupt ermöglicht. immerhin das Geschehen noch obwaltenden, wenn auch stetig ihre bliebene Form, den Gegenstand angemessen zu beschreiben. In ihr widerlegen wollen, Juden seien nicht nur als direkte Opfer der Nazis Durch die drei großen Teile des Buches hindurch verläuft eine Sicherungen einbüßenden Gewissheiten des bürgerlichen Alltages hat sich etwas unverfälscht Kristallines erhalten. außerstande, eine nüchterne Geschichte jenes Geschehens zu verfas- weitere Zählung. Sie erzeugt eine fortlaufende Struktur von zehn mögen darstellerisch die zunehmend von den Normalitätserwartungen Dieser Blick indes ist in seiner Einfachheit nur scheinbar arglos. sen, sondern seien obendrein eines ihnen eigenen mythologischen Kapiteln. Diese Kapitel bewegen sich im Unterschied zum statischen abweichenden Ereignisse herausstellen helfen. Sie dienen gleichsam Im Gegenteil: Bei genauem Hinsehen erweist er sich vielmehr als wis- Geschichtsverständnisses wegen grundsätzlich befangen. Indem Korsett der großen Periodisierung in einem Rhythmus extrem kurzer als Kontrastmittel dafür, die sich zunehmend einstellenden Abwei- send. Schließlich ist er durch die vielstimmigen Diskurse komplexer Friedländer ständig und immer wieder die drei möglichen Perspek- Zeitintervalle – etwa die exemplarisch in den Blick genommene chungen vom Alltag zu erkennen – bis hin zur Umkehrung dessen, und verkomplizierender Deutungen hindurchgegangen – um sich ihrer tiven in der Wahrnehmung des Ereignisses: Opfer, Täter und Au- Spanne von Juni 1941 bis September 1941 mit dem hier herausgestell- was den Maßgaben sozialer Voraussehbarkeit und Kalkulierbarkeit als überdrüssig zu erweisen. Die theoriebelasteten Inszenierungen der ßenstehende ineinanderblendet, gelingt ihm der einzig angemessene, ten Kapitel vier, dessen Eingangsszene die Tagebucheintragung der entspricht: systematische Diskriminierung, mittels Sonderregelungen Geschichtsschreiber werden durch die Verlebendigung unmittelbarer die Geschichte rekonstruierende Blick auf das Geschehen: nämlich Irzna Choroschunova zugrunde liegt, in der das Schreckensereignis betriebene Ausgrenzung und Enteignung – bis hin zum an die Pra- Beschreibung gleichsam exorziert. Erst dadurch gelingt es dem Autor, eine alle Facetten berücksichtigende Sicht auf das Geschehen auf von Babi Jar aus der Perspektive einer unbeteiligten Beobachterin xis der Austreibung heranreichenden Zwang zur Abwanderung. Der die Geschichte aus der Vergangenheit zu erlösen. Dies geschieht, der Grundlage einer ethisch begründeten Empathie mit den Opfern. geschildert wird, und das die Wucht und Dramatik des einschlagenden Vorgang der Vernichtung indes, seine Geschwindigkeit und Wucht, indem er ihre eigentümliche Ungeheuerlichkeit verlebendigt. Das exemplarisch hervorgehobene vierte Kapitel widerspiegelt Genozids einfängt. Die Tagebucheintragung reißt den Vorhang vor lässt sich nicht mehr vor einem wie auch immer vertrauten und damit Dass Friedländer nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem in einer unverwechselbaren Weise die von Friedländer gewählte Vor- dem schrecklichen Geschehen auf und macht seinen weiteren Ablauf auch nachvollziehbaren Hintergrund abbilden, dem noch Maßgaben Gegenstand der »Endlösung« diesen Weg zu ihrer Beschreibung gehensweise. Neben der dichten Beschreibung der Zeugenschaft, fassbar. Ihr folgen weitere Zeugenschaften – Schlag auf Schlag. Das lebensweltlicher Kontinuität und Normalität eingeschrieben sind. Die genommen hat, dürfte nicht zuletzt seinen Erfahrungen mit den dem erstarrten, mikroskopisch wie plastisch genauen Blick auf die Stakkato ihrer Wörtlichkeit ist von erdrückender Authentizität. Ver- Vernichtung als ein alle sozialen Bezüge schlagartig zersprengender endlosen, schließlich am Gegenstand vorbeiführenden historiogra- Mordhandlungen werden hintergründig die großen internationalen schiedene, gegenläufi ge Perspektiven greifen ineinander. Durch die Einschnitt in Gestalt einer sich beschleunigenden und fl ächendecken- phischen Diskursen und öffentlichen Verwerfungen geschuldet sein. Kontexte ebenso aufgezogen, wie die schrittweise getroffenen Ent- aufeinandergeschichteten Impressionen von Opfern, von Tätern und den Destruktion bedarf anderer Stilmittel. Eines dieser Stilmittel ist die Schließlich hat er, dessen Œuvre von Anbeginn seiner akademischen scheidungen und von ihnen ausgehenden Handlungen der Nazis hin unbeteiligten Beobachtern bilden sich die Konturen des Geschehens angesichts des entsetzlichen Geschehens und seiner zerstörerischen Berufung ebenso wie seiner biographischen Introspektion an im zur Tat akribisch nachvollzogen. Mikro und Makro verstreben sich überscharf ab. Das Stilmittel aufeinandergeschichteter, das Gesche- Wucht paradoxerweise von Saul Friedländer in der Darstellung sich Zeichen von Nationalsozialismus und dem Holocaust stand, alle gleichsam naturwüchsig ineinander. Tranche für Tranche werden hen in einer erdrückenden Unmittelbarkeit einfangender Zeugnisse auferlegte lakonische Distanz gepaart mit einer gleichsam würgen- Phasen und Schichten der forscherischen Beschäftigung und pub- die für den spezifi schen Zeitabschnitt relevanten Vorgänge und Per- durchdringt das gesamte Werk. Damit gelingt es Friedländer, das den, verhaltenen Sachlichkeit. Sie erlaubt einen anhaltenden, einen lizistischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand durchlaufen. spektiven präpariert. Dazu gehört der sich am Horizont abzeichnende Moment einer unmittelbaren Vergegenwärtigung zu evozieren. entschleunigenden Blick auf die in beklemmender Geschwindigkeit Angefangen mit seinem Buch über Pius XII und dem Werk über den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten ebenso wie das genozidale Vor- Das Moment der unmittelbaren Vergegenwärtigung bedient sich sich in die Vernichtung hineinsteigernden Exzesse der Gewalt. Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg über die Vignette zu gehen der Einsatzgruppen in den von der überwältigten des Aufbaus der als »kleine Periodisierung« bezeichneten inneren In der Tat ist die Darstellung Friedländers höchst ungewöhnlich, Kurt Gerstein, dann seine prominente Teilnahme an der Stuttgarter sowjetischen Gebieten; die Beteiligung der jeweiligen am Ort siedeln- Kapitelfolge. Ihr kommt mithin die Bewandtnis zu, anhand von vom Genre des Schreibens her geradezu wagemutig. Die Drama- Konferenz zum Stand der Forschung über die »Endlösung« 1984 und den Bevölkerungen an den Massakern an ihren jüdischen Nachbarn verschiedenen lokal platzierten Vorgängen sowohl die Dynamik wie turgie erfolgt dabei in schnellen, fahrig anmutenden Schnitten. Das die sich an seiner Person anlässlich einer unheimlichen Begegnung wie die aus Schrecken und Unverständnis gefügten Reaktionen der die Ungeheuerlichkeit der sich vom Sommer 1941 an abspielenden Vorgehen ähnelt dem eines Filmemachers. Die Texte werden dabei mit Ernst Nolte aus dem Jahre 1986 entzündende Vorgeschichte des erschlagenen, verbrannten, erschossenen und lebendig begrabenen Ereignisse zu konjugieren. Dabei folgt die Rhythmik der »kleinen ebenso aneinandergereiht wie von den dabei ineinander verfugten, Historikerstreits bis hin zu dem zur eigentlichen methodischen Frage Juden im gesamten Bereich der von den Nazis und ihren Helfern Periodisierung« den Verfugungen zweier Tendenzen: dem Gesche- zum Sprechen gebrachten Perspektiven aufeinandergeschichtet. Die von Geschichtsschreibung und Repräsentation sich verdichtenden durchschrittenen Todeszone von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. hen des Kriegsverlaufs und der dem deutschen Vorgehen imprägnier- Reihung insinuiert die Zeitfolge; die Schichtung die Tiefe des er- kontroversen Briefwechsel mit Martin Broszat aus dem Jahre 1987. Soweit zum Verständnis des historischen Umfeldes nötig, greift ten ideologischen Veranlagung. Der Holocaust ist mithin Ergebnis fahrenen Schreckens. Mittels einer solchen Kompilation entfaltet Die über Jahrzehnte von Friedländer genommenen Schritte Friedländer in weiter zurückliegende Vergangenheiten zurück – und eines durch eintretende wie durch die Nazis selbst herbeigeführte sich eine beklemmende Eindrücklichkeit. Die kommentierende, die durch die Forschungsgeschichte des Nationalsozialismus und des dies ohne dabei der Gefahr einer falschen Breite zu erliegen. Auch und Umstände wie durch handlungsanleitende ideologische Vorgaben räsonierende Rede tritt zurück. Jedenfalls ist sie leise – so leise, als Holocaust hindurch führen in ihrer Summe letztlich zum eindrück- gerade der durch die scharfen Schnitte in der Beschreibung ermöglich- verschränkten Geschehens. vertrage der Gegenstand nur das gefl üsterte Wort. Der Autor nimmt lichen Modus der nüchternen Erzählung – einer nüchternen Erzäh- te schnelle, gar abrupte Wechsel der Handlungen in unterschiedlichen Die schnelle Folge aufeinanderfolgender Sequenzen ist Friedlän- sich schier gänzlich zurück – und ist dabei durch von ihm sorgsam lung freilich, die einer epistemischen Läuterung gleich durch die Räumen zu ein und derselben Zeit – der Wechsel von Polen zu Frank- ders signifi kantes Stilmittel in seiner großen Darstellung über die Zeit platzierte Momente von Ironie und Beiläufi gkeit umso präsenter. Aus Verwerfung der Forschungsgeschichte hindurch gepresst worden reich, von den Niederlanden zu Ungarn, von Bulgarien zu Dänemark, der Vernichtung. Damit wird der Effekt dramatischer Beschleunigung diesem Ton spricht die Zurückhaltung des Chronisten. ist. Und dieser Vorgang ist dem Werk über die Vernichtung anzu- von Serbien zu Litauen – vermag bei einer geradezu unendlichen hervorgerufen. Beim Leser hinterlässt sie den Eindruck höchster An- Der Modus der Darstellung ist in der Tat dem einer Chronik sehen. Ständig werden Sequenzen sichtbar, die andeutend auf die Vielfalt der Umstände und Bedingungen des Geschehens doch so spannung – einer kristallinen Konzentration des ganzen Geschehens nachempfunden. Und zwar einer Chronik, die nicht, wie sonsthin theoretischen Kontroversen verweisen, ohne sie eigens mit einem etwas wie eine Einheit dessen erkennen lassen, was erst Jahrzehnte in Gestalt mikrologisch gehaltener, eilig aufeinanderfolgender Bilder. üblich, ganz am Anfang der Beschäftigung mit einem historischen einzigen Wort zu würdigen. An ihrer statt wird Lakonik und tiefe danach in den emblematischen Begriff des Holocaust einmündet. Schließlich handelt es sich bei den sich seit dem Sommer 1941 überstür- Gegenstand anzutreffen ist, sondern die sich vielmehr und ganz Verhaltenheit spürbar. Und es ist eben jene Lakonik und die sie be- Diese in historisch überaus kurzer Zeit sich abspielenden Vor- zenden Ereignissen um ein Geschehen, das sich in einer gänzlich ande- wider Erwarten an ihr Ende setzt. Die chronistische Erzählform gleitende verhaltene Ironie, die als ein gleichsam erkenntnisleitendes gänge in einer angemessenen Weise darzustellen ist für den Histori- ren Bewegungsgeschwindigkeit realisiert als die vom Autor bis in die erweist sich nach einer jahrzehntelangen, in mancher Hinsicht auch Stilmittel von einem Wissen über ein inzwischen abgelegtes totes ker ein schier kaum zu schulterndes Unternehmen. Dabei wird jede feinsten Verästelungen hinein beschriebenen Jahre der Verfolgung – die überbordenden Erforschung des Geschehens in ihrer scheinbaren Wissen zeugt. An dessen statt werden Ereignisse und Ereignisfolgen falsche Teleologie vermieden. Etwa eine Fokussierung auf die allein

18 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 19 im nationalsozialistischen Deutschland sich abspielenden Vorgänge Österreich 1938 sichtbar. Während nämlich im Reich bis zum Novem- in den Zentren der Entscheidung. Angesichts eines sich europaweit ber 1938 Juden bei aller Diskriminierung vor nazistischen Gewalt- ausdehnenden und sich dabei radikalisierenden Unternehmens einer maßnahmen durch die Präsenz einer konservativen Bürokratie und ultimativen Vernichtung wäre eine fi nale Sicht auf die Dinge gänzlich einer bislang unvollkommenen Gleichschaltung noch als halbwegs unzureichend. Eine solche Sichtweise würde an der Komplexität geschützt gelten konnten, so waren sie nach dem März in Österreich des Geschehens und seiner vielfältigen Ingredienzen vorbeizielen. als einem »angeschlossenen« und damit in gewisser Hinsicht auch Wie komplex und verworren sich die zu einer synthetisierenden besetzten Land direkt den NS-Stellen unterworfen. In Ungarn, ei- Darstellung gebrachten Umstände letztlich gestalten, wird man etwa nem Bündnispartner Hitlerdeutschlands, waren die Juden bei aller anhand des scheinbar paradoxen Umstandes gewahr, dass die militä- Diskriminierung und der vom Horthy-Regime zu verantwortenden rische Bewegungsrichtung der deutschen Expansion räumlich zwar Verfolgungsmaßnahmen so lange der Vernichtung entzogen gewesen, von West nach Ost verläuft – der Holocaust als solcher indessen von bis die Deutschen zur Besetzung des Landes im März 1944 schritten. Ost nach West vorrückt. Und dies auch dann, wenn seine Vorstufen Dänemark war zwar 1940 besetzt worden, indes erfolgte die Beset- in Form der Diskriminierung, Ausgrenzung und Austreibung im zung nicht unter kriegerischen Umständen. Die dänische Verwaltung Reichsgebiet ihren Ausgang nahmen, um sich mit dem Überfall auf blieb weitestgehend intakt, und der König war nicht außer Landes Polen zu einer Ghettoisierung der Juden im Generalgouvernement zu gegangen. Diese Konstellation erlaubte den Dänen, ihren Juden einen steigern und dann – mit der Invasion der Sowjetunion – in fl ächen- relativen Schutz angedeihen zu lassen – bis hin zu ihrer resistenten deckende und zunehmend systematischen Charakter annehmende Evakuierung durch Dänen über den Sund nach Schweden. Dass im Massentötungen einzumünden. Dieser in Vernichtungshandlungen Westen gerade in den Niederlanden die Deportation und Vernichtung Saul Friedländer im übergehende Quantensprung des Geschehens trat mit dem Wüten der Juden des Landes fast total war, während hingegen in Belgien eine Foyer des IG Farben- der Einsatzgruppen im Gefolge der weiter nach Osten vorrückenden größere Anzahl von Juden sich dem Zugriff der Nazis hat entziehen Hauses und auf dem Wehrmacht ein. Erst mit der sogenannten »Aktion Reinhard« werden können, dürfte wesentlich daran gelegen haben, dass das niederlän- Campus Westend der 1942 die weit westlich der Front gelegenen ghettoisierten Juden dische Königshaus nebst Regierung ins britische Exil gegangen war, Goethe-Universität Frankfurt am Main des Generalgouvernements erfasst. Und erst später treten die Juden während in Belgien der König unter deutscher Besatzung ausharrte. im August 2007. Westeuropas, aber auch solcher eher fernab liegender Länder wie In den Niederlanden war die nazi-deutsche Herrschaft unmittelbar, Fotos: Werner Lott etwa Griechenland, in den Sog der Vernichtungsmaschinerie. Der in Belgien durch belgische Instanzen vermittelt und damit eher mit- Ort des universellen Vollzugs – die Verschränkung aller Räume und telbar. Oder die Konstellation, die anhand einer Achsenmacht wie Ereigniszeiten des Geschehens ist Auschwitz. Italien, oder der, die hinsichtlich des Vichy-Regimes zu beobachten Der scheinbaren Paradoxie zwischen der West-Ost-Bewegung ist: Beide nehmen in der »Judenfrage« eine ähnlich räumlich wie deutscher militärischer Expansion und dem sich in Ost-West-Rich- politisch gespaltene Position ein, obschon es sich hierbei um jeweils tung bewegenden Holocaust gilt es in der Darstellung des Gesamt- völlig verschiedene Lagen handelt. So die räumliche Spaltung in geschehens angemessen Rechnung zu tragen. Dies kann der Ver- Frankreich zwischen dem besetzten und bis zum Jahre 1942 und der fl echtung der Ereignisse wegen, genauer: der Verschmelzung aller alliierten Invasion in Nordafrika unbesetzten südlichen Teil unter Vorgänge zu einem einzigen Geschehen, nicht länderweise erfolgen. Vichy-Herrschaft; in Italien ab Juli 1943 mit der Absetzung Mussolinis Es bedarf ebenjener komplexen Verknüpfung aller die Todesma- und dem Austritt aus der Achse zwischen dem nördlichen, von den schinerie bewegender Umstände. Und dennoch wird es sich nicht Deutschen nunmehr besetzten Teil und dem des befreiten und sich umgehen lassen, die jeweils konkreten Umstände in den Blick zu befreienden Süden. Auch die bulgarischen und rumänischen Sonder- nehmen. Und diese Umstände sind sowohl den jeweils speziellen lagen – auch sie im Übrigen jeweils gänzlich voneinander verschieden Lagen am Ort geschuldet, wie sie auch die in die Zeit des Holocaust – erlauben durch die ihnen im Kontext des doch neben dem großen hineinreichenden Vorgeschichten in Anspruch nehmen. Antagonismus zwischen Hitlerdeutschland und den Alliierten aus Die Topographie des Holocaust legt Differenzierungen nahe. vielen Einzelkriegen zusammengesetzten Zweiten Weltkriegs eigen- Und diese Differenzierungen sind in erster Linie weniger Ergebnis tümlichen Zwischenlagen indes Einblicke in die Komplexität eines des Grads des jeweils angetroffenen Antisemitismus, sondern der am Prozesses wie dem des Holocaust, der in seiner Umsetzung gradlinig spezifi schen Ort begegneten politischen Konstellation. So ist auffäl- zu verlaufen scheint und dabei zu teleologisch angeleiteten Schlüssen lig, dass Juden, die sich in solchen Ländern aufhielten, die mit dem Anlass gibt – und sich dabei doch auch aus Myriaden verschiedener nationalsozialistischen Deutschland im Bunde waren, sich auf längere Komponenten zusammenfügt. Das extremste Beispiel einer exzentri- Dauer dem deutschen Zugriff zu entziehen vermochten als solche, die schen Komponente im Gesamtbild dürfte wohl das fi nnische gewesen etwa wie Polen direkt unter nazistische Besatzung gerieten. Diese sein, als sich bei der Belagerung von Leningrad als Teil des fi nnisch- von verschiedenen Vorgängen gespeiste Unterscheidung wird schon sowjetischen Fortsetzungskrieges jüdische Soldaten des fi nnischen anhand der Behandlung von Juden im Reich und im angeschlossenen Heeres im Einsatz gegen die Sowjets befanden. Hinzu treten noch

20 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 21 weiter peripher angesiedelte Perspektiven wie etwa die spanische, paradox gelegenen Einzelheiten zu einem komplexen Bild verstreben, Hinzu tritt eine weitere, eine dritte jüdische Erfahrung, die überhaupt ist. Aber ohne die antisemitische Imprägnierung, die sonsthin nicht als Franco nach dem Sieg über die Republik jüdische Flüchtlinge ins in dem das Geschehen als das, was es wirklich war, in seiner ganzen davon Abstand zu nehmen scheint, den Holocaust als Holocaust zu notwendig tödlich enden muss, sich indes in bestimmten Kons- Land ließ und damit auch die Durchreise nach Portugal ermöglichte. Wucht ebenso zur Wirkung gelangt, wie die sich von diesem glühenden evozieren. Hier ist von der Erzählung der sowjetischen Juden die Rede. tellationen zu einer todbringenden Motivation verdichten mag, ist Portbou ist angesichts der Gesamtgeschichte des Holocaust schon ein Kern absetzenden Anteile zu ihrem narrativen Recht kommen. Diese hatten ja wesentlich an der sowjetischen Kriegsanstrengung teil der Holocaust als ultimativer Genozid an den europäischen Juden paradoxer lieux. Walter Benjamin nahm sich schließlich auf franzö- Saul Friedländer gebührt das Verdienst, die Vielfalt der sich ein- und waren insofern auch an das sowjetische Erfolgsnarrativ des Sieges schlechterdings nicht vorstellbar. Dass diese Sicht auf die Dinge sischer Seite der Grenze das Leben, weil er befürchtete, nicht auf die stellenden Konstellationen in das Gesamtnarrativ bedacht und sie in ei- über den Hitlerfaschismus eingebunden. Obwohl sie sich damit nicht keineswegs selbstverständlich ist, mag angesichts ihrer Selbstver- spanische gelangen zu können. ner angemessenen Weise ineinander verfl ochten zu haben. Dies gilt im den vormaligen offi ziellen sowjetischen Vorgaben unterwarfen, die ständlichkeit verwundern. Was sollte sonst zur Ermordung der Juden Grundsätzlich lässt sich aus dem Gesagten folgende Erkenntnis Übrigen auch für die Beachtung der aufgrund von Ungleichzeitigkeit den Holocaust als Holocaust an den Juden übergingen, um das mit ihm geführt haben denn der Umstand, dass sie Juden waren? gewinnen: Je direkter der Zugriff der Nazis auf die Juden der jewei- und Vorgeschichte unterschiedlich geratenen Narrative der verschiede- verbundene Geschehen in eine allgemeine sowjetische Opferschaft Und doch ist diese Selbstverständlichkeit nicht selbstverständ- ligen Länder gewesen war, desto fataler war ihr Schicksal. Waren die nen, dem Holocaust ausgesetzten Judenheiten Europas. So ist es etwa einzuschmelzen, trugen nicht unerhebliche Anteile ihrer ureigensten Er- lich. In den letzten Jahren erfreuen sich gerade solche Bücher über Nazis indes gehalten, sich mit ihnen nahestehenden oder gar verbün- evident, dass die Erzählung der deutschen Juden sich wesentlich auf fahrungsgeschichte dazu bei, dem sich ausbildenden und von oben her den Holocaust der Gunst des Publikums und erreichen für das histo- deten Staaten und deren Regierungen über das Schicksal von deren die zwischen den Jahren 1933–39 erfolgenden Diskriminierungen im dekretierten Geschichtsnarrativ der Geschichte des Kriegsgeschehens rische Genre geradezu sensationelle Verkaufszahlen, die eher davon Juden ins Benehmen zu setzen, sollte sich deren Deportation schwie- Reich und das daraus sich ergebende Emigrationsgeschehen bezieht vor der des Holocaust Vorrang zu gewähren. Eine solche Überlagerung abzusehen trachten, in der Judenfeindschaft den zentralen Grund für riger gestalten. War die deutsche Besatzung gar unter kriegerischen – und dies, obschon eine gewaltige Zahl deutscher Juden von 1941 an des Holocaust durch die Kriegsereignisse als solche war nicht allein die Ermordung, für die Vernichtung der europäischen Juden zu sehen. Umständen erfolgt, wie etwa in Polen mit seiner vergleichsweise das Schicksal der Juden im östlichen Europa teilte. Wie die anderen der sowjetischen Konstruktion der Ereignisse vorbehalten. Es handelte Dass die ermordeten Juden Juden waren, wird eher zu einer Neben- zahlenmäßig bedeutenden jüdischen Bevölkerung, oder verliefen die gerieten auch sie in den Sog des Vernichtungsgeschehens im Osten. sich im Großen und Ganzen durchaus um ein allgemeines Phänomen, sache erklärt, zu einer Art sekundärem Grund. Solche Begründungen Kämpfe zudem schwierig bzw. galten sie gar einem ideologischen Hierfür sind Orte wie das Ghetto Litzmannstadt/Łódź, das Fort von das erst durch den öffentlichen Diskurs im Westen der späten 70er sind beliebt, weil sie es vorziehen, auf das Materielle abzustellen, Feind, wie in der von Anfang an mit einem Vernichtungskrieg überzo- Kowno oder das Ghetto von Minsk emblematisch. Indes bricht dort und vor allem der 80er und 90er Jahre durchbrochen wurde. Erst aus auf Raub und Plünderung, auf Habgier und ökonomisches Kalkül. genen Sowjetunion, so war der mörderische Zugriff auf die dortigen ihre Geschichte als deutsche Juden in einer merkwürdigen Weise ab. dieser Wahrnehmungskonjunktur heraus tritt das sowjetische Sonder- Solche menschlichen Gebrechen sind jedermann einsichtig, beruhen Juden unmittelbar, tödlich und total. Das Verhalten der eingesessenen Jedenfalls wird sie nicht mehr als solche erzählt. Stattdessen geht sie bewusstsein in seiner Eigentümlichkeit hervor. Historiographisch ge- sie doch auf so etwas wie einer nachvollziehbaren negativen Anthro- nichtjüdischen Bevölkerung war in all jenen Konstellationen nicht ein in die Gesamtgeschichte der Vernichtung des europäischen Ju- sehen schließt das Werk von Saul Friedländer das sich damals öffnende pologie der Alltagserfahrung. Sicher, die Dimension des Judenmords unerheblich, aber angesichts der jeweils besonderen Umstände nicht dentums. Die Erzählung der Juden Polens hingegen ist vordergründig Fenster der Wahrnehmung. Insofern ist es ein Gesamtwerk seiner Zeit. mag alle Maßstäbe vormals gemachter Erfahrung sprengen; aber von einer solchen entscheidenden Wichtigkeit, die ihr so manche auf ihre in den Ghettos erfahrene Leidensgeschichte fokussiert – bis Es sucht eine schriftstellerische Antwort nicht nur auf die Frage des von letztlich soll es sich doch um einen Vorgang handeln, der unsere Geschichtsschreiber zuweisen. Ob die Bevölkerung traditionell als sie in der industriell betriebenen Vernichtung endet. Dass ihre Erzäh- ihm rekonstruierten Geschehens, sondern reagiert auch auf die an den wohlerworbenen Einsichten in den Lauf der Welt weniger heraus- antisemitisch zu gelten hatte oder auch nicht, dürfte sich also nicht lung wesentlich auf die Zeit der Ghettoisierung abhebt, rührt von dem Holocaust gerichteten Fragen von über drei Jahrzehnten. fordert, als wenn es sich zu seiner Exekution um Gründe gehandelt derart entscheidend auf das Verhalten den Juden gegenüber ausge- Umstand her, dass sich dort so viel an Dauer der Wahrnehmung des Saul Friedländer will in seiner großen Geschichte der Vernich- haben sollte, die womöglich alle Vorstellung von bloßer Nützlichkeit wirkt haben. Bei weitem wichtiger waren die politischen Konstel- unmittelbaren Geschehens wie der zukünftigen Erwartung hat anhäu- tung der europäischen Juden nicht nur beschreiben, nicht nur erzäh- transzendieren. Der dabei allenthalben empfundene Wunsch, sich lationen am Ort – die Unterscheidung zwischen kriegerischer oder fen können, um zum historischen Material für die Nach-Erzählung zu len. Das Buch verbindet mithin das Unternehmen einer großen Er- einen Holocaust ohne Juden zu schaffen, ist jedenfalls nachhaltig. nichtkriegerischer Besatzung, direktem oder indirektem Zugriff etc. werden. Davon zeugen Tagebücher und andere Niederschriften ebenso zählung mit einer historiographischen Bewandtnis. Dies, zumal sein Diesem Trend stellt sich Saul Friedländers Geschichte des Die Geschichtsschreibung des Holocaust steht angesichts einer wie die Erzählungen von Überlebenden. Es stellt sich so etwas wie Werk angesichts der ihm vorausgegangenen Geschichtsschreibung Holocaust entgegen. Statt exzentrische und marginale Phänomene Vielfalt sich einstellender Lagen vor erheblichen Herausforderungen ein polnisch-jüdisches Masternarrativ der Shoah ein. Nicht unähn- zum Thema nicht für sich stehen kann; schließlich steht es in einem so zu exponieren, als handele es sich dabei um das wahre Ganze, der Komposition. Wird das Geschehen von der Tatsache des vollzoge- lich – wenn auch ganz anders – wirkt sich das angehäufte Schrifttum stillen Diskurs zu anderen Werken und ihren Deutungen. In einer konzentriert er sich auf die wesentlichen, auf die existenziellen und nen Holocaust her erzählt, wird man nicht umhinkönnen, die jeweils der deutsch-jüdischen Erfahrung aus, das als Exilliteratur ein eigenes längeren Einführung unternimmt Friedländer so etwas wie eine Po- handlungsanleitenden Vorgänge. Und dabei rückt er die gemachte besonderen Umstände hintanzustellen. Schließlich haben diese auch Genre ausgebildet hat. Die Masse der mit diesem Genre verbundenen sitionsbestimmung. Dort weist er bereitwillig seine Perspektive aus. Erfahrung wieder ins Zentrum des Geschehens. Die von ihm bei nicht wesentlich dazu beigetragen, ihn zu entschleunigen, ihn gar zu Verschriftlichungen wirkt sich dahingehend aus, dass durch die in die- Und seine Perspektive auf das ungeheuerliche Geschehen stellt die allem Perspektivenpluralismus stärker in Anspruch genommene verhindern. Lässt man die Vielfalt der Umstände gelten, und dies auch sem Schrifttum notwendig zentralen Beschreibungen der Exilerfahrung Weltanschauung der Judenfeindschaft ins Zentrum, ohne dabei, wie Wahrnehmung der Opfer gibt den Ereignissen indes jene Schärfe dann, wenn sie nicht wesentlich zur Behinderung des Projektes der das Vernichtungsschicksal der deutschen Juden im Osten gleichsam bei Goldhagen, das jeweils konkrete Handeln der Täter zur Erhärtung zurück, die sie durch die Verschiebungen des Fokus auf Abseiti- Vernichtung beigetragen haben, rückt man sie gar in den Vordergrund, verdeckt wird. So will es im Nachhinein scheinen, als habe es sich seiner These auch im Einzelnen als durch antisemitische Motive ges zunehmend verloren haben. Schließlich kommt es Friedländer dann dürfte das große Ganze und damit auch der Gegenstand als sol- bei der Geschichte der deutschen Juden angesichts des Nazismus um veranlasst erklären zu müssen. Es besteht in der Tat ein Unterschied darauf an, das wieder sichtbar zu machen, was den Holocaust vor cher verfehlt werden. So hat der zu beschreitende angemessene Grat ein zwar wenig angenehmes, indes recht unbeschädigtes Schicksal zwischen einem konkreten, handlungsanleitenden Antisemitismus dem Hintergrund einer bei allen Dementis doch weiterhin gültigen der Erzählung sich moderierend zwischen der Skylla einer notwendig gehandelt. Dieses Bild mag von dem Umstand verstärkt worden sein, und einer judenfeindlich imprägnierten Kultur, die es in bestimmten Kultur der Aufklärung auszeichnet: die erratische Fassungslosigkeit.2 ordnenden Teleologie und der Charybdis einer ungeordneten Mannig- dass deutsche Juden in der Zeit der frühen Entschädigungsmaßgaben Konstellationen nahelegt, wie selbstverständlich Juden zu Tode zu faltigkeit von Wirklichkeiten zu bewegen, in die der Historiker mittels nach dem Kriege in der einen oder anderen Weise restituiert worden bringen, nur weil sie Juden sind. Das über das ganze Geschehen des einer durch zeitliche Distanz geläuterten empathischen Nähe abwägend waren, was die aus osteuropäischer jüdischer Wahrnehmung ohnehin Holocaust schwebende Verständnis, dass die Juden als Verursacher interveniert. Dies ist der Weg, den der Historiker Saul Friedländer in eingenommene Perspektive verstärkte, bei den deutschen Juden han- aller nur möglichen Übel ganz zu Recht zu Tode gebracht werden Der vorliegende Text von Dan Diner ist die überarbeitete Fassung des zuerst in seiner großen Erzählung über den Holocaust beschreitet. Dabei gelingt dele es sich um privilegierte Opfer. Dass in diese Konstellation hinein müssen, durchdringt seine Voraussetzungen und ist in den feinsten englischer Sprache veröffentlichten Beitrags »Kaleidoscopic Writing: On Saul ihm durch eine Art kaleidoskopischen Schreibens dramaturgisch eine auch weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichten eines Verästelungen seiner Umsetzung aufzuspüren. Dies will nicht hei- Friedländer‘s The Years of Extermination: Nazi and the Jews, 1939–1945«, erschienen in: Christian Wiese, Paul Betts (Ed.), Years of Persecution, Years of Inszenierung, in der unser Wissen um das Ende und damit die teleolo- konfl ikthaften jüdisch-jüdischen Verhältnisses von Ost und West ihre ßen, dass der Konstellation, den hierfür nötigen Umständen nicht Extermination. Saul Friedlander and the Future of Holocaust Studies. London/New gische Führung durch das Geschehen hindurch sich mit seinen oftmals Wirkung nahmen, mag diese Perspektivenspannung noch verstärken. auch ein erhebliches Quantum an Verursachungsenergie zuzubilligen York: Continuum, 2010, S. 55–65.

22 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 23 wichtige Rolle. Gemeinsam mit anderen gab er etwa dreißig Bücher, Wulf, der in Berlin nicht über den Zugang zum erforderlichen überwiegend Sammlungen von Dokumenten aus den Jahren der Quellenmaterial verfügte, konnte seinen Pariser Bekannten Léon Judenvernichtung, heraus und arbeitete an der Bergung und Siche- Poliakov, einen gelernten Juristen, zur Mitarbeit gewinnen, und rung von Quellenmaterial, unter anderem des Ringelblum-Archivs, gemeinsam brachten sie 1955 mit Das Dritte Reich und die Juden sowie an Zeitzeugenbefragungen mit. Anfang 1947 verließ er mit das erste deutschsprachige Werk heraus, das sich explizit dem Ho- Vorläufer, nicht Wegbereiter: seiner Frau und seinem Sohn Polen und ging über Schweden nach locaust widmete. Sie stützten sich dabei im Wesentlichen auf teils Paris, wo er gemeinsam mit seinem langjährigen Mitstreiter Michał bereits veröffentlichte Dokumente aus den Nürnberger Prozessen Die dokumentarische Geschichts- Borwicz ein Centre pour l’histoire des Juifs polonais gründete und sowie die umfangreichen Aktenbestände, die in der Nachkriegszeit leitete. Nach einem Machtkampf mit Borwicz verlor er seinen Pos- an das Pariser Centre de Documentation Juive Contemporaine schreibung von Joseph Wulf ten, und sein soziales Gefüge – Wulf bewegte sich wie viele andere gelangt waren, wo Poliakov jahrelang als Forscher tätig gewesen aus Osteuropa stammende jüdische Emigranten fast ausschließlich war und die erste Gesamtgeschichte des Holocaust geschrieben in »landsmannschaftlichen« Zirkeln – war weitgehend beschädigt, hatte.4 Dass sich die beiden Herausgeber – anders als es Poliakov In memoriam Naomi Wulf (1964–2012) sodass er sich auf der Suche nach Existenzmöglichkeiten nach Ber- mit Blick auf das französisch- oder englischsprachige Publikum lin begab. In der ehemaligen Hauptstadt des Nazi-Reichs schien getan hatte – gegen die Form der monographischen Darstellung von Klaus Kempter zumindest eine schmale materielle Grundlage vorhanden zu sein: und für eine Quellenedition entschieden, hatte den besonders von Die Erforschung des Holocaust setzte schon Sein von den Deutschen ermordeter Vater hatte ihm mehrere Häuser Wulf akzentuierten Beweggrund, dass das deutsche Publikum ein, als das Verbrechen noch in vollem Gang vermacht, von denen eines im Westteil der Stadt stand und vom Senat nicht mit angreifbaren Urteilen, Meinungen und »Ressentiments« war: Das bekannteste Beispiel für die frühe dem gesetzlichen Erben übergeben wurde.3 zweier nichtdeutscher, zudem jüdischer Publizisten, sondern ge- Geschichtsschreibung der Vernichtung ist In der Bundesrepublik der fünfziger Jahre war bekanntlich die wissermaßen mit der »objektiven« und unbezweifelbaren Wahrheit Dr. Klaus Kempter, Historiker, arbei- das nach Emanuel Ringelblum benannte Geheimarchiv im War- Vergangenheit von Krieg und Völkermord omnipräsent, freilich in konfrontiert werden sollte. »Aus diesem Grunde wurde die einzig tet an der Universität Heidelberg. Von schauer Ghetto, Gruppen von Dokumentensammlern und Beschrei- einer bemerkenswert verkehrten Weise. Allenthalben wurden Opfer vollkommen neutrale und vorurteilslose Form einer Sammlung 2009 bis 2011 war er wissenschaftli- bern des Geschehens gab es aber auch in Łódź, in Wilna und an beklagt, aber eben nicht die von Deutschen während des Krieges von Dokumenten und unbeeinfl ussbaren Zeugenaussagen – sie cher Mitarbeiter des Simon-Dubnow- anderen Orten – von den vielen Einzelpersonen, die in Tagebü- Ermordeten, sondern ehemalige Mittäter und NS-Unterstützer, die stammen größtenteils aus den Archiven des Dritten Reiches selbst Instituts für jüdische Geschichte und chern notierten, was sie beobachteten und erlebten, nicht zu reden.1 unter alliierten Entnazifi zierungsmaßnahmen zu leiden hatten. Da- – gewählt.«5 Kultur an der Universität Leipzig. Die ersten systematisch vorgehenden Holocaustforscher nach dem zu gehörten Beamte, die zeitweise vom Staatsdienst ferngehalten Mittels der Dokumente der Täterseite zeichneten die Heraus- Seine Schwerpunkte liegen in der Kriegsende waren jüdische Überlebende aus Ghettos, Lagern und worden waren, »amtsverdrängte« Hochschullehrer, kleinere Wür- geber die allmähliche Eskalation der antisemitischen Maßnahmen deutschen und jüdischen Geschichte dem Untergrund, die meisten von ihnen historiographische Laien. denträger des nationalsozialistischen Staates, die einige Monate in des NS-Regimes nach, von den ersten Boykottaktionen und dem des 19. und 20. Jahrhunderts sowie Auf dem polnischen Hauptschauplatz wie in anderen Ländern Ost- Internierungslagern hatten zubringen müssen. Als sich Joseph Wulf Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben bis zum organi- der Geschichte der Arbeiterbewegung. europas, in den DP-Camps auf deutschem Boden, in Österreich oder in Westberlin niederließ, begegnete er einer nationalen Gemein- sierten Raub und zur Plünderung der jüdischen Bürger unter Betei- Monographische Veröffentlichungen: auch in Italien schlossen sie sich zu Historischen Kommissionen schaft, die sich als Opfer von Siegerjustiz fühlte und sich mit Män- ligung weiter Teile der deutschen Bevölkerung, um anschließend, Die Jellineks 1820–1955. Eine zusammen, um das Andenken der Ermordeten zu bewahren, die nern wie den Gefangenen von Landsberg identifi zierte – darunter im zentralen Abschnitt des Buchs, zum Kern des Geschehens, zur familienbiographische Studie zum Zeugnisse des jüdischen Lebens aus der NS-Epoche und aus älterer ehemalige Führer von Einsatzkommandos, die in der Sowjetunion millionenfachen Vernichtung, vorzudringen. Die Darstellung des deutschjüdischen Bildungsbürgertum Zeit zu sammeln und die Fakten des Vernichtungsprozesses für die Hunderttausende von Juden niedergemetzelt hatten. Massenmords unternahmen die Herausgeber mithilfe einer Vielzahl (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 52), Nachwelt festzuhalten – gemäß den oft kolportierten Worten »Juden, Bereits in Polen und in Frankreich hatte sich Wulf als Journa- ganz unterschiedlicher Dokumente: Neben Berichten von Tätern und Düsseldorf 1998; Eugen Loderer und schreibt alles auf!«, die Simon Dubnow vor dem deutschen Erschie- list und historischer Publizist betätigt. In eine ähnliche Richtung Protokollen von Zeugenaussagen aus den Nachkriegsprozessen fan- die IG Metall. Biographie eines Ge- ßungskommando 1941 ausgerufen haben soll.2 zielten nun seine Bemühungen, in Berlin Fuß zu fassen. Er knüpfte den sich in umständlichem Verwaltungsdeutsch geschriebene Auf- werkschafters, Filderstadt 2003. Im Joseph Wulf, im Januar 1945 von einem Todesmarsch in der Kontakte zu Pressekreisen und eröffnete sich die eine oder andere zeichnungen über die Interaktion der an der Errichtung von Vernich- Herbst 2012 erscheint im Verlag Van- Nähe von Auschwitz entfl ohen, war einer der Gründer der Jüdi- Arbeitsmöglichkeit. Doch erst mit der Bekanntschaft, die er 1954 tungsstätten beteiligten Dienststellen, Grundrisse von Gaskammern, denhoeck & Ruprecht seine Studie: schen Historischen Kommission Krakaus und spielte als Mitglied des mit dem sozialdemokratischen Verleger Arno Scholz schloss – He- Faksimiles von Aktenstücken, Fotografi en, »Erfolgsmeldungen« und Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal fünfköpfi gen Führungsgremiums der zentralen Jüdischen Histori- rausgeber der Tageszeitung Telegraf und Inhaber des Arani-Verlags vieles mehr. Diese Dokumente standen weitgehend unkommentiert in Deutschland (Schriften des Simon- schen Kommission Polens seit dem Sommer 1946 eine überregional –, fand diese Phase äußerst prekärer Existenz allmählich ein Ende. da, Fehler und Widersprüche – etwa unterschiedliche Angaben zum Dubnow-Instituts, Bd. 18). Wulf unterbreitete Scholz seinen Plan eines umfangreichen doku- Beginn der »Endlösung« in den Gerichtsprotokollen der Nachkriegs- mentarischen Buches zur nationalsozialistischen Judenpolitik, und zeit oder auch die zu hoch angesetzten Todeszahlen in Rudolf Höß’

1 Vgl. Samuel Kassow, Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Scholz sagte sofort seine Unterstützung zu. Warschauer Ghettos, Reinbek bei Hamburg 2010; viele Stimmen individueller Zeugen sind versammelt in: Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, München 2006. 4 Léon Poliakov, Bréviaire de la haine. Le IIIe Reich et les Juifs, Paris 1951 2 Zur jüdischen Geschichtsbewegung der Nachkriegszeit vgl. Laura Jockusch, 3 Zu den biographischen Daten vgl. demnächst Klaus Kempter, Joseph Wulf. (engl.: Harvest of Hate, London 1956). Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe, Ein Historikerschicksal in Deutschland (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, 5 Léon Poliakov, Joseph Wulf, Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Oxford 2012. Bd. 18), Göttingen 2012. Aufsätze, Berlin 1955, S. 1.

24 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 25 Auschwitz-Bericht6 – wurden nicht thematisiert, sondern als Teile Gräueln der Geschichte noch denen der Gegenwart eine Parallele eines Gesamtpanoramas den Lesern zur bewertenden Betrachtung hatte: »In der Trunkenheit des Sieges gab es auch in früheren Zei- überlassen. Die Herausgeber versahen ihre Quellenauszüge lediglich ten schon Massenmorde, Frauen und Kinder wurden auf Schwerter mit Überschriften, die sie in der Regel den Texten selbst entnahmen. gespießt. In unseren Tagen erlebten wir Dresden und Hiroshima, Nur gelegentlich griffen sie dabei zu dem von Wulf vorgeschlage- eine dem ewigen Zauberlehrling dienstbar gemachte grausame Fol- nen Stilmittel, das im Nachfolgeband zum, mitunter von Rezensen- geerscheinung der Technologie.« Doch die Vernichtung der Juden ten kritisierten, Markenzeichen wurde: der ironischen Betitelung unterschied sich von all diesen Massakern und Kriegsexzessen fun- von Verwaltungsschreiben, deren sachlich-amtlicher Ton in einem damental, denn hier war »der Massenmord zum primären Zweck, zu scharfen Kontrast zu ihrem Inhalt, dem alltäglichen Mord, stand. einem stur verfolgten Selbstzweck, erhoben«.10 In ihrem Folgeband So fassten sie unter der Überschrift »Nicht immer klappt der Ver- über die Beteiligung von Diplomatie, Justiz und Wehrmacht an den gasungswagen« Meldungen über Funktionsprobleme von mobilen NS-Verbrechen führten Poliakov und Wulf diese fundamentale Er- Tötungsstätten zusammen. Die erste davon überschrieben sie mit: kenntnis anhand eines Vergleiches zwischen dem Judenmord und der »SS-Untersturmführer Dr. Becker hat Sorgen«. Vernichtung von Geisteskranken und Behinderten weiter aus. Nicht Als Ergebnis ihrer intensiven Befassung mit dem Mordgesche- nur die angewandte Technik, die massenhafte Tötung durch Gas, hen hielten Poliakov und Wulf in ihrer kurzen bilanzierenden Einlei- sei dieselbe gewesen, auch die zugrunde liegende Geisteshaltung tung eine bemerkenswerte Einsicht fest: Zunächst sei »Gewinnsucht der Mörder: »In beiden Fällen wird der Mensch um seiner selbst mannigfaltigster Art« die schändliche, aber doch rational erklärbare willen verfolgt und nicht etwa deshalb, weil er etwas Böses getan Motivation für die Judenverfolgung gewesen,7 dann jedoch, mit dem hätte. Genau wie kein Geistesgestörter an seinem Irresein, trug auch Übergang von Raub und Raubmord zur massenhaften Tötung der kein Jude die Schuld an seinem Judentum; allein auf Grund ihres bereits Enteigneten, sei ein radikaler Umschlag von verbrecherischer Vorhandenseins, und nicht etwa weil sie etwas verbrochen hatten, Zweckrationalität in vollständige Irrationalität erfolgt. wurden sowohl die einen als auch die anderen unwiderrufl ich zum An dieser Stelle fällt eine verblüffende Parallele zu den Ana- Tode verdammt.« lysen Hannah Arendts, die den beiden Publizisten nicht bekannt Die Motive hierfür lagen gemäß Poliakov und Wulf, die hier gewesen sein dürften, ins Auge. Diese hatte 1950 als das gänzlich Ansätze zu einer Art Theorie des Holocaust entwickelten, nicht etwa Neuartige am nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernich- in amoralischen, aber rationalen Überlegungen »zum Wohle der tungslagersystem das Fehlen jedes rationalen Sinns oder Zwecks, deutschen Volksgemeinschaft«: In Wahrheit seien die beiden mörde- eines »Nützlichkeitskriteriums«, benannt. Wie Arendt, die in den rischen Unternehmungen das Resultat einer »geradezu sadistischen Arisierungen, den Ghettos und der jüdischen Sklavenarbeit zwar Wut auf alles Schwache und Unschuldige«.11 »scheußliche und verbrecherische, aber völlig zweckrationale Hand- Ob der Leserschaft die Tragweite dieser Einsichten bewusst lungen« sah, die »Errichtung von Tötungsfabriken« hingegen als wurde, steht dahin. Sie waren als knappe Quintessenz der NS-Politik Ausdruck der »vollendeten Sinnlosigkeit«8 bezeichnete, bemerkten formuliert, wurden weder ausgiebig illustriert noch in philosophi- Oben: Joseph Wulf mit Schreibmaschine (ca. 1946) Poliakov und Wulf, die Beraubung der jüdischen Bevölkerung resul- schen, anthropologischen oder breiteren historischen Kontexten Oben rechts: Joseph Wulf gemeinsam mit Léon tiere aus einem eigennützigen Beweggrund und habe somit einen auf diskutiert. Die späterhin so häufi g thematisierte »Singularität« des Poliakov (in den sechziger Jahren in Paris) Rechts: Joseph Wulf vor seinem Berliner Schreibtisch »allgemein bekannte menschliche Eigenschaften zurückzuführenden Holocaust, die damit markierte Zäsur nicht allein in der jüdischen (im Hintergrund sein Lebensmotto in hebräischen und mit ihnen in Einklang zu bringenden Sinn«. Das Neuartige des und deutschen, sondern in der Menschheitsgeschichte, die Dan Di- Buchstaben: »Sachor 6.000.000« – Erinnere Dich an nationalsozialistischen Judenmords sei aber »die absolute Sinnlo- ner in den achtziger Jahren als »Zivilisationsbruch« auf den Begriff die 6 Millionen) sigkeit des Amokläufers«. Es ging um »Ausrotten … Ausrotten …! brachte, waren weit davon entfernt, das Bewusstsein der deutschen Die Fotos stammen aus dem Privatbesitz von Wulfs früherer Sekretärin Ulla Böhme. Und damit wären wir beim Wesentlichen angelangt.«9 oder auch irgendeiner anderen Nachkriegsgesellschaft zu erreichen. Für Poliakov und Wulf war, wie für Hannah Arendt, mit dem Zudem standen historische Tiefeninterpretationen nicht im Mittel- nationalsozialistischen Genozid an den Juden etwas gänzlich Neues, punkt jedenfalls von Wulfs Ambitionen; ihm war es zunächst darum Unerhörtes, Beispielloses in die Welt gekommen, das weder in den zu tun, die vergessenen und abgewehrten Fakten in Erinnerung zu rufen. Das Dritte Reich und die Juden bildete den Auftakt für eine am Ende dreibändige Serie opulenter Dokumentationsbände des 6 Vgl. Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß. Eingeleitet und kommentiert von Martin Broszat, Stuttgart 1958, S. 162 f. 7 Poliakov, Wulf, Das Dritte Reich und die Juden, S. 3. 8 Hannah Arendt, »Die vollendete Sinnlosigkeit« (1950), in: dies., Israel, Palästina 10 Ebd. und der Antisemitismus, Berlin 1991, S. 77–94. 11 Poliakov, Wulf, Das Dritte Reich und seine Diener. Dokumente, Berlin 1956, 9 Poliakov, Wulf, Das Dritte Reich und die Juden, S. 3. S. XIII.

26 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 27 Herausgebergespanns Poliakov/Wulf. Unmittelbar daran schloss Poliakovs und Wulfs dritte große Dokumentensammlung, Das hohen NS-Funktionäre des Generalgouvernements sowie eine Aus- Das Dritte Reich und seine Diener an, in dem einzelne Tätergruppen Dritte Reich und seine Denker, wandte sich nach dieser ausgie- wahl weiterer deutscher Beteiligter, etwa niederrangige SS-Leute genauer unter die Lupe genommen wurden. Getreu ihrem Prinzip, bigen Thematisierung der Massenverbrechen deren kulturellem und Angehörige der Zivilverwaltung. Dem Generalgouverneur Hans die Quellen sprechen zu lassen und dem Leser die Schlussfolgerun- Wurzelwerk zu, genauer: der Bereitwilligkeit, mit der weite Teile Frank widmete er eine kleinere biographische Skizze, ebenso dem gen zu überlassen, versammelten die beiden Herausgeber zahllose des geistigen Deutschland, der Wissenschaftler und Universitäts- Reichsführer SS Heinrich Himmler, und über den Anfang der sech- Wie ein Schatten Dokumente, welche die Mitwirkung von Angehörigen des diplomati- professoren, sich auf die Weltanschauung des Nationalsozialismus ziger Jahre weithin unbekannten, aber – wie Wulf zeigte – wichtigen schen Dienstes und des Militärs an der Vernichtung der europäischen eingelassen, diese zu ihrer eigenen gemacht und sich sodann als Hitler-Paladin Martin Bormann publizierte Wulf seine erste größere sind unsere Tage Juden belegten. deren Propagandisten betätigt hatten. Der Band war unter anderem monographische Arbeit. In all diesen Schriften betonte er immer wie- So verhandelten Poliakov und Wulf die Aktivitäten von Diplo- ein Plädoyer gegen die in den späten fünfziger Jahren ubiquitäre der die intellektuelle Beschränktheit und allgemeine Mediokrität der maten, die sich in allen Teilen Europas ohne erkennbare Vorbehalte Totalitarismus-Formel, mit der kaschiert wurde, dass es nicht in NS-Elite. Manchmal kehrte Wulf, dessen Publizistik in Deutschland bemüht hatten, politische Vorgaben umzusetzen, welche am Ende erster Linie »Druck«, »Zwang« und »Terror« gewesen war, was ganz um die Täter, Komplizen und Kollaborateure kreiste, zu den auf die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung hinausliefen. Sie die Stabilität des NS-Systems befestigt hatte. Derlei war nach Po- Themen seiner forscherischen Frühzeit in der polnischen Jüdischen machten deutlich, dass das Auswärtige Amt in seiner Gesamtheit liakovs und Wulfs Einsicht häufi g gar nicht vonnöten, denn jede Historischen Kommission zurück: Vor allem zwei kürzere Doku- über den Fortgang der Endlösung besser informiert war als fast alle Diktatur, auch die nationalsozialistische, »verfügt über mancherlei mentenbände zu den Ghettos von Warschau und Łódź, die er für die übrigen Reichsbehörden außerhalb der Mordzentrale des Reichs- und recht vielfältige Mittel, ihre Bürger zu locken und in Versuchung Bundeszentrale für politische Bildung zusammenstellte, sowie einige sicherheitshauptamtes. Während im Hinblick auf eingefl eischte zu führen«. Ironisch nannten sie in ihrer bilanzierenden Einleitung Vorträge und Rundfunkmanuskripte zum jüdischen Widerstand in Nationalsozialisten wie Außenminister Joachim von Ribbentrop, solche Mittel einen »Druck besonderer Art«, dem »Verfechter und Osteuropa standen in dieser Tradition. Unterstaatssekretär Martin Luther und einige Beamte, die nach der Mitläufer des Nationalsozialismus« oft erlagen. Die Sorge um das Nimmt man Wulfs Werk, soweit es die Täterseite thematisiert, NS-Machtübernahme aus politischen Gründen ins Ministerium »eigene Fortkommen«, »kurzsichtiger Konformismus« sowie die in seiner Gesamtheit in den Blick, so erschließt sich eine Hauptbot- gekommen waren, diese Erkenntnis nicht weiter irritieren musste, »Angst vor dem Skandal«, »Borniertheit« und »Schadenfreude« hät- schaft: Die deutsche Gesellschaft der NS-Jahre hatte sich in großer war sie doch geeignet, einen Schatten auf die seit langem tätigen ten »spielend« erreicht, was »die blanke Waffe nicht zu erzwingen Breite an den Verbrechen gegen die Juden und andere Gruppen be- Laufbahndiplomaten zu werfen, die traditionell das Selbstbild des vermochte«. Ein typisch deutscher »Mangel an Zivilcourage«, die teiligt. Anders als es die zeitgenössische etablierte bundesdeutsche unpolitischen und neutralen Staatsdieners pfl egten. Das von den »Sorge um die öffentliche Meinung, die des lieben Nachbarn oder Geschichtswissenschaft – oder auch die Justiz – wissen wollte, Amtsangehörigen und »Ehemaligen« gepfl egte Narrativ von den gar des Blockwarts«, sowie die »allgemeine Lust am Marschieren waren es nicht nur Hitler, Himmler, Heydrich und ihre engsten zwei Ämtern – die alten Konservativen, obendrein mit Neigung in Reih und Glied ohne jede Verantwortung und oft selbst wider Spießgesellen in der NS-Führung sowie die Allgemeine SS und die zum antinazistischen Widerstand, hier, die nationalsozialistischen besseres Wissen«, all diese »im Überfl uss vorhandenen Charak- , die den Massenmord betrieben hatten. Wulf akzeptierte Homines novi da – fand bei Poliakov/Wulf keine Bestätigung. terschwächen« hätten dem NS-Regime geholfen, seine Pläne zu schon aufgrund seiner Augenzeugenschaft nicht die vermeintlich Im Hinblick auf die Militärführung stellten sie zum einen die verwirklichen. Als weitere Faktoren seien »Mangel an echter innerer differenzierte Betrachtung etwa des Instituts für Zeitgeschichte, enge und freiwillige Bindung heraus, die der überwiegende Teil der Überzeugung« und die Bereitschaft der geistigen Elite hinzuge- wo Hermann Mau und Helmut Krausnick die Wehrmachtsführung Generalität schon früh zu Hitler und der NS-Führung eingegangen kommen, sich über die vermeintlichen nationalen Errungenschaften von der Verantwortung für die Morde freisprachen oder Martin war, zum anderen die indirekte wie unmittelbare Beteiligung der der Staatsführung zu freuen, entsprechend der Formel: »immerhin Broszat substantielle Meinungsverschiedenheiten zwischen der SS Wehrmacht an den großen Tötungsverbrechen, die an den Juden, habe der Führer ja die Ordnung und Disziplin wieder hergestellt und der Zivilverwaltung im Generalgouvernement postulierte.14 aber auch an Sinti und Roma oder Serben begangen worden waren. und außerdem verspreche er Deutschland eine Vormachtstellung Seine Forschungen bestätigten Wulf in der Annahme, dass von Die wichtigsten Dokumente waren zwei Befehle, die die Generäle in der Welt«.13 wenigen Ausnahmen abgesehen alle relevanten sozialen Gruppen Erich von Manstein und Walter von Reichenau im Feldzug gegen Nach dem »Denker«-Buch endete die fruchtbare Zusammen- des NS-Reichs – von der Beamtenschaft und dem Militär über das die Sowjetunion ausgegeben hatten. Reichenau hatte im November arbeit mit Poliakov. Wulf setzte seine Explorationen des deutschen Bildungsbürgertum bis hin zur Arbeiterschaft – das Regime und Bei Renovierungsarbeiten in ihrem Wohnzimmer fand Inge Geiler ein Bündel Papiere – versteckt vom Ehepaar 1941 bei seinen Soldaten um »Verständnis« für die »Notwendigkeit intellektuellen Lebens der NS-Zeit Mitte der sechziger Jahre mit dessen Gewaltpolitik unterstützten und sich an der Verfolgung und Grünbaum vor der Deportation nach Theresienstadt. der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum« einer fünfbändigen Dokumentationsserie zur Kultur im Dritten Reich Ermordung der Juden entweder direkt beteiligt oder sie zumin- In ihrem Buch erzählt sie die sorgfältig recherchierte, geworben. Manstein, für Wulf wegen seines Strategen-Nimbus in fort und vertiefte seine Kritik am Opportunismus und mangelnden dest passiv hingenommen hatten. Der Eindruck, den der Journalist bewegende Geschichte der Grünbaums, die ohne den der bundesdeutschen Öffentlichkeit eine Zentralfi gur, hatte sich in zivilisatorischen Humanismus der deutschen Intelligenz, der Schrift- Ansgar Skriver in einer Besprechung von Wulfs Theater und Film zufälligen Fund anonyme Opfer geblieben wären. einem eigenen Erlass diesem Appell angeschlossen, sprach vom steller und Journalisten, bildenden Künstler und Musiker. Zugleich im Dritten Reich notierte, stellt wohl die bündigste Explikation Judentum als »dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors« wandte er sich den unmittelbaren Tätern zu: In Das Dritte Reich und von Wulfs Gesamtwerk dar: »Wer dies liest, mag bald die heute Mit 160 teils farbigen Abbildungen und rechtfertigte so die Ermordung Zehntausender jüdischer Män- seine Vollstrecker veröffentlichte Wulf 1961 den Bericht des SS- beliebte Redensart von der ›nationalsozialistischen Gewaltherr- 528 Seiten. Leinen € 28,95 ner, Frauen und Kinder durch die nachrückenden Einsatzgruppen Generals Jürgen Stroop über die von ihm befehligte Vernichtung des schaft‹ nicht mehr hören, wie sie fast schon stereotyp von den isbn 978-3-89561-487-3 der SS.12 Warschauer Ghettos und porträtierte zusätzlich die verantwortlichen

14 Zu diesem Komplex siehe neben Kempter, Joseph Wulf, Kap. 5 und 6, vor allem Schöffling & Co. www.schoeffling.de 13 Poliakov, Wulf, Das Dritte Reich und seine Denker. Dokumente, Berlin 1959, die grundlegende Arbeit von Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen 12 Poliakov, Wulf, Das Dritte Reich und seine Diener, S. 451–456. S. VII–IX und S. 3. Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 32004 [2003].

28 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 29 Nachrichtenredakteuren unserer Funkanstalten verwendet wird.« avancierte überdies zum gefragten Gesprächspartner vergangen- wie die bekannten Studien zur Prosopographie der Täter in der SS in den späten achtziger Jahren.18 Mögen also die Erkenntnisse in »Diese Gewaltherrschaft«, fuhr Skriver fort, »kam nicht über das heitspolitisch interessierter Akteure. und im Reichssicherheitshauptamt. Wulf war ein Vorläufer der weit Wulfs – aufgrund der Dichte der dokumentarisch collagierten Be- deutsche Volk, sie kam aus ihm.«15 Am Ende des Jahrzehnts wäre es ihm beinahe gelungen, in der ausgefächerten Holocaustforschung späterer Jahre, ein Wegbereiter schreibung durchaus noch lesenswerten – Büchern von einer kräf- Mit seinem umfangreichen deutschen Œuvre seit 1955 war Wannsee-Villa, in der am 20. Januar 1942 unter Vorsitz von Reinhard konnte er, nachdem die empirische Erforschung des Nationalsozialis- tig expandierenden Zeitgeschichtsforschung mittlerweile überholt Wulf einer der produktivsten und sichtbarsten frühen NS-Ge- Heydrich die »Endlösung der Judenfrage« erörtert worden war, das mus Ende der sechziger Jahre abgerissen war, nicht sein. worden sein, so bleibt seine Lebensgeschichte sowohl als eine der schichtsschreiber und der Pionier der historiographischen Ho- erste deutsche Holocaust-Forschungsinstitut zu installieren. Seine Dass nicht Wulfs historiographische Arbeit, aber doch seine Per- »großen Überlebenserinnerungen der vergangenen Jahrzehnte«19 als locaustforschung in der Bundesrepublik – vergleichbar Gerald ausgreifenden Bemühungen fi elen jedoch ausgerechnet in eine Zeit, son mittlerweile einen Ort in der deutschen Zeitgeschichtsforschung auch als Zeugnis des Umgangs der frühen Bundesrepublik mit dem Reitlinger in Großbritannien, Philip Friedman und Raul Hilberg in der mit der sozialliberalen Modernisierung, der Studentenbewe- gefunden haben, ist seiner späten Wiederentdeckung zu Beginn des fortlebenden Erbe des Nationalsozialismus für das Verständnis der in den USA oder Léon Poliakov in Frankreich. Wie diese fer- gung und den daraus sich entwickelnden linksrevolutionären Zellen neuen Jahrhunderts zu verdanken. Nicolas Berg identifi zierte in deutschen Nachkriegsgeschichte von unschätzbarem Wert. nen Mitstreiter hatte Wulf Schwierigkeiten, mit seinen Themen ganz andere Fragen die politische Tagesordnung zu dominieren be- seinem historiographiegeschichtlichen Werk Der Holocaust und und vor dem Hintergrund seiner fehlenden Ausbildung und sei- gannen. Eine zweite Verdrängung – nach derjenigen der fünfziger die westdeutschen Historiker Wulf als den frühen Widerpart einer nes mitunter naiv anmutenden dokumentarischen Zugriffs in der Jahre – setzte ein, und Wulf fühlte sich wieder an den Rand gedrängt. rein auf politisch-strukturelle Wirkzusammenhänge fi xierten, die 18 Vgl. Martin Broszat, Saul Friedländer, »Um die ›Historisierung des Nationalso- allgemeinen und der akademischen Öffentlichkeit der Historiker Nach seinem Suizid im Oktober 1974, dem der Tod seiner geliebten Mentalität und die persönliche Verantwortung der Tätersubjekte zialismus‹. Ein Briefwechsel«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 36 anerkannt zu werden. Dabei war die Aufnahme seiner Bücher zu- Frau Jenta vorangegangen war, geriet der dokumentarische Histori- ausklammernden NS-Forschung und stellte Wulfs Positionen – vor (1988), H. 2, S. 339–372. nächst ermutigend: Das erste Buch verkaufte sich trotz des hohen ograph Wulf bald in Vergessenheit. allem in dessen heftigen Debatten mit dem Münchner Institut für 19 Barbara Breysach, »Joseph Wulfs Zeugenwissen in der deutschen und frühen pol- nischen Nachkriegsöffentlichkeit«, in: Ursula Heukenkamp (Hrsg.), Schuld und Preises sehr gut und erfuhr sogleich eine zweite Aufl age, es gab Sein Werk teilte dieses Schicksal. Zwar gab es immer wieder Zeitgeschichte, namentlich Martin Broszat – in eine genetische Linie Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegs- eine Paperback-Ausgabe und Übersetzungen ins Französische, Neudrucke seiner Bücher, sodass diese in manch einem Bücherregal mit denen von Saul Friedländer in dem bekannten Disput mit Broszat zeit (1945–1961), Bd. 2, Amsterdam, Atlanta/Ga., 2001, S. 405–414, hier S. 414. Spanische und Niederländische. Auch die Nachfolgebände trafen ihren Platz fanden, doch Teil des geschichtswissenschaftlichen Dis- auf das Interesse eines kleinen, aber doch beträchtlichen Publi- kurses wurden sie trotz ihrer zunächst durchaus breiten Rezeption kums, und die Rezensionen der allgemeinen Tagespresse fi elen nicht mehr. Einige selbst eher randständige Forscher der sechziger überwiegend günstig aus: Für die Bemühung, den Judenmord Jahre wie Wolfgang Scheffl er oder Reinhard Henkys rekurrierten noch überhaupt einmal so ausführlich zu thematisieren, empfi ngen die auf das von Poliakov und Wulf zugänglich gemachte Material. Doch Herausgeber reichlich öffentliches Lob. Die Rezeption seitens schon in den siebziger Jahren war zwar unablässig in politisch-ideo- der akademischen Geschichtswissenschaft fi el dagegen gespalten logisch-polemischer Absicht vom Faschismus die Rede, empirische aus: Zwar gab es anerkennende Äußerungen, doch auch Einwände Forschung über die Herrschaft des deutschen Nationalsozialismus gegen die mangelnde methodische Akkuratesse sowie scharfe Kri- fand aber bis weit ins folgende Jahrzehnt kaum mehr statt. Als dann tik an der zentralen Botschaft. Vor allem Martin Broszat wandte in den neunziger Jahren die großfl ächige Untersuchung der deutschen sich mit Verve gegen Wulfs implizite Behauptung, es habe unter Besatzung und der damit verbundenen Ausrottungspolitik vor allem den deutschen Amtsträgern der NS-Zeit im Hinblick auf die Be- in Osteuropa einsetzte, war man angesichts der Fülle von Archivma- handlung der Juden weitgehende Einmütigkeit geherrscht. Die terial auf die Pionierarbeiten von Wulf nicht angewiesen. So tauchte Dokumente, die Poliakov und Wulf vorlegten, ließ der methoden- in den großen historiographischen und vergangenheitspolitischen Was konnten »ganz normale bewusste Zeithistoriker Broszat nicht als Beweis gelten, müsse Debatten der vergangenen beiden Jahrzehnte der Name des frühen doch der Kontext des totalitären Staates viel stärker in Rechnung Aufklärers nicht auf. Der Streit über die Rolle der Wehrmacht in der Deutsche« wissen? gestellt werden als dies in den Quellensammlungen der beiden NS-Vernichtungspolitik, der sich 1995 an der Ausstellung des Ham- Amateurhistoriker geschehen sei.16 burger Instituts für Sozialforschung entzündete, räumte endlich für ei- Das Tagebuch des Heeresrichters Werner Otto Müller-Hill Ungeachtet solcher kritischer Stimmen konnte Wulf, der sich ne breite Öffentlichkeit mit dem zählebigen Mythos von der sauberen ist ein bemerkenswertes Dokument. Es macht deutlich, dass über den gesellschaftlich-mentalen Kontext seines Schaffens und Wehrmacht auf, kam aber ohne den Verweis auf die Dokumentationen es 1944/45 auch Deutsche gab, die sich von der Nazi-Propa- dessen notwendige Begrenzungen durchaus klar war, seit Mitte der der fünfziger Jahre aus. Und auch die Auseinandersetzung um die ganda nicht blenden ließen, die nicht behaupteten, von den fünfziger Jahre meist zufrieden mit den Ergebnissen seiner Aufklä- vom seinerzeitigen Bundesaußenminister Joschka Fischer in Auftrag Judenmorden nichts gewusst zu haben, und die sich selbst- rungsarbeit sein. In den sechziger Jahren, nachdem der Jerusalemer gegebene Studie Das Amt und die Vergangenheit, die 2010 die Ver- kritische Gedanken über die Zukunft Deutschlands nach Eichmann- und der Frankfurter Auschwitz-Prozess die Vernichtung wicklung des diplomatischen Dienstes in den Holocaust thematisierte, einem verlorenen Krieg machten. der europäischen Juden wieder ins öffentliche Bewusstsein gerufen benannte Wulf, obwohl dieser des Öfteren zitiert wurde, nicht als Teil hatten, war Wulf nicht nur als Buchautor und -herausgeber, son- der Forschungsgeschichte.17 Auch andere seiner Impulse gerieten in Mit einem Vorwort von Wolfram Wette dern auch als Mitarbeiter von Rundfunkanstalten erfolgreich und Vergessenheit: Die neueren Forschungen zu den Ghettos wie auch zum jüdischen Widerstand berufen sich so wenig auf seine Arbeiten Gebunden, 176 Seiten mit Abb., e 19,99 (D) 15 Ansgar Skriver, »Theater im Dritten Reich«, in: Spandauer Volksblatt, 5.8.1964. Siedler 16 Martin Broszat, »Probleme zeitgeschichtlicher Dokumentation«, in: Neue Poli- 17 Siehe Eckart Conze u. a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten Auch als E-Book erhältlich. www. siedler-verlag.de tische Literatur, Jg. 2 (1957), S. 298–304. im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 587.

30 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 31 Claude Lanzmanns gleichnamigen Film, in dem wiederum Hilberg als einziger Historiker zu sehen ist. Hilberg hat sich selbst immer als Einzelgänger gesehen und bisweilen bewusst so stilisiert. Er war ein Einzelkind, und schon während seiner Schulzeit, so beschreibt er es in seinen Erinnerun- »It is my intention to make this gen, vertiefte er sich in Fragen der Geographie und Geschichte mit einer Konzentration, die seiner Umwelt eigenbrötlerisch erschien. the defi nitive analysis of the great Der Habitus des abweisend wirkenden Außenseiters, der seine 1 Worte mit einer sardonischen, nicht selten schroffen Bestimmtheit Jewish catastrophe« formuliert, ist ihm zeit seines Lebens eigen geblieben. Hilbergs historische und politische Interessen waren nicht zuletzt durch sein Raul Hilberg und die Entwicklung persönliches Schicksal beeinfl usst. 1926 in Wien geboren, gelang ihm und seinen Eltern 1939 gerade noch die Flucht über Kuba in der Holocaustforschung die Vereinigten Staaten. Im Oktober 1944 wurde er Soldat der US 1 Army, und die Frontwelle der Alliierten spülte ihn Ende April 1945 »Die großen Worte sind vergessen, man nach München, wo er zufällig auf Kisten mit der Privatbibliothek von Magnus Brechtken weicht ins Altbekannte aus.«2 Mit leich- Hitlers stieß. »Später habe ich dann begriffen, daß im Grunde jeder, tem Sarkasmus resümierte Heinz Höhne, mit dem ich sprach, der in einem gewissen Alter war, schon in ho- einfl ussreicher Autor zu zeithistorischen hem Maße verwickelt war, wo immer er auch war.«5 Als ihm dies PD Dr. Magnus Brechtken ist stell- Themen beim Spiegel, die Neuerscheinungen zur NS-Geschichte bewusst wurde, habe er sich gesagt: »Mit Deutschen habe ich nichts vertretender Direktor des Instituts im Herbst 1979. Er beklagte vor allem das Fehlen einer deskriptiv- mehr zu tun, überhaupt nichts. Ich kaufe keine deutsche Ware, ich Raul Hilberg Foto: Walter H. Pehle für Zeitgeschichte München-Berlin. analytischen Darstellung des nationalsozialistischen Massenmords betrete Deutschland nicht, und das bis – so sagte ich mir – bis 1985. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die – »trotz aller guten Vorsätze der Verleger. Wie hörte man es doch 40 Jahre.«6 Hilberg befolgte diese Regel, unterbrochen nur durch Juni 1948 wechselte Hilberg zur Columbia University, wo ihn der Vorgeschichte und Geschichte des noch vor einem halben Jahr, unter dem Schock der ›Holocaust‹- einige kurze Forschungsaufenthalte beispielsweise an der Zentralen jüdisch-amerikanische Historiker Salo Baron beeindruckte. Prä- Nationalsozialismus; Geschichte des Sendung, so anders! Da schworen sich die Verleger, endlich die seit Stelle in Ludwigsburg und am Institut für Zeitgeschichte in Mün- gend wurde jedoch seine Begegnung mit einem weiteren Emigran- Antisemitismus; deutsch-britisch-ame- Jahren überfällige Übersetzung von Raul Hilbergs unübertroffenem chen, nahezu vollständig. 1984 reiste er zur ersten nennenswerten ten: Franz Neumann. Dessen Behemoth (Oxford University Press, rikanische Beziehungen seit dem Standardwerk über die Judenvernichtung (›The Destruction of -Konferenz, die in Deutschland stattfand. Aber auch das 1942) las Hilberg gleich mehrfach und gewann eine Idee von den 19. Jahrhundert; Medien und Politik European Jews‹) in Angriff zu nehmen.«3 Höhnes ironische Klage nur, weil der Organisator Eberhard Jäckel ihn 1983 unangemeldet strukturellen Kräften in Heer, Staatsdienst, Wirtschaft und Partei, im 20. Jahrhundert; Politische Memoi- und sein Beispiel trafen gleichermaßen. in Burlington besucht und persönlich eingeladen hatte. Nun begann aus denen die nationalsozialistische Herrschaft so viel verbreche- ren; internationaler Diskurs zur Ver- Die Lebensgeschichte Raul Hilbergs als Wissenschaftler, das langsam die angemessene Rezeption, die Hilberg in den folgenden rische Energie generierte. Die Motivation für seine Forschungen arbeitung der nationalsozialistischen Schicksal seines Hauptwerkes und seines Lebensthemas wirken zwei Jahrzehnten bis zu seinem Tod im August 2007 doch noch über den Judenmord datierte Hilberg rückblickend noch vor seine Herrschaft seit 1945. Von 2007 bis untrennbar miteinander verwoben. Sie sind zugleich lesbar als Zei- jene hohe Anerkennung brachte, die ihn in zahlreichen Nachrufen Begegnung mit Neumann: »Ich hatte bereits die Vorstellung, eine 2012 war er Associate Professor und chen der Forschungs- und Rezeptionsgeschichte im Prozess der als Begründer und Nestor der Holocaust-Forschung feierte.7 Aber Arbeit über die Vernichtung der Juden zu schreiben. Das Thema Reader für »German History and Poli- Verarbeitung der nationalsozialistischen Herrschaft nach 1945. De- blicken wir zurück auf die Anfänge. war damals tabu, um es milde zu sagen, niemand war wirklich tics« an der University of Nottingham. ren zentraler Verbrechenskomplex erhielt durch die Fernsehserie Seit Oktober 1946 aus der Armee entlassen, prägte den jungen interessiert daran. Ich selber war offi ziell Student im Gebiet des Monographien (Auswahl): Scharnier- seine popularisierte Bezeichnung. Zwar mochte Hilberg das Wort Studenten Hilberg am New Yorker Brooklyn College zunächst public law.«8 Aber Neumann gab Hilbergs Drängen nach, seine zeit 1895–1907. Persönlichkeitsnetze Holocaust nicht und betonte, dass zu der Zeit, als er mit seinem der Emigrant Hans Rosenberg, der in ihm das Interesse an der Magisterarbeit und auch die Dissertation zu betreuen. »Ohne und internationale Politik in den Studium begann »there was as yet no word of what had happened«4. Wirkungsmacht der Bürokratie weckte. Nach seinem B. A. im Neumann wäre auch kein Hilberg gewesen«, fasste Hilberg später deutsch-britisch-amerikanischen Be- Aber dies war sein Thema. Und das Wort »Shoah« erhielt als (Kon- zusammen.9 Schon der Titel der Magisterarbeit – »Die Rolle des ziehungen vor dem Ersten Weltkrieg, kurrenz-)Begriff erst in den 1980er Jahren Aufmerksamkeit durch öffentlichen Dienstes bei der Vernichtung der Juden«10 – wies die Mainz: Verlag Philipp von Zabern, 2006. Die nationalsozialistische 5 Raul Hilberg, in: Harald Welzer (Hrsg.), »Auf den Trümmern der Geschichte«. Gesprä- Herrschaft 1933–1939, Darmstadt: che mit Raul Hilberg, Hans Mommsen und Zygmunt Baumann, Tübingen 1999, S. 26. 1 Raul Hilberg Papers, University of Vermont (RHP), Hilberg an Millard Hansen, 6 Ebd., S. 27. 8 Raul Hilberg im Gespräch mit Alfons Söllner, in: Dan Diner (Hrsg.), Zivilisations- Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Faculty of Social Sciences, University of Puerto Rico, 19.4.1955. 7 Eine Übersicht zu Nachrufen bis Ende August 2007 fi ndet sich unter: www.zeit- bruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988, S. 175–200, hier S. 176. 2. überarb. Aufl . 2012. »Madagaskar 2 Heinz Höhne, »Selten Skrupel. Viele neue Bücher über die nationalsozialistische geschichte-online.de/portals/_rainbow/documents/pdf/hilberg_nachrufe.pdf 9 www.vwi.ac.at/vwi_ifk_tagung/hilberg/hilberg.htm, 19‘40‘‘ [28.2.2012]. »Neu- für die Juden«. Antisemitische Idee Ära auf der Frankfurter Buchmesse. Ihr aufklärerischer Wert ist zweifelhaft«, in: [17.6.2012]. Wolfgang Wippermann: »›Passt nicht ins Programm‹. Zum Tode von mann half mir mehr als jeder andere in diesem Land«, so Hilberg schon 1987 im und politische Praxis 1885–1945, Der Spiegel vom 8.10.1979. Raul Hilberg (1926–2007)«, in: literaturkritik.de, Nr. 8, August 2007, Nachrufe, Gespräch mit Alfons Söllner, in: Diner (Hrsg.), Zivilisationsbruch, S. 179. 3 Ebd. Raul Hilberg, www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11069&ausgabe 10 Die Arbeit mit dem Originaltitel »The Role of the German Civil Service in the München: R. Oldenbourg, 2. Aufl . 4 Raul Hilberg, »The Development of Holocaust Research: A Personal Overview«, =200708 [6.8.2012]; vgl. insgesamt Jan Süselbeck: »Am Abgrund. Anmerkungen Destruction of Jews« datiert von 1950 und befi ndet sich als Typoskript in der 1998. in: Yad Vashem Studies, Vol. 35 (2), 2007, S. 21–33, hier S. 22. zu den deutschen Nachrufen auf Raul Hilberg«, in: ebd. Butler Library, Columbia University New York.

32 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 33 weitere Forschungsrichtung, auf die sich Hilberg in den folgenden Abschlusstext ein, sodass er im Januar 1955 seine Promotion formell Jahren konzentrierte. In hohem Maße entscheidend für die Er- abschließen konnte.16 folgsaussichten dieses Ansatzes war, dass Hilberg auf Vermittlung Die Schwierigkeiten Hilbergs wirken in ihrer Vielfalt aus heu- Neumanns seit Juni 1951 als Research Specialist im War Docu- tiger Perspektive im Wortsinn merkwürdig: Seine handschriftlichen mentation Project arbeiten konnte. Im Federal Records Centre in Notizen mussten getippt werden, was Hilberg selbst neben seiner ei- Alexandria/Virginia, einer ehemaligen Waffenfabrik, lagerten zehn gentlichen Arbeit zu erledigen hatte. Überhaupt: das Geld. Über Jah- Kilometer deutsche Akten: »Da fi ndet man, was man nicht sucht«, re beklagt Hilberg »heavy debts«17, die aus der Arbeit am Manuskript so Hilberg später.11 Und obwohl er dort wenig glücklich war, vor entstanden, und stets kämpfte er gegen den Geldmangel, der seine allem wegen mancher Personalie,12 und es insgesamt nicht mal ein Forschung verzögerte. Bitten um fi nanzielle Unterstützung beim Jahr aushielt, blieb der schiere Eindruck der Aktenmassen seine Social Science Research Council18, dem American Jewish Commit- prägende Erfahrung. Er verließ das Projekt, obwohl er das ver- tee19, der John Simon Guggenheim Memorial Foundation20 sowie gleichsweise gute Gehalt dringend gebrauchen konnte, und begann eine Bewerbung bei Gordon Craig um eine Förderung im Rahmen im Frühjahr 1952 mit dem Schreiben.13 des American Foreign Policy Program21 blieben erfolglos. Auch über Als Hilberg Neumann die Gliederung seiner Doktorarbeit zeigte, seine Aussichten auf eine Karriere als Hochschullehrer war Hilberg kommentierte der trocken (und inzwischen viel zitiert): »Das ist Ihr regelmäßig frustriert und hoffnungslos: »I have no longer any con- Begräbnis.« Er meinte damit, so Hilberg, »daß meine Berufsaus- fi dence in the colleges«, schrieb er im März 1955 aus Puerto Rico, sichten, meine Karriere mit dieser Art von Dissertation gleich Null wo er zum dringend nötigen Geldverdienen eine unbefriedigende sein würden. Also, er warnte mich, und er hatte recht damit.«14 Was Dozentur übernommen hatte. »They have let me down.«22 wie eine rückblickende Stilisierung wirkt, ist doch das Bild der Von Puerto Rico aus bewarb er sich im März 1955 bei Ludwig zeitgenössischen Überlieferung: Hilbergs einsame Fleißarbeit in den Marcuse am Department of Political Sciences der Brandeis Univer- Raul Hilberg im Dokumenten bei gleichbleibenden fi nanziellen Schwierigkeiten und sity und erklärte: »I am typing up the remaining sixteen hundred Arbeitszimmer seines Lektors Walter Pehle, einem allgemeinen Desinteresse der akademischen und allgemeinen pages of my work. I do not expect that it will be published, but I feel Frankfurt am Main, 23 Öffentlichkeit an diesem Forschungsgebiet. Und Hilbergs Arbeit war that I must fi nish it in any case.« Gegenüber Philip Friedman vom 29.9.1997 einsam. Schon bei der Lektüre der Nürnberger Prozessakten, aber YIVO-Institut beklagte er, dass die Arbeit am Buch »has suffered a Foto: Walter H. Pehle vor allem seit er den Zugriff auf die Dokumente in Alexandria hatte, virtual standstill (…) Still, I shall continue, even without fi nancial schrieb er Seite um Seite ab. Das hatte wiederum den Effekt, dass assistance and without hope of publication. In a year I can fi nish the sich im Prozess des exzessiven Exzerpierens und Nachdenkens über book, without the help of any kind.«24 Das Buch zu vollenden und stay here [in Puerto Rico, M. B.] for another year. Perhaps, for a Deren diffi zile Geschichte ist von ihm selbst ausführlich beschrie- die Jahre sein Verständnis vom Funktionieren jenes weit strukturier- es allen zu zeigen: Das vor allem blieb Hilbergs treibendes Motiv.25 lifetime.«26 Es kam anders. Am 1. Februar 1956 begann seine Kar- ben worden,30 namentlich die Ablehnung aus Yad Vashem und das ten deutschen Apparates mit seiner bürokratischen Gesetzmäßigkeit Zugleich belastete ihn die berufl iche Stagnation: »I may … have to riere an der University of Vermont in Burlington. Diesmal war es negative Gutachten von Hannah Arendt für Princeton University herausbildete, durch den die Juden zunächst defi niert, dann abge- tatsächlich »for a lifetime«; schon nach wenigen Monaten wirkte er Press sowie die generelle Auseinandersetzung mit Arendt im Umfeld sondert und schließlich vernichtet wurden. Die nach Vollständigkeit weniger unruhig und wie angekommen: »It is a quiet, peaceful place der Diskussion um ihre Publikationen über .31 Seiner 27 strebende Beherrschung des Aktenmaterials sollte stets Hilbergs 16 »Prologue to Annihilation: A Study of the Identifi cation, Impoverishment, and and I have liked it here.« Dies mochte auch daran liegen, dass er nun Bekannten Ruth Ludwig schrieb er: »My morale in 1959 was so low Arbeitsmaxime bleiben.15 Isolation of the Jewish Victims of Nazi Policy«, sponsored by Professor William endlich eine Finanzhilfe für die Fertigstellung seines Manuskripts that I could not bring myself to write you about everything that was Neumanns plötzlicher Unfalltod im September 1954 war ein T. R. Fox of the Public Law and Government Department at Columbia Universi- erhalten hatte. Die Conference on Jewish Material Claims Against happening to me.«32 Als im Oktober 1960 endlich der Vertrag mit Schock. Er war nicht nur sein wichtigster Förderer, sondern auch ty, New York; RHP, Hilbergs Schreiben aus Puerto Rico an das Offi ce of the Germany bewilligte am 15. Juni 1956 ein Stipendium von 1.500 dem kleinen Chicagoer Verlag Quadrangle Books unterschrieben und Dean zur Terminabsprache, 24.11.1954. 33 und vor allem sein Doktorvater. Mit Glück fand Hilberg in Wil- 17 RHP, Hilberg an Philip Friedman, 6.5.1955. Dollar, das in drei Raten ausgezahlt wurde. »I shall be able to repay die Finanzierung dank einer Spende von Frank Petschek gesichert liam T. R. Fox einen neuen nominellen Betreuer und reichte umge- 18 RHP, Hilberg an Social Science Research Council, 25.11.1952. all my personal debts«, schrieb Hilberg dankbar an Philip Friedman, hend ein knappes Viertel seines Manuskripts, rund 400 Seiten, als 19 RHP, Hilberg an Morris Fine, Director Library of Jewish Information of the der diesen Stipendienantrag angeregt und unterstützt hatte.28 American Jewish Committee, 16.12.1952. Als das Manuskript mit 1.300 Seiten plus Dokumentation29 20 In den Hilberg-Papieren fi ndet sich ein nicht unterzeichnetes Gutachten zu Hil- 30 Raul Hilberg, The Politics of Memory. The Journey of a Holocaust Historian, Chica- berg für die Stiftung vom 17.12.1952 (möglicherweise von Franz Neumann), aus abgeschlossen war, begann Hilbergs Odyssee der Verlagssuche. go 1996; ders., Unerbetene Erinnerung, S. 92–103. Überhaupt sind Hilbergs Erinne- der sich eine Bewerbung erkennen lässt, die selbst nicht in Hilbergs Nachlass rungen ein langer Kommentar zur Veröffentlichungsgeschichte seines Hauptwerks. 11 www.vwi.ac.at/vwi_ifk_tagung/hilberg/hilberg.htm, 14‘10‘‘. überliefert ist. 31 Hilberg, Politics of Memory, S. 109–111 zu Yad Vashem und S. 147–157 zu Han- 12 Einschlägige Briefe in Hilbergs Nachlass: RHP, Hilberg an Hans Epstein, 21 RHP, Hilberg an Craig, 22.12.1952; er schrieb auf Anregung Neumanns und be- nah Arendt. Zu Hilberg – Arendt jetzt: Ursula Ludz, »In den Untiefen des Allzu- 5.10.1951; Hilberg an Philip E. Mosely, 1.11.1951; und Antwort Moselys vom tonte: »My notes consist of 6000 handwritten pages. They will fi ll a book of more 26 RHP, Hilberg an Philip Friedman, 13.4.1955. menschlichen. Hilberg vs. Arendt«, in: HannahArendt.net. Zeitschrift für Politi- 12.11.1951; vgl. seine Schilderungen in den Erinnerungen: Raul Hilberg, Uner- than 1000 printed pages.« 27 RHP, Hilberg an Philip Friedman, 8.7.1956. sches Denken. Journal for Political Thinking, Ausg. 1/2, Bd. 6, Nov. 2011 betene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers. Aus dem Amerik. von 22 RHP, Hilberg an Leonard [o.N.], 7.3.1955. 28 RHP, Judah J. Shapiro/CJMCAG an Hilberg, 15.6.1956; Hilberg an Philip Fried- (www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/17/86). Hans Günther Holl, Frankfurt am Main 1994, S. 63–65. 23 RHP, Hilberg an Ludwig Marcuse, 7.3.1955. Anlass des Briefes war Hilbergs man, 8.7.1956. 32 RHP, Hilberg an Ruth Ludwig, 31.1.1961. 13 RHP, Aufzeichnung Hilbergs o. D. (Sommer 1956). Jobsuche: »I am wondering whether you can use me in your Department.« Ebd. 29 Hilbergs Seitenangaben variieren, mal ist von fast 2.000 Seiten die Rede, mal von 33 In der Erstaufl age war vermerkt: »A publication sponsored by the Frank and Jani- 14 Raul Hilberg im Gespräch mit Alfons Söllner, in:Diner (Hrsg.), Zivilisations- 24 RHP, Hilberg an Philip Friedman, 13.4.1955. 1.600, mal, wie hier von 1.300. RHP, Hilberg an Leon Shapiro, Assistant Director na Petschek Foundation«. Zum Hintergrund der Familie Petschek vgl. die Zusam- bruch, S. 179. 25 Er hatte sich ursprünglich vorgenommen, Neumann das Manuskript auf den Tisch of the Department of Cultural and Educational Reconstruction, Conference on menfassung von Harold James: »›Schwere moralische Schuld‹. Arisierung«, in: 15 Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 68. zu legen mit den Worten: »Hier ist mein Begräbnis.« Jewish Material Claims Against Germany, 19.4.1959. Die Zeit v. 24.2.1995.

34 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 35 war, schien einer Wahrnehmung dieses empirischen Grundlagen- Erstveröffentlichung erschien eine Besprechung in den Yad Vashem treated and why?«.48 Doch daraus wurde nichts. Nach dem Erfolg an Ulf Wolter übertragen, damit dieser es leichter haben würde, seine werks nichts mehr im Weg zu stehen. Studies42– eine Abrechnung über mehr als 40 Seiten (»What we have der Konferenz von San José folgten ähnliche Initiativen. Die Wa- enormen Investitionen wieder einzuspielen.56 Für eine hebräische Wir wissen, wie weit gefehlt diese Annahme war. Hilbergs Ar- before us is not a serious study seeking out the truth, but an outlet shington University in St. Louis, Missouri, fragte Hilberg um Rat Übersetzung hätte man sich mit Wolter verständigen müssen. Aber beit wurde nicht nur in den Sog der Arendt-Eichmann-Diskussion for feelings of disappointment and frustration, resentment and anger, bei der Kandidatensuche für einen Lehrstuhl in Holocaust-Studien.49 offensichtlich hatte niemand ein besonderes Interesse, unbedingt eine gezogen. Viele Kritiker bildeten sich eine Meinung, ohne Hilbergs perhaps even pain.«43). In Deutschland wiederum waren weite Teile Ein St. Louis Center for Holocaust Studies war bereits gegründet hebräische Ausgabe herauszubringen. Gutman antwortete erst fünf Buch gelesen zu haben. Die Zeitschrift Midstream schrieb erklärend der Öffentlichkeit ebenso wie die maßgeblichen Historiker nicht da- worden.50 Auf einem Holocaust Symposium der Old Dominion Uni- Monate später, blieb mit den Übersetzungsplänen vage, sondierte an Hilberg, man habe vergeblich nach einem Rezensenten gesucht.34 ran interessiert, mit Hilberg genauer nach den Tätern zu fragen. Die versity in Norfolk, Virginia hatte Hilberg bereits im April 1980 über aber, ob Hilberg im akademischen Jahr 1984–85 für einige Zeit nach Dazu hatte unabsichtlich wohl auch die glühend positive Rezension dominierenden Geschichtspolitiker der Zeit, allen voran Gerhard Rit- »Impacts of the Holocaust« referiert51 und mit der These geschlossen: Jerusalem kommen könne.57 Eine hebräische Übersetzung von The von Hugh Trevor-Roper beigetragen, der Hilbergs Arbeit in den ter, versuchten, den Nationalsozialismus als fremd und uneigentlich »Today, the Holocaust has entered the realm of literature, theology, Destruction of the European Jews erschien nicht. höchsten Tönen lobte, aber auch Hilbergs Charakterisierung der aus dem Lauf der deutschen Geschichte heraus zu interpretieren.44 and politics. More broadly speaking, it has entered into history.«52 Gleichwohl war offensichtlich: Hilberg begann (endlich) eta- jüdischen Passivität hervorhob.35 Als Kernprovokation erschien in Der Droemer-Verlag hatte zwar 1963 die Rechte erworben und schon Im Juni 1981 unterzeichnete Hilberg, auch für ihn durchaus bliert, anerkannt und international gefragt zu werden. »What am I den kritischen Kommentaren immer wieder Hilbergs These von der dreihundert Seiten übersetzt, kippte das Projekt dann jedoch aus, wie überraschend, seinen Vertrag für die deutsche Übersetzung seines doing for immortality«, schrieb er 1982, allenfalls halb ironisch, an »anticipatory compliance«. Maurice Rosenthals Rezension lautete nicht nur Hilberg fand, vorgeschobenen Gründen, wonach das Buch Hauptwerks, die im Herbst 1982 erscheinen sollte.53 Sie basierte seinen Kollegen Alan Wertheimer in einem universitären Rechen- dementsprechend: »The Murdered are not Guilty!«36 Eine eloquent- missverstanden werden könne. Der Kalte Krieg tat ein Übriges, dass notgedrungen auf der älteren englischen Version, während er gera- schaftsbericht und führte auf: »For the last twenty years, on and mehrschichtige Kritik präsentierte der Harvard-Historiker Oscar man den Deutschen mit den Forderungen nach einer Aufarbeitung de eine neue amerikanische Ausgabe vorbereitete, die aber für den off, I have been preparing a second edition of my fi rst book, The Handlin,37 der für den Massenmord explizit das Wort »holocaust« ihrer Verbrechen nicht zu nahe treten wollte.45 deutschen Text zu spät kam. Der deutsche Verleger Ulf Wolter hatte Destruction of the European Jews.«58 »I am a very slow person, benutzte und als »the powerful engine of destruction [which] the Immerhin war die erste englischsprachige Aufl age mit 5.500 so viel Geld in die Übersetzung investiert, dass er das Buch dringend unable to work on more than one project at a time«, hatte er schon Germans controlled« defi nierte.38 Handlins Lesart blieb dominiert Exemplaren nach einigen Jahren vergriffen und wurde nachgedruckt. auf den Markt bringen musste, um seine Kosten refi nanzieren zu 1963 erklärt.59 Hilberg blieb bei seinem Thema auch dann, wenn von der Annahme, dass Hilberg seine Opfer verantwortlich mache Das Thema war in der Welt und wartete, abgesehen vom Sonderfall können. »Wolter has been in a rush and consequently the book will er Bücher mit anderen Titeln schrieb.60 Es zeigte eine neue innere (»blaming the catastrophe on its victims«).39 Es ist dieses (Miss-) Israel, wo namentlich in Yad Vashem bereits fortlaufend über das not contain all the collaborations or refi nements of the American Gelassenheit in Hilbergs Charakter, dass er im Jahr 2004 auf einer Verständnis, das die meisten Reaktionen in jüdischen Zeitschrif- Schicksal der europäischen Juden gearbeitet wurde, auf seine eigent- edition that will appear next year.«54 Tatsächlich übernahm sich internationalen Holocaust-Konferenz in Yad Vashem Léon Poliakov ten bestimmte. Hilberg dagegen insistierte, dass man zunächst die liche internationale Entdeckung. In den Vereinigten Staaten war es Wolter mit dem Projekt und konnte den Verlag nicht halten.55 als »the founder of this academic discipline that we now call ›the Verfolger analysieren müsse, »weil nur der Täter, nicht das Opfer 1974 wiederum Hilberg, der als erster ein Hochschulseminar zum Noch bevor die deutsche Übersetzung auf den Markt kam, trafen Holocaust‹« charakterisierte.61 Denn es war doch für alle deutlich, wusste, was am nächsten Tag geschehen würde. Die Täter waren Thema »Holocaust« anbot.46 Der Aufbau einer wissenschaftlichen sich im Juni 1982 führende Holocaust-Forscher, darunter Hilberg dass nicht nur die Wissenschaftsgemeinde inzwischen Hilberg selbst ausschlaggebend. Man kann nicht mit der Reaktion anfangen.«40 Infrastruktur in Nordamerika begann Ende der 1970er Jahre. In San und Israel Gutman, zu einer Konferenz in Paris. Die beiden sprachen als den eigentlichen Begründer und Nestor dieses Forschungsge- Bei Handlin ist beispielhaft zu sehen, wie Hilbergs Gegner dessen José trafen sich im März 1978 international führende Historiker, offensichtlich auch über die Möglichkeit einer hebräischen Über- bietes ansah. Dass er selbst mit bedachtsamer Größe über solche Argumente auf die Frage nach dem Warum reduzierten, während um das Forschungsgebiet »Judenvernichtung« zu erörtern.47 Auch setzung von Hilbergs Hauptwerk, denn der wandte sich nach seiner Fragen räsonieren konnte, zeigte vor allem eines: Nach 60 Jahren war Hilberg, wie er regelmäßig wiederholte, vor allem das Wie analy- gab es seit 1980 durchaus verlegerisches Interesse an einer gründ- Rückkehr direkt an Gutman, um den Stand der Urheberrechte zu Hilberg angekommen, wo sein innerer Drang ihn seit Jahrzehnten sieren und beschreiben wollte – erstmals und im Detail. licheren Bearbeitung der Hintergründe und Schwierigkeiten der schildern. Hilberg hatte die Rechte für alle Sprachen außer Englisch hintrieb – im Zentrum eines bleibenden Werks. Hilbergs vermeintliche Kritik am mangelnden jüdischen Wider- Holocaust-Geschichtsschreibung. Arthur Samuelson von Schocken stand gegen die Vernichtung schien eine Art Bann zu provozieren. Books schlug Hilberg vor, eine »historiography of the Holocaust«

Andere Texte besetzten den Vordergrund, oder, wie eine Historio- zu schreiben, besonders zur Frage »how the Holocaust has been 48 RHP, Arthur H. Samuelson, Schocken Books, an Hilberg, 28.2.1980. Das Ange- graphiegeschichte zusammenfasste: »The work that probably drew bot kam als Reaktion auf einen Essay-Band, den Hilberg gern veröffentlichen the greatest attention to the Holocaust in the United States in the wollte, von dem Schocken aber meinte, er solle besser bei einer University Press 1960s was not American and not scholarship. It was The Depu- erscheinen. 56 RHP, Hilberg an Israel Gutman, 14.9.1982. Reacts to the Holocaust, Baltimore, London 1996, S. 693–748, hier S. 722. 49 RHP, Burton M. Wheeler (Professor of English Search Committee for the Chair 57 RHP, Israel Gutman an Hilberg, 2.2.1983. 41 ty, written by Rolf Hochhuth.« Erst sechs Jahre nach Hilbergs 42 Nathan Eck, »Historical Research or Slander«, in: Yad Vashem Studies on the Eu- in Holocaust Studies) an Hilberg, 31.7.1981; eine weitere ausführliche Anfrage 58 RHP, Hilberg an Alan [Wertheimer], 14.4.1982. ropean Jewish Catastrophe and Resistance, Vol. VI (1967), S. 385–430. mit Details zum Profi l ebd., Wheeler an Hilberg, 30.10.1981. 59 RHP, Hilberg an Shlomo Katz (Editor, Midstream), 6.1.1963, der ihn wegen ei- 43 Ebd., S. 430. Ecks Text und die ihm innewohnenden Missverständnisse gegen- 50 Ebd. nes Symposiums angeschrieben hatte, zu dem Hilberg einen Beitrag schreiben über der Analyse Hilbergs wären eine eigene Darstellung wert, die hier nicht ge- 51 RHP, Programm des Symposiums vom 8., 9., 10. und 13.4.1980. sollte, was er wegen seiner Universitätsaufgaben mit der zitierten Begründung 34 RHP, Shlomo Katz, Editor Midstream, A Quarterly Jewish Review, an Hilberg, leistet werden kann. 52 RHP, Maschinenschriftliches Überblicksmanuskript zu Hilbergs Vortrag »Impacts ablehnte. 17.7.1962. 44 Das markanteste Beispiel ist Gerhard Ritter, »The Historical Foundations of the of the Holocaust« am 13.4.1980. 60 Es ist hier nicht der Ort, auf seine zahlreichen weiteren Publikationen einzuge- 35 Hugh Trevor-Roper, »Nazi Bureaucrats and Jewish Leaders«, in: Commentary, Rise of National-Socialism«, in: The Third Reich. A Study Published under the 53 RHP, Hilberg an Theron Raines, 24.6.1981, mit einem Ausdruck des deutschen hen, von denen nur einige genannt werden sollen: Sonderzüge nach Auschwitz Vol. 33 (1962), No. 4, S. 351–356. Auspices of the International Council for Philosophy and Humanistic Studies Verlagsvertrages in englischer Sprache. erschien im April 1981 im spezialistischen Kleinverlag Dumjahn in Mainz und 36 Maurice Rosenthal, »The Murdered are not Guilty!«, in: The Jewish Spectator, with the Assistance of UNESCO, New York 1955, S. 381–416. 54 RHP, Hilberg an Uwe Dietrich Adam, 23.9.1982; Adam hatte Hilberg um Hilfe wurde nie ins Englische übersetzt. Perpetrators, Victims, Bystanders. The Jewish Vol. 27 (1962), No. 3, S. 24–27. 45 Es wäre lohnenswert, auf die Publikationen beispielsweise von Gerald Reitlinger für seine Bewerbung um die Stelle des Stellvertretenden Direktors am Institut für Catastrophe 1933–1945 erschien 1992 in New York und als Täter, Opfer, Zu- 37 Oscar Handlin, »Jewish Resistance to the Nazis«, in: Commentary, Vol. 34 und Léon Poliakov seit den 1950er Jahren und deren Wirkung in der deutschen Zeitgeschichte (IfZ) in München gebeten. Hilberg unterstützte Adams Bewerbung schauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945 im selben Jahr im Frankfurter (1962), No. 5, S. 398–405. Öffentlichkeit im Vergleich zum Werk Hilbergs einzugehen, wofür hier nicht der in einem ausführlichen Schreiben an das Institut. Ebd., Adam an Hilberg, S. Fischer Verlag. Auch auf die herausragenden Rollen von Ulf Wolter, dem ers- 38 Ebd., S. 401. Platz ist. 30.8.1982; Hilberg an das IfZ, 23.9.1982. ten Verleger von Hilbergs Hauptwerk, und Walter Pehle, dem Lektor des Fischer 39 Ebd., S. 405. 46 Nathaniel Popper, »A Conscious Pariah«, in: The Nation, 31.3.2010. 55 Wolfgang Wippermann: »›Passt nicht ins Programm‹. Zum Tode von Raul Verlags, der Hilbergs Œuvre recht eigentlich erst in Deutschland durchsetzte, 40 Zitat in: »Ich fälle kein Urteil«. Interview mit Raul Hilberg, in: die tageszeitung 47 Die Berichte über diese Konferenz und Hilbergs Verhalten, namentlich gegenüber Hilberg (1926–2007)«, in: literaturkritik.de, Nr. 8, August 2007, Nachrufe, Raul kann hier nur hingewiesen werden und bedarf einer ausführlicheren Darstellung. v. 7.12.2002, http://www.taz.de/pt/2002/12/07/a0075.nf/text [16.1.2011]. den deutschen Teilnehmern, sind widersprüchlich. Sie sollen an anderer Stelle im Hilberg. www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11069&ausgabe 61 Hilberg, »Development of Holocaust Research«, S. 23. Bemerkungen Hilbergs 41 David S. Wyman, »United States«, in: ders., Charles H. Rosenzweig, The World Detail präsentiert werden. =200708 [6.8.2012]. auf einer Konferenz in Yad Vashem am 24.11.2004.

36 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 37 Beiträge zu Leben und Wirken Fritz Bauers bei ihm lag zwischen 22.00 und 00.30 Uhr. Bauer bot Kekse an Feststellungen der Mordkommission Frankfurt am Main und ein Glas Cognac. Da sein Vorrat an Gebäck aufgebraucht war, bat er Frau Sch., ihm in der kommenden Woche welches zu be- Nach dem Tatortbefundbericht8 wurden die Ermittlungen vor Ort sorgen. Über persönliche Dinge wurde nicht viel gesprochen. Er von dem langjährigen, erfahrenen Leiter der Frankfurter Mord- erwähnte seine Schwester und beiläufi g, dass er schlecht schlafen kommission, Kriminalbezirkskommissar Galli, geleitet. Als Frau Die Todesumstände von könne, er schlafe des Öfteren nur mit »Chemie«. Gesprächsthe- L. die Wohnungstür öffnete, fi el ihr Blick durch die halb geöffnete ma seien auch die Studentenunruhen gewesen und dass er sich Badezimmertür auf die Leiche im Wasser. Daraufhin verschloss sie Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hinsichtlich der weiteren politischen Entwicklung sorge. Gegen die Wohnungstür sofort von außen; am Fundort wurde somit nichts 23 Uhr rief ein Bekannter aus München an, mit dem er über verändert. Der Polizeiarzt Dr. Reinhartz stellte eine nicht aufgeklärte (1903–1968) ein Theaterstück gesprochen habe. Gegen Mitternacht machte Todesursache fest. Die Kriminalisten untersuchten die Leiche, das er in der Küche zwei Würstchen heiß und servierte sie auf dem Badezimmer und die Wohnung und fanden keine Auffälligkeiten. Es Balkon, wobei ihm das Senfglas zu Boden fi el und er sich unter müsse angenommen werden, dass der Tod am Samstagabend oder von Dieter Schenk heiteren Worten bemühte, die Spuren vom Teppich zu entfernen. in der Nacht zum Sonntag eingetreten sei. Der Bericht der Krimi- Frau Sch. betonte, ihr Gesprächspartner habe in keiner Weise nalpolizei führt aus, dass kein Abschiedsbrief gefunden wurde. Die mutlos oder niedergedrückt gewirkt, was auf Freitodabsichten Kriminalisten kamen zu der Bewertung: Überraschend wurde Fritz Bauer am 1. Ju- hätte hindeuten können. li 1968 im Alter von fast 65 Jahren tot in › Für einen Selbstmord liegen keine Anhaltspunkte vor. seiner Wohnung in der Feldbergstraße 48 › Die Besichtigung der Leiche und der Örtlichkeiten lassen der in Frankfurt am Main aufgefunden. Poli- Auffi nden des toten Generalstaatsanwalts Vermutung Raum, dass ein Tod aus natürlicher Ursache, Herz- und Dieter Schenk, von 1963 bis 1989 als zeiliche und gerichtsmedizinische Untersuchungen wurden zwar Kreislaufversagen, vorliegen dürfte. Beamter im Hessischen Landeskrimi- vorgenommen, die Ursachen beziehungsweise die Umstände, die Seinen letzten Vortrag hielt Fritz Bauer am 28. Juni 1968, einem › Anhaltspunkte für eine andere Todesart, eventuell eines Verbre- nalamt sowie im Bundeskriminalamt zum Tod dieses mutigen und engagierten Juristen führten, geben Freitag, in Karlsruhe und saß noch bis weit nach Mitternacht mit chens, liegen nicht vor. tätig, ist Historiker und freier Publizist bis heute Anlass zu Vermutungen und Gerüchten – vom Suizid bis den Veranstaltern und Diskussionsteilnehmern zusammen.3 Er über- und seit 1998 Honorarprofessor der zum Fremdverschulden. nachtete im »Schloss-Hotel«, von dort war er im Laufe des nächsten Die Haushälterin gab gegenüber den Beamten an, dass sie seit elf Universität Łódź mit einem Lehrauftrag Fritz Bauer lebte in Frankfurt das Dasein eines Single. Eine Vormittags abgereist.4 Jahren bei Fritz Bauer tätig sei und dass dieser vermutlich stark für die Geschichte des Nationalsozialis- Nachbarin ging für ihn einkaufen, er hatte eine Haushälterin (»Zu- Am 29. Juni wurde er in den Nachmittagsstunden gesehen, als herzkrank und sehr nervös gewesen sei. Er habe immer etwas da- mus. Schenk ist Träger des Fritz-Bauer- gehfrau«), und wenn er nach Dienstschluss nicht gerade an einem er das Haus betrat.5 Hausbewohner hatten dann bemerkt, dass in gegen eingenommen. Preises der Humanistischen Union. Manuskript arbeitete oder Fachpublikationen studierte, widmete der Nacht von Sonntag (30. Juni) auf Montag (1. Juli) das Licht Der Bericht der Kriminalpolizei enthielt die Feststellung: »Ober- Zahlreiche Publikationen: Krakauer er sich Literatur, Theater und Kunst. Der Intellektuelle Fritz Bauer im Badezimmer brannte und Bauer auf Klingeln nicht öffnete. Sie staatsanwalt Krüger ordnete vorsorglich eine Leichenöffnung an, Burg. Die Machtzentrale des General- war auch viel unterwegs, hielt Vorträge, nahm an Diskussionen teil, verständigten telefonisch die Generalstaatsanwaltschaft. Ein Haus- die durch den örtlich zuständigen Staatsanwalt beantragt werden gouverneurs Hans Frank 1939–1945, mischte sich streitbar in Debatten ein, besuchte Freundinnen und bewohner sprach vom »häufi gen Besuch dunkler Elemente« und müsste.«9 Für eine »Anordnung« war der Oberstaatsanwalt als An- Berlin 2010; BKA. Polizeihilfe für Freunde.1 empfahl, »die Polizei nicht einzuschalten«.6 gehöriger der Generalstaatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Folterregime, mit einem Vorwort von Während sich Oberstaatsanwalt Ulrich Krüger, Bauers ständi- weder örtlich noch sachlich zuständig. In der Tat machte Krüger AI-Generalsekretärin Barbara Loch- ger Vertreter im Amt, zusammen mit dem Hausmeister vergeblich jedoch auf die Notwendigkeit einer Obduktion aufmerksam und be- bihler, Bonn 2008; Der Lemberger Verlauf des Abends vor Bauers Ableben bemühte, die Wohnungstür zu öffnen, und sodann versuchte, die tonte gegenüber dem Mordkommissionsleiter Galli, dass ihm »unter Professorenmord und der Holocaust in Haushälterin Luise L. zu erreichen, die einen Schlüssel besaß, war allen Umständen an einer Obduktion gelegen sei, um allen späteren Ostgalizien, Bonn 2007; Hans Frank. Der 29. Juni 1968, ein Samstag, war ein warmer Sommerabend. diese bereits unterwegs und traf gegen 13 Uhr ein. Sie sah, als sie Redereien rechtzeitig vorbeugen zu können«. Galli möge das in dem Hitlers Kronjurist und Generalgouver- Fritz Bauer saß mit der Nachbarin Lucie Sch., die ein Stockwerk die Wohnung betrat, dass der Generalstaatsanwalt tot in der Bade- Vorgang vermerken und sicherstellen, dass bei der Staatsanwaltschaft neur, Frankfurt am Main 2006; Auf dem über ihm wohnte und schon öfter seine Gesprächspartnerin gewe- wanne lag.7 darauf geachtet werde.10 rechten Auge blind. Die braunen Wur- sen war, auf seinem Balkon in der zweiten Etage des Mietwohn- In den amtlichen »Richtlinien für das Strafverfahren« heißt es, zeln des BKA, mit einem Vorwort von blocks aus den 1950er Jahren. Frau Sch. sagte später aus, dass dass »die Staatsanwaltschaft prüft, ob eine Leichenöffnung erforder- Michel Friedman, Köln 2001. Bauer guter Laune war (»aufgeräumt und heiter«).2 Ihr Besuch lich ist, wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, ob jemand eines nicht natürlichen Todes gestorben ist. Lässt sich […] bei der Lei- Foto: Pawel Zarychta, 2011 chenschau eine Straftat nicht ausschließen oder ist damit zu rechnen,

1 Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München 2009, 3 Wojak, Fritz Bauer, S. 453. S. 437. 4 Aktenvermerk OStA Krüger, GStA Frankfurt/M., o.D., S. 1. 2 Aktenvermerk Oberstaatsanwalt (OStA) Krüger, Generalstaatsanwaltschaft 5 Gutachten Gerchow, 24.1.1969. 8 Tatortbefundbericht Kripo Frankfurt/M., 1. K., 1.7.1968. (GStA) Frankfurt/M., 26.7.1968, S. 1–2. Die nachfolgend zitierten Quellen (Ak- 6 Aktenvermerk OStA Krüger, GStA Frankfurt/M., o.D., S. 1. 9 Ebd. tenvermerk OStA Krüger, Gutachten Gerchow u.a.) allesamt Archiv Schenk. 7 Aktenvermerk OStA Krüger, GStA Frankfurt/M., o.D., S. 1, 2. 10 Aktenvermerk OStA Krüger, GStA Frankfurt/M., o.D., S. 3, 7.

38 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 39 dass die Feststellungen später angezweifelt werden, so veranlasst der obsolet, denn der Obduzent wäre so oder so Prof. Joachim Gerchow Staatsanwaltschaft grundsätzlich die Leichenöffnung.«11 In der Straf- gewesen, der als Gerichtsmediziner im Rhein-Main-Gebiet einen prozessordnung ist dies in den §§ 87 ff. geregelt. Eine richterliche überragend guten Ruf genoss. Da spielte es kaum eine Rolle, ob Leichenschau fand nicht statt, wohl hielten sich die Staatsanwälte noch ein zweiter Arzt und ein Richter teilgenommen hätten oder Wolfgang Uchmann und Gerhard Zack vorübergehend in der Woh- nicht. nung und am Fundort der Leiche auf.12 Nach eigenem Bekunden handelte Gerchow eigenständig und Es ist davon auszugehen, dass damals die Frage einer Obdukti- auf eigene Kosten und führte am 3. Juli 1968 eine Verwaltungs- on bei der zuständigen Frankfurter Staatsanwaltschaft beim Land- sektion durch.16 Auch sie wird nach allen Regeln der gerichtsme- gericht erörtert worden ist. Nachweislich hat sie die gerichtliche dizinischen Kunst wie eine gerichtliche Obduktion vorgenommen, Leichenöffnung nicht angeordnet und sogar die Leiche zur Feu- unterscheidet sich aber von ihr – wie schon erwähnt – dadurch, dass erbestattung freigegeben, woran sich Prof. Dr. Joachim Gerchow sie ein Gerichtsmediziner allein vollzieht. erinnerte.13 Eine Akte darüber existierte (im Jahre 2003) nicht mehr, Das Sektionsprotokoll galt wegen eines Dachstuhlbrandes im wie damals eine Nachfrage durch den Verfasser ergab (Auskunft Gerichtsmedizinischen Institut der Goethe-Universität Frankfurt durch LOStA Hubert Harth, Leiter der StA b. LG Frankfurt am am Main bis September 2003 als verschollen, wurde aber dann Main). Ob Ärzte, die den Verstorbenen behandelten, zu Rate gezo- doch gefunden und von Gerchow dem Verfasser am 28. September gen wurden, ist gleichfalls unbekannt. Deshalb ist die Entscheidung, 2003 zur Verfügung gestellt.17 Im Anschluss an die Leichenöffnung keine gerichtlich angeordnete Leichenöffnung nach der Strafpro- ließ Gerchow auf Bitten von Kultusminister Ernst Schütte und der zessordnung zu veranlassen (an der zwei Obduzenten und ein Rich- bekannten Juristin Ilse Staff, die beide mit Fritz Bauer befreundet ter teilnehmen), nicht mehr eindeutig nachvollziehbar. Vermutlich waren, durch einen Präparator seines Instituts eine Totenmaske basiert sie auf dem Bericht der Kriminalpolizei, der zur Annahme anfertigen.18 eines natürlichen Todes tendierte. Die Entscheidungsfi ndung der Frankfurter Staatsanwaltschaft wurde jedoch durch den Ablauf der Ereignisse überholt, weil sich Gerichtsmedizinische Erkenntnisse in dieser Phase abzeichnete, dass der Frankfurter Gerichtsmediziner Gerchow eine sogenannte Verwaltungssektion beabsichtigte und Am 24. Januar 1969 erstellte Gerchow ein abschließendes Gut- bei den Angehörigen eine Genehmigung einholen ließ, die alsbald achten, das auch von Dr. Raudonat unterschrieben wurde, der für über den Testamentsvollstrecker erteilt worden war. Fritz Bauer die chemisch-toxikologischen Untersuchungen verantwortlich hatte testamentarisch verfügt, dass seine Leiche eingeäschert wer- zeichnete.19 Das Gutachten wurde an den Ersten Staatsanwalt der den soll.14 Das ist nach den Bestimmungen über Feuerbestattungen Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main, Horst Kuhn, übersandt bei einer unklaren Todesursache nur nach einer vorausgegangenen (»Sektions-Staatsanwalt« genannt). Kuhn leitete das Gutachten Verwaltungssektion möglich (§ 3 Gesetz über die Feuerbestattung). »gemäß Rücksprache« am 6. Februar 1969 an Oberstaatsanwalt Aus dem Protokoll von Oberstaatsanwalt Krüger ergibt sich, dass Krüger weiter. Bei einem Gespräch mit dem Verfasser am 9. März Oberstaatsanwalt Wentzke und Staatsanwalt Uchmann (Staatsan- 2003 konnte sich Gerchow nicht erinnern, warum er das Gutachten waltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main) mit Gerchow mit dieser zeitlichen Verzögerung vorlegte. Aufzeichnungen über in Verbindung standen, folglich über die Entwicklung informiert Telefonate mit der Staatsanwaltschaft besaß er nicht mehr, wie er waren.15 betonte. Eine Obduktion fand also statt, allerdings auf einer anderen In dem Gutachten wurden als wesentliche Befunde herausge- Rechtsgrundlage. Die darüber entstandene Diskussion ist im Grunde stellt, dass Bauer fünf Tabletten Veronal eingenommen und dass er im Blut 1,0 bis 1,1 Promille Alkohol hatte. Außerdem war er

11 Ziff. 33, Richtlinien für das Strafverfahren i.d.F. 1.1.2008. 12 Aktenvermerk OStA Krüger, GStA Frankfurt/M., o.D., S. 4. 16 Mitteilung Prof. Gerchow an den Verfasser, 26.3.2003. 13 Mitteilung Prof. Gerchow an den Verfasser, 26.3.2003. 17 Sektionsprotokoll, Institut für gerichtliche und soziale Medizin, 3.7.1968, Sekti- 14 In Bauers Testament vom 31.12.1967 heißt es: »Ich wünsche ohne jede Feier- ons-Nr. 431/68. lichkeit verbrannt zu werden. Die Asche soll nicht beigesetzt werden.« Bauer 18 Mitteilung Prof. Gerchow an den Verfasser, 9.3.2003. wurde in Frankfurt am Main eingeäschert, seine Urne am 20.8.1968 nach Göte- 19 Abschließendes Gutachten Prof. Gerchow über das Ergebnis der Obduktion und Aufnahmen während der Dreharbeiten zur TV-Dokumentation burg (Schweden) versandt (Einäscherungsbuch von 1968) und (vermutlich) im weiterer Untersuchungen, 24.1.1969, Sektions-Nr. 431/68; Untersuchungsauftrag HEUTE ABEND KELLERKLUB: FRITZ BAUER, Hessischer Rundfunk, 1964. Grab seiner Eltern auf dem jüdischen Friedhof in Göteburg beigesetzt. [Anm. d. 0317 chemische Untersuchung, Sektions-Nr. 431/68; Untersuchungsauftrag 0346 Red.] Blutalkoholbestimmung, Sektions-Nr. 431/68; Bericht Dr. Raudonat über Unter- 15 Aktenvermerk OStA Krüger, GStA Frankfurt/M., o.D., S. 6, 8, 10, 16, 17, 19. suchung von Mageninhalt u. Blut, 25.7.1968.

40 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 41 ernsthaft an einer schweren Bronchitis erkrankt und litt ferner an »Dunkle Elemente« Aus Gründen, die nicht mehr feststellbar sind, hat die Staatsan- bedrohten. Mit fünf Veronal Freitod zu begehen wäre aus seiner Sicht einer Verkalkung der Herzkranzgefäße. Im Einzelnen wurde hierzu waltschaft beim Landgericht Frankfurt keine gerichtliche Obduktion eine sehr unsichere Menge gewesen. Die Kasuistik in Freitodfällen erläutert: »Dunkle Elemente«, von denen ein Hausbewohner im Rentenalter beantragt. Gleichwohl fand mit ihrem Wissen und offensichtlich auch verweist auf eine hohe Dosis (»Überdosis«). Es gibt keine Anhaltspunkte für Tod durch Ertrinken oder fi nales erzählte, der als übereifrig und sehr gealtert beschrieben wurde,22 Wollen eine Verwaltungssektion statt, die sich im Resultat nicht von Fritz Bauer war weder amtsmüde, noch hatte er resigniert. Er Ertrinken und gleichfalls keine für äußere Gewaltanwendung. Da bedeuten nichts, die Aussage ist dubios und vor allem: Fritz Bauer einer gerichtlichen Obduktion unterscheidet. wollte, wie Irmtrud Wojak feststellt, ein besseres, humanes Recht nicht bekannt ist, wie lange der Todesablauf gedauert hat, könne wurde nach dem Obduktionsergebnis und den Untersuchungen der In seinem abschließenden Gutachten vom Januar 1969 stellt schaffen und sei in diesem Bemühen nicht zu bezwingen gewesen. die Alkoholkonzentration, die zum Todeszeitpunkt vorlag, noch kriminalpolizeilichen Mordkommission nicht etwa Opfer eines Ver- Gerchow folgende Sätze an den Anfang seiner Beurteilung: »Die Zwar schätzte er seine Umwelt häufi g negativ ein, äußerte Zweifel höher gewesen und eine kombinierte Wirkung mit dem Medikament brechens. Wer ihn besuchte, ging niemanden etwas an. Vielmehr hat Beurteilung der Todesursache des Generalstaatsanwaltes Herrn Dr. an der Fähigkeit der Deutschen, die Fakten ihrer Gegenwart zur Veronal eingegangen sein. Schließlich spiele der hohe Zigaretten- die Staatsanwaltschaft richtig entschieden, ohne Verdacht nicht in Fritz Bauer ist schwieriger als zunächst vermutet werden konnte. Kenntnis zu nehmen und rational zu verarbeiten. Doch scheine die konsum eine Rolle. Verschiedene Faktoren dürften nach Gerchow seinem Privatleben zu forschen, das bedeutet ex post kein Defi zit, Nach dem Obduktionsbefund mit den deutlichen Tablettenresten im eher negative Grundstimmung sogar die Quelle seines Tatendrangs nicht einfach addiert werden, hätten aber in ihrer Gesamtheit eine sondern diente dem Schutz der Privatsphäre. Magen und einem den Tod nicht ausreichend erklärenden schick- gewesen zu sein. Aus ihr schöpfte er seine »sachliche Leidenschaft« ungünstige Wirkung entfaltet. Zwar erhielt der Generalstaatsanwalt besonders während des salhaft organischen Krankheitsbefund musste an eine Tabletten- bis zu einer Intensität, die schließlich seine physischen Lebenskräfte Wenn man diese Feststellungen abwäge, blieben zweifellos Frankfurter Auschwitz-Prozesses anonyme Post. Es liegt zum Bei- vergiftung gedacht werden. Inzwischen sind alle Befunde zusam- aufzehrte.27 manche Fragen offen. Es bestehe kein Zweifel, so Gerchow, dass spiel eine Postkarte vor, auf der er als »Feind Deutschlands« und mengetragen worden, die schliesslich in ihrer Gesamtheit – um das eine Überdosis Revonal – ein Schlafmittel – eingenommen worden »Handlanger von Juda« diffamiert wurde; es folgte die Drohung, Ergebnis vorwegzunehmen – die Möglichkeit eines Unglücksfalles sei. Es könne begründet vermutet werden, dass dies zumindest als dass »die Zeit für eine Antwort auf dieses Teufelswerk komme«.23 nicht ausschliessen.« ein wesentlicher Teilfaktor für das tödliche Geschehen aufgefasst Der Herausgeber der Deutschen National Zeitung und Bundes- Mit dieser einleitenden Aussage verleiht der Gerichtsmedi- 27 Wojak, Fritz Bauer, S. 437. werden müsse. Gerchow leitet hiervon die Vermutung ab, dass die vorsitzende der von ihm gegründeten rechtsextremen Deutschen ziner der Unfallthese Gewicht, kommt aber schließlich – mit der fünf Tabletten in suizidaler Absicht verabfolgt wurden. Volksunion (DVU), Gerhard Frey, veröffentlichte regelmäßig Pam- gebotenen Vorsicht des Sachverständigen – zu dem Ergebnis, dass Die übrigen Befunde schlössen jedoch unter Berücksichtigung phlete gegen Bauer. Ja, es wurden sogar zwei Personen zu zwei bei der Verabfolge einer Überdosis von Veronal eine suizidale der Lebensgewohnheiten von Fritz Bauer nicht mit erforderlicher Jahren Gefängnis verurteilt, die einen Mordanschlag auf Willy Absicht vermutet werden könne und dass man andererseits einen Sicherheit aus, dass es sich auch um einen Unglücksfall gehandelt Brandt, Fritz Bauer und Günter Grass sowie einen Sprengstoff- Unglücksfall nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen haben könnte. Diese Möglichkeit werde dadurch nahegelegt, dass anschlag auf die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in könne. Allerdings wäre aus Gerchows Erfahrung bei Freitodabsicht verschiedene innere und äußere Faktoren zusammengekommen sind, Ludwigsburg geplant haben sollen.24 Fest steht, dass Fritz Bauer die Überdosis wahrscheinlich höher als fünf Tabletten Veronal die für sich allein betrachtet keine wesentliche Bedeutung haben politische Gegner und rechtsextrem eingestellte Feinde hatte. Das gewesen. Man könne ferner nicht ausschließen, dass Fritz Bauer dürften, in ihrer Gesamtheit aber eine Wirkung entfaltet haben könn- alles kann aber nicht in einen Zusammenhang mit seinem Tod »möglicherweise in hohem Maße an derartige Mittel gewöhnt ten, die nicht beabsichtigt war beziehungsweise nicht willentlich gebracht werden. Die immer mal wieder kolportierte Behauptung, war«.25 herbeigeführt worden ist. er sei ermordet worden, entbehrt nach der Beweislage jeglicher Das Verhältnis von Fritz Bauer zu Frau Sch. stellt sich als von Gegenüber dem Verfasser erklärte Gerchow, dass Veronal später Grundlage. rein nachbarschaftlicher Natur dar. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, wegen der Missbrauchsgefahr vom Markt genommen wurde.20 Es dass Bauer an diesem Abend gegenüber Frau Sch. einen psychischen sei das klassische Mittel gewesen, um abzuschalten, sich »zu« zu Zustand verschleierte, um nicht erkennen zu lassen, dass er alsbald machen. Durch Wechselwirkung mit Alkohol würde die Wirkung Zusammenfassung aus dem Leben scheiden wolle. Ganz banale Überlegungen sprechen erhöht. Die tödliche Dosis von Veronal sei nicht bekannt gewesen. gegen Suizid, denn wer sich in den nächsten Stunden umbringen Auf Rückfrage stimmte Gerchow zu, dass bei Freitodabsicht die Erfahrene Kriminalisten schlossen aufgrund des Tatortbefundes den will, bestellt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht bei der Nachbarin Dosis eingenommener Tabletten mit einer gewissen Wahrschein- Verdacht eines Fremdverschuldens wie auch Suizid aus. Mit dem den Einkauf von Keksen. lichkeit höher als fünf Tabletten gewesen wäre, er sprach von »bis Obduktionsergebnis entfi elen weitere Ermittlungen, die die Staats- Hingegen sind Bauers in die Zukunft gerichtete Handlungen von zu 50 Tabletten«. Er hielt es auch für möglich, dass Bauer durch anwaltschaft nach § 160 und § 163 Strafprozessordnung nicht anord- Bedeutung, wie die Verabredung eines zeitnahen Besprechungster- Gewöhnung an das Medikament die Einnahmedosis erhöht hatte, nen durfte, selbst wenn das Ergebnis der Leichenöffnung eindeutig mins bei der Humanistischen Union und die Beantragung der Ver- »einfach um abzuschalten«. Rückblickend auf sein Gutachten merkte auf Freitod gelautet hätte. Ausschlaggebend ist, dass kein Verdacht längerung seiner Amtszeit um drei Jahre im Einvernehmen mit der er an, er hätte eine Vergiftung in suizidaler Absicht nicht mit letzter einer Straftat vorlag. Sich selbst das Leben zu nehmen ist nicht mit Hessischen Landesregierung. In Briefen an Thomas Harlan betonte Sicherheit ausschließen können.21 Strafe bedroht. Bauer war, wie die Nachbarin Lucie Sch. bezeugte, Bauer nachdrücklich, er wolle unbedingt in Frankfurt am Main bis im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Anhaltspunkte für strafbare 1971 weitermachen.26 Gehilfen bei einem Suizid oder gar Beibringen des Medikaments Der Generalstaatsanwalt konnte die gesundheitlichen Risiken unter Zwang lagen nicht vor. nicht einschätzen, die in ihrer Summe sein Leben bereits erheblich

20 Mitteilung Prof. Gerchow an den Verfasser, 26.3.2003. 22 Aktenvermerk OStA Krüger, GStA Frankfurt/M., o.D., S. 1. 25 Abschließendes Gutachten Prof. Gerchow, 24.1.1969. 21 Siehe Ruth H. Anders, »Veronal. Die Geschichte eines Schlafmittels«, in: Phar- 23 Personalakten Fritz Bauer, Fritz Bauer Institut. 26 Briefe Fritz Bauers an Thomas Harlan (Kopien von Bauers Briefen im Archiv des mazeutische Zeitung online, 47/2003. 24 Der Spiegel, Nr. 47 vom 14.11.1966 u. Frankfurter Rundschau, 15.11.1966. Fritz Bauer Instituts).

42 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 43 Beziehungen zwischen Täter und Opfer

Formelle Macht Informelle Macht Organisationsgrad der Täter (Hierarchische Beziehung) (Gleichheitsbeziehung)

Gegenmittel Handelt im Namen einer I Institutioneller Rassismus II Ideologisch-doktrinärer Bildungsstrategien gegen Institution/Organisation Rassismus 1 Handelt auf eigene Initiative III Rassismus durch Positions- IV Interpersoneller Rassismus Antisemitismen oder Machtmissbrauch

von Monique Eckmann › dass Antisemitismus ein Weltbild ist, das Erklärungen für vieles, Es gibt jedoch auch wichtige Unterschiede zwischen Rassis- 1 was nicht »gutgeht«, liefert, von Projektionen genährt ist und eine mus und Antisemitismus, die hervorzuheben sind, vor allem was Im sozialen Nahraum machen Jugendliche identitätsstiftende Funktion hat, also ein Wir-Gefühl bildet; Diskursfi guren und Mechanismen betrifft. Sie sprechen dafür, die Erfahrungen mit vielen unterschiedlichen › dass es heute weniger um rechtsextreme Varianten von Antisemi- zwei Phänomene auch manchmal getrennt anzugehen. Wo Rassismus Formen von Abweisung, Gewalt und Diskri- tismus geht, sondern um subtilen, manchmal offenen Antisemi- Ungleichheit und Unterlegenheit des »Anderen« betont, beruht Anti- minierung. Sie können als Erfahrungen mit tismus »nach oder trotz Auschwitz«, geprägt von Ressentiments semitismus vor allem auf Verschwörungstheorien und Vorstellungen Prof. Dr. Monique Eckmann, »Gruppenbezogener Menschenenfeindlichkeit« beschrieben werden.2 und Verschwörungstheorien; von der Übermacht der Juden. Soziologin an der Fachhochschule In diesem Kontext beinhaltet Bildungsarbeit gegen Antisemitismus › dass Antisemitismus viele Formen und Versionen hat und sich Eigentlich wäre es zutreffender, im Plural von Rassismen und Westschweiz, Schule für Soziale Ar- vielfältige Herausforderungen schulischer und außerschulischer Art. Antisemitismus in Kapitalismuskritik, Israel-Kritik und Kosmo- Antisemitismen zu sprechen, die beide verschiedene historische beit, Genf. Ihre Lehr- und Foschungs- Seit einer bahnbrechenden Konferenz zur Bildung gegen Antise- politismus-Kritik verstecken kann; Ausdrucksformen annehmen und in ihrem Kontext analysiert und schwerpunkte sind Intergruppenkon- mitismus im Jahr 20043 konnten viele Erfahrungen gesammelt wer- › dass eine Politisierung des Antisemitismus im Zusammenhang mit situiert werden müssen. Nun gibt es jedoch aus sozialpädagogischer fl ikte, der dialogische Umgang mit den, vieles wurde erprobt und auch Fortschritte gemacht, an all dies dem Nahostkonfl ikt stattfi ndet, was die Bildungsaufgabe erschwert Sicht auch wichtige Begründungen, im sozialen Nahraum beides als Identität und Erinnerung und die Ent- werde ich hier anknüpfen. In diesem Artikel werden pädagogische und dazu beitragen kann, sich selbst als Opfer der »übermächtigen artikulierte Phänomene gemeinsam anzugehen. Es ist oft nicht nur wicklung von Bildungsansätzen gegen Strategien diskutiert, er wird nicht die Analysen des Antisemitismus Juden« darzustellen. schwierig, sondern auch unangebracht, in einer konkreten Gruppe Rassismus, Antisemitismus und Rechts- referieren. Unter PädagogInnen, die sich mit antisemitismuskriti- von Teilnehmern nur die Erfahrungen der Angehörigen einer der extremismus sowie im Bereich Men- scher Bildungsarbeit beschäftigen, besteht eine relativ hohe Einigkeit Gruppen anzusprechen und die anderen im Dunkeln zu lassen. Dies schenrechts- und Friedenserziehung. zu folgenden Feststellungen: 1. Antisemitismus und Rassismus im selben Feld oder hat zur Konsequenz, dass im Bildungsraum die einen als Opfergrup- Neuere Publikationen: »Identitäten, › dass der Umgang mit Geschichte, insbesondere mit Holocaust und getrennt angehen? pe fungieren, während andere implizit als Tätergruppe kategorisiert Zugehörigkeiten, Erinnerungsgemein- Nationalsozialismus nicht gegen gegenwärtigen Antisemitismus Spezifi sches des Antisemitismus und Folgen für Bildung werden. Es ist also problematisch, sich nur mit Antisemitismus zu schaften. Der Dialog zwischen ›Ver- wirkt; befassen, aber es ist auch problematisch, die spezifi schen Mecha- mittlungsposition‹ und ›Empfangspo- › dass es »Antisemitismus ohne Juden« gibt; Eine oft diskutierte Frage ist, ob Antisemitismus und Rassismus nismen von Antisemitismus nicht zu berücksichtigen. sition‹«, in: Barbara Thimm, Gott- als getrennte Felder, oder im Gegenteil, gemeinsam angegangen Jedoch gibt es im sozialen Nahraum, so etwa der Schule, dem fried Kößler, Susanne Ulrich (Hrsg.), werden sollten. Es gibt gute konzeptionelle Gründe, beide Felder Jugend- oder Quartierzentrum, viele Missverständnisse, was die Verunsichernde Orte. Selbstverständ- getrennt anzugehen, und ebenso gute Gründe, beides gemeinsam Natur von rassistischen bzw. antisemitischen Vorfällen betrifft. Dies nis und Weiterbildung in der Gedenk- 1 Dieser Beitrag beruht auf dem Vortrag »Bildung – Antisemitismen – Sozialraum anzugehen. kann anhand einer Typologie rassistischer Vorfälle5 klargestellt wer- stättenpädagogik, Frankfurt am Main, – ein Themenaufriss«, der am 26. Oktober 2011 in Berlin auf der Tagung »Bil- Gemeinsam ist beiden die Ideologie der Ungleichwertigkeit, den (siehe Abb. oben). dungsraum Lebenswelt« im Rahmen der Tagungsreihe Blickwinkel. Antisemitis- 4 2010, S. 64–69. »Welche historischen mus in der Migrationsgesellschaft gehalten wurde. Die Tagungsreihe wird von und es gibt, so der Historiker Fredrickson , gemeinsame Wurzeln Wenn sich Jugendliche über Rassismus unterhalten, werden Bezüge braucht Bildung gegen Diskri- der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« in Zusammenarbeit mit von Rassismus und Antisemitismus in einer weißen, christlichen einerseits interpersonelle Vorfälle, wie Beleidigungen und Alltags- minierung?«, in: Rainer Huhle der »Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus«, dem Zentrum für Antisemi- Überlegenheitsideologie, die als Legitimierung zur Herstellung einer konfl ikte, manchmal physische Gewalt, angesprochen, wie sie so- (Hrsg.), Human Rights and History. A tismusforschung und dem Fritz Bauer Institut organisiert. Vgl. www.stiftung-evz. »rassistischen Ordnung« dient. In dieser Argumentation steht also wohl Rassismus wie auch Antisemitismus betreffen. Dasselbe gilt de/blickwinkel [4.7.2012]. Challenge for Education, Berlin 2010, 2 Vgl. die zusammenfassende Darstellung in Eva Groß, Andreas Zick, Daniela die Gruppe im Mittelpunkt, die den rassistischen Diskurs konstruiert, für die ideologisch-doktrinäre Kategorie, das heißt die Verbreitung S. 166–174 (www.stiftung-evz.de/w/ Krause, »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«, in: Aus Politik und Zeitge- nicht diejenigen, die Objekt der Aggression sind. fi les/publikationen/evz_publ_mrb_ schichte, 16–17/2012, S. 11–18. web.pdf). 3 Vgl. Fritz Bauer Institut, Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.), Neue Ju- denfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globali- 5 Vgl. Monique Eckmann, »Rassismus und Antisemitismus als pädagogische sierten Antisemitismus, Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Handlungsfelder«, in: Fritz Bauer Institut, Jugendbegegnungsstätte Anne Frank Frankfurt am Main, New York 2006. 4 George M. Fredrickson, Rassismus – Ein historischer Abriss, Hamburg 2004. (Hrsg.), Neue Judenfeindschaft?, S. 210–232.

44 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 45 von rassistischen oder antisemitischen Diskursen und Bildern. Aber 2. Vier Bildungsstrategien gegen Antisemitismen Betrachtung von Comics, die bewusste Wahrnehmung von Anti- Beispiel Homophobie oder Sexismus sein, wie sie das Syndrom Jugendliche aus diversen sozialen, ethnischen oder religiösen Min- semitismus im Internet, historische und aktuelle Figuren und ihre der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit nach Heitmeyer und derheiten machen auch häufi g Erfahrungen von Diskriminierung In den letzten Jahren lassen sich vier Bildungsstrategien gegen jeweilige Semantik, zu stärken, um dadurch Stereotypien bewusst anderen11 umfasst. (siehe Machtmissbrauch), sei es auf dem Arbeitsmarkt, durch Nach- Antisemitismus erkennen, die im Folgenden diskutiert werden; zu machen und ihre Mechanismen durchschauen zu lernen. Es handelt sich hier um einen Ansatz, der aus der Antidiskrimi- barn oder Polizei. Dies ist eine Erfahrung, die für den Antisemitismus sie berücksichtigen die oben erwähnten Konstellationen in unter- Dasselbe Vorgehen sollte auch in der Auseinandersetzung mit nierungspädagogik bekannt ist und der die Vorfälle weder hierarchi- nur selten zutrifft, was Unverständnis unter vielen Jugendlichen (und schiedlicher Weise und reagieren auf unterschiedliche Facetten des anderen Figuren angewandt werden, wie Rassismus gegen Schwarze, siert noch wertet. Er bietet jedem und jeder die Gelegenheit, seine Pädagogen!) hervorruft, die sich in der Meinung ausdrückt, dass Antisemitismus: Sinti und Roma, Muslime oder andere, um Ähnlichkeiten und Un- Erfahrungen als Betroffener darzulegen. Hier fi nden sich dann auch »Juden ja gar nicht diskriminiert werden«. Zudem gibt es heute in › Antisemitismus als Diskursfi guren erkennen und de-konstruieren; terschiede von rassistischer bzw. antisemitischer diskursiver Praxis die von Wieviorka beschriebenen Phänomene wie Ressentiments, Europa keinen staatlich oder institutionell verordneten Antisemi- › Antisemitismus als Erfahrung im Gesamtbereich Rassismus/Dis- zu erhellen. Auf diese Weise können auch die Hintergründe von Entwürdigung, alltägliche Diskriminierungen, wobei auch soziale tismus, was man im Bereich Rassismus nicht immer sagen kann. kriminierung – also eine Intervention im sozialen Nahraum als Opferkonkurrenz erläutert werden.9 und räumliche Benachteiligungen zur Sprache kommen, die Jugend- Wenn also diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten von rassisti- alltägliche Lebenswelt; Die Herausforderung bei diesem Ansatz ist, dass diese Bilder tief liche je nach Kontext und Situation als Täter, als Opfer wie auch als schen Konstellationen und Vorfällen nicht wahrgenommen werden, › Antisemitismus als Intergruppenkonfl ikt und demzufolge Begeg- in Kultur und Gesellschaft verankert sind und sich nur sehr langsam Bystanders erleben. Es ist dabei wichtig, die vorher erwähnten Miss- wenn keine Unterscheidung gemacht wird zwischen Entrechtung nungsprojekte auf dem Hintergrund der Kontakthypothese; verändern, wenn sie sich überhaupt verändern. Bei der Arbeit mit verständnisse, so etwa die Vermischung von Diskriminierungen und und Diskriminierung einerseits und Hass, Abneigung und Gewaltan- › Antisemitismus als Global- und Lokalgeschichte – also Arbeit mit Bildern und Repräsentationen besteht auch immer die Gefahr, diese Beschimpfungen (siehe Typologie oben) zu vermeiden und zwischen wendung andererseits, werden sie zum Hindernis für Bildungsarbeit. Geschichte(n) und Erinnerung(en). zu reproduzieren. Eine rasche Änderung von aktuellem Verhalten ist Diskriminierung »von oben« und Rassismus bzw. Antisemitismus Die Projektionsmechanismen und die Selbstwahrnehmung sind also Sehen wir uns also die vier Bildungsstrategien, ihre Möglichkeiten, jedenfalls nicht zu erwarten. Das Ziel besteht eher darin, Denkfi guren »von unten« zu unterscheiden. Auf der Basis der Anerkennung dieser beim Rassismus und beim Antisemitismus nicht dieselben. Man hat Grenzen und spezifi schen Herausforderungen genauer an: bewusst zu machen und durch das De-konstruieren von Denkfi guren Erfahrungen wird im nächsten Arbeitsschritt nach gemeinsamen mit einer Umkehrung des Machtparadigmas zu rechnen: Während Argumentationskompetenzen zu stärken. Strategien gesucht, um Diskriminierungen und Hass entgegenzuwir- Rassismus das Feindbild des Schwachen aufruft, handelt es sich Antisemitische Bilder und Diskursfi guren de-konstruieren Es erweist sich auch oft, dass diese Bilder und Diskursfi guren ken und solidarisch zu handeln. Ziel dieser Bildungsveranstaltungen beim Antisemitismus um ein Feindbild des Übermächtigen. Beiden unter PädagogInnen nur wenig bekannt oder bewusst sind. Gerade ist es, alle dazu anzuregen, Verantwortung zu übernehmen. gemeinsam ist jedoch die Tatsache, dass es nur wenige Vorfälle In diesem Ansatz geht es darum, zunächst antisemitische Denkfi gu- auch sie müssen trainiert werden, denn nicht nur die Jugendlichen, Die Herausforderung bei diesem Ansatz liegt darin, dass Anti- gibt, die ideologisch untermauert sind; in vielen Fällen handelt es ren und Bilder als solche erkennen zu lernen, um dann diese Bilder auch die Erwachsenen sind in Projektions- und Abwehrmechanis- semitismus oft als allgemeiner Diskurs erscheint und sich nicht in sich um die Ethnisierung sozialer Konfl ikte und Machtbeziehungen und Diskurse zu analysieren, sie zu de-konstruieren und antisemiti- men verstrickt. Diese Mechanismen könnten den Nährboden für direkten Konfl ikten sichtbar macht (so der »Antisemitismus ohne (Lapeyronnie6). sche Denkmuster infrage zu stellen. Es ist also eine vorwiegend kog- die große Diskrepanz bilden, die zwischen der Wahrnehmung bzw. Juden«). Es macht also einen großen Unterschied, ob bei diesem Wenn es jedoch um Antisemitismus geht, ist Bildungsarbeit nitive Annäherung, eine Arbeit mit Repräsentationen, die sowohl im Interpretation des Antisemitismus bei Jugendlichen einerseits und Zugang jüdische Jugendliche im Kontext anwesend sind oder nicht. durch dieses umgekehrte Machtparadigma erschwert: Bildung gegen Klassenraum wie auch in Jugendbegegnungszentren praktiziert wird. bei PädagogInnen andererseits festgestellt werden kann.10 Eine Gefahr besteht darin, dass PädagogInnen eine Stellvertreterpo- Hassgefühle muss vis-à-vis von vermeintlich »Mächtigen« betrie- Bei den Inhalten dieser Bilder handelt es sich um Topoi wie sition einnehmen könnten, wenn keine jüdischen Teilnehmer anwe- ben werden, die oft durch ihre vermeintliche Machtstellung keine Verschwörungstheorien und Machtphantasien, Gerüchte über die Antisemitismus als Erfahrung im sozialen Nahraum send sind (oder sogar wenn sie anwesend sind). Eine solche Identifi - Empathie hervorrufen, die im Zeitgeist der Menschenrechte den Juden, ihre paradoxale Darstellung, sowohl mit Übermacht ausge- kation mit den Juden als Opfern wird seitens anderer Jugendlicher als Schwachen und Unterdrückten gilt. Auch ist es ein Leichtes für stattet wie auch als ewige Opfer. In diesem Zusammenhang kann Ganz anders liegt der zweite Ansatz, wo Antisemitismus als Erfah- moralisierend empfunden und ruft häufi g Abwehrreaktionen hervor Jugendliche (oder weniger Jugendliche), sich selbst als »Opfer« der »Antisemitismus ohne Juden« angegangen werden, da diese Bilder rung im sozialen Nahraum im Kontext zunehmender Ethnisierung oder verstärkt bereits vorhandene Widerstände. Juden zu betrachten und sie sogar bei (antisemitischen) Vorfällen zu in jedem Kontext existieren, auch ohne dass Juden gegenwärtig sind. von sozialen Konfl ikten angegangen wird. Es handelt sich darum, Dieser Ansatz ist sozialpädagogischer Art und wird eher im Tätern umzudeuten und auf diese Weise verstärkt die Existenz von Es handelt sich ja nicht nur um Feindbilder, sondern auch um eine eine Erfahrung bewusst zu teilen, die in einer alltäglichen Lebenswelt außerschulischen Raum praktiziert. Das Handhaben solcher Work- Antisemitismus abzustreiten. Weltanschauung, die Erklärungsmuster für alles liefern kann. Auch von allen Beteiligten in ihren Dimensionen von Inklusion und Exklu- shops erfordert Kompetenzen und Erfahrung im Bereich der Grup- Es besteht allerdings meist kein gefestigtes konsistentes anti- sind es, wie Messerschmidt betont,8 sehr fl exible Feindbilder, die sich sion erlebt wird. Diese Bildungsstrategie sucht in Gruppen oder in penmoderation. semitisches Weltbild, sondern wir haben es mit Fragmenten eines nicht, wie dies oft zugeschrieben wird, vor allem in Minderheiten Workshops von den persönlich erlebten Erfahrungen auszugehen und Diskurses zu tun, die sich in Ressentiments und Machtlosigkeit fi nden, sie sind vielmehr strukturell in den Mehrheitsgesellschaften Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen anzusprechen und auszu- Begegnungspädagogik: Dialogprojekte zu Antisemitismus ausdrücken, das Globale mit dem Lokalen verbinden und die Grup- verankert. tauschen. Die Beschäftigung mit der Dimension des selbst Erlebten penzugehörigkeit schaffen, indem sie identitätsstiftende Funktionen Dieser Ansatz zielt darauf ab, bei den Jugendlichen kulturel- verlangt demnach danach, dass die Erfahrungen aller Beteiligten In diesem Bildungsansatz wird Antisemitismus als Intergruppen- haben und in gewissen Frustrations- und Konfl iktsituationen eine le und kognitive Kompetenzen, wie Medienkritik, die kritische zur Sprache kommen können, sei es nun Antisemitismus oder eine Beziehung defi niert und vor dem Hintergrund der von der Sozial- »antisemitische Versuchung« bieten, wie Michel Wieviorka dies der vielen Formen von Rassismen im weiteren Sinn, darunter auch psychologie seit langem experimentierten Kontakthypothese der treffend benennt.7 Muslimfeindlichkeit oder Antiziganismus. In solchen Workshops Kontakt zwischen feindlichen oder sich ablehnenden Gruppen ge- werden oft auch Diskriminierungskategorien einbezogen, die über fördert. Diese Überlegungen haben auch zu Begegnungsprojekten »Ich habe nichts gegen Juden, aber…«. Ausgangsbedingungen und Perspektiven das Thema Rassismus/Antisemitismus hinausgehen. Das kann zum zwischen JüdInnen und NichtjüdInnen geführt, die gegen Antisemi- gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus, Berlin 2007, tismus wirksam werden sollen. 6 Didier Lapeyronnie, »Antisemitismus im Alltag Frankreichs«, in: Journal für www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/fi les/pdfs/ich_habe_nichts_2.pdf [4.7.2012]. Konfl ikt- und Gewaltforschung, H. 1, 2005, S. 28–49. 8 Astrid Messerschmidt, »Flexible Feindbilder«, in: Wolfram Stender, Guido 7 Michel Wieviorka, La tentation antisémite. Haine des Juifs dans la France Follert, Özdogan Mihri (Hrsg.), Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitis- 9 Vgl. Lapeyronnie, »Antisemitismus im Alltag Frankreichs«. d’aujourd’hui, Paris 2005; vgl. dazu auch Albert Scherr, Barbara Schäuble, musforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 91–108. 10 Vgl. Wolfram Stender, »Konstellationen des Antisemitismus«, in Stender, Follert, Mihri (Hrsg.), Konstellationen des Antisemitismus, S. 7–35. 11 Vgl. Groß, Zick, Krause, »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«.

46 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 47 Aber wie in einem berühmten Artikel von Hewstone and Brown oder ein Gerücht ist, das ohne real Betroffenen auskommt, kann aller Beteiligten im Vordergrund steht, auch diejenige, die von Vorfälle, die von den Beteiligten selbst erlebt wurden;14 sie vermei- diskutiert wurde, »Contact is not enough«12, oder mit anderen Worten, man niemandem begegnen. Man kann wohl kaum Dialogprojekte der Mehrheit verweigert und von Minderheiten eingefordert wird den das allgemeine Sprechen über »die« Juden, »die« Türken, »die« Intergruppenkontakt, Begegnungen haben nur einen positiven Effekt, zwischen »Antisemiten« und »Juden« konstruieren. Und falls die – hier könnte das Thema der Zugehörigkeit zum Beispiel auch Anderen und zwingen dazu, sich mit konkreten Vorfällen zu befassen wenn gewisse Bedingungen berücksichtigt werden. Diese Bedin- Frage des Antisemitismus nicht explizit gemacht wird, bleibt doch von Sinti und Roma zum lokalen Territorium spannende Projekte und somit konkrete Handlungsspielräume zu erkunden. gungen haben zu verschiedenen Begegnungsmodellen geführt. Ihr die Frage offen, mit welcher Begründung, welcher Legitimierung ein ergeben. Eine weitere Herausforderung für PädagogInnen ist es, sich gemeinsamer Nenner ist, dass der Kontakt eine sehr sorgfältige Vor- Dialog vorgeschlagen wird und zu welchem Thema. Eine Ausnahme In diesem Ansatz steht Antisemitismus nicht unbedingt als The- klar zu werden, aus welcher Perspektive sie selbst Antisemitismus und Nachbereitung erfordert, dass möglichst gleichwertige Gruppen bilden Projekte, die auf Solidarität mit den Betroffenen zielen – sei ma im Vordergrund, sondern ist im Kontext der Vielfalt eingebettet, erleben, welches ihr Familienhintergrund dazu ist und wie sie diesen zusammengebracht werden sollten (betreffend Anzahl, Status oder es gegen Rassismus oder Antisemitismus. er wird im Kontext der Quartier-, Stadtteil- oder Dorfgeschichte rele- verarbeitet haben – und wie demzufolge ihre eigene emotionelle Bildungsgrad) und dass eine Co-Moderation von PädagogInnen bei- Unter der Bedingung der Gegenseitigkeit und wenn das Prin- vant. Eine inklusive Wahrnehmung von Geschichte der Beziehungen Reaktion auf antisemitische Äußerungen und Bilder aussieht. Je der Gruppen notwendig ist. zip gilt, dass Mitglieder jeder Gruppe ihre eigenen Anliegen ein- zwischen Mehr- und Minderheiten kann ebenfalls dazu beitragen, nach der Art und dem Grad der eigenen Betroffenheit identifi zieren Eines der Ziele der Begegnungspädagogik besteht darin, Vor- bringen können, sind Begegnungsprojekte oft sehr dynamisch und die Entstehung und Entwicklung von Stereotypen zu hinterfragen sie sich mit der Täter-, der Opfer- oder der Zuschauerposition und urteile und Stereotypen abzubauen, indem »der Andere« – über den interessant, sie haben dann wertvolles Potential. Die Diskussion und die kategorisierenden Zuschreibungen zwischen »Uns« und den gestalten ihre eigene Rolle als PädagogInnen dementsprechend. oft phantasiert wird, ohne dass er/sie real bekannt ist – in seiner dazu ist voll im Gange, und neue Projekte werden neue Einsichten »Anderen« konkret zu hinterfragen. Daher ist die Bedeutung des pädagogischen Settings zu betonen, spezifi schen, aber auch allgemein menschlichen Natur erlebt wird. bringen. Diese vier Bildungsstrategien gehen von unterschiedlichen das erlaubt, einen offenen Kommunikations- und Interaktionsraum Allerdings können ungeschickt angelegte Begegnungsprojekte in- Annahmen aus, was antisemitismuskritische Bildung betrifft: Der zu konstruieren. tergruppale Feindseligkeit entgegen der pädagogischen Intention Mit Geschichte und Erinnerung(en) arbeiten Ansatz, der mit Diskursfi guren umgeht, betrachtet den Antisemi- Abschließend zur Frage, ob die verschiedenen Formen von An- verstärken. tismus in erster Linie als ideologisches Gebilde, das es zu dekons- tisemitismen und Rassismen gemeinsam oder getrennt angegangen Etliche Begegnungsprojekte sind auch Dialogprojekte, in de- Der gegenwärtige Antisemitismus bezieht sich weder ausschließlich truieren gilt; der erfahrungsorientierte Zugang betrachtet ihn unter werden sollen: In den vier Bildungsansätzen wird unterschiedlich nen der »Andere« befragt wird, aber auch die eigenen Vorurteile noch direkt auf die Geschichte, und es wird immer wieder von Pä- dem Gesichtspunkt der Alltagswelt in Verbindung mit anderen Dis- damit umgegangen, im ersten wird Antisemitismus oft separat hinterfragt werden. Dialog führt im besten Fall zum Verständnis dagogInnen bestätigt, dass Lernen über die Vernichtung der Juden kriminierungserfahrungen, über die gemeinsam gesprochen wird; thematisiert, aber dem gemeinsamen Angehen von rassistischen des Anderen, aber auch von der Kritik der Anderen zur kritischen nicht gegen heutigen Antisemitismus wirkt. Dennoch kann die Be- der Begegnungsansatz betrachtet ihn als Intergruppenbeziehung und antisemitischen Bildern steht nichts entgegen. Der zweite Betrachtung des Eigenen, also zu Refl exivität oder sogar Selbstkritik. schäftigung mit der Vergangenheit wichtige neue Einsichten bringen. oder -konfl ikt, der Dialog erfordert; und die Strategie, die sich mit und dritte Ansatz gehen mit gemeinsam erlebten Hass- und Dis- Nun birgt aber ein Antisemitismus-Begegnungsprojekt ein eige- Vor allem bieten Ansätze zur Geschichts- und Erinnerungsarbeit im Geschichte(n) und Erinnerung(en) befasst, geht davon aus, dass kriminierungserfahrungen um, und im vierten Ansatz sollen alle nes Risiko, nämlich das der Asymmetrie, wenn nur Antisemitismus lokalen Kontext interessante Perspektiven zu antisemitismuskriti- getrennte Geschichte(n) und Erinnerung(en) miteinander kommu- Erinnerungen und Geschichten zur Sprache kommen. Es geht hier thematisiert würde. Damit würden automatisch die Juden auf die scher Bildungsarbeit, wobei es hier nicht nur um Geschichte aus nizieren müssen, um einen gemeinsamen Zugang zu Erinnerungs- keineswegs um pädagogischen Opportunismus, sondern um die Opferposition fi xiert und die Nichtjuden der Täterposition zugeord- der Epoche des Nationalsozialismus geht, sondern um Geschichte kulturen zu fi nden. Gleichstellung der Mitglieder einer Gesellschaft, welcher Gruppe net. Aus der Debatte zur antirassistischen Pädagogik wissen wir, dass im Sozialraum, die Perspektiven sowohl der Mehr- wie auch der sie auch angehören. Ihr Recht muss ausdrücklich betont werden, eine solche Asymmetrie Abwehr und Ressentiments auslöst und in Minderheiten umfasst. ihre Erfahrungen im pädagogischen Raum einzubringen, ohne dass eine Sackgasse führen kann. Ohne Gegenseitigkeit ist Begegnungs- Sich mit dem lokalen Kontext zu beschäftigen, Spuren alltägli- 3. Fazit – die zentrale Bedeutung refl exiver PädagogInnen eine der Erfahrungen banalisiert wird, aber auch ohne sie zu hier- pädagogik nicht möglich. cher und außerordentlicher Ereignisse nachzugehen, fördert zudem archisieren. Wichtig ist, nicht-anklagende antisemitismuskritische Mit der Gegenseitigkeit sollte auf keinen Fall gemeint sein, dass das Bewusstsein über die Verbindung lokaler und globaler Geschichte Die vier Bildungsstrategien stehen in keiner Weise widersprüchlich Bildungsperspektiven zu entwickeln, die Selbstrefl exion fördern JüdInnen von Opfern zu Tätern umgedeutet werden sollten. Aber sowie über die Diversität der Gesellschaft gestern und heute. Es gilt zueinander, und es sollte auch erwägt werden, inwieweit sie sich ge- und die auf einer inklusiven Perspektive beruhen ohne eine Katego- es ist eine Sache, Juden als Kollektiv immer wieder als Täter mit einerseits, Erinnerungen der eigenen Familien aufzuarbeiten, also genseitig ergänzen könnten. Es ist zu wünschen, dass diese Ansätze risierung zwischen »Guten« und »Bösen«, Antisemiten/Rassisten fortwährenden Machtansprüchen zu kennzeichnen – das ist ein be- biographische Zugänge zu Zu- und Wegwanderung, zu erlebtem und Methoden kombiniert und erprobt werden. versus Nicht-Antisemiten/Nicht-Rassisten – auch ohne implizite kannter antisemitischer Topos. Eine ganz andere Sache ist hingegen Krieg, Flucht, Exil oder zur Geschichte der Alltags- und Arbeitswelt Sie haben jedenfalls gemeinsam, dass antisemitismuskritische Zuordnungen. Im Bildungsraum wird uns die Gratwanderung nicht die Wahrnehmung von Juden als Individuen, die wie alle anderen zu fi nden. Andererseits ist die Geschichte anderer Gruppen kennen- Bildung immer hohe Anforderungen an PädagogInnen stellt, sie sind erspart, die Vielfalt von Antisemitismen sowohl im sozialen Nahr- Menschen auch Verursacher von rassistischen Haltungen, Gedanken, zulernen, und in diesem Kontext wird auch auf das Zusammenleben immer wieder gefordert, sich zwischen Banalisierung und Drama- aum gemeinsam im Kontext der verschiedenen Rassismen anzuge- Bildern oder Vorurteilen sein können, die ja eben in diesen Begeg- von Juden und Nichtjuden eingegangen. All dies kann anhand von tisierung zu positionieren. Auch stößt Arbeit mit Stereotypen, also hen und gleichzeitig auch als eigenes Phänomen mit spezifi schen nungen von allen hinterfragt werden sollen. Spurensuche an Gebäuden, Straßen, Archiven, Plätzen geschehen mit kollektiven Bildern, auf harte Widerstände; diese sind umso Konstellationen zu betrachten. Es gibt aber ein bei weitem grundsätzlicheres Problem in Be- und weist anschaulich auf die Vielfalt von Geschichte und – manch- stärker, als es sich um gefestigte Repräsentationen einer Kategorie zug auf Begegnungs- und Dialogprojekte, die sich spezifi sch gegen mal gegensätzlichen – Erinnerungen hin.13 handelt, der große Macht zugeschrieben wird. Da ist es um einiges Antisemitismus richten. Können sie wirklich nach den Regeln der Es ist also ein territorialer Ansatz, in dem die citoyenneté im leichter, Vorurteile als individuelle Einstellungen mit ihrer emoti- Gegenseitigkeit konstruiert werden? Und was heißt das genau, wer Sinne von territorialer Zugehörigkeit und aktiver Partizipation onellen Komponente abzubauen und eine freundliche Haltung mit würde wem begegnen? Denn wenn der Antisemitismus ein Konstrukt Empathie gegenüber realen Menschen zu schaffen. Es zahlt sich oft aus, mit Dissonanzen zu arbeiten: Widersprüche bei sich selbst oder der Geschichte der eigenen »Wir«-Gruppe zu entdecken, seien es 13 Vgl. Franziska Ehricht, Elke Gryglewski, GeschichteN teilen. Handreichung für nun sozio-kognitive oder Werte-Dissonanzen, kann ein wertvolles 14 Vgl. Monique Eckmann, Daniela Sebeledi, Véronique Bouhadouza von Lanthen, 12 Miles Hewstone, Rupert Brown, »Contact is not enough: an intergroup perspec- Pädagoginnen und Pädagogen, Berlin 2009; Aktion Sühnezeichen (Hrsg.), Neu- Laurent Wicht, L’incident raciste au quotidien. Représentations, dilemmes et in- tive on the ›contact hypothesis‹« in: dies., Contact and confl ict in Inter-group En- köllner Stadtteilmütter und ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte des Na- Motiv zur Einstellungsänderung darstellen. Auch ist es lohnend, kon- terventions des travailleurs sociaux et des enseignants, Genf 2009. counters, Oxford 1986, S. 1–44. tionalsozialismus, Berlin 2010. krete Situationen anzugehen, »critical incidents«, das heißt kritische

48 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 49 Erstaunen muss es auch, wenn nun der Strafrechtler Reinhard Gesellschaften – lediglich mit Gewalt, Kastration, Verstümmelung Merkel (siehe Süddeutsche Zeitung vom 25./26.8.2012) behauptet, und Traumatisierung verbunden. man könne nicht weiter »maskieren«, dass der eigentliche Grund, Juden haben sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in vielerlei warum die Beschneidungen in Deutschland noch nicht verboten wor- Hinsicht an die Sitten und Gebräuche ihrer Umgebung angepasst. den seien, die Rücksicht auf die eigene Geschichte sei, die »weltweit Sie haben ihre Bärte abrasiert und die jiddische Sprache abgelegt, Vermeintliche Barbaren singuläre Pfl icht zur besonderen Sensibilität gegenüber allen jüdi- sie haben manche Rituale über Bord geworfen. Doch selbst die schen Belangen« angesichts des »hier organisierten scheußlichsten Reformbewegung im Judentum, die so vieles infrage stellte, hält bis Streit um die religiöse Beschneidung Massenmordes der Geschichte«. heute an der rituellen Beschneidung der Jungen als einem wichtigen Mit anderen Worten: Ein von Merkel als barbarisch charakte- Aufnahmeritus in ihre religiöse Gemeinschaft fest. risierter Brauch könne den Juden nur des schlechten Gewissens der Von Beschneidungsgegnern ist oftmals das Argument zu hören, von Michael Brenner Deutschen wegen zugestanden werden. Doch wäre Deutschland ja Kindern dürfe von den Eltern keine Religion aufgezwungen werden, nicht das erste Land, das die Beschneidung erlaubt, sondern das die Jugendlichen sollten vielmehr im Alter von 14 oder 16 Jahren erste Land, das sie verbietet. In Staaten, die ihren jüdischen Bür- ihre religiöse Zugehörigkeit frei wählen dürfen. Das ist gewiss schön gern gegenüber keine besondere Pfl icht zur Sensibilität haben, steht gedacht, doch ebenso wenig realisierbar wie die beliebige Wahl der ein Verbot der Beschneidung gar nicht im Raum. Merkel zufolge eigenen Nationalität oder der Sprachgemeinschaft. Ob man will Ein Drittel aller Männer weltweit sind be- müssten aber Amerika, England oder Frankreich eigentlich die Be- oder nicht, erfolgt in diesen Bereichen eine entscheidende Prägung schnitten, darunter auch die Mehrheit der schneidung schon längst verboten haben. bereits vorher. Insbesondere für religiöse Minderheiten würde eine christlichen Amerikaner. Was in großen Das Gegenteil aber ist dort der Fall. Während Merkel wie an- solche »freie Wahl« wohl ihr Ende bedeuten. Denn unsere »säkulare« Teilen der westlichen Welt als Selbstver- dere Beschneidungsgegner eine eindeutige medizinische Gefahr Gesellschaft ist durch und durch christlich geprägt. Prof. Dr. Michael Brenner, geboren ständlichkeit gilt, beschäftigt seit Monaten die deutsche Öffentlich- insinuieren, befürchten Mediziner in Amerika zurzeit etwas ganz Solange am Sonntag (und eben nicht am Freitag oder Samstag) 1964 in Weiden in der Oberpfalz; seit keit. Dass Juden und Muslime ihre Kinder beschneiden lassen, war anderes: dass ein Rückgang der Beschneidungen zu einer stetigen die Geschäfte geschlossen sind, solange man automatisch jedem 1997 Lehrstuhlinhaber für Jüdische auch vor der Kölner Gerichtsentscheidung kein Geheimnis. Umso Zunahme von Infektionserkrankungen und damit auch einem deut- Nachbarn Frohe Ostern wünscht und solange auch in nicht kon- Geschichte und Kultur am Histori- erstaunlicher erscheint die plötzliche Aufregung. lichen Anstieg der Versicherungskosten führen könnte. Erst vor fessionsgebundenen Kindergärten und Schulen Weihnachtslieder schen Seminar der Ludwig-Maximili- Die wenigen Juden, denen es gelang, der Shoah zu entkommen, wenigen Tagen konnte man im gewiss unverdächtigen National eingeübt werden, ist die religiöse Prägung christlicher Natur auch ans-Universität München; 1994–97 gründeten nach dem Krieg wieder eine kleine jüdische Gemeinschaft Public Radio einen Bericht hören, der auf Grundlage von drei un- ohne elterliche Erziehung vorgegeben. Für religiöse Minderheiten Assistant Professor für jüdische hierzulande. Sie und ihre Nachkommen beten in ihren Synagogen, abhängigen Studien darauf verwies, dass das Risiko der Erkrankung wie Juden oder Muslime ist es daher besonders wichtig, den Kindern Geschichte, Brandeis University, bestatten ihre Toten auf jüdischen Friedhöfen und lassen in aller an Infektionen unterschiedlicher Art bei beschnittenen Männern im privaten Rahmen auch die Religion ihrer Eltern zu vermitteln. Waltham (Mass.); 1994 Ph.D. an der Regel ihre neugeborenen Jungen eine Woche nach ihrer Geburt geringer ist. Ob sie diese beibehalten wollen, müssen sie im Erwachsenenalter Columbia University, New York; beschneiden. In den über sechs Jahrzehnten der Bundesrepublik Einer Studie der renommierten Johns Hopkins University zufol- entscheiden. 1993–94 Assistant Professor für jüdi- war dies genauso selbstverständlich wie in der Weimarer Republik ge würde ein deutlicher Rückgang der Beschneidung aufgrund ent- Die Beschneidungsdebatte legt etwas frei, was man zum ersten sche Geschichte, Indiana University, und dem Kaiserreich. Weder die Praxis der Beschneidung noch die stehender Infektionskrankheiten eine Zunahme der Krankenversiche- Mal seit Bestehen der Bundesrepublik in diesem Ausmaß öffentlich Bloomington; Zahlreiche Gastprofes- Rechtsgrundlage haben sich geändert. rungskosten um eine halbe Milliarde Dollar jährlich bedeuten. Die hören kann. Ein neues Gesetz mag zwar verhindern, dass die freie suren und Forschungsaufenthalte. Warum also gerade jetzt diese Empörung? Zum einen war American Academy of Pediatrics, die größte Berufsorganisation von Ausübung der jüdischen Religion infrage gestellt wird. Doch der an- Publikationen u.a.: Kleine Jüdische es wohl mit der Kenntnis um andere Kulturen doch nicht so weit Kinderärzten, hat im August 2012 erstmals öffentlich festgestellt, gerichtete Schaden ist kaum wiedergutzumachen. In dieser Debatte Geschichte (München: C.H. Beck, bestellt, wie mancher vermutet hat. In den jüngsten Diskussionen dass die Beschneidung mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt. setzte sich ein Bild der Juden und Muslime als die anderen durch, 2008), Propheten des Vergangenen. wird klar, wie weit eigentlich das Unwissen über andere Religionen Ist einmal klargestellt, dass es bei der Zirkumzision der männli- die barbarischen Bräuchen anhängen und es in Kauf nehmen, das Jüdische Geschichtsschreibung im (und allzu oft auch über die eigene) reicht. Zum anderen sucht ein chen Kinder medizinisch eben nicht ganz so eindeutig ist, wie man Kindeswohl zu verletzen. 19. und 20. Jahrhundert (München: kultureller Wandel seinen Eingang ins Rechtssystem. Eine bisher es hierzulande oft darzustellen versucht, so handelt es sich – ganz im Mit der Erzeugung dieses Bilds wurde bereits viel Porzellan C.H. Beck, 2006), Geschichte des zumindest an der Oberfl äche vorherrschende Toleranz gegenüber Gegensatz zur weiblichen Genitalverstümmelung – um eine Debatte zerbrochen. Ein bisschen mehr Wissen um die Rituale der anderen Zionismus (München: C.H. Beck, religiöser Praxis macht einer oftmals dogmatischen antireligiösen kultureller Differenzen. (wie auch der eigenen) Religion, ein wenig mehr Respekt vor religi- 2002), Jüdische Kultur in der Haltung Platz. Im deutschen Kulturgebiet ist innerhalb der christlichen Be- ösen Praktiken und nicht zuletzt ein vergleichender Blick in andere Weimarer Republik (München: C.H. Wieso erfolgt dieser Aufschrei gerade in Deutschland? Zwar gab völkerung nicht nur die Beschneidung, sondern auch das Bewusst- westliche und ebenso säkular geprägte Gesellschaften könnten zu- Beck, 2000), Nach dem Holocaust: es Diskussionen über die Beschneidung auch in anderen westlichen sein um die Beschneidung spätestens im 19. Jahrhundert nahezu mindest dazu beitragen, diese Debatte zu versachlichen und wieder Juden in Deutschland, 1945–1950 Gesellschaften, doch mit der Vehemenz der deutschen Debatte sind verschwunden. Ein paar Bilder in den Museen deuten noch darauf auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen.1 (München: C.H. Beck, 1995). sie keineswegs gleichzusetzen. Würde die Beschneidung in Deutsch- hin, dass Jesus ja auch beschnitten war. Die Tatsache, dass der Neu- land tatsächlich verboten werden, so wäre dies ein Schritt ohne Bei- jahrstag der achte Tag nach seiner Geburt war und im christlichen spiel in einem westlichen Staat. Dass ausgerechnet in Deutschland Kalender lange als Circumcisio Domini begangen wurde, ist heute die freie Religionsausübung der Juden (und Muslime) infrage gestellt vor allem noch den Kirchenhistorikern bewusst. Beschneidung wird Der vorliegende Text ist eine leicht gekürzte Fassung des in der Süddeutschen werden soll, wird in aller Welt mit einiger Verblüffung verfolgt. in der Volksmeinung – ganz anders etwa als in angelsächsischen Zeitung vom 30. August 2012 erschienenen Beitrags von Prof. Dr. Michael Brenner.

50 Einsicht Einsicht 08 Herbst 2012 51 Rezensionen Buch- und Medienkritiken

62 Verena Buser: Überleben von Kindern und Jugendlichen 76 Alfons Dür: Unerhörter Mut. Eine Liebe in der Zeit des 81 Christian Goeschel: Selbstmord im Dritten Reich in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Auschwitz Rassenwahns von Stefan Lochner, Weimar und Bergen-Belsen von Kurt Greussing, Dornbirn (Österreich) von Jochen August, Berlin/Oświęcim 82 Ronen Steinke: The Politics of International Criminal 77 Alte Feuerwache e.V. Jugendbildungsstätte Kaubstraße Justice. German Perspectives from Nuremberg to 64 Christoph Kreutzmüller, Julia Werner: Fixiert. (Hrsg.): Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus The Hague Fotografi sche Quellen zur Verfolgung und Ermordung der für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit von Vasco Reuss, Frankfurt am Main Juden in Europa. Eine pädagogische Handreichung von Gottfried Kößler, Fritz Bauer Institut Linde Apel (Hrsg.): In den Tod geschickt. Die Deportation 84 Jim G. Tobias: Zeilsheim. Eine jüdische Stadt in von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940 bis 1945 78 Constanze Jaiser, Jacob David Pampuch: Ein Frankfurt Astrid Mehmel, Sandra Seider: Deportationen von Schmuggelfund aus dem KZ – Erinnerung, Kunst von Andrea Sinn, München Kindern und Jugendlichen aus Bonn & Menschenwürde von Kurt Schilde, Potsdam/Berlin von Gottfried Kößler, Fritz Bauer Institut 85 Brigitte Halbmayr: Zeitlebens konsequent. Hermann Langbein 1912–1995. Eine politische 65 Annamaria Junge: »Niemand mehr da«. Antisemitische 79 Dana Giesecke, Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Biografi e Ausgrenzung und Verfolgung in Rauischholzhausen Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur von Werner Renz, Fritz Bauer Institut 1933–1942 von Gottfried Kößler, Fritz Bauer Institut von Monica Kingreen, Fritz Bauer Institut 86 Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der Nation e.V.: 80 Werner Skrentny: Julius Hirsch. Nationalspieler. Zeitzeugenportal »Gedächtnis der Nation« Rezensionsverzeichnis 67 Rüdiger Overmans, Andreas Hilger, Pavel Polian Ermordet. Biografi e eines jüdischen Fußballers www.gedaechtnis-der-nation.de Liste der besprochenen Bücher (Hrsg.): Rotarmisten in deutscher Hand. Dokumente von Gerd Fischer, Frankfurt am Main von Dagi Knellessen und Markus Nesselrodt, Berlin und Medien zu Gefangenschaft, Repatriierung und Rehabilitierung sowjetischer Soldaten des Zweiten Weltkrieges von Alex J. Kay, Frankfurt am Main

54 Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch 68 Michael Schefczyk: Verantwortung für historisches das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Unrecht Band 4: Polen, September 1939–Juli 1941 von Werner Konitzer, Fritz Bauer Institut von Karol Sauerland, Warszawa 69 Martin Sabrow, Norbert Frei (Hrsg.): Die Geburt Große Köpfe für große Fragen 56 Jochen Böhler, Stephan Lehnstaedt (Hrsg.): Gewalt und des Zeitzeugen nach 1945 . . Alltag im besetzten Polen 1939–1945 von Katharina Stengel, Fritz Bauer Institut Jürgen Habermas Saskia Sassen Peter Bofi nger von Andrea Löw, München Seyla Benhabib . Jens Reich . Katajun Amirpur 70 José Brunner, Nathalie Zajde (Hrsg.): Holocaust und 57 Anne-Christin Saß: Berliner Luftmenschen. Osteuro- Trauma – Kritische Perspektiven zur Entstehung und Norman Birnbaum . Micha Brumlik . Rudolf Hickel päisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik Wirkung eines Paradigmas . von Markus Nesselrodt, Berlin von Ilka Quindeau, Frankfurt am Main Claus Leggewie Friedrich Schorlemmer

58 David Engel: Historians of the Jews and the Holocaust 71 Alexander Stein: Adolf Hitler, Schüler der »Weisen Dies sind nur 11 der 22 »Blätter«-Herausgeber. von Katrin Stoll, Warszawa von Zion« von Jérôme Seeburger, Offenbach am Main Lernen Sie auch die anderen kennen – 60 Verena Dohrn, Gertrud Pickhan (Hrsg.): Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in 72 Christoph Schneider: Das Subjekt der Euthanasie. und viele weitere kluge Köpfe. Berlin 1918–1939 Transformationen einer tödlichen Praxis von Christoph Dieckmann, Fritz Bauer Institut von Lutz Kaelber, Burlington Monat für Monat 128 Seiten mit Biss 61 Isolde Charim, Gertraud Auer Borea (Hrsg.): 73 Avner Werner Less: Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen Kostenloses Probeheft auf www.blaetter.de Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden des Eichmann-Verhörers oder telefonisch unter: 030/3088-3644 von Monika Boll, Düsseldorf von Werner Renz, Fritz Bauer Institut

52 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 53 Das Schicksal der polnischen Juden Gebieten noch während des Kriegs gelöst werden müssten, denn Terrain anlegte und daher »gezwungen war«, wie es damals hieß, Mitglied des Bunds ein Anhänger des aktiven jüdischen Widerstands zwischen 1939 und 1941 danach – man dachte natürlich an einen Sieg – könnten diese Dinge Tausende von Menschen auszusiedeln (S. 502). gegen die deutschen Besatzer war, berichtet darüber, wie sich »unsere »internationale Schwierigkeiten« (S. 496) mit sich bringen. Das Der Bearbeiter des Bandes, Klaus-Peter Friedrich, hat sich größte Genossen«, die Bundisten, gegen die polnischen Antisemiten wehrten. war wohl auch einer der Gründe dafür, dass die deutschen Besatzer Mühe gegeben, auch neue, unbekannte bzw. wenig bekannte Doku- Er schrieb es sogar ihnen zu, dass die Ausschreitungen ein Ende fanden.4 sofort nach der Eroberung der polnischen Gebiete eine antijüdische mente aus den verschiedensten Archiven in Polen, Deutschland, Israel, Ich führe dies nur an, um zu zeigen, wie schwer es ist, einzelne Doku- Bestimmung nach der anderen (Sperrung der jüdischen Konten, Russland, den USA und anderswo vorzulegen. Nur ein geringer Teil mente zu lesen und entsprechend ins Holocaustgeschehen einzuordnen. Verfolgung und Ermordung der europäi- Kennzeichnung der jüdischen Geschäfte, Verbot, mehr als 2.000 ist in Deutsch verfasst. Die polnischen Dokumente übersetzte Ruth Aus den Dokumenten geht eindeutig der Wille der Naziführung schen Juden durch das nationalsozialisti- Złotys zu besitzen etc.) erließen. Bereits am 1. Dezember 1939 hat- Henning ins Deutsche,2 die jiddischen Sabine Boehlich, die englischen hervor, die Juden in den Abgrund zu stürzen. Aber nach wie vor fragt sche Deutschland 1933–1945. Band 4: ten alle Juden im Generalgouvernement eine weiße Armbinde mit Birgit Kolbeske und für die hebräischen zeichnen Antje Naujoka und man sich, wie es in einem so schnellen Tempo geschehen konnte. Polen, September 1939–Juli 1941 blauem Davidstern zu tragen. Im Reich erfolgte die Kennzeichnung Anke Wisch verantwortlich, für die russischen fehlt der Übersetzerna- Aus einem Dokument geht hervor, dass es einen Ort gab, in welchem Bearbeitet von Klaus-Peter Friedrich. im September 1941, nachdem am 8. März 1941 das »P« für Pole me. Wenn ein Dokument schon einmal erschienen war, wird dies nach Wehrmachtsunteroffi ziere SS-Männer wegen ihrer Judenfeindschaft Mitarbeit: Andrea Löw. München: eingeführt worden war. In den besetzten Ländern Westeuropas trat Angabe von Friedrich verzeichnet, was er aber nicht konsequent tut. sogar tätlich angriffen (S. 327 f.). Der Leser/die Leserin hätte gern Oldenbourg Verlag, 2011, 751 S., € 59,80 die Bestimmung für Juden, einen Davidstern zu tragen, erst ab April Man hat so den Eindruck, dass so gut wie alle Dokumente das erste gewusst, wie verbreitet solche Haltungen waren, welche Literatur es bzw. Mai 1942 in Kraft. Die Einführung dieser Kennzeichnung war Mal von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Ihre Auswahl dazu gibt. Ein gesondertes Kapitel ist das lang und breit diskutierte Bekanntlich waren die meisten Juden Euro- ein insofern wichtiger Akt, als die deutschen Besatzer von nun an kann als problematisch angesehen werden, denn vielfach hätte man pas im Vorkriegspolen beheimatet: über drei Juden von Nichtjuden unterscheiden konnten, was auch zu einer auch andere publizieren können. Aber das ist die Krux jeder Auswahl. Millionen, die in der Mehrheit eine eigene jiddischsprachige Kultur Spaltung der polnischen Gesellschaft in einen »arischen« und »nicht- Stets kann man dieses und jenes bemängeln. Von Vorteil erscheint 4 Siehe Bernard Goldstein, Die Sterne sind Zeugen. Der Untergang der polnischen entwickelt hatten bzw. zu entwickeln begannen.1 Von ihnen überlebten arischen« Teil führte. Das Wort arisch, das heißt »aryjski«, sollte mir, dass Friedrich viele Dokumente der jüdischen Hilfskomitees und Juden, München 1965, S. 51. Auch Marek Edelman kommt in seinen Erinnerun- keine zehn Prozent den Holocaust. Es wird eine ewige Frage bleiben, tatsächlich sehr schnell in die polnische Umgangssprache eindringen. vor allem der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe, die im Mai 1940 unter gen mehrmals auf Verteidigungsaktionen im Frühjahr 1940 zu sprechen, u. a. in seinem Buch Strażnik opowiada (Der Wächter erzählt), Kraków 1999, S. 31. Edel- wie in einer so kurzen Zeit von gut drei Jahren dieser Massenmord Man sprach auch von »arischen« und »jüdischen« Stadtvierteln, von dem Vorsitz von Michael Weichert gegründet wurde, abgedruckt hat. mans und auch Goldsteins Erinnerungen können allerdings nur als Kommentar möglich war. Auch die auf 16 Bände angelegte Dokumentation zur der »arischen« und »jüdischen Seite« im Falle der Ghettos. Wirklich zu bemängeln ist, dass nicht auf andere mögliche Quel- verwendet werden, da sie nicht in der Zeit des Geschehens entstanden sind. Ich Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das na- Die Dokumente sind chronologisch angeordnet, sodass man ab- len zum gegebenen Ereignis bzw. Fall, zur Reaktion auf die jeweilige habe über dieses Ereignis ausführlicher in meinem Buch Polen und Juden zwisch- tionalsozialistische Deutschland 1933–1945 wird keine bindende wechselnd deutsche Bekanntmachungen, interne Begründungen von Maßnahme aufmerksam gemacht wird. Bei einigen Dokumenten wä- en 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen, Berlin 2004, S. 96–100 berichtet. Antwort hierauf geben, obwohl wir über Tausende von Dokumenten Maßnahmen, die Reaktion betroffener Juden bzw. des entsprechen- re es absolut notwendig gewesen, auf andere Einschätzungen eines verfügen werden. Der vierte Band betrifft Polen im Zeitraum von den Judenrates und der jüdischen Hilfsorganisation, Tagebuchauf- Geschehnisses zu verweisen. Als Beispiel seien die antisemitischen September 1939 bis zum Sommer 1941, das heißt vom Beginn des zeichnungen und Briefe aus der Zeit, Denunziationen, Berichte in pogromartigen Ausschreitungen in der Osterwoche 1940 in Warschau Margrit Frölich / Ulrike Jureit / Zweiten Weltkriegs bis kurz nach der Zeit, als die Wehrmacht in die den von dem Besatzer herausgegebenen Zeitungen, in den polni- genannt. Friedrich führt nur eine entsprechende Stelle aus der Chronik Margrit Frölich / Ulrike Jureit / Christian Schneider (Hrsg.) Sowjetunion einmarschierte (mit der sie seit dem Hitler-Stalin-Pakt schen und jüdischen Untergrundblättern, aber auch in der englischen, von Landau an (S. 259 f.), aufgrund derer man zu dem Schluss kommen Christian Schneider (Hrsg.) Das Unbehagen verbündet war) und als es nach einem schnellen Sieg aussah. schweizerischen und amerikanischen Presse, Lageberichte für die muss, dass die Deutschen hinter dem Pogrom standen, der von mindes- Das Unbehagen an der an der Erinnerung – Der Band enthält auf über 600 Seiten 321 Dokumente zur Juden- polnische Exilregierung und vieles mehr lesen kann. Einige Doku- tens fünfhundert Jugendlichen mehrere Tage lang veranstaltet wurde. Erinnerung – Wandlungsprozesse politik des »Dritten Reichs«. Sie wurden von Klaus-Peter Friedrich mente betreffen auch die sowjetische Politik Juden gegenüber und Bei der etwas später angeführten Stimme des polnischen Botschafters Wandlungsprozesse im Gedenken an den unter Mitarbeit von Andrea Löw ausgewählt. In diesen nicht ganz die diesbezügliche deutsch-sowjetische Zusammenarbeit. Es ging im Vatikan, dass es sich nicht um eine polnische Ausschreitung gehan- im Gedenken an den Holocaust Holocaust zwei Jahren war es dem »Dritten Reich« gelungen, die Juden aus vor allem um jene Juden, die aus den westlichen polnischen Gebieten delt habe, verweist Friedrich im Kommentar auf Landau (S. 269). So den 1939 dem Reich angeschlossenen polnischen Gebieten ins Gene- in die östlichen gefl ohen waren. Ein Teil von ihnen wollte wieder scheint sich der Kreis zu schließen. Doch etwas später erscheint ein ralgouvernement zu vertreiben, die Juden im Generalgouvernement zurück, weil sie den sowjetischen Terror nicht ertragen konnten, der jüdisches Dokument, in dem dessen Autor diesen Pogrom als Beweis in Armut zu stürzen und sie in die Ghettos zu sperren, womit alles sich in dem Verbot von Privathandel und der Zwangskollektivierung dafür anführt, dass der Antisemitismus der Polen sich nicht vermindert zu deren Ermordung vorbereitet war, obwohl es dazu noch keine bzw. -vergenossenschaftlichung niederschlug (abgesehen davon, habe (S. 292). Zu diesen Ausschreitungen verfügen wir unter anderem klaren Pläne gab. Wie aus mehreren Dokumenten des Bandes her- dass ein großer Teil der Juden ins Innere der Sowjetunion, sprich über die Stimmen von Kaplan, Ringelblum und Czerniaków, dem Vor- Brandes & Apsel 240 S., Pb., € 24,90 vorgeht, schwebte der Naziführung 1940/41 noch eine Vertreibung Sibirien und Kasachstan, deportiert wurden). Sie ahnten nicht, was sitzenden des Warschauer Judenrates. Letzterer notiert in seinem Tage- ISBN 978-3-86099-926-4 der Juden in ein östliches Sumpfgebiet vor oder, als Frankreich im ihnen im deutschen Teil drohte. Man schloss entsprechende Abkom- buch am 27. März 1940, seit 1880 habe es keinen so großen Pogrom in Juni 1940 besiegt war, in dessen Kolonie Madagaskar. Mehrmals men über den Bevölkerungsaustausch, zu dem übrigens auch die Warschau gegeben wie den jetzigen.3 Und Bernard Goldstein, der als Die deutsche Erinnerungskultur befindet sich mehr als 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und angesichts einer sich wird in internen Besprechungen in Berlin und Krakau, dem Sitz des Umsiedlung der Balten- und Wolhyniendeutschen in den sogenann- zunehmend globalisierenden Welt in einem fundamentalen Generalgouverneurs Hans Frank, betont, dass die »Judenfrage« wie ten Warthegau gehörte. Dort musste für sie Platz geschaffen werden, Umbruch. Neue Herausforderungen an das historische Erinnern auch die anderen ethnisch-rassischen Bereinigungen in den östlichen was die Aussiedlung von Juden und Polen aus diesen Gebieten ins 2 Bei den Übertragungen der polnischen Dokumente aus der Chronik des Gettos und Gedenken sind daraus entstanden, überlieferte Muster, Rituale Generalgouvernement (GG) nach sich zog. Davon ist in vielen Do- Lodz/Litzmannstadt heißt es jedes Mal »in enger Anlehnung« an deren deutsche und Praktiken des öffentlichen Erinnerns gilt es zu überdenken. kumenten die Rede. Die GG-Beamten versuchten sich zaghaft zu Ausgabe (meine kritischen Bemerkungen zu den Übersetzungen aus dem Polni- wehren, aber Hitler persönlich hatte angeordnet, dass diese Frage schen in meiner Rezension, die in der Zeitschrift für Genozidforschung, Jg. 10 1 2008 gaben Ewa Geller und Monika Polit einen Sammelband zur jiddischen Kul- (2010), H. 2, S. 114–118 erschienen ist, fi nden hiermit eine Bestätigung). Besuchen Sie uns auch im Internet mit weiteren Titeln zum jüdischen Leben: www.brandes-apsel-verlag.de tur in Polen unter dem vielsagenden Titel Jidyszland. Polskie przestrzenie (Jid- Vorrang habe, sogar vor den Bedürfnissen der Wehrmacht, die ih- 3 Adam Czerniakówa dziennik getta warszawskiego. 2.IX.1939-23.VII.1942 (Das dischland. Polnische Dimensionen) in Warschau heraus. re Übungsplätze und Verteidigungsanlagen in dem neu eroberten Tagebuch des Adam Czerniaków), Warszawa 1983, S. 98.

54 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 55 Problem der Judenräte. Auffallend ist das recht zahlreiche Lob von Alltägliche Gewalt im besetzten Polen in scharfem Kontrast zu den daneben gezeigten Bildern eines idylli- Osteuropäisch-jüdische Lebenswelten deutscher Seite über deren gute Arbeit. Man wünscht sich daher eine schen Besatzerlebens. Małgorzata Stepko-Pape stellt die zeitgleich im Berlin der Weimarer Republik längere Ausführung über die Wahrnehmung der Judenräte durch die durchgeführte gewaltsame Evakuierung der polnischen Bevölkerung

Nazis, was im vorliegenden Band allerdings nicht geleistet werden aus Gdingen – von den Nazis umbenannt in »Gotenhafen« – und die kann. Eine noch heute heiß diskutierte Frage ist, wie es um die Ansiedlung von Deutsch-Balten als maßgeblichen Teil der Bevölke- Rolle der nichtjüdischen Polen bei der Judenverfolgung durch die Jochen Böhler, Stephan Lehnstaedt (Hrsg.) rungspolitik in dieser Region dar und zeigt auf, wie diese Politik in Deutschen stand. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Polen in dieser Gewalt und Alltag im besetzten Polen Gdingen scheiterte: Das Ziel, eine »Vertrautheit mit dem Ort« (S. 298) Anne-Christin Saß Zeit ohne jede Führung war, ein organisierter Widerstand bildete sich 1939–1945 bei den Zuwanderern zu erreichen, wurde nie erreicht – »Gotenhafen« Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch- erst langsam heraus. Das Land war durch die Aufteilung zwischen Osnabrück: fi bre Verlag, 2012, 566 S., Abb., blieb fremd. Den Besatzungsalltag in einer anderen Stadt, die »germa- jüdische Migranten in der Weimarer dem »Dritten Reich« und der Sowjetunion völlig desorganisiert. So- € 39,80 nisisert« werden sollte, nehmen Adam Sitarek und Michał Trębacz in Republik wohl die Deutschen wie auch die Sowjets verfolgten die Gebildeten, den Blick, und sie bezeichnen Łódź (Lodz, Litzmannstadt) in ihrem Göttingen: Wallstein Verlag, 2012, 493 S., gemeinhin Intelligenz genannt, zu denen unter anderen Gymnasi- Seit einiger Zeit wendet sich die historische Titel bereits als »drei Städte«. Eine deutsche Stadt sollte es werden, € 44,90 allehrer, Advokaten, Beamte, Priester und Akademiker gehörten. Forschung dem Alltagsleben unter Gewalt- die beiden Autoren untersuchen vor allem die Lebenswelten der Polen Soweit diese die ersten Monate überlebten, mussten sie alles tun, herrschaft zu, so auch ein von Jochen Böhler und Stephan Lehnstaedt und der im Ghetto Litzmannstadt eingepferchten Juden. »Wir Migranten sind die Fenster, durch die um als einfache Leute zu gelten. Erst dann war es ihnen möglich, in herausgegebener Sammelband, der auf eine Tagung im Deutschen His- Tarik Cyril Amar zeigt die »vielfachen, oft komplexen Beziehun- die Einheimischen die Welt sehen können« der Untergrundpresse und anderswo zu wirken. Ein großer Teil der torischen Institut Warschau im November 2009 zurückgeht. Verschiede- gen« (S. 332) auf, in denen Gewalt und Alltag in Lemberg während des (Vilém Flusser). Dieses programmatische Zitat stellt die Berliner Intelligenz, die im Krieg Offi ziersposten bekleidete, sollte im März ne Beiträge zeigen auf, wie im besetzten Polen – sei es unter deutscher Zweiten Weltkriegs standen. Er untersucht dezidiert auch die Wech- Historikerin Anne-Christin Saß an den Anfang ihrer hier in überar- 1940 in Katyn umkommen. Im deutsch besetzten Polen kursierten oder sowjetischer Herrschaft – Gewalt alltäglich wurde. Nicht in allen selwirkung der beiden Besatzungsregime und richtet den Blick in die beiteter Form vorliegenden Dissertationsschrift. Saß geht es dabei die wildesten Gerüchte über die prosowjetische Haltung der Juden im Beiträgen geht es zugleich um beide methodische Perspektiven, die Nachkriegszeit und die Erinnerung an die Gewalt, die im »Alltag des um nicht weniger als eine »Analyse der politischen und gesell- sowjetisch besetzten Teil der einstigen Republik. Polnische Antise- der Alltagsgeschichte und die der Gewalt. Vor allem der dritte Ansatz, sowjetisch-ukrainischen Lemberg« keinen Platz haben sollte, doch kei- schaftlichen Rahmenbedingungen, der strukturellen Bedingungen miten fühlten sich durch solche Nachrichten in ihren Überzeugungen den Stephan Lehnstaedt in seiner instruktiven Einleitung benennt,1 der neswegs verschwand. Während Aleksandr Gogun die Gleichgültigkeit der Emigrationsbewegung aus Osteuropa sowie der individuellen voll und ganz bestätigt. Und da die Deutschen Polen und Polinnen des Vergleichs beider Regime, kommt nur in wenigen Aufsätzen zum der Führung der sowjetischen Partisanen in der Ukraine gegenüber dem Handlungsspielräume und Verarbeitungsstrategien der Migranten« bei willkürlichen Razzien zur Zwangsarbeit im Reich verpfl ichteten, Tragen; vor allem die Aufsätze von Felix Ackermann zu Grodno und Holocaust und ihre Beziehung zu den polnisch-ukrainischen Nationali- (S. 30). während Juden im Lande bleiben durften, meinten sie, dass es diesen Tarik Cyril Amar zu Lemberg sind hier hervorzuheben. Doch versteht tätenkonfl ikten aufzeigt, untersucht Adam Puławski den Wissensstand Berlin wurde in den 1920er Jahren zu der zentralen Durch- besser ergehe als den nichtjüdischen Polen. Sie sahen nicht, dass die sich der Band dezidiert als ein Anfang, er will Anregungen bieten durch über den Holocaust innerhalb des polnischen Untergrundstaates und gangsstation für die transnationale Wanderungsbewegung von Ost Juden kaum entlohnt wurden, sie neideten ihnen nur, dass sie zumeist diese Einzelstudien, »die zu weiteren entsprechenden Vergleichen von dessen Informationspolitik: Während des Massenmords wurde in der nach West. Die jüdischen Migranten, die vornehmlich aus Russ- zu ihren Familien zurückkehren konnten. So manches Dokument in Alltag und Gewalt unter zweierlei Besatzung anregen sollen« (S. 29). Untergrundpresse eine Debatte über die Präsenz der Juden in der pol- land/Sowjetunion und Galizien stammten, bildeten dabei eine kleine dem vorliegenden Band legt von diesen Dingen Zeugnis ab. Der Band ist umfangreich: Insgesamt 23 Beiträge sind unterteilt nischen Gesellschaft losgetreten, zudem sei hier aus den Nachrichten Minderheit. Für den Großteil der Migranten war Berlin nicht Ziel, Wir erhalten insgesamt eine mosaikartige Einsicht sowohl in in die vier Themenblöcke »Neue Herrschaftsformen«, »Neue Eli- über den Holocaust zumeist in erster Linie abgeleitet worden, dass sondern lediglich Zwischenhalt auf dem Weg in die USA. Die rest- das Schicksal der Juden wie auch in deren Umgebung, in die Po- ten«, »Ethnisierung des Alltags« und »Widerstand und Kampf«. Sie Polen die nächsten Opfer der Nationalsozialisten sein würden. So über- riktive Immigrationspolitik jenseits des Atlantiks und der sogenannte litik der Naziführung, die Folgen der Teilung Polens, die Art, wie sind, wie in den meisten Sammelbänden, unterschiedlich interessant. rascht es kaum, dass die Beziehungen zwischen dem Untergrundstaat »Ostjuden-Erlass« von 1919 – osteuropäisch-jüdische Migranten sich Deutsche im eroberten Polen bewegten, die Reaktion sowohl Doch zeigen zahlreiche Aufsätze detailliert auf, wie unterschiedlichs- und der jüdischen Kampforganisation ŻOB (Żydowska Organizacja waren jetzt im Deutschen Reich geduldet – führten dazu, dass Berlin polnischer Funktionsträger wie auch einfacher Polen und Polin- te Formen der Gewalt für die meisten Menschen im besetzten Polen Bojowa) »großes gegenseitiges Misstrauen« (S. 388) kennzeichnete. in der Folge zu einem zentralen Zufl uchtsort der jüdischen Einwan- nen, den Informationsstand der westlichen Presse und vieles mehr. immer mehr zu einer den Alltag bestimmenden Kategorie wurden. Die Gewalterfahrungen der polnischen Landbevölkerung nimmt derung aus Osteuropa werden konnte. Ferner sollte sich die Infl ation Der Band stellt zweifelsohne eine wertvolle Ergänzung dessen dar, Manche Verfasser präsentieren hierzu das Beispiel einzelner Städte, Daniel Brewing in seinem äußerst anregenden Beitrag in den Blick. Im der 1920er Jahre als günstig für die Herausgeber jiddischsprachiger was der kundige Leser und vielleicht auch Forscher bisher kannte. andere nehmen größere Regionen in den Blick. Zuge der Partisanenbekämpfung führten die deutschen Besatzer vor Zeitungen erweisen, die in Berlin hergestellt und anschließend an Die nächsten beiden Polen betreffenden Bände, der neunte und der So untersucht Alexa Stiller die NS-Volkstumspolitik, die von allem im Jahr 1942 in großem Maßstab Erschießungen in polnischen das jüdische Publikum in Osteuropa verschickt werden konnten. zehnte, sollen von August 1941 bis 1945 die Situation im General- vornherein eine Politik der Gewalt war, und stellt dar, wie sich diese Dörfern vor, um Hilfen für Partisanen in den Wäldern zu unterbinden. Anne-Christin Saß analysiert das Weimarer Berlin aus zwei gouvernement einerseits und die in den dem Reich eingegliederten im Alltagsleben der Bevölkerung niederschlug und wie sie auf gesell- Zunehmend wurden hier auch Frauen »in eine radikalisierte Feind- Perspektiven: Zum einen porträtiert sie die Stadt als Migrationszen- Gebieten andererseits umfassen.5 schaftlicher Ebene eine »Dynamik der Gewalt« (S. 66) mit sich brachte. projektion integriert« (S. 514) und Opfer dieser Brutalisierung. Die trum und Knotenpunkt einer vielfältigen jüdischen Diasporakultur; Mitherausgeber Jochen Böhler analysiert das »verstörende Nebenein- »Veralltäglichung von Gewalt« (S. 506) stellt Brewing und stellen eine Vielfalt, die durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten Karol Sauerland ander von Alltag und Gewalt« (S. 105) im Fotoalbum eines deutschen auch andere Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes eindrucks- ihr Ende fand. Und zum anderen stellt Berlin für die Autorin den Warszawa Gestapobeamten in Hohensalza: Tötungen erscheinen hier als Teil des voll in den Fokus. Hoffentlich erfüllt sich der von Lehnstaedt in sei- zentralen »Begegnungs- und Kommunikationsraum« zwischen deut- Arbeitsalltags, die Polizeiarbeit dieser Männer war ihre Normalität; ner Einleitung geäußerte Wunsch, dass den Anregungen, die dieser schen Juden, osteuropäisch-jüdischen Migranten und nichtjüdischen Fotos, die dies dokumentieren, stehen in dieser Sichtweise nicht mehr Tagungsband gibt, weitere Forschungen zur Alltagsgeschichte unter Berlinern dar. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, hat Saß den Bedingungen extremer Gewalt folgen werden. eine breite Quellengrundlage erschlossen. Aus Akten städtischer 5 Der berühmte und viel diskutierte Fall Jedwabne und ähnlicher Pogrome im Juli Behörden, Erinnerungen, Tagebüchern, Zeitungsartikeln und vielen 1941 scheint mithin keine Berücksichtigung zu fi nden, es sei denn, dass er den beiden Bänden sieben und acht (Sowjetunion und annektierte Gebiete) zugeschla- 1 Stephan Lehnstaedt ist darüber hinaus mit einem Beitrag zum Alltagsleben der Andrea Löw anderen Dokumenten rekonstruiert Saß die vielfältigen Vernetzungen gen wird. deutschen Besatzer in Warschau in dem Band vertreten. München zwischen jüdischen und nichtjüdischen Berlinern. Das Buch ist in

56 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 57 vier zentrale Kapitel aufgeteilt, in denen jeweils die Beziehungen Der Holocaust und die jüdischen Historiker historische Repräsentation und Interpretation des Geschehens auf. verlagerten. Obwohl Bauer und Michman verschiedene Themenfel- zwischen verschiedenen Gruppen untersucht werden. Nach einer Arendt habe eine »Master-Erzählung« bevorzugt, in der die Täter der bearbeiteten und unterschiedliche Fragestellungen entwickel- allgemeinen Einführung in die Entwicklung und Struktur Berlins als und ihr spezifi scher Diskurs im Zentrum stehen. Vielen jüdischen ten, verweise ihr Forschungsprogramm auf ähnliche Interessen und osteuropäisch-jüdisches Migrationszentrum analysiert Saß zunächst Kommentatoren erschien Arendts Kritik an den Judenräten – sie Perspektiven: Beide betrachteten die Juden nicht allein als Objekte die Binnendifferenz innerhalb der äußerst heterogen zusammenge- hatte die These vertreten, die Gesamtzahl der jüdischen Opfer wäre der Verfolgung, beide befassten sich mit Aspekten der jüdischen setzten Gruppe der Migranten. Anschließend wendet sie sich der David Engel geringer gewesen, wären die Juden »unorganisiert« und »führerlos« Gesellschaft während des Holocaust, und beide nutzten das Wissen Beziehung der Zuwanderer zu ihren Herkunftsländern und ihren Historians of the Jews and the Holocaust gewesen – als ein unsolidarischer Akt. Obwohl, wie Engel betont, um das unterschiedliche Verhalten der jüdischen Gemeinschaften Emigrationszielen zu. Das Verhältnis zur jüdischen community steht Stanford: Stanford University Press, 2010, eine moralische Verurteilung der Judenräte in den 1950er Jahren zwischen 1933 und 1945 als »Fenster«, durch das sie blickten, um im Zentrum des vorletzten Kapitels, während Saß abschließend die 336 S., ca. € 60,– in Israel weit verbreitet war und obwohl Arendt – im Gegensatz zu grundlegende Entwicklungen der modernen jüdischen Geschichte Kontakte zur nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung beleuchtet. Raul Hilberg und Bruno Bettelheim – keine kritische Aussage über zu verstehen. Die Autorin wiederholt nicht den Fehler, die osteuropäisch-jü- das Verhalten der jüdischen Bevölkerung insgesamt machte und die Engels exzellente Analyse der jüdischen Historiografi e zeigt, dischen Migranten als eine homogene Gruppe zu beschreiben. Auch These zurückwies, die (angeblich passiven) Reaktionen der Juden dass der akademische Diskurs über das Verhältnis von Holocaust- legt sie besonderen Wert darauf, die Jahre zwischen 1918 und 1933 Die Frage, ob die Verfolgung und Ermor- basierten auf einer zweitausend Jahre alten Erfahrung im Exil, geschichtsschreibung und jüdischer Historiografi e stark von ideo- nicht durch das Prisma des Holocaust zu betrachten, wie es so häufi g dung der europäischen Juden durch das na- attackierten Akademiker und Personen des öffentlichen Lebens logischen, politischen und moralischen Erwägungen geprägt war. in der deutschen Historiografi e getan wurde. Saß beabsichtigt, mit tionalsozialistische Deutschland ein Teil der jüdischen Geschichte sei Arendt mit dem gleichen Argument, das sie auch gegen Hilberg ihrer Studie die idealisierte und reduzierte Vorstellung ostjüdischer oder nicht und vielmehr zur deutschen und europäischen Geschichte und Bettelheim vorgebracht hatten: Die Philosophin sei, so der Katrin Stoll Schtetlromantik zu dekonstruieren und durch ein vielschichtiges gehöre, war und ist in der jüdischen Geschichtswissenschaft um- Vorwurf, unzureichend vertraut mit der Lebensweise, Geschichte Warszawa Bild jüdischer Lebenswelten zu ersetzen. Das gelingt der Autorin stritten. David Engel, Greenberg Professor für Holocaust Studien, und Kultur der europäischen Juden. Engel führt aus, dass sich die vor allem deshalb so hervorragend, weil sie sich konsequent weigert, Professor für Hebräische und Jüdische Studien sowie Professor für Reaktionen der zionistischen Historiker, deren Forschungsthema vermeintlich existierende »ostjüdische Ghettos« herbeizuschreiben. Geschichte an der New York University, hat sich ausführlich mit dem die jüdische Geschichte vor dem Holocaust war, weniger durch eine Stattdessen setzt sie die jüdischen Zuwanderer in einen Zusam- jüdischen akademischen Diskurs über das Verhältnis von Holocaust- Kritik an der empirischen Basis von Arendts Thesen auszeichneten menhang mit den allgemeinen politischen, gesellschaftlichen und geschichtsschreibung und Historiografi e zur jüdischen Geschichte als vielmehr durch eine Umformulierung früherer Kommentare in kulturellen Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahre. Der Blick befasst. 2006 erschien seine hebräischsprachige Monografi e zu dem ihrem Werk. durch das eingangs zitierte migrantische Fenster, das Vilém Flusser Thema, die seit 2010 auch auf Englisch vorliegt. Engel verweist in diesem Zusammenhang auf Jacob Katz, der beschreibt, macht den Blick frei auf das restriktive Einwanderungs- Engel fragt danach, ob Historiker der jüdischen Geschichte seinen Standpunkt revidierte. In einer Broschüre aus dem Jahr 1960 regime der Weimarer Republik. Trotz ihrer Duldung betrachteten (darunter Ben Zion Dinur, Shmuel Ettinger, Uriel Tal, Todd Endel- zur Geschichte der deutschen Juden, die für Soldaten der israeli- die zentralen Behörden osteuropäisch-jüdische Zuwanderer als man und Jacob Katz) Werke von Holocausthistorikern als Quelle schen Armee bestimmt war, konstatiert Katz noch, vielen Juden in Christlich-jüdischer Dialog »unerwünschte Elemente«, als Fremde also, die die Konturen des oder Bezugsrahmen für ihre eigenen Studien verwendeten und, Deutschland habe vor der Machtübernahme durch die National- Medien - Materialien - Informationen mehrheitsfähigen Konzepts eines ethnisch homogenen Nationalstaats wenn ja, inwiefern sich diese Darstellungen des Holocaust auf die sozialisten »ein spezifi sches jüdisches Bewusstsein« gefehlt und ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis umso deutlicher spiegeln. Wie Saß zeigt, existierten Konfl iktlinien Repräsentationen der jüdischen Geschichte der Vor-Holocaust- die Schritte, die sie nach 1933 zu ihrer Verteidigung unternommen für das christlich-jüdische Gespräch jedoch nicht nur zwischen deutscher Mehrheitsbevölkerung und Zeit auswirkten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten der hätten, seien »extrem naiv« gewesen. Nach dem Erscheinen von in Hessen und Nassau www.ImDialog.org osteuropäisch-jüdischen Zuwanderern, sondern auch zwischen deut- von ihm untersuchten Historiker das Wissen über den Holocaust Arendts Eichmann in Jerusalem nahm Katz seine Kritik zurück schen und osteuropäischen Juden. Das Verhältnis der deutschen nicht als relevant für ihre eigenen Problem- und Fragestellungen und betonte, das Verhalten der deutschen Juden habe sich nicht BlickPunkt.e Juden zu den osteuropäisch-jüdischen Zuwanderern war äußerst erachteten. So weist Engel darauf hin, dass die herrschende Mei- entscheidend auf den Verlauf des Verfolgungsprozesses in der NS- MATERIALIEN ZU CHRISTENTUM, JUDENTUM, ISRAEL UND NAHOST ambivalent und pendelte zwischen romantisierender Verklärung und nung in der jüdischen Geschichtswissenschaft lange Zeit lautete, Zeit ausgewirkt. Katz behauptete – zu Unrecht, wie Engel betont scharfer Abgrenzung. Nicht wenige deutsche Juden sahen sich bei die Shoah stelle ein Hindernis für die Erforschung der modernen –, Arendts Interpretation des Holocaust gehe auf ihre angeblich Gottesdienst in Israels Gegenwart deren Anblick ungewollt an ihre eigene Immigrationsvergangenheit jüdischen Geschichte dar. Diese Trennlinie zwischen Holocaustge- deterministische Konzeption der deutsch-jüdischen Geschich- MATERIALHEFTE ZUR GOTTESDIENSTGESTALTUNG aus dem östlichen Europa erinnert. schichtsschreibung und jüdischer Historiografi e habe sich nach der te zurück. Seine Kritik bestärkte, so Engel weiter, viele jüdische Anne-Christin Saß gelingt es in ihrer Studie, das Weimarer Debatte um Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem (1963) noch Wissenschaftler in der Überzeugung, jüdische Geschichtsschrei- Schriftenreihe Berlin als eine »Drehscheibe zwischen Ost und West« (S. 34) zu verfestigt. bung und Holocaustforschung seien strikt voneinander zu trennen. THEMEN ZU THEOLOGIE, GESCHICHTE UND POLITIK beschreiben und darüber hinaus die vielfältigen Lebensrealitäten Eingehend analysiert Engel die Rezeptions- und Wirkungsge- Diese Trennung galt als »methodologischer Schutzmechanismus« jüdischer Zuwanderer aus Osteuropa zu rekonstruieren. Dabei port- schichte von Arendts Prozessreport. Es bietet auch Lesern, die mit vor Missverständnissen und Fehlinterpretationen in Bezug auf das Ausstellungen zu verleihen rätiert sie Berlin als einen Zwischenraum zwischen Herkunftsländern den Grundzügen der Debatte vertraut sind, neue Einsichten. Arendts Thema »Das Dritte Reich und die Juden«. JÜDISCHE FESTE UND RITEN • ANTIJUDAISMUS • und Emigrationszielen der Migranten. Selten wurde deutsche, (ost-) Kritik am Jerusalemer Gericht, das aus ihrer Sicht die Leiden der Als Beispiele für Versuche, jüdische Geschichtsschreibung und HOLOCAUST UND RASSISMUS • DIE BIBEL europäische und jüdische Geschichte so gelungen zusammengeführt jüdischen Opfer zu sehr in den Vordergrund und die Vorwürfe gegen Holocaustforschung produktiv miteinander zu verschränken, führt wie hier. den Angeklagten in den Hintergrund rückte, sowie ihre Deutung des Engel unter anderem die Arbeiten Yehuda Bauers und Dan Mich- ImDialog • Robert-Schneider-Str. 13a • 64289 Darmstadt Holocaust als universalgeschichtliches Ereignis in der Geschich- mans an – Absolventen der jüdischen Geschichte an der Hebräischen Tel. 06151- 423900 • Fax 06151 - 424111 Markus Nesselrodt te der Moderne, als Verbrechen gegen die gesamte Menschheit, Universität in Jerusalem, die im Laufe ihrer wissenschaftlichen Kar- Email [email protected] • Internet www.imdialog.org Berlin warfen, wie Engel betont, grundlegende Fragen in Bezug auf die riere ihren Forschungsschwerpunkt auf die Geschichte des Holocaust

58 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 59 Neue Einblicke in weithin aus dem Berliner Westen. Sie sollten nicht mit »Charlottengrad«, herabsetzenden Bilder, die jüdische Gruppen voneinander entwi- »Was habe ich mit Juden gemeinsam?« unbekannte Welten dem »Russki Berlin«, identifi ziert werden, denn sie stellten eine ckelten. Entsprechend thematisieren die meisten Autoren innerjü- besondere Gruppe dar. Viele Institutionen, Vereine, Netzwerke dische Debatten. Aufschlussreich ist, wie wenig der »Raum« Berlin

und Persönlichkeiten werden vorgestellt und analysiert. Eigene in den zeitgenössischen Debatten und Werken eine Rolle spielte. Im Aufsätze sind David Bergelson (Marc Caplan), Micha Joseph Ber- Mittelpunkt standen vielmehr die jeweiligen schmerzhaften Ver- dyczewski (Karin Neuberger), Moyshe Kulbak (Rachel Seelig), gangenheiten wie etwa die gerade verlorene Heimat in Osteuropa. Isolde Charim, Verena Dohrn, Gertrud Pickhan (Hrsg.) Viktor Schklowski (Britta Korkowsky), Simon Dubnow und seinen Oder man stritt über die Frage der Ausrichtung auf eine bessere Gertraud Auer Borea (Hrsg.) Transit und Transformation. Osteuro- Übersetzern (Olaf Terpitz) gewidmet. Sozialwissenschaftler wie Zukunft in nationaler, politischer und kultureller Hinsicht. Bis auf Lebensmodell Diaspora. päisch-jüdische Migranten in Berlin Boris Brutzkus, Jakob Lestschinsky, Elias Tscherikower, Mark ganz wenige Ausnahmen taucht »Berlin« erst in der Rückschau Über moderne Nomaden 1918–1939 Wischnitzer, die Brüder Alexander und Eugene Kulischer, Josef aus den 1930er Jahren auf, als sich durch die Machtergreifung der Bielefeld: transcript Verlag, 2012, 280 S., Göttingen: Wallstein Verlag, 2010, 340 S., Schechtman, die Philosophen David Koigen, Aaron Steinberg und Nationalsozialisten und die weitere Migration bereits wieder vieles € 24,80 Abb., € 29,90 Simon Rawidowicz, der Verleger Iossif Gessen sowie viele weitere verändert hatte. Man kann aus den hier vorgelegten Texten viel Schriftsteller und Künstler tauchen immer wieder auf. Man lernt lernen und Neues erfahren. Manches Mal verunklaren allerdings Das Buch basiert auf einer Veranstaltungsrei- Anfang der 1920er Jahre lebten fast vier Neues über den Verband der russischen Juden in Berlin (Alexandra die Begriffl ichkeiten des »spatial turn« eher die Sache, um die es he des »Bruno Kreisky Forums für internatio- Millionen Menschen in Berlin, der seit 1920 Polyan), die diversen Instanzen der Sozialisten und Kommunisten geht, als dass sie sie erhellen würden. Es ist gewiss zu begrüßen, nalen Dialog«. Das Forum, das sich in der Privatvilla des ehemaligen nach Los Angeles fl ächenmäßig zweitgrößten Stadt der Welt. Etwa (Gerben Zaagsma), die Organisationen der hebräischen Bewegung dass die jeweiligen Orte und ihre Kontexte in der Forschung wieder österreichischen Bundeskanzlers befi ndet, ist eine angesehene politische 40.000 aus Osteuropa stammende Juden fanden dort vorüberge- (Tamara Or), die Berliner ORT, der Gesellschaft zur Verbreitung stärker berücksichtigt werden. Ob es dazu der Sprache des »spatial Institution in Wien. Seit 2007 beschäftigen sich die Leiterin Gertraud hend Zufl ucht, ein knappes Viertel der bis 1933 in Berlin lebenden des Handwerks und der Landwirtschaft unter den Juden (Alexan- turn« bedarf, erscheint mir auch nach der Lektüre dieses Sammel- Auer Borea und die Kuratorin Isolde Charim mit der Diaspora als einem 175.000 Juden. Sie waren als Zwangsarbeiter während des Ersten der Ivanov), Berliner Cafés (Shachar Pinsker) und den Salon der bandes zweifelhaft. Eine letzte kritische Bemerkung: Es gibt kein neuen Lebensentwurf in Zeiten der Globalisierung. Sie haben dazu Ge- Weltkriegs ins Deutsche Reich verschleppt worden, hatten sich vor Frau Grüngard (Anat Feinberg). Dutzende jüdische Verlagshäuser Namensregister. Viele Personen werden in verschiedenen Aufsätzen sprächspartner aus aller Welt eingeladen. Die Autorenliste des Buches den Pogromen des russischen Bürgerkriegs in Sicherheit gebracht, sowie Zeitschriften- und Nachrichtenredaktionen residierten vorü- in durchaus unterschiedlicher Weise erwähnt. Ein Register wäre ist daher lang und beeindruckend: Der polnisch-britische Soziologe wollten den antisemitischen Schikanen im polnischen Militärdienst bergehend in Berlin (Gennady Estraikh). Thematisch ausgerichtete daher hilfreich gewesen und hätte zudem zur Angleichung der Na- Zygmunt Bauman, der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh, die entgehen, sahen für sich in den neuen Nationalstaaten im östlichen Aufsätze zu Fragen des Namens- und Identitätswechsels (Zsusa mensschreibweisen beigetragen. Insgesamt vermittelt dieser Band New Yorker Soziologin Saskia Sassen, die beiden in Indien geborenen Europa oder in der sozialistischen Staatsform Sowjetrusslands keine Hetényi), des Verhältnisses zur Sowjetunion (Oleg Budnitskii) sehr spannende Einblicke in Welten, über die wir immer noch viel Gelehrten Homi Bhabha und Gayatri Spivak gehören dazu. Der Kosmo- Zukunft, wollten schlicht der Armut und Perspektivlosigkeit ent- und zum »Jüdischen Bolschewismus«, bzw. dem Vaterländischen zu wenig wissen. politismus der Autoren ist zugleich Thema des Buches, das einen weit kommen oder suchten die »Moderne«, um einengenden Traditionen Verband (Markus Wolf), zu Berlin als »Ort der Erinnerung« in der gefächerten Überblick zum Stand der postkolonialen Theorie bietet. zu entfl iehen. Sie bildeten einen Teil der großen Emigrationswelle, jiddischen Literatur (Mikhail Krutikov) vertiefen und ergänzen Christoph Dieckmann Gayatri Spivaks These, dass westliche Befreiungstheorien wie Mar- mit der seit 1880 schon bis 1914 2,7 Millionen Juden Osteuropa das Bild, welches durch einen Überblick zur Migrationsgeschichte Fritz Bauer Institut xismus und Feminismus zu eurozentrisch seien, um den Unterdrückten Richtung Westen verlassen hatten, bis 1929 kamen noch einmal ca. (Tobias Brinkmann) und einen Vergleich des Scheunenviertels mit aus den postkolonialen Ländern eine Sprache zu geben, hatte 1988 den 800.000 hinzu. Boyle Heights in Los Angeles (Jeffrey Wallen) eingerahmt ist. Auftakt gegeben für die neue Denkrichtung. Seitdem versucht man die Berlin war nach 1918 nicht mehr nur ein Ort des Transits, Schon die bloße Aufl istung vermittelt einen Eindruck der enor- Erfahrungen der Turboglobalisierung und der großen Migrationsbewe- eine Durchgangsstation zwischen Ost und West, sondern wurde men sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Vielfalt die- gungen in adäquateren Kategorien als den marxistischen zu denken. für zehntausende Juden jahrelang zum Lebensmittelpunkt, da die ser Migrantengruppen. Das stereotype Bild »des Ostjuden« wird Diaspora ist so ein Begriff, dem sich der Band auf vielen Wegen Aufnahmepolitik anderer Länder restriktiver wurde. Entgegen der durch differenzierte historische Skizzen ersetzt. Gleichwohl: das nähert. Der Begriff erfuhr in den letzten Jahren eine weite Öffnung. fremdenfeindlichen und antisemitischen Wahrnehmung der »Masse« Scheunenviertel mit seiner jüdischen Migrationsbevölkerung ver- Ursprünglich negativ konnotiert, bezog er sich vor allem auf das der »Ostjuden« machten sie aber nur ca. ein Prozent der Stadtbe- bleibt etwas im Nebel. Wer dazu mehr erfahren möchte, sollte staatenlose Judentum in seiner oftmals schutzlosen Minderheiten- völkerung aus. zum Katalog der brillanten Ausstellung »Berlin Transit« und der existenz. Die neue Verwendung löst die Diaspora aus dem religiösen Der Sammelband bildet den Zwischenstand von 2009 des hervorragenden Studie von Anne-Christin Saß greifen.1 Kontext und bezieht sie auf ethnische, soziale, ja sogar auf sexuelle DFG-Projekts »Charlottengrad und Scheunenviertel«, geleitet Es fällt auf, wie wenig Kontakte zwischen den jüdischen Mi- Minderheiten. So gibt es eine Diaspora der Latinos in den USA, eine von Gertrud Pickhan, ab. Welche jüdischen Flüchtlingsgruppen granten und der nichtjüdischen Bevölkerung entstanden. In dem der Pakistanis in Großbritannien oder eine türkische in Deutschland. lebten wo in Berlin, wie prägten sie die Stadt und wie wirkte die Sammelband geht es daher stärker um die romantisierenden oder Um letztere geht es im Beitrag des Journalisten Birand Bingül, Stadt auf sie? Mit historischen und literaturwissenschaftlichen der auf die politischen Herausforderungen verweist, vor denen die Ansätzen ermöglichen die 18 Beiträge von mehrsprachigen Wis- Nachkommen der Einwanderergeneration stehen: »Es liegt an uns senschaftlern aus aller Welt detaillierte Einblicke in weithin un- 1 Katalog Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Deutschtürken selbst, unsere Integration zu gestalten. Und da liegt bekannte Lebenswelten, in denen vor allem Jiddisch, Russisch Jahren, hrsg. von der Stiftung Jüdisches Museum Berlin in Zusammenarbeit die Verantwortung vor allem bei den erfolgreichen Deutschtürken und auch Hebräisch gesprochen und geschrieben wurde. Im Fokus mit dem Forschungsprojekt »Charlottengrad und Scheunenviertel«. Osteuropä- der zweiten Generation.« (S. 125) Es ist Zeit, meint Bingül, dass stehen weniger die vielen mittellosen, jiddischsprachigen Juden, isch-jüdische Migranten im Berlin der 1920/30er Jahre, Osteuropa-Institut, die sozial Integrierten sich auch um Teilhabe an politischer Macht Freie Universität Berlin, Göttingen 2012; Anne-Christin Saß, Berliner Luft- die im armen Scheunenviertel unterkamen, sondern eher die rus- menschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik, bemühen. Mehr als beim wirtschaftlichen Aufstieg gehört dazu aber sisch akkulturierten Intellektuellen, Künstler und Geschäftsleute Göttingen 2012. auch ein Ja zur Bindestrichidentität als Deutschtürke.

60 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 61 Die Frage der Identität bildet einen Schwerpunkt des Buches. Kinder und Heranwachsende als Überarbeitung angeraten gewesen. Die Würdigung von Helena auch im Altreich (Gleiwitz, Neustadt) sowie in Tschechien (Brünn, Eine »nicht-volle« Identität nennt Isolde Charim diese auf mehrere Häftlinge in Sachsenhausen, Auschwitz Kubica, der die Verfasserin zwar »zu zahlenmäßigen Aufstellun- Freudenthal, Lichtewerden). Mit der Errichtung des Frauenlagers in Bezugspunkte zerstreuten Identitäten und führt aus: »Das heißt, gen und zur Ereignisgeschichte grundlegende Arbeit« bescheinigt, Auschwitz Ende März 1942 gelangten nicht, neben slowakischen, jede diasporische Gemeinschaft ist immer von einer tiefen Spaltung und Bergen-Belsen jedoch dann vorhält, die »Reaktionen der Kinder und Jugendlichen »deutsche Jüdinnen« in das Lager (S. 109), sondern zunächst nicht- durchzogen: räumlich zwischen einem Hier und Dort, emotional auf die durch die Lagerführung vorgegebenen Strukturen und ihr jüdische deutsche Frauen. Rudolf Höß wurde nicht in Krakau vor zwischen einem unmittelbaren Erleben und einer externen Bindung spezifi scher Lageralltag« kämen in ihren Veröffentlichungen »bis- Gericht gestellt (S. 153 f., 161, 285 u. a.), sondern in Warschau. […]. Eben deshalb ist Diaspora der Schlüsselbegriff für heutige lang noch zu kurz« (S. 20, 24), wird dem Ertrag ihrer Forschungen Der Versuch, den seit 1940 in das KL Auschwitz eingelieferten Gruppenbildungs- und Identifi kationsprozesse.« (S. 13 f.) Verena Buser nicht gerecht.2 Gerade im engen Kontakt mit zahlreichen früheren polnischen Heranwachsenden generell ihre ideell-politische Mo- Die Literaturwissenschaftlerin Vivian Liska illustriert dies aufs Überleben von Kindern und Jugendlichen Häftlingen, die als Kinder und Heranwachsende in Auschwitz ge- tivation abzusprechen – »Bereits ab 1940 befanden sich auch aus Schönste, wenn sie Franz Kafka mit der Frage zitiert: »Was habe ich in den Konzentrationslagern Sachsenhau- fangen waren, macht Kubica seit Jahrzehnten das, was einleitend vermeintlich politischen Gründen inhaftierte Kinder und Jugendliche mit Juden gemeinsam?« (S. 178) Hier bezieht sich ein Individuum sen, Auschwitz und Bergen-Belsen (S. 21, 28 f.) postuliert wird. Sie setzt damit frühere Forschungen aus Polen unter den Auschwitz-Häftlingen« (S. 215) – ist gerade für auf ein Wir, indem es zugleich Distanz dazu äußert. Und Kafka lässt Berlin: Metropol Verlag, 2011, 318 S., der Gedenkstätte Auschwitz fort, vor allem Arbeiten des langjähri- die erste Phase der Geschichte des KL Auschwitz unbegründet. Viele es dabei nicht bewenden, sondern fährt fort: »Ich habe kaum etwas € 22,– gen Kustos des Museums, Tadeusz Szymański (1917–2002), der der Polen in den ersten Häftlingstransporten 1940 waren Oberschüler mit mir selbst gemeinsam.« (S. 179) Damit erfährt Identität noch zudem bereits aus der Haftzeit detaillierte Kenntnisse über Kinder oder Abiturienten, die verhaftet worden waren, weil sie zur polnischen eine zweite Spaltung, die an Freuds Defi nition des »Ich« erinnert, und Heranwachsende in Auschwitz hatte und seit den 50er Jahren Armee in Frankreich gelangen wollten oder bei frühen Versuchen der das nicht Herr im eigenen Haus ist. Liska geht es um eine nach Die Soziologin Anna Pawełczyńska, im Al- vielen der überlebenden Kinderhäftlingen bei ihren Versuchen half, Bildung konspirativer Gruppen mitwirkten. Nachzulesen ist dies zum außen wie nach innen wirksame diasporische Lebenserfahrung, bei ter von 20 Jahren wegen ihres Engagements ihren tatsächlichen Namen festzustellen und soweit möglich Fami- Beispiel in den auch auf Deutsch veröffentlichten Erinnerungen von der man sich jedoch auch fragt, ob sie nicht generell das Subjekt in der polnischen Widerstandsbewegung verhaftet und ab März 1943 lienangehörige zu fi nden.3 Kazimierz Albin (18 Jahre) und Jerzy Baran (Hronowski, 18 Jahre) der Moderne bestimmt. In dieser Allgemeingültigkeit verliert das Häftling im Frauen-Konzentrationslager Birkenau, schrieb in ihrer Die (leider unveröffentlichte) Wiener Dissertation von Marga- sowie der bei der Einlieferung bereits etwas älteren Jugendlichen Identitätskonzept des Bandes zuweilen an Trennschärfe, wo es zwi- soziologischen Analyse von Auschwitz Werte gegen Gewalt, im retha R. Hopfner Kinder in Auschwitz (1993) wird zwar erwähnt Jerzy Bielecki (19 Jahre), August Kowalczyk (19 Jahre) und Wiesław schen einer konstanten anthropologischen und einer besonderen Abschnitt »Ungleiche Chancen bereits bei der Ankunft«, dass unter (S. 21, 202, 286), jedoch nicht hinsichtlich ihrer Konzeption und Kielar (21 Jahre). Nicht mehr berichten konnte zum Beispiel Edward historisch-politischen Kategorie oszilliert. anderem alte Menschen, Kranke und Kinder, als nicht für die Arbeit ihres Ertrags erörtert. Nicht nachvollziehbar ist, dass die lebens- Galiński (bei der Einlieferung 16 Jahre), der nach der gescheiterten Eine Stärke des Buches besteht in seinem Umgang mit parado- einsetzbare körperlich Schwache, möglichst schnell ausgemerzt wer- geschichtlich angelegte Veröffentlichung von Alwin Meyer Die Flucht mit Mala Zimetbaum 1944 hingerichtet wurde. xen Konstruktionen. »Diaspora-Nationalismus« ist so ein Paradoxon. den sollten.1 Mit den Existenzbedingungen der Kinder und Heran- Kinder von Auschwitz (1990) und Wolf H. Wagners Buch Wo die Auch die sprachliche Form hätte eine Überarbeitung erfordert. Der Soziologe Natan Sznaider überprüft den von Simon Dubnow im wachsenden unter den Häftlingen der KZ Sachsenhausen, Auschwitz Schmetterlinge starben. Kinder in Auschwitz (1995) nicht einmal »Männliche Juden« (S. 43, 102) sind jüdische Männer bzw. Jugendli- 19. Jahrhundert eingeführten Terminus auf seine Tauglichkeit für den und Bergen-Belsen, die trotz dieser ungleichen Chancen am Leben genannt sind. Da die Verfasserin einleitend Defi zite in der Forschung che, »weibliche Minderjährige« (S. 122) sind Mädchen, »männliche postkolonialen Diskurs. Dubnow wollte die alte jüdische Gemein- blieben, beschäftigt sich Verena Buser in ihrem Buch. beklagt, ist an dieser Stelle zudem auf nicht berücksichtigte, bereits und weibliche Überlebende« (S. 276) sind überlebende Männer und deautonomie vor dem individualistischen Gleichheitspostulat der Die Verfasserin stellt den »Alltag« von Kindern und Jugend- seit den sechziger Jahren erarbeitete polnische Forschungen zum Frauen bzw. Jungen und Mädchen; die in den Konzentrationslagern Französischen Revolution bewahren. Bei aller Sympathie Sznaiders lichen (bis 18 Jahren), die später selbst berichten konnten, und die Thema hinzuweisen.4 gefangenen Kinder und Jugendlichen waren nicht »interniert« (S. 13, für den vorrevolutionären Diaspora-Nationalismus warnt er aber ihr Überleben ermöglichenden Bedingungen in den Mittelpunkt Die Sachdarstellung über Auschwitz erfordert Korrekturen. So 269). Die Wendung »Humanexperimente an Kindern und Jugend- auch davor, »die Diaspora nicht als Idealzustand [zu] zelebrieren, ihrer Studie, darunter auch »die Ausarbeitung der den Kindern und sind zum Beispiel die Informationen über die Bebauung der La- lichen« (als Überschrift im Kapitel über Auschwitz, S. 197) sollte wie das heute in vielen jüdischen Museen getan wird. Exil ist nicht Jugendlichen eigenen und von ihnen selbst ergriffenen Initiativen, gerabschnitte BIIb und BIIf auf Seite 111 falsch (was bereits ein in einem den Opfern Mengeles und anderer SS-Ärzte gewidmeten unbedingt Freiheit.« (S. 192) die zu einer Erhöhung der Überlebenschancen beitragen konnten« Blick auf die Karte S. 112 f. zeigt); das Stammlager Auschwitz Buch nicht vorkommen. Welche Rolle der Staat Israel für das Verhältnis von Freiheit und/ (S. 26). Im Anschluss an Überlegungen zu bereits vorliegenden Ver- bestand nicht aus »etwa 32 Kasernen« (S. 109); Außenlager des KL Der Grund für die Probleme bei der Klärung der für die ge- oder Diaspora zukünftig spielen könnte, interessiert Hanno Loewy. öffentlichungen, den erörterten Fragen und den zugrunde gelegten Auschwitz gab es nicht allein im besetzten Polen (S. 116), sondern nannten drei KZ formulierten Fragen ist nicht, dass »für jedes Kon- Schon die Frage allein hebt den alten hegemonialen Anspruch Isra- Quellen werden jeweils in einem eigenen Kapitel die Verhältnisse zentrationslager Material in unterschiedlichem Umfang vorliegt« els gegenüber der Diaspora auf. Loewy zeigt, dass Israel nicht das in den genannten Konzentrationslagern dargestellt. Abschließend (S. 27), sondern es sind die jeweiligen Funktionen dieser Lager und Ende der Diaspora bedeutet, sondern diese nur neu und anders zur werden die Ergebnisse unter dem Gesichtspunkt der Einschätzung die Veränderungen unterliegende Situation. Wie auch die Sachdar- Disposition stellt. So leben viel mehr Juden in den USA als in Israel, durch überlebende Kinder und Heranwachsende selbst sowie der für 2 Vgl. u. a.: Helena Kubica, Nie wolno o nich zapomnieć. Najmłodsze ofi ary stellung der Verfasserin erkennen lässt, waren Kinder erst seit den Auschwitz. Man darf sie nie vergessen. Die jüngsten Opfer von Auschwitz, empfi nden dies aber nicht als defi zitär. Andererseits gibt es heute das Überleben ausschlaggebenden Umstände zusammengefasst, mit Oświęcim 2002. Massentransporten nach Auschwitz, dem verstärkten Häftlingsar- sogar eine israelische Diaspora, »jüdische Israelis, die permanent einem Ausblick auf einige der Vereinigungen von Überlebenden. 3 Vgl. u. a. den auch auf Deutsch veröffentlichten Aufsatz von Tadeusz Szymański beitseinsatz, der Errichtung von KZ-untypischen Lagerbereichen in oder zeitweise im Ausland, also in der Diaspora, leben« (S. 197), und Informativ und schlüssig sind die Kapitel über Sachsenhau- und Maria Piekutowa: »Die jüngsten Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz (den sog. Familienlagern) und Bergen-Belsen mit spe- die werden immer mehr, sodass Israel nicht nur ein Einwanderungs-, sen und Bergen-Belsen. Das Auschwitz gewidmete Kapitel ver- Auschwitz-Birkenau« in dem auf S. 16 angeführten Sammelband Verbrechen an zifi schen Funktionen und der Verwendung für »Versuchszwecke«, polnischen Kindern 1939–1945, München, Salzburg, Warszawa 1973. sondern zunehmend auch ein Auswanderungsland der Juden wird. mittelt zwar ebenfalls einen Überblick, jedoch wäre eine stärkere 4 Dziecko w obozie hitlerowskim [Das Kind im nationalsozialistischen Lager], Red. also seit 1943, Häftlinge in den Himmler unterstehenden Konzen- Es sind solche Problematisierungen und Einsichten, die den Band Zofi a Murawska-Gryń, Lublin 1972 (Materialien einer 1971 u. a. von der Ge- trationslagern (zuvor waren Minderjährige in der Regel im Heran- unbedingt lesenswert machen. denkstätte Majdanek veranstalteten Konferenz; hektographiert); Dzieci i młodzież wachsendenalter) und hatten Aussichten, länger am Leben bleiben zu w latach drugiej wojny światowej [Kinder und Jugendliche während des Zweiten können. Trotz der extremen Verschlechterung der Verhältnisse in den Weltkrieges], Red. Czesław Pilichowski, Warszawa 1982 (Beiträge über Kinder Monika Boll 1 Anna Pawełczyńska, Werte gegen Gewalt. Betrachtungen einer Soziologin über und Jugendliche in NS-Konzentrationslagern und anderen Haftstätten, S. 111– Konzentrationslagern seit Ende 1944 bot dann gerade die allmäh- Düsseldorf Auschwitz, Oświęcim 2001, S. 93 f. (poln. 1973; engl. 1979). 265, 432–441). lich durch die SS nicht mehr vollständig kontrollierbare Situation

62 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 63 Chancen, zu diesem Zeitpunkt noch lebende Kinder durchzubringen. bereits damals konstatierte: »Die psychische Reaktion der Kinder sehr wertvoll: Sie bieten konkreten Gesprächsanlass, emotionalen eine Einführung und Präsentation des Planungsprozesses für den Denn Kinder sind auf die Hilfe durch Ältere angewiesen; war sie auf ihre Lagererlebnisse ist verschieden, je nach ihrer psychischen Bezug und leichtere Zugänglichkeit als schriftliche Quellen. Orien- Gedenkort und unter anderem einen Hinweis auf die in Hamburg nicht möglich oder blieb sie aus, dann war Überleben unmöglich. Konstellation. […] Aus den zahlreichen Kinderberichten, die uns tiert an den von Raul Hilberg entwickelten Stufen der Verfolgung verlegten Stolpersteine. Für die Situation von Heranwachsenden in den Konzentrationsla- vorliegen, geht eindeutig hervor, dass sie ihrem Schicksal ohnmäch- geht es um die Ausgrenzung und Demütigung am Beispiel der Stadt Als regionale Ergänzung zum »Zug der Erinnerung«, der im gern sind auch entwicklungspsychologische Gesichtspunkte wesent- tig und fassungslos gegenüberstanden […].« Norden in Ostfriesland im Juli 1935, den Novemberpogrom 1938 März 2009 in Bonn gehalten hat, haben Astrid Mehmel und Sandra lich. Heranwachsende wurden unter solchen extremen Verhältnissen in Baden-Baden, die Ghettoisierung in der westpolnischen Stadt Seider eine kleine Ausstellung über die Deportationen von Kindern gezwungen, schnell erwachsen zu werden (sogar der Versuch, sich Jochen August Kutno im Juni 1940, die Deportation aus Marseille im Januar 1943 und Jugendlichen aus Bonn zusammengestellt. Sie gehen zunächst bewusst älter zu machen, deutet darauf hin). Damit wird es fragwür- Berlin/Oświęcim und Morde in Auschwitz im Sommer 1944. Jedes Mal wird gesagt, auf zwei Kinder ein, die Opfer der Euthanasie geworden sind. Des dig, hinsichtlich der Einschätzung ihres Verhaltens und ihrer Zahl woher die Fotos kommen und was im Detail zu sehen ist. Es werden Weiteren werden einige jüdische Kinder und Jugendliche mit ei- mit einer bestimmten Altersgrenze zu operieren (auch die Verfasserin die Hintergründe kurz beleuchtet und andere Quellen genannt. Ein nem Foto porträtiert, die fast alle in dem Vernichtungslager Maly benennt die bei der Defi nition einer Obergrenze bestehenden Probleme; Bild je Serie wird im Detail analysiert. Trostinez oder in dessen Nähe ermordet worden sind. Von den ver- S. 35 f.). Zudem wurden die vorhandenen Erinnerungen häufi g bereits Ein Beispiel: Die Aufnahmen von der Deportation aus Marseille folgten Bonner Sinti-Kindern wurde ein Junge in Auschwitz ermor- in einer späteren Lebensphase aufgezeichnet und können durch weitere stammen von dem 1908 in Berlin geborenen Wolfgang Vennemann, det, während ein Mädchen nach dem Zweiten Weltkrieg von einer Erfahrungen beeinfl usst sein. Gegenseitige Hilfe, zum Beispiel unter Fotografi en als Quellen für die Geschichte einem erfahrenen Fotografen und Mitglied einer Propagandakom- polnischen Roma aufgenommen wurde. Es werden abschließend durch ihre regionale Herkunft, den gleichen Transport oder die glei- von Verfolgung und Deportationen panie. Einige der Fotos sind von Ahlrich Meyer in Der Blick des Namen von psychisch kranken und körperlich behinderten Kindern che Unterkunft und Arbeit verbundenen Häftlingen oder die Bildung Besatzers (Bremen 1999) analysiert und veröffentlicht worden. Die und Jugendlichen – mit abgekürzten Familiennamen – sowie von familienartiger Gruppen (S. 180 ff., 271, 278), wurde auch von Er- Fotoserie zeigt Bilder einer groß angelegten Razzia am 22./23. Ja- jüdischen Kindern und Jugendlichen aus Bonn und Umgebung und wachsenen praktiziert, war also nicht spezifi sch für Heranwachsende. nuar 1943. Zu sehen sind deutsche Ordnungspolizisten mit aufge- von Sinti-Kindern und -Jugendlichen – jeweils mit voller Namens- Die Benennung von Hilfe für Kinder und Heranwachsende (z. B. pfl anzten Bajonetten bei der Kontrolle von Passanten, verhaftete nennung – genannt, die ermordet wurden. Durch die Fokussierung durch Mütter und Väter oder andere Angehörige, häufi g in ausweg- Christoph Kreutzmüller, Julia Werner Juden und Jüdinnen, die am Bahnhof in bereitstehende Güterwagen auf Kinder und Jugendliche wird das Verbrecherische des national- loser Lage; durch uneigennützige Dritte; aus politisch-ethischen Fixiert. Fotografi sche Quellen zur hasten mussten. Dieses Bild wird eingehend analysiert, indem un- sozialistischen Regimes in Deutschland besonders deutlich. Motivationen; als eigennütziger Missbrauch; aufgrund von Vorlie- Verfolgung und Ermordung der Juden in ter anderem beispielhaft auf das Spalier der deutschen Ordnungs- ben oder pragmatischen Beweggründen durch SS-Angehörige oder Europa. Eine pädagogische Handreichung polizisten hingewiesen wird. Die übrigen Bilder zeigen auf dem Kurt Schilde Funktionshäftlinge) mit dem Leitbegriff »Protektion« wird den höchst Berlin: Hentrich & Hentrich, 2012, 62 S., Bahnhof ankommende Busse mit Gefangenen sowie die Einstiege Potsdam/Berlin unterschiedlichen Situationen und Beweggründen nicht gerecht. Hier € 14,90 in Güterwaggons, die zunächst nach Drancy und von dort in das ist nach Ansicht des Rezensenten eine vorsichtige Einschätzung be- Vernichtungslager Sobibór fuhren. Dort wurden alle ermordet. Auf gründet, die nicht alle zufriedenstellen mag, zumal Hilfe für Mithäft- rund 60 Seiten werden die wesentlichen Aspekte der Analyse der linge immer die von den Organisatoren der Lager aufgezwungenen Linde Apel (Hrsg.) Fotoserien vorgestellt und weiterführende Hinweise gegeben. Was Bedingungen berücksichtigen und durchbrechen musste. In den Tod geschickt. Die Deportation von kann von einer pädagogischen Handreichung mehr verlangt werden? Die Verfasserin regt zu Recht an, für weitere Forschungen über Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940 In dem Band In den Tod geschickt geht es um die Geschichte Auf der Suche nach denen, die fehlen die deutschen Konzentrations lager die in den letzten Jahrzehnten bis 1945/Sent to Their Deaths. The des Hannoverschen Bahnhofs in Hamburg, von dem zwischen 1940 noch entstandenen autobiographischen Zeugnisse Überlebender zu Deportations of Jews, Roma and Sinti und 1945 20 Deportationszüge mit 7.692 als Juden bzw. Zigeuner nutzen (S. 278). Welche Chancen dies für eine Darstellung ihres from Hamburg, 1940 to 1945 Verfolgte aus Hamburg und Norddeutschland abgingen. Die reich- Schicksals angesichts der häufi g knappen oder fehlenden schriftli- Berlin: Metropol Verlag, 2009, 288 S., haltig illustrierte und von Linde Apel herausgegebene Dokumentati- chen Dokumente birgt, hat kürzlich Mechtild Brand in einer Studie mit DVD, € 19,– on über den lange Zeit »vergessenen« Hamburger Abgangsbahnhof Annamaria Junge über Zwangsarbeit in der Region Soest gezeigt.5 der Deportationen enthält leider keine Bilder der Verschleppungen »Niemand mehr da«. Antisemitische In einem bereits im April 1945 aufgezeichneten Bericht über selbst. So bleibt zu hoffen, dass es mit dem Aufruf »Fotos der De- Ausgrenzung und Verfolgung in circa 900 in Buchenwald befreite Kinder6, unter ihnen viele im Astrid Mehmel, Sandra Seider portationen gesucht« (S. 248) gelingt, entsprechende Abbildungen Rauischholzhausen 1933–1942 Herbst und Winter 1944/45 aus Auschwitz verlegte, schrieb Dr. Deportationen von Kindern und zu bekommen. Das reichhaltig bebilderte Buch ist ein Schritt auf Marburg: Jonas Verlag, 2012, 240 S., Jonas Silber, dass etwa 85 Prozent 14 bis 18 Jahre alt waren; jünger Jugendlichen aus Bonn dem langen Weg zur Schaffung einer Gedenk- und Dokumentations- € 20,– waren also lediglich etwa 15 Prozent. Die einleitend gestellte Frage Ausstellungskatalog, hrsg. von der Ge- stätte für die Deportationen aus Hamburg. Anhand von zahlreichen nach Kindern und Heranwachsenden »eigenen und von ihnen selbst denkstätte für die Bonner Opfer des Natio- biografi schen Skizzen wird auf Opfer der Verschleppungen (mit Eigentlich war das hessische 700-Seelen- ergriffenen Initiativen, die zu einer Erhöhung der Überlebenschancen nalsozialismus – An der Synagoge e.V. Abbildungen und wichtigen Dokumenten) eingegangen. Angespro- Dorf Rauischholzhausen bei Marburg Kind- beitragen konnten« (s.o.), verblasst angesichts dessen, was Silber Bonn: Bernstein Verlag, 2010, 22 S., € 3,– chen werden die Entrechtung und Verfolgung der Juden sowie der heitsidylle ihrer Ferien bei den Großeltern – bis sich die Studentin Sinti und Roma, die Transporte nach Bełżec, ins Ghetto Łódź, nach Annamaria Junge entschloss, sich in ihrer Abschlussarbeit des Touro Die Zeit ist vorbei, dass im Kontext histori- Riga, Minsk, Auschwitz und Theresienstadt. Alle Texte des Buches College in Berlin auf die Spuren der wenigen jüdischen Familien des schen Lernens Fotografi en nur der Illustra- sind in deutscher und englischer Sprache verfasst. Die beigefügte Dorfes und ihrer Verfolgung in der NS-Zeit zu begeben. Sie legt eine 5 Mechtild Brand, Verschleppt und entwurzelt, Essen 2010. 6 Veröffentlicht in: Der Buchenwald-Report, hrsg. von David A. Hackett, München tion dienten. Als Quelle eingesetzt – so zunächst das Herangehen DVD enthält die in dem Buch mehrfach genannten weitergehenden interessante, lesenswerte Mikrostudie von durchaus exemplarischer 1996, S. 316–317. von Christoph Kreutzmüller und Julia Werner – sind Fotografi en Audio- und Schriftdokumente, Video-Interviews mit Überlebenden, Bedeutung vor. Im Jahre 2009 befragt sie Ortsbewohner nach ihren

64 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 65 Erinnerungen, sichtet Literatur, sucht an »Tatorten und Friedhöfen« und keine weiteren Ausgrenzungen initiierte, doch sie in ihrer Pri- Zwei Millionen Gefangene binnen sechs die im Reichsgebiet, in den eingegliederten polnischen Gebieten, in (S. 21), recherchiert in Archiven, sucht und fi ndet Kontakte zu Ange- vatsphäre umsetzte und später auch profi tierte. »Viele beteiligten bis acht Kriegswochen erwartet den Reichskommissariaten oder im Operationsgebiet unterzubringen hörigen jüdischer Familien, die früher dort ihre Heimat hatten, und sich an den Plünderungen nach der Deportation [1942], die meisten waren. Somit wird die aufgestellte Behauptung der Herausgeber fährt nach New York, um den Geschwistern der jüdischen Familie bereicherten sich bei den Versteigerungen.« (S. 171) durch dieses Dokument nicht im Entferntesten belegt. Spier zu begegnen, die vor 70 Jahren mit ihren Eltern aus dem Dorf Die Menschen im Dorf, die sich solidarisch gegenüber den jüdi- Darüber hinaus ist die Behauptung selbst, die Wehrmacht hätte verschleppt wurden und nach ihrer Befreiung 1945 dorthin zurück- schen Verfolgten verhielten und ihnen zur Seite standen, waren eine vor dem Überfall auf die Sowjetunion mit ungefähr einer Million kehrten. Die Perspektive der Verfolgten steht für sie im Zentrum. Minderheit. Deren Verhalten beschreibt Junge in den existenziellen Rüdiger Overmans, Andreas Hilger, Kriegsgefangenen gerechnet, schlicht falsch. Dadurch wird der Ein- Die Motivation ihrer Arbeit sieht sie darin, »der Geschichtsverges- Auswirkungen für die jüdischen Familien. »If every German gentile Pavel Polian (Hrsg.) druck vermittelt, dass die Zahl der gefangen genommenen Soldaten senheit in Rauischholzhausen entgegenzutreten und dem heutigen would have been a Nazi, no Jew would have come out alive« – so Rotarmisten in deutscher Hand. viel größer gewesen sei, als von der Wehrmacht erwartet. Es war Ist-Zustand seine Geschichte zu geben« (S. 179). die Einschätzung von Walter Spier. Eine Ungenauigkeit entsteht Dokumente zu Gefangenschaft, Repatri- aber keineswegs so, dass die deutschen Behörden von der Gefan- Mit ihrer Abschlussarbeit legt Junge Ende 2009 den »Versuch hier, weil der Autorin das Kontaktverbot der Gestapo vom Herbst ierung und Rehabilitierung sowjetischer gennahme Hunderttausender Rotarmisten in den ersten Wochen des einer Rekonstruktion der Entrechtung und der Verfolgung der jüdi- 1941 nach Beginn der Massendeportationen nicht bekannt ist. Sie Soldaten des Zweiten Weltkrieges Feldzugs überrascht worden und ob dieser schieren Masse logistisch schen Bevölkerung Rauischholzhausen zwischen 1933 und 1942« schreibt nicht zutreffend, es habe »nie ein absolutes Umgangsverbot« Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, überfordert gewesen wären: Die für die sowjetischen Kriegsgefan- vor, die sie anschaulich auch in den konkreten Auswirkungen auf gegeben (S. 171). 2012, 956 S., € 98,– genen zuständigen Planungsstäbe hatten vielmehr damit gerechnet, die jüdischen Familien nachzeichnet und entsprechend in den regi- Die Suche nach der antisemitischen Besonderheit der Verhält- dass Deutschland mindestens zwei bis drei Millionen Kriegsgefan- onalen und reichsweiten Kontext einordnet. Sie geht aber auch auf nisse in diesem Dorf, in dem angeblich »vieles früher als woanders Die vorliegende Dokumentenedition hat der Rezensent mit gemisch- gene, davon bis zu zwei Millionen schon in den ersten sechs bis die »Vorgeschichte« jüdischen Lebens im Dorf ein, und ebenso auf geschah« (S. 103), führt zu fraglichen Einschätzungen, berücksich- ten Gefühlen gelesen. Auf der einen Seite ist jede Publikation zu acht Kriegswochen, würde ernähren müssen.1 Dieser Punkt ist ein das Leben nach 1945, wo jüdische Überlebende aus den Lagern tigt sie doch nicht die Phasen antisemitischer Verfolgung auf lokaler begrüßen, die die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der sowjeti- äußerst wichtiger Faktor in der Frage nach den Ursachen für das zurückkehrten und einige Jahre ein Kibbutz von jüdischen Überle- Ebene insbesondere im Sommer 1935, wie sie beispielsweise Peter schen Kriegsgefangenen in deutscher Gefangenschaft während des Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen. Weder Versor- benden aus Osteuropa zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Longerich in seinem Buch Politik der Vernichtung (München, Zü- Zweiten Weltkrieges lenkt. Schließlich war die Zahl der sowjeti- gungs- noch Logistikprobleme der Wehrmacht waren Ursache des Palästina existierte. rich 1998) herausgearbeitet hat. Gleiches ist anzumerken bei der schen Kriegsgefangenen, die in deutscher Haft den Tod fanden, Massensterbens. Wissen die Herausgeber, dass ihre Behauptung »Vor Ort« macht die Berliner Studentin für sie überraschen- monokausalen Betrachtung der Abwanderung der jüdischen Bevöl- mit insgesamt etwa drei Millionen Menschen exorbitant hoch. Dies falsch ist? Man würde schon annehmen, dass deren Kenntnisse auf de Erfahrungen von der Präsenz persönlichen Erinnerns bei ihren kerung aus Dörfern der Region in kleinere und größere Städte, die nennt der Staatsminister a. D. Gernot Erler, MdB, in seinem Vor- diesem Feld so weit reichen. Dennoch wird für eine eindeutig falsche Gesprächspartnern – »Ihnen allen sind ihre ehemaligen jüdischen ausschließlich auf die antisemitische Böckel-Bewegung zurückge- wort zu Recht »ein organisiertes Verbrechen des Dritten Reiches« Behauptung auch eine zweckwidrige Quelle angeführt. Nachbarinnen, Nachbarn und die Jahre der Verfolgung bis heute in führt wird und nicht auch die seit 1866 bestehende Freizügigkeit und (S. 7). Nichtsdestotrotz wurden die sowjetischen Kriegsgefangenen Die Einleitung der Herausgeber bietet ansonsten einen kennt- Erinnerung« (S. 9) – im Kontrast zum öffentlichen Beschweigen. Gewerbefreiheit für Juden, ihre wirtschaftliche und soziale Mobilität in Deutschland bis heute skandalöserweise nicht in den Kreis der nisreichen Überblick über die internationale Forschung zum Thema. Neben Unterstützung erfährt sie aber auch Abwehr, sogar Bedro- benennt. Das nicht dem Forschungsstand entsprechende Denkmus- Entschädigungsberechtigten aufgenommen. Das entsetzliche Leiden Leider bleiben aber in der Einleitung Hunger und Unterversorgung, hung, sowie erschütternde antisemitische Einlassungen ihrer Ge- ter, dass die nationalsozialistische Verfolgung eine Art Höhepunkt sowjetischer Kriegsgefangener, der zweitgrößten Opfergruppe des die Hauptgründe für die extrem hohe Mortalität, unterbelichtet. Bei sprächspartner. Sie erfährt die »Nichtpräsenz der Geschichte vor kontinuierlicher antisemitischer Verfolgung war, klingt hier wie auch Nationalsozialismus, bleibt in der deutschen wie auch überhaupt in insgesamt 408 abgedruckten Dokumenten scheint der bewusste Ver- Ort« (S. 19). im Nachwort von Hajo Funke, dem betreuenden Politologen, an. der westlichen Erinnerung blass. zicht auf »Ego-Dokumente über die Situation in Gefangenenlagern Doch bewegten ihre Recherchen einiges im Dorf – »mehr als Das Buch ist insgesamt ein gelungenes mit den Stimmen der Auf der anderen Seite ist die Darstellung der Thematik durch oder über die Behandlung nach der Heimkehr« (S. 69) fraglich. ich noch vor drei Jahren zu hoffen wagte«, führt Junge in ihrem Zeitzeugen, Zitaten aus Täterakten, zahlreichen Fotos präsentiertes, die Herausgeber des Bandes an mehreren Stellen verzerrt. Diese Somit kann die Auswahl der Dokumente kaum dem Anspruch des lesenswerten »persönlichen Vorwort« aus: Das offi zielle Schweigen gut lesbares und fundiert recherchiertes und aufbereitetes Beispiel Feststellung lässt sich am folgenden Beispiel verdeutlichen. In ihrer Klappentextes gerecht werden, die Opfer nicht »aus dem Blick zu ist gebrochen, der Besuch von Walter Spier aus New York und seines für eine Spurensuche zur Geschichte und zur Verfolgung jüdischen Einleitung schreiben die Herausgeber: »Bei ihren ursprünglichen verlieren«. Das mit Orts-, Personen- und Sachverweisen ausge- Bruders Alfred zu einer Gedenkfeier der regionalen Gesamtschule Lebens. Es impliziert so exemplarisch auch eine aktive Aufforde- Planungen hatte die Wehrmacht mit ungefähr einer Million Kriegs- stattete Register ist ungewöhnlich umfassend. Wegen der Fülle der Ebsdorfer Grund am Jüdischen Friedhof fand große Resonanz, seine rung, gerade auch heute noch »vor Ort« etwas herauszufi nden. Im- gefangenen gerechnet« (S. 19). Als einziger Beleg für diese Behaup- abgedruckten Aktenstücke, wovon der Großteil zum ersten Mal Ansprache bei dieser Gedenkfeier ist das Vorwort der Publikation. mer noch gibt es Dörfer und Städte, die sich bisher nicht mit ihrer tung wird dabei ein Dokument genannt, das auch im vorliegenden veröffentlicht wird, ist das vorliegende Werk von gewisser Bedeu- Aber auch andere gesellschaftliche Akteure und insbesondere Orts- NS-Geschichte und den Schicksalen der Verfolgten befasst haben. Band abgedruckt wird (Dokument 2.2.16: »Tätigkeitsbericht des tung für die Forschung. bewohner der »zweiten Generation« öffnen sich und stellen Fragen. Noch können die Erinnerungen der unterschiedlichen Perspektiven Oberquartiermeisters beim Militärbefehlshaber im Generalgouverne- In ihren Befragungen und Archivrecherchen möchte Junge der abgefragt werden und die Archive liegen sowieso voll mit einschlä- ment vom Mai bis September 1941«, auf S. 276–277). Die Nennung Alex J. Kay dörfl ichen »Gesamtdynamik« (S. 11) der damaligen Zeit auf die Spur gigen Akten, die auf Interessenten warten. dieser Quelle ist allerdings in mehrfacher Hinsicht irreführend. Er- Frankfurt am Main kommen, aber auch einem »Stück der eigenen Familiengeschichte« stens handelt es sich bei dem Dokument um eine nachträgliche Zu- (S. 17), war doch ihr Großvater »ein hohes Tier« im Ort, wie sie Monica Kingreen sammenstellung vom Oktober 1941, deren Inhalt nicht nachweislich erfährt. Ihr Augenmerk liegt auf der Betrachtung der örtlichen Tä- Fritz Bauer Institut/Pädagogisches Zentrum Frankfurt Teil der »ursprünglichen [d. h. Vorangriffs-] Planungen« war. Zwei- ter, sie kann dazu eine überschaubare Gruppe von namentlichen 17 tens nennt das Dokument nicht die Gesamtzahl der zu erwartenden Personen identifi zieren, die die jüdische Bevölkerung drangsalierten, Kriegsgefangenen, sondern lediglich die Zahl derjenigen Gefange- und entwickelt ein dörfl iches NS-Täterprofi l. nen, für die Winterlager ausgebaut werden sollten. Drittens bezieht

Sie wendet sich auch der »breiten Mehrheit« der Zuschauer im sich das ganze Dokument ausschließlich auf das Generalgouverne- 1 Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegs- Dorfe zu, die sich nicht aktiv an physischen Übergriffen beteiligte ment und berücksichtigt somit diejenigen Kriegsgefangenen nicht, gefangenen 1941–1945, Bonn 1997 [1978], S. 76.

66 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 67 Ein Grundlagenwerk verletzt werden, aber den Mitgliedern dieser Kultur eine Einsicht in Zur Historisierung des Zeitzeugen und erinnerungspolitischen Debatten. Während das Zeugnisablegen das Unrecht ihres Handelns nicht möglich ist. Entsprechend lässt sich zunächst ein Akt der Selbstbehauptung und des Widerstands war und nun zwischen moralisch inkompetenten Kulturen – wie im Falle der für eine »demokratische Gegenerzählung ›von unten‹« (S. 22) stand,

Azteken – und moralisch verdorbenen Kulturen – wie im Falle des hat der Zeitzeuge, so Sabrow, seine kritische Funktion inzwischen nationalsozialistischen Deutschland gegeben – unterscheiden. eingebüßt; vom »Herausforderer der historischen Meistererzählung« Michael Schefczyk Damit sind die theoretischen Vorentscheidungen getroffen, von Martin Sabrow, Norbert Frei (Hrsg.) hat er sich zu »ihrem affi rmativen Belegspender« (S. 25) gewandelt Verantwortung für historisches Unrecht denen aus sich die normativen Grundlagen der Auseinandersetzung Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945 und dient vor allem den Medien zur Illustration und Identifi kation. Berlin, New York: Verlag Walter de Gruyter, mit den nationalsozialistischen Verbrechen analysieren lassen. Schef- Göttingen: Wallstein Verlag, 2012, 376 S., Vier weitere Autoren befassen sich unter unterschiedlichen Ge- 2011, 468 S., € 64,95 czyk entwickelt seine Konzeption in den Teilen 2 bis 5. Strukturell € 34,90 sichtspunkten mit der »Theorie des Zeitzeugen«: Harald Welzer mit orientiert er sich dabei an den Fragestellungen von Jaspers Die Schuld- ihrer Funktion in der »Erinnerungsarbeit«, Rainer Gries mit den Folgen frage (Heidelberg 1946). Die Begriffe, die Jaspers entwickelt, werden der »Dramatisierung und Fiktionalisierung des Prinzips Zeitzeuge« im Einzelnen in einer an den Standards der analytischen Moralphilo- (S. 50) im Fernsehen, Achim Staupe mit dem Status des Augenzeu- Hat sich die Gesellschaft in den beiden deut- sophie der Gegenwart orientierten Untersuchung kritisch und konst- Der Zeitzeuge war unter anderem Namen gen und den diesbezüglichen methodischen Debatten in der früheren schen Staaten, später im vereinten Deutsch- ruktiv diskutiert und erweitert. Im zweiten Teil steht der Begriff der zwar auch der früheren Geschichtsforschung Geschichtswissenschaft, José Brunner schließlich mit der »Medikali- land, mit den nationalsozialistischen Verbrechen angemessen ausei- Verantwortung im Zentrum. Die verschiedenen Begriffe von »Schuld« schon bekannt, aber erst in den letzten Jahrzehnten machte er eine sierung« der Zeugenschaft unter dem Einfl uss der Trauma-Diskurse. nandergesetzt? Diese Frage betrifft die Beurteilung und Bewertung und »Verantwortung« werden gegeneinander abgehoben; die Korre- bemerkenswerte Karriere als erinnerungspolitischer Akteur und Me- Im folgenden Themenblock unter dem Titel »Der Zeitzeuge avant des Gemeinwesens, in dem die Deutschen in der Gegenwart leben. lativität von Schuld und Verantwortung aufgehellt. Schefczyk macht dienfi gur und forderte dabei auch den Deutungsanspruch der Histo- la lettre« nimmt Laura Jockusch eine in diesem Band unterreprä- Sie bildete den Horizont von vielen Polemiken und Auseinander- deutlich, dass es verschiedene Typen von Verantwortung gibt; so riker heraus. Entstanden in engem Zusammenhang mit einer neuen sentierte Perspektive ein und untersucht – anhand der Entwicklung setzungen, bis hin zu den jüngsten Diskussionen um Patriotismus gelingt es ihm, deutlich zu machen, dass auch dort, wo nicht unmit- gesellschaftlichen Wahrnehmung der Opfer nationalsozialistischer jüdischer Zeugenschaft während und unmittelbar nach dem Krieg – und neuen Nationalismus. Selten wurde sie jedoch direkt gestellt. telbar Schuld besteht, dennoch Folgenverantwortung übernommen Massenverbrechen als Zeugen und Überlebende ab den 1960er Jahren die Intentionen und Aktivitäten von NS-Opfern, die sich als (Zeit-) Antworten wurden meist auf Umwegen gegeben. Entweder wurde werden muss. Im dritten Teil geht es um die verschiedenen Formen sowie dem Aufschwung der Oral History, ist der Zeitzeuge seit den Zeugen verstanden. Sybille Steinbacher befasst sich mit Zeugen ganz von den Konsequenzen her argumentiert: so etwa Hermann Lübbe der Kollektivschuld. Schefczyk greift die Kritik an der »Kollektiv- späten 1980er Jahren eine vor allem im Fernsehen omnipräsente Figur anderer Art, deren Aussagen das Institut für Zeitgeschichte in seiner mit seiner These, allein das Beschweigen individueller Beteiligung schuld« auf und stellt ihr eine detaillierte und differenzierte Analyse und inzwischen ein nahezu universell einsetzbarer Authentizitäts- Anfangszeit sammelte; »Experten der eigenen Zeit« (S. 150) durften am Regime bei gleichzeitiger öffentlicher Verurteilung des Nati- von verschiedenen Formen von Beteiligung an Verbrechen und den garant. Seine Konturen wurden dabei jedoch zunehmend unscharf. hier zunächst diejenigen Personen werden, die den NS-Staat mitge- onalsozialismus habe die Integration der nationalsozialistischen entsprechenden Unterschieden in der Bewertung von Schuld gegen- Zurückgehend auf eine Tagung des Jena Center Geschichte des staltet hatten. Die Entstehungsbedingungen öffentlich rezipierter Zeu- Funktionseliten in eine demokratische Gesellschaft ermöglichen über. Er entwickelt den Begriff eines »gemäßigten methodischen 20. Jahrhunderts und des Zentrums für Zeithistorische Forschung genschaft von NS-Opfern stellen Jolande Withuis für die Niederlande können. Oder es wurde die Entwicklung der Auseinandersetzung Verantwortungsindividualismus«. Dieser ist so weit gefasst, dass er Potsdam im Jahr 2008 ist ein vielfältiger und instruktiver Sammelband und Hanna Yablonka für Israel dar. Vier AutorInnen befassen sich mit unter den Stichworten »Erinnerungskultur« oder »Vergangenheitspo- es ermöglicht, die verschiedenen Formen kollektiv und arbeitsteilig entstanden, der sich aus unterschiedlichen Perspektiven der Figur des den »Zeitzeugen in der historischen Deutungskonkurrenz« in der DDR litik« mehr oder weniger stark bewertend beschrieben, jedoch ohne begangener Verbrechen – und die ihnen entsprechenden verschiedenen Zeitzeugen annimmt. Es geht um Entstehung und frühe Formen der (Silke Satjukow), Österreich (Heidemarie Uhl), Italien (Filippo Focar- die Kriterien der Bewertung unmittelbar zum Thema zu machen. Formen von Schuld – angemessen zu erfassen. Daran schließt eine Zeitzeugenschaft nach 1945, ihre Ausgestaltung in verschiedenen di) und der Sowjetunion (Irina Scherbakowa) und zeigen die höchst Was kann es nun heißen, sich mit den nationalsozialistischen detaillierte Erörterung der verschiedenen Formen persönlicher Ver- nationalen und kulturellen Kontexten, ihr schwieriges Verhältnis zur unterschiedlichen kulturellen und politischen Rahmenbedingungen Verbrechen »angemessen« auseinanderzusetzen? Diese Frage ist antwortung für historisches Unrecht an. Hier steht die Frage im Mit- Zeitgeschichtsforschung und nicht zuletzt um den Zeitzeugen als der Zeitzeugenschaft und ihrer Wirkungsgeschichte auf. Ausgangspunkt einer philosophisch-analytischen Untersuchung von telpunkt, welche Taten strafrechtlich verfolgt werden sollen, und wo Medienfi gur. Mit seinem einführenden Text öffnet Martin Sabrow das Dass der Aufstieg des Zeitzeugen und Überlebenden zu einer Michael Schefczyk, die mit dem Anspruch geschrieben wurde, »sys- und unter welchen Bedingungen wir eine Beteiligung an historischem diskursive Feld. Er zeichnet die Ursprünge historischer Zeugenschaft paradigmatischen Figur der Erinnerungskultur an Vermittlung durch tematische Klarheit in das Problem der Verantwortung für historisches Unrecht moralisch vorwerfen können und müssen. Den Schluss bildet nach dem Zweiten Weltkrieg nach, von der zunächst sehr verhaltenen die Medien gebunden war, die ihrerseits diese Figur inszenieren, Unrecht zu bringen« (S. 1). Schefczyk schließt mit seiner Untersu- eine Erörterung der verschiedenen Formen von »Wiedergutmachung«. Aufnahme persönlicher Berichte von NS-Verfolgten hin zu einem modellieren und nicht zuletzt gut verkaufen, ist Gegenstand des chung der allgemeinen Thematik an das Buch von Lukas Meyer, Das Buch von Michael Schefczyk ist ein Grundlagenwerk. Es zunehmenden Interesse, das schließlich die »schmerzhafte Beschäfti- letzten Blocks, in dem sich die AutorInnen der Mediengeschichte des Historische Gerechtigkeit (Berlin, New York 2005), an. Aber anders wird viel zur Erhellung und zum Verständnis der normativen Ausein- gung mit der durchlittenen Vergangenheit in wenigen Jahrzehnten zur Zeitzeugen (Judith Keilbach), dem Verhältnis von Medialisierung als bei Meyer, der die Problematik der nationalsozialistischen Verbre- andersetzungen um den Nationalsozialismus in Deutschland beitragen, eigentlichen Leitfi gur des öffentlichen Geschichtsdiskurses« (S. 19) und Erinnerungskultur (Christoph Classen), dem Zeitzeugen in den chen eher am Rande behandelt, steht diese Thematik bei Schefczyk weil es die Zuspitzung auf die normativen Fragen mit einer genauen machte. Der Autor beschreibt den Zeitzeugen als »Wanderer zwischen Geschichtsdokumentationen des ZDF (Wulf Kansteiner) und dem im Zentrum der Untersuchung. Das Buch von Schefczyk gliedert Kenntnis der historischen Kontroversen bis hinein in die Gegenwart den Welten« (S. 25), in dem sich die Gegenwart »ihres unmittelbaren Überlebenden als zweideutiger Figur im fi ktionalen Film (Hanno sich in fünf Teile. Im ersten Teil entwickelt er eine Defi nition von verbindet. Dass Schefczyk bei seiner Analyse auf eine gemäßigt na- Zugangs zur Vergangenheit« (S. 25) versichert; eine Funktion, die der Loewy) widmen. Die Texte dieses Bandes stehen für eine Histori- historischem Unrecht. Dieses ist gegeben, »wenn natürliche Rechte in turrechtliche Position im Sinne Lockes zurückgreift, kann und wird Zeuge nur ausfüllt, solange er lebt, und die wohl durch kein Videoar- sierung des Phänomens »Zeitzeuge« und ermöglichen seine kritische (nach Art und Ausmaß) gravierender Weise verletzt werden, und wenn man kritisieren. Aber diese Methode hat auf jeden Fall den Vorteil, chiv ersetzbar ist. Damit die Vermittlerrolle des Zeugen gelingt, muss Refl exion, auch dort, wo sie die Debatten über die Zeugenschaft diese Verletzungen politischen Charakter haben« (S. 11). Die an einer die verschiedenen Optionen, zwischen denen man hier wählen muss, er das Vergangene in die Jetztzeit einpassen, also »von der Vergan- der Überlebenden und ihr drohendes Ende gelegentlich allzu leicht gemäßigt naturrechtlichen Position im Sinne John Lockes orientierte klar herauszustellen und deutlich zu machen, was sie implizieren. genheit die Erinnerung, von der Gegenwart aber die Wertmaßstäbe« hinter sich lassen. Defi nition ermöglicht es ihm, zwischen historischem Übel und histo- (S. 27) beziehen. So ermöglicht er zugleich Distanz und authentisches rischem Unrecht zu unterscheiden. Von historischem Übel ist dann die Werner Konitzer Erlebnis der Vergangenheit. Mit dem Aufstieg des Zeitzeugen ver- Katharina Stengel Rede, wenn – wie etwa in der aztekischen Kultur – natürliche Rechte Fritz Bauer Institut änderte sich seine Funktion und Bedeutung in den historiografi schen Fritz Bauer Institut

68 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 69 Zur Kritik des Traumabegriffs Der Grundgedanke des Buches, den inzwischen zum Paradigma Die reale Vollstreckung der gewordenen Traumabegriff kritisch in seiner Entstehungsgeschichte antisemitischen Projektion Empfehlung aus der Backlist und seinen vielfältigen theoretischen und klinischen Implikationen

zu rekonstruieren, ist äußerst begrüßenswert. Vielversprechend er- scheinen auch der multiperspektivische Zugang aus verschiedenen José Brunner, Nathalie Zajde (Hrsg.) Disziplinen sowie die Beiträge von WissenschaftlerInnen aus unter- Holocaust und Trauma – Kritische Per- schiedlichen Generationen und Kulturen. Diese Vielfalt kommt dem Alexander Stein spektiven zur Entstehung und Wirkung Gegenstand in seiner Ungreifbarkeit und Vieldeutigkeit vermutlich Adolf Hitler, Schüler der »Weisen von Zion« eines Paradigmas (Tel Aviver Jahrbuch näher als viele der konsistenten, aber vereinfachenden und wichtige Hrsg. von Lynn Ciminski und Martin für deutsche Geschichte, Bd. 39, hrsg. im Differenzen nivellierenden Traumamodelle und begründet plausibel Schmitt Auftrag des Minerva Instituts für deutsche die Bedeutung eines kultursensiblen Vorgehens. Überzeugend ist auch Freiburg im Breisgau: ça ira Verlag, 2011, Geschichte der Universität Tel Aviv) der methodische Ansatz einer Diskursanalyse, die im Sinne Foucaults 315 S., € 20,– Göttingen: Wallstein Verlag, 2011, 273 S., als Archäologie betrieben wird. Ihr Gewinn zeigt sich insbesondere in € 34,– dem Beitrag von José Brunner, der – in seltener Koinzidenz – sowohl Mit dem vorliegenden Buch machen die mit dem medizinisch-therapeutischen Diskurs äußerst vertraut ist als Herausgeber Lynn Ciminski und Martin In den letzten Jahren wird das Konzept des Traumas zuweilen infl a- auch zugleich über das nötige historische Handwerkszeug verfügt Schmitt das Hauptwerk Alexander Steins, Adolf Hitler, Schüler der tionär verwendet. Im Sinne Thomas Kuhns ist es zu einem »Paradig- und plausibel macht, wie die Logik der Entschädigungspraxis dem »Weisen von Zion«, aus dem Jahr 1936 wieder zugänglich. Stein ma«, einem Schlagwort der Wissenschaftstheorie und -geschichte Traumabegriff bis in die Gegenwart hinein anhaftet. Die Schwierig- weist dort nach, dass sich die politischen Vorstellungen und Handlun- geworden, das den Rahmen für wissenschaftliche Erkenntnis und keiten, die mit diesem Begriff verbunden sind, werden aus diesem gen Hitlers an den sogenannten »Protokollen der Weisen von Zion« professionelle Praxis setzt. Festgelegt werden damit nicht nur die Entstehungskontext heraus jeder SozialwissenschaftlerIn sofort ver- orientierten. Neben der mit editorischen Anmerkungen versehenen geltenden Grundannahmen und konkreten Denkmuster, sondern auch ständlich. Auch der Aufsatz von Rakefet Zalashik zeichnet sich durch Schrift Steins enthält das Buch einen umfangreichen Materialteil. die in der Fachwelt akzeptierten Wege zur Behandlung und Lösung diese transdisziplinäre Vielsprachigkeit und große Sachkenntnis in Dieser umfasst eine biografi sche Skizze, einen Lebenslauf und eine eines Problems. Als ein solches Paradigma wird der Traumabegriff verschiedenen Diskursen aus und kommt so zu originellen und für Bibliografi e Steins, die seine Tochter Hanna Papanek erarbeitet hat, in seinen historischen Ursprüngen und Entwicklungen rekonstruiert. therapeutisch Tätige zunächst ungewöhnlichen Einsichten, wie et- einen Essay der Herausgeber, zwei weitere Aufsätze Steins (1937/39) Die AutorInnen des Tel Aviver Jahrbuchs stellen einen als uni- wa, dass sich die späte Wiederentdeckung der Child Survivor auch und einen Aufsatz von Boris Nikolajewsky (1935). Ludwig Feuchtwanger versal behaupteten Traumabegriff infrage, der weder historisch- vorteilhaft für die Betreffenden ausgewirkt haben könnte. Der große Wegen dieser Materialien ist das Buch mehr als die Dokumen- Gesammelte Aufsätze zur jüdischen Geschichte. Hrsg. und mit kulturelle noch individuelle Unterschiede berücksichtigt und ver- Gewinn eines dekonstruktivistischen Verfahrens zeigt sich auch im tation der ersten Studie, die die doppelte Funktion der »Protokolle einem Nachwort versehen von Rolf Rieß. Frontispiz; 249 S. 2003 schiedenste Menschen mit Gewalterfahrungen auf vereinheitlichende Beitrag von Carol Kidron, die mit überraschenden Wendungen eben- der Weisen von Zion« für den nationalsozialistischen Antisemi- h978-3-428-10873-2i Geb. mit SU, € 38,– Weise kategorisiert. Der Band umfasst neben einem Editorial elf falls feststehende therapeutische Überzeugungen wie die Problematik tismus systematisch untersucht hat. Ausgehend von der Biografi e Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums. Beiträge zur Beiträge aus verschiedenen disziplinären Perspektiven, die sich zwar des Schweigens nachhaltig infrage stellt und für eine Abkehr von des linken jüdischen Sozialdemokraten Alexander Stein, der 1933 Grundlegung der jüdischen Geschichte. Hrsg. von Reinhard Meh- in ihrer Kritik am herrschenden Traumadiskurs einig sind, sich aber dichotomen, binären Sichtweisen plädiert. aus Deutschland zunächst nach Prag gefl üchtet war, ermöglicht das ring / Rolf Rieß. Mit einem Nachwort von Peter Landau. Frontispiz; 176 S. 2011 h978-3-428-13627-8i Geb. mit SU, € 34,– ansonsten durch höchst unterschiedliches methodisches und inhalt- Doch folgen leider nicht alle Beiträge diesem kritischen Verfah- Buch einen Einblick in die Auseinandersetzungen um die Analyse Auch als E-Book erhältlich liches Vorgehen auszeichnen. Unter der Überschrift »Verlagerungen ren. So anregend und plausibel in den meisten Beiträgen argumen- des Antisemitismus und des Nationalsozialismus innerhalb der – Trauma und Geschichte« sind im ersten Teil fünf eher wissen- tiert wird, so werden in manchen Beiträgen nicht nur Diskurse analy- exilierten Sozialdemokratie. Dem Essay der Herausgeber zufol- Die Herausgeber der vorliegenden Bände haben es sich zur Auf- gabe gemacht, Ludwig Feuchtwangers Beitrag zur Erforschung schaftshistorisch ausgerichtete Beiträge versammelt. Sie zeichnen siert, sondern auch aus nicht näher gekennzeichneten Standpunkten ge bestand die Auseinandersetzung darin, dass große Teile der der jüdischen Geschichte in Deutschland der Öffentlichkeit wie- kenntnisreich nach, wie das medizinische Konzept des Traumas moralisch bewertet. Dies führt zu problematischen Verkürzungen. SoPaDe (die Exil-SPD) sich lange dieser entzogen und nur ein der in Erinnerung zu rufen und durch die Beschäftigung mit sei- durch Geschichte und Erfahrung des Holocaust wesentlich verän- So wichtig der Holocaust zweifellos im Traumadiskurs ist, erscheint kleiner Teil diese einforderte. Zu letzterem gehörte Nikolajewsky, nen Gedanken weiterführende Diskussionen anzuregen. dert und neu formiert wurde. In diesem Zusammenhang seien die es wenig hilfreich, ihn zum alleinigen Ausgangspunkt des Denkens der in seinem Aufsatz die geschilderte Situation problematisier- Feuchtwanger hatte eine klare Gesamtvision vom geschichtli- Grundzüge des bis in die Gegenwart hinein wirksamen Traumaver- zu machen, wie dies etwa in der wissenschaftsgeschichtlichen Be- te, die Notwendigkeit der Analyse des Antisemitismus betonte, chen „Wesen“ des Judentums. Seine grundsätzlichen Beiträge ständnisses gelegt worden. Der zweite Teil »Weitergaben – Trauma trachtung von Nathalie Zajde geschieht. dessen zentrale Bedeutung für den Nationalsozialismus erkannte zielten unter dem Eindruck von Franz Rosenzweig und Martin Buber auf eine historische Synthese und neue „Konstruktion“ als Traditionsträger« geht mit drei instruktiven Beiträgen der Frage Insgesamt besticht der Band durch eine Reihe an originellen und auch Unterschiede des modernen Antisemitismus zu den bis der jüdischen Geschichte; sie heben die tagespolitischen Fragen nach, wie sich die Traumatisierung in den nachfolgenden Generati- Beiträgen mit ungewöhnlichen Denkweisen aus unterschiedlichen dahin bekannten Formen zu benennen wusste. Nikolajewsky sah, aus der Polemik in den wissenschaftlichen Diskurs und beein- onen auswirkt und ob dem Trauma auf diese Weise eine gleichsam Perspektiven. Selten fi ndet man so verschiedene, kontroverse und dass der Antisemitismus in den »Protokollen der Weisen von Zi- drucken durch ihr sachliches Ethos und ihre strenge, grundsätz- traditionsbildende Kraft zukommt. Schließlich wird in einem dritten widersprüchliche Sichtweisen in einem Buch vereint. Ein Muss für on« einen neuen Inhalt gefunden hatte. Auch er vermutete, dass liche Linienführung. Es gibt kaum ein besseres Brennglas und Teil »Komplexitäten – Trauma und Identität« die unzureichende alle, die sich in ihren Forschungen oder ihrer berufl ichen Praxis mit die Protokolle darüber hinausgehend dem Nationalsozialismus als Entrée in die dramatischen Debatten um die Lage des deutschen Judentums vor und nach 1933 als die unerbittlich scharfen und Komplexität gegenwärtiger Traumakonzepte kritisiert. Danach fehle Trauma und Traumatisierungen befassen. politische Orientierung dienten (S. 283). Eine Vermutung, die Carl redlichen Pathogenesen Ludwig Feuchtwangers. es an systematischen Konzeptualisierungen und der Berücksichti- Albert Loosli schon im Berner Prozess 1934/35 geäußert hatte, gung der verschiedenen Lebenswelten von Traumatisierten, die nicht Ilka Quindeau jenem ersten Prozess gegen die Protokolle, der ihre Eigenschaft www.duncker-humblot.de in einem einfachen Traumamodell aufgehen. Frankfurt am Main als Fälschung und Plagiat juristisch feststellte. Alexander Stein, der

70 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 71 wie Nikolajewsky die Dringlichkeit der Analyse des nationalso- entscheidenden Unterschied zwischen dem Leitfaden der Proto- in einem Unterkapitel auf Karl Binding und Alfred E. Hoche zu auseinandersetzt. Schneider dekonstruiert den modernen Begriff zialistischen Antisemitismus einsah, entwickelte dann ausgehend kolle und dem Nationalsozialismus nicht: dass es sich bei diesem sprechen, wobei deren Schrift1 allerdings nur relativ kurz dargestellt der Autonomie, in dem er zeigt, dass der postulierte Zugewinn an von jener Vermutung seine Studie. um keine geheime Verschwörung gehandelt hat. Immerhin konnte und diskutiert wird. Eigenverantwortlichkeit und Handlungsmöglichkeiten der tödlichen Diese ist dreigeteilt. Im ersten Teil versucht Stein einmal, die Stein in seiner Analyse die Protokolle mit nationalsozialistischen Das Problem eines zu weiten Themas und der daraus folgenden Praxis auf dem Hintergrund von gesellschaftlichen Individualisie- wesentlichen Elemente der nationalsozialistischen Ideologie zu er- Schriften und Reden vergleichen, die frei erhältlich und meist weit mangelnden Tiefe ergibt sich vor allem im dritten, dem für Leser rungsprozessen stattfi ndet, die zu an die Individuen herangetragenen fassen und zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen, zweitens, die verbreitet gewesen sind. dieses Bulletins wohl interessantesten Kapitel. Schneider thema- Handlungserwartungen führen, die sich allzu leicht an der Selbst- Geschichte der Protokolle zu skizzieren. Für Steins Analyse ist hier tisiert zunächst Sozialdarwinismus und Eugenik im Kontext von zuschreibung von gesellschaftlicher Zweck- und Sinnlosigkeit ori- der Umstand von Interesse, dass es sich bei einer der Quellen, die Jérôme Seeburger Industrialisierungs- und Urbanisierungsproblemen im ausgehenden entieren können. Schneider notiert, »die […] Tendenz zur Prüfung in den Protokollen plagiiert werden, um ein von Maurice Joly 1865 Offenbach am Main 19. Jahrhundert, wobei auch seine Hinweise auf die ideellen und und Optimierung des Selbst führt zum Vollzug des Werturteils ohne verfasstes Totengespräch zwischen Machiavelli und Montesquieu materiellen Interessen des Bürgertums im Wechselspiel mit dem staatlichen Zwang« (S. 231). In diesem Sinn kann von autonomer handelt, mit dem Joly das autoritäre Regime Napoleons III. kritisier- von Michel Foucault verwendeten Begriff der Gouvernementalität (d. h., Selbst-)Bestimmung des Eigentodes keine Rede sein. Die te. Der zweite Teil ist die vergleichende Analyse der Protokolle mit des Staates, die zunehmend zur Ausgrenzung derer führt, die sich gesellschaftliche Malleabilität von Kosten- und Nutzen-, Wert- und Hitlers Mein Kampf, dessen Reden, den Schriften Alfred Rosenbergs aufgrund zugeschriebener Attribute der Nicht-Kompetenz als Bürger Unwertüberlegungen gilt erst recht, wenn es um das Abwägen des und der nationalsozialistischen Politik. Stein nimmt den Vergleich in an den gesellschaftlichen Rand gedrängt sehen, überzeugen. Über Lebensrechtes Dritter, etwa behinderter Kleinkinder geht, besonders Bezug auf Staat, Recht, Gewalt, Propaganda, Erziehung, Verhältnis Vom »Wert« des Menschen Prozesse der Biologisierung des Sozialen im 20. Jahrhundert werden wenn man darauf hinweist, wie Schneider dies tut, dass solche Über- zwischen Führung und Bevölkerung und Außenpolitik vor. Er weist dann nicht nur in Deutschland geistig und körperlich behinderte legungen eine Diskussion von sozialen Ursachen der Behinderung erstens nach, dass es in diesen Punkten bemerkenswerte Überein- Menschen ausgegrenzt und sterilisiert, um angeblich ihre Nachkom- und von verbesserten Lebens- und Partizipationsmöglichkeiten für stimmungen gab und die nationalsozialistische Taktik und Wahl men und die gesamte Bevölkerung vor einer erblichen Belastung Behinderte oft außen v orlässt. der politischen Mittel, vermittelt über die Joly-Versatzstücke der zu schützen, bevor es dann im nationalsozialistischen Deutschland Abschließend sei noch bemerkt, dass es im Buch leider keinen Protokolle, von Machiavelli inspiriert gewesen ist. Zweitens zeigt Christoph Schneider zur »Euthanasie« kam. Schneider weist richtigerweise darauf hin, Index gibt, der es ermöglicht hätte, Personen und Themen leichter Stein auf, dass die Politik des Nationalsozialismus auch in einer wei- Das Subjekt der Euthanasie. dass es hier zur Verschränkung von Ideologie (gegen »Unheilba- nachzuschlagen. teren Hinsicht an den Protokollen orientiert gewesen ist, insofern ihr Transformationen einer tödlichen Praxis re«), Kosten-Nutzen-Kalkülen (gegen »Unbrauchbare«) und eines ebenjenes Weltherrschaftsstreben zu eigen war, das der imaginierten Münster: Westfälisches Dampfboot, 2011, besonders im Psychiatrieberuf vorgefundenen, nicht realisierbaren Lutz Kaelber jüdischen Weltverschwörung zugeschrieben wird. Weil Stein diesen 244 S., € 29,90 Reformwillens (»Heilen« und »Vernichten«) kam, wie dies ja schon Burlington Zusammenhang erkennt und weiß, dass der nationalsozialistische etwa von Henry Friedlander thematisiert wurde.2 Wer nun allerdings Antisemitismus auf Vernichtung drängte, ist er sich im abschlie- historisch fundierte Darstellungen dazu erwartet, wird enttäuscht. ßenden dritten Teil sicher, dass es sich bei dem »permanente[n] In diesem generell klug argumentierenden Allzu schnell wechselt Schneider wieder das Thema, hin zu den kalte[n] Pogrom« (S. 148) im Inland um den »Ausgangspunkt eines Buch gibt sich der Kulturwissenschaftler Christoph Schneider mit skandalösen Nachkriegsurteilen gegen maßgebliche Verbrecher, von Welt-Pogroms« (S. 161) handelte. dem Thema Euthanasie ab, oder, gemäß dem Untertitel des Buches, denen er einen, den in der »Kindereuthanasie« aktiven ehemaligen Lynn Ciminski und Martin Schmitt räumen in ihrem Essay den geistigen und historischen »Transformationen einer tödlichen Direktor der Universitätskinderklinik Leipzig, Werner Catel, beson- Mit Adolf Eichmann im Gespräch ein, dass Steins Schriften bis 1940 »nur sehr begrenzt als Beitrag Praxis«. Ein persönlicher Zugang zum Thema ergibt sich für den ders hervorhebt. Die Darstellungen hierzu sind wiederum verkürzt zur Theorie des politischen Antisemitismus zu interpretieren sind« Autor nicht zuletzt aus seiner langjährigen Aktivität als Betreuer und bleiben insgesamt hinter dem inzwischen erreichten Forschungs-

(S. 171) und ihr agitatorischer und interventionistischer Charakter von Besuchergruppen in der Gedenkstätte Hadamar, einer der zen- stand merklich zurück. Das ist schade, weil sich besonders in der berücksichtigt werden muss. Diesem sei der »Mangel an begriffl i- tralen Mordstätten der im Nationalsozialismus als »Euthanasie« Forschungsliteratur zu den NS-Nachkriegsprozessen im Kontext cher Präzision und Systematik« (S. 172) geschuldet. Die Heraus- umschriebenen Vernichtung von als unheilbar oder unbrauchbar der »Euthanasie«-Verbrechen (etwa in den Schriften von Kerstin Avner Werner Less geber würdigen aber auch Steins Erkenntnis und Nachweis des angesehenen Menschen. Freudiger und Michael Bryant) vielfach Anknüpfungspunkte an Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des projektiven Charakters des nationalsozialistischen Antisemitismus, Der Bogen wird weit, vielleicht zu weit geschlagen: In Teil 1 die von Schneider angesprochenen Thematiken fi nden, die er zur Eichmann-Verhörers der, wie sie in ihrem Essay zeigen, in der später entwickelten Kritik beschäftigt sich Schneider weniger mit der historischen, rechtli- Stützung und Stärkung seiner Argumente hätte anführen können.3 Rekonstruiert von Bettina Stangneth. des Antisemitismus sowohl Hannah Arendts als auch Theodor W. chen und medizinischen Geschichte des Begriffes Euthanasie als Das beste Kapitel des Buches ist das letzte, in dem der Autor sich Zürich, Hamburg: Arche Literatur Verlag, Adornos und Max Horkheimers eine zentrale Stellung eingenom- vielmehr mit staats- und kulturphilosophischen Überlegungen, auf sehr kritisch mit Argumenten der heutigen Euthanasiebefürworter 2012, 347 S., € 19,95 men hat. Außerdem sei an Steins Arbeit bemerkenswert, dass er sich deren Basis sich nicht der »Wert« des Menschen ergibt, sondern von sozialistischen ökonomistischen Analysen gelöst und Hitler auch Kriterien abgeleitet werden können, einen solchen »Wert« 2011 jährte sich der Eichmann-Prozess zum beim Wort genommen habe (vgl. S. 171 f.). Dass Steins Analyse abzuschwächen bzw. einen »Nicht-Wert« oder »Un-Wert« festzule- 50. Mal. Kein Anlass für die Zeitgeschichts- 1 Karl Binding, Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Le- des Nationalsozialismus und Antisemitismus dennoch stark von so- gen und über eine solche Festlegung das Verhältnis von autonomen bens. Ihr Maß und ihre Form (1920), mit einer Einführung von Wolfgang Nau- forschung, eine fundierte Monografi e über das historische Verfahren zialistischen Theoremen beeinfl usst war, die ihn bei der Erkenntnis Subjekten und der Staatsmacht bzw. des Kollektivs zu bestimmen. cke, Berlin 2006. vorzulegen. Tagungen und Ausstellungen (und Ausstellungskatalo- seines Gegenstandes behinderten, arbeiten Ciminski und Schmitt Die Verschränkung von individuellem Interesse am vorzeitigen 2 Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlö- ge) gab es durchaus. Eine Studie auf der Grundlage von israelischen leider nicht heraus. Als Beispiele seien der positive Fortschritts- Tod und Bedingungen, die es erlaubten, eine solche Bestimmung sung. Berlin 1997. (hebräischsprachigen) und deutschsprachigen Dokumenten (Eich- 3 Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Tübingen begriff und die Trennung von Führungsclique und Bevölkerung für andere auch ohne oder gegen deren Willen vorzunehmen, wer- 2002; Michael S. Bryant, Confronting the »Good Death«: Nazi Euthanasia on manns Argentinien- und Israel-Papiere, das polizeiliche Verhörpro- (vgl. S. 162 f.) angeführt. Wegen letzterer erkannte Stein einen den vom Autor in Teil 2 diskutiert. Dabei kommt Schneider auch Trial, 1945–1953, Boulder 2005. tokoll, Eichmanns Einlassungen im Prozess, der Nachlass seines

72 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 73 Verteidigers Robert Servatius) ist ein Desiderat. Das 2011 erschie- der Unwahrheit, bestritt Eichmann entgegen aller Evidenz deren durchgeführten antijüdischen Maßnahmen sind ihm bloße »Etappen »Veesemayer« (S. 145) und »Lakatosch« (S. 150) und »panaschu- nene Buch von Deborah E. Lipstadt basiert auf englischsprachigen Echtheit. Less ließ Eichmann aber gewähren, denn in seiner Dar- auf der Einbahnstraße zur ›Endlösung der Judenfrage‹« (S. 319). tiert« (S. 198) statt paraschutiert, wird die Falschschreibung nicht Veröffentlichungen.1 stellung der Ereignisse und in seiner Ausdrucksweise, die Less in Die Werke von Schleunes2 und Adam3 hat er nicht zur Kenntnis vermerkt. Unterlaufen Less Irrtümer wie zum Beispiel bei der Er- Einer, der dem Massenmörder Adolf Eichmann am nächs- seinen Aufzeichnungen sprachkritisch analysierte, kam für den genommen. wähnung der Randnotiz von Franz Rademacher (Auswärtiges Amt) ten gekommen ist, der Mitarbeiter des für die Voruntersuchung Sprecher unbemerkt die historische Wahrheit und sein »wahre[r] Viel Platz räumt Stangneth dem »dichtenden Ex-Polizisten« mit dem viel zitierten Satz »Eichmann schlägt Erschießen vor«, dann eigens gegründeten »Büro 06« der Israel Polizei, Avner Werner Charakter« (S. 143) zum Vorschein. Less hatte strenge Vorgaben (S. 299), wie Less selbstironisch an Freunde schrieb, ein. Ins- unterbleibt die notwendige Korrektur. Nach Less handelte es sich Less (1916–1987), hat ein geplantes Buch nie vollendet. Aus dem für das Verhör. Suggestivfragen waren untersagt, Druck durfte er gesamt 30 Gedichte (meist auf Deutsch verfasst, aber auch in bei dem Telegramm, auf dem sich die Randbemerkung Rademachers Nachlass von Less (Archiv für Zeitgeschichte, Eidgenössische nicht ausüben, das Prinzip der Freiwilligkeit der Aussage hatte er Englisch und Französisch) fi nden sich in dem Buch. Gefühlsprosa, fi ndet, um ein »Dokument aus dem Jahr 1941 bezügl. der slowaki- Technische Hochschule Zürich) hat die Eichmann-Forscherin Bet- strikt zu beachten. In seinen privaten Notizen und Aufzeichnungen in Gedichtzeilen zerteilt, gedankenreich, schwärmerisch, gele- schen Juden« (S. 168). In Wirklichkeit ging es um die Vernichtung tina Stangneth, im letzten Jahr durch ihre viel beachtete Studie macht Less seiner Empörung aber Luft. »What a hypocrite and gentlich pathetisch. serbischer Juden. Vertut sich Less in Sätzen wie: »In jeden dieser Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Mas- liar« (S. 152), bricht es aus ihm heraus, einen »verschlagene[n] Nicht ganz erschließen sich die Editionsprinzipien der Heraus- Viehwaggons waren über tausend Juden gestopft worden« (S. 305), senmörders (Zürich, Hamburg: Arche Literatur Verlag, 2011) und berechnende[n] Lügner« (S. 135), einen »überzeugte[n] Nazi« geberin. Stangneth vermerkt, nur bei »Flüchtigkeitsfehlern« (S. 339) dann unterbleibt eine Berichtigung. Schade auch, dass Stangneth hervorgetreten, das Buch rekonstruiert, das Less womöglich hat (S. 142, 153) nennt er ihn. Der »kleine Transportoffi zier« (S. 148), habe sie in die Schreibweise eingegriffen. Schreibt Less durchweg auf »durchgängige Kommentare« und »erläuternde Anmerkungen« schreiben wollen. als der Eichmann sich darzustellen versucht, war er keineswegs »Hanna« Arendt (gewiss ein Flüchtigkeitsfehler), setzt Stangneth (S. 340) verzichtet hat. Endnoten hätten die Lesbarkeit des Buches Less, 1916 in Berlin geboren, 1933 nach Frankreich emigriert, gewesen. Unerträglich schwer muss es für Less – dessen Vater (Jg. wiederholt ein »[!]«, schreibt Less aber »Globocznik« (S. 304), nicht beeinträchtigt. Bei dem umfassenden Wissen, über das die konnte 1938 nach Palästina einreisen und mit seiner 1936 in Paris 1885, Kriegsfreiwilliger, EK I-Träger) Anfang 1943 von Berlin Eichmann-Forscherin Stangneth verfügt, wären Kommentare und geheirateten Frau Vera (geb. 1912 in Hamburg) eine überaus pre- nach Auschwitz in den Tod deportiert worden war – gewesen sein, Anmerkungen hilf- und gewiss lehrreich gewesen. käre Existenz gründen. Less fand 1941 eine Stelle als Hilfspolizist mit Gleichmut das Verhör zu führen. Seinem Tagebuch vertraut 2 Karl A. Schleunes, The Twisted Road to Auschwitz. Nazi Policy towards German bei der britischen Mandatsregierung und wurde nach 1948 in den Less an: »Es ist nicht leicht, sich das alles anzuhören und einem Jews 1933–1939, Urbana 1970. Werner Renz Dienst des Staates Israel übernommen. Von 1951 bis 1968 diente er solchen Lügner mit unverziehbarer Miene gegenüber sitzen zu 3 Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972. Fritz Bauer Institut als Offi zier in der Israel Polizei (S. 73). Die Entführung Eichmanns müssen.« (S. 162) durch den Auslandsgeheimdienst Mossad und seine Verbringung Das von Stangneth komponierte Buch (aus Notizen, Aufzeich- nach Israel veränderte das Leben von Less radikal. Der als Ver- nungen, Vorträgen, Tagebuchauszügen, Briefen etc. sowie aus Ge- hörspezialist geschätzte Polizeihauptmann wurde dazu auserkoren, dichten und Interviews der Herausgeberin) ist mehr als eine Biografi e den Gefangenen zu vernehmen. 275 Stunden, acht lange Monate, des Avner Werner Less. Es ist das Dokument eines ungewöhnlichen saß Less dem »Judenreferenten« des Reichssicherheitshauptamts Menschen, auch einer außerordentlichen Liebe zwischen Less und gegenüber und befragte ihn, legte ihm Dokumente vor und ließ ihn seiner 1940 an Polio erkrankten Frau. Less meisterte ein schweres reden. Abermals viele Stunden verbrachte er mit Eichmann, um die Leben und fand sogar zusammen mit seiner Ehefrau die Kraft, sich Transkription der Tonbänder zu prüfen und eventuell notwendige der Bundesrepublik Deutschland anzunähern. Nicht, um sich mit Korrekturen durch den Untersuchungshäftling einfügen zu lassen. den Deutschen zu versöhnen, sondern um mit einer »symbolische[n] Noch vor Prozessbeginn wurde das 3.564 Seiten umfassende Ver- Geste« (S. 230, 300), der Zurücknahme (S. 299) der von den Nazis hörprotokoll publiziert. aberkannten deutschen Staatsbürgerschaft im Jahr 1968, ein Zeichen Less war auf seine Arbeit kaum vorbereitet (S. 98). Als er Ende für Humanität und gegen Hass zu setzen. Less, seine israelische Mai 1960 ausgewählt wurde, Eichmann zu vernehmen, begann Staatsbürgerschaft behielt er selbstredend bei, blieb freilich ein das mit rund 50 Polizisten und Polizistinnen ausgestattete Büro scharfer Kritiker der BRD, erachtete das Land nicht »reif« (S. 265) 06 (vgl. die Aufl istung der Büromitarbeiter auf den S. 108–110) für ein Eichmann-Buch und für die historische Wahrheit über den allererst damit, Dokumente zu sammeln. Less begegnete Eich- Nationalsozialismus. Das Thema »Adolf Eichmann« (S. 289), die mann, dem gegenüber die rechtsstaatlich gebotene Unschuldsver- massenmörderische Täterschaft eines überzeugten Nazis und eif- mutung zu hegen wohl sehr schwer fi el, ohne Hass. Der Verhörer rigen Antisemiten, war nach Less »bei den grösseren deutschen empfand sogar Mitleid mit dem Inhaftierten und behandelte ihn Verlagshäusern noch immer tabu« (ebd.). Der Legislative der Bun- mit ausgesuchter Höfl ichkeit. Less’ angewandte Verhörmethode desrepublik hielt er vor, kein Gesetz zur angemessenen Verfolgung hatte Erfolg. Eichmann fasste Vertrauen zu »Herrn Hauptmann«, der NS-Verbrecher (S. 215, 319) geschaffen zu haben. Das allerorten der mit ihm seine Zigaretten teilte. Er war mitteilsam, leugnete beteuerte Nichtwissen der Deutschen von den Massenverbrechen aber jegliche Eigenverantwortung, rechtfertigte sich als bloßen hielt er für eine billige Mär (S. 305). Befehlsempfänger und log dreist. Überführten ihn Dokumente Less’ Darstellung der NS-Vernichtungspolitik ist seit Anfang der sechziger Jahre unverändert geblieben. Neuere Forschungen hat er nicht zur Kenntnis genommen. In seinen Texten spiegelt sich insofern wider, was Anklagevertretung und Gericht im Eichmann- 1 Deborah E. Lipstadt, The Eichmann Trial, New York 2011. Prozess an Erkenntnissen vorgetragen haben. Die vom Naziregime

74 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 75 Dokumentarisch, aufklärend, bewegend im gerichtseigenen Archiv nach. Er hat in der Folge, auch durch Praxiserfahrung im Druck Verhaltensweisen oder auch Äußerungen zu überwinden, dann geht umsichtige Kooperation mit anderen Historikern, umfangreiches das durch die Entwicklung eines refl ektierten und zugleich alltags- weiteres Aktenmaterial entdeckt und durch langjährige Recherchen, relevanten Umgangs der einzelnen Menschen mit ihrem Verständ-

auch vor Ort, die Verbindung zwischen Heinrich Heinen und Edith nis von Mehrheiten und Minderheiten, Macht und Unterlegenheit, Meyer rekonstruiert, also jene Beziehung, von der diese ganze dra- Sprache und Diskriminierung. Viele der in diesem Handbuch vor- Alfons Dür matische Geschichte ausging. Als Jurist, der sich auch immer für Alte Feuerwache e.V. Jugendbildungs- gestellten und detailliert für die Praxis beschriebenen Übungen sind Unerhörter Mut. Eine Liebe in der Zeit die Geschichte seiner Profession interessiert hat, ist der vormalige stätte Kaubstraße (Hrsg.) für ein solches pädagogisches Vorhaben geeignet. Manche werden des Rassenwahns Gerichtspräsident an das Thema herangegangen: den Blick offen Methodenhandbuch zum Thema kaum realistisch umsetzbar sein, wenn die Klienten über wenig Innsbruck, Wien: Haymon Verlag, 2012, für die Verhältnisse, in denen Recht gesetzlich zu Unrecht gemacht Antiziganismus für die schulische und sprachliche Kompetenz verfügen oder wenn die Zeit für ein außer- 199 S., Abb., € 19,90 wurde, gleichzeitig akribisch, hartnäckig an Details interessiert, die außerschulische Bildungsarbeit schulisches Projekt knapp bemessen ist. Andere eignen sich wenig für das Verständnis gerade dieses so ungewöhnlichen und menschlich Münster: Unrast Verlag, 2012, 144 S. für schulische Kontexte, weil dort die Freiheit der pädagogischen berührenden Falles nötig sind, und jeder vorlauten Dramatisierung und Arbeitsmaterialien auf einer DVD, Kommunikation für manche Interaktionen fehlt. Trotzdem lohnt es Nach dem »Anschluss« Österreichs im März abhold. Entsprechend ist das Buch geschrieben: sachlich, dokumen- € 19,80 sich, diesen Praxisteil zu nutzen, wenn man Seminare im Bereich der 1938 wurde die Grenze zur Schweiz und zu tarisch, die schriftlichen Zeugnisse in den Vordergrund rückend, auf Antidiskriminierungspädagogik durchführt. Methodensammlungen Liechtenstein – zum Teil im Gebirge, zum Teil in den idyllischen jede Psychologisierung oder gar Romantisierung der handelnden Ein Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus für die schuli- sind eine für PraktikerInnen unschätzbare Unterstützung im Alltag. Flussauen des Rheins gezogen – für Tausende Menschen zu einer Personen verzichtend. sche und außerschulische Bildungsarbeit ist auch nach langen Jahren Der Anspruch, mit solchen Methoden im Kontext von the- Grenze zwischen Leben und Tod. Für viele bedeutete sie das Ende Kritisch anzumerken ist lediglich, dass bei der Wiedergabe von der pädagogischen Bemühungen auf diesem Arbeitsfeld eine erfreu- matisch geschlossenen Seminaren dem Antiziganismus entgegen- eines manchmal kühn-naiven, manchmal mehr oder weniger klug Protokollen, in denen Verhörte in Ich-Form berichten, auf deren tat- liche Besonderheit. Erfreulich ist zudem, dass diese Publikation von zutreten, ist aber unrealistisch. Dieses Stereotyp kann nur immer geplanten, aber immer verzweifelten Versuchs, die Schweiz als ver- sächlichen Verfasser hingewiesen werden sollte: nämlich den Verhör- einer Institution stammt, die selbst im pädagogischen Alltag steht wieder dort explizit thematisiert und problematisiert werden, wo es meintlich sicheren Ort des Überlebens zu erreichen. So auch für die beamten. Andernfalls erhalten solche Protokolltexte, jedenfalls beim und somit Gewähr für Praxisnähe bietet. auftaucht. Das kann entweder in der fallbezogenen Arbeit im sozi- Hauptpersonen des Buches Unerhörter Mut von Alfons Dür. geschichtswissenschaftlich nicht fachkundigen Lesepublikum, eine Das Buch beginnt mit zwei Einführungen: in die Geschichte der alpädagogischen Feld sein oder in der aufklärenden Beschäftigung Dür hat die Geschichte von sieben Menschen rekonstruiert, die persönliche Authentizität, die ihnen nicht zukommt – schon gar nicht Sinti und Roma im deutschsprachigen Raum und in die »Wirkungs- mit politischen, humanitären Themen in der Geschichte oder der sich im August 1942 im Gefängnis der Vorarlberger Stadt Feldkirch, unter den Bedingungen einer Verhörsituation, in der die Verhafteten weise der antiziganistischen Vorurteilsstruktur«. Beide bieten für aktuellen Politik. Das Handbuch bietet für beide Felder Anregungen. in unmittelbarer Nähe zur Schweiz und zu Liechtenstein, bündelt. (wie bei Gestapo-Vernehmungen häufi g) erschöpft, verängstigt oder pädagogische Fachkräfte die Möglichkeit, kompakt und gut lesbar Sie können bei der kollegialen Beratung in den sozialpädagogischen Es handelt sich um sechs Männer zwischen 16 und 30 Jahren und gar physischer Gewalt ausgesetzt waren. auf den Stand der historischen Forschung bzw. der sozialwissen- Teams ebenso helfen wie bei der Konzeption von Interventionen in um eine Frau – eine Frau, die die Rassengesetze des Nationalsozia- Ein Buch wie das von Alfons Dür steht ziemlich quer zum zeit- schaftlichen Diskussion zu kommen. Beim Blick auf die Stereo- der Arbeit mit den Klienten. In diesem Sinn ist dem Handbuch eine lismus als Jüdin klassifi zieren. Einer der Männer, Heinrich Heinen, geistigen Trend. Denn der scheint unaufhaltsam in Richtung Dra- type über »Zigeuner« zum einen und die Geschichte der Sinti und rege Nutzung zu wünschen. hat die Frau, seine über alles geliebte Freundin Edith Meyer, unter matisierung und Fiktionalisierung von Holocaust, Verfolgung und Roma zum anderen hätte sich allerdings ein differenzierterer Blick Vor allem aber ist Bildungseinrichtungen wie der Alten Feuer- abenteuerlichen Umständen aus dem Ghetto von Riga herausgeholt Widerstand zu laufen: Romane wie Steve Sem-Sandbergs Die Elen- in die Vorurteilsforschung und auch auf die Frage der Unterschei- wache eine Unterstützung durch Stiftungen und Förderprogramme und ist mit ihr quer durch ganz Deutschland bis Vorarlberg gefl ohen. den von Łódź (Stuttgart 2011) oder Jonathan Littells Die Wohlgesinn- dung zwischen der Geschichte der Sinti und Roma einerseits und zu wünschen, die ihre Arbeit an den alltäglichen Kompetenzen und Hier endet diese Flucht, wie so viele andere, im Grenzgebiet zur ten (Berlin 2008) sowie Filme wie Quentin Tarantinos INGLOURIOUS des Zigeuner-Stereotyps andererseits angeboten. Es gehört zu den Problemen der MitarbeiterInnen ebenso als zentrales Ziel erkennt Schweiz. Die beiden werden festgenommen und ins Feldkircher BASTERDS (2009) sind viel beachtete Markterfolge geworden. Ob Problemen, mit denen eine ernsthafte pädagogische Auseinander- wie die regionale und überregionale Vernetzung dieser Einrichtun- Gefängnis eingeliefert. Hier plant Heinrich Heinen die Befreiung solche Fiktionalisierung ein anhaltendes Interesse an einer kritischen setzung mit Fällen des Antiziganismus zu tun hat, dass hier noch gen. Immer neue Handbücher entstehen nicht zuletzt wegen der seiner Freundin. Er überzeugt fünf Zellengenossen von der Mög- Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit mehr als beim Antisemitismus eine Verbindung zwischen der realen Anforderungen der Stiftungen als Projektergebnis. Bei weitem effi zi- lichkeit eines Ausbruchs, und dieser Ausbruch gelingt tatsächlich. befördert, darf angesichts rasch wechselnder literarischer Moden Präsenz von Sinti oder Roma und dem Stereotyp vom »Zigeuner« enter wäre es, die in ihnen dokumentierte hohe Kompetenz der betei- Vorher suchen Heinen und zwei weitere Ausbrecher im Frauentrakt auf jeden Fall bezweifelt werden. Dass sie für viele Medienkon- selten gegeben ist. Wissen über das Stereotyp hilft jedenfalls nicht ligten Fachleute durch eine langfristige Finanzierung anzuerkennen. des Gefängnisses verzweifelt nach Edith Meyer – vergeblich. Sie sumenten die Wahrnehmung dessen, was real geschehen ist, hinter bei der Klärung der realen Probleme der Minderheit. Vor diesem war kurz zuvor nach Innsbruck zum Weitertransport nach Auschwitz der aufregenden Fiktion verblassen und verschwinden lässt, kann Hintergrund ist es fraglich, ob Aufklärung über die Geschichte der Gottfried Kößler überstellt worden. Vier der Beteiligten werden um ihr Leben ge- jedoch als sicher gelten. Denn wenn schon die erzählte Geschichte Minderheit in Europa eine Wirkung auf die Problematik der Vorur- Fritz Bauer Institut/Pädagogisches Zentrum Frankfurt bracht: »auf der Flucht« erschossen, hingerichtet, auf der Deportation erfunden ist, warum dann nicht auch das, was ihr zugrunde liegt? teile haben kann. ins Konzentrationslager verschollen. Alfons Dür hingegen hat, in heutzutage fast altmodisch wir- Die im umfangreichen Praxisteil vorgestellten und ausführlich Überlebt haben allemal die Täter, manche von ihnen sogar be- kender Weise, ein Buch geschrieben, das uns Täter wie Opfer der beschriebenen Übungen behandeln zum größten Teil ohnehin keine stens. Der Chefankläger am Feldkircher Gericht, der für seine Un- nationalsozialistischen Herrschaft ganz nahe bringt – nicht als historischen oder etwa aktuell politischen Themen, die Fälle der erbittlichkeit stadtbekannte NS-Oberstaatsanwalt Herbert Möller, Fiktion, nicht als literarische Sensation, sondern als überzeugende Diskriminierung von Sinti oder Roma repräsentieren würden. Die brachte es nach dem Krieg, mit einer Unterbrechung durch eine Dokumentation einer tatsächlich erlebten, erlittenen und – ja, auch meisten Übungen gehören in den Kontext der Antidiskriminierungs- Zwangspensionierung, bis zum Richter des Obersten Gerichtshofs das – ganz und gar berührenden Geschichte. Pädagogik, ohne speziell das Thema des Handbuchs zu fokussie- der demokratischen Republik Österreich. ren. Das ist durchaus kein Mangel, verweist aber auf ein Problem Der Autor war als Präsident des Landesgerichts Feldkirch Kurt Greussing des Projektes selbst. Soll ein pädagogischer Weg gefunden werden, (1998–2008) auf diesen Fall gestoßen und ging ihm erst einmal Dornbirn (Österreich) antiziganistische – oder andere menschenfeindliche – Haltungen,

76 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 77 »Damit die Welt es erfährt« Die methodischen Vorschläge, vor allem aber die Materialien sind Angriff auf »die Erinnerungskultur« – die Formate der Fernsehdokumentationen auf der Basis von »Zeit- diesem Anspruch entsprechend so präsentiert, dass die Pädagogen ohne Substanz zeugeninterviews« ist schon seit gut einem Jahrzehnt im Gang. Auf sie für die jeweilige Lerngruppe strukturieren und variieren können. diese Entwicklung verweisen die Autoren (S. 72 f.) mit der Absicht,

Die Jugendlichen sollen Ausgangspunkt des Lernens sein, nicht die die »Ära des Zeitzeugen« für beendet zu erklären. Es ist auch anderen Inhalte (S. 19), und kreative Aneignung steht im Mittelpunkt. Daher schon aufgefallen, dass die Ego-Dokumente der Epoche des Natio- Constanze Jaiser, Jacob David Pampuch eignen sich die Arbeitsvorschläge und die Quellen für unterschiedliche nalsozialismus inzwischen Quellen sind, die einer quellenkritischen Ein Schmuggelfund aus dem KZ – Schulfächer und für das fächerübergreifende Arbeiten, was für die Dana Giesecke, Harald Welzer Analyse bedürfen. Es sind nicht die Geschichtslehrer und die Ge- Erinnerung, Kunst & Menschenwürde acht Bausteine und ein als kreativer Zugang konzipiertes Spiel jeweils Das Menschenmögliche. Zur Renovierung denkstätten, die hier unsauber arbeiten, sondern in erster Linie TV- Projektmappe für einen fächerübergrei- konkret aufgelistet ist: Fächer, Projektidee, Ziele und Dauer. Jeder der deutschen Erinnerungskultur Produktionen und Museen. Für die historische Bildung gibt es unter- fenden Unterricht. Hrsg. im Auftrag der dieser Bausteine hat einen Artikel aus der Allgemeinen Erklärung Hamburg: edition Körber-Stiftung, 2012, schiedliche Konzepte der Arbeit mit videografi erten Zeugnissen, die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der der Menschenrechte als Motto bzw. Hintergrund. Dieser Bezug zu 187 S., € 15,– kritisch betrachtet und genutzt werden. Eine ausführliche theoretisch Wannsee-Konferenz. Berlin: Metropol den Menschenrechten wird selten ausdrücklich abgefragt, die Verbin- fundierte Debatte der Praxiserfahrungen fand im Rahmen der Se- Verlag, 2012, 168 S., 53 Arbeitsblätter, dung zwischen historischem Lernen und Menschenrechtsbildung soll minarreihe »Entdecken und Verstehen« der Stiftung »Erinnerung, Spielkarten und 2 CDs im Schuber, € 19,– vielmehr induktiv entstehen. Problematisch wird diese Erwartungs- Mit theatralischer Geste behaupten die Verantwortung und Zukunft« von 2009 bis 2011 statt (vgl. www. haltung, wenn Vergleiche zwischen historischen und gegenwärtigen Autoren Giesecke und Welzer, eine grund- stiftung-evz.de/projekte/geschichte/bildungsarbeit-mit-zeugnissen). Die Botschaft der »Flaschenpost«, die in diesem so sorgfältig und Stereotypen thematisiert werden. In dem Baustein über Vorurteile sätzliche Kritik am Umgang der deutschen Gesellschaft mit der Von einer Rezeption dieser Tagungen oder der Fachliteratur wie zum ästhetisch anspruchsvoll gestalteten Kasten vor uns liegt, ist eindeu- gegen Polen wird ausgehend von der Offenlegung von Stereotypen Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust vorzutragen, die Beispiel der Dissertation von Katharina Obens, die erste Ergebnisse tig. Es sind Briefe, Aufzeichnungen und Dokumente, die polnische versucht, eine Refl exion der vorhandenen Bilder aus der Rezeption geeignet sei, neue und zukunftsweisende Wege der politischen Bil- ihrer empirischen Studie schon 2009 im Gedenkstättenrundbrief KZ-Häftlinge aus Ravensbrück herausgeschmuggelt haben. Sie woll- der unmenschlichen Behandlung der polnischen Zwangsarbeiterinnen dung aufzuzeigen. Das riesenhafte Gebrüll hat wenig substanzielle publizierte, fi ndet sich keine Spur bei Giesecke/Welzer. ten die Welt über ihr Schicksal und über ihren ungebrochenen Mut in der NS-Zeit zu generieren. In der dazu vorgeschlagenen Aufgaben- Grundlagen. Die Autoren sind Fachleute für Sozialpsychologie und Unter der Überschrift »Entrümpelung« behaupten die Autoren, informieren. Erst in den 1970er Jahren wurde das Material, das von stellung, eine Aktion gegen polenfeindliche NPD-Wahlkampfplakate Soziologie. Diese fachliche Perspektive könnte für die kritische Sich- es sei seit »Jahrzehnten unproblematisiert«, dass die Vermittlung von Kriegsgefangenen vergraben worden war, ausgegraben und von den zu gestalten, wird allerdings die gewünschte Haltung bereits voraus- tung der Praxis und der theoretischen Grundlagen des öffentlichen historischem Wissen mit einer moralischen Bildungsabsicht verbun- DDR-Behörden der Gedenkstätte Auschwitz übergeben. Die Pub- gesetzt. Hier lösen die AutorInnen das selbst gesteckte Ziel, mit den Umgangs mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Volks- den wird (S. 20). Aus dieser Feststellung leiten die Autorinnen die likation Ein Schmuggelfund ist die erste deutsche Veröffentlichung Lernenden auf Augenhöhe zu arbeiten, nicht ein. gemeinschaft und ihre Gewaltverbrechen hilfreich sein. Allerdings Behauptung der Originalität ihrer Kritik ab. Ein Blick beispielsweise dieser Quellen. Auf den ersten Blick eine Sammlung von Spielkarten, Die ausgesprochen gelungene Gestaltung und die als Beispiel wäre es zu diesem Zweck notwendig, zunächst zu klären, wovon in einen Band, in dem Welzer mit einem Aufsatz vertreten ist, wäre einem Hörspiel und Dokumenten, erweist sich der Inhalt des Kas- (und Arbeitsmaterial) gedachte Aufzeichnung eines eindrücklichen, eigentlich in diesem Buch die Rede sein soll. nützlich gewesen und hätte das Brainstorming schnell für das eigene tens als sorgfältig aufeinander bezogenes Lernmaterial. Es soll dem mit Jugendlichen erarbeiteten Hörspiels macht dieses pädagogische Im Titel benennen die Autoren die »Erinnerungskultur« als The- Museumsprojekt auf eine wissenschaftliche Basis gestellt (Wolf- historischen Lernen und der Menschenrechtsbildung dienen, getreu Material sehr attraktiv. Sie kann aber auch Befürchtungen auslösen, ma. Im Text wird ein vehementer Angriff auf die pädagogische Praxis gang Meseth, Matthias Proske, Frank-Olaf Radtke (Hrsg.), Schule dem Auftrag der Polinnen aus Ravensbrück, die die Briefe, Gedichte, nicht selbst so perfekt arbeiten zu können. Das wäre bedauerlich, der Vermittlung der NS-Geschichte vorgetragen. Von der Bedeutung im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2004). Das hier von Unterlagen der KZ-Bürokratie aus dem Lager schmuggelten: »Un- denn es sind die vielen Materialien und Anregungen, die für den der politischen Repräsentation der Erinnerung an den Holocaust, von Meseth und anderen empirisch festgestellte Problem der Koppelung abhängig davon, ob wir zurückkehren werden oder auch nicht, muss pädagogischen Alltag nützlich sein werden. Vor allem aber sollte den Künsten oder von den Medien ist höchstens nebenbei die Rede. von moralpädagogischen Ansprüchen und Vermittlung von Fakten die Geschichte der Polinnen aus Ravensbrück und die Geschichte zweierlei als Ansporn von dieser wichtigen Publikation ausgehen: Das Interesse des Bandes ist es, ein Konzept für ein am »Edutain- ist seit gut 15 Jahren bekannt und Gegenstand der kritischen Refl e- des Lagers überhaupt – die wahre und unverfälschte Geschichte – Konkrete, überschaubare historische Situationen sind besser ge- ment« orientiertes »Haus der menschlichen Möglichkeiten« vorzu- xion der gedenkstättenpädagogischen Praxis. Auch im Bereich der möglichst genau und umfassend das Tageslicht erblicken.« (Brief eignet, ein Verständnis für Geschichte und ihre Bedeutung für die stellen. Es soll plausibel gemacht werden, dass politische Bildung Geschichtsdidaktik, die den schulischen Unterricht im Blick hat, ist von Zofi a Pocilowska aus dem Kassiber, 9. Oktober 1943) Gegenwart zu wecken, als Versuche, die Gesamtheit des Holocaust in vor allem über Erfahrung funktioniert. Das ist für das Fach politische inzwischen diese Koppelung als Falle für die Lernprozesse beschrie- Die Aufbereitung des Materials für die pädagogische Nutzung einem Lernpaket zu erfassen. Und zweitens ist das lernende Subjekt Bildung eine Selbstverständlichkeit. Eine Diskussion über die Form ben worden. Alternativen sind beispielsweise in dem Band crossover folgt der Vielfalt, wie sie im Schmuggelfund enthalten war: Gedichte, ins Zentrum der Konzeption von Lernarrangements zu setzen, nur wäre allerdings durchaus angebracht, und in dieser Perspektive fi n- geschichte (Hamburg: edition Körber-Stiftung, 2009) nachzulesen. Häftlingszeichnung und Plastik, Brief, Dokumente und Interviewse- so kann der Anspruch der Menschenrechtsbildung realisiert werden. den sich in dem Band auch anregende Vorschläge. Die Rezeption der Es ist nämlich die Refl exion über die Subjekte der Bildungs- und quenzen. Eine kreative Aneignung der Überlieferung dient dem Ziel, Die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« fördert, reichen Erfahrung der handlungsorientierten Bildungseinrichtungen Lernprozesse, die eine Erneuerung der Aneignungsformen histori- auf der kognitiven Ebene die konkreten Menschenrechtsverletzungen wie Claudia Lohrenscheid vom Deutschen Institut für Menschen- in den Niederlanden, in Frankreich oder den USA könnte die Päda- scher Gegenstände erforderlich macht. Die westeuropäischen Ge- zu erkennen und zugleich die Bedeutung des Kampfes um Menschen- rechte in ihrem Geleitwort zu dieser Publikation schreibt, in prakti- gogik in deutschen historischen Museen und in den Schulen wirklich sellschaften sind heterogen geworden. Es gibt andere Themen, um würde emotional zu erfassen. Durch die kreative Aneignung, die Ler- schen Projekten eine Suchbewegung nach der Verbindung von his- weiterbringen. Die völlig fehlende Rezeption der entsprechenden die sich eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust organisiert als nen durch Menschenrechte praktiziert, möchten Jaiser und Pampuch torischem Lernen und Menschenrechtsbildung. Constanze Jaiser und Fachdiskurse in dem Buch von Giesecke und Welzer führt aber dazu, in einer als national homogen gedachten Bundesrepublik vor dreißig den Anspruch realisieren, Menschenwürde als Fähigkeit zum inneren Jacob David Pampuch haben für diese Suche einen klärenden und dass die Aufzählung schöner Best-Practice-Beispiele kein Ziel hat. Jahren. Das übersehen die Autoren. Dialog erfahrbar zu machen. Sie verweisen auf Paul Thiedemann, der praktisch hilfreichen Beitrag zur Kartierung erarbeitet. Die Projekt- Damit meine ich zum einen den pädagogischen Diskurs, sowohl Die Zusammenschau des Forschungsstandes über die NS-Ge- dieses Konzept philosophisch begründet (S. 31). In diesem Verständnis mappe wurde mit dem Annalise-Wagner-Preis 2012 ausgezeichnet. was die Geschichtsdidaktik als auch was die Politikdidaktik und die sellschaft, die heutige Perspektive auf Täter und Bystander, Helfer sind die Quellen aus dem Schmuggelfund – gerade die künstlerischen Gedenkstättenpädagogik betrifft. und Grauzonen auch im Blick auf die Verfolgten ist auf dem aktu- Arbeiten – Zeugnisse des Überlebens des freien Willens der Häftlinge, Gottfried Kößler Aber auch der Begriff »Edutainment« ist in der Beschäftigung ellen Stand der historischen Forschung. Wie die Autoren allerdings eben ihrer bis zum Letzten verteidigten Menschenwürde. Fritz Bauer Institut/Pädagogisches Zentrum Frankfurt mit der heutigen Erinnerungskultur nicht neu. Die Diskussion um darauf kommen, dass dieser in den pädagogischen Handlungsfeldern

78 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 79 nicht rezipiert würde, wird nicht ausgeführt. Allerdings ist auffällig, gehörten ihr auch Mannschaftskapitän Lahm sowie die in Polen ermöglicht hatte, diesen ungeheuerlichen Satz auszusprechen: »Wir Der letzte Ausweg dass neuere Fachliteratur oder gar Periodika nicht rezipiert wurden. geborenen Spieler Podolski und Klose an. Dieter Graumann, der sind wieder wer.« Auch die Neukonzeption der Ausstellungen in den meisten NS- Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sah darin eine Fuchs, der in Kanada lebte, war das Idol Herbergers, was nicht

Gedenkstätten oder die Debatte um die Differenzen der Formen der verpasste Chance: »Wenn die komplette Nationalmannschaft ge- verwunderlich ist angesichts der zehn Tore, die der Mittelstürmer Vermittlung an Gedenkstätten, die sich mit der DDR-Geschichte kommen wäre, hätte man damit Hunderttausende junger Menschen am 1. Juli 1912 beim 16:0 der deutschen Fußballnationalmannschaft befassen, im Vergleich zu den Orten der NS-Verbrechen wird nicht erreicht, mehr als mit tausend Gedenkreden.« Englands Team habe gegen Russland erzielte – ein Rekord für die Ewigkeit. Herberger Christian Goeschel wahrgenommen. Auschwitz wenige Tage später mit allen Spielern besucht (gleich- schrieb an Fuchs, zum ersten Mal 1955. Fuchs antwortete freundlich Selbstmord im Dritten Reich Die Überlegungen und konzeptionellen Vorschläge für die »sto- falls die Mannschaften von Italien und der Niederlande). Und der aus Kanada, wohin er emigriert war. 1972 bat Weltmeistertrainer Aus dem Englischen von Klaus Binder. rylines« des projektierten »Hauses der menschlichen Möglichkeiten« Historiker Moshe Zimmermann stellte die berechtigte Frage: »Wieso a. D. Sepp Herberger den damaligen Vizepräsidenten und späteren Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011, 338 S., bleiben vage. Sie bewegen sich im Blick auf die Verschränkung von ausgerechnet Klose und Podolski? Hat ihre polnische Herkunft etwas Präsidenten des DFB, Hermann Neuberger, Gottfried Fuchs nach € 21,90 historischen Themen mit solchen der politischen Bildung auf der mit den Verbrechen der Deutschen an den Juden zu tun?« Deutschland einzuladen, zum Fußballspiel BRD gegen UdSSR, mit Ebene von Vergleichen und Analogien. Eben in diesem Ansatz entde- Ja, was hat den DFB davon abgehalten, in voller Mannschafts- dem das Olympiastadion in München eingeweiht wurde. »Eine sol- »Es geht jemand aus dem Leben, dessen Fa- cken Lehrkräfte und Gedenkstättenpädagogen Fallen und Blockaden. stärke nach Auschwitz-Birkenau zu reisen? Es wäre doch, neben che Einladung als ein Versuch der Wiedergutmachung willfahrenen milie seit über 100 Jahren Deutsche Bürger- Genau hier wird dieses Buch wirklich ärgerlich: Die von Giesecke/ dem Effekt, den Graumann zu Recht betont, die Chance gewesen, [sic!] Unrechts würde sicherlich nicht nur im Kreis der Fußballer briefe besitzt, mit Bürgereid übergeben, der Eid stets gehalten. […] Welzer mit ihrem großen Auftritt vorgestellte Konzeption erweist Julius Hirschs zu gedenken, jenes deutschen Fußballnationalspie- und Sportler, sondern überall in Deutschland ein gutes Echo fi nden«, Ich will nicht leben ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne Wohnung, sich als genau die, von der sich die Pädagogik zu NS und Holocaust lers, der im März 1943 nach Auschwitz deportiert wurde und von meinte Herberger – und täuschte sich. Denn beim DFB bestand ohne Bürgerrecht, geächtet und beschimpft. Und ich will begraben derzeit verabschiedet. Sie tut das, weil sich die Zweifel als begründet dort nie mehr zurückkam. Aber mit dem Gedenken an den Juden »keine Neigung, im Sinne Ihres Vorschlags zu verfahren«. Fuchs werden mit dem Namen, den meine Eltern mir … gegeben … haben, erwiesen haben, dass ein »negatives Gedenken« tatsächlich für das Hirsch hatte der größte Einzelsportverband der Welt schon immer starb am 25. Februar 1972 in Montreal. und auf dem kein Makel haftet. Ich will nicht warten, bis ihm ein zukunftsorientierte Handeln in demokratischen Kontexten konsti- Probleme. Denn wer Julius Hirsch war und was mit ihm ab März Dies und noch viel mehr hat Werner Skrentny recherchiert und Schandmal angehängt wird. […] Es schreit zum Himmel!« (S. 160) tuierend oder auch nur motivierend sein kann. 1933 geschah, davon wurde viele Jahrzehnte nicht gesprochen, nicht wohl durch seine ab 1993 publizierten Texte über Julius Hirsch und Die 76-jährige Berlinerin Hedwig Jastrow schrieb dies am 29. No- Das »Haus der menschlichen Möglichkeiten« sollte sich wirk- von den großen und kleinen Fußballfunktionären und auch nicht von Gottfried Fuchs, seine Gespräche und Anregungen im Verbund mit vember 1938 in ihrem Abschiedsbrief. Als Jüdin verfolgt, angesichts lich mit der Zukunft befassen und das historische Lernen den zeit- den Sportjournalisten. anderen kritischen Sportjournalisten und -historikern erreicht, dass des Novemberpogroms und dessen drastischen Auswirkungen, woll- historischen Museen überlassen. So bezeichnet Volkhard Knigge mit Der Erste, der sich mit der Lebensgeschichte des ehemaligen die ehemaligen jüdischen Fußball-Nationalspieler vom DFB nicht te sie die Erniedrigungen nicht weiter ertragen. guten Gründen die NS-Gedenkstätten schon seit gut zehn Jahren. Linksaußen bzw. Halblinken beschäftigte, war Anfang der 1990er mehr verleugnet werden konnten. In dem vom DFB unterstützten, Christian Goeschel untersucht in seiner 2009 im englischen Ori- Jahre Werner Skrentny.1 Derselbe Autor hat nun die Biographie Juli- 1997 publizierten Lexikon Deutschlands Fußball-Nationalspieler ginal veröffentlichten Dissertation Der Selbstmord im Dritten Reich Gottfried Kößler us Hirschs vorgelegt. Danke, endlich, möchte man sagen angesichts von Jürgen Bitter wird über Hirsch und Fuchs auf der Grundlage eindringlich solch fi nale Entschlüsse. Er will seinen Forschungsansatz Fritz Bauer Institut/Pädagogisches Zentrum Frankfurt der Unmenge an überfl üssigen Biographien und Autobiographien von Skrentnys Text von 1993 berichtet. In der Ausstellung »Der Ball verstanden wissen als »neue integrierte Sozial- und Kulturgeschichte« deutscher Fußballspieler, die seit Anfang der 1950er Jahre erschienen ist rund. 100 Jahre DFB« im Jahr 2000 wurde auf Anregung von (S. 7), die das Phänomen des Selbstmordes sowohl auf individueller und sind. Skrentny zeichnet Hirschs Lebensweg akribisch nach, schildert Skrentny ein Gedenkraum für Julius Hirsch eingerichtet. Und seit gesellschaftlicher als auch diskursiver Ebene zu beleuchten versucht. die wichtigsten Stationen seiner durch den Ersten Weltkrieg unter- 2005 gibt es den vom DFB gestifteten Julius-Hirsch-Preis – »zur Auf Grundlage einer ansehnlichen Quellenvielfalt wird dem Leser in brochenen Fußballkarriere, berichtet ausführlich über den Horror, ehrenden Erinnerung an seinen jüdischen Nationalspieler Julius knapper Form ein breit gefächertes Themenfeld eröffnet, beginnend vor der ab 1933 über den einst gefeierten Sportler hereinbrach, über Hirsch«. dem Hintergrund der Weimarer Republik bis zum Zusammenbruch des Vom Deutschen Fußball-Bund 55 Jahre Hirschs Deportation und das Überleben seiner Kinder. Wieso die deutschen Nationalspieler im Vorfeld der Fußball- NS. Hierbei wendet Goeschel seinen Blick sowohl auf die Verfolgten des Und Skrentny berichtet auch ausführlich über den zweiten deut- Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine zur ehrenden NS-Regimes als auch auf die Nationalsozialisten selbst. Sein Leitnarrativ totgeschwiegen schen Juden, der in der Fußballnationalmannshaft spielte: Gottfried Erinnerung an den jüdischen Nationalspieler Julius Hirsch nicht, wie stützt sich dabei auf Emile Durkheims (1858–1917) klassische Studie Fuchs. Wie Hirsch gewann Fuchs für den Karlsruher FV 1910 die die Engländer, Italiener und Niederländer, vollständig in Auschwitz Der Selbstmord, genauer: auf den Typ des anomischen Selbstmordes, deutsche Meisterschaft, wie Hirsch stürmte er beim Olympischen angetreten ist, bleibt das Geheimnis der DFB-Granden. nach dem, verkürzt gesprochen, krisenhafte Störungen der hergebrachten Fußballturnier 1912 in Stockholm für Deutschland, wie Hirsch kollektiven Ordnung zu erhöhten Selbstmordraten führen.1 Werner Skrentny kämpfte er im Ersten Weltkrieg für Deutschland – anders als Hirsch Gerd Fischer Die in der Weimarer Republik ansteigende Selbstmordrate fußte Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet. gelang ihm die Flucht aus Deutschland. Doch wie Hirsch wurde Frankfurt am Main auf sozioökonomischen Anomien. Von den Nationalsozialisten propa- Biografi e eines jüdischen Fußballers auch Fuchs vom Deutschen Fußball-Bund mehr als fünfzig Jahre gandistisch verzerrt und ausgeschlachtet, wurde das »Weimarer Sys- Göttingen: Verlag Die Werkstatt, 2012, totgeschwiegen. Da half nicht einmal die Fürsprache von Sepp Her- tem« an sich verantwortlich gemacht. Der NS verhieß dagegen das Ende 352 S., € 24,90 berger, dessen erfolgreiche Arbeit als Fußballnationaltrainer 1954 es des Selbstmordes – de facto blieben die Zahlen bis 1939 auf Weimarer den Deutschen neuneinhalb Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Niveau – bzw. es vollzog sich ab 1933 eine zynische Umdeutung. In Im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft eugenisch-sozialrassistischer Perspektive war Suizid nun zu begrüßen, 2012 in Polen und der Ukraine besuchte eine ja gewünscht, insofern »Volksschädlinge« oder »Gemeinschaftsfremde« Delegation des Deutschen Fußball-Bunds 1 Werner Skrentny, »Der Tod des ›Juller‹ Hirsch«, in: ders. (Hrsg.), Als Morlock (DFB) das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Ne- noch den Mondschein traf. Die Geschichte der Fußball-Oberliga Süd 1945– ben hochrangigen Verbandsfunktionären und Bundestrainer Löw 1963, Essen 1993. 1 Vgl. Emile Durkheim, Der Selbstmord (1897), Frankfurt am Main 1983, insb. S. 273–318.

80 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 81 betroffen waren. Diese in den Selbstmord zu treiben, »zu ›selbstmor- Vom Objekt zum Subjekt – Lehre und höchste Gerichte mit Bezug auf Radbruch die Nürnberger Kriegsverbrechen. Steinke zeigt, wie die Angst des Verteidigungsmi- den‹« (S. 121), wie Goeschel diese soziale Praxis bezeichnet, wurde ein Deutschland und das Völkerstrafrecht Prinzipien und befürworten Strafverfolgung. Etwa 100.000 Verfah- nisteriums vor einer Verfolgung deutscher Soldaten bei Kriegseinsät- häufi g eingesetztes Mittel. »Bitte nachmachen« (S. 157) konnte man an ren und 500 Verurteilungen ergeben das gewünschte historische Nar- zen die deutsche Diplomatie zu einem Werben um einen restriktiven einem Wiener Schaufenster lesen, nachdem der jüdische Besitzer sich rativ der DDR. Steinke nennt als machtpolitische Interessen hieran: Normwortlaut führte. und seine Familie im Zuge der Gewaltexzesse nach dem »Anschluss« ihre Delegitimation (Klaus Kinkel) als krimineller »Unrechtsstaat« Steinke gelingt nicht nur ein informativer Blick auf deutsche getötet hatte; nur ein perfi des Beispiel von vielen. und »zweite deutsche Diktatur« und die Legitimation der bloßen Außenpolitik. Er beleuchtet auch die klandestinen Funktionen des Es ist evident, dass die Zäsuren der NS-Verfolgungspolitik direkten Ronen Steinke Integration ihres Territoriums in die alte Bundesrepublik. ICC und der mit ihm durchsetzbaren machtpolitischen Interessen, Einfl uss auf Selbstmorde hatten. So löste die verstörende Wirklichkeit The Politics of International Criminal Diesem Wandel entspricht die Anfang der neunziger Jahre nun die – mit anderem – auch Zweifel an seiner Legitimität schüren. Ak- der Deportationen eine Welle von Suiziden aus, bis 1943 sahen circa Justice. German Perspectives from auch international erhobene Forderung des vereinigten Deutschlands tuelle Kritik an dessen selektiver Arbeit (»Müllhalde« [Anja Mihr] 4.000 deutsche Juden darin den letzten Ausweg. Im Wissen um das Nuremberg to The Hague nach Strafverfolgung mit Blick auf den jugoslawischen und den für afrikanische Diktatoren) und Gründe dafür werden einerseits Kommende war dies ein Akt der Selbstbehauptung; die Selbstbestim- Oxford: Hart Publishing, 2012, 150 S., ruandischen Bürgerkrieg und den irakischen Überfall auf Kuwait. benannt. Andererseits lässt Steinke kaum Zweifel daran, dass die mung über ihr Leben, ihren Körper und ihren Tod. Gerade hier, indem ca. € 55,– Obgleich ohne direkten Einfl uss auf den Sicherheitsrat, der über die Entwicklung des Völkerstrafrechts zu begrüßen ist. Die Antwort Goeschel dies verdeutlicht und NS-Verfolgten, die sich das Leben nah- Einrichtung der Ad-hoc-Tribunale zu Jugoslawien (ICTY) und Ruan- auf die Legitimationsprobleme des längst auch im deutschen Recht men, eine Stimme gibt, liegt das Verdienst des Buches. Demgegenüber Wir haben dem Juristen und Journalisten da (ICTR) und ihre Tätigkeit bestimmt, engagiert sich Deutschland verankerten Völkerstrafrechts (VStGB) ist aber, das macht auch sanken in Zeiten deutscher Siege die Selbstmordraten signifi kant, bis Ronen Steinke für ein spannendes Buch zu personell und fi nanziell für den ICTY. Das machtpolitische Interesse Steinkes Analyse deutlich, nur mit seiner institutionellen und mate- sie mit den Wendepunkten des Kriegsverlaufs und den verstärkten danken. Theoretisch dicht geschrieben, dabei klar strukturiert, lässt hieran: Die frühzeitig erfolgte deutsche Anerkennung Kroatiens riellen Ausweitung zu geben, nicht mit seiner Abschaffung. Schaffen Leiden des Bombenkrieges wieder zunahmen. Der Zusammenbruch des sich seine These kurz umreißen: Das offi zielle Deutschland wandelt soll mithilfe des Narrativs vom alleinig serbischen Unrecht ex post wir zwei, drei, viele ICC! »Dritten Reiches« kulminierte in einer regelrechten Selbstmordepide- seine Haltung zum Völkerstrafrecht innerhalb des 20. Jahrhunderts legitimiert werden. Mangels entsprechender Interessen im Ruanda- mie. Allerdings deutet Goeschel diese extern zugefügten Anomien der mehrfach. Ein Wandel, der sich aus der Perspektive machtpolitischer Konfl ikt bleibt die deutsche Unterstützung für den ICTR dagegen Vasco Reuss NS-Ordnung in irritierender und inkonsequenter Weise. In Verbindung Theorie mit einem Wandel nationaler Interessen erklären lässt. Auch schwach. Frankfurt am Main mit einer zu starken Gewichtung der Auswirkungen des ohne Frage for- wenn Deutschland bei den Verhandlungen über einen ständigen Den letzten bemerkenswerten Wandel Deutschlands, das sich nun cierten Terrors des NS-Regimes gegen das Innere und den Widerstand Internationalen Strafgerichtshof (ICC) 1998 in Rom eine ideali- vollends vom historischen Objekt zum Subjekt des Völkerstrafrechts kommt er zu dem Schluss, »daß die derzeit herrschende Meinung der stisch erscheinende liberale Position vertrat, die es gemeinsam mit verändert, zeigt Steinke dann in der Diskussion um das Verhältnis des Regimetreue und Kollaboration der Deutschen einer Revision bedarf« kleineren und mittleren Staaten gegen den Widerstand der ständigen ICC zum UN-Sicherheitsrat auf. In diesem zugleich längsten Kapitel, (S. 214). Eine legitime und gegebenenfalls auch fruchtbare Kritik, wenn Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (P 5) durchsetzen konnte, benennt das wegen der Fülle des verarbeiteten diplomatischen Materials einen man sich denn differenziert mit den aktuellen Volksgemeinschaftskon- Steinke machtpolitische Interessen, die diese Haltung motivierten: fesselnden Einblick in die Strukturen internationaler Beziehungen Johanna Haarer / Gertrud Haarer Johanna Haarer / Gertrud Haarer 2 zepten der Forschung auseinandersetzen will, was Goeschel jedoch Der ICC ist eine Instanz, die mit Blick auf die »historische Wahrheit« und in Diskussionen innerhalb der deutschen Regierung gewährt, Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind nicht tut. Dass man die Integration und Inklusion der NS-Gesellschaft gesellschaftlicher Großkonfl ikte und ihrer inkriminierten staatlichen schildert Steinke deren Rolle bei der Entstehung des ICC. Deutsch- Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind Die Autobiografien der erfolgreichsten NS-Erziehungsexpertin Die Autobiografien der erfolgreichsten NS-Erziehungsexpertin oder die Mitverantwortung an der Verfolgungspraxis und den Mas- Beteiligung »Narrative« erzeugt. Deren normativer Gehalt hat Ein- land, zuvor noch klar für die Kontrolle der Ad-hoc-Tribunale durch und ihrer jüngsten Tochter und ihrer jüngsten Tochter. Herausgegeben und eingeleitet von senverbrechen, kurz, den Untergang des Projektes NS und damit den fl uss auf die Legitimität auch gegenwärtiger politischer Ordnungen, den Sicherheitsrat optierend, wirbt nun für die – ebenfalls analysierte Rose Ahlheim.

Herausgegeben und eingeleitet Verlust der Sinnhaftigkeit eines Lebens nach Hitler wenigstens auch weshalb staatliche Akteure ein Interesse daran haben, auf die Erzäh- – demokratietheoretisch problematische Unabhängigkeit des ICC und von Rose Ahlheim ISBN 978-3-930345-95-3, 424 Seiten, geb., mit Abb. u. Dokumenten, 29,80 Euro, 37,50 sFr in Betracht ziehen müsste, gerade um die Selbstmordwelle von 1945 lungen Einfl uss zu nehmen. seines Anklägers. Die Hoffnung auf eine weltweit gleiche, das heißt zu ergründen, sieht der Autor nicht so. Somit bleibt ein bitterer Beige- Steinkes politikwissenschaftliche Studie beginnt mit einem ohne Ansehen des Staates erfolgende Anwendung des Völkerstraf- Klaus Ahlheim, Matthias Heyl (Hrsg.) schmack beim Lesen der ansonsten höchst instruktiven Studie, die, um Blick auf die (west-)deutsche Nachkriegsposition in Rechtslehre rechts ist der liberale, von NGOs mit Lobbyarbeit aktiv unterstützte Adorno Klaus Ahlheim / Matthias Heyl (Hg.) revisited Adorno revisited einen weiteren Kritikpunkt anzuführen, teilweise zu viel präsentieren und -praxis gegenüber den Prinzipien von Nürnberg. Hier herrscht Geist dieser Position. Auch hier bewirken machtpolitische Interessen Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute will. Zwar liefert Goeschel eine kaleidoskopartige Bearbeitung des mit Ausnahme der Thesen Gustav Radbruchs und der späteren Po- die Abkehr Deutschlands von seinen NATO-Partnern mit: Mit An- ISBN 978-3-930345-89-2, Sujets, teils aber mit der Folge, dass wichtige Themenfelder wie Selbst- sition Hans-Heinrich Jeschecks eine eisig ablehnende Haltung vor. bindung des ICC an die Versammlung der Vertragsstaaten gewinnen Mit Beiträgen von 160 Seiten, 13,80 Euro, 20,70 sFr Klaus Ahlheim, Rose Ahlheim, Matthias Heyl, Wolfgang Kraushaar und Astrid Messerschmidt morde in den NS-Lagern oder von Zwangsarbeitern nur unzulänglich Basierend auf einem rigorosen Rechtspositivismus, der sich, von diese gegenüber den P 5 relativ an Gewicht. Deutschland, bislang Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft Band 3 angerissen bzw. Geschehnisse wie kollektive Massenselbstmorde nur Steinke anschaulich belegt, als deutscher »Sonderweg« bis 1989 ohne jeden Einfl uss, ist seit den Verhandlungen (1996–1998) über Rolf Pohl / Joachim Perels (Hg.) unkommentiert angeführt werden; weniger ist manchmal mehr. hält, lehnen Rechtslehre und -praxis das in Nürnberg begründete das Statut des ICC führender Teil eines multilateralen Netzwerkes, Normalität der NS-Täter? Völkerstrafrecht wegen des Verstoßes gegen das nullum-crimen- das über das »one country, one vote«-Prinzip auch absolut an Ein- Eine kritische Auseinandersetzung Stefan Lochner Prinzip als »Siegerjustiz« ab: Die dort erzeugten Narrative entwür- fl uss gewinnt. Dies, so Steinke, führte dazu, dass seit Errichtung des ISBN 978-3-930345-71-7, Weimar digten das Bild Deutschlands. Ein erster Wandel geht dem voraus. ICC im Jahr 2002 kaum eine Personalentscheidung mehr ohne die 179 Seiten, 14,80 Euro, 22,20 sFr Dieselben Gelehrten, die nach 1945 auf einen rigiden Positivismus Beteiligung Deutschlands getroffen wurde. zum Schutz der NS-Täter pochen, haben das NS-Strafrecht zuvor Das von Steinke überzeugend und gleichsam desillusionierend noch von solchen Grenzen dezidiert losgelöst. herausgearbeitete Überlappen liberaler Ideale von machtpolitischen 2 Vgl. z. B. Ian Kershaw, »›Volksgemeinschaft‹. Potential und Grenzen eines neuen For- Die positivistische Haltung verkehrt sich abrupt in ihr Gegenteil, Interessen wird von ihm auch um nichtliberale Momente ergänzt. schungskonzepts«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 59 (2011) H. 1, S. 1–17; Bödekerstraße 75 • 30161 Hannover Tel. 0511 – 807 61 94 • Fax 0511 – 62 47 30 Michael Wildt, »›Volksgemeinschaft‹. Eine Antwort auf Ian Kershaw«, in: Zeithistori- als Bürgerrechtler 1989 auf Ahndung des DDR-Unrechts dringen. Wo entsprechende Interessen vorherrschen, wirkt deutsche Diplo- [email protected] • www.offizin-verlag.de sche Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, Jg. 8 (2011) H. 1. Gegen vereinzelte Bedenken (etwa Günther Jakobs) übernehmen nun matie auch konservativ, etwa bei der normativen Bestimmung der

82 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 83 Jüdische DPs im »Land der Täter« internationalen und jüdischen Hilfsorganisationen. Da die Anzahl Leben für die Aufklärung Halbmayr kenntnisreich und einfühlsam dar. Gleichfalls vernachlässigt derjenigen, die in Zeilsheim Aufnahme fanden, innerhalb kürzester die Autorin nicht, dass Langbein in seiner Frau Loisi eine Gefährtin Zeit auf über 3.000 Personen stieg, war die DP-Selbstverwaltung hatte, die das schwierige und entbehrungsreiche Leben mit ihrem Mann

vor große logistische Herausforderungen gestellt. Zu diesen zählten tatkräftig teilte und ihm eine überlebensnotwendige Stütze war. jedoch nicht nur die Versorgung mit Lebensmitteln und Medizin, die Langbein hat Dachau und Auschwitz als vergleichsweise pri- Jim G. Tobias Brigitte Halbmayr Schaffung ausreichender Wohnverhältnisse und die Herstellung von vilegierter Funktionshäftling überleben können. Das war kein Ver- Zeilsheim. Eine jüdische Stadt in Zeitlebens konsequent. Hermann Langbein Sicherheit und Ordnung. Tobias belegt, dass von Anfang an auch dienst, sondern Zufall und Glück und dem Überlebenden zugleich Frankfurt 1912–1995. Eine politische Biografi e die Förderung religiösen und kulturellen Lebens sowie der Aufbau Verpfl ichtung. Als Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess geladen, Nürnberg: ANTOGO Verlag, 2011, 141 S., Mit einem Vorwort von Erika Thurner von Bildungseinrichtungen zu den vordringlichsten Aufgaben der hat Langbein am Ende seiner Vernehmung dem Schwurgericht und inkl. DVD mit Zeitzeugen-Interviews, und Anton Pelinka. jüdischen Überlebenden gehörten, über die nicht zuletzt die jiddische der Öffentlichkeit gegenüber die politisch-moralische Maxime sei- € 16,50 Wien: Verlag Braumüller, 2012, 352 S., Zeitung Undzer Mut ausführlich berichtete. Neben einer Synagoge nes Lebens nach Auschwitz zum Ausdruck gebracht. Der sogar von Abb., € 24,90 und einer Jeschiwa verfügte Zeilsheim bereits seit Herbst 1945 über vormaligen KZ-Kameraden als »Berufsauschwitzer« diffamierte Wenig bekannt ist bis heute, dass sich nach eine Volksschule, einen Kindergarten, eine Bibliothek, zwei Sport- Langbein erklärte zu seiner überragenden Tätigkeit bei der Vor- den grauenvollen Erfahrungen der Shoah vereine, ein Theater und ein Orchester. Zu seinem 100. Geburtstag hat Hermann Langbein ein würdiges bereitung des Prozesses (Zeugen- und Dokumentensuche): »Ich vorübergehend bis zu 200.000 Juden in den alliierten Besatzungs- Von Tobias zutage beförderte Quellen belegen ferner, dass Ju- Geschenk erhalten: eine politische Biografi e. Die Wiener Sozial- tat das deswegen, weil ich die Verpfl ichtung als Überlebender von zonen aufhielten. Die meisten von ihnen waren Überlebende aus gendlichen und Erwachsenen seit Mitte des Jahres 1946 das reiche wissenschaftlerin Brigitte Halbmayr hat auf Anregung der Gesell- Auschwitz, der gesund geblieben ist, geistig und körperlich, fühle, Konzentrationslagern oder vor neuem Antisemitismus in Osteuropa Weiterbildungsangebot einer ORT-Fachschule im Lager zur Ver- schaft für politische Aufklärung (Wien/Innsbruck) Leben und Wirken alles, was in meiner Kraft steht, zu tun, damit sich ein Auschwitz gefl ohene Juden, die von den westlichen Alliierten als Displaced fügung stand. Die dort belegten Kurse verstanden viele jüdische Langbeins auf überzeugende Weise dargestellt. Auf der Grundlage unter keinem Vorzeichen und in keinem Land wiederholt.«1 Persons (DPs) bezeichnet wurden. Für sie errichteten die westlichen Überlebende als erste Vorbereitung auf einen Neuanfang außerhalb seines umfangreichen Nachlasses und von Interviews, die die Auto- Langbein hat in seinem Heimatland Österreich, in der Bundes- Besatzungsmächte nach der Befreiung vom Nationalsozialismus Europas: Für etwa 90 Prozent der Shoah-Überlebenden entwickelte rin geführt hat, erzählt Halbmayr mit gebotener analytischer Distanz republik, aber auch in Israel und im postkommunistischen Polen viel überall dort vorübergehende Unterkünfte, wo entsprechende Gebäu- sich Palästina zur unauslöschlichen Sehnsucht. ein außerordentliches Menschenleben im Jahrhundert der Barbarei. Anerkennung und Würdigung gefunden. Seine ideologisch verblen- de zur Verfügung standen. Eines der größeren jüdischen DP-Lager in »Der jüdische Neubeginn inmitten der Trümmerlandschaft des Hermann Langbein ist als Schriftsteller international bekannt deten Gegner, die ihn in seiner Existenz beinahe vernichteten, haben der amerikanischen Zone wurde im August 1945 in den ehemaligen besiegten Feindes, der die Endlösung zu seinem Ziel erklärt hatte, ist geworden. Sein Bericht Die Stärkeren (Wien 1949), die zusammen nur in wenigen Fällen Abbitte geleistet. Die Zeit ist gekommen, die Zwangsarbeiter-Baracken der Farbwerke Hoechst in Frankfurt am ohne Vergleich in der Geschichte der nationalen Wiedergeburt eines mit H.G. Adler und Ella Lingens-Reiner herausgegebene Antholo- Geschichte von Häftlingsorganisationen wie zum Beispiel dem Inter- Main eingerichtet: das DP-Lager Zeilsheim. Volkes«, betont Tobias in seinem kurzweiligen Porträt der jüdischen gie Auschwitz. Zeugnisse und Berichte (Frankfurt am Main 1962), nationalen Auschwitz-Komitee zu schreiben, das Anfang der 1960er Während dieses temporäre Zentrum jüdischen Lebens damals Stadt Zeilsheim. In seiner dichten Dokumentation gelingt es ihm, die seine zweibändige Dokumentation über den Frankfurter Auschwitz- Jahre in stalinistischer Manier Langbein aller Funktionen enthoben hat. aufgrund seiner Nähe zum Frankfurter Flughafen und dem amerika- Besonderheiten dieses Kapitels der deutsch-jüdischen Nachkriegs- Prozess (bereits 1965 kurz nach dem Verfahrensende erschienen) Kein Auschwitz-Überlebender hat wie Langbein durch Leben und Werk nischen Hauptquartier in dieser Stadt vielen ausländischen Besuchern geschichte am Beispiel eines wichtigen Zentrums jüdischen Lebens sowie seine Studien Menschen in Auschwitz (Wien 1972) und zur umfassenden und wirkmächtigen Aufklärung über das Konzentra- ein Begriff war und sogar von der ehemaligen US-amerikanischen First detailliert nachzuzeichnen. Vier Kompaktinterviews mit ehemaligen … nicht wie die Schafe zur Schlachtbank. Widerstand in den natio- tions- und Vernichtungslager Auschwitz beigetragen, kaum einer stand Lady Eleanor Roosevelt und dem späteren israelischen Ministerprä- »Zeilsheimern«, Batia Kaminer, Arno Lustiger, Rosa Orlean und nalsozialistischen Konzentrationslagern 1938–1945 (Frankfurt am Wissenschaftlern, Journalisten, Multiplikatoren, Studenten und Schü- sidenten David Ben Gurion besucht wurde, ist die Geschichte dieser Rafael Zur, die der Publikation als DVD beigegeben sind, ergänzen Main 1980) – um nur seine wichtigsten Bücher zu nennen – weisen lern so uneigennützig und hilfreich zur Seite. Der im Österreichischen nahezu autonomen jüdischen Enklave heute weitestgehend unbekannt. die historische Darstellung um die subjektive Perspektive auf die Langbein als einen Autor aus, dem Objektivität und Sachlichkeit, Staatsarchiv (Wien) liegende Nachlass Langbeins ist eine Fundgrube für Das Forschungsdefi zit nahm der Historiker Jim G. Tobias zum nicht immer einfache Zeit im Camp. besser: dem die historische Wahrheit über alles ging. die historische Forschung. Brigitte Halbmayr hat mit ihrer politischen Anlass, dieses Kapitel der Frankfurter Stadtgeschichte im Auftrag Tobias verweilt jedoch nicht beim Exemplarischen. Mit erzähleri- Langbeins Weg vom Schauspieler zum widerständigen Kom- Biografi e einen gelungenen Anfang gemacht. Weitere Arbeiten wer- des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte schem Geschick verknüpft er die spezifi schen Charakteristika des DP- munisten, vom Spanienkämpfer zum Gefangenen in französischen den folgen. Wer – wie Langbein in den Worten seiner Biografi n – den des 20. Jahrhunderts e.V. und des Fritz Bauer Instituts in den Blick Alltags in Zeilsheim gewinnbringend mit den großen Entwicklungsli- Internierungslagern, vom Häftling in Dachau, Auschwitz und Neuen- Glauben an »die Macht der Vernunft, den Geist der Aufklärung und zu nehmen, und legt nun eine reich bebilderte Studie über den fa- nien jener Zeit. So beleuchtet er nicht nur die Geschichte der Juden in gamme zum kommunistischen Funktionär im Nachkriegsösterreich, insgesamt wohl auch an das Gute im Menschen« (S. 241) trotz aller cettenreichen Alltag der Sheerit Haplejta, des »geretteten Rests«, im Frankfurt vor 1945 und Probleme wie Schwarzmarkt und Antisemi- vom einfl ussreichen Generalsekretär des Internationalen Auschwitz- gegenläufi gen Ereignisse und Erfahrungen nicht verloren hat, der wird DP-Lager Zeilsheim vor. Auf Grundlage umfangreicher Unterlagen tismus während der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern diskutiert Komitees (1954–1960) zum mittellosen, aus der KPÖ ausgestoßenen sich seinerseits Hermann Langbein verpfl ichtet fühlen und bestrebt sein, der jüdischen Selbstverwaltung, der jiddischen DP-Presse und der politische Entscheidungen der Alliierten und deren Auswirkungen für Renegaten, vom unermüdlichen Aufklärer über die NS-Verbrechen seine so erfolgreich vollbrachte Arbeit aufzunehmen und fortzusetzen. Dokumentation der Hilfsorganisationen gelingt es dem Verfasser, die Zukunftsgestaltung jüdischer Überlebender. Mit seinem jüngsten zum weltweit geschätzten Auschwitz-Historiker schildert Halbmayr in die Pluralität jüdischer Lebenswirklichkeit und die Wiedergeburt Werk vermittelt Tobias somit nicht nur einen tiefen Einblick in die ihrem Buch anschaulich und quellendicht. Kein Hang zur Hagiografi e, Werner Renz des osteuropäischen Judentums während der rund dreijährigen Exis- Geschichte des Lagers Zeilsheim, sondern zeichnet ein Panorama keine Neigung zur Glorifi zierung des großen Mannes, der Langbein Fritz Bauer Institut tenz des Lagers im Frankfurter Westen dem Vergessen zu entreißen der schwierigen Situation jüdischer DPs im Nachkriegsdeutschland fraglos war, stört ihre Erzählung. Langbeins vielschichtiges Leben in und für die Leser lebendig werden zu lassen. Die Wahl des ersten – ein bemerkenswerter Beitrag zur Förderung des Verständnisses für all seinen Facetten kommt zur Sprache. Nicht nur den Antifaschisten Lagerkomitees weist Tobias bereits für die Zeit kurz nach Bezug ein lange unbeachtetes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. und Widerstandskämpfer, den Streiter für Gerechtigkeit (NS-Prozesse) der ersten Unterkünfte in Zeilsheim im August 1945 nach. Dieses und Opferentschädigung (Wiedergutmachungsverfahren), nicht nur 1 Der Auschwitz-Prozeß. Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente. DVD- ROM. Hrsg. vom Fritz Bauer Institut und dem Staatlichen Museum Auschwitz- Gremium vertrat die Interessen der anfänglich etwa 300 Bewoh- Andrea Sinn den Chronisten, Aufklärer und Lehrmeister, auch den Privatmenschen Birkenau. Berlin: Directmedia Publishing GmbH, 2004 (Digitale Bibliothek, ner und koordinierte ihre Betreuung in enger Zusammenarbeit mit München Hermann Langbein, den Ehemann, den Vater zweier Kinder stellt Bd. 101); 2., durchges. u. verb. Aufl ., Berlin 2005; 3. Aufl ., Berlin 2007, S. 5545.

84 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 85 Gedächtnis der Nation – ein neues die Zeitleisten; allerdings sind deren Unterteilungen unverständlich, ja militärischen Vorrücken und Zurückweichen der Wehrmacht und Seit den 1980er Jahren sind zahlreiche Zeitzeugen-Interviewpro- Zeitzeugenportal präsentiert sich geradezu ahistorisch. Die letzte übergeordnete Rubrik des Portals Jahr- dem soldatischen Alltagsleben. Nicht thematisiert werden das von jekte, vorwiegend mit thematischen und/oder regionalen Bezügen, nach hundertzeugen mit 41 Prominenteninterviews wählt, wer sich mit den Deutschen verursachte Leid der Zivilbevölkerung, die massenhafte den Methoden der Oral History durchgeführt worden. Viele dieser Erzählungen von Personen des öffentlichen Lebens beschäftigen will. Ermordung der Juden im Rücken der Front oder die systematische Sammlungen stehen mittlerweile als digitale Archive im Netz. In den Ist man zum Bestand des Portals vorgedrungen, so eröffnet sich Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener. Man mag einwenden, letzten zehn Jahren wurde an Universitäten und in einschlägigen Insti- eine beeindruckende Fülle videographierter Interviews. Der zeitli- dass dieser Mann nicht alles bezeugen kann. Aber warum stellt man tutionen intensiv an einer sinnvollen Strukturierung und Architektur für www.gedaechtnis-der-nation.de che Rahmen der hier versammelten Erinnerungsgeneration beginnt ihm nicht weitere Zeitzeugen zur Seite, um auf diese Weise ein viel- diese Webarchive geforscht und gearbeitet, was mit einer zeit- und kos- Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und endet mit der Fuß- schichtiges Bild des deutschen Angriffs zu zeichnen? tenaufwendigen Aufbereitung und Erschließung der Interviews ebenso Nation e.V., c/o ZDF, 55100 Mainz. Red.: ballweltmeisterschaft der Männer im Jahre 2006. Die interviewten Eine weitere elementare didaktische Kategorie kommt in diesem einhergeht wie mit der Bereitstellung ergänzender Materialien. Die Jörg von Bilavsky, Simone Gebel, Arnold Personen werden namentlich und bezogen auf den Zeitabschnitt, zu Portal deutlich zu kurz: die historische Kontextualisierung, die für das Erarbeitung von Bildungskonzepten bzw. einer »Didaktik der münd- Gralinski, Sonja Lüning, Oliver Roscher dem sie sprechen, vorgestellt, wie »damals Schüler, damals HJ, da- Arbeiten mit Ego-Quellen, ja bei der Personalisierung geschichtlicher lichen Überlieferung« (Henke-Bockschatz) sind ein ebenso wichtiger mals SED-Funktionär, damals als Jude verfolgt«. Mit biographischen Ereignisse generell unverzichtbar ist. So fehlen in zwei von drei Ru- Bestandteil dieser Entwicklung, die gerade im Zuge der Digitalisierung, »Gedächtnis der Nation« ist eine Online-Datenbank für Zeitzeugen- Informationen sind ausschließlich Experteninterviews – vor allem briken historische Einführungsfi lme. Die Einteilung der Zeitleisten also dem verbreiterten Zugang zu diesen erfahrungsgeschichtlichen interviews zur deutschen Geschichte. Träger des Projektes sind der Historiker – und die Prominenteninterviews versehen. Die Videoin- ist ahistorisch, da sie zeitgeschichtliche Bezüge wie die Einteilung Quellen, noch einmal mehr an Bedeutung gewinnt. All diese Erkennt- öffentlich-rechtliche Fernsehsender ZDF und die Illustrierte Stern, terviews in den Rubriken Ereignisse und Themen haben in der Regel in Phasen oder einschneidende weltgeschichtliche Ereignisse nicht nisse scheinen an den Baumeistern des neuen Portals »Gedächtnis der die zusammen den gemeinnützigen Verein »Unsere Geschichte. Das eine Länge von wenigen Minuten (0:30 bis 4:00 Min.), sodass sich markiert. Ebenso fehlen biographische Eckdaten der Interviewpartner Nation« seltsam vorbeigegangen zu sein, obwohl sie von namhaften Gedächtnis der Nation« gegründet haben. Vorsitzende des Vereins die Erzählungen der einzelnen Zeitzeugen zerstückelt in einem oder beispielsweise in Form einer Kurzbiographie. Im Bereich »Lernen« Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern begleitet und von schil- sind der ZDF-Historiker Guido Knopp und der Chefredakteur des verschiedenen Themenblöcken und Rubriken wiederfi nden. Nur den wurden den Unterrichtsanweisungen keine weiteren Begleitmateri- lernden Unternehmen unterstützt werden. Für die Zukunft ist dem Portal Stern, Hans-Ulrich Jörges. Gefördert wird das Webportal von Gruner Jahrhundertzeugen werden Interviewpassagen von bis zu einer Stunde alien zum historischen Kontext zur Seite gestellt. Das heißt, sowohl daher der Einstieg in einen fachlichen Austausch zu wünschen. + Jahr, der Robert Bosch Stiftung, Google, Bertelsmann und Daimler. gewährt, wodurch die Nutzer/-innen überhaupt erst in der Lage sind, in der Grundstruktur des Portals als auch in der Rubrik, die dezidiert Der Verein verfolgt mit seinem Webportal das Ziel, »Erinnerung für eine Vorstellung von der Person und ihrer Erzählung zu erhalten. als digitale Lernumgebung ausgewiesen ist, wird der historische wie Dagi Knellessen, Markus Nesselrodt die Zukunft [zu] bewahren« (ZDF-History vom 16.10.2011), um Die Strukturierung der Website ebenso wie die Zerstückelung der biographische Kontext außer Acht gelassen. Berlin »Erfahrungswerte für künftige Generationen« (Trailer des Projektes) der überwiegenden Mehrheit der Interviews lässt leicht auf den weiterzugeben. Christian Wulff – damals noch Bundespräsident – er- fernsehjournalistischen Hintergrund der Initiatoren schließen, die klärt im Eröffnungstrailer, dass das Projekt von nationalem Rang sei, Zeitzeugeninterviews in Form von knappen, kurzen Statements ver- insbesondere für Schulen und Universitäten sehr wertvoll. Die Initia- wenden, um entweder die Aussage der jeweiligen Filmautoren via toren streichen also den Bildungsauftrag des Portals explizit heraus. der Macht des Zeitzeugen zu illustrieren bzw. zu untermauern oder Fritz Bauer Institut Dem Portal stehen Tausende Zeitzeugeninterviews aus dem Archiv um sie als Stichwortgeber zur fi lmischen Überleitung einzusetzen. des ZDF zur Verfügung, die sukzessive der Öffentlichkeit zugänglich Für solch funktionale Aufgaben sind die 3-Minuten-Clips des Portals Geschichte und gemacht werden sollen. Diesem »stillen Schatz« (Guido Knopp) wer- hervorragend geeignet. Als digitale Quellen, die im Rahmen der his- Wirkung des Holocaust den kontinuierlich neu geführte Interviews zur Seite gestellt. Dazu torisch-politischen Bildungsarbeit einen erfahrungsgeschichtlichen fährt ein »Bus der Erinnerung« durch Deutschland, in dem Gesprä- Zugang zur Geschichte eröffnen sollen, eignen sie sich jedoch nicht. che mit Menschen aufgezeichnet werden, die ihre Geschichte für be- Was den selbst formulierten Bildungsanspruch des Webportals Hier könnte Ihre richtenswert erachten. Auch diese Interviews gehen in den Bestand insgesamt anbelangt, so kann dieser bislang nur recht reduziert ein- des öffentlich zugänglichen Webportals ein bzw. sind auf dem eigens gelöst werden. In der Rubrik »Lernen« fi nden sich vier Themenvor- Anzeige stehen! eingerichteten YouTube-Kanal zu sehen. Besucht man das Webpor- schläge für den Unterricht, die in Zusammenarbeit mit dem Verband tal und klickt auf Zeitzeugenportal, so hat man die Wahl zwischen der Geschichtslehrer Deutschlands erarbeitet wurden. Die Themen Anzeigenformate und Preise* drei Möglichkeiten der Navigation. Eine Suche kann über Ereignisse, lauten: Angriff auf die Sowjetunion, Währungsreform, die Ära Ho- Umschlagseite U 4 230 x 295 mm + Beschnitt € 950,– Themen und Jahrhundertzeugen erfolgen. Unter Ereignisse fi nden necker und Opposition in der DDR. Am Beispiel der Unterrichtsan- Umschlagseite U 2 / U 3 230 x 295 mm + Beschnitt € 850,– sich auf einer in Dekaden eingeteilten Zeitleiste thematische Blöcke, weisung für die Arbeit mit dem Interview zum deutschen Angriff auf Ganzseitige Anzeige 230 x 295 mm + Beschnitt € 680,– die fl ankierend zu den Interviewpassagen historische Einführungen die Sowjetunion wird ein grundlegendes Problem des Projektes »Ge- (zwischen 3–4 Min.) bereitstellen. Bevorzugt man die Suche nach dächtnis der Nation« deutlich, nämlich dass eine wichtige Kategorie 1/2-seitige Anzeige vertikal 93 x 217 mm € 380,– konkreten Themen, so stehen hier zur Auswahl: Zwei Staaten – eine des historischen Lernens, die Multiperspektivität, vollkommen igno- 1/2-seitige Anzeige horizontal 192 x 105,5 mm € 380,– Geschichte, der Holocaust sowie Europa und die Welt. Während der riert wird. Die Schüler/-innen erhalten hier den Auftrag, sich sechs In- 1/3-seitige Anzeige vertikal 60 x 217 mm € 300,– Themenbereich zur deutsch-deutschen Verständigung nochmals in terviewausschnitte anzusehen, anschließend Fragen zu beantworten, 1/4-seitige Anzeige vertikal 93 x 105,5 mm € 250,– sechs Unterthemen aufgeteilt ist (Jugend, Sport, Wirtschaft, Kultur, um dann mit den Mitschüler/-innen über das Gesehene zu diskutieren. Aufl age: 5.500 Exemplare *zuzügl. gesetzl. MwSt. soziale Bewegung, Grenzerfahrungen), fi ndet sich unter Der Holocaust In den sechs Interviewpassagen kommt nur eine Stimme zu Wort, sowie Europa und die Welt weder eine thematische Gliederung noch nämlich die eines deutschen Landsers, der über seine Erfahrungen im Kontakt: Dorothee Becker, Tel.: 069.798 322-40, [email protected] eine historische Einführung. Orientierung bieten hier ausschließlich Krieg mit der Sowjetunion erzählt. Der Schwerpunkt liegt auf dem

86 Rezensionen Einsicht 08 Herbst 2012 87 Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main

Filme den digitalen Archiven, mit den Filmen, die Das PZ stellt vor: aus den Interviews entstanden sind, eröffnet völlig andere Chancen und stellt die päda- gogische Praxis vor andere Anforderungen, Von Frankfurt nach Tel Aviv als es die persönliche Begegnung mit Über- lebenden der Lager oder anderen Zeugen Die für das 20. Jahrhundert der Epoche des Nationalsozialismus taten. nicht ungewöhnliche Le- Das Forschungs- und Dokumentations- bensgeschichte einer jüdischen Frankfurte- projekt »Zwangsarbeit 1939–1945. Erinne- rin erzählt der kleine Film VON FRANKFURT rungen und Geschichte«, das vom Institut für NACH TEL AVIV. DIE GESCHICHTE VON ERNA Geschichte und Biographie unter der Leitung GOLDMANN. Er wurde in Zusammenarbeit mit von Alexander von Plato an der FernUniver- dem Pädagogischen Zentrum von »Centropa sität Hagen durchgeführt wurde, erbrachte – Jüdische Zeugen eines europäischen Jahr- eine Sammlung von 583 Interviews. Der An- hunderts« produziert und soll vor allem für spruch, die im Rahmen des Projektes erstell- Pädagogisches Zentrum Annäherung an alle genannten Themen, und pädagogische Zwecke verwendet werden. ten Zeitzeugen-Interviews nicht nur für die Angebote und Kontakt dieser eingeschränkte Blick verzerrt auch Erna Goldmann, geb. Guggenheim, wur- Zwecke der Forschung, sondern für Bildungs- die Wahrnehmung der Vergangenheit. Das de 1917 in eine bürgerliche jüdische Frankfur- zwecke zur Verfügung zu stellen, bestand seit PZ hat die Aufgabe, diese Themen vonei- ter Familie geboren, wuchs in der Nähe des Beginn der Arbeit an diesem Großprojekt. Die Das Pädagogische Zentrum nander abzugrenzen und so zu helfen, sie Eschenheimer Turms auf. Als Kind ging sie Interviews sind heute an der Freien Univer- Frankfurt am Main (PZ) ist genauer kennenzulernen. in die religiös ausgerichtete jüdische Samson- Familie Goldmann bei einem Ausfl ug in Israel, 1959 Foto: Centropa sität Berlin archiviert und werden dort vom eine gemeinsame Einrichtung des Fritz Das PZ unterstützt Schulen bei der Raphael-Hirsch-Schule am Zoo. Die antise- Center für Digitale Systeme betreut. Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Beschäftigung mit jüdischer Geschichte mitische Verfolgung in der NS-Zeit erlebte sie Die Bildungsmaterialien sind bereits Frankfurt. und Gegenwart sowie bei der Annäherung als Jugendliche. Sie emigrierte als junge Frau 2010 als DVD veröffentlicht worden. Inzwi- Das PZ verbindet zwei Themenfelder: an die Geschichte und Nachgeschichte des nach Palästina, wo sie eine neue Heimat fand. Zeitzeugen-Videos Zwangsarbeit 1939–1945 schen kann aus der Erfahrung mit ihrer Nut- jüdische Geschichte und Gegenwart sowie Holocaust. Hierzu bietet es Lehrerfortbil- Der Film blickt zurück auf die lange Erinnerungen und zung gesagt werden, dass dies eine für den Geschichte und Nachgeschichte des Holo- dungen und Lehrveranstaltungen an der Geschichte der Juden in Frankfurt am Main. In den 1990er Jahren produ- pädagogischen Alltag wegweisende Form der caust. Sein zentrales Anliegen ist es, Juden Goethe-Universität Frankfurt, Workshops Erna Goldmann erzählt von ihrer Jugend in zierte das Fritz Bauer Institut Geschichte Bereitstellung von Zeitzeugen-Interviews ist. und jüdisches Leben nicht ausschließlich und Studientage an Schulen und für Institu- den 20er Jahren und den Umbrüchen, die zusammen mit der Landesbildstelle Hessen Die vier exemplarischen Zeitzeugen werden unter dem Gesichtspunkt der Verfolgung tionen der Jugend- und Erwachsenenbildung der Nationalsozialismus für sie bewirkte. und dem Hessischen Institut für Lehrerfort- Ein Workshop in jeweils 25 Minuten langen Porträts vorge- und des Antisemitismus zu betrachten. Ein sowie themenbezogene Führungen, Vorträ- Die Erfahrung des Antisemitismus und der bildung Interviews mit ehemaligen Frank- stellt. Diese Kurzfi lme eignen sich sowohl gemeinsames pädagogisches Zentrum für ge, Unterrichtsmaterialien und Beratung an. Ausgrenzung gehört zu ihrem Leben, genau furter Juden und anderen Zeitzeugen der Mittwoch, 30. Januar 2013, 14.30–18.00 Uhr, für die Verwendung in größeren Gruppen jüdische Geschichte und Gegenwart auf der Begleitend zu den aktuellen Ausstellungen wie die zionistische Jugendbewegung und NS-Zeit. Heute sind diese Filme, trotz ihrer Goethe-Universität Frankfurt, Campus Westend, als auch für die schulische Gruppenarbeit. einen und Geschichte und Nachgeschichte des Jüdischen Museums Frankfurt gibt es ihre Begeisterung für die Aufbauzeit im neu oft technisch eher dilettantischen Machart, IG Farben-Haus, Grüneburgplatz 1 Sie sind auf der Arbeitsebene der Lernsoft- des Holocaust auf der anderen Seite bietet Fortbildungen mit Perspektiven für den gegründeten Israel. Im hohen Alter besuch- wichtige Dokumente. Sie bieten neben der ware durch strukturierte Arbeitsvorschläge die Chance, folgende Themen differenziert Unterricht. te Erna Goldmann ihre frühere Heimatstadt biografi schen Erzählung auch Einblick in die Ende Januar 2013 bietet das erschlossen, die jeweils mit Transkripten des zu bearbeiten: noch einmal – aber sie fühlte sich fremd. So Schwierigkeit der Kommunikation zwischen Pädagogische Zentrum die Interviews, Quellenmaterial und Karten ver- › Deutsch-jüdische Geschichte im europä- Kontakt gibt das Filmporträt Anlass, sich mit aktuel- Deutschen und ehemals Verfolgten. Diese Möglichkeit, die Lernsoftware »Zwangsar- sehen wurden. Diese Materialien lassen sich ischen Kontext Pädagogisches Zentrum FFM len Fragen zu beschäftigen: Was ist Heimat, Dokumente wurden vom Medienzentrum beit 1939–1945. Erinnerungen und Geschich- ebenso leicht exportieren wie die Arbeitser- › Jüdische Gegenwart – Religion und Kultur Seckbächer Gasse 14 was ist uns wichtig, wie leben Minderheiten Frankfurt digitalisiert und stehen auf dem heu- te« in einem Workshop kennenzulernen, den gebnisse, die von den Nutzern jeweils sowohl 60311 Frankfurt am Main › Holocaust – Geschichte und Nachge- Tel.: 069.212 742 37 und Mehrheit heute in Frankfurt zusammen? tigen Stand der Technik zur Verfügung. Die Dr. Cord Pagenstecher (Freie Universität auf dem PC als auch auf einem USB-Stick schichte [email protected] Eine großzügige Unterstützung des De- Zusammenarbeit wird fortgeführt, um neue Berlin) – einer ihrer Autoren – leiten wird. oder im Druck gesichert werden können. › Antisemitismus und Rassismus www.pz-ffm.de zernats für Bildung machte es möglich, dass Zeitzeugen-Porträts zugänglich zu machen. Die Frage, wie pädagogische Annähe- Mit diesem technisch-methodischen der Film nun zusammen mit Unterrichts- Eine Liste der verfügbaren Zeitzeugen- rung an die lebensgeschichtliche Perspekti- Werkzeug kann die komplexe Thematik der Die deutsch-jüdische und europäisch-jüdi- vorschlägen und Materialien allen Schulen Videos fi ndet sich auf Website des Fritz ve auf die Geschichte des Holocaust und des unterschiedlichen Erfahrungen der Zwangs- sche Geschichte wird meist vom Verbre- in Frankfurt zur Verfügung gestellt werden Bauer Instituts: www.fritz-bauer-institut.de/ Zweiten Weltkrieges durch die Verwendung arbeiter erschlossen werden. Die genaue Be- chen des Holocaust aus betrachtet, das ist kann. Der Film kann auch über die Website video-interviews.html. Bestellungen können von Zeitzeugen-Interviews aussehen kann, schäftigung mit den Einzelschicksalen, de- gerade in Deutschland nicht anders denk- des PZ zusammen mit dem Unterrichtsma- an das Medienzentrum Frankfurt gerichtet wird oft von der Klage über den »Verlust ren Unterschiedlichkeit bereits an den sehr bar. Die Dominanz des Holocaust prägt die terial bestellt werden. werden: www.medienzentrum-frankfurt.de der Zeitzeugen« überlagert. Die Arbeit mit anschaulichen biografi schen Karten leicht

88 Pädagogisches Zentrum Einsicht 08 Herbst 2012 89 Nachrichten und Berichte Information und Kommunikation

erkennbar wird, öffnet Zugänge zu weiterge- fahrbar und anschaulich zu machen, bieten nichtjüdischen Bewohner berichten über ihre Bremen, um in Frankfurt bei Adorno zu henden Fragestellungen. Diese können die wir Schulklassen regelmäßig Gespräche mit Einberufung zur Wehrmacht und ihre Gefan- studieren. Auch wollte ich unbedingt in den Dilemmata der Zwangsarbeiter in ihrer je Zeitzeugen in der Budge-Stiftung an. Dafür gennahme durch die Alliierten oder über ihre SDS eintreten. Adorno hatte ein Freisemester spezifi schen Situation im Krieg betreffen, wurde ein ganz spezielles Format entwickelt: persönlichen Wahrnehmungen der Juden- – so lernte ich noch im November Horkhei- sie können aber auch die außerordentlich Die Gruppe nimmt zuerst mit den Zeitzeugen verfolgungen unter den Nationalsozialisten. mer, Krahl und Ronny kennen, Menschen, unterschiedlichen Formen des Umgangs der am koscheren Mittagessen teil, was das erste Ihnen allen gemeinsam ist die bewusste Ent- die für mein weiteres Leben zentral wurden. deutschen Arbeiter mit den Zwangsarbei- Kennenlernen erleichtert. Schon dabei wer- scheidung für einen Umzug in eine christlich- Ronny ist mein bester Freund geworden. Er tern am Arbeitsplatz oder im Lager betref- den Fragen zu den jüdischen Speisegesetzen jüdische Einrichtung, um den Dialog mit dem half mir, die provisorische Couch bei mei- fen. Schließlich ist die grundsätzliche Kon- gestellt und diskutiert. Danach gehen alle in jeweils anderen zu suchen. nem Onkel Helmut in der Liebigstraße zu zeption des Dokumentationsprojektes, die die Synagoge, wo Rabbiner Andrew Steiman Die Gespräche sind auch für die Zeitzeu- verlassen und ins Studentenheim am Beet- Nachkriegsgeschichte der Zwangsarbeiter Grundlagen der jüdischen Religion erläutert gen sehr wichtig, denn das ihrem Schicksal hovenplatz einzuziehen. Ich hatte Ronny in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Kon- und Stiftungsgeschäftsführer Heinz Rauber entgegengebrachte Interesse hilft ihnen bei erzählt, das Leben in der Wohnung meines texten ebenso zu berücksichtigen wie ihr über die Geschichte der christlich-jüdischen der Verarbeitung ihrer leidvollen Erlebnisse. Onkels sei mir unerträglich geworden, weil Kampf um Entschädigung, unter der päda- Einrichtung und das Zusammenleben im All- Die Gespräche sind somit keine Reise in die er immer SDS und SS verwechselte. gogischen Perspektive besonders fruchtbar. tag informiert. Vergangenheit, sondern Dialoge zwischen Der SDS war im Winter 1966 noch eine Kernthemen der politischen Bildung werden Anschließend gibt es Gespräche in Klein- verschiedenen Generationen. Auch wenn Aus dem Institut Svendborger Gedichte. Das jeder kennt, der kleine Organisation, von der der damals noch berührt: Gerechtigkeit, Strafe für Unrecht, gruppen mit jeweils einem oder zwei Zeit- das Alter manche der Senioren gebrechlich Brecht gelesen hat. Ich hatte es schon als unbekannte Hans-Jürgen Krahl behauptete, Anerkennung der individuellen Lebensent- zeugen. Die unterschiedlichen Erfahrungen wirken lässt, so hinterlässt ihr ungebrochener Der Nachgeborene Schüler auswendig gelernt; durch Ronny sie bestünde aus 200 Karteileichen und 20 scheidungen, Verantwortung für ökonomi- und Erlebnisse dieser Menschen machen die Lebensmut doch einen tiefen Eindruck bei Zum Tod von Ronny Loewy lernte ich Menschen kennen, deren wir nach aktiven Genossen. Krahl suchte dringend sche Prozesse, die Unterscheidung zwischen Begegnungen zum lebendigen und anschauli- den jungen Leuten. Sie empfi nden großen Brecht »mit Nachsicht« gedenken sollten. junge Leute, die eine antiautoritäre Revolte menschlichen und politischen Beziehungen. chen Geschichtsunterricht, wie er aus Büchern Respekt für die Menschen, denen sie im Ge- 10.4.1946, Tel Aviv – 9.8.2012, Frankfurt am Main Doch das Gedicht, das Ernst Loewy anzetteln sollten, mit der es Rudi Dutschke Der Workshop am 30. Januar 2013 wird in der Schule nicht möglich ist. Einige der spräch begegnet sind. Wie nachhaltig diese seinen Söhnen mit auf den Lebensweg gab, im Berliner SDS schon gelungen war, das neben der Einführung in die Nutzung der Zeitzeugen waren in Konzentrationslagern, Gespräche bei den Schülerinnen und Schü- Für Gisela stammt schon aus dem Jahre 1920. Die Heft des Handelns in die Hand zu bekom- DVD, die mit dem dazugehörigen Lehrerheft manche sind rechtzeitig nach Palästina, Nord- lern wirken, zeigt deren starkes Interesse an Urkatastrophe des short century, der Erste men. Krahl war aus der Gruppe der peers der bei der Bundeszentrale für politische Bildung und Südamerika gefl ohen und erst vor einigen einem Praktikum oder einem Freiwilligen Ich gestehe es: ich Weltkrieg, war bereits geschehen, die »letz- intelligenteste Mensch, dem ich je begegnet erhältlich ist, auch über die Erfahrung mit Jahren nach Deutschland zurückgekehrt. Die Jahr in der Budge-Stiftung. Habe keine Hoffnung ten Tage der Menschheit« angebrochen, die bin. Der weise, alte Horkheimer hat um die Workshops im Archiv informieren, die noch Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich Russische Revolution noch nicht als Ausweg besonderen Fähigkeiten dieses Adornoschü- stärker auf eine handlungsorientierte Nut- Sehe. proklamiert. Der junge Brecht fühlte sich sel- lers gewusst. Nach dessen plötzlichem Un- zung der ungeschnittenen Interviews setzen, ber schon als ein Nachgeborener; deswegen falltod 1970 hat Horkheimer in einem ein- Wenn die Irrtümer verbraucht sind als dies in der publizierten Form möglich ist. konnte er uns die Erfahrung vermitteln, uns fühlsamen Brief an Hans-Jürgens Eltern zum Sitzt als letzter Gesellschafter – denen die noch kommenden »fi nsteren Zei- Ausdruck gebracht, welch noch unentfalte- Uns das Nichts gegenüber. Anmeldung ten« erspart geblieben waren. Mir kommt es tes Potential in diesem 27-Jährigen steckte. Gottfried Kößler Bertolt Brecht, heute so vor, als habe Brecht dieses Gedicht Hans-Jürgen schleppte uns in ein Proseminar, Pädagogisches Zentrum [email protected] »Der Nachgeborene« (1920) für Ronny geschrieben; denn Ronny lebte das Karl Heinz Haag mit Horkheimer veran- www.zwangsarbeit-archiv.de in einem unaufdringlichen Bewusstsein als staltete. Obwohl er schon längst Doktorand Dieses wunderbare, kaum »Nachgeborener«. Als ich Ronny das letzte von Adorno war, scheute sich Krahl nicht, bekannte Gedicht Brechts, Mal, zwei Tage vor seinem Fall in die Be- vor uns Erstsemestern mit den Koryphäen »Der Nachgeborene« betitelt, verschick- wusstlosigkeit, in die Augen sah, kam es mir auf dem Podium zu diskutieren. Wir lasen Lebendige Geschichte te Ronny zweimal – nach dem Tod seines vor, als habe er dem »letzten Gesellschafter« die Phänomenologie des Geistes und wurden Zeitzeugengespräche in Vaters und dem der Mutter. Sein jüngster schon gegenüber gesessen. Ich kehrte zu To- zum hardcore der »Krahl-Fraktion«, die den Bruder Hanno hat mir auf Ronnys Beerdi- de erschrocken nach Hause zurück und such- Frankfurter SDS in Richtung Aktion drängte. der Budge-Stiftung gungsfeier im Jüdischen Museum erzählt, te Gedichte, Band 2, den ich 1965 gekauft Der Frankfurter SDS war eine bunte der Vater habe es auch ihm eines Tages kom- und als Teil eines kostbaren Schatzes 1966 Mischung; denjenigen, die aus Frankfurt ka- Ein wichtiger Teil der päd- mentarlos anvertraut. Hanno kannte es aus- mit nach Frankfurt gebracht hatte. men wie Ronny, waren die Leute vertraut, agogischen Arbeit im PZ ist wendig. In diesen Zeilen scheint die Erfah- Ronny habe ich am Anfang des Win- die Jürgen Seifert, der Schwiegersohn von es, Schülern und Schülerinnen jüdische Ge- rung der Exilgeneration zu stecken. Das gilt tersemesters 1966 im Walter-Kolb-Heim, Alexander Mitscherlich, später die 58er zu genwart zu vermitteln, die naturgemäß eng ganz sicher für das auf der Flucht vor den Beethovenplatz 4, kennengelernt. Nach dem nennen pfl egte. Der Bruch mit der Sozialde- mit den Folgen und Wirkungen des Holocaust Nazis entstandene Gedicht »An die Nach- Kurzschuljahr, das uns ein vorzeitiges Abitur mokratie, die nach dem Mauerbau 1961 die verknüpft ist. Um solche Zugänge für alle er- Die Jugendlichen erfahren erlebte Geschichte und die Senioren Interesse an ihrem Leben. Foto: Rafael Herlich geborenen« aus der berühmten Sammlung im Herbst erlaubte, verließ ich fl uchtartig Studentenvereinigung SDS ausgeschlossen

90 Pädagogisches Zentrum Einsicht 08 Herbst 2012 91 hatte, brachte eine neue Generation von So- epochemachende Studie, die der Authorita- So entstand auch das Studentenhaus in der zialisten hervor, die weder Sozialdemokraten rian Personality vorausging. Die Aufl ösung Jügelstraße, in dem nicht nur das Studenten- noch Kommunisten waren. In der SPD schien der traditionellen bürgerlichen Familie lag parlament tagte und der überregional gele- kein Platz mehr für sie; die KPD war ein im sichtbar vor Augen; die antiautoritäre Protest- sene Diskus gemacht wurde, sondern auch Westen illegaler Wurmfortsatz der SED-Dik- bewegung, die 1967 entstand, wurde prompt das Studententheater und das anspruchsvolle tatur. Wir verstanden uns als »New Left«, die als Generationenkonfl ikt interpretiert. Als ei- Filmstudio ihren Platz hatten. Am Beetho- mit diesen traditionellen Parteien nichts am ne Rebellion gegen die Blutsbande wurde sie venplatz 4 stellte der Frankfurter SDS als Hut hatte. Die wesentlichen Impulse zur Ak- gefeiert oder als Missachtung der Tradition Folge demokratischer Selbstverwaltung, die tion kamen aus den USA. Austauschstudenten gegeißelt. Aber die Loewys, allen voran Vater auch über die Aufnahme neuer Bewohner ent- lieferten Berichte, wie mit Teach ins, Go ins Ernst und sein ältester Sohn Ronny, gaben der schied, den Löwenanteil der Bewohner. Frei- etc. der Vietnamkrieg aufgehalten und Bür- Familie einen anderen Sinn, der die Exiler- tagabends fanden die wöchentlichen SDS- gerrechte für alle durchgesetzt werden sollten. fahrung verarbeitete. Die Familie war in den Mitgliederversammlungen in der meist von »Never trust a trustee over 30« schien politischen Strudeln der ersten Jahrhundert- Remigranten gestifteten kostbaren Bibliothek eine einleuchtende Parole, besonders in einem hälfte der einzig verlässliche Zusammenhang statt. Anschließend wurden im legendären Land mit nationalsozialistischer Vergangen- geworden, in dem Solidarität erlernt werden Kolbkeller bei viel billigem Alkohol, einer heit. Für Ronny galt diese unbedachte Polit- konnte. Solidarität aber, das hat unser Lehrer Unmenge schwarzer Zigaretten und ohren- weisheit nicht und für mich bald auch nicht Max Horkheimer immer wieder betont, beruht betäubender Popmusik neue Freundschaften mehr, nachdem Ronny mich im Dezember auf gemeinsamer Erkenntnis. Der Zusammen- und Liebschaften angebahnt. 1966 zu seinen Eltern eingeladen hatte. Ron- halt solidarischer Menschen ist, anders als bei Am Beethovenplatz 4 wurden wir Teil ei- ny wollte mich unbedingt seinem Vater Ernst naturwüchsigen Gemeinschaften wie der tra- ner peer group, die »Krahl-Fraktion« genannt vorstellen. Als ich in die bescheidene Woh- ditionellen Familie, brüchig. Die gemeinsame wurde. Für viele uns Nachgeborenen unver- nung in der Nordweststadt eintrat, spielte un- Solidarität stiftende Einsicht gilt nur für die ständlich sollte der Gruppenzusammenhang ter einem schon geschmückten Tannenbaum Gegenwart, nicht generationenübergreifend. durch gemeinsame theoretische Einsichten ein Knabe von fünf Jahren mit Bauklötzen. Der nachgeborene Ronny hat das nicht nur gestärkt werden; der Impetus kam zweifellos »Das ist mein Bruder Hanno«, erklärte mir gelernt, sondern sein Leben lang praktiziert. von Krahl, der uns die Lektüre von Georg Ronny, während sein Vater mit einem auf- Ronny schuf sich eine Umgebung, in Lukácsʼ Geschichte und Klassenbewusstsein Ronny Loewy, geschlagenen Buch im Sessel saß. »Das ist der er seine Erfahrung, die Teil einer das aufzwang – ein Buch, das Kracauer einst im April 2011 in ja wie bei Thomas Mann«, sagte ich spontan Individuum übergreifenden Familienerfah- mit seinen jungen Freunden Löwenthal und Frankfurt am Main zu dieser Familienidylle. Ich wusste noch gar rung war, teilen konnte. Die ungewöhnliche Wiesengrund las, als sie im gleichen Alter Foto: Werner Lott nicht, dass der Rundfunkarchivar Ernst sei- Einladung an den gerade in Frankfurt An- waren wie wir. Aber das wussten wir damals ne freie Zeit dazu benutzte, Thomas Manns gekommenen, seine Familie zu besuchen, noch nicht. Unsere kleinen Privatbibliothe- aufgezeichnete Rundfunkansprachen zu sam- entsprach Ronnys Strategie freundschaftli- ken füllten wir auf, wenn »der Marburger« hatte das schmerzhaft bei der Aufl ösung des Verworfene verwirft.« Wir wussten damals Samstag um 10.00 Uhr besuchten wir nach meln und herauszugeben. Ernst war mit der cher Selbstverständlichkeit. Wir haben lan- mit seinem Koffer voller Raubdrucke kam. »portativen Vaterlands« seines Vaters erfah- noch nicht, dass in der Generation unserer durchzechten Kolbheimnächten gut vorberei- Jugendaliyah nach Palästina gekommen und ge zusammen gewohnt, in Frankfurt und in Weder Lukács noch Horkheimer wollten ren müssen. Diese Sammlungen spiegeln philosophischen Lehrer die Entdeckung des tet das Habermas-Seminar, in dem Habermasʼ hatte dort in einer Gruppe um Arnold Zweig Hannover. Im Walter-Kolb-Studentenheim damals, dass ihre frühen Schriften aus den den »Zeitgeist« eher wider als die selbstdar- jungen Marx Ende der zwanziger Jahre ihren neueste theoretischen Ansätze öffentlich dis- intellektuelles Asyl gefunden. Wenn Ernst aus am Beethovenplatz 4 bewohnten wir den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren stellerische Betroffenheitshistoriographie in revolutionären Enthusiasmus befl ügelt hat- kutiert wurden. Hier lernten wir auch seinen dem palästinensischen Exil erzählte, tat sich 7. Flur, der mit dem weiblich bewohnten neu aufgelegt würden. Der Erwerb von Ge- eigener Sache. Als ob er diesen kommenden te, der grausam durch Nationalsozialismus damaligen Assistenten Oskar Negt schätzen, für das Bremer Bürgerkind eine andere Welt 8. Flur eine Gemeinschaftsküche teilen muss- schichte und Klassenbewusstsein und auch Literaturtypus »Was wir waren, was wir woll- und Stalinismus konterkariert wurde. Was der wirklich um das bessere Argument rang. auf. Davon hatte es noch nichts gehört. te. Diese konfl iktheischenden Lebensformen, der Dialektik der Aufklärung hatte den Hauch ten« antizipiert hätte, begann Ronny schon die Krahlfraktion aber auszeichnete und von Ab Sommer 1967 wurde das Negt-Seminar Paradox: Ronny, man mag so etwas das habe ich erst viel später gelernt, waren von etwas Verbotenem; die bloß gelumbeck- 1967, unauffällig Dokumente der Protestbe- vielen Gruppierungen späterer Jahre unter- zu unserem philosophischen Hauptquartier. kaum noch öffentlich sagen, war der gebo- Teil von Reformkonzepten, die dem Leben ten und daher bald zerfl edderten Bände mit wegung und besonders unserer Frankfurter schied, war die konstitutive Funktion einer Irgendwie sprach sich das herum. Aus den rene Sozialist. Ronny war es durch die Fa- der Studenten einen alltäglichen demokrati- ihren roten und blassblauen Rücken hatten SDS-Aktivitäten zu sammeln – Material, mit emanzipatorischen Theorie für das Selbst- ursprünglich 20 aktiven Teilnehmern wurden milie geworden, die sich um seine Freunde schen Charakter geben sollten. Besonders der Ehrenplätze in unseren Jahrzehnte später be- dem neue Nachgeborene arbeiten können. bewusstsein der Akteure. Die altbekannte im Laufe des Jahres über 200, die neben allen und neuen Genossen erweiterte, die sich Remigrant Max Horkheimer, der prägender achtlichen Büchersammlungen. Wir haben in Wir anderen lebten in einer rastlosen Maxime aus dem Jahre 1844 lautete: »Ihr Demonstrationen und Protesten über Recht 1966 im ersten Semester Soziologie trafen. Rektor in der Frankfurter Nachkriegsuniversi- den letzten Jahren darüber gesprochen, dass Gegenwart. Ohne die geschichtliche Dif- könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne und Gewalt etwas hören wollten. Die Loewys praktizierten auch später noch tät geworden war, wollte die studentische Le- kein Geld mehr für »Gelehrtenbibliotheken« ferenz zu sehen, erkannten wir uns in den sie zu verwirklichen.« Deswegen musste man In dieser Welt einer der emanzipatori- einen generationenübergreifenden Verband, bensweise ihres reaktionären männerbündi- ausgegeben wird, aber diese gedruckten kul- Worten des vormärzlichen Marx wieder: die Philosophie kennen. Trotz rastloser Ak- schen Theorie verpfl ichteten peer group ist der dem Außenstehenden utopisch schien. Im schen Charakters entkleiden und förderte die turellen Gedächtnisse zu wertvoll sind, um »Es ist das Selbstgefühl des neuen Lebens, tivitäten ließen wir keine Adorno-Vorlesung Ronny politisch sozialisiert worden; er hat Studium lasen wir Autorität und Familie, eine Selbstverwaltung studentischer Institutionen. in alle Winde zerstreut zu werden. Ronny welches das Zertrümmerte zertrümmert, das aus. Trotz ungünstigster Anfangszeiten am ihr zeitlebens implizit die Treue gehalten. Das

92 Nachrichten und Berichte Einsicht 08 Herbst 2012 93 beweisen die Unterschriften unter seiner To- Projekt sein. Wir Frankfurter fühlten uns in Mit Reimut Reiche hatten wir auch oft den Figuren, die diese verkörperten, sie alle ste- unermüdliche Initiative zu verdanken, in desanzeige. Nach dem Zerfall der antiautori- Hannover ein bisschen wie im Exil – umso ehemaligen SDS-Vorsitzenden dabei. Für hen für diesen Traum ein.« Frankfurt das Fritz Bauer Institut zu gründen, tären Protestbewegung einer marxistisch-leni- mehr, je weniger unsere Erwartungen in Er- unser Sportinteresse haben wir uns nie legi- Ronny hatte sein Metier Ende der sieb- dessen Notwendigkeit ein Hilmar Hoffmann Was uns bewegt. nistischen Sekte oder einer spontaneistischen füllung gingen. Auf die Mühen der Ebenen, timiert. Das WM-Halbfi nale Deutschland ge- ziger Jahre gefunden – ein Metier, in dem er schnell erkannte. In diesem institutionellen Gruppierung beizutreten war ihm physisch einem unter staatlicher Kontrolle stehenden gen Italien 1970 war ein einziges politisches ein Meister werden sollte: das Kino. Er sorg- Rahmen, Filmmuseum und Fritz Bauer unmöglich, widersprach seiner intellektu- Ausbildungs- und Lehrbetrieb, waren wir Ereignis. Italien galt damals noch als linkes te nicht nur für erfolgreiche und gute Film- Institut, realisierte Ronny sein wichtigstes ellen Physiognomie. Auf die Irrtümer, von nicht vorbereitet. Wir erlebten zum ersten Traumland, mit dem uns viele Freundschaf- programme in Hannover. Ob Hans-Joachim Projekt, die »Cinematographie des Holo- denen Brecht sprach, schien er besser als fast Mal »Wissenschaft als Beruf« – nicht ein ten und Liebschaften verbanden. Auch spä- Flebbe, der Erfi nder von CinemaxX, Ronny caust« – demokratisch erreichbar für jeder- alle anderen vorbereitet. Vielleicht weil die »Institut freier Forschung«, wie Benjamin im ter in Hannover endete unser langer Marsch fand oder umgekehrt, kann ich ihn nun nicht mann im Internet (www.cine-holocaust.de). Exilerfahrung zu seiner education sentimen- Exil das alte Frankfurter Institut idealisiert durch die Institutionen oft in unserer italieni- mehr fragen. Was ich noch weiß, die besten Während dieser Arbeit entwickelte Ronny tale gehörte, an der er mich großzügig parti- hatte. Jahrelang arbeiteten wir an einer Neu- schen Stammkneipe, bei scheußlichem Bier, Programme waren seine. Aber Ronny suchte Normen, wie man zu archivieren habe. Wenn zipieren ließ. Mehrfach bin ich in kritischen formulierung der »Soziologischen Exkurse«, billigem Wein, begleitet von Tomatensalat, seinen eigenen Weg: Er stöberte Ende der 70er er erfahren hätte, dass das Deutsche Institut Situationen in seiner elterlichen Wohnung mit denen die Remigranten Horkheimer und von Tomaso zubereitet, und leidenschaftlich jiddische Filme auf. Ronny widerlegte prak- für Normung, kurz DIN genannt, Inbegriff in der Nordweststadt gewesen, um neben Adorno der soziologischen Aufklärung im mitgefi eberten Europapokalspielen im TV. tisch das, was oft Jekkes vorgeworfen wird, deutscher bürokratischer Ordnung, zu sei- Ernst Loewy bei Kaffee und Schwarzwäl- nachfaschistischen Westdeutschland auf die Aus dem Traum Sport, dieser Bewe- sie interessierten sich nicht für die osteuropä- nem Tod kondolierte, hätte ihm das ein be- 2012 308 Seiten der Kirschtorte auf Jakob Moneta und Heinz Sprünge helfen wollten. Die Bemerkung am gungsutopie, ließ sich für uns kein realitäts- ische jüdische Kultur. Ronny ließ sich nicht friedigtes Schmunzeln abgenötigt. Das Kino 50 Abb. Brandt zu treffen. Nach ihrer Rückkehr aus Ende des Kulturindustriekapitels aus der Di- tüchtiges Projekt schneidern. Aber es gab beirren, obwohl er gar kein Jiddisch konnte. Er hat in ihm auch international einen Norm € 34,90 ISBN 978-3- dem Exil waren sie in Frankfurter Institutio- alektik der Aufklärung nahmen wir wörtlich. noch eine Ressource des Glücks und gemein- fand alles und er suchte sich Autoren, die dar- setzenden Archivar gefunden. Durch seine 593-39486-2 nen wie hr oder IG Metall untergekommen, »Fortzusetzen« stand da zu lesen. Es gelang samen Erlebens: Kino. Warum auf gute Fil- über schreiben konnten. Seine Broschüre und Gedächtnisarbeit hat Ronny sich institutio- Theodor Herzl, der Begründer des politi- verschwanden nicht im Privatleben, sondern uns nicht. me warten, wenn man das Programm selbst Ausstellung »Das jiddische Kino« (1982), die nalisiert. Diese Werke werden ihn überleben. schen Zionismus, wurde bereits zu Leb- versuchten ihre Erfahrung jungen Menschen In der theoretischen Arbeitsteilung un- machen kann? Der Film hatte in den fünfzi- mithilfe des Goethe-Instituts sprichwörtlich Trotz seiner geringen Körpergröße, ge- zeiten zur Legende. Bis heute ist er eines der wichtigsten Symbole im kollektiven zu vermitteln. Diese familiäre politische serer intellektuellen Hannoverkommune ger Jahren eine Schneise ins bürgerliche Bil- um die Welt ging, muss als Pionierleistung schuldet der frühen Polio-Erkrankung, die ihn Gedächtnis Israels. Andrea Livnat schil- Umgebung, eigentlich eine contradictio in schwankten Ronnys Aufgaben zwischen dungsprivileg geschlagen. In meinem ersten angesehen werden, bevor der jiddische Film am Ende seines Lebens einholte, war Ronny dert die Veränderungen und Umbrüche adiecto, in der offen über die schlimmsten Kulturindustrie und Sport, der in den »So- Semester war Adorno zwar nicht zu hören, zur nostalgischen Mode wurde. Auf dieser nicht zu übersehen – auch nicht im Getüm- im Gedenken an Herzl, in denen sich die Geschichte Israels und seiner Gesellschaft Schrecken des short century gesprochen wur- ziologischen Exkursen« zu kurz gekommen aber zu sehen. Als Ronny und ich Resnaisʼ Reise um die Welt hat Ronny Mittel und Men- mel, auf den Berliner Filmfestspielen, auf der widerspiegelt. de, vermittelte Ronny eine unsentimentale war. Wenn aus den neuen Exkursen schon wunderbaren Film LA GUERRE EST FINIE inspi- schen gefunden, die ihn von Projekt zu Projekt Frankfurter Buchmesse. Bei unserem letzten innere Ruhe, wenn es um Entscheidendes nichts wurde, dann sollte Ronny doch zu- zieren wollten, tippte Ronny mich an der Ki- führten, aber auch in seine Hauptstadt zurück: Treffen, kurz bevor sein Geist in die Bewusst- und wichtige Entscheidungen ging. mindest promovieren. Mit dem programma- nokasse an: »Guck mal, Teddie und Gretel!« Frankfurt. Hilmar Hoffmann hatte schon 1971 losigkeit entschwand, bedauerte Ronny, er ha- Ronny entwickelte eine eigenartige tischen Buch Öffentlichkeit und Erfahrung Das Kino: Es spielte in unserer Gegenwart. dem befürchteten Kinosterben das »Kommu- be leider das Filmfestival in Bologna absagen Ökonomie, mit der er sein Leben lebte. Wie von Negt und Kluge war 1972 eine Unmenge Oui, wir waren die Kinder von Marx und nale Kino« entgegengesetzt, aus dem sich müssen; aber nächste Woche nach Jerusalem der Igel im Märchen war Ronny immer schon von Forschungsfeldern für kritische Theore- Coca-Cola. Aber wir waren auch die Kinder 1984 das Deutsche Filmmuseum entwickelte. wolle er doch unbedingt fahren. Um nicht da. Während wir anderen fast ganz im Hier tiker eröffnet worden. In seinen Sammlungen von Theodor W. Adorno und Fritz Lang. Go- Hier fand Ronny seinen Arbeitsplatz. dem Nichts gegenüberzusitzen, muss man und Jetzt aufgingen, begann Ronny schon hatte Ronny schon einen riesigen Zettelkas- dards LE MEPRIS, mit Fritz Lang auf den Stu- Museum machen, ohne museal zu wer- erinnern, was die Freundschaft nach all den nebenbei zu archivieren, was wir taten. Nach ten über den Radsport angelegt, der den Stoff fen der Villa Curzio Malapartes, haben wir den. »Erinnerung« wurde in den achtziger Jahren ausmachte. Kracauer hat es formuliert: 2011 dem Tod Adornos im Sommer 1969 gelang für seine Dissertation hergeben sollte. Das gemeinsam gefühlte siebzehn Mal gesehen. Jahren zu einem zentralen öffentlichen The- »Gemeinsames Genießen alles dessen, was 199 Seiten € 29,90 es uns nicht, Oskar Negt als seinen Frankfur- Rad spielte in Ronnys Leben eine wichtige Ronny öffnete mir auch später bereitwillig ma, nicht nur in Deutschland, weltweit. Der die Welt bietet, freies, ungehindertes Plau- ISBN 978-3- ter Nachfolger zu installieren. Krahls schnell Rolle, es war Wunschobjekt seiner konkreten seine Karteikästen und Kontakte, die mich mondiale Erfolg der US-amerikanischen dern, Erörterung der typischen Standpunkte, 593-39515-9 darauf folgender Unfalltod im Februar 1970 Utopie. Gern erzählte er, nur weil ihm ein belegen ließen, was niemand sonst beachtet Serie HOLOCAUST 1978 hatte den Anstoß ge- lässiges Sich gehenlassen auch in den klei- Für die politischen und ethischen Probleme, signalisierte das Ende der antiautoritären Rad versprochen worden war, habe er mit der hat, dass Fritz, der badger, Teddies bester geben. Der deutsche Historikerstreit, dieser nen Schwächen, Austausch der Erinnerun- die der medizinische und technologische Fortschritt aufwirft, gibt es keine Patent- Protestbewegung. Was tun? Wir, das heißt, Familie Tel Aviv verlassen; aber das Rad sei Freund im kalifornischen Exil gewesen war. Reparationsversuch des nationalen kollekti- gen bildet ihren Hauptinhalt. Was den Bund rezepte. Andreas Kuhlmann verbindet seine eine größere Gruppe aus dem Frankfurter dann in Deutschland gar nicht dagewesen. Wer den Film liebt, kann Hollywood nicht ven Narzissmus, schien noch einmal die Ver- unzertrennlich macht, ist nicht die Zukunft, Reflexionen über Fortpflanzungsmedizin SDS, folgte Oskar Negts Ruf nach Hannover. Wen die Polio mit vier Jahren in die Eiserne verachten. Für Dan Diners Jüdisches Lexikon gangenheit zu verändern. Konnte man dem sondern die gemeinsame Vergangenheit. Je- und Sterbehilfe mit grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz: Es geht ihm Keineswegs getrieben von Job- und Karrie- Lunge gezwungen hat, dem muss das Fortbe- schrieb Ronny einen seiner schönsten Texte: Geschichtsrevisionismus, der immer nur ein der der Freunde trägt sie als Besitztum im um eine Haltung, die auch den Herausfor- reaussichten wollten wir das fortsetzen, was wegungsmittel Rad noch emanzipatorischer »Hollywood«. Essential: »Der amerikanische Vorbote einer reaktionären Gesellschaftsent- Herzen.« Wo immer auch eine Tasse Kaffee derungen an den Grenzen des Lebens wir schon in Frankfurt begonnen hatten. Es erschienen sein als anderen Kindern. Zuse- Traum, der Traum des Kinos und der jüdische wicklung ist, etwas entgegensetzen? Im Jahr steht, ein Caipirinha oder ein gutes Glas Wein, sensibel gegenübertritt. ging im Kern um die Fortsetzung und Erneu- hen wie andere Radfahren, das machte uns Traum hatten in H. etwas gemeinsam: dass des Historikerstreits präsentierte Ronny die werden seine Freunde ihn so erinnern. erung der Kritischen Theorie auf allen Ge- Spaß. Nach dem 1. Mai auf der Hauptwache aus jedem Menschen ein Amerikaner werden Ausstellung »Von Babelsberg nach Holly- bieten; das konnte im Sinne ihres Begründers zogen wir traditionell, jahrzehntelang, zum kann. Die Filmproduzenten, auch die Stars, wood: Filmemigranten aus Nazideutsch- Detlev Claussen campus.de Max Horkheimer nur ein überindividuelles Klassiker »Rund um den Henninger Turm«. die sie entdeckten sowie förderten, und die land«. Seinem Bruder Hanno Loewy ist die Frankfurt am Main, im August 2012

94 Nachrichten und Berichte Einsicht 08 Herbst 2012 95 Aus dem Institut Seine historischen Publikationen, insbeson- die vielbeachtete Ausstellung »Im Kampf ge- dere Zum Kampf auf Leben und Tod! Das gen Besatzung und ›Endlösung‹. Widerstand Nachruf Buch vom Widerstand der Juden 1933– der Juden in Europa 1939–1945« zeigen, die DER ROMAN ÜBER Prof. Dr. h.c. Arno Lustiger 1945, 1994 erstmals erschienen, und die danach an mehreren Orten in Deutschland DIE FRAUEN UND Veröffentlichung der unzensierten Version präsentiert wurde. Arno Lustiger war inten- MÄNNER DES 7.5.1924, Będzin – 15.5.2012, Frankfurt am Main des Schwarzbuchs zum Mord an den so- siv an der Konzeption dieser Ausstellung wjetischen Juden sind Grundlagenwerke beteiligt und auch Mitherausgeber des Ka- DEUTSCHEN Nur wenige Tage nach sei- geworden. Seine historischen Recherchen taloges. WIDERSTANDS nem Geburtstag starb Arno erarbeitete er aus persönlicher Motivation 1999 ehrte die Stadt Frankfurt Arno Lus- Lustiger am 15. Mai 2012 im Alter von 88 und mit großem Engagement. Seine Werke tiger mit der Verleihung der Goethe-Plakette. Jahren. Er wurde unter sehr großer Anteil- sind dadurch zu einem Teil der politischen 2003 verlieh ihm die Universität Potsdam nahme der Bevölkerung und zahlreicher Kultur der Bundesrepublik geworden. Als die Ehrendoktorwürde für seine Forschungen Freunde und Bekannten auf dem jüdischen streitbarer Diskutant und Publizist war Lus- zum jüdischen Widerstand im nationalsozia- Friedhof in Frankfurt am Main am 18. Mai tiger über viele Jahre hinweg eine wichtige listisch besetzten Europa. 2009 erhielt er für 2012 beigesetzt. Bei der Trauerfeier würdig- und immer präsente Stimme in der Bun- seine Verdienste das Große Bundesverdienst- te der frühere Bundespräsident Horst Köh- desrepublik Deutschland. Dabei zeichnete kreuz. Im Deutschen Bundestag hielt Arno ler die großen Verdienste des Verstorbenen. sich Lustiger durch einen sehr persönlichen Lustiger 2005 eine bewegende Ansprache Wolf Biermann sprach über ihre besondere Blick auf die Dinge aus – und durch seine zum Gedenken an den 60. Jahrestag der Be- Freundschaft. Bewegende Worte fanden Fähigkeit, Konfl ikte auszuhalten und gleich- freiung des Vernichtungslagers Auschwitz- Trude Simonsohn, Salomon Korn und sei- zeitig viele Perspektiven und Haltungen zu Birkenau. Solche öffentliche Anerkennun- ne Tochter Gila Lustiger. Ich selber hatte verstehen. Immer wieder war es auch im gen und Interventionen waren Arno Lustiger die Ehre, im Namen der Stadt Frankfurt am persönlichen Erleben beeindruckend, mit wichtig – da sie auch eine Anerkennung des Main über die Bedeutung Arno Lustigers für welcher Offenheit er nach eigenen Qualen Themas und des Leids bedeuteten, für die unsere Stadt zu sprechen. in verschiedenen Lagern und dem Verlust er stand. Originalausgabe 2.032 S. ¤ 29,90 als erhältlich Auch Geboren wurde Arno Lustiger im Jahre Arno Lustiger im vieler Verwandter im »Land der Täter« lebte Arno Lustiger war auch eine streitbare »Das Manuskript ist atemberaubend. Von 1924 im polnischen Będzin. Nach der Be- November 2007 und sich engagierte – dafür bedurfte es einer Persönlichkeit, die für ihre demokratischen der Roten Kapelle und kommunistischen setzung Polens kämpfte die Familie Lustiger Foto: Sigismund von beeindruckenden Großzügigkeit, die Arno Überzeugungen einstand; so erstattete er bei- Gruppen über die Weiße Rose bis hin Dobschütz (GNU) um ihr Überleben. Noch vor der Ghettoisie- Lustiger zweifelsfrei besaß. spielsweise 2007 Anzeige gegen die Zeit- zum Kreisauer Kreis und dem 20. Juli: rung der Juden von Będzin gelang es Arno Zuletzt legte er ein umfangreiches Buch schrift Vanity Fair, die ein Interview mit dem die Figuren des Widerstands erwachen zu neuem Leben.« Lustiger und seinen Angehörigen, in einem zum Rettungswiderstand in Europa vor. Ich Rechtsextremisten Horst Mahler veröffent- Prof. Dr. Manfred Görtemaker »Bunker« außerhalb des geplanten Ghettos Mitbegründer der Jüdischen Gemeinde in seinen weiter gespannten Interessen gehör- denke sehr gerne daran zurück, wie ich im licht hatte – für Lustiger »ein Skandal«, dem Zufl ucht zu fi nden. Als die Deutschen das Frankfurt am Main, wo er seit 1945 lebte te insbesondere die jüdische Geschichte Gespräch mit ihm dieses Buch im September er mit den Mitteln des Rechtsstaates begeg- Ghetto im August 1943 »aufl östen« und die und als Textilfabrikant ein erfolgreiches Un- Frankfurts stets zu seinen zentralen Anlie- 2011 im Literaturhaus Frankfurt einem gro- nen wollte. 2004 veröffentlichte er seine Insassen ins nahe gelegene Vernichtungsla- ternehmen aufbaute. Arno Lustiger bewegte gen. ßen und interessierten Publikum vorstellen Biographie Sing mit Schmerz und Zorn – ger Auschwitz-Birkenau deportierten, rettete sich sicher in acht Sprachen und arbeitete Seine Karriere als Historiker verband durfte. Im Zentrum des Buches steht dabei Ein Leben für den Widerstand. Bewegend sich die Familie vor dem Zugriff der Mörder, und veröffentlichte in vielen Ländern der Arno Lustiger eng mit dem Fritz Bauer In- der von Lustiger geprägte und in die For- gerade für viele nichtjüdische Deutsche war Die Autorin gewährt Einblick in indem sie Aufnahme in einem Zwangsar- Welt. Er begann sich immer mehr in der stitut. Der Präsident der Goethe-Universität, schung eingeführte Begriff des »Rettungs- seine Fokussierung auf die Handlungsweisen ihre umfangreiche beitslager fand. Arbeit für die Deutschen Stadt Frankfurt am Main heimisch zu füh- Prof. Dr. Rudolf Steinberg, und der Direktor widerstandes«. Arno Lustiger, der selbst sein und Einstellungen von Helfern und Rettern Recherche- und versprach zumindest vorübergehende Si- len – wurde zum Frankfurter. des Fritz Bauer Instituts, Prof. Dr. Micha Leben mutigen Rettern verdankte, schafft verfolgter Juden, sei es im Alltag oder auch Schreibarbeit. Mit Fotos, cherheit. Arno Lustiger überlebte mehrere Nach Familiengründung, vielfältigen Brumlik, ernannten Arno Lustiger in Anwe- darin eine neue Bewertung der Retter, denn beispielsweise in der Wehrmacht. Dokumenten und Lager und wurde im August 1944 in das ehrenamtlichen Tätigkeiten und einem senheit des Hessischen Ministers für Wis- er unterschied nicht zwischen gelungenen, Die Anteilnahme gilt seiner Lebensge- Literaturliste. Originalausgabe 128 Seiten ¤ 5,90 Originalausgabe 128 als erhältlich Auch Auschwitzer Nebenlager Blechhammer erfolgreichen Berufsleben begann er ein senschaft und Kunst, Udo Corts, im Jahre missglückten, großen oder kleinen Wider- fährtin Erika Banse, seinen Töchtern Gila verschleppt. Die Konzentrationslager Groß- zweites Leben und wurde zu einem der 2004 zum Gastprofessor am Fritz Bauer standshandlungen. Die subjektive Erinne- und Rina und seinen Enkeln. Rosen, Buchenwald und Langenstein waren wichtigsten Historiker des jüdischen Wi- Institut. rung, vereint mit dem distanzierten Blick des Das Fritz Bauer Institut wird sein An- die weiteren Stationen seines Leidenswegs. derstands in Europa. Vor allem gelang es Lustigers Publikationen umfassen über Historikers schafft eine neuartige Perspekti- denken in Ehren halten. _ Kurz vor Kriegsende überstand er zwei der ihm, das einseitige Bild von den jüdischen das Thema des Widerstandes hinaus auch ve, gebündelt in dem prägnanten Begriff des berüchtigten Todesmärsche. »Opfern« nachhaltig zu korrigieren und zu Monographien zur jüdischen Beteiligung bei »Rettungswiderstandes«. Stadtrat Prof. Dr. Felix Semmelroth www.wer-wir-sind.de Nach Kriegsende arbeitete er zunächst zeigen, dass Jüdinnen und Juden der Ver- der Verteidigung der spanischen Republik Das Jüdische Museum Frankfurt am Vorsitzender des Stiftungsrates als Dolmetscher für die US-Armee und war folgung aktiv widerstanden haben. Neben sowie zur stalinistischen Judenverfolgung. Main konnte 1995 als Frucht seiner Arbeit des Fritz Bauer Instituts

96 Nachrichten und Berichte Einsicht 08 Herbst 2012 97 Aus dem Institut bin froh, dass sich mit Dr. des. Katharina Journalist für den Rundfunksender Voice of Stengel eine hervorragende Wissenschaftle- America, war Sprecher des von John F. Ken- Robert-Goldmann- rin gefunden hat, die sich diesem zentralen nedy aufgelegten Lateinamerikaprogramms »Peter war wie eine Stipendium 2012 Thema der Auseinandersetzung mit dem »Vision« und ab 1968 Mitarbeiter der Ford Sternschnuppe Auszeichnung für das Nationalsozialismus annehmen wird. Mit Foundation. Dabei widmete er sich insbe- ihrer fundierten und kürzlich an der Uni- sondere sozial- und entwicklungspolitischen in meinem Leben.« Fritz Bauer Institut versität Bochum eingereichten Dissertation Aufgaben in der Dritten Welt und wurde über den Auschwitz-Überlebenden, Histori- ein anerkannter Wegbereiter der deutsch- Angelika Schrobsdorff Zum 13. Mal wurde in ker, Publizisten und Zeugen im Frankfurter jüdischen Verständigung. Goldmann war für diesem Jahr das Robert- Auschwitz-Prozess, Hermann Langbein, hat das American Jewish Committee tätig und Goldmann-Stipendium der Stadt Reinheim sie eine wichtige Arbeit vorgelegt, die sie trat 1980 in den Dienst der Anti-Defamati- vergeben. In Anerkennung seiner For- zu diesem neuen Projekt prädestiniert. […] on League, deren Europa-Büro in Paris er schungsarbeit bekam das Fritz Bauer Institut Soviel ich von der Biographie Robert mehrere Jahre leitete. 1996 veröffentlichte den Preis zuerkannt. Damit wurde erstmals Goldmanns bisher erfahren durfte – und sein er im Fischer Taschenbuch Verlag seine viel eine Institution mit dem jährlich vergebenen autobiographisches Buch in der von Walter beachtete Lebens- und Familiengeschichte: und mit 5.000 Euro dotierten Stipendium Pehle betreuten Schwarzen Reihe sagt ja Flucht in die Welt. Ein Lebensweg nach New ausgezeichnet. sehr viel –, gehörte er zu denjenigen, die York. Noch im Alter von 91 Jahren publiziert Im Juni 1999 hatte die Stadtverordne- als Jugendliche durch die Katastrophe vor Goldmann regelmäßig in amerikanischen tenversammlung der Stadt Reinheim den der Katastrophe quasi noch rechtzeitig ins und deutschen Medien, wie der Internati- Beschluss gefasst, das Robert-Goldmann- Exil gelangten. Trotzdem hat er genug an onal Herald Tribune, dem Deutschlandra- Stipendium auszuloben, um damit Leben Nazismus und an Gleichgültigkeit, selbst dio Kultur, dem Rheinischen Merkur und in und Wirken des Reinheimer Ehrenbürgers Der Reinheimer Ehrenbürger Robert Goldmann (links) im Gespräch mit Raphael Gross Foto: Karl-Heinz Bärtl seiner Klassenkameraden auf dem Schul- der Kolumne »Fremde Federn« der Frank- Robert Goldmann zu würdigen, der sich hof in Frankfurt, erleben müssen, dass es furter Allgemeinen Zeitung. 1996 wurde

stets für den Ausgleich zwischen Deutschen verständlich gewesen wäre oder vielleicht Goldmann mit dem Bundesverdienstkreuz Seiten ¤ 19,90 Originalausgabe 312 als erhältlich Auch und Juden, gegen Antisemitismus und für sogar zu erwarten, dass er die Verbindun- 1. Klasse ausgezeichnet, 1998 erhielt er die Menschenrechte engagiert hat und dies bis »Das Fritz Bauer Institut hat 2002 die Familiengeschichte, das Fernsehinterview gen zu Deutschland und seiner Geburtsstadt Ehrenbürgerwürde der Stadt Reinheim. Am Erstmals in Deutschland veröffentlicht: heute tut. Ausstellung ›Legalisierter Raub. Der Fis- und die Vitrine, die die Geschichte der Ent- Reinheim für immer beendet hätte. Vorabend der Vergabe des nach ihm benann- Die Briefe von Angelika Schrobsdorffs Zur Übergabe des Stipendiums war kus und die Ausplünderung der Juden in eignung der Familie erzählt, wurden auf fast Dass er dennoch sich auf Deutschland ten Stipendiums wurde Robert Goldmann, Bruder Peter Schwiefert an die Robert Goldmann aus New York angereist, Hessen 1933–1945‹ vorbereitet – ein Aus- allen der mittlerweile 17 Ausstellungsstati- wieder einließ, das verbindet ihn mit jeman- in Anerkennung seines publizistischen Wir- gemeinsame Mutter. Ein einzigartiges um dem Direktor des Fritz Bauer Instituts, stellungsprojekt, welches aus einem grö- onen gezeigt. Insofern ist die Verbindung dem wie Fritz Bauer, der zurückkam und kens für die deutsch-amerikanische Verstän- intimes und zeitgeschichtliches Prof. Dr. Raphael Gross, persönlich zu ßeren Forschungsprojekt zur Enteignung des Fritz Bauer Instituts mit Herrn Gold- sich hier engagierte. Das Institut hofft, in digung, in Frankfurt am Main der SSG- Dokument – mit zahlreichen gratulieren. Die Verleihungsfeier fand am der jüdischen Bevölkerung im Nationalso- mann eine längere Geschichte, und umso diesem Sinne sich weiter mit der schwie- Medienpreis der Steuben-Schurz-Gesell- Photographien und Faksimiles. 22. Mai in der neuen Aula der Dr.-Kurt- zialismus hervorging. Damals entstand ein mehr freuen wir uns über diesen Preis. […] rigen Geschichte Deutschlands auseinan- schaft e.V. verliehen. Schumacher-Schule in Reinheim statt. Sie persönlicher Kontakt zu Robert Goldmann. Die Rolle, die ehemalige NS-Verfolgte in derzusetzen. Wir danken Herrn Goldmann wurde von Bürgermeister Karl Hartmann Er stand für Gespräche zur Verfügung, gab späteren Prozessen als Zeugen spielten, ist und der Stadt Reinheim für ihre großzügige Kontakt moderiert. Grüße der städtischen Gremien dem Hessischen Rundfunk, der zum The- bis heute niemals systematisch untersucht Unterstützung unserer Arbeit.« Stadtverwaltung Reinheim überbrachte Stadtverordnetenvorsteher Ha- ma der Ausstellung einen Dokumentarfi lm worden. Jeder von ihnen verband mit der Cestasplatz 1 64354 Reinheim rald Heiligenthal, Schulleiter Gerhard Cwie- drehte, ein längeres Interview und stellte der Rolle als Zeuge verschiedene Hoffnungen: Robert B. Goldmann wurde am 1. Mai Tel.: 06162.805-0, Fax: -65 long schloss sich mit seinem Grußwort an. Ausstellung einige Exponate aus der ärzt- auf Bestrafung, auf Gerechtigkeit, auf den 1921 als Sohn eines Landarztes jüdischen [email protected] Den musikalischen Rahmen besorgten der lichen Praxiseinrichtung seines Vaters zur Sieg des Kommunismus, auf die Bekämp- Glaubens in Reinheim im Odenwald gebo- www.reinheim.de/Robert-Goldmann- Schulchor und die Lehrer-Band der Dr.- Verfügung, die dieser bei der Flucht über fung des Faschismus, des Nazismus oder ren. Ab 1934 lebte die Familie in Frankfurt Stipendium.1235.0.html Kurt-Schumacher-Schule. England nach Amerika hatte retten können. natürlich auch der Aufklärung darüber, was am Main. 1939 legte Robert Goldmann In seiner Dankesrede berichtete Insti- Über diese Leihgaben waren wir besonders in den Lagern an unendlichem Leid Men- seine Abiturprüfung am Frankfurter Jüdi- tutsleiter Raphael Gross darüber, wie Ro- froh, da es bei einer Ausstellung zum Thema schen Menschen angetan hatten. Und dass schen Gymnasium »Philanthropin« ab. Kurz bert Goldmann mit dem Fritz Bauer Institut Raub und Enteignung natürlich per se sehr dies niemals wieder geschehen sollte. darauf emigrierte seine Familie über Groß- _ in Kontakt gekommen war, und gab einen schwierig ist, aussagekräftige Gegenstände Mit dem Goldmann-Stipendium wird britannien in die USA, wo sie sich 1940 in Ausblick auf die geplante Verwendung des zu fi nden. Die Geschichte der Familie Gold- das Institut ein Forschungsprojekt begin- New York niederließ. Goldmann studierte www.dtv.de Preisgeldes für ein neues Forschungsvor- mann ist seit nunmehr zehn Jahren ein wich- nen zu den Zeugen in den Prozessen gegen unter anderem an der Columbia University haben: tiger Teil der Wanderausstellung. Tafeln zur NS-Verbrecher in der Nachkriegszeit. Ich in New York. Er arbeitete mehrere Jahre als

98 Nachrichten und Berichte Einsicht 08 Herbst 2012 99 Aus dem Institut Nationalsozialismus und danach dem deut- Aus dem Institut Aus Kultur und Wissenschaft schen Publikum, insbesondere den nach- Buber-Rosenzweig- wachsenden Generationen, erzählerisch Aufruf Berlin in Tel Aviv Medaille 2013 nahezubringen. Mit ihren Übersetzungen Leihgaben für Ausstellung Eine Wohnungsaufl ösung Auszeichnung für das aus dem Hebräischen, Jiddischen und Nie- zu Fritz Bauer gesucht entwickelt sich zum Krimi derländischen sei es ihr zudem gelungen, Fritz Bauer Institut Fremdheiten abzubauen und ein differen- und Mirjam Pressler ziertes, vielschichtiges Bild der israelischen Das Fritz Bauer Institut plant DIE WOHNUNG/HA-DIRA Gesellschaft in der Folge des Holocaust zu in Verbindung mit dem Jü- Ein Film von Arnon Goldfi nger Das Fritz Bauer Institut und vermitteln. dischen Museum Frankfurt am Main eine die Schriftstellerin Mirjam Beide Preisträger verkörperten ganz im Sin- Ausstellung zu Leben und Werk von Fritz Eine Wohnung in Tel Aviv, Pressler erhalten die Buber-Rosenzweig- ne von Martin Buber und Franz Rosenzweig Bauer. Die von Dr. Monika Boll kuratierte ein Stück Berlin mitten in Is- Medaille 2013. Dies gab der Vorstand des auf vorbildhafte Weise den Geist dessen, Ausstellung widmet sich den verschiedenen rael. 70 Jahre lang hat Gerda Tuchler hier mit Deutschen Koordinierungsrates der Gesell- was mit dem Jahresthema der Gesellschaf- Facetten einer überaus komplexen Persön- Ehemann Kurt gelebt, nachdem sie vor dem schaften für Christlich-Jüdische Zusammen- ten für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit lichkeit. Sie stellt den Juristen vor, der die Holocaust aus Deutschland fl iehen mussten. arbeit während seiner Mitgliederversamm- im Jahr 2013 zum Ausdruck gebracht wer- Auschwitz-Prozesse auf den Weg brachte, Die Wohnung ist voller Erinnerungsstücke lung am 16. Juni in Bonn bekannt. den soll: Sachor (Gedenke): Der Zukunft und den Strafrechtsreformer, der Resoziali- – weggeworfen haben sie nichts. Als Gerda Das Fritz Bauer Institut habe als Stu- ein Gedächtnis. sierung an die Stelle von Vergeltung setzte. Tuchler mit 98 Jahren stirbt, trifft sich die dien- und Dokumentationszentrum zur Der Deutsche Koordinierungsrat ver- Sie würdigt den jüdischen Remigranten, den Familie zur Wohnungsaufl ösung. Inmitten

Geschichte und Wirkung des Holocaust tritt als bundesweiter Dachverband die 84 Sozialdemokraten, den Humanisten und den unzähliger Briefe, Fotos und Dokumente Erinnerungsstücke, oben: Gerda und Kurt Tuchler in Deutschland, 60er Jahre. Foto: Goldfi nger/Tuchler Familienarchiv konstruktive Anregungen zur Entwicklung Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zu- Publizisten Fritz Bauer. Und sie widmet sich werden Spuren einer unbekannten Vergan- eines kritischen Geschichtsbewusstseins in sammenarbeit in Deutschland auf nationa- dem Kunstkenner, in dessen Dienstzimmer genheit entdeckt: Die jüdischen Großeltern die deutsche Gesellschaft hineingetragen, ler und internationaler Ebene. Er ist größtes »es nichts gab bis zum kleinsten Gegenstand waren eng befreundet mit der Familie des heißt es in der Begründung. In der Auseinan- Einzelmitglied im Internationalen Rat der hin, der nicht mit wirklicher Kultur ausge- SS-Offi ziers Leopold von Mildenstein. Der Regisseur Arnon Goldfi nger boykottierte ich als israelischer Jugendlicher dersetzung mit Geschichte und Erinnerung, Christen und Juden (ICCJ), in dem 32 nati- sucht war« (Johannes Strelitz, Hessischer Filmemacher und Enkel Arnon Gold- über seinen Film DIE WOHNUNG deutsche Produkte, andererseits wartete ich die das Institut mit interdisziplinären For- onale Vereinigungen für Christlich-Jüdische Justizminister 1967–69). Fritz Bauer war fi nger nimmt zusammen mit seiner Mutter als Enkel der Tuchler auf die deutsche Scho- schungsprojekten, pädagogischen Model- Zusammenarbeit vertreten sind. Seit 1968 neben anderem auch ein versierter Ästhet, den Kampf auf: mit Wut und Mut gegen die Die Wohnung Ihrer Großeltern war für Sie kolade und Marzipan. len und in der Begleitung von Kommunen verleiht er die Buber-Rosenzweig-Medaille der sich für die Architektur des Bauhauses Kisten, den Staub, die Antiquitätenhändler, als Kind eine Art »Klein-Berlin« in Tel Aviv, Während der Wohnungsaufl ösung blät- und Unternehmen bei deren eigener Erin- in Erinnerung an die jüdischen Philosophen begeisterte und seine eigenen Möbel mit die Familie, die Vergangenheit und die Ge- wie Sie im Film beschreiben. Wie war das tert Ihre Mutter Channa in alten Zeitungen nerungsarbeit leiste, wirke die Arbeit des Martin Buber und Franz Rosenzweig. Aus- Kunstverstand aussuchte. genwart, Verdrängung und Wahrheit. Verhältnis der anderen Familienangehöri- und stößt dabei plötzlich auf das Nazi-Blatt Instituts in eine breite soziale und kulturelle gezeichnet werden Personen, Institutionen Das Fritz Bauer Institut bittet um Ihre Der israelische Dokumentarfi lm von gen zu Deutschland? Der Angriff vom 1. Oktober 1934. Die Über- Öffentlichkeit hinein. Mittels Lehrerfort- oder Initiativen, die sich insbesondere um Unterstützung bei der Suche nach Briefen, Arnon Goldfi nger, DIE WOHNUNG, fand auf Goldfi nger: Ich hatte ein sehr inniges schrift lautet »Ein Nazi fährt nach Palästi- bildungen und Studientagungen an Schu- die Verständigung zwischen Christen und Postkarten, Fotografien, aber auch nach zahlreichen Filmfestivals ein begeistertes Verhältnis zu meiner Großmutter. Ihre Welt na«. War diese Szene nachgestellt? len und Jugendbildungsstätten würden die Juden verdient gemacht haben. Kunstgegenständen, Gemälden, Mobiliar Publikum und wurde vielfach ausgezeich- voller Kultur zog mich sehr stark an – zu- Goldfi nger: Nein, denn ich habe wo- nachwachsenden Generationen in die ge- Die Buber-Rosenzweig-Medaille wird oder Dingen des alltäglichen Gebrauchs, net. Unter anderem mit dem Bayerischen gleich widerte sie mich an, weil sie aus chenlang in dieser Wohnung gedreht, ohne schichtliche Verantwortung mit einbezogen. der Schriftstellerin Mirjam Pressler und die in Verbindung mit Fritz Bauer stehen. Filmpreis als bester Dokumentarfi lm, dem Deutschland kam. In Israel war die deutsche dass ich wusste, wonach ich suchte. Als ich Mit der Auszeichnung würdige der Deutsche dem Fritz Bauer Institut am 3. März 2013 Für Auskünfte steht Ihnen Werner Renz Preis für beste Regie im Bereich Dokumen- Sprache damals verpönt, ebenso deutsche auf die Nazi-Verbindung stieß, hat sie mich Koordinierungsrat diese entschiedene Ein- im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung der im Fritz Bauer Institut sehr gerne zur Ver- tarfi lm auf dem Jerusalemer Filmfestival Produkte und Namen. Ich lebte in dieser zugleich angezogen und erschrocken. Ich mischung in den gesellschaftlichen Diskurs Woche der Brüderlichkeit im Staatstheater fügung. und dem Ophier Award der Israeli Academy. Spannung. Meine Großeltern reisten jedes musste zunächst die Fakten prüfen und mit und das dezidierte Eintreten des Fritz Bauer in Kassel verliehen. Die Deutsche Film- und Medienbewertung Jahr nach Deutschland. Die ganze Familie der Geschichte zurechtkommen. Erst als ich Instituts für eine differenzierte Gedächtnis- Kontakt vergab das Prädikat »besonders wertvoll«. fuhr jährlich zum Flughafen, um sie abzu- die Tochter des »Palästinareisenden Nazi« kultur. Fritz Bauer Institut Nachdem DIE WOHNUNG/HA-DIRA in Israel holen, denn damals machte fast niemand am Telefon erreichte, wusste ich: Nun muss Mit der Auszeichnung Mirjam Presslers Kontakt Werner Renz, Archiv und Bibliothek seit Monaten mit großem Erfolg in den Ki- Urlaub im Ausland. Wir warteten auf den ich diesen Film zu Ende machen. Gesellschaften für Grüneburgplatz 1 wolle man ihr herausragendes literarisches Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 60323 Frankfurt am Main nos läuft, ist der Film seit dem 14. Juni auch Moment, dass die beiden die Treppe der Wer war der Nazi, der nach Palästina und übersetzerisches Werk würdigen. In Deutscher Koordinierungsrat e.V. Tel.: 069.798 322-25, Fax: -41 in Deutschland zu sehen. Gangway hinunterstiegen und uns zuwink- fuhr? ihren Romanen und Erzählungen, die nicht Otto-Weiß-Straße 2 [email protected] Der in Berlin lebende israelische Jour- ten. Dann trugen wir ihre Koffer hoch in die Goldfi nger: Autor der Reiseberichte nur Kinder und Jugendliche, sondern auch 61231 Bad Nauheim nalist Igal Avidan hat sich den Film ange- Wohnung, aßen gemeinsam die Leckerei- war Leopold von Mildenstein. Von Au- Tel.: 06032.91110 Erwachsene ansprechen, habe Pressler es [email protected] schaut und mit dem Regisseur Arnon Gold- en, die sie mitgebracht hatten, und warteten gust 1934 bis Juni 1936 war Mildenstein vermocht, jüdisches Leben in der Zeit des www.deutscher-koordinierungsrat.de/node/1039 fi nger gesprochen. auf »die Geschenke aus Europa«. Einerseits Judenreferent und Abteilungsleiter im

100 Nachrichten und Berichte Einsicht 08 Herbst 2012 101 SD-Hauptamt. Er schrieb eine Serie von zwölf Berichten, in denen er seine Reise durch Palästina beschrieb und unterwegs die Frage aufwarf, ob das jüdische Volk in die- sem Land eine Zukunft haben könne. Es ist erstaunlich, dass er sich in seinen Artikeln für diese zionistische Grundfrage interes- sierte. Seine Antwort am Ende der Reihe ist »ja«, aber in einem binationalen Staat, nicht in einem unabhängigen jüdischen Staat. Die Berichte an sich waren prozionistisch. Wenn in den Artikeln eine antisemitische Haltung zu fi nden ist, dann richtet sie sich gegen die Araber, mit deren Mentalität von Milden- stein nicht zurechtkam. Er beschreibt hin- gegen sehr positiv verschiedene zionistische Projekte wie die neuen Städte, die Kibbuzim und die Pioniere, von denen er regelrecht schwärmt. Ganz anders als die osteuropäi- schen Juden seien die »neuen Juden« Men- schen mit Glanz in den Augen, schreibt er Spurensuche: Hannah Goldfi nger (Mitte) und Arnon Goldfi nger Foto: david baltzer/bildbuehne.de Arnon Goldfi nger mit Edda von Mildenstein, der Tochter von Leopold von Mildenstein Foto: zero one fi lm ALBRECHT DÜMLING in seinem ersten Bericht. DIE VERSCHWUNDE- Und was verband Ihren Großvater, NEN MUSIKER der ein deutscher Patriot und begeister- war mein Großvater aus seinem Richteramt Zionisten in Deutschland eine unbedeutende DIE WOHNUNG läuft bereits seit neun Goldfi nger: Die Porträts meiner Groß- JÜDISCHE FLÜCHTLINGE ter Zionist war, mit Mildenstein? Im Film entlassen worden, aber erst Ende 1936 wan- Randgruppe gewesen. Monaten in Israel und zog dort bisher rund eltern werden wir niemals verkaufen. Ich IN AUSTRALIEN erzählt der Historiker Michael Wildt, dass derten meine Goßeltern nach Palästina aus! Welche Reaktionen lösten die prozionis- 50.000 Zuschauer an. Wie erklären Sie die- hatte nicht den Mut, die Bücher wegzuwer- die Deutsche Zionistische Vereinigung diese Am 25. August 1933 wurde nach tischen Nazi-Reportagen aus Palästina aus? sen sehr ungewöhnlichen Erfolg eines Do- fen. Sie liegen in Kisten in meinem Kel- 2011. 444 S. 43 S/W-ABB. GB. € 49,90 [D] | ISBN 978-3-412-20666-6 Reise nach Palästina für wichtig für ihre dreimonatigen Verhandlungen das histori- Goldfi nger: Die Jüdische Rundschau, kumentarfi lms? ler – Bände von Goethe, Schiller, Heine, Interessen hielt und sie daher Kurt Tuchler sche Ha’avara (Hebräisch: Transfer) Ab- damals die wichtigste zionistische Zeitung, Goldfinger: Ich glaube, dass dieser Nietzsche, Schopenhauer, jüdische und zi- Viele Musiker wurden vom NS- mitschickte – die Deutschen wollten die Ju- kommen zwischen der Jewish Agency, der wies ihre Leser mehrmals auf diese Artikel Film ein sehr zentrales Bedürfnis in der is- onistische Werke und sogar Shakespeare auf Regime aus Deutschland und den aus Deutschland loswerden, und die Zi- Zionistischen Vereinigung für Deutschland hin. Die Nazi-Zeitung wiederum warb für raelischen Gesellschaft anspricht, vor allem Deutsch. Die leichtere Literatur wollte das Österreich vertrieben. Das Buch onisten wollten sie nach Palästina bringen. und dem deutschen Reichsministerium für die Artikelserie mit einer Münze, die auf der bei aschkenasischen Juden, nicht nur bei den Goethe-Institut in Tel Aviv für die Israelis Goldfi nger: Bereits 1929 hatte er als Wirtschaft unterzeichnet. Welche gemeinsa- einen Seite einen Davidstern zeigte und auf Jeckes. Viele von ihnen suchen nach ihren haben, die dort Deutsch studieren. legt Zeugnis ab vom persönlichen Zionist Palästina besucht und kannte das men Interessen hatten Nazis und Zionisten? der anderen ein Hakenkreuz. Der Prägetext Wurzeln und ihrer Herkunft. Immer wieder Mut der Musiker und ihrem Über- Land sehr gut. Das war auch der Grund, Goldfi nger: Dieses Abkommen galt lautete: »Ein Nazi fährt nach Palästina – und sagten mir Zuschauer nach der Aufführung: lebenswillen und Pioniergeist vor DIE WOHNUNG/HA-DIRA weswegen der SS-Offi zier Leopold von Mil- nur für deutsche Juden und erleichterte erzählt davon im Angriff«. Diese Münzen »Auch bei uns hatte man nichts erzählt, und Ein Film von Arnon Goldfi nger dem Hintergrund der Verfolgung denstein mit ihm zusammen reisen wollte. vermögenden Juden die Auswanderung, wurden in Kiosken als Werbung verkauft und auch wir hatten keine Fragen gestellt.« Viele DE/IL 2011, 97 Min., z. T. mit deut. UT durch das Dritte Reich. Im Herbst 1933 fuhren dann Kurt und Gerda denn sie konnten ihr Eigentum in Deutsch- waren so gefragt, dass man für Sammler so- Menschen schauten sich den Film ein zweites Buch und Regie: Arnon Goldfi nger Tuchler mit dem Ehepaar von Mildenstein land verkaufen und dessen Wert in Palästi- gar eine Sonderreihe in Silber herausbrachte. Mal an, diesmal mit ihren Eltern oder Kindern, Produzenten: Arnon Goldfi nger und Thomas Kufus „Dümling […] verfolgt in diesem Kamera: Philippe Bellaiche und Talia (Tulik) Galon zwei Monate lang durch Palästina. na bekommen. [Gleichzeitig sollte so der Wie erklären Sie, dass die Freundschaft je nachdem welcher Generation sie angehören. Schnitt: Tali Halter Shenkar; Musik: Yoni Rechter sehr gehaltvollen und detailrei- Ihre Großeltern lebten aber zunächst deutsche Export gefördert und der damals zwischen Ihren Großeltern und den Milden- Sie hofften, dass der gemeinsame Kinobesuch Sprecher der deutschen Fassung: Axel Milberg. chen Buch das Schicksal jüdischer Eine Koproduktion von zero one fi lm und Arnon weiter in Deutschland… befürchtete internationale Handelsboykott steins die Shoah überstand? auch in ihren Familien eine Diskussion aus- Musiker […]. Und mancher Name Goldfi nger: Mein Großvater war Rich- durchbrochen werden; I. A.] Natürlich Goldfi nger: Der Film wagt es, die Pro- löst. Manche schrieben mir, dass ihr Großvater Goldfi nger mit ZDF/SWR/Noga Communications – Channel 8 in Kooperation mit Arte. wird so dem Vergessen entrissen.“ ter und fühlte sich in Deutschland zu Hause. mussten sie hohe Steuern zahlen. So sollten tagonisten nicht als Stereotypen zu behan- danach zum ersten Mal über seine Vergangen- Im Verleih der Salzgeber & Co. Medien GmbH. Berliner Philharmoniker Aus Zionismus sammelte mein Großvater – immer weniger Juden in Deutschland leben. deln. Von Mildenstein war ein Mensch und heit erzählte. Wir machten kaum Werbung, es Die DVD DIE WOHNUNG ist ab Ende 2012 erhältlich. wie in dem bekannten Witz – Geld für die Die Reportagen sollten die Nazi-Führung kein Monster. Als meine Großeltern Ende lief alles über das Hörensagen. www.die-wohnung-fi lm.de polnischen Juden, damit die wiederum die beeinfl ussen, den Zionismus zu akzeptie- 1936 auswandern, verlässt von Mildenstein Sie beginnen den Film mit der Woh- WWW.BOEHLAU-VERLAG.COM Auswanderung der russischen Juden nach ren, vielleicht sogar zu unterstützen. Denn das Judenreferat. Mehr über ihre Beziehung nungsaufl ösung. Welche Gegenstände Ihrer Igal Avidan Palästina fi nanzieren konnten. Bereits 1933 bis zu Hitlers Machtergreifung waren die soll man im Film fi nden. Großeltern haben Sie behalten? Berlin

102 Nachrichten und Berichte Einsicht 08 Herbst 2012 103 Aus Kultur und Wissenschaft Aus Kultur und Wissenschaft Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken ist mit 7.500 Euro dotiert. Er wird an Internetlexikon Historikerin Yfaat Weiss Personen verliehen, die in ihrem Wirken das Wallstein Verlag Jüdische Displaced Persons Hannah-Arendt-Preis »Wagnis Öffentlichkeit« angenommen haben. in Bayern für politisches Denken 2012 Der Jury gehören an: Prof. Dr. Antonia Gru- nenberg (Berlin/Oldenburg), Prof. Dr. Dick Howard (New York), Dr. Otto Kallscheuer www.after-the-shoah.org Der von der Stadt Bremen (Cagliari/Berlin), Marie Luise Knott (Berlin), und der Heinrich Böll Stif- Dr. Willfried Maier (Hamburg), Prof. Dr. Ka- Zwischen 1945 und 1950 tung vergebene Hannah-Arendt-Preis für rol Sauerland (Warschau), Joscha Schmierer befanden sich über 200.000 politisches Denken geht in diesem Jahr an (Berlin), Prof. Dr. Christina Thürmer-Rohr jüdische Überlebende der Shoah in Deutsch- Prof. Dr. Yfaat Weiss. (Berlin). Der Preis wird am 7. Dezember 2012 land. Die westlichen Alliierten – insbeson- Die Preisträgerin gehöre »zur jungen im Bremer Rathaus überreicht. dere die US-Militärregierung – gestatteten Generation israelischer Historikerinnen, den Menschen weitreichende Selbstbestim- die genau und vorurteilslos die Geschichte Yfaat Weiss, geboren 1962 in Haifa, ist mungsrechte, sodass sie sich in jüdischen Israels und Palästinas erforschen«, erläutert Professorin am Fachbereich für jüdische Ge- Lorenz Peiffer und Henry Wahlig Komitees zusammenschließen konnten. die Jury ihre Entscheidung. Sie erzähle ver- schichte und zeitgenössisches Judentum an Juden im Sport während des Die zumeist aus Osteuropa stammenden gessene und verdrängte Geschichten aus dem der Hebräischen Universität in Jerusalem und Nationalsozialismus Ein historisches Handbuch für Displaced Persons (DPs) betrachteten ihren Zusammenleben der ethnischen Gruppierun- leitete von 2008 bis 2011 die dortige Fakultät Niedersachsen und Bremen Aufenthalt in Deutschland jedoch nur als gen des jüdischen Volkes und der arabischen für Geschichte sowie derzeit das Franz Rosen- Von der Integration in die Isolation: zeitweilig; sie warteten sehnsüchtig auf eine Bevölkerung in Israel. So ermögliche sie es, zweig Minerva Forschungszentrum. Neben der Ausschluss jüdischer Sportler aus den Möglichkeit zur Auswanderung nach Israel, »verschüttete Erinnerungen zwischen euro- jüdischer Geschichte befasst sich Weiss mit Sportvereinen im Nationalsozialismus. 411 S., 70 Abb., geb., Schutzumschlag den USA, nach Kanada oder Australien. päischen und arabischen Juden, zwischen Ju- der Vergangenheit Deutschlands und Zentral- 34,90 € (D); 35,90 € (A) Unter Federführung von Jim G. Tobias den und muslimischen Arabern freizulegen«. europas. Die Historikerin verbrachte zahlrei- ISBN 978-3-8353-1083-4 werden in einem neuen Internetprojekt des Sie schärfe den Blick für den ungewöhnli- che Forschungsaufenthalte im deutschsprachi- »Nürnberger Instituts für NS-Forschung chen Verlauf der israelischen Geschichte und gen Raum, unter anderem am Internationalen und jüdische Geschichte des 20. Jahrhun- für das zivilgesellschaftliche Potenzial, das Forschungszentrum Kulturwissenschaften in derts« lexikalisch Informationen über alle in ihrem Land vorhanden sei: »Durch ihre Wien, am Simon-Dubnow-Institut in Leipzig jüdischen DP-Camps und -Communities in Forschungen öffnet Frau Weiss den Blick für sowie am Hamburger Institut für Sozialfor- Bayern nach 1945 zusammengefasst. Ins- ein neues Denken über das Zusammenleben schung. 1997 bis 1999 war sie am Aufbau gesamt sind nahezu 200 DP-Gemeinden, von ethnischen Gruppen und Minoritäten in des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte an -Lager, -Kibbuzim, -Krankenhäuser und Israel.« Umsichtig hinterfrage sie die offi - der Ludwig-Maximilians-Universität Mün- -Sanatorien nachweisbar. zielle Linie, den Holocaust zum einzigen chen beteiligt. Ihre historischen Forschungen Die zweisprachige Website (deutsch/ Maß des Zusammenlebens zwischen den zu den deutsch-jüdisch-tschechischen Bezie- englisch) ist nach Regierungsbezirken auf- Völkerschaften in Israel zu setzen, und rege hungen werden von der Deutsch-Israelischen geteilt und ermöglicht sowohl eine Suche dazu an, das Zusammenleben der in Israel Stiftung für Wissenschaftliche Forschung und per Stichwort wie auch mittels einer inter- Jüdische Kinder aus dem DP-Lager Rosenheim fordern die Errichtung lebenden verschiedenen Gruppen und Völ- Entwicklung (GIF) gefördert. 2008 bis 2011 Juden in Deutschland – aktiven Karte. Zu jeder Einrichtung werden eines eigenen Staates in Palästina (Frühjahr 1947). Foto: Richmann/nurinst-archiv kerschaften neu zu denken. Durch die Art nahm Weiss an einem Forschungsprojekt der Deutschland in den Juden Adresse, Vorstände, Anzahl der Mitglieder, und Weise, in der sie die Geschichte ihres Volkswagenstiftung zur Geschichte der Juden Neue Perspektiven Dauer der Existenz, kulturelle, religiöse und Landes erzähle, ermutige sie die historische in Deutschland nach 1945 teil. 2012 erschien Die Spannbreite jüdischer Lebensstile in sportliche Einrichtungen, wie etwa eigene unbekannte Aspekte des jüdischen Neube- Kontakt Forschung und die öffentliche Meinungsbil- in der Hamburger Edition ihr Buch Verdräng- Deutschland offenbart Wandel und Reich- tum der heutigen jüdischen Gemeinschaft. Volks- oder Religionsschulen, Zeitungen, ginns im Land der Täter aufgreifen (u.a. Nürnberger Institut für NS-Forschung und dung dazu, sich auf die Besonderheiten in te Nachbarn. Wadi Salib – Haifas enteignete jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V. Hg. von Y. Michal Bodemann und Micha Brumlik Fußballvereine aufgelistet und – wenn mög- Zeilsheim. Eine jüdische Stadt in Frank- vertreten durch: Jim G. Tobias der israelischen Geschichte und Gesellschaft Erinnerung. 294 S., geb., Schutzumschlag 19,– € (D); 19,60 € (A) lich – ein bis zwei historische Fotos gezeigt. furt. Siehe Rezension auf Seite 84). Das Postfach 211312 einzulassen. In der Perspektive ihrer Erzähl- ISBN 978-3-8353-0780-3 Jim G. Tobias, Mitbegründer und Leiter neue Internetprojekt ergänzt diese Publika- 90121 Nürnberg weise erscheine schon heute eine multikul- Kontakt des Nürnberger Instituts für NS-Forschung tionen um eine wichtige Faktensammlung, Tel.: 0911.519-3737 turelle Gesellschaft in Israel, die auf dem Bildungswerk Umwelt und Kultur [email protected] und jüdische Geschichte des 20. Jahrhun- die Grundlage für jede weitere Forschung Wege sei, zu einer pluralen Gesellschaft zu in der Heinrich Böll Stiftung www.nurinst.org Plantage 13, 28215 Bremen www.wallstein-verlag.de derts, hat in den vergangenen Jahren zahlrei- im Bereich der Displaced Persons und jü- werden. Daran mitzuwirken sei ein großes Tel.: 0421.352 368 che Veröffentlichungen vorgelegt, die bisher dischen Nachkriegsgeschichte in Bayern ist. Verdienst von Yfaat Weiss. www.boell-bremen.de

104 Nachrichten und Berichte Einsicht 08 Herbst 2012 105 Ausstellungsangebote Wanderausstellungen des Fritz Bauer Instituts

Aus Kultur und Wissenschaft Aus Kultur und Wissenschaft Aus Kultur und Wissenschaft Objekte gesucht Ludwig-Börne-Preis 2012 Publikationsanfrage Ausstellung über die Auszeichnung für den Jüdische Kulturgeschichte Schicksale der Displaced Historiker Götz Aly in der Moderne Persons nach 1945 Im Rahmen einer Feier- Die wissenschaftliche Buch- Der Internationale Such- stunde in der Frankfurter reihe »Jüdische Kulturge- dienst (ITS/International Paulskirche wurde am 3. Juni 2012 dem His- schichte in der Moderne« erscheint seit 2012 Tracing Service) in Bad Arolsen erstellt toriker, Schriftsteller und Essayisten Götz im Neofelis Verlag. Die Reihe wird von dem derzeit eine Wanderausstellung zum The- Aly der Ludwig-Börne-Preis verliehen. In Kulturwissenschaftler Joachim Schlör (Uni- ma »Leben im Transit – Trauma und Neu- seiner Laudatio betonte der Preisrichter Jens versity of Southampton, The Parkes Institute anfang. Überlebende der nationalsozialisti- Jessen, Leiter des Feuilletons der Wochen- for the Study of Jewish/non-Jewish Rela- schen Verfolgung«. Für diesen Zweck sucht zeitung Die Zeit, Aly erinnere mit seinem tions) betreut. Innerhalb der transdiszipli- der ITS nach Objekten aus dem Leben der freien und glänzenden Stil, seinem Kampf när angelegten Reihe werden Sammelbände, Legalisierter Raub Displaced Persons (DPs). Fotos, Zeugnisse, gegen nationale Legenden und Vorurteile, Monografi en und Quelleneditionen veröf- Der Fiskus und die Ausplünderung Wahlunterlagen, Presse, Plakate, Zertifi kate seinem Plädoyer für Freiheit von Bevor- fentlicht, die sich mit einzelnen Facetten des der Juden in Hessen 1933–1945 oder Gegenstände aus dem damaligen All- mundung an das Wirken Ludwig Börnes. Judentums von der jüdischen Aufklärung, tagsleben nimmt der ITS gerne als Leihgabe Mit besonderer Unerschrockenheit habe er Haskala, bis in die Gegenwart auseinander- entgegen. Gefördert wird das Projekt von in seinen Werken auf die wirtschaftlichen setzen. In ihr werden unterschiedliche theo- Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Rundfunks, beschäftigen, »wächst« die Ausstellung. Wa- der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und fi nanziellen Motive der deutschen Anti- retische und methodische Ansätze aus Geis- mit Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen ren es bei der Erstpräsentation 15 Vitrinen, und Zukunft« (EVZ). Die Ausstellung wird semiten aufmerksam gemacht. Von 2004 bis teswissenschaften, Kulturwissenschaften und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst die die Geschichten der Opfer erzählten, 2014 in Bad Arolsen eröffnet und wandert 2006 war Aly Gastprofessor für interdiszi- und Sozialwissenschaften angewendet, die sind es heute weit über sechzig. Sie entste- an weitere Stationen in Deutschland. plinäre Holocaustforschung am Fritz Bauer sich in der Betrachtung jüdischer Geschichte hen auf der Basis weiterer Recherchen und Die westlichen Alliierten verstanden Institut in Frankfurt am Main. und jüdischer Kulturen ergänzen. Ziel ist es, Nächste Ausstellungsstationen: Im nachgebauten Zimmer eines Finanz- an manchen Orten in Zusammenarbeit mit unter DPs diejenigen, die durch das natio- Der Ludwig-Börne-Preis wird alljähr- Judentum in seinen räumlichen, narrativen, 16. Januar bis 7. April 2013, Regionalmuseum beamten können die Ausstellungsbesu- Schülerinnen und Schülern. nalsozialistische Deutschland verfolgt und lich von der Ludwig-Börne-Stiftung verlie- dinglichen, performativen und religiösen Wolfhagen; Mai bis Oktober 2013, Dreieich Museum cher in Aktenordnern blättern: Sie ent- aus ihren Heimatländern deportiert worden hen. Der Preis soll deutschsprachige Autoren Dimensionen zu denken und zu erschließen. halten unter anderem Faksimiles jener Publikationen zur Ausstellung waren. Der ITS bewahrt zahlreiche Doku- ehren, die im Bereich des Essays, der Kritik Sowohl deutschsprachige als auch eng- Die Ausstellung gibt einen Vermögenslisten, die Juden vor der Depor- › Legalisierter Raub – Katalog zur Ausstellung. mente aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Reportage Hervorragendes geleistet lischsprachige Publikationsvorschläge sind Einblick in die Geschichte tation ausfüllen mussten, um den Finanzbe- Reihe selecta der Sparkassen-Kulturstiftung Hes- sen-Thüringen, Heft 8, 3. Aufl . 2008, 72 S., € 5,– auf, die die Fürsorge der Alliierten für die haben. Die Preissumme beträgt 20.000 Euro. willkommen. des legalisierten Raubes, in die Biografi en hörden die »Verwaltung und Verwertung« › Legalisierter Raub – Materialmappe zur Vor- Überlebenden aus Konzentrationslagern und Über den Preisträger entscheidet ein vom von Tätern und Opfern. ihrer zurückgelassenen Habseligkeiten zu und Nachbereitung des Ausstellungsbesuchs. der Zwangsarbeit, aber auch die komplizier- Vorstand der Stiftung benannter Preisrichter Kontakt Die Tafeln im Hauptteil der Ausstel- erleichtern. Weitere Tafeln beschäftigen sich Hrsg. von der Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung te Suche nach einem Neuanfang schildern. in alleiniger Verantwortung. Neofelis Verlag lung entwickeln die Geschichte der Täter- mit den kooperierenden Interessengruppen zu Lich und dem Fritz Bauer Institut. Gießen: Book-xpress-Verlag der Druckwerkstatt Fernwald, Eine umfassende Darstellung zu diesem c/o Matthias Naumann gesellschaft, die mit einem Rückblick auf in Politik und Wirtschaft, aber auch mit Stavanger Str. 3 2002, € 8,50. Themenkomplex gibt es bislang nicht. Kontakt 10439 Berlin die Zeit vor 1933 beginnt: Die Forderung dem »deutschen Volksgenossen« als Profi - › Susanne Meinl, Jutta Zwilling: Legalisierter Sollten Sie Gegenstände und Dokumen- Ludwig-Börne-Stiftung Tel.: 030.679 691 00 nach einer Enteignung der Juden gab es teur. Schließlich wird nach der sogenannten Raub. Die Ausplünderung der Juden te sowie Hintergrundinformationen zu den Prof. Dr. Salomon Korn [email protected] nicht erst seit der Machtübernahme der Na- Wiedergutmachung gefragt: Wie ging die im Nationalsozialismus durch die Wolfsgangstraße 30–32 www.neofelis-verlag.de Reichsfi nanzverwaltung in Hessen. DPs besitzen, bitte kontaktieren Sie den ITS. 60322 Frankfurt am Main tionalsozialisten. Sie konnten vielmehr auf Rückerstattung in Hessen und Berlin vor Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, www.boerne-stiftung.de weitverbreitete antisemitische Klischees sich, wie erfolgreich konnte sie angesichts Band 10, Frankfurt am Main, New York: Campus Kontakt zurückgreifen, insbesondere auf das Bild der gesetzlichen Ausgangslage und der weit- Verlag, 2004, 748 S., € 44,90 Internationaler Suchdienst (ITS) vom »mächtigen und reichen Juden«, der gehend ablehnenden Haltung der Bevölke- › Katharina Stengel (Hrsg.): Vor der Vernichtung. Große Allee 5–9, 34454 Bad Arolsen Die staatliche Enteignung der Juden im National- Dr. Susanne Urban sein Vermögen mit List und zum Scha- rungsmehrheit sein? sozialismus. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bereichsleiterin Forschung und Bildung den des deutschen Volkes erworben ha- Die Ausstellung wandert seit dem Jahr Bauer Instituts, Band 15, Frankfurt am Main, [email protected] be. Vor diesem Hintergrund zeichnet das 2002 sehr erfolgreich durch Hessen. Da für New York: Campus Verlag, 2007, 336 S., € 24,90 René Bienert/Elisabeth Schwabauer 2. Kapitel die Stufen der Ausplünde- jeden Präsentationsort neue regionale Vitri- › DER GROSSE RAUB. WIE IN HESSEN DIE JUDEN Wissenschaftliche Projekte und Pädagogik AUSGEPLÜNDERT WURDEN. Ein Film von Henning [email protected] rung und die Rolle der Finanzbehörden nen entstehen, die sich mit der Geschichte Burk und Dietrich Wagner, Hessischer Rundfunk, www.its-arolsen.org in den Jahren von 1933 bis 1941 nach. des legalisierten Raubes am Ausstellungsort 2002. DVD, Laufzeit: 45 Min., € 10,–

106 Nachrichten und Berichte Einsicht 08 Herbst 2012 107 Publikationen des Fritz Bauer Instituts

Ausstellungsausleihe unterstützen, werden in Heftern Quellentex- vielen verdrängtes Kapitel der deutschen Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2006, Die Ausstellung besteht aus circa 60 Rahmen (For- te angeboten, die eine vertiefende Lektüre und jüdischen Nachkriegsgeschichte ein: 378 S., € 29,90, ISBN 978-3-593-38183-1; mat: 100 x 70 cm), 15 Vitrinen, 6 Einspielstationen, Jahrbuch 2006, Band 10 2 Installationen und Lesemappen zu ausgesuchten ermöglichen. Dazu bietet das Fritz Bauer Fotografi en von Familienfeiern und Schul- Einzelfällen. Für jede Ausstellungsstation besteht die Institut einen Reader zur Vorbereitung auf unterricht, Arbeit in den Werkstätten, Sport Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Möglichkeit, interessante Fälle aus der Region in das die Ausstellung an. und Feste, Zeitungen und Theater, zionisti- Zeugenschaft des Holocaust Konzept zu übernehmen. sche Vorbereitungen auf ein Leben in Paläs- Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Ausstellungsexponate tina – Manifestationen eines »lebn afs nay«, www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html von Michael Elm und Gottfried Kößler. 57 Rahmen (Format: 42 x 42 cm) und ein Lage plan das den Schrecken nicht vergessen macht. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2007, des Lagers Buna/Monowitz und der Stadt Oświęcim. »Ein Leben aufs neu« ist ein gemeinsa- 286 S., € 24,90, EAN 978-3-593-38430-6; Jahrbuch 2007, Band 11 www.fritz-bauer-institut.de/ig-farben.html mes Projekt des Fritz Bauer Instituts und des ehemaligen Jüdischen Museums (1989–98) Katharina Stengel und Werner Konitzer (Hrsg.) in der Maximilianstraße in München. Opfer als Akteure Die IG Farben und das Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Publikation zur Ausstellung Nachkriegszeit. KZ Buna/Monowitz Jacqueline Giere, Rachel Salamander (Hrsg.), Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Wirtschaft und Politik Ein Leben aufs neu. Das Robinson-Album. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2008, Ein Leben aufs neu DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948 Das Fritz Bauer Institut ver- Jahrbuch zur Geschichte 308 S., € 29,90, EAN 978-3-593-38734-5; im Nationalsozialismus Jahrbuch 2008, Band 12 Das Robinson-Album. Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 8 öffentlicht mehrere Publika- Christian Brandstätter Verlag, Wien/München 1995, tionsreihen, darunter das Jahrbuch und die und Wirkung des Holocaust DP-Lager: Juden auf deut- 128 S., 133 Abb. (leider vergriffen) Werner Konitzer und Raphael Gross (Hrsg.) Das Konzentrationslager Wissenschaftliche Reihe, jeweils im Cam- schem Boden 1945–1948 Moralität des Bösen der IG Farbenindustrie AG Ausstellungsexponate pus Verlag, und die Schriftenreihe, die in Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Ethik und nationalsozialistische Verbrechen in Auschwitz ist bis heute ein Symbol für die › Albumseiten mit Texten (64 Rahmen, 40 x 49 cm) verschiedenen Verlagen erscheint. Daneben »Gerichtstag halten über uns selbst …« Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Kooperation zwischen Wirtschaft und Poli- Nach Ende des Zweiten › Porträtfotos (34 Rahmen, 40 x 49 cm) gibt es Publikationsreihen, die im Eigenver- Geschichte und Wirkungsgeschichte des ersten Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2009, Frankfurter Auschwitz-Prozesses 272 S., € 29,90, EAN 978-3-59339021-5; tik im Nationalsozialismus. Die komplexe Weltkriegs fanden jüdische › Ergänzende Bilder (15 Rahmen, 40 x 49 cm) lag verlegt sind, darunter die Pädagogischen › Erklärungstafeln (13 Rahmen, 24 x 33 cm) Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Irmtrud Jahrbuch 2009, Band 13 Geschichte dieser Kooperation, ihre Wider- Überlebende der NS-Terrorherrschaft im › Titel und Quellenangaben (7 Rahmen, 24 x 33 cm) Materialien und die Reihe Konfrontationen. Wojak. Red.: Susanne Meinl und Irmtrud Wojak. sprüche, ihre Entwicklung und ihre Wirkung Nachkriegsdeutschland Zufl ucht in soge- Video-Interviews, Ausstellungskataloge und Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2001, Ulrich Wyrwa (Hrsg.) auf die Nachkriegszeit (die Prozesse und nannten Displaced Persons (DP) Camps. www.fritz-bauer-institut.de/ein-leben-aufs-neu.html andere Einzelveröffentlichungen ergänzen 356 S., 21 Abb., € 24,90, ISBN 3-593-36822-6; Einspruch und Abwehr Jahrbuch 2001, Band 5 Die Reaktion des europäischen Judentums auf die der bis in die Gegenwart währende Streit Die Fotoausstellung porträtiert das tägliche das Publikations-Portfolio des Instituts. Entstehung des Antisemitismus (1879–1914) um die IG Farben in Liquidation), wird aus Leben und die Arbeit der Selbstverwaltung Eine komplette Aufl istung aller bisher Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts unterschiedlichen Perspektiven dokumen- in dem in der amerikanischen Besatungszo- erschienenen Publikationen des Fritz Bau- Grenzenlose Vorurteile Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2010, tiert. Strukturiert wird die Ausstellung durch ne gelegenen DP-Lager Frankfurt-Zeisheim. er Instituts fi nden Sie auf unserer Website: Antisemitismus, Nationalismus und ethnische Konfl ikte 372 S., € 29,90, EAN 978-3-593-39278-3; in verschiedenen Kulturen Jahrbuch 2010, Band 14 www.fritz-bauer-institut.de Zitate aus der Literatur der Überlebenden, Der aus Polen stammende Ephraim Ausstellungsausleihe Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Irmtrud die zu den einzelnen Themen die Funktion Robinson hatte seine ganze Familie im Ho- Unsere Wanderausstellungen können gegen Wojak und Susanne Meinl. Liliane Weissberg (Hrsg.) der einführenden Texte übernehmen. Als locaust verloren. Als DP kam er 1945 nach Gebühr ausgeliehen werden. Das Institut Bestellungen bitte an die Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2002, Affi nität wider Willen? Bilder werden Reproduktionen der Foto- Frankfurt-Zeilsheim. Seinen Lebensunter- berät Sie gerne bei der Organisation des Karl Marx Buchhandlung GmbH 304 S., 30 Abb., € 24,90, ISBN 3-593-37019-0; Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Jahrbuch 2002, Band 6 Frankfurter Schule grafi en verwendet, die von der SS anläss- halt im Lager verdiente er sich als freibe- Begleitprogramms und bei der Suche nach Publikationsversand Fritz Bauer Institut Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts lich des Besuchs von Heinrich Himmler in rufl icher Fotograf. In eindrücklichen Bildern geeigneten Referenten. Weitere Informati- Jordanstraße 11, 60486 Frankfurt am Main Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2011 Auschwitz am 17. und 18. Juli 1942 ange- hielt er fest, wie die geschundenen Men- onen und ein Ausstellungsangebot senden Tel.: 069.778 807, Fax: 069.707 739 9 Gesetzliches Unrecht 236 S., 18 Abb., € 24,90, EAN 978-3-593-39490-9; fertigt wurden. Die Bildebene erzählt also schen ihre Belange in die eigenen Hände wir Ihnen auf Anfrage zu. [email protected] Rassistisches Recht im 20. Jahrhundert Jahrbuch 2011, Band 15 Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Micha www.karl-marx-buchhandlung.de durchgängig die Tätergeschichte, der Blick nahmen, ihren Alltag gestalteten, »ein Leben Brumlik, Susanne Meinl und Werner Renz. Fritz Bauer Institut, Sybille Steinbacher (Hrsg.) auf die Fabrik und damit die Technik stehen aufs neu« wagten. Als Ephraim Robinson Kontakt Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2005, Holocaust und Völkermorde im Vordergrund. Die Textebene hingegen 1958 in den USA verstab – in die er zehn Fritz Bauer Institut Liefer- und Zahlungsbedingungen 244 S., € 24,90, ISBN 3-593-37873-6; Die Reichweite des Vergleichs wird durch die Erzählung der Überlebenden Jahre zuvor eingewandert war –, hinterließ Manuela Ritzheim Lieferung auf Rechnung. Die Zahlung ist sofort fällig. Jahrbuch 2005, Band 9 Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Tel.: 069.798 322-33, Fax: -41 Bei Sendungen innerhalb Deutschlands werden ab Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2012, bestimmt, wenn auch häufi g ein Thema aus er nicht nur viele hunderte Aufnahmen, son- [email protected] einem Bestellwert von € 50,– keine Versandkosten be- Fritz Bauer Institut, 248 S., € 24,90, EAN 9783593397481 der Sicht von Überlebenden und Tätern be- dern auch ein Album, das die Geschichte rechnet. Unter einem Bestellwert von € 50,– betragen Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.) Jahrbuch 2012, Band16 handelt wird. der jüdischen DPs in exemplarischer Weise die Versandkosten pauschal € 3,– pro Sendung. Für Neue Judenfeindschaft? Die Ausstellung ist als Montage im erzählt. Lieferungen ins Ausland (Land-/Seeweg) werden Ver- Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem Das Jahrbuch erscheint mit freundlicher Unterstützung sandkosten von € 5,– pro Kilogramm Versandgewicht globalisierten Antisemitismus des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. fi lmischen Sinn angelegt. Der Betrachter Über das vertraut scheinende Medium in Rechnung gestellt. Besteller aus dem Ausland erhal- Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Mitglieder des Fördervereins können das Jahrbuch sucht sich die Erzählung selbst aus den Ein- des Albums führt die Ausstellung in ein den ten eine Vorausrechnung (bei Zahlungseingang wird von Bernd Fechler, Gottfried Kößler, zum reduzierten Preis von aktuell € 19,50 (inkl. Ver- zelstücken zusammen. Um diese Suche zu meisten Menschen unbekanntes und von das Paket versendet). Astrid Messerschmidt und Barbara Schäuble. sand) abonnieren.

108 Ausstellungsangebote Einsicht 08 Herbst 2012 109 Thomas Horstmann, Heike Litzinger (Hrsg.) Barbara Thimm, Gottfried Kößler, Wissenschaftliche Reihe An den Grenzen des Rechts. Schriftenreihe Susanne Ulrich (Hrsg.) Pädagogische Materialien Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von Verunsichernde Orte NS-Verbrechen Selbstverständnis und Weiterbildung in der Sport im Fritz Bauer: Die Humanität der Rechtsordnung Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2006, Hanno Loewy (Hrsg.) Gedenkstättenpädagogik Gottfried Kößler, Guido Steffens (Hrsg.) Ausgewählte Schriften 233 S., € 19,90, ISBN 3-593-38014-5; Holocaust. Die Grenzen des Verstehens Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag, 2010, 27. Januar – Lerntag oder Gedenktag? Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Campus Wissenschaftliche Reihe, Band 14 Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte 208 S., € 19,90; ISBN 978-3-86099-630-0 Anregungen zur pädagogischen Gestaltung des »Tages National- Verlag, Frankfurt am Main/New York, 1998, 443 S., Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 256 S., Schriftenreihe, Band 21 des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus” € 24,90, ISBN 3-593-35841-7; Katharina Stengel (Hrsg.) € 9,60, ISBN 3-499-19367-1; Frankfurt am Main, 1999, 56 S., € 4,–, sozialismus Wissenschaftliche Reihe, Band 5 Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Schriftenreihe, Band 2 Jaroslava Milotová, Zlatica Zudová-Lešková, ISBN 3-932883-13-6; Pädagogische Materialien Nr. 6 Juden im Nationalsozialismus Jiří Kosta (Hrsg.): Tschechische und slowakische Irmtrud Wojak Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2007, Oskar Rosenfeld Juden im Widerstand 1938–1945 Axel Bohmeyer, Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler Eichmanns Memoiren Ein kritischer Essay 336 S., € 24,90, EAN 978-3-593-38371-2; Wozu noch Welt Metropol Verlag, Berlin, 2008, 272 S., € 19,–, Schwierigkeiten mit Verantwortung und Schuld Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2001, Wissenschaftliche Reihe, Band 15 Aufzeichnungen aus dem Getto Lodz ISBN 978-3-940938-15-2; Schriftenreihe, Band 22 Kirchen und Nationalsozialismus – Materialien und 280 S., 16 Abb., € 25,50, ISBN 3-593-36381-X; Hrsg. von Hanno Loewy. Verlag Neue Kritik, Vorschläge zur pädagogischen Arbeit Wissenschaftliche Reihe, Sonderband Christoph Jahr Frankfurt am Main, 1994, 324 S., € 25,–, Irmtrud Wojak Frankfurt am Main, 2001, 76 S., € 7,60, Antisemitismus vor Gericht ISBN 3-8015-0272-4; Fritz Bauer 1903–1968 ISBN 3-932883-14-4; Pädagogische Materialien Nr. 7 Peter Krause Debatten über die juristische Ahndung judenfeindli- Schriftenreihe, Band 7 Eine Biographie Der Eichmann-Prozess in der deutschen Presse cher Agitation in Deutschland (1879–1960) Verlag C. H. Beck, München, 2009, 24 Abb., 638 S., Monica Kingreen: Der Auschwitz-Prozess Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2002, Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2011, Martin Paulus, Edith Raim, Gerhard Zelger (Hrsg.) € 34,–, ISBN 978-3-406-58154-0; Geschichte, Bedeutung und Wirkung 328 S., € 34,90, ISBN 3-593-37001-8; 476 S., € 39,90, EAN 978-3-593-39058-1; Ein Ort wie jeder andere Schriftenreihe, Band 23 Mit CD mit Zeugenaussagen von Auschwitz- Wissenschaftliche Reihe, Band 8 Wissenschaftliche Reihe, Band 16 Bilder aus einer deutschen Kleinstadt. Überlebenden. Frankfurt am Main 2004, 112 S., € 15, Landsberg am Lech 1923–1958 Joachim Perels: ISBN 3-932883-21-7; Pädagogische Materialien Nr. 8 Andrea Löw, Kerstin Robusch, Stefanie Walter (Hrsg.): Wolf Gruner, Jörg Osterloh (Hrsg.) Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1995, 224 S., Recht und Autoritarismus Deutsche – Juden – Polen. Das »Großdeutsche Reich« und die Juden 168 Abb., € 15,–, ISBN 3-499-19913-0; Beiträge zur Theorie realer Demokratie Marion Imperatori: Als die Kinder in Langen Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Nationalsozialistische Verfolgung in den Schriftenreihe, Band 9 Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2009, samstags zur Synagoge gingen Jahrhundert. »angegliederten« Gebieten 384 S, ISBN 978-3-7890-8329-7, € 94,–; Eine Zeitreise in die Vergangenheit. Kinderstadtführer 352 S., Hardcover, Fotos Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 2004, Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2010, Knut Dethlefsen, Thomas B. Hebler (Hrsg.) Schriftenreihe, Band 24 zum Jüdischen Leben und zur NS-Verfolgung ISBN 978-3-89533-858-8, € 24,90 276 S., € 34,90, ISBN 3-593-37515-X 438 S., EAN 978-3-593-39168-7, € 39,90; Bilder im Kopf / Obrazy w glowie Frankfurt am Main, 2009, 76 S., € 5,–, ISBN 978-3- Julius Hirsch galt als einer der besten Stürmer seiner Wissenschaftliche Reihe, Band 9 Wissenschaftliche Reihe, Band 17 Auschwitz – Einen Ort sehen Joachim Perels (Hrsg.) 932883-23-1; Pädagogische Materialien Nr. 9 Zeit. Doch Hirsch war Jude. 1943 wurde das einstige Oswiecim – Ujecia pewnego miejsca Auschwitz in der deutschen Geschichte Fußballidol in Auschwitz-Birkenau ermordet. Susanne Meinl, Jutta Zwilling Micha Brumlik, Karol Sauerland (Hrsg.) Edition Hentrich, Berlin, 1996, 146 S., 134 Abb., Offi zin-Verlag, Hannover, 2010, 258 S., „Eine grandiose Biografie.“ (Deutschlandradio) Legalisierter Raub Umdeuten, verschweigen, erinnern € 9,90, ISBN 3-89468-236-1; Schriftenreihe, Band 12 ISBN 978-3930345724, € 19,80; Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa Schriftenreihe, Band 25 durch die Reichsfi nanzverwaltung in Hessen Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2010, Hanno Loewy, Andrzej Bodek (Hrsg.) Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2004, 257 S., € 29,90, EAN 978-3-593-39271-4; »Les Vrais Riches« – Notizen am Rand Raphael Gross Reihe »Konfrontationen« Hardcover, Fadenbindung, 748 S., € 44,90, Wissenschaftliche Reihe, Band 18 Ein Tagebuch aus dem Ghetto Lodz Anständig geblieben ISBN 3-593-37612-1; (Mai bis August 1944) Nationalsozialistische Moral Wissenschaftliche Reihe, Band 10 Ronny Loewy, Katharina Rauschenberger (Hrsg.) Reclam Verlag, Leipzig, 1997, 165 S., € 9,20, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2010, 288 S., »Der Letzte der Ungerechten« ISBN 3-379-01582; Schriftenreihe, Band 13 € 19,95, ISBN 978-3-10-028713-7; Gottfried Kößler, Petra Mumme Wolfgang Meseth, Frank-Olaf Radtke, Matthias Proske Der Judenälteste Benjamin Murmelstein in Filmen Schriftenreihe, Band 26 Identität / Konfrontationen Heft 1 Schule und Nationalsozialismus 1942–1975 Gerd R. Ueberschär (Hrsg.) Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2011 NS-Verbrechen und der militärische Widerstand Rolf Pohl, Joachim Perels (Hrsg.) Jacqueline Giere, Gottfried Kößler Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2004, 208 S., 30 Abb., € 24,90, EAN 978-3-593-39491-6; gegen Hitler Normalität der NS-Täter? Gruppe / Konfrontationen Heft 2 327 S., € 37,90, ISBN 3-593-37617-2; Wissenschaftliche Reihe, Band 19 Darmstadt: Primus Verlag, 2000, 214 S., € 24,90, Eine kritische Auseinandersetzung Wissenschaftliche Reihe, Band 11 ISBN 3-89678-169-3; Schriftenreihe, Band 18 Hannover: Offi zin Verlag, 2011, 148 S., € 14,80 Heike Deckert-Peaceman, Uta George, Petra Mumme Werner Renz (Hrsg.) ISBN 978-3-930345-71-7; Schriftenreihe, Band 27 Ausschluss / Konfrontationen Heft 3 Dariuš Zifonun Interessen um Eichmann Margrit Frölich, Hanno Loewy, Heinz Steinert (Hrsg.) Gedenken und Identität Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Lachen über Hitler – Auschwitz Gelächter? Fritz Backhaus, Dmitrij Belkin Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler, Oliver Tauke Der deutsche Erinnerungsdiskurs Kameradschaften Filmkomödie, Satire und Holocaust und Raphael Gross (Hrsg.): Bild dir dein Volk! Ghetto / Konfrontationen Heft 4 Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2004, Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2012, München: Edition text + kritik im Richard Boorberg Axel Springer und die Juden 352 S., Hardcover, Fotos ISBN 978-3-89533-872-4, € 28,-- 262 S., € 32,90, ISBN 3-593-37618-0; 332 S., € 34,90, EAN 9783593397504 Verlag, 2003, 386 S., 40 s/w Abb., € 27,50, Göttingen: Wallstein Verlag, 2012, 224 S., 64 überw. Verena Haug, Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler Wissenschaftliche Reihe, Band 12 Wissenschaftliche Reihe, Band 20 ISBN 3-88377-724-2; Schriftenreihe, Band 19 farb. Abb., € 19,90, ISBN: 978-3-8353-1081-0 Deportationen / Konfrontationen Heft 5 Zahllose Sportlerinnen und Sportler waren im Schriftenreihe, Band 29 Europa des 20. Jahrhunderts von politischer Claudia Fröhlich Katharina Stengel Catrin Corell Jacqueline Giere, Tanja Schmidhofer Verfolgung betroffen. Dieses Buch porträtiert Wider die Tabuisierung des Ungehorsams Hermann Langbein Der Holocaust als Herausforderung für den Film Monika Boll und Raphael Gross (Hrsg.) Todesmärsche und Befreiung / Konfrontationen Heft 6 politische und rassische Opfer totalitärer Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung Ein Auschwitz-Überlebender in den erinnerungs- Formen des fi lmischen Umgangs mit der Shoah seit »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können« Systeme ebenso wie ihre Mitläufer und Alle Hefte der Reihe »Konfrontationen – Bausteine von NS-Verbrechen politischen Konfl ikten der Nachkriegszeit 1945. Eine Wirkungstypologie Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945 Profiteure. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2006, Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2012, transcript – Verlag, Bielefeld, 2008, 550 S., kart., zahlr. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2013, für die pädagogische Annäherung an Geschichte und VERLAG DIE WERKSTATT 430 S., € 39,90, ISBN 3-593-37874-4; 635 S., € 34,90, EAN 9783593397887 Abb., ca. € 36,80, ISBN 978-3-89942-719-6; 384 S., € 14,99, ISBN: 978-3-596-18909-0 Wirkung des Holocaust« sind zum Preis von € 7,60 www.werkstatt-verlag.de Wissenschaftliche Reihe, Band 13 Wissenschaftliche Reihe, Band 21 Schriftenreihe, Band 20 Schriftenreihe, Band 28 (ab 10 Hefte € 5,10) erhältlich.

110 Publikationen Einsicht 08 Herbst 2012 111 Impressum Fördern Sie mit uns das Nachdenken

Kontakt: über den Fritz Bauer Institut Grüneburgplatz 1 Holocaust D-60323 Frankfurt am Main Telefon: +49 (0)69.798 322-40 Telefax: +49 (0)69.798 322-41 [email protected] www.fritz-bauer-institut.de

Bankverbindung: Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Frankfurter Sparkasse Foto: Schindler-Foto-Report BLZ: 500 502 01, Konto: 321 901 IBAN DE91 5005 0201 0000 3219 01 BIC/SWIFT Code: HELADEF1822 Steuernummer: 45 250 8145 5 - K19 Einsicht 08 Finanzamt Frankfurt am Main III Fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist am 13. Vorstand des Fördervereins Bulletin des Januar 1995 in Frankfurt am Main die Stiftung »Fritz Bauer Institut, Brigitte Tilmann (Vorsitzende), Gundi Mohr (stellvertretende Vor- Direktor: Raphael Gross (V.i.S.d.P.) Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung sitzende und Schatzmeisterin), Dr. Diether Hoffmann (Schriftführer), Fritz Bauer Instituts Redaktion: Werner Konitzer, Werner Lott, des Holocaust« gegründet worden – ein Ort der Ausein-andersetzung Prof. Dr. Eike Hennig, Dr. Rachel Heuberger, Herbert Mai, Klaus Jörg Osterloh, Katharina Rauschenberger, unserer Gesellschaft mit der Geschichte des Holocaust und seinen Schilling, David Schnell Herbst 2012 Werner Renz Auswirkungen bis in die Gegenwart. Das Institut trägt den Namen 4. Jahrgang Anzeigenredaktion: Dorothee Becker Fritz Bauers, des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalts und Fördern Sie mit uns das Nachdenken über den Holocaust ISSN 1868-4211 Lektorat: Gerd Fischer, Renate Feuerstein Initiators des Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965 in Frankfurt am Der Förderverein ist eine tragende Säule des Fritz Bauer Instituts. Gestaltung/Layout: Werner Lott Main. Ein mitgliederstarker Förderverein setzt ein deutliches Signal bürger- Titelabbildung: Herstellung: Vereinte Druckwerke schaftlichen Engagements, gewinnt an politischem Gewicht im Stif- Archiv des Internationalen Suchdienstes Frankfurt am Main Aufgaben des Fördervereins tungsrat und kann die Interessen des Instituts wirkungsvoll vertreten. (ITS) in Bad Arolsen. Aus der Fotoserie: Erscheinungsweise: zweimal jährlich Der Förderverein ist im Januar 1993 in Frankfurt am Main gegrün- Zu den zahlreichen Mitgliedern aus dem In- und Ausland gehören »Holocaust Archives – International (April/Oktober) det worden. Er unterstützt die wissenschaftliche, pädagogische und engagierte Bürgerinnen und Bürger, bekannte Persönlichkeiten des Tracing Service Bad Arolsen, Germany«. Aufl age: 5.500 dokumentarische Arbeit des Fritz Bauer Instituts und hat durch das öffentlichen Lebens, aber auch Verbände, Vereine, Institutionen und Foto: Richard Ehrlich ideelle und fi nanzielle Engagement seiner Mitglieder und zahlrei- Unternehmen sowie zahlreiche Landkreise, Städte und Gemeinden. www.ehrlichphotography.com Manuskriptangebote: cher Spender wesentlich zur Gründung der Stiftung beigetragen. Textangebote zur Veröffentlichung in Er sammelt Spenden für die laufende Arbeit des Instituts und die Werden Sie Mitglied! Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts Erweiterung des Stiftungsvermögens. Er vermittelt einer breiten Jährlicher Mindestbeitrag: € 60,– / ermäßigt: € 30,– bitte an die Redaktion. Die Annahme Öffentlichkeit die Ideen, Diskussionsangebote und Projekte des In- Unterstützen Sie unsere Arbeit durch eine Spende! von Beiträgen erfolgt auf der Basis einer stituts, schafft neue Kontakte und sorgt für eine kritische Begleitung Frankfurter Sparkasse, BLZ: 500 502 01, Konto: 319 467 Begutachtung durch die Redaktion. Für der Institutsaktivitäten. Für die Zukunft gilt es – gerade auch bei Werben Sie neue Mitglieder! unverlangt eingereichte Manuskripte, zunehmend knapper werdenden öffentlichen Mitteln –, die Arbeit Informieren Sie Ihre Bekannten, Freunde und Kollegen über die Fotos und Dokumente übernimmt das und den Ausbau des Fritz Bauer Instituts weiter zu fördern, seinen Möglichkeit, sich im Förderverein zu engagieren. Fritz Bauer Institut keine Haftung. Bestand langfristig zu sichern und seine Unabhängigkeit zu wahren. Gerne senden wir Ihnen weitere Unterlagen mit Informationsmaterial Copyright: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust zur Fördermitgliedschaft und zur Arbeit des Fritz Bauer Instituts zu. © Fritz Bauer Institut Seit 1996 erscheint das vom Fritz Bauer Institut herausgegebene Stiftung bürgerlichen Rechts Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust im Campus Förderverein Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur Verlag. In ihm werden herausragende Forschungsergebnisse, Reden Fritz Bauer Institut e.V. mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. und Kongressbeiträge zur Geschichte und Wirkungsgeschichte des Einsicht erscheint mit Unterstützung des Holocaust versammelt, welche die internationale Diskussion über Grüneburgplatz 1 Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Massenverbrechen 60323 Frankfurt am Main refl ektieren und bereichern sollen. Telefon: +49 (0)69.798 322-39 Vorzugsabonnement: Mitglieder des Fördervereins können das ak- Telefax: +49 (0)69.798 322-41 tuelle Jahrbuch zum Preis von € 23,90 (inkl. Versandkosten) im [email protected] Abonnement beziehen. Der Ladenpreis beträgt € 29,90. www.fritz-bauer-institut.de 112 Impressum Einsicht 08 Herbst 2012 113 Jacek Cygan :_i`jkfg_Bi\lkqd•cc\i Der » 8LJM\n\iY\k€k`^b\`k `e9\ic`e(0*'Å(0+, Klezmer«

Das

Leben Die Bayreuther Festspiele und die „Juden“ 1876 bis 1945 des

Eine Ausstellung von Hannes Heer, Jürgen Kesting und Peter Schmidt Leopold

Kozłowski

METROPOL hannes heer · jürgen kesting · jacek cygan christoph kreutzmüller astrid ley · annette hinz- peter schmidt „Der letzte Klezmer“ Ausverkauf wessels (Hrsg.) Verstummte Stimmen Das Leben des Leopold Kozłowski Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit Die Euthanasie-Anstalt Brandenburg an Die Bayreuther Festspiele und die „Juden“ der Havel ISBN: 978-3-86331-092-9 in Berlin 1930–1945 1876 bis 1945 ca. 270 Seiten · 24,– € ISBN: 978-3-86331-080-6 Morde an Kranken und Behinderten im Nationalsozialismus ISBN: 978-3-86331-087-5 Jacek Cygan erzählt die ebenso erschüt- ca. 380 Seiten · 24,– € ISBN: 978-3-86331-085-1 412 Seiten · 24,– € ternde wie Mut machende Geschichte des Die Studie rekonstruiert das jüdische Gewer- 196 Seiten · 19,– € Die lokale Fallstudie der Wanderausstellung Musikers Leopold Kozłowski, der nicht nur betreiben in Berlin um 1930 und dessen Ver- Die „Euthanasie-Anstalt“ Brandenburg war „Verstummte Stimmen“ nimmt die Geschich- in Polen eine Legende ist. Wo immer der nichtung durch die Nationalsozialisten. In der eine der ersten Tötungseinrichtungen der te der Bayreuther Festspiele in den Blick. Sie heute 89-Jährige auftritt, füllt er Konzert- Reichshauptstadt war etwa die Hälfte aller jü- „Aktion T4“. Hier begann der Massenmord untersucht den Missbrauch der Festspiele säle. In Polen ist er berühmt als der „letzte dischen Unternehmen Deutschlands ansässig. durch Giftgas, der seine Fortsetzung im als Mittel der antisemitischen, deutsch- Klezmer Galiziens“ und Begründer des Schon deshalb wurde die Metropole ab 1933 Genozid an den europäischen Juden fand. nationalen Mobilisierung, die lange vor weltbekannten Festivals in Krakau. Der aus zum Zentrum des Boykotts und von Gewalt- Bis zur Schließung der Anstalt Ende Okto- 1933 praktizierte Ausgrenzung „jüdischer“ einer Familie von traditionellen Klezmorim aktionen; zugleich bot sie einen einzigartigen ber 1940 wurden in Brandenburg mehr als Künstler und dokumentiert die Schicksale stammende Kozłowski hat als Einziger sei- Raum für jüdische Selbstbehauptung. Der No- 9000 Menschen aus psychiatrischen Kran- jener, die in Bayreuth auftraten und Opfer ner Familie den Massenmord der National- vemberpogrom 1938 besiegelte auch die Ver- kenhäusern des nord- und mitteldeutschen des NS-Regimes wurden. sozialisten überlebt. nichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit. Raums ermordet.

Studien zum Antisemitismus in Europa | Bd. 3 Herausgegeben von Werner Bergmann und Ulrich Wyrwa !,&/.3!$!- Â$IE!RBEITERFRAGESOLL MIT(ILFEVON+: (iFTLINGEN GELySTWERDEN± Tim Buchen :WANGSARBEITIN+: !U†ENLAGERNAUFDEM'EBIET DERHEUTIGEN4SCHECHISCHEN2EPUBLIK Antisemitismus in Galizien HANNES LUDYGA Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden DAS OBERLANDESGERICHT in der Habsburgermonarchie um 1900 MÜNCHEN ZWISCHEN 1933 UND 1945

Wien

Budapest

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oliver von wrochem unter Mitarbeit alfons adam tim buchen hannes ludyga von lars jockheck (Hrsg.) „Die Arbeiterfrage soll mit Hilfe Antisemitismus in Galizien Das Oberlandesgericht München Skandinavien im Zweiten Weltkrieg und von KZ-Häftlingen gelöst werden“ Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der zwischen 1933 und 1945 die Rettungsaktion »Weiße Busse« Zwangsarbeit in KZ-Außenlagern auf dem Gebiet Habsburgermonarchie um 1900 ISBN: 978-3-86331-076-9 Ereignisse und Erinnerung der heutigen Tschechischen Republik ISBN: 978-3-86331-082-0 304 Seiten · 24,– € ISBN: 978-3-86331-060-8 ISBN: 978-3-86331-083-7 392 Seiten · 24,– € Die Geschichte des Oberlandesgerichts 360 Seiten · 24,– € ca. 420 Seiten · 24,– € Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich mit München in der NS-Zeit steht in direktem Der zweite Band der Neuengammer Kol- Die Studie untersucht die 38 Außenlager der den politischen und wirtschaftlichen Um- Zusammenhang mit der NS-Verfolgung loquien widmet sich in wissenschaftlichen Konzentrationslager Flossenbürg, Groß- wälzungen im Kronland Galizien, im heu- und „Rassenpolitik“ sowie dem Wider- Beiträgen und Zeitzeugenberichten der Si- Rosen und Auschwitz. Die Sklavenarbeit von tigen Südpolen und der Westukraine gelegen, stand gegen das Regime. Analysiert wer- tuation Skandinaviens während des Zweiten KZ-Häftlingen stand am Ende einer langen der Diskurs der „jüdischen Frage“ grundle- den die Rechtsprechung im Familien- und Weltkriegs. Thematisiert werden Verfolgungs- Entwicklung unterschiedlicher Formen von gend. 1898 erschütterte eine Welle der Ge- Erbrecht, bei Hochverrats- und Landesver- maßnahmen der deutschen Besatzungsmacht, Zwangsarbeit sowohl im „Sudetengau“ als auch walt gegen Juden das Land an der Peripherie ratsprozessen, bei Verfahren wegen „Wehr- Kollaboration wie auch Rettungsbemühungen im Protektorat, bei der auch regionale Phä- der k. u. k. Monarchie. Tim Buchens umfas- kraftzersetzung“ und „Feindbegünstigung“, von Skandinaviern, vor allem die Aktion nomene wie die „SS-Organisation Schmelt“ sende Studie erhielt den Wissenschaftlichen die Erbgesundheits- und Erbhofgerichts- Weiße Busse, die Situation der Überlebenden und die Verlagerung der deutschen Kriegs- Förderpreis des Botschafters von Polen und barkeit sowie die personelle Zusammen- sowie der Umgang mit den Ereignissen nach wirtschaft in weniger „bombengefährdete“ den Immanuel-Kant-Forschungspreis des setzung des Gerichts. 1945 in Deutschland und Skandinavien. Gebiete gegen Kriegsende eine Rolle spielten. Bundeskulturbeauftragten.

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