SPD – 05. WP Fraktionssitzung: 23. 01. 1969

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23. Januar 1969: Fraktionssitzung

AdsD, SPD-BT-Fraktion 5. WP, 115 Überschrift: »Protokoll der Fraktionssitzung von Donnerstag, 23. Januar 1969, 14.30 Uhr«. Dauer: 14.30–15.55 Uhr. Anwesend: nicht bekannt. Vorsitz: Schmidt. Bundesre- gierung: Schmid [?], Wehner. Protokoll: List. Datum der Niederschrift: 24. 1. 1969.

Sitzungsverlauf: Prüfung der Vorwürfe gegen Bundestagspräsident Gerstenmaier

Unter dem Vorsitz von tritt die Fraktion zu der vereinbarten Sonder- sitzung zusammen, um die Vorwürfe gegen Dr. zu prüfen.1 Helmut Schmidt unterrichtet die Fraktion davon, daß Dr. Gerstenmaier vor der CDU/ CSU-Fraktion seine Bereitschaft zum Rücktritt erklärt und daß die Fraktion diese an- genommen hat. Er verliest die veröffentlichten Erklärungen der CDU/CSU-Fraktion sowie von Dr. Gerstenmaier.2 Anschließend berichtet namens der Dreierkommission (Kurt Gscheidle, Martin Hirsch, Fritz Sänger), die von der SPD-Fraktion am Dienstag, 21. Januar 1969 mit der Klärung von 4 konkreten Fragen zum Wiedergutmachungsantrag Dr. Gersten- maiers beauftragt wurde (vgl. Anlage 1)3, über ihre Feststellungen. Es wird vereinbart, daß der Bericht der SPD-Kommission in vollem Wortlaut veröffentlicht wird (vgl. An- lage 1). Nach Berichterstattung über die von der SPD-Kommission herangezogenen Prüfungs- unterlagen und über Angaben zur Person Eugen Gerstenmaier und seinen Werdegang beantwortet Kurt Gscheidle die 4 Fragen der Fraktion vom 21. 1. wie folgt: a) Stehen die Wiedergutmachungszahlungen an Bundestags-Präsident Dr. Gerstenmaier in Übereinstimmung mit dem BWGöD? Diese Frage ist in bezug auf die seit 1965 geltende Fassung des BWGöD eindeutig zu bejahen.4 Die Erregung in der Öffentlichkeit sei auf unzureichende Rechtskenntnis der komplizierten Materie des Wiedergutmachungsrechtes zurückzuführen. Eine sogenann- te vollkommene Wiedergutmachung – wie im Fall Gerstenmaier – erhalten nur die

1 Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 21. Januar 1969 (Teil 1), TOP 6; SPD-Fraktionssitzung am 21. Januar 1969 (Teil 2), Fortsetzung TOP 6. 2 Die Erklärung von CDU/CSU lautete: »Der Präsident des Deutschen Bundestags, Dr. Eugen Ger- stenmaier, hat – in Wahrnehmung gesetzlicher Rechte – Wiedergutmachung für Unrecht erhalten, das ihm die Nationalsozialisten zugefügt hatten. Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU würdigt mit Re- spekt und Dankbarkeit die Persönlichkeit, den politischen Widerstand gegen das NS-Regime und die Verdienste des Bundestagspräsidenten um die Bundesrepublik Deutschland und insbesondere um den Deutschen .« Gerstenmaier seinerseits erklärte seinen Rücktritt zum 31. Januar und bat Vizepräsident Schoettle, vom 1. Februar an seine Aufgaben als amtierender Präsident zu übernehmen. Bis dahin wolle er sich nur mit der Abwicklung der Geschäfte befassen. Vgl. »Der Rücktritt Ger- stenmaiers«, FAZ vom 24. Januar 1969. 3 Der Kommissionsbericht liegt dem Protokoll als INFORMATIONEN, Nr. 58 vom 24. Januar 1969 bei. 4 »Siebentes Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsoziali- stischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes« vom 9. September 1965, BGBl. 1965 I S. 1210.

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Angehörigen des öffentlichen Dienstes, was historisch im Zusammenhang mit dem Gesetz zu Artikel 131 GG5 zu sehen ist. (Wegen der Höhe des Betrages vgl. den schrift- lichen Bericht, S. 8/9 = Anlage 1). b) Ist die in diesem Zusammenhang relevante Bestimmung der Novelle zum BWGöD, die am Ende der vierten Legislaturperiode verabschiedet wurde6, unter dem Einfluß des Bundestagspräsidenten Dr. Gerstenmaier zustande gekommen? Kurt Gscheidle verneint diese Frage namens der Kommission. Spätestens nach der drit- ten Novelle zum BWGöD habe sich die Frage der Behandlung von Beamten gestellt, die zwar ihre Ausbildung abgeschlossen, aber wegen Widerstand gegenüber dem Regime nicht angestellt wurden. Im Januar 1965 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß diese Schädigung in die Wiedergutmachungsregelung einzubeziehen sei.7 Danach ergaben sich für Habilitanden, denen trotz des Befähigungsnachweises die Leseerteilung nicht genehmigt wurde, Fragen nach weiteren Konsequenzen. Eine Vereinigung von Wissenschaftlern hätte in diesem Punkt stark auf die Gesetzgebung eingewirkt. Die endgültige Regelung im Gesetz habe den eigenen Vorstellungen Gerstenmaiers nicht entsprochen. Im Zeitpunkt der Novellierung des BWGöD ging es Gerstenmaier nach- weislich um die politische und wissenschaftliche Rehabilitierung. Dies sei nach der Rechtslage nur durch eine Antragstellung nach dem BWGöD möglich gewesen. c) Ist das Verfahren in Bezug auf den Antrag des Bundestagspräsidenten Dr. Gersten- maier in regulärer Weise abgewickelt worden? Die Kommission verstand die Frage so, ob Bevorzugungen erkennbar waren, die nur aus dem Amt des Antragstellers zu erklären sind. Sie kam zu der Meinung, daß sich in der Behandlung des Antrages Gerstenmaier durch die Behörden eine außerordentlich großzügige Kulanz zeigte, die aber nicht auf ihn beschränkt gewesen sei. Vielmehr wur- de bei Antragstellern mit einer guten Rechtsvertretung und mit Positionen im öffentli- chen Leben im allgemeinen gleich verfahren. d) Entsprechen die öffentlich abgegebenen Erklärungen des Bundestagspräsidenten Dr. Gerstenmaier zu seinem Wiedergutmachungsfall den Tatsachen? Die Kommission bejaht im Prinzip (Vgl. den Vermerk »Behandlung des Falles Gersten- maier in der Öffentlichkeit« als Anlage zum Kommissionsbericht). Hinsichtlich der Frage, ob Gerstenmaier sich bewußt gewesen war, daß mit der Antragstellung auch eine solche finanzielle Entschädigung verbunden ist, seien einige seiner Äußerungen in der Öffentlichkeit wohl nicht ganz bedacht abgegeben worden. Kurt Gscheidle faßt abschließend die Untersuchungen der SPD-Dreierkommission zu folgender Würdigung zusammen: Gerstenmaier ist ein Mann, der in der NS-Zeit Widerstand geleistet, Unrecht erlitten und Nachteile erfahren hat. Sein Anspruch auf Wiedergutmachung ist berechtigt. Es ging ihm um die Anerkennung als ordentlicher Professor und um den Rechtstitel. Sei- nen Antrag habe er mit allen Mitteln verfolgt, auch mit dem Einfluß seines Amtes als Bundestagspräsident. Dies sei verständlich als Reaktion auf die gegen ihn gerichteten 8 Angriffe z. B. im Ramcke-Prozeß. Der Feststellungsbescheid und die sich daraus erge-

5 Art. 131 GG betraf die »Rechtsverhältnisse ehemaliger Angehöriger des öffentlichen Dienstes«. 6 Vgl. Anm. 4. 7 Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung vom 12. Januar 1965 (BVerfGE 18, 288) erklärt, es widerspreche Art. 3 Abs. 1 GG, daß das BWGöD Beginn und Umfang der Wiedergutma- chung für geprüfte Kandidaten und für entlassene Referendare verschieden geregelt habe. 8 Der ehemalige General der Fallschirmjäger, Bernhard Ramcke, hatte Gerstenmaier 1963 vorgewor- fen, sich unberechtigterweise zum Widerstand gegen Hitler gezählt und ebenso unberechtigt akade-

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benden Zahlungen entsprächen dem BWGöD. Die Verwendung des ausgezahlten Be- trages wurde von der Kommission nicht nachgeprüft, da eine öffentliche Erklärung durch einen von Gerstenmaier aus Hamburg berufenen vereidigten Buchprüfer erfolgen wird. Die Kommission vertritt die Auffassung, daß Gerstenmaier eine Bereicherung weder angestrebt noch erfahren hat. Er habe im übrigen durch rückhaltslose Offenheit der Kommission die Erstellung dieses Berichtes ermöglicht. Der Fraktionsvorsitzende9 dankt der Kommission für ihren schnellen und präzisen Bericht. Die Fraktion stehe nun vor der Aufgabe, sich in entsprechender Form zu äu- ßern. Der Entwurf einer Erklärung, die von Alex Möller, und Helmut Schmidt ausgearbeitet und mit der SPD-Dreierkommission abgestimmt worden ist, liegt der Fraktion vor (Anlage 2)10. Die Fraktion hat die Möglichkeit, sowohl Fragen an die Kommission zu stellen, als den Erklärungsentwurf zu diskutieren. Helmut Schmidt bittet jedoch, von einer Detailberatung abzusehen. Die Fraktion sei heute in einer ande- ren Lage als am Dienstagabend, da inzwischen Eugen Gerstenmaier selbst Konsequen- zen gezogen habe. Die Fraktion solle bedenken: – Die menschliche und politische Substanz Gerstenmaiers dürfe in der Woge des Un- mutes »nicht unter den Schlitten geraten« – Die Ehre Gerstenmaiers als Widerstandskämpfer soll nicht verletzt werden – Die SPD kann stolz darauf sein, daß sie nicht voreilig verurteilte, bevor die Vorwürfe geprüft waren. So hätten sich nicht alle Fraktionen des Bundestages verhalten.11 Der Entwurf einer Erklärung der Sozialdemokratischen Bundestagsfraktion wird nach Diskussion wie folgt geändert: Zu Ziffer 1: Der Antrag von Werner Jacobi, die Worte »seinem Ansehen« zu streichen, wird nach Widerspruch von Helmut Schmidt zurückgezogen und Ziffer 1 unverändert angenommen.12 Zu Ziffer 2: keine Anträge Zu Ziffer 5: Übernommen wird der Vorschlag von Kurt Mattick, die Worte »der größte Teil« zu ersetzen durch »ein großer Teil«, sowie der Vorschlag von Klaus Arndt, die Worte »tausendjährigen Reiches« durch eine bessere Formulierung zu ersetzen (Natio- nalsozialismus).13 Der Vorschlag von Willy Könen, bei der Würdigung des Widerstan- des auch die Frauen zu nennen, wird ebenfalls angenommen. Zu Ziffer 4: Keine sachliche Änderung. Zu Ziffer 5: Durch Hinweis von Willi Michels auf die Formulierung betr. Kampagne rechtsradikaler Kreise wird zur Klarstellung eine Zeitbestimmung eingefügt (»in der

mische Titel geführt zu haben. Gerstenmaier verklagte Ramcke daraufhin, verständigte sich aber noch vor der Hauptverhandlung auf einen Vergleich. Eine Richtigstellung der Behauptungen Ramckes vor Gericht unterblieb damit. Ramcke zahlte 3000 DM Schmerzensgeld an Gerstenmaier, AdG 1969, S. 14461. 9 Helmut Schmidt. 10 Liegt dem Protokoll bei. 11 Spielt auf das Verhalten der FDP an, die am 20. Januar den Rücktritt Gerstenmaiers sowie eine Über- prüfung des Gesetzes gefordert hatte, das die rechtliche Grundlage für seine Entschädigung bildete. Vgl. »Die Freien Demokraten wünschen Gerstenmaiers Rücktritt«, FAZ vom 21. Januar 1969. 12 Ziffer 1 lautete: »Die Sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat von dem Rücktritt des Bundes- tagspräsidenten D. Dr. Eugen Gerstenmaier Kenntnis genommen. Sie ist der Auffassung, daß dieser Schritt seinem Ansehen und dem Ansehen der Demokratie und des Parlamentes dient.« 13 Der betreffende Satz hieß im Entwurf: »Wir wissen, daß der größte Teil des deutschen Volkes guten Glaubens in die Zeit des tausendjährigen Reiches hineingegangen ist.«

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Zeit zwischen 1957 und 1963«). Die Anregung von Carlo Schmid, statt rechtliche »rechtsförmliche« Anerkennung zu sagen, wird übernommen.14 Zu Ziffer 6: Um die Unterschiede zwischen der Wiedergutmachung nach dem BEG15 und der Wiedergutmachung im öffentlichen Dienst zu verdeutlichen, wird der Vor- schlag von H. Meermann aufgegriffen und die Worte »allgemeine« Wiedergutmachung für Haft- und Verfolgungsschäden und »besondere« Wiedergutmachung im öffentli- chen Dienst eingefügt. Abgelehnt durch Abstimmung werden zwei Anträge von Willy Könen, in Ziffer 6 die Worte »mit Befriedigung« und in Ziffer 7 die Worte »und unsere Anerkennung« zu streichen. Sowohl Helmut Schmidt als auch Herbert Wehner widersprechen dem An- trag Willy Könens. Herbert Wehner vertritt die Auffassung, daß die Erklärung zum Rücktritt Gerstenmaiers die SPD-Fraktion ehren sollte. Die Fraktion habe nichts zur Klärung der Sache unterlassen, ein Vorwurf könne sie nicht treffen. Die Erklärung der Fraktion sei von entscheidendem, wenn nicht einzigem Gewicht für die Beurteilung des Falles Gerstenmaier, der größere als nur persönliche Bedeutung habe. Zu Ziffer 7: Redaktionell wird das Wort »operiert« ersetzt durch »reagiert«. Abschließend stellt Helmut Schmidt fest, daß sowohl die Erklärung der Fraktion in der geänderten Fassung (vgl. Anlage 3)16 als auch der Bericht der Dreierkommission an- schließend veröffentlicht werden.

14 Die endgültige Formulierung lautete: »Veranlaßt durch eine Kampagne rechtsradikaler Kreise in der Zeit zwischen 1957 und 1963 hat sich Dr. Gerstenmaier um die rechtsförmliche Anerkennung seiner Widerstandshaltung bemüht.« 15 Für das »Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung« (Bun- desentschädigungsgesetz) siehe BGBl. 1956 I S. 559. 16 Liegt dem Protokoll als INFORMATIONEN, Nr. 53 vom 23. Januar 1969 bei.

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