Plenarprotokoll 19/196

Deutscher

Stenografischer Bericht

196. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 23: Tagesordnungspunkt 24: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- a) Antrag der Abgeordneten , rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- , Dr. ten Gesetzes zur Änderung des Bundes- (Rhein-Neckar), weiterer Abgeordneter elterngeld- und Elternzeitgesetzes und der Fraktion der FDP: Mobile Luft- Drucksache 19/24438 ...... 24721 B filter für Schulen zur Minimierung eines Ansteckungsrisikos mit dem Coronavi- b) Antrag der Abgeordneten Grigorios rus Aggelidis, Katja Suding, , Drucksache 19/24207 ...... 24734 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Elterngeld verlässlich und rea- b) Beschlussempfehlung und Bericht des litätsnah neu gestalten – Finanzielle Ausschusses für Bildung, Forschung und Risiken für Eltern beseitigen Technikfolgenabschätzung Drucksache 19/17284 ...... 24721 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Götz Frömming, Nicole Höchst, Franziska Giffey, Bundesministerin BMFSFJ . 24721 C Dr. , weiterer Abgeordneter Johannes Huber (AfD) ...... 24722 C und der Fraktion der AfD: Auf den Leh- rer kommt es an – Nachhaltige Auf- Nadine Schön (CDU/CSU) ...... 24723 B wertung des Schulwesens statt Öko- nomisierung (FDP) ...... 24724 A (DIE LINKE) ...... 24725 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Suding, Dr. Jens Brandenburg (Rhein- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 24725 D Neckar), (Süd- pfalz), weiterer Abgeordneter und der (SPD) ...... 24726 D Fraktion der FDP: Weniger Bürokratie (AfD) ...... 24727 C wagen – DigitalPakt Schule beschleu- nigen (CDU/CSU) ...... 24728 C Drucksachen 19/22456, 19/20582, 19/23792 Buchstaben c und e ...... 24734 D Johannes Huber (AfD) ...... 24729 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Nicole Bauer (FDP) ...... 24730 A Ausschusses für Bildung, Forschung und Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 24730 D Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Suding, Dr. Jens Dr. (CDU/CSU) ...... 24731 B Brandenburg (Rhein-Neckar), Mario Brandenburg (Südpfalz), weiterer Abge- Sönke Rix (SPD) ...... 24732 B ordneter und der Fraktion der FDP: (Hamburg) (CDU/CSU) . . . 24733 A PISA-Sofortprogramm – Reformagen- da für eine Bildungsnation Nicole Bauer (FDP) ...... 24733 C Drucksachen 19/15767, 19/20896 ...... 24734 D II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 d) Antrag der Abgeordneten Dr. Birke Bull- – zu dem Antrag der Abgeordneten Bischoff, Dr. , , , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeord- DIE LINKE: Unterstützung für Schulen neter und der Fraktion der FDP: Inkas- in der Pandemie – Mangelwirtschaft in sokosten senken, Schuldenfallen ver- der Bildung beenden meiden Drucksache 19/24450 ...... 24735 A – zu dem Antrag der Abgeordneten , Dr. André Hahn, Gökay in Verbindung mit Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Inkassounwesen beenden – Gesetzliche Maximalkosten Zusatzpunkt 13: einführen Antrag der Abgeordneten , Kai – zu dem Antrag der Abgeordneten Gehring, Dr. , weiterer Ab- Dr. , Tabea Rößner, geordneter und der Fraktion BÜND- , weiterer Abgeordneter NIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungschancen und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE gewährleisten, Kinder und Beschäftigte GRÜNEN: Unseriöses und überteuer- schützen und das Infektionsgeschehen ein- tes Inkasso eindämmen dämmen – Förderprogramm für mobile Drucksachen 19/20345, 19/20547, Luftfilter in Klassenräumen und Kinderta- 19/6009, 19/24735 ...... 24750 D geseinrichtungen Drucksache 19/24635 ...... 24735 A in Verbindung mit Katja Suding (FDP) ...... 24735 B Dr. (CDU/CSU) ...... 24736 A Zusatzpunkt 14: Nicole Höchst (AfD) ...... 24737 A Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Dr. Götz Frömming (AfD) ...... 24737 D ordneten Dr. , Roman Johannes Marja-Liisa Völlers (SPD) ...... 24738 C Reusch, , weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der AfD eingebrachten Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE) ...... 24739 D Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/ Bürgerlichen Gesetzbuches – Gesetz zum DIE GRÜNEN) ...... 24741 A Schutz von Verbrauchern vor unverhältnis- mäßigen Inkassoforderungen Dr. (SPD) ...... 24741 D Drucksachen 19/8276, 19/11238 ...... 24750 D (CDU/CSU) ...... 24742 D Dr. (SPD) ...... 24751 A Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE) ...... 24744 A (AfD) ...... 24751 D Tankred Schipanski (CDU/CSU) ...... 24744 B (CDU/CSU) ...... 24752 D Nicole Höchst (AfD) ...... 24744 C Katharina Willkomm (FDP) ...... 24754 A (SPD) ...... 24745 A Amira Mohamed Ali (DIE LINKE) ...... 24754 C Peter Heidt (FDP) ...... 24745 D Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 24755 B , Parl. Staatssekretär Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 24756 A BMWi ...... 24746 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 24757 A Dr. (SPD) ...... 24747 D (CDU/CSU) ...... 24748 D Tagesordnungspunkt 26: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Tagesordnungspunkt 25: Bundesregierung eingebrachten Ent- a) Zweite und dritte Beratung des von der wurfs eines Gesetzes zur Änderung Bundesregierung eingebrachten Entwurfs des Justizkosten- und des Rechtsan- eines Gesetzes zur Verbesserung des waltsvergütungsrechts (Kostenrecht- Verbraucherschutzes im Inkassorecht sänderungsgesetz 2021 – Kost- und zur Änderung weiterer Vorschrif- RÄG 2021) ten Drucksachen 19/23484, 19/24229, Drucksachen 19/20348, 19/24735 ...... 24750 C 19/24535 Nr. 8, 19/24740 ...... 24758 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des – Bericht des Haushaltsausschusses Ausschusses für Recht und Verbraucher- gemäß § 96 der Geschäftsordnung schutz Drucksache 19/24741 ...... 24758 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 III b) Beschlussempfehlung und Bericht des d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ausschusses für Recht und Verbraucher- Gökay Akbulut, Dr. André Hahn, Ulla schutz zu dem Antrag der Abgeordneten Jelpke, weiteren Abgeordneten und der , Dr. , Luise Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Grundgesetzes (Änderung des Artikels 3 Aktive Nutzungspflicht des besonderen Absatz 3 – Streichung des Begriffs Ras- elektronischen Anwaltspostfaches wei- se) ter zurückstellen Drucksache 19/20628 ...... 24766 B Drucksachen 19/23153, 19/24740 ...... 24758 D e) Antrag der Abgeordneten Dr. Marc c) Beschlussempfehlung und Bericht des Jongen, Dr. Götz Frömming, Nicole Ausschusses für Recht und Verbraucher- Höchst, weiterer Abgeordneter und der schutz zu dem Antrag der Abgeordneten Fraktion der AfD: Gesellschaftlichen Katja Keul, , Canan Zusammenhalt stärken – Nationalen Bayram, weiterer Abgeordneter und der Aktionsplan gegen Rassismus aufheben Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Drucksache 19/24654 ...... 24766 B Anwaltliches Berufsrecht zukunftsfest (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 24766 C machen Drucksachen 19/16884, 19/22807 Buch- (CDU/CSU) ...... 24767 C stabe b ...... 24758 D Dr. (AfD) ...... 24768 C (SPD) ...... 24759 A (SPD) ...... 24769 B (AfD) ...... 24760 B Stephan Thomae (FDP) ...... 24770 B Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) ...... 24761 B Gökay Akbulut (DIE LINKE) ...... 24771 B Annette Widmann-Mauz, Staatsministerin BK 24772 B Katrin Helling-Plahr (FDP) ...... 24762 B Dr. Marc Jongen (AfD) ...... 24773 C (DIE LINKE) ...... 24763 A Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 24774 C Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 24763 C Grigorios Aggelidis (FDP) ...... 24775 C Hans-Jürgen Thies (CDU/CSU) ...... 24764 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 24776 B (SPD) ...... 24777 B Dr. Marc Jongen (AfD) ...... 24777 C Tagesordnungspunkt 27: (CDU/CSU) ...... 24779 B a) Antrag der Abgeordneten Filiz Polat, (Augsburg), Dr. Konstantin von Notz, weiterer Abgeordneter und der Tagesordnungspunkt 28: Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Für eine antirassistische und chancenge- SPD: Aufforderung an die Europäische rechte Einwanderungsgesellschaft – Kommission zur Umsetzung der Bür- Rassismus bekämpfen, Vielfalt stärken gerinitiative „Minority SafePack“ Drucksache 19/24636 ...... 24765 D Drucksache 19/24644 ...... 24780 B b) Erste Beratung des von den Abgeordneten b) Antrag der Abgeordneten Filiz Polat, Luise , Filiz Polat, Luise Amtsberg, , weiterer Ab- Amtsberg, weiteren Abgeordneten und geordneter und der Fraktion BÜND- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NIS 90/DIE GRÜNEN: Unterstützung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes der Europäischen Bürgerinitiative zur Änderung des Grundgesetzes (Arti- „Minority SafePack“ kel 3 Absatz 3 – Ersetzung des Wortes Drucksache 19/24637 ...... 24780 B Rasse und Ergänzung zum Schutz gegen gruppenbezogene Menschenwürdever- (CDU/CSU) ...... 24780 C letzungen) (AfD) ...... 24781 B Drucksache 19/24434 ...... 24766 A (SPD) ...... 24782 A c) Antrag der Abgeordneten Ulle Schauws, Sandra Bubendorfer-Licht (FDP) ...... 24783 A Filiz Polat, Canan Bayram, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜND- (DIE LINKE) ...... 24783 D NIS 90/DIE GRÜNEN: Unabhängigkeit Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 24784 C der Antidiskriminierungsstelle des Bun- des stärken (CDU/CSU) ...... 24785 B Drucksache 19/24431 ...... 24766 A (CDU/CSU) ...... 24786 A IV Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Tagesordnungspunkt 29: Tagesordnungspunkt 30: a) Antrag der Abgeordneten , a) Antrag der Abgeordneten , , Udo Theodor Jörg Cezanne, , weiterer Abge- Hemmelgarn, weiterer Abgeordneter und ordneter und der Fraktion DIE LINKE: der Fraktion der AfD: Innenstädte als Wirtschaftsprüfung reformieren, Inte- Heimatraum – Lebensfähigkeit entwi- ressenkonflikte reduzieren ckeln, Verödung stoppen Drucksache 19/22204 ...... 24795 B Drucksache 19/24658 ...... 24786 D b) Antrag der Abgeordneten , b) Antrag der Abgeordneten Marc Bernhard, Dr. , Anja Hajduk, wei- Udo Theodor Hemmelgarn, Frank terer Abgeordneter und der Fraktion Magnitz, weiterer Abgeordneter und der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bilanzbe- Fraktion der AfD: Innenstädte erhalten, trug durch kompetente und unabhängi- Umnutzung von Gewerbeimmobilien ge Wirtschaftsprüfung schnell aufde- erleichtern cken und erfolgreich bekämpfen Drucksache 19/24661 ...... 24787 A Drucksache 19/23730 ...... 24795 B Fabio De Masi (DIE LINKE) ...... 24795 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher- Dr. (CDU/CSU) ...... 24796 C schutz zu dem Antrag der Abgeordneten Tobias Matthias Peterka (AfD) ...... 24797 B Claudia Müller, Anja Hajduk, Dr. Manuela Rottmann, weiterer Abgeordneter und der Dr. Jens Zimmermann (SPD) ...... 24798 B Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (FDP) ...... 24798 D Risikoverteilung bei Gewerbemieten klarstellen – Selbstständige, kleine und Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . 24799 C mittlere Unternehmen in der Corona- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 24800 C Krise unterstützen (SPD) ...... 24801 B Drucksachen 19/22898, 19/24501 ...... 24787 A Fritz Güntzler (CDU/CSU) ...... 24802 B Frank Magnitz (AfD) ...... 24787 B Michael Kießling (CDU/CSU) ...... 24788 C Nächste Sitzung ...... 24803 C (FDP) ...... 24789 C Berichtigung ...... 24803 A (SPD) ...... 24790 D (DIE LINKE) ...... 24791 C Anlage 1 Claudia Müller (BÜNDNIS 90/ Entschuldigte Abgeordnete ...... 24805 A DIE GRÜNEN) ...... 24792 C

Eckhard Pols (CDU/CSU) ...... 24793 B Anlage 2 (SPD) ...... 24794 B Amtliche Mitteilungen ...... 24806 A Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24721

(A) (C)

196. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte der CDU/CSU) nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Vor Eintritt in die Tagesordnung teile ich Ihnen mit, Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Se- dass sich der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung nioren, Frauen und Jugend: darauf verständigt hat, wie üblich während der Haushalts- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und beratungen in der kommenden Sitzungswoche ab Diens- Herren Abgeordnete! Guten Morgen! Ich freue mich, tag, den 8. Dezember, bis Freitag, den 11. Dezember, dass wir heute in erster Lesung das neue Elterngeldgesetz keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde beraten und damit einer der bekanntesten und beliebtes- und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als ten Familienleistungen in Deutschland noch einmal zu Präsenztage sind die Tage von Montag, den 7. Dezember, einer Verbesserung verhelfen können. (B) bis Freitag, den 11. Dezember, festgelegt worden. Sind Rund 2 Millionen Familien nutzen das Elterngeld in (D) Sie damit einverstanden? – Dann ist das so beschlossen. Deutschland. Mit ihm stärken wir die wirtschaftliche Sta- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: bilität von Familien. Wir geben ihnen in den ersten Lebensmonaten ihres Kindes Sicherheit und vor allem a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Zeit. Zugleich trägt diese Leistung einem gesellschaftli- eingebrachten Entwurfs eines Zweiten chen Wandel Rechnung, und das seit über zehn Jahren. Gesetzes zur Änderung des Bundeseltern- Denn immer mehr Eltern wollen sich die Erwerbsarbeit geld- und Elternzeitgesetzes und die familiäre Sorgearbeit partnerschaftlicher auftei- len. Seit seiner Einführung im Jahr 2007 hat das Eltern- Drucksache 19/24438 geld dazu beigetragen, dass mehr Mütter und Väter die- Überweisungsvorschlag: sen Wunsch auch in die Tat umgesetzt haben. Heute Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) nutzen rund 40 Prozent der Väter das Elterngeld – mit Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss steigender Tendenz. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Grigorios Aggelidis, Katja Suding, Nicole An diese Erfolge wollen wir anknüpfen und das Eltern- Bauer, weiterer Abgeordneter und der Frak- geld noch besser aufstellen: Wir sorgen für noch mehr tion der FDP Partnerschaftlichkeit und Flexibilität. Wir entlasten Elterngeld verlässlich und realitätsnah Eltern, deren Kinder zu früh geboren worden sind. Und neu gestalten – Finanzielle Risiken für wir vereinfachen die Abläufe und entlasten damit Eltern, Eltern beseitigen Elterngeldstellen und Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. So bleibt den Eltern mehr Zeit für das Wichtigste, für die Drucksache 19/17284 Kinder. Überweisungsvorschlag: Mehr Partnerschaftlichkeit, mehr Flexibilität – mit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales dem Elterngeld Plus können Eltern doppelt so lange Haushaltsausschuss Elterngeld beziehen und parallel leichter wieder in den Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten Beruf einsteigen. Den Partnerschaftsbonus erhalten sie beschlossen. zusätzlich, wenn sich beide vornehmen, vier Monate parallel in Teilzeit zu arbeiten und sich somit Erwerbs- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der und Familienarbeit gerechter partnerschaftlich aufzutei- Bundesfamilienministerin Frau Giffey. len. 24722 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Bundesministerin Franziska Giffey (A) Manchmal aber durchkreuzt das Leben die Pläne, zum Herzlichen Dank. (C) Beispiel wenn ein Partner plötzlich schwer erkrankt, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wenn in einem Betrieb auf einmal viel mehr gearbeitet werden muss oder wenn Teilzeit nicht wie geplant einge- halten werden kann. Künftig sollen Eltern dann nicht Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mehr in die Lage kommen, den Partnerschaftsbonus Nächster Redner ist der Kollege Johannes Huber, AfD. zurückzahlen zu müssen. Wir wollen ihnen auch mehr (Beifall bei der AfD) Flexibilität geben, wenn die Pläne anders verlaufen als ursprünglich gedacht. Wir erweitern den Stundenkorridor auf 24 bis 32 Stunden pro Woche. Das ermöglicht Eltern, Johannes Huber (AfD): Müttern und Vätern, zum Beispiel eine Viertagewoche Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Mitbürger! Die und gleichzeitig die Inanspruchnahme des Partner- meisten Eltern wünschen sich eine gute Vereinbarkeit schaftsbonus. – Wir stellen also sicher, dass der Partner- von Familie und Beruf, mehr Zeit für ihre Kinder, aber schaftsbonus nicht zurückgezahlt werden muss, wenn ein auch Zeit für den eigenen beruflichen Weg. Das Eltern- Partner aufgrund von Krankheit, anders als geplant, nicht geld wurde mit dem Ziel eingeführt, die wirtschaftliche arbeiten kann. Zudem können Eltern diesen Partner- Stabilität von Familien und Müttern zu stützen. Studien schaftsbonus flexibel zwischen zwei und vier Monaten zeigen, dass dies für das erste Lebensjahr des Kindes nehmen und sich auch später noch umentscheiden, erreicht wurde. Weil das Elterngeld vor allem für dieje- wenn etwas dazwischenkommt. nigen Paare attraktiv ist, bei denen beide Elternteile berufstätig sind, bestehen also Anreize für die Familie Außerdem sorgen wir mit dieser Reform dafür, dass und für den Beruf. Diese Grundidee begrüßen wir des- Familien, die in der besonders schwierigen Situation halb ausdrücklich. sind, dass ihr Kind viel zu früh vor dem errechneten Geburtstermin auf die Welt gekommen ist, Unterstützung Es gibt aber erheblichen Diskussionsbedarf über den erhalten. Wenn ein Kind sechs Wochen oder mehr zu früh Partnerschaftsbonus. Dieser soll zwar nach dem Gesetz- geboren wird, erhalten Eltern einen zusätzlichen Monat entwurf der Bundesregierung durch eine größere Flexibi- beim Elterngeld. Wir nennen diesen Monat den „Früh- lität bei den Arbeitswochenstunden besser nutzbar chenmonat“. Damit wollen wir dafür sorgen, dass sich gemacht werden, was im Gedankenmodell des Part- Eltern in Ruhe um ihr Kind kümmern können, dass sie nerschaftsbonus tatsächlich eine Verbesserung darstellt. die Entwicklung, die ein Kind braucht, wenn es zu früh Paare erhalten diesen aber nur, wenn sie beide ihre gekommen ist, ein Stück weit aufholen können. Dafür Arbeitszeiten anpassen und somit gleichermaßen in die wird das Elterngeld gewährt. Betreuung des Kindes eingebunden sind. Dies greift aus (B) unserer Sicht in die elterliche Freiheit ein und subventio- (D) Wir vereinfachen die Dinge. Wir nehmen mit dieser niert nur jene Eltern, die sich mit der starren und ideo- Reform das Elterngeld auch hinsichtlich einer Entbüro- logischen Aufteilung anfreunden können. Daher ist der kratisierung in den Blick. In Zukunft soll es deshalb die Partnerschaftsbonus von der Konstruktion her abzuleh- Ausnahme sein, dass Eltern Nachweise über die Zahl der nen. Arbeitsstunden einreichen müssen, wenn sie während des Elterngeldbezuges in Teilzeit gearbeitet haben. Wir Wir begrüßen zwar die Möglichkeit, dass beide Eltern- schaffen die Möglichkeit für Eltern, auf Wunsch als teile sich die Zeit nehmen können, Nichtselbstständige behandelt zu werden, wenn sie nur ( [SPD]: Ach ja? Das ist ja ganz geringe Nebeneinkünfte aus selbstständiger Arbeit erzielt neu!) haben. Damit stellen wir sicher, dass ihre tatsächliche wollen dies jedoch nicht zur Voraussetzung machen. Aus Lebenssituation als Angestellte bei der Berechnung des diesem Grund wäre auch verwaltungstechnisch die ein- Elterngeldes besser berücksichtigt wird. fachste und sauberste Lösung, das Elterngeld als solches (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zu verlängern, und zwar unabhängig von der partner- schaftlichen Aufteilung. Das alles dient dazu, starke Familien in einem starken Land zu unterstützen, dazu, dass Frauen wie Männer Kin- (Beifall bei der AfD) der haben können, sich um die Familie kümmern können, Das zieht nämlich den Staat aus diesem höchstpersön- aber auch im Beruf erfolgreich sein können. Wir machen lichen Lebensbereich zurück, schafft wahre Entschei- es Vätern und Müttern leichter, ihr Leben nach ihren dungsfreiheit und wäre vor allem im Interesse des Kin- Wünschen zu gestalten. Und das ist wichtig für eine des. moderne Gesellschaft und für ein zukunftsfähiges Land. Mit dieser Politik, mit dieser Entscheidung heute, mit Eltern von Frühchen, die mindestens sechs Wochen diesem Gesetz geben wir Eltern das Signal: Sie können vor dem errechneten Geburtstermin auf die Welt kom- sich auf uns verlassen, auf eine Familienpolitik, die ihre men, sollen nach der Bundesregierung künftig pauschal Bedürfnisse beachtet und ihnen zur Seite steht. Das ist gut einen Monat länger Anspruch auf Basiselterngeld bzw. für Deutschland. Anspruch auf zwei weitere Monate Elterngeld Plus erhal- ten. Wir von der AfD könnten uns sogar vorstellen, dies (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) um noch einen zusätzlichen Monat zu erweitern, um der Ich freue mich auf die Beratungen, freue mich, dass wir besonderen Belastung Rechnung zu tragen und einen erfolgreichen Start in das Leben zu unterstützen. den Gesetzentwurf endlich im parlamentarischen Verfah- ren haben. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Unterstützung. (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24723

Johannes Huber (A) Um die finanzielle Belastung im Rahmen des Eltern- Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf packen wir (C) geldbezugs generell abzumildern, ist dringend ein größ- etwas an, das in Gesprächen mit jungen Eltern ganz oft erer Wurf als der von der Bundesregierung geboten, geäußert wurde. Wir machen möglich, dass man die Part- nämlich aus unserer Sicht sogar eine Erhöhung des nermonate noch flexibler als bisher wählen kann. Und Elterngeldes bis hin zum skandinavischen Vorbild. Höhe- wir passen den Stundenkorridor, der bisher zwischen 25 re Lebenshaltungskosten durch die ideologisch verur- und 30 Stunden lag, so an, dass er besser zur Arbeitswelt sachte Verknappung des Wohnraums sowie steigende passt. Viele Beschäftigte haben nach wie vor einen Acht- Preise für Energie und Güter des täglichen Bedarfs stundentag, und da macht es viel mehr Sinn, einen Stun- machen das notwendig, damit sich Eltern die gemeinsa- denkorridor von 24 bis 32 Stunden zu wählen. me Zeit mit den Kindern schlicht leisten können. Und ja, auch für das wichtige Thema Frühchen haben Wenn es Ihnen wirklich um Gleichberechtigung ginge, wir uns etwas vorgenommen, das wir uns im gesetzge- würden Sie gutausgebildeten Frauen erste Familiengrün- berischen Verfahren noch mal genau anschauen werden. dungen ermöglichen, also derjenigen Gruppe, bei der die Wir finden es wichtig, dass Paaren die Zeit, die sie nicht sogenannte Fertilitätslücke zwischen Kinderwunsch und haben, weil das Kind früher geboren worden ist, später Kinderzahl am größten ausfällt. Diese leistungsbereite zur Verfügung steht, um die Entwicklung des zu früh Gruppe wollen wir von der AfD familienpolitisch ganz geborenen Kindes bestmöglich zu begleiten. besonders fördern. Das sind wichtige Punkte, die immer wieder in Gesprä- Der Bundestag hat zuletzt grundlegend festgehalten, chen von den Eltern angesprochen worden sind, und das dass das ehrenamtliche Engagement von Bürgern unseres bringen wir hiermit auf den Weg. Staates große Anerkennung verdient. Eine ehrenamtliche Das reiht sich gut ein in die Politik, die wir in dieser Tätigkeit führt aber dazu, dass man weniger Elterngeld Legislaturperiode zum Schwerpunkt machen. Ich will nur erhält, als wenn man ausschließlich einen Beruf als noch mal daran erinnern: Wir haben das Kindergeld Angestellter ausüben würde. Daher hat bereits der Peti- erhöht. Wir haben den Kinderfreibetrag erhöht. Wir tionsausschuss des Deutschen Bundestages der Bundes- haben den Freibetrag für Alleinerziehende erhöht. Wir regierung mitgegeben, Entschädigungen aus Ehrenäm- haben das Baukindergeld eingeführt, das wir jetzt flexibi- tern bei Leistungen nach dem Bundeselterngeld- und lisieren, sodass es noch bis März beschieden werden Elternzeitgesetz nicht mehr als selbstständige Einkünfte kann. Wir haben außerdem das Gute-KiTa-Gesetz einge- bei der Berechnung des Elterngeldes heranzuziehen. führt. 5,5 Milliarden Euro, um Länder und Kommunen Wir haben jetzt einige Vorschläge auf den Tisch gelegt. bei der Qualität ihrer Kinderbetreuung zu unterstützen! Liebe Frau Giffey, machen Sie was aus unseren Vorschlä- Und wir haben zusätzlich noch draufgesattelt beim Aus- (B) gen! bau der Kinderbetreuung. (D) Vielen Dank. Aktuell haben wir ein weiteres Vorhaben in der Pla- nung, nämlich die Nachmittagsbetreuung an den Grund- (Beifall bei der AfD) schulen. Da hakt es noch in den Gesprächen zwischen Bund und Ländern; das will ich nicht verhehlen. Wir Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wollen, dass alle Kommunen es sich leisten können, Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Schön, eine Nachmittagsbetreuung für die Kinder zur Verfügung CDU/CSU. zu stellen. Wir legen als Bund 3,5 Milliarden Euro auf den Tisch. Wir steigen sogar in die Betriebskosten ein (Beifall bei der CDU/CSU) und flexibilisieren den Einstieg in den Restanspruch für die Nachmittagsbetreuung. Nadine Schön (CDU/CSU): So viele Angebote in einem Bereich, für den originär Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und die Kommunen und die Länder zuständig sind. Ich ver- Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zeit für stehe nicht, warum die Länder da nicht einschlagen. Das Familie – das ist, worum es uns auch heute geht, wenn ist die letzte Chance, diese Gelegenheit zu nutzen. wir wieder einmal die beliebte Familienleistung, das 3,5 Milliarden Euro, das ist wirklich eine Ansage. Elterngeld und die Elternzeit, flexibilisieren und anpas- sen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Das Elterngeld und die Elternzeit ist ein Teil unseres Gesamtkonzepts für Familien, das daraus besteht, dass Mit dem Geld, das wir auf den Tisch legen, und mit der wir zum einen die finanziellen familienpolitischen Leis- Flexibilisierung unserer familienpolitischen Leistungen tungen erhöhen – in dieser Legislaturperiode ganz be- wollen wir Eltern gerade in diesen schweren Zeiten un- sonders stark –, dass wir zum Zweiten hochwertige terstützen. Es wird oft gesagt: Na ja, in der Krise haben es Betreuungsangebote schaffen, flexibel und den Wün- die Eltern besonders schwer. – Und das stimmt! Wir tun schen der Eltern angemessen, und dass wir zum Dritten aber vieles, um die Eltern gut durch diese Krise zu be- mithelfen, gemeinsam mit den Unternehmerinnen und kommen. Wir sagen zum einen: Es soll bei den familien- Unternehmern eine familienbewusste Arbeitswelt zu politischen Leistungen wie etwa dem Elterngeld keiner schaffen, und mit unseren staatlichen Leistungen wie finanzielle Nachteile haben, weil er Kurzarbeitergeld dem Elterngeld die Kombination aus Berufstätigkeit bezieht. Das haben wir bereits im Sommer beschlossen, und Familie, Kinderbetreuung und Erziehung vereinfa- und das führen wir fort. Wir haben zum Zweiten den chen. Notfall-KiZ, den Notfallkinderzuschlag, eingeführt, der 24724 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Nadine Schön (A) dazu dient, dass Familien, die ein ganz kleines Einkom- Die Regelung zu den Frühgeburten haben Sie ange- (C) men haben, pro Kind zusätzliche finanzielle Mittel – und sprochen. Ich muss ehrlich sagen: Ich verstehe nicht, dadurch auch Leistungen des Bildungs- und Teilhabepa- warum Sie unsere Vorschläge nicht aufnehmen. Sie kets – beantragen können und so eine große finanzielle schaffen eine starre Vierwochenregel für all die Kinder, Entlastung erfahren. Das nützt gerade den Familien, die die sechs Wochen oder länger zu früh geboren worden arbeiten, aber ein kleines Einkommen haben. Diese Poli- sind. Das bedeutet: Bei Kindern, die fünf Wochen und tik wollen wir fortsetzen. sechs Tage zu früh geboren sind, gibt es nicht einen ein- zigen Tag länger Elterngeld. Genauso ist es bei Familien, Uns ist es wichtig, die Familien bestmöglich durch in denen die Kinder im Extremfall vielleicht sogar acht diese Krise zu bekommen und gleichzeitig die Verein- Wochen oder früher geboren worden sind: Auch da bleibt barkeit von Familie und Beruf jetzt und auch in den es bei den zusätzlichen vier Wochen. Wir fordern Sie auf: nächsten Jahren zu verbessern, damit die Familien ihren Schaffen Sie hier eine familien- und vor allem eine kin- Alltag so gestalten können, wie sie es am besten finden. der- und elternfreundliche Lösung! Sehen Sie zu, dass Sie Wir wollen keine Vorgaben machen. Wir wollen Wahl- sich an der Differenz zwischen dem tatsächlichen freiheit, wir wollen Flexibilität, und wir wollen vor allem, Geburtstermin und dem errechneten Geburtstermin dass jeder Familie, auch den Alleinerziehenden, die best- orientieren! Das würde Sicherheit schaffen. mögliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelingt. Das ist unsere Politik. In dieser Legislaturperiode haben (Beifall bei der FDP) wir einen besonderen Schwerpunkt darauf gelegt. Wir Zum Thema Digitalisierung. Ja, Sie schaffen tatsäch- stehen dafür, dass wir diese Politik auch fortsetzen. lich eine digitale Beantragung. Nutzen Sie doch bitte die Vielen Dank. Chancen der Digitalisierung, weil Familien teilweise monatelang auf das Elterngeld warten! Digitalisieren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sie den ganzen Prozess, vor allem die Berechnung des ordneten der SPD) Elterngeldes, damit Eltern nicht monatelang darauf war- ten müssen! Und vor allem: Geben Sie, solange Sie das nicht geschafft haben, den Kommunen die Möglichkeit, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mit Teil- oder Abschlagszahlungen die Eltern zu unter- Nächster Redner ist der Kollege Grigorios Aggelidis, stützen! Das wäre eine wirklich gute Hilfe für die Eltern. FDP. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Zum Thema Pflegefamilien möchte ich auch was sagen. Für uns sind Pflegefamilien Familien, die einen (B) Grigorios Aggelidis (FDP): wichtigen Beitrag für die Kinder leisten, die es besonders (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Minis- schwer haben. Dennoch werden diese Familien schlech- terin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Endlich, muss tergestellt. Wir fordern Sie auf: Weiten Sie den Anspruch man sagen. 2018 hatte schon Frau Barley Änderungen auf Elterngeld auf Pflegeeltern aus! beim Elterngeld, bei dieser guten und sehr wichtigen (Beifall bei der FDP) Leistung für Eltern und Kinder, versprochen. Dreimal haben Sie die Vorstellung des Entwurfs verschoben, und Dabei ist das Pflegegeld auf den Elterngeldanspruch fast drei Jahre später ist leider auch klar: Der große Wurf anzurechnen. ist es nicht. Der Gesetzentwurf ist leider nur ein halb- Ich komme zu einem für uns Liberale ganz wichtigen herziges Update für das Elterngeld; denn es bleiben zahl- Punkt, nämlich zur freien, zur selbstständigen Wahl der reiche Ungerechtigkeiten und Konstruktionsfehler. Eltern Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Immer wieder werden weiterhin Monate auf die Auszahlung warten, ist zu hören, dass Sie das ernst nehmen wollen. Vater- weil Sie die Chancen der Digitalisierung zu wenig nut- monate sollen dabei helfen; aber das tun sie leider nicht zen. Eine wirkliche Modernisierung für eine freie Auf- so sehr, wie es sein sollte. Denn aktuell ist der finanzielle teilung von Sorge- und Erwerbsarbeit schaffen Sie nicht, Anreiz gegeben, dass derjenige Partner oder diejenige und für viele Familien bleiben leider große finanzielle Partnerin, der bzw. die das niedrigere Einkommen hat, Risiken. auf die entsprechende Arbeitszeit sozusagen verzichtet, um den Einkommensverlust für die Familie möglichst Im Detail: Trotz der finanziellen Risiken, trotz der gering zu halten. jetzigen Situation lassen Sie bei der Berechnung des Elterngeldes für den Zeitraum vor der Geburt das Kran- Mein Kollege Christian Dürr hat Ihnen schon eine ken- und Insolvenzgeld aus. Das bedeutet, dass Familien, besonders gute Idee dazu vorgebracht, die wir natürlich die unverschuldet in diese Situation kommen, im Worst unterstützen und genauso fördern: Die Entscheidung, wer Case nicht nur den Job los sind, sondern dann auch noch das Elterngeld bezieht, muss von den unterschiedlichen beim Elterngeld massive Einbußen hinnehmen müssen. Einkommenshöhen unabhängig sein. Deswegen: Schaf- Wir fordern Sie auf: Berücksichtigen Sie endlich Insol- fen Sie analog zum Ehegattensplitting bitte auch ein venz- und Krankengeld bei der Berechnung des Eltern- Elterngeldsplitting! Damit wäre das gesamte Haushalt- geldes, damit Familien nicht die finanzielle Basis entzo- seinkommen maßgeblich für die Berechnung des Eltern- gen wird, sondern sie finanzielle Sicherheit in einer so geldes und nicht das jeweilige einzelne Einkommen des schweren Zeit haben! Partners. Damit würden Sie den Familien, den Müttern und den Vätern, die wirklich freie Wahl überlassen, wie (Beifall bei der FDP) sie sich das aufteilen. Das wäre eine gute Lösung. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24725

Grigorios Aggelidis (A) (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) (C) Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Machen Sie Ganz konkret frage ich: Warum zahlen Sie nicht jedem mit unserer Unterstützung aus dem Elterngeld eine rich- Elternteil 12 Monate Basiselterngeld, wenn sie zu Hause tige Erfolgsgeschichte, ein richtig gutes Elterngeld! Wir bleiben? Für Alleinerziehende muss es dann einen freuen uns auf die Beratungen im Ausschuss und auf die Anspruch über 24 Monate geben. Anhörung und würden uns wünschen, dass Sie im Inte- Selbst die Bundesregierung sagt: Seit der Einführung resse der Familien unseren Forderungen nachkommen. des Elterngeldes sind die Verbraucherpreise um 17,5 Pro- Danke. zent gestiegen. – Doch der Mindestbetrag ist nicht erhöht (Beifall bei der FDP) worden. Damit werden Familien mit geringen Einkom- men und ohne Einkommen weiter diskriminiert. Allein um die Inflation auszugleichen, müsste der Mindestbe- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: trag um 50 Euro beim Elterngeld und 25 Euro beim Katrin Werner, Die Linke, ist die nächste Rednerin. Elterngeld Plus angehoben werden. Wo bleibt die auto- (Beifall bei der LINKEN) matische Anpassung an den Verbraucherpreisindex? (Beifall bei der LINKEN) Katrin Werner (DIE LINKE): Wir haben das bereits im letzten Jahr hier vorgeschla- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und gen, und nichts ist passiert. Dabei wäre es dringend not- Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin! Ja, wir diskutieren wendig; denn es betrifft viele Eltern. Insbesondere Mütter einen Entwurf zur Änderung des Elterngeldgesetzes. Der beziehen beim Elterngeld oft nur den Mindestbetrag. Das Bezug von Elterngeld soll flexibler werden, es soll bes- betrifft jede vierte Mutter. sere Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit geben, es wird etwas einfacher, den Partnerschaftsbonus zu erhalten, Blicken wir noch mal kurz zurück: Seit 2007, seit und für Frühgeburten soll es einen Monat mehr Eltern- 13 Jahren, ist der Mindestbetrag nicht erhöht worden. geld geben. Das sind kleine Schritte in die richtige Rich- Ich möchte abschließend passend zur jetzigen Jahreszeit tung. Aber ehrlich gesagt: Das kann man eigentlich nicht einfach sagen: 2007 wurde das Lied „Wenn nicht jetzt, „Reform“ nennen; es ist wieder mal ein kleines Reförm- wann dann?“ der Kölner Karnevals- bzw. Musikgruppe chen. „Die Höhner“ zum offiziellen Song der Handball-WM. Wir finden, das ist die passende Motivation für die wei- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- teren Beratungen. neten der FDP) (Beifall bei der LINKEN) (B) Frau Giffey, drängende Probleme werden eben nicht (D) angegangen. Was ist mit der besseren Unterstützung Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: von Familien mit geringem oder gar keinem Einkom- men? Wo sind die mutigen Maßnahmen, die eine partner- Ulle Schauws, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste schaftliche Aufteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit för- Rednerin. dern? Wir finden, die fehlen in Ihrem Gesetzentwurf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 2007 wurde das Elterngeld eingeführt. Es ermöglicht Eltern eine finanzielle Unterstützung, um mehr Zeit mit Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ihren Kindern verbringen zu können. Auch Eltern, die Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- kein oder nur ein geringes Einkommen haben, bekommen ren! Junge Eltern befinden sich in der Rushhour des Elterngeld. Für sie gibt es den Mindestbetrag von Lebens. In kaum einer Lebensphase verdichten sich die 300 Euro bzw. von 150 Euro beim Elterngeld Plus. Anforderungen an Menschen so sehr wie in der ersten Doch der Mindestbetrag wird auf Hartz IV angerechnet. Phase der Familiengründung. Darum ist es wichtig, hier Die Familien, die es am dringendsten benötigen, werden den Druck aus den Familien zu nehmen, im Interesse der also wieder ausgeschlossen. Da sagen wir einfach: Das Eltern, im Interesse der Kinder und im Interesse eines darf nicht sein! Landes, das sich familienfreundlich nennen will. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Solange es keine Kindergrundsicherung gibt, muss die Familien in ihrer ganzen Vielfalt brauchen einen Anrechnung des Elterngeldmindestbetrags auf Hartz IV Schonraum in der turbulenten Phase nach der Geburt abgeschafft werden. ohne finanzielle Sorgen, mit Zeit für einen guten Start in das gemeinsame Leben. Mit dem Elterngeld und dem (Beifall bei der LINKEN) Elterngeld Plus wurde der Grundstein für Schonraum Ein weiterer Punkt, den Sie in Ihrem Gesetzentwurf geschaffen. Aber gleichzeitig steht fest: Familien brau- weitgehend ausblenden, ist die Partnerschaftlichkeit. Es chen mehr Zeit füreinander. Das Zweite Gesetz zur Ände- ist gut, dass immer mehr Väter Elternzeit in Anspruch rung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes wird nehmen. Doch wenn man mal genau hinschaut, sieht den tatsächlichen Bedürfnissen von Eltern nicht gerecht. man: Frauen beziehen durchschnittlich 14,3 Monate und Die meisten Eltern nutzen Elterngeld und Elterngeld Plus Männer nur 3,7 Monate Elterngeld. Gehen Sie das Pro- doch im ersten Lebensjahr eines Kindes. Selbst bei einem jekt an, damit das Elterngeld eben mehr zu einer partner- sofortigen Kitaplatz ist der Anspruch auf Elterngeld schaftlichen Aufteilung von Haus-, Sorge- und Erzie- schnell aufgebraucht. Am Ende ist noch viel Kindheit hungsarbeit beiträgt! und wenig Geld übrig. Größere Kinder brauchen phasen- 24726 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Ulle Schauws (A) weise mehr Zeit und Aufmerksamkeit beim Schul- oder zu unterstützen. Leider hat die Koalition hier nur sehr (C) Kitawechsel, zu Beginn der Pubertät oder zum Beispiel zaghafte Möglichkeiten vorgelegt. Die Gleichberechti- auch bei einer Trennung. Dann sollte eine finanzielle gung von jungen Familien wird so nicht gefördert. Abfederung von Arbeitszeitreduzierung möglich sein. Übrigens hat als Familienminis- Das wäre ein echter Beitrag zur Familienfreundlichkeit. terin – ich erinnere daran – 2007 bei der Einführung des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Elterngeldes deutlich mehr Mut bewiesen. Sie wollte vier Partnermonate am Stück einführen; das haben Sie als Frau Ministerin, mehr Zeit für Familie ist in Ihrem Union damals verhindert. Das hätte vor allem dem Enga- Gesetzentwurf allerdings nicht vorgesehen: nur ein extra gement von Vätern sehr gutgetan. Monat für Eltern von Frühgeborenen. Das ist gut; aber warum pauschal nur ein Monat? Was ist, wenn ein Kind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) drei Monate zu früh kommt? Hier haben Sie sich leider Wir, die Grüne-Bundestagsfraktion, schlagen die Wei- nur für eine Minimalverbesserung entschieden, und das terentwicklung des Elterngeldes, eine „KinderZeit Plus“ ist zu wenig. vor: Diese umfasst 24 statt 14 Monate, davon sind min- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN destens acht Monate Partnermonate. Das eröffnet viel sowie des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) mehr Möglichkeiten für beide Eltern, für die Familien- arbeit Arbeitszeit zu reduzieren; darin werden sie mit Wir als Grüne-Bundestagsfraktion setzen uns dafür einer Lohnersatzleistung unterstützt. Eltern können diese ein, dass Eltern besonders zu Beginn mehr Zeit mit ihren 24 Monate aufteilen und sogar bis zum 14. Lebensjahr Kindern haben, dass Familie gelebt und nicht nur ge- eines Kindes flexibel nutzen. Das wollen wir adäquat managt werden kann, und vor allem, dass Sorgeverant- auch für Alleinerziehende und mit entsprechenden Leis- wortung partnerschaftlich geteilt wird, wie es sich die tungen unterstützen. Diese Art flexibler Unterstützung meisten Eltern wünschen. Dafür reicht kein Partner- brauchen Familien. Sie brauchen eine moderne Zeitpoli- schaftsbonus, selbst wenn dieser nun flexibel und attrak- tik. Auf unseren Grünen-Vorschlag erhalten wir sehr tiv gestaltet werden soll. Klar ist, dafür braucht es eine positives Echo. Wir erkennen an, was Eltern leisten; Ausweitung der Partnermonate: für jeden Elternteil einen denn Kinder beim Großwerden zu begleiten, ist eben eigenen Anspruch. Hier bleibt Ihre Reform mutlos. Mit kein reines Privatvergnügen, sondern eine immense einer umfassenden Weiterentwicklung und mehr Partner- gesellschaftliche Leistung. monaten hätten Sie die Möglichkeit gehabt, die Weichen für mehr Gleichberechtigung in der Familienarbeit zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stellen. Diese Chance wurde zu unserem Bedauern ver- Meine Damen und Herren, wir mussten lange auf die (B) tan. Wir brauchen jetzt eine partnerschaftliche Auftei- Elterngeldreform warten. Wir hätten uns deutlich mehr (D) lung, und wir brauchen auch eine Care-Revolution. gewünscht. Dass Sie so mutlos bei der Weiterentwick- lung dieses guten Instruments, bei der Regelung für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mehr Geschlechtergerechtigkeit gewesen sind, bedauern Das führt uns, mehr als wir wollen, auch die aktuelle wir sehr. Für viele moderne Eltern ist das enttäuschend. Coronasituation schmerzhaft vor Augen. Gerade hier bei (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Was sind uns in Deutschland werden Frauen und Männer mit der denn „moderne Eltern“?) Geburt des ersten Kindes oft zurückgeworfen in traditio- nelle Rollenmuster. In Zahlen heißt das: Frauen leisten Deswegen brauchen wir hier Beratungen, Nachbesserun- jeden Tag 90 Minuten mehr unbezahlte Sorgearbeit als gen. Wir sagen: Es ist bedauerlich, dass es nur so weit Männer; verdienen tun sie im Durchschnitt immer noch gekommen ist. 21 Prozent weniger. Wenn wir eine gleichberechtigte Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Gesellschaft mit der Chance auf eine partnerschaftliche Aufteilung der unbezahlten Familien- und Hausarbeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Männern und Frauen wollen, müssen wir Optionen sowie der Abg. Katrin Werner [DIE LINKE]) eröffnen, dass sich Väter von Anfang an mit Zeit und Sorge für Kinder einbringen können. Zwar gab es seit Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Einführung des Elterngeldes deutliche Fortschritte beim Elterngeld der Väter; aber noch immer nehmen die meis- Nächster Redner ist der Kollege Stefan Schwartze, ten Väter nur zwei Partnermonate, und über 60 Prozent SPD. der Väter beziehen überhaupt kein Elterngeld. Das ist (Beifall bei der SPD) kein Fortschritt, weder für Frauen noch für Männer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stefan Schwartze (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach wie vor wird Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn etwas richtig betont, alle Entscheidungen seien reine Privatsache der gut läuft, dann sagt man bei mir zu Hause in Ostwestfa- Familie. Nein, so einfach ist das nicht. Die Wünsche der len: Da kannste nix von sagen. – Genauso ist das mit dem Eltern machen doch mehr als deutlich, dass viele Eltern Elterngeld: Da kannste nix von sagen. und vor allen Dingen viele Väter sich mehr einbringen wollen und Frauen das auch von Männern erwarten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Darum sollten wir deutliche Anreize schaffen, sie darin der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24727

Stefan Schwartze (A) Das Elterngeld ist eines der am besten funktionierenden Partnerschaftsbonus eingeführt. Wir haben sehr kurzfris- (C) Instrumente der Familienpolitik. Es verfolgt zwei Ziele: tig die Auswirkungen der Coronakrise auf das Elterngeld die Unterstützung junger Familien und gleichzeitig die abgefedert, und jetzt wollen wir weitere Verbesserungen Förderung von partnerschaftlicher Aufteilung von Fami- angehen – für ein Elterngeld, bei dem die Eltern auch lien- und Arbeitszeit. Bei mir im Kreis Herford wurde weiter der Meinung sind: Da kannste nix von sagen. von circa 3 000 bewilligten Anträgen im vergangenen Danke schön. Jahr etwa ein Drittel von Männern gestellt. Damit liegen wir zwar über dem Durchschnitt von einem Viertel in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ganz Nordrhein-Westfalen; aber da ist noch reichlich der CDU/CSU) Luft nach oben. Seit seiner Einführung 2007 hat das Gesetz immer Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wieder Anpassungen erfahren; denn mit unserer Fami- Martin Reichardt, AfD, ist der nächste Redner. lienpolitik nehmen wir veränderte gesellschaftliche Rea- litäten auf. Junge Familien wollen heute die Familien- (Beifall bei der AfD) und Erwerbsarbeit partnerschaftlich teilen. Sie wollen mehr Zeit mit der Familie verbringen, und genau deshalb Martin Reichardt (AfD): soll die Teilzeitmöglichkeit weiter flexibilisiert werden. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und So wird man künftig bis zu 32 Stunden während des Herren! Mein Kollege Huber hat schon auf die Probleme Bezugs von Elterngeld arbeiten dürfen. Das ist praxisnah; beim Elterngeld hingewiesen; es ist dazu hier auch heute denn so wird eine Viertagewoche möglich. Gleiches gilt schon viel Richtiges gesagt worden. Wir erkennen alle: für den Partnerschaftsbonus; den bekommen Eltern, Große Würfe für Eltern und Kinder dürfen wir von der wenn sie gleichzeitig in Teilzeit gehen. Hier ist klar SPD und dem Familienministerium nicht erwarten. geworden, dass der bisherige Korridor von 25 bis 30 Stun- Darum können wir den Blick auch etwas weiten. den praxisfern war. 25 Stunden sind zu viel für eine Drei- tagewoche, und 30 Stunden sind zu wenig für eine Viert- Mit Zustimmung zu den Coronamaßnahmen lässt die agewoche. Deswegen wird auch hier der Korridor SPD fleißige Menschen zu Bittstellern werden und um erweitert. ihre nackte Existenz kämpfen. Die SPD sieht tatenlos zu, wenn Restaurants, Hotels und Innenstädte veröden. Die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten SPD sieht tatenlos zu, wenn fleißige Menschen zu Bitts- der CDU/CSU) tellern werden und so leider Gottes ihrer persönlichen Gleichzeitig entbürokratisieren wir. Eltern, die wäh- Würde beraubt werden. Sie lassen Ihre ehemalige (B) rend des Elterngeldbezugs in Teilzeit arbeiten, werden Stammwählerschaft am langen Arm verhungern, und (D) nur noch ausnahmsweise nachträglich ihre Arbeitszeiten wir müssen das leider diesmal durchaus wörtlich nehmen. belegen müssen. Außerdem sollen Eltern mit geringen Sie sind unsozial, unsolidarisch und demokratiefeindlich. selbstständigen Nebeneinkünften, also unter 35 Euro im Ihre Familienministerin glänzt in diesen schweren Zeiten Monat, für die Bemessung des Elterngeldes künftig wie mit Untätigkeit, jedenfalls wenn es um Familie und Se- Nichtselbstständige behandelt werden, sofern sie das nioren geht. wollen. Für die Höhe ihres Elterngeldes kommt es (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE dann, wie bei allen Nichtselbstständigen, auf die zwölf GRÜNEN]: Haben Sie mitgekriegt, was das Monate vor der Geburt des Kindes an. Das hilft Zehntau- Thema heute ist? Erzählen Sie doch nicht so senden. einen Quatsch!) (Beifall bei der SPD) Ein Schlag ins Gesicht für isolierte Senioren und not- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Eltern, deren Kind leidende Familien ist es, wenn Sie sich, Frau Giffey, in besonders früh zur Welt kommt, stehen vor enormen der aktuellen Krise, die hier überall beschworen wird, als Herausforderungen. Deshalb benötigen sie besondere Covergirl für die lächerliche Kampagne „Ich bin eine Unterstützung, und deswegen sollen künftig Eltern, deren Quotenfrau“ zur Verfügung stellen. Kind sechs Wochen vor Termin geboren wurde, einen (Beifall bei der AfD – Zuruf von der LINKEN: zusätzlichen Monat Elterngeld bekommen. Sprechen Noch was zum Thema?) Sie mit Eltern, sprechen Sie mit Hebammen; ich sage Ihnen, das ist dringend erforderlich. Übrigens: Hebam- Zusammen mit egozentrischen Quotenemanzen doku- men sind eine Berufsgruppe, die in der aktuellen Coro- mentieren Sie, was Ihnen in dieser Krise wirklich wichtig nazeit viel zu wenig Aufmerksamkeit genießt, auch sonst ist, während Teile unserer Bevölkerung unter den Coro- viel zu wenig Respekt bekommt und auch viel zu schlecht namaßnahmen große Not leiden. für ihre Leistungen, die unverzichtbar sind, bezahlt wird. Alte Menschen, die nicht mehr leben wollen, weil sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Katrin isoliert werden, Kinder, die die Lebensfreude verlieren, Werner [DIE LINKE]: Dann macht doch mal ( [DIE LINKE]: Was hat das was!) denn mit dem Elterngeld zu tun?) Familienpolitik hat die Aufgabe, sich ständig den 3,3 Millionen Menschen in Kurzarbeit, das ist Ihnen alles neuen Lebensrealitäten anzupassen. Das nehmen wir egal, und das muss heute hier gesagt werden. mehr als ernst. Wir haben das Elterngeld in der letzten Wahlperiode reformiert und das Elterngeld Plus und den (Beifall bei Abgeordneten der AfD) 24728 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Martin Reichardt (A) Hauptsache, die Quote stimmt. Das ist das, was leider Movassat [DIE LINKE]: Da haben nicht mal (C) auch bei der Rede von den Grünen zum Ausdruck gekom- die eigenen Leute geklatscht! – Michael Gros- men ist. se-Brömer [CDU/CSU]: Selten so ein Thema (Lachen der Abg. Leni Breymaier [SPD] und verfehlt!) Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bereits im April haben wir gefordert, dass zur Unter- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: stützung von Senioren ein Freiwilligendienstprogramm Nächster Redner ist der Kollege Maik Beermann, aufgelegt werden soll. Das hätte dieser Risikogruppe geh- CDU/CSU. olfen. Sie weigern sich, diese Hilfe, die Sie 2015 Flücht- (Beifall bei der CDU/CSU) lingen zugebilligt haben, unseren Senioren zu gewähren. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Können Sie Maik Beermann (CDU/CSU): mal zum Tagesordnungspunkt reden? – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wer Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu von den Senioren kriegt denn Elterngeld?) der Rede vom Kollegen Schwartze von der SPD kann Wir fordern auch für Familien einen Ausgleich bei man sagen: Da kannste nix von sagen. – Zu der Rede krisenbedingten Mietschulden. Das wurde ebenfalls vom Kollegen Reichardt gerade eben kann man nur abgelehnt, sagen: Dazu sollte man etwas sagen, weil das eher eine Kabaretteinlage war oder eine Rede aus einer anderen (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wovon Parallelwelt, aber bestimmt keine Rede zu dem Thema, reden Sie eigentlich?) über das wir uns hier heute Morgen unterhalten. obwohl die Mietschulden zur Wohnungskündigung und damit zur Obdachlosigkeit von Familien führen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Haben GRÜNEN) Sie die falsche Rede mit? Wir reden über Elterngeld!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in diesem Jahr von diesem Pult aus oft über Familien und Kinder Das Einzige, was die SPD in dieser Krise tut, ist Panik gesprochen. Das war und ist angesichts der coronabe- verbreiten und mündige Bürger diffamieren. Sie spalten dingten Ausnahmesituation auch absolut richtig. Ich fin- unsere Gesellschaft in Regierungstreue und „Covidio- de es auch richtig klasse, dass heute Morgen um 9 Uhr, ten“. sozusagen in der Primetime des Parlaments, eine fa- (B) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was ist milienpolitische Debatte zum Elterngeld stattfindet. (D) das für eine Rede?) Warum? Weil wir das Elterngeld hier klar verbessern Für die Regierungskritiker, die Sie „Covidioten“ nennen, und positive Veränderungen für die Eltern herbeiführen. ist Ihre Antwort: Wasserwerfer marsch und Knüppel aus Ich würde mich freuen, wenn wir solche Familiendebat- dem Sack. – Das muss an dieser Stelle ganz eindeutig ten, solche gesellschaftspolitischen Debatten durchaus betont werden. Es ist eine Schande für die deutsche öfter zu einer solchen Uhrzeit hier im Parlament führen Demokratie. könnten. (Beifall bei der AfD – Lachen bei der SPD und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ordneten der SPD) Die SPD ist leider verkommen zum verlängerten Arm Im Dezember 2019 haben wir schon einmal über dieses von Herrn Söder und zur Marionette der wahren „Covi- Thema gesprochen. Da habe ich auch von diesem Pult aus dioten“ um ihren Panikdoktor Lauterbach. in Richtung Bundesregierung gesagt: Ich würde mich freuen, wenn zeitnah auch ein Gesetzentwurf vorgelegt (Lachen der Abg. Leni Breymaier [SPD]) wird. – Unter „zeitnah“ verstehe ich persönlich etwas Aber wir, die AfD – das betone ich zum Schluss –, sind anderes; denn wir sind jetzt ein Jahr später dran, aber der verlängerte Arm der notleidenden Familien in diesem besser spät als nie. Das nur kurz am Rande. Parlament. Das Elterngeld ist schon richtig gut, aber mit diesem (Niema Movassat [DIE LINKE]: Oh, mein Gesetzentwurf, der heute vorliegt, machen wir es noch Gott!) besser. Aber: Das Bessermachen beginnt ab heute, weil Wir sind die einzige Stimme für Freiheit und Demokratie ab heute das parlamentarische Verfahren beginnt. Ab in diesem Hause. heute werden wir uns über diesen Gesetzentwurf unter- halten, und aus allen Reihen der Opposition – bis auf die Vielen Dank. eine Reihe hier vorne rechts – gab es auch gute und (Beifall bei der AfD – Niema Movassat [DIE interessante Vorschläge, die diskussionsfähig und diskus- LINKE]: Von Ihnen will niemand vertreten sionswürdig sind. Ihrer werden wir uns auch annehmen. werden! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ Wir werden zu diesem Gesetzentwurf auch noch eine CSU]: Aber nächstes Mal reden wir zum The- Anhörung haben, in der man uns den einen oder anderen ma! – Martin Reichardt [AfD], an die CDU/ Hinweis geben wird. Wir werden diese Dinge berück- CSU gewandt: Das haben Sie doch selbst ges- sichtigen. Warum? Weil uns genau dieses Thema wichtig tern die ganze Zeit nicht gemacht! – Niema ist. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24729

Maik Beermann (A) 2007, als das Elterngeld eingeführt wurde, war eine keinem Antrag. Ich habe aber gesagt – hier möchte ich (C) Sternstunde, weil wir nämlich die familienpolitische Sie fragen, ob Sie das wirklich so teilen –, dass der Part- Leistung überhaupt ins Leben gerufen haben. 2007 ist nerschaftsbonus, so wie er heute konstruiert ist, eine star- man mit 4 Milliarden Euro als Haushaltsansatz gestartet, re und demnach auch ideologische Komponente beinhal- mittlerweile sind wir bei 7,3 Milliarden Euro angekom- tet, weil Väter und Mütter praktisch zu gleichen Anteilen men. 7,3 Milliarden Euro – das ist wirklich schon eine diesen Partnerschaftsbonus eingehen müssen. Sind Sie Hausnummer, und es wird noch mehr werden. Warum? wirklich der Meinung, dass alleine dieses Modell der Weil beispielsweise im letzten Jahr 1,9 Millionen Mütter starren Gleichmacherei das richtige Modell dafür ist, und Väter das Elterngeld genutzt haben. Ich bin mir oder sollten wir das nicht auch flexibilisieren? sicher: 2020 werden es noch mehr Eltern sein. (Gülistan Yüksel [SPD]: Fragen, die die Welt Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss aber auch nicht braucht!) noch einmal das erwähnen, was der Kollege Huber von der AfD gesagt hat. Die AfD möchte den Partnerschafts- Maik Beermann (CDU/CSU): bonus abschaffen, so steht es in deren Antrag. Die AfD Herr Kollege Huber, wissen Sie, man kann sich immer hat aber gar nicht verstanden, warum wir den Partner- über gewisse Nuancen oder Details unterhalten, aber ent- schaftsbonus eigentlich eingeführt haben, nämlich weil scheidend ist doch vielmehr, dass wir die Wünsche, die es mittlerweile tatsächlich so ist, dass nicht nur Mütter an uns Politiker herangetragen werden, umsetzen. Ich etwas von ihren Kindern haben wollen und bei der Erzie- persönlich finde den Partnerschaftsbonus dadurch, dass hung mitwirken wollen, sondern eben auch die Väter. Oh wir ihn mit diesem Gesetzentwurf jetzt weiter flexibili- Wunder, stellen Sie sich das einmal vor, liebe Kollegen sieren, erstens schon gar nicht ideologisch und zweitens der AfD: Die Väter wollen auch etwas von ihren Kindern schon gar nicht starr, sondern wir schaffen eine Möglich- haben! – Und wir verpflichten Eltern – in Klammern: keit oder unterbreiten ein Angebot an junge Eltern, diese Väter – überhaupt gar nicht, den Partnerschaftsbonus in Möglichkeit zu nutzen. Es zeigt sich auch, dass der Part- Anspruch zu nehmen, sondern wir schaffen die Möglich- nerschaftsbonus immer größere Beliebtheit bekommt, keit, dies zu tun. Es gibt auch eigentlich nichts Besseres. weil immer mehr Väter diese Möglichkeit nutzen. Von Von daher ist das, was Sie mit dem Partnerschaftsbonus daher, glaube ich, sind wir hier auf dem richtigen Weg. verbinden, total falsch. Wir schaffen die Möglichkeit, dass Väter dieselbe Möglichkeit haben wie auch Mütter. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das ist doch eigentlich etwas Schönes und auch etwas der SPD) Gutes. Ich entschuldige mich, wenn ich mich da falsch geäu- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ßert habe. Aber Sie haben gesagt: Der Partnerschaftsbo- (B) nus gehört abgeschafft. – Dann meinten Sie sicherlich: (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorgelegten Der Partnerschaftsbonus in dieser Form, wie er aktuell Gesetzentwurf vereinfachen und flexibilisieren wir also besteht, gehört abgeschafft. – Dann korrigiere ich das weiter. Wir nehmen die Wünsche der Eltern ernst, und sehr gerne. Das ist der Fairness halber geboten. Aber, darauf kommt es an. Wir wollen einen zusätzlichen wie gesagt, der Partnerschaftsbonus ist etwas, mit dem Elterngeldmonat bzw. zwei Elterngeld-Plus-Monate für wir für junge Eltern eine Möglichkeit schaffen, und wir Eltern mit Frühchen. Wir heben die zulässigen Teilzei- verbessern ihn jetzt weiter. Deswegen ist nichts ideolo- tumfänge von 30 auf 32 Wochenstunden an. gisch geprägt und schon gar nicht starr. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Beermann, der Kollege Huber von der Außerdem verschlanken und verbessern wir die Eltern. AfD würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/ Maik Beermann (CDU/CSU): CSU]: Bei manchen wäre es nicht schlecht!) Ja, dann mal zu. – Bei manchen wäre es wahrscheinlich wirklich nicht (Zuruf von der SPD: Das bringt doch nichts!) schlecht, aber das wollen wir uns natürlich nicht zumu- ten. – Also, noch einmal: Außerdem verschlanken wir. – Ja, ist doch egal. Zum Beispiel verbessern wir die Situation von Eltern (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der mit geringen selbstständigen Nebeneinkünften, indem LINKEN – Grigorios Aggelidis [FDP]: Nein, wir ein neues Antragsrecht einführen und sie bei der ist unsere Lebenszeit!) Elterngeldbemessung bis zu einem bestimmten Betrag wie Nichtselbstständige behandeln. Wir gehen das Pro- blem der sogenannten Mischeinkünfte an. Wir wollen Johannes Huber (AfD): Vielen Dank. Ich nehme zur Kenntnis, dass die SPD Eltern, die geringe Einkünfte aus selbstständiger Arbeit zugibt: Kollege Reichardt hatte recht, Herr Beermann ist haben, beim Elterngeld nicht benachteiligen. Ich denke, demokratischer als sie und lässt die Frage zu. Vielen das ist ein guter Punkt, den wir hier umsetzen. Dank dafür. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte Sie nämlich fragen: Sie haben behauptet, Wie schon erwähnt: Wir werden in den Verhandlungen dass wir den Partnerschaftsbonus komplett abschaffen im parlamentarischen Verfahren, die jetzt beginnen, wollen. Das ist natürlich so nicht richtig. Das steht in sicherlich das eine oder andere am Gesetzentwurf verän- 24730 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Maik Beermann (A) dern. Was wären wir für ein Parlament, wenn wir die Dies gilt übrigens auch für familienbedingte Auszeiten (C) Entwürfe, die die Bundesregierung hier im Hohen Haus für Führungskräfte wie beispielsweise Vorstandsmitglie- einbringt, einfach so lassen würden und nicht mehr unse- der. Auch ihnen muss es möglich sein, im begründeten re eigenen Gedanken und schon gar nicht die von Sach- Fall sechs Monate Auszeit nehmen zu können: für die verständigen und Experten berücksichtigen würden. Geburt, für die Kinder oder für zu pflegende Angehörige. Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, freue ich mich Wir haben dazu vor einigen Monaten hier im Deutschen auf das parlamentarische Verfahren, auf die Gespräche in Bundestag einen Antrag eingereicht. Umso mehr freut es den nächsten Wochen. Ich freue mich auf die Anhörung. mich, verkünden zu können, dass gestern die Justizminis- Ich bin mir sicher, dass wir in der zweiten und dritten ter der Länder die #Stayonboard-Initiative mit einem Lesung ein anderes Gesetz verabschieden werden als Beschluss unterstützten. Herzlichen Glückwunsch und das, was heute eingebracht wird. herzlichen Dank an dieser Stelle an Verena Pausder und ihre Mitstreiter bei der Initiative #Stayonboard! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Doch jetzt heißt es: tatsächlich umsetzen, und zwar noch in dieser Legislaturperiode, meine Kolleginnen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: und Kollegen. Es geht um ein Umdenken, es geht um Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bauer, FDP. einen Kulturwandel hin zu mehr Familienfreundlichkeit. (Beifall bei der FDP) Davon profitieren Mütter und Väter, Familien und Unter- nehmen. Das ist eine echte Win-win-Situation. Dafür machen wir, die FDP als Fortschrittspartei, uns stark Nicole Bauer (FDP): und laden all diejenigen ein, die dabei mitmachen wollen. Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Elterngeld ist eine Herzlichen Dank. Erfolgsstory: bekannt, beliebt, und das schon seit 13 Jah- (Beifall bei der FDP) ren. Umso mehr braucht es ein Update. Deshalb ist es gut und wichtig, dass wir hier und heute darüber sprechen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Die konkreten Verbesserungsvorschläge der FDP- Sabine Zimmermann, Die Linke, ist die nächste Red- Fraktion zum Elterngeld hat Ihnen Kollege Aggelidis nerin. bereits vorgestellt. Ich möchte nun die Vision einer modernen Familienpolitik der Zukunft vorstellen und (Beifall bei der LINKEN) ein Bild davon zeichnen, wie wir Freie Demokraten uns (B) vorstellen, wie man Familie und Beruf, Kinder und Kar- Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): (D) riere unter einen Hut bringen kann. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Mi- nisterin! Meine Damen und Herren! Elternsein ist (Beifall bei der FDP) anspruchsvoll, und das nicht erst seit der Coronapande- Kinder sind ein gemeinsames Projekt. Deshalb ist es mie. Eltern möchten für ihre Kinder da sein, aber auch fair, die Verantwortung entsprechend teilen zu können. keine beruflichen Nachteile erleiden. Sie wünschen sich Dafür brauchen die Familien aber die Freiheit, nach der auch eine partnerschaftliche Aufteilung der Sorgearbeit. jeweiligen Lebenssituation entscheiden zu können: ob All das fordert ausreichende und flexible Betreuungsan- eine Frau Vollzeit arbeitet und Kinder hat, ob ein Mann gebote sowie finanzielle Planungssicherheit mithilfe des Teilzeit arbeitet und sich um seine Kinder kümmert, ob Elterngeldes. Familien verdienen unsere bestmögliche sie Vollzeitmutter ist und den Haushalt macht, ob sie Unterstützung. Das, meine Damen und Herren, ist der Karriere macht und er Hausmann ist und ihr den Rücken Maßstab für eine gute Familienpolitik. freihält – alles okay, wenn echte Entscheidungsoptionen (Beifall bei der LINKEN) die Grundlage für den individuell besten Weg sind. Aktuell bezweifle ich aber, dass Familien echte Wahl- Leider ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung eine freiheit haben. kleine, in manchen Punkten sogar eine kleinliche Lösung. Das ist nicht die lang erwartete große Elterngeldreform – (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Dr. Silke so von der Bundesregierung angekündigt gewesen –; son- Launert [CDU/CSU]: Wie die CSU!) dern für Eltern eine große Enttäuschung. Da müssen Sie Leider ist es noch keine Selbstverständlichkeit, dass noch sehr viel nachbessern. Ereignisse wie die Geburt eines Kindes zum Leben gehö- Von Flexibilität, die Sie in der Begründung beschwö- ren. Studien zeigen, dass Mütter und Väter auf unter- ren, ist bei den konkreten Regelungen jedenfalls wenig zu schiedliche Weise auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert erkennen. Zum Beispiel: Sie begrenzen den Bezug des werden. Männer fürchten Nachteile im Job, wenn sie Elterngeldes Plus auf die ersten 32 Lebensmonate, mehr als zwei Monate Elternzeit nehmen. Frauen hinge- schränken also die Gestaltungsfreiheit der Eltern sogar gen müssen Nachteile erwarten, egal ob sie nur zwei noch ein. Auch der Korridor der Wochenarbeitszeit Monate oder länger Elternzeit nehmen. Das ist nicht in beim Partnerschaftsbonus bleibt eng, was besonders für Ordnung, und das muss bei uns in den Köpfen ankom- Alleinerziehende schwierig ist. men. Vor allem aber schwebt den Eltern weiterhin das Da- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Silke moklesschwert der Rückzahlung über dem Kopf. Es Launert [CDU/CSU]) braucht nicht viel, damit man die Grenzen des Stunden- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24731

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) korridors über- oder unterschreitet, zum Beispiel durch schluss nicht verlieren. Mit diesem Gesetz wollen wir (C) Kurzarbeit, betrieblich angeordnete Mehrarbeit, eigene diesem Modell ein Stück weit entgegenkommen. Nicht Krankheit oder Krankheit des Kindes; wir alle wissen, jeder und jede in diesem Land muss das wollen; so wird wie leicht das passieren kann. Hier fordern wir deshalb es nicht sein. dringend Nachbesserungen. Ich freue mich, wenn die FDP das Thema Wahlfreiheit (Beifall bei der LINKEN) für sich entdeckt; genau dafür stehen wir schon die ganze Wer gegen die Grenzen verstößt, verliert nun zwar nicht Zeit. mehr den Anspruch auf Elterngeld Plus für die Folgezeit, ( [CDU/CSU]: Genau!) wird aber auch künftig das bezogene Elterngeld wieder zurückzahlen müssen. Das ist für berufstätige Eltern eine Aber für die, die diese gleichberechtigte Teilhabe wol- Zumutung. Das muss dringend geändert werden, meine len – das sind immer mehr –, müssen wir Angebote Damen und Herren. schaffen. Da gehen wir einen wichtigen Schritt, mit (Beifall bei der LINKEN) einem ganzen Bündel von Maßnahmen. Die Rückzahlung trifft vor allem Eltern mit geringem Die Höchstarbeitszeitgrenze wird von 30 auf Einkommen am härtesten. Diese Eltern lassen Sie auch 32 Wochenstunden erhöht. Bei der Dauer des Elterngeld- sonst im Stich. Wer Mindestelterngeld bezieht, hat seit bezuges ist das eine gute und richtige Maßnahme. Viele 2007 jedes Jahr weniger Kaufkraft im Portemonnaie, sagen: Ich möchte die Elternzeit lieber über eine längere weil Sie den Betrag nicht angehoben haben; meine Kolle- Zeit strecken und mache eine Viertagewoche; das schaffe gin Werner hat dazu schon einiges gesagt. Auf Hartz IV ich. Mein Mann oder Partner kann eine Viertagewoche wird es auch noch angerechnet. Familien in Hartz IV machen. Ich habe noch Großeltern: Wir sind flexibel und gehen bei Familienleistungen regelmäßig leer aus. Fami- können die Elternzeit so gestalten. lienleistungen dürfen nicht auf Hartz IV angerechnet wer- Der Partnerschaftsbonus soll flexibilisiert werden. den. Das müssen Sie endlich ändern. Auch da: Der Stundenkorridor wird zu Recht auf 24 (Beifall bei der LINKEN) bzw. auf bis zu 32 Wochenstunden erweitert. Die Regel- ungen werden auch flexibler: Es ist keine Rückzahlung Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Realein- vorgesehen, wenn es dann doch nicht so klappt wie kommen sind bei den Geringverdienenden in den letzten geplant. 30 Jahren kaum gewachsen, bei den Ärmsten sind sie sogar geschrumpft. Da das Elterngeld lohnabhängig ist, Der Aspekt der Flexibilisierung ist ganz wichtig; das fällt es dadurch auch niedriger aus. Sorgen Sie endlich für wurde heute schon mehrfach angesprochen. Auch bei den (B) gute Arbeitsverhältnisse! Fangen Sie beim Mindestlohn Frühchen ist die vorgesehene Flexibilisierung richtig. Ein (D) an! Je höher die Löhne, desto mehr können sich die Fami- besonders früh geborenes Kind liegt in seinem Entwick- lien mit dem Elterngeld leisten, und das kurbelt sogar die lungsstand häufig ein bisschen hinter anderen zurück, Wirtschaft an. also ist es auch fair, den Eltern ein bisschen mehr Zeit Danke schön. zu geben, nämlich einen Monat. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Gedanke ist bestechend, zu sagen: Dann verlän- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gern wir doch die Elternzeit um jeden Tag, den das Kind Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Silke Launert, früher geboren ist. – Aber irgendwo müssen wir auch ein CDU/CSU. bisschen die Praktikabilität im Blick behalten. Ganz viele (Beifall bei der CDU/CSU) Kinder kommen 2 Tage, 5 Tage, 12 Tage, 17 Tage oder mehr zu früh, aber irgendwo müssen wir mal eine Grenze setzen. Und ich denke, es ist praktikabel – das ist der Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Hintergrund – und berechenbar, mit gewissen fixen Zei- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ten zu arbeiten. Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Weniger Aufwand, weniger Bürokratie, dafür mehr Flexibilität, Eltern mit geringfügigen Nebeneinkünften aus selbst- mehr gleichberechtigte partnerschaftliche Teilhabe: Das ständiger Tätigkeit – das ist angesprochen worden – wer- ist das, was viele junge Familien in unserem Land wollen. den nicht mehr als Selbstständige behandelt. Das ist abso- Mit dieser Reform des Bundeselterngeld- und Elternzeit- lut richtig. gesetzes wollen wir diesem Wunsch auch ein Stück weit Also, das ist ein Bündel von Maßnahmen. Wie wichtig entgegenkommen. uns das Elterngeld ist, zeigen nicht nur die Reform und Klar ist: Unsere Gesellschaft hat sich gewandelt. Das das permanente Nachbessern – diese Nachbesserungen Selbstbild junger Familien hat sich gewandelt, die basieren auf den Bürgergesprächen, die wir ja führen –, Bedürfnisse junger Eltern haben sich gewandelt. Viele sondern das zeigt auch der Gesamtrahmen im Familien- Mütter, aber auch Väter wollen sich bei der Erziehung etat. Wir haben für das Elterngeld 7,3 Milliarden Euro der Kinder mehr beteiligen, wollen miterleben, wie ihr bereitgestellt – der Familienetat für 2021 beläuft sich Kind die ersten Worte spricht und die ersten Schritte geht. auf 12,2 Milliarden Euro –; das ist die größte gesetzliche Viele Frauen wollen nicht nur Mutter sein, sondern auch Leistung, die wir im Familienetat haben. Das zeigt, wie im Beruf etwas bewegen, sich weiterentwickeln, den An- wichtig uns dieses Thema ist. 24732 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Dr. Silke Launert (A) Der CSU ist es auch ein Anliegen, dass wir damit die würden wir den Familien wirklich entgegenkommen, (C) Väter noch mehr einbinden. Wir würden uns auch freuen, wenn wir ihnen sagen könnten: Mit einer richtigen Fami- wenn wir noch mal zwei Extramonate für die Väter be- lienarbeitszeit helfen und unterstützen wir die Eltern da- kommen könnten. bei, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bekommen. – Ich lade herzlich dazu ein, darüber weiter zu diskutieren. (Beifall des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/ CSU]) (Beifall bei der SPD) Ich glaube, das ist kein Schaden, allerdings auch nur ein Nun liegt uns ein Gesetzentwurf vor, der eine Flexibi- Angebot, keine Verpflichtung. lisierung der Partnerschaftsmonate, eine Verbesserung Ich muss noch ganz kurz was zur AfD sagen, die sich der Bedingungen für Eltern von Frühgeborenen und hier als die einzig wahre Familienpartei feiert, die aber in eine Verbesserung der Situation von Eltern vorsieht, die der Coronakrise leider die Stimmung mancher Eltern neben ihrer Haupttätigkeit noch eine nebenberufliche missbraucht, die natürlich belastet sind. Sie sagt: Machen selbstständige Tätigkeit haben. Der Entwurf stellt eine wir doch Durchseuchung: Die Älteren sollen sich alle Verbesserung des Istzustandes dar. Deshalb ist er auch schützen; sie kriegen eine Maske, und dann ist alles gut. eine Verbesserung für Beschäftigte mit Familien. Das Kein Wort über die Risikogruppe der Schwangeren. So ist die Linie der SPD: Wir haben immer die Beschäftigten wichtig sind sie Ihnen also. In unserer Nachbarschaft ist mit Familien genau im Blick und wollen genau deren eine Schwangere ohne Vorerkrankung an Corona gestor- Leben verbessern, und dieser Gesetzentwurf verbessert ben. Es hat gedauert, bis man gemerkt hat, dass die das Leben von Familien, liebe Kolleginnen und Kolle- Schwangeren eine Risikogruppe sind. So wichtig sind gen. Ihnen die Familien! Mit keinem einzigen Wort haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie die Schwangeren erwähnt und gesagt, wie Sie diese der CDU/CSU) schützen wollen. Oder sollen die auch alle zu Hause ein- gesperrt werden? Er bettet sich in der aktuellen Krisenzeit auch in viele Maßnahmen ein, die wir schon auf den Weg gebracht (Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN haben. Wir haben zum Beispiel das Elterngeld auch jetzt sowie bei Abgeordneten der SPD und des in der Krisenzeit noch einmal angepasst, weil das nicht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael mit den zahlreichen Kurzarbeitregelungen kompatibel Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Er hat ja gar nicht war, die für Eltern gelten. Wir haben aber auch die Lohn- zum Thema geredet! fortzahlung für Eltern fortgesetzt, deren Kinder nicht in Ich bitte alle Familien: Fallen Sie nicht auf die falschen die Betreuung gehen können und zuhause betreut werden (B) Personen rein! müssen. Wir haben die Bedingungen für den Bezug des (D) Vielen Dank. Kinderzuschlags in Krisenzeiten verbessert. Deshalb passt sich dieser Gesetzentwurf vollkommen in die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- aktuelle Situation ein. ordneten der SPD) Aber ich sage auch: Im parlamentarischen Verfahren müssen wir nicht nur die konstruktiven Vorschläge von Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: fast allen Oppositionsfraktionen noch mal mitdiskutieren, Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Sönke Rix, sondern durchaus auch das, was vielleicht an eigenen SPD. Vorstellungen aus den Koalitionsfraktionen kommt. Wir (Beifall bei der SPD) müssen auch sehen, wie wir zum Beispiel das, was wir aus der Krisenzeit gelernt haben, jetzt auch insgesamt ins Elterngeldgesetz einbauen können, damit wir in Sonders- Sönke Rix (SPD): ituationen, in Krisenzeiten besser dastehen. Das, glaube Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- ich, wäre auch eine vernünftige Maßnahme, wenn wir ne Damen und Herren! Zunächst einmal ganz herzlichen diese Anpassung vornehmen. Dank an Frau Giffey und an die gesamte Bundesregie- rung für den Gesetzentwurf! Ganz herzlichen Dank an die (Beifall bei der SPD) Union, Liebe Kolleginnen und Kollegen, von daher sage ich (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gern an dieser Stelle: Ich bin sehr froh, dass wir im Gegensatz geschehen!) zu gestern eine sehr ruhige, sachliche und konstruktive weil wir mit diesem Gesetzentwurf schon ein Stück wei- Debatte geführt haben. Ich finde auch gut, dass die Vor- ter sind als das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart schläge aus den Oppositionsfraktionen – das sind ja Din- haben. ge, die auch insgesamt diskutiert werden – ins parlamen- tarische Verfahren mit aufgenommen werden können. Ich Aber Frau Launert hat richtigerweise gerade gesagt: finde es auch richtig und gut, dass wir das, was wir jetzt Die Gesellschaft hat sich nun mal verändert. – Wir als als guten Vorschlag vorliegen haben, weiterentwickeln SPD wären damals bei den Koalitionsverhandlungen ger- können; dafür ist ein parlamentarisches Verfahren da. ne noch einen Schritt weitergegangen und hätten den Deshalb freue ich mich auf die weiteren Auseinander- Schritt von einem Elterngeld zu einem richtigen Fami- setzungen und die konstruktiven Beratungen dazu. lienarbeitszeitmodell gemacht. Das können wir immer noch machen, wir sind dazu immer noch bereit. Damit Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24733

Sönke Rix (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nicole Bauer (FDP): (C) der CDU/CSU) Sehr geehrter Herr Weinberg, Sie haben ja meiner Rede gelauscht und mitbekommen, dass ich das Eltern- geld und die Elternzeit in seiner Gänze und die Einfüh- Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): rung vor 13 Jahren gelobt habe. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Sönke Rix und ich sind ja – „alte Männer“, hätte Nichtsdestotrotz: Können Sie mir recht geben, dass an ich fast gesagt – erfahrene Abgeordnete. der einen oder anderen Stelle – das diskutieren wir auch heute – Verbesserungsbedarf besteht und dass der Kultur- (Heiterkeit) wandel hin zu mehr Familienfreundlichkeit deutschland- weit, weltweit noch nicht in allen Unternehmen abge- Man sieht es uns nicht an, schlossen ist? Es gibt tolle Unternehmen, aber eben (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dazu noch nicht überall. gibt es unterschiedliche Auffassungen!) Herzlichen Dank. aber wir haben in den letzten 13 Jahren viele Debatten über das Elterngeld geführt, und da wurde auch schon Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): sehr ideologisch diskutiert. Man kann heute sagen: Das Natürlich habe ich Ihrer Rede wie immer mit großer Elterngeld – das ist deutlich geworden – ist ein Erfolgs- Freude gelauscht. Sie haben gerade noch mal bestätigt, modell. Es hat eine hohe Akzeptanz bei den Eltern. Selbst dass die Maßnahmen der Großen Koalition mit Blick auf die kritischen Abgeordneten müssen konstatieren: Das das Elterngeld die richtigen waren. Insoweit vielen Dank war eine richtig gute Entscheidung. Wir diskutieren heute für die nachträgliche Bestätigung. darüber, wie wir es noch weiter verbessern können. Inso- Ich teile Ihren Aspekt, und zwar sehr konkret. Als ich weit ist das Elterngeld unser großes Erfolgsmodell. vor vielen Jahrzehnten als Student in einem Unternehmen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gejobbt habe, gab es dort einen leitenden Mitarbeiter, der ordneten der SPD) sich damals erdreistete, die Erziehungszeit in Anspruch zu nehmen. Die Botschaft war: Dieser Mitarbeiter wird in Frau Bauer, Sie wollen jetzt den Kulturwandel einläu- diesem Unternehmen keine Karriere machen. Wer sich ten. Hallo, guten Morgen! Sie kommen 13 Jahre zu spät. als Mann um die Kinder kümmert, der ist am falschen 2007 haben wir den Kulturwandel eingeläutet. Platz. – Wir haben in den letzten Jahren einen Kultur- wandel hinbekommen und dafür gesorgt, dass es normal (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ist, dass sich auch Männer um die Kinder kümmern und (B) der SPD) dass Frauen Karriere machen. Das muss unser Ziel sein. (D) Wir haben aber nicht gesagt: Familien müssen anders Das ist das, was die Menschen in diesem Land – da bin denken. – Wir müssen die Familien mitnehmen – ent- ich bei Ihnen; da arbeiten wir gerne zusammen – auch ideologisiert. Das, was für die Familien wichtig ist, ihre wollen. Wünsche müssen wir in der Politik wahrnehmen. Inso- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. weit kommt Ihr Kulturwandel da etwas spät. Sönke Rix [SPD]) (Zuruf des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) Der Kulturwandel wird auch daran deutlich, dass die Eltern mehr und mehr möchten, dass es eine gute Ganz- – Entschuldigung, auch der Kollege aus Melmac möge tagsbetreuung gibt; darüber haben wir letzte Woche irgendwann in der Realität des Lebens ankommen. – Wir gesprochen. Der Kulturwandel bedeutet, dass viele sind gerne bereit, den Weg zu weisen; denn – das ist das Berufstätigkeit und Familienzeit besser zusammenbrin- Entscheidende beim Elterngeld – es ist ein Modell, das gen wollen. Wir haben nicht zu bewerten: Das ist ein sich verändert und sich anpasst. gutes Modell des Familienlebens, und das ist ein weniger gutes Modell. – Die Auswahl des Modells bleibt den Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Eltern und den Familien überlassen. Wenn sich eine Herr Kollege Weinberg, die Kollegin Bauer möchte Familie entscheidet, dass ein Elternteil, die Mutter, zu gern eine Zwischenfrage stellen. Hause bleibt und sich um die Erziehung der Kinder küm- mert, dann ist das gut und unser Auftrag, dies zu unter- stützen. Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Gern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Darauf Wenn aber eine Mutter so schnell wie möglich wieder hat er schon gewartet!) arbeiten möchte, dann ist für uns auch das das richtige Modell. Wir müssen als nicht übergriffiger Staat Unter- stützungsangebote leisten. Das Elterngeld ist ein Beispiel Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: dafür, wie man das machen kann. Es ist seit mittlerweile Das war offensichtlich. 13 Jahren eine Erfolgsgeschichte. Dahinter steht ein Grundgedanke, wie Familien leben Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): und wie sie in Zukunft leben wollen. Das ist das Dreieck, Da habe ich schon mal zwei Minuten mehr. über das wir viel diskutiert haben, Kollege Rix, schon 24734 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Marcus Weinberg (Hamburg) (A) damals vor 13 Jahren, nämlich finanzielle Sicherheit und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (C) eine gute Infrastruktur – heute diskutieren wir über die ordneten der SPD) finanzielle Sicherheit; letzte Woche ging es um die Infra- struktur –, und das Dritte, das immer wichtiger wird – das Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: hat Nadine Schön angesprochen –, ist Zeit: Zeit für Fami- Damit schließe ich die Aussprache. lien, Zeit, zu entscheiden, wie ich meine Zeit gemeinsam mit der Familie verbringe. Das ist das Dreieck, das wir Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf weiterentwickeln. den Drucksachen 19/24438 und 19/17284 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – 82 Prozent der Eltern sagen: Das Elterngeld ist wichtig Es gibt keine weiteren Vorschläge. Dann wird so verfah- zur Stabilisierung der finanziellen Situation. Das heißt, ren. die 6 Milliarden bzw. mittlerweile 7 Milliarden Euro kommen gut an, weil dieses Geld den Eltern genau in Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 d dem ersten wichtigen Jahr nach der Geburt ihres Kindes sowie den Zusatzpunkt 13 auf: Unterstützung gewährleistet. Dass man, Frau Bauer, beim 24 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kulturwandel auch sehr dicke Bretter bohren muss, ist ja Peter Heidt, Katja Suding, Dr. Jens klar. Kollege Beermann hat das angesprochen: Mittler- Brandenburg (Rhein-Neckar), weiterer Ab- weile sind 34 Prozent derjenigen, die Elterngeld bezie- geordneter und der Fraktion der FDP hen, Männer. 34 Prozent! Das waren mal 2 Prozent, als wir anfingen. Auf diesem Weg gehen wir mit der Verän- Mobile Luftfilter für Schulen zur Mini- derung, die wir noch diskutieren und dann beschließen mierung eines Ansteckungsrisikos mit wollen, einen weiteren Schritt. dem Coronavirus Drucksache 19/24207 Das sind die drei entscheidenden Punkte – da haben wir auch Herausforderungen, Probleme erkannt; von Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Defiziten will ich nicht sprechen –: Erstens das Thema Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Frühchen. Da bin ich bei den Kollegen der FDP; darüber zung (f) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen reden wir noch mal. Natürlich stehen Eltern, die ein Früh- Haushaltsausschuss chen haben, vor einer großen Herausforderung, weil das Federführung strittig entwicklungspsychologisch etwas Besonderes ist. Da b) Beratung der Beschlussempfehlung und des müssen wir als Politik überlegen, wie wir das mildern Berichts des Ausschusses für Bildung, For- und das Elterngeld entsprechend anpassen können. schung und Technikfolgenabschätzung (B) Der zweite wichtige Punkt ist natürlich das Thema der (18. Ausschuss) (D) sogenannten Schlechterstellung von Arbeitnehmerinnen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Götz und Arbeitnehmern, die geringfügige Nebeneinkünfte Frömming, Nicole Höchst, Dr. Marc haben. Hier muss der Grundsatz gelten, dass diese Jongen, weiterer Abgeordneter und der Schlechterstellung aufgehoben wird. Fraktion der AfD Das Dritte ist dann die Erweiterung des Korridors. Auf den Lehrer kommt es an – Nach- Auch das ist Ausdruck einer veränderten Wahrnehmung – haltige Aufwertung des Schulwesens Stichwort „32 Wochenstunden“ –, den Eltern mehr Fle- statt Ökonomisierung xibilität anzubieten, und wir haben es ja auch mit Blick – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja auf die Finanzierung gut hinbekommen. Suding, Dr. Jens Brandenburg (Rhein- Insoweit war es eine sehr spannende Debatte und eine Neckar), Mario Brandenburg (Südpfalz), gute Debatte. Ich freue mich auf die Ausschussberatun- weiterer Abgeordneter und der Fraktion gen. Wir werden – und das sei der Opposition zugesi- der FDP chert – sehr intensiv und sehr genau prüfen, welche Vor- Weniger Bürokratie wagen – Digital- schläge wir in den parlamentarischen Beratungen Pakt Schule beschleunigen umsetzen können. Wenn Sie uns dann auch noch sagen, wie das eine oder andere – mit Blick auf die Finanzie- Drucksachen 19/22456, 19/20582, rung – konkret aussieht, machen wir das gerne. 19/23792 Buchstaben c und e c) Beratung der Beschlussempfehlung und des (Beifall des Abg. Sönke Rix [SPD]) Berichts des Ausschusses für Bildung, For- Zum Schluss noch ein Zitat von Gustav Heinemann: schung und Technikfolgenabschätzung „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- er bewahren möchte.“ Verändern, das machen wir beim neten Katja Suding, Dr. Jens Brandenburg Elterngeld zum wiederholten Male. Es wird, glaube ich, (Rhein-Neckar), Mario Brandenburg (Süd- eine gute Debatte werden. Ich freue mich auf die zweite pfalz), weiterer Abgeordneter und der Frak- und dritte Lesung. Dann haben wir einen nächsten guten tion der FDP Schritt mit Blick auf Ihren Kulturwandel und unseren PISA-Sofortprogramm – Reformagenda Kulturwandel hinbekommen. für eine Bildungsnation Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Drucksachen 19/15767, 19/20896 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24735

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall bei der FDP) (C) Dr. Birke Bull-Bischoff, Dr. Petra Sitte, Es ist richtig, dass die Schulen und Schulträger vor Ort Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter über konkrete Schutz- und Unterrichtskonzepte entschei- und der Fraktion DIE LINKE den. Der Bund kann und darf sich aber dennoch nicht Unterstützung für Schulen in der Pande- einfach so aus der Affäre ziehen. Die Frau Ministerin – mie – Mangelwirtschaft in der Bildung sie ist heute wieder nicht da – muss sich endlich ihrer beenden Verantwortung bewusst werden. Wir müssen alles dafür tun, dass Kinder so lange wie möglich in Präsenz unter- Drucksache 19/24450 richtet werden. Dafür sollten wir endlich viel stärker auf Überweisungsvorschlag: Luftfiltergeräte in den Klassenräumen setzen. Mehrere Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung Studien bestätigen mittlerweile, dass Filteranlagen die Aerosolkonzentration um über 90 Prozent senken kön- ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Margit nen. Werden die Klassenräume zudem in den Pausen Stumpp, , Dr. Anna Christmann, wei- gelüftet, dann kann das Infektionsrisiko im Klassenzim- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- mer auf ein beherrschbares Niveau reduziert werden. Der NIS 90/DIE GRÜNEN flächendeckende Einsatz von Luftfilteranlagen würde Bildungschancen gewährleisten, Kinder und uns sehr dabei helfen, den Präsenzunterricht auch im Beschäftigte schützen und das Infektionsge- Winter zu garantieren, und das ganz ohne Kinder, die schehen eindämmen – Förderprogramm für mit Schal und Mütze im Unterricht sitzen müssen. mobile Luftfilter in Klassenräumen und Kin- (Beifall bei der FDP) dertageseinrichtungen Der Bund sollte den Ländern daher in einem Akutförder- Drucksache 19/24635 programm 250 Millionen Euro für die kurzfristige Be- Überweisungsvorschlag: schaffung von Filtergeräten zur Verfügung stellen. Diese Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) vergleichsweise geringe Summe sollte uns das Verhin- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Haushaltsausschuss dern eines erneuten Unterrichtschaos wie im März alle- Federführung strittig mal wert sein. Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten (Beifall bei der FDP) beschlossen. Zumal die Gegenfinanzierung der Geräte für den Bund Da Sie die Plätze eingenommen haben, eröffne ich die ohne Probleme aus den bisher nicht abgeflossenen Mit- (B) Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Katja teln des Kommunalinvestitionsfördergesetzes erfolgen (D) Suding, FDP. könnte. Das Geld ist also da. Beginnen Sie also jetzt (Beifall bei der FDP) mit der Beschaffung von Luftfiltergeräten für die Schulen!

Katja Suding (FDP): (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Margit Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir Stumpp [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wissen es längst: Mit der Pandemie müssen wir noch eine Dabei alleine darf es aber nicht bleiben. Es ist bei aller ganze Weile leben. Im März erlebten wir mit den bundes- Vorsicht trotzdem nicht auszuschließen, dass in den weiten Schulschließungen einen bis dahin kaum für mög- kommenden Wochen einzelne Schulen bei extrem hohem lich gehaltenen Einschnitt in die Zukunftschancen unse- Infektionsgeschehen zeitweise auf Distanzlernen und auf rer Kinder. Über die dramatischen wirtschaftlichen, Hybridunterricht umstellen müssen. Anders als Frau sozialen und gesellschaftlichen Folgen dieser Schul- Karliczek aber verkündet, sind die Schulen, Schüler und schließungen für Kinder, besonders für die aus benach- Lehrer darauf nicht vorbereitet, längst nicht flächende- teiligten Familien, für die Eltern und die Lehrkräfte haben ckend. Flächendeckender Hybridunterricht scheitert wir ja hier bereits ausführlich gesprochen. Es ist daher letztlich an der fehlenden Tatkraft einer müden Ministe- natürlich gut, dass der Bund und die Länder – die Länder rin. haben sich hier gegen den Bund durchgesetzt – am Mitt- woch erneut die Wichtigkeit von Präsenzunterricht betont (Beifall bei der FDP) haben. Dass wir hier nun aber Ende November noch Denn noch immer fließt viel zu wenig Geld aus dem immer stehen und darüber diskutieren, wie genau ein DigitalPakt Schule ab. Noch immer haben viel zu wenige solcher Unterricht im Winter überhaupt gewährleistet Kinder aus sozial benachteiligten Familien digitale End- werden kann, das ist kaum zu fassen, und das ist absolut geräte erhalten. Auch die Lehrerlaptops werden wohl inakzeptabel. allerfrühestens Anfang nächsten Jahres bei den Schulen eintrudeln. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Margit Stumpp Frau Karliczek, für diese Misere tragen Sie die volle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Verantwortung. Wachen Sie endlich auf, und unterstützen Sie die Schulen mit Filtergeräten und digitaler Ausstat- Statt tragfähiger Konzepte hat nicht tung! Es ist längst überfällig. mehr zu bieten als Lüften und Stoffmaske tragen. Sie bleibt tatenlos. Das ist in einer solchen Krise absolut fahr- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Margit lässig, meine Damen und Herren. Stumpp [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 24736 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Einbau bzw. die Aufrüstung von sogenannten raumluft- (C) Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Dietlind technischen Anlagen. Dabei handelt es sich um die stati- Tiemann, CDU/CSU. onären Anlagen, die wir fördern und für die seit dem 20. Oktober Mittel beantragt werden können. (Beifall bei der CDU/CSU) Zusätzlich fand die Studie unter Laborbedingungen Dr. Dietlind Tiemann (CDU/CSU): statt. Kein Lehrer, kein Schüler befand sich zur Zeit der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Messungen in diesem Raum. Theoretisch betrachtet geht Kollegen! Liebe Frau Suding, es macht ja fast Spaß, natürlich auch vieles. darauf zu reagieren, was Sie hier heute wieder vorgetra- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Frau gen haben. Suding, das geht doch nicht! – Gegenruf der (Katja Suding [FDP]: Das freut mich!) Abg. Katja Suding [FDP]: Mit dieser Akribie sollten Sie mal die Quadratmeterregelung Aber ich will mal den Teil vortragen, der aus meiner Sicht angehen! Da wäre das mal sinnvoll gewesen! – dagegengestellt werden sollte; denn wir sind ja nicht zum Gegenruf des Abg. Michael Grosse-Brömer Spaß hier. [CDU/CSU]: Ich glaube, sie ist die Einzige, „Filtern statt frieren“, so titelte der Hessische Rund- die die Studie gelesen hat!) funk kürzlich zu Luftfilteranlagen in Schulen. Nicht Daneben betonen die Forscher, dass Raumluftreiniger, ganz so schlüssig überschrieben steht es ja in den Anträ- geöffnete Fenster und raumlufttechnische Anlagen zwar gen der FDP und der Grünen. Der Bund sollte neben geeignet sind, um das indirekte Infektionsrisiko zu redu- Lehrerlaptops und der Einstellung von IT-Administrato- zieren; aber das direkte Infektionsrisiko können sie natür- ren zusätzlich zu den beschlossenen stationären Filteran- lich nicht verringern. Da sind die angesprochenen Maß- lagen jetzt auch mobile Filteranlagen fördern. Wenn Sie nahmen, dass eben Masken getragen werden, völlig nachgeschaut haben, sehen Sie: Seit dem 20. Oktober richtig. Wir sollten auch wirklich überlegen – wir können können Mittel für stationäre Anlagen beantragt werden, darüber nachdenken; die Länder haben es umzusetzen –, unter anderem auch für Schulen, durch Länder, Kommu- ob das Lehrpersonal und die Verantwortlichen vielleicht nen und entsprechende Einrichtungen. mit Masken ausgestattet werden. Das ist aber nicht unsere Wissenschaftliche Studien hätten belegt, dass die Aufgabe. mobilen Anlagen zur Reduktion der Verbreitung des Virus beitragen und damit die Gesundheit schützen; Sie (Beifall des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU]) sprachen es gerade an. Sicherlich ist es so. Liebe Kolle- Auch hier muss ich die kritische Frage stellen: Klingt (B) ginnen und Kollegen, wir alle schätzen wissenschaftliche das nach einem stabilen Fundament, liebe FDP, um die (D) Untersuchungen. Diese müssen dann aber auch für uns Zeit hier im Plenum heute wieder damit auszufüllen, dass alle eine wissenschaftliche Expertise darstellen, die wir alle zu diesem Antrag Stellung nehmen? belastbar ist, ob bei der Pandemiebekämpfung oder natür- lich auch bei der Verbesserung der Bildungspolitik. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Michael Grosse-Brömer Aber in den Anträgen lese ich statt der wissenschaft- [CDU/CSU]: Eine Stunde! – lichen Erkenntnisse viel politischen Aktionismus. Neh- [CDU/CSU]: Showantrag! – Katja Suding men wir als Beispiel die Studie der Frankfurter Goethe- [FDP]: Es geht um das Recht von Kindern auf Universität aus dem Antrag der FDP. Dort heißt es, dass Bildung, Frau Tiemann!) Luftfilter der Filterklasse HEPA 13 die Aerosolkonzent- ration in einem Klassenzimmer in einer halben Stunde – Ich weiß. Bildung liegt mir sehr am Herzen, Frau um 90 Prozent senken könnten; das ist das, was Sie gera- Suding. Deswegen rede ich ja so gerne dazu, weil Sie de angesprochen haben. Dieser Erkenntnis liegt aber eine da Vorlagen schaffen, die aber ein bisschen zu überarbei- Studie zugrunde, bei der das Forscherteam eine Woche ten sind. lang vier Luftreiniger in einem Klassenraum mit Lehrer (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: „Ein biss- und 27 Schülern getestet hat. Auf der Grundlage von chen“ ist gut! – Katja Suding [FDP]: Dann einer Woche und einer Klasse wurde hier eine Studie sagen Sie doch einfach mal was und machen erstellt. Klingt das, was Sie hier vortragen, nach einem Vorschläge, anstatt immer dagegenzureden!) stabilen Fundament für politische Maßnahmen mit erheb- lichen finanziellen Auswirkungen? Die Leopoldina hat die vorliegenden Studien zu die- sem Thema mehrfach einer kritischen Würdigung unter- Im zweiten Beispiel der FDP führt die Universität der zogen. Das Ergebnis ist und bleibt deutlich: Die Wirk- Bundeswehr München aus, dass Raumluftfilter der Klas- samkeit von mobilen Filteranlagen ist durch die se HEPA 14 – also eine Weiterentwicklung – eine sehr vorhandenen Studien nicht gesichert. Im Gegenteil: Die sinnvolle technische Lösung darstellen – ich glaube, die- mobilen Anlagen können sogar eine Gesundheitsgefahr jenigen unter uns, die nicht Fachleute sind, würden das darstellen, zum Beispiel wenn die Geräte falsch aufge- auch ungesehen bestätigen –, um in Schulen die indirekte stellt oder die Filter nicht sachgerecht bedient werden. Infektionsgefahr stark zu verringern. Wer die Studie liest – ich habe es getan –, kommt jedoch zu dem Ergeb- nis, dass mobile Luftreiniger nur eine Notlösung darstel- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: len und obendrein die Erkenntnisse nur in der Theorie Die Kollegin Nicole Höchst würde gerne eine Zwi- vorliegen. Empfehlenswert ist laut Studie nämlich der schenfrage stellen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24737

(A) Dr. Dietlind Tiemann (CDU/CSU): Fortbildungen für Lehrkräfte gesprochen und über mög- (C) Bitte. liche zusätzliche IT-Administratoren. Wenn Sie hier aber letztendlich Fragen zu flexiblen Anlagen in den Raum Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: stellen, wissen Sie, was dann passiert? Dann sind die Lassen Sie die zu? Lehrkräfte an den Schulen und die Erzieherinnen und Erzieher in Krippen und Kindergärten nicht nur damit ausreichend belastet; dann müssen wir sogar aufpassen, Dr. Dietlind Tiemann (CDU/CSU): dass sie ihrer Arbeit überhaupt noch wirklich nachgehen Sehr gern. können und diese auch umfänglich betrachtet wird. Nein, wir belasten sie nicht nur damit, sondern wir wollen jetzt Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: auch noch erwarten, dass sie vielleicht die Luftfilter Frau Kollegin. wechseln. Was haben wir dafür zu tun? Ich glaube, gar nichts. Es Nicole Höchst (AfD): ist eine Anregung, die alle gern mitnehmen. Geben Sie Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischen- die in die Bundesländer, wo Sie Verantwortung tragen! frage zulassen. – Sie halten Ihren eigenen Ausführungen Geben Sie die in Ihre Wahlkreise! Da haben Sie, glaube zufolge nichts von Luftfiltertechnik in Klassenräumen. ich, ausreichend Möglichkeiten. Wir stützen den sozialen (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Das hat sie Ort Schule. Wir halten die Schule offen und schützen sie. nicht gesagt!) Wir wollen gesicherte Erkenntnisse für uns in den Vor- dergrund stellen. Wie stehen Sie dazu, dass Abgeordnetenbüros seit Neu- estem Filtertechnik, mobile Raumluftfilter bezahlt be- „Filtern statt frieren“, titelt der Hessische Rundfunk. kommen? Ich sage: „Wirksam filtern statt frieren“, heißt die Devise. (Johann Saathoff [SPD]: Sie hat doch aus wis- Herzlichen Dank. senschaftlichen Erkenntnissen zitiert!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Dr. Dietlind Tiemann (CDU/CSU): ordneten der SPD) Kollegin Höchst, ich habe in meinen Ausführungen deutlich gemacht, dass ich das trage, was wir beschlossen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: haben, nämlich die seit 20. Oktober zu beantragende För- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming, derung von Luftfilteranlagen stationärer Art, und zwar in AfD. (B) den verschiedensten Räumlichkeiten; da geht es nicht nur (D) um Schulen. Ich denke, es ist richtig und wichtig, dies zu (Beifall bei der AfD) unterstützen, um sicherzustellen, dass wir dauerhaft Schulunterricht mit Anwesenheit machen können. Wenn dann der Einsatz von Luftfilteranlagen von den Ländern Dr. Götz Frömming (AfD): bzw. den Kommunen beschlossen wird, dann ist das ihre Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Angelegenheit. Aber wenn uns hier dadurch die Zeit Herren! Die Lage an unseren Schulen ist dramatisch, und geraubt wird, dass ein solcher Antrag eingebracht wird, sie ist auch deshalb dramatisch, weil Bund und Länder in obwohl der andere vorhandene noch nicht mal in Angriff den vergangen Monaten Entscheidendes versäumt haben genommen wurde, halte ich das für vertane Zeit. und weil sie sich in den Jahren zuvor mit den falschen Projekten beschäftigt und die Weichen falsch gestellt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – haben. Katja Suding [FDP]: Die Ministerin raubt uns Zeit! Seit Monaten! – Peter Heidt [FDP]: Was Bereits Anfang März hat die AfD-Fraktion die kurz- haben Sie eigentlich für ein Demokratiever- fristige – kurzfristige! – Schließung der Schulen und ständnis?) Grenzen gefordert. Zu diesem frühen Zeitpunkt hätten derartige Maßnahmen noch etwas gebracht. Die Bundes- – Sehr viel, Herr Kollege. regierung hingegen hat wertvolle Zeit verstreichen lassen (Peter Heidt [FDP]: Nein, das glaube ich und dann viel zu spät und panikartig reagiert. nicht!) (Beifall bei der AfD) – Ich würde jetzt gerne weiterreden, wenn es in Ordnung ist. Statt wenige Wochen waren die Schulen dann gleich Ich will es nur kurz ausführen – Sie sind wahrschein- mehrere Monate geschlossen. Meine Damen und Herren, lich sehr häufig in Schulen –: Ich kann auf zurückliegen- das war vollkommen unverhältnismäßig und hat einer de und auch aktuelle Besuche an Schulen blicken. Ich ganzen Schülergeneration schweren Schaden zugefügt. weiß genau, was da abläuft, zum Beispiel wenn die Gerä- Drei großangelegte Forschungsarbeiten kommen zu te falsch aufgestellt oder die Filter nicht sachgerecht dem Ergebnis, dass der Fernunterricht – sofern er über- bedient werden. haupt durchgeführt wurde – dem schulischen Fortkom- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir debattieren hier men keineswegs dienlich ist. In Mathematik wussten die gemeinsam völlig zu Recht über das Thema Bildung, das Schüler nach dem Onlineunterricht – gemäß diesen hier auch richtig platziert ist. Wir haben über digitale Untersuchungen – sogar weniger als vorher. 24738 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Dr. Götz Frömming (A) Monatelang, meine Damen und Herren, haben Sie sich Schüler stellen wird. Deshalb ist eine breite und solide (C) gemeinsam mit Ihren Parteifreunden in den Ländern mit Allgemeinbildung das Wichtigste, und dafür stehen gut einem Schaufensterprojekt namens DigitalPakt beschäf- ausgebildete Lehrer. tigt und dabei die Augen vor den eigentlichen Problemen (Beifall bei der AfD) verschlossen – Deshalb sagen wir – ich zitiere abschließend den neusee- (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Unsinn!) ländischen Bildungsforscher, in Anlehnung –: Es kommt vielleicht waren sie Ihnen auch zu groß –, und genau das auf den Lehrer an und nicht allein auf die Technik. fällt uns jetzt auf die Füße. Es fehlen die Lehrer, um Vielen Dank. kleinere Klassen einzurichten, und in maroden, zu klei- nen Gebäuden mit kaputten Sanitäranlagen kann man (Beifall bei der AfD) kein vernünftiges Hygienekonzept hinbekommen. (Beifall bei der AfD) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Um nicht missverstanden zu werden: Eine gute Anbin- Nächste Rednerin ist die Kollegin Marja-Liisa Völlers, dung der Schulen an das Internet ist wichtig und eigent- SPD. lich eine Selbstverständlichkeit, und natürlich können (Beifall bei der SPD) digitale Lernmittel das Buch, die Tafel, den Füller ergän- zen; Lehrer und Schüler machen das ja auch längst. In Marja-Liisa Völlers (SPD): Wirklichkeit geht es aber doch um etwas anderes: Es geht Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- um die Lufthoheit im Klassenzimmer. Die hat bislang der ren! Schule ist nicht nur ein Ort des Lernens, sie ist auch Fachlehrer, der sich an pädagogischen und didaktischen ein Ort des Miteinanders; das muss sie auch in Zeiten Gesichtspunkten bei der Planung seines Unterrichts ori- einer Pandemie bleiben. Wir brauchen deshalb einerseits entiert. Er steht den letztlich einerseits ideologischen, Lösungen, die die Belüftung der Klassenräume auch in andererseits aber auch kommerziellen Interessen von den kälteren Monaten sicherstellen. Einige Bundesländer, Stiftungen und Konzernen im Wege, die unsere Schulen zum Beispiel mein Heimatbundesland Niedersachsen, gerne zu einem Markt und Bildung zu einer mess- und haben sich schon mit eigenen Förderprogrammen auf handelbaren Ware machen möchten. Meine Damen und den Weg gemacht. Andererseits müssen wir weiter daran Herren, wir wollen das nicht, und die Eltern und Schüler arbeiten, das digitale Lehren und Lernen voranzutreiben; wollen das auch nicht. denn auch wenn die meisten Schulen heute schon etwas (Beifall bei der AfD) besser aufgestellt sind als noch im Frühjahr, gibt es immer noch sehr viele Herausforderungen, die gemeistert (B) Wir hören jetzt immer öfter, dass man gar keine Fach- (D) werden müssen. Die Frage ist, wie wir diesen Heraus- lehrer bräuchte. Diese seien leicht zu ersetzen durch forderungen begegnen wollen. Lernbegleiter oder, wie man auf Neudeutsch jetzt sagt, einen Coach. Der kann dann sozusagen die Computer Wir haben den DigitalPakt Schule um insgesamt anmachen und schauen, dass die Schüler auf die richtige 1,5 Milliarden Euro aufgestockt: 500 Millionen Euro, Seite gehen. Auch das lehnen wir entschieden ab, weil es um Schülerinnen und Schüler mit digitalen Endgeräten ein Irrweg ist. zu versorgen, deren Eltern sich ein solches nicht so ein- fach leisten können; weitere 500 Millionen Euro für Lap- An Berliner Grundschulen, meine Damen und Herren, tops und Tablets von Lehrkräften; weitere 500 Millionen werden inzwischen 70 Prozent des Mathematikunter- Euro – und das ist ein Punkt, der sehr, sehr wichtig ist – richts fachfremd unterrichtet. Beim Deutschunterricht für die Administration und Anleitung in der Nutzung ist es nicht ganz so schlecht, da sind es 55 Prozent – ebenjener neueren Technik. Damit adressieren wir viele auch noch viel zu viel. Diese Lehrer haben das Fach nicht Punkte, die in den Anträgen der Opposition heute in studiert. In Berlin werden immer mehr Lehrer ohne volle unterschiedlicher Art und Weise gefordert werden, über Lehrbefähigung eingestellt, einige, so lesen wir, haben die wir heute diskutieren. Wir hören nicht auf, wir nicht einmal das Abitur. Vergleichen wir mal, wie das machen weiter. Wir haben die Technik. Nun sorgen wir in anderen Ländern aussieht, die bei den PISA-Verglei- auch für deren Verbreitung, für Beratung und für deren chen – die kann man kritisieren – an der Spitze stehen: Einsatz. Taiwan oder Singapur. Dort kann niemand Grund- schullehrer werden, der nicht das Fach Mathematik mit Wir wollen bei den digitalen Bildungsinhalten aller- seiner Didaktik studiert hat. Das sollten wir uns mal zum dings noch ein bisschen nachlegen. Da gibt es nämlich Vorbild nehmen. noch viel zu tun, besser gesagt, viel zu sortieren. Denn es gibt bereits bundesweit viele Angebote an digitalen Bil- (Beifall bei der AfD) dungsmaterialien. Das Problem ist allerdings, dass das Meine Damen und Herren, die fachliche Kompetenz alles bislang noch nicht so richtig zusammenläuft. Hier und das persönliche Band zwischen Schüler und Lehrer möchte ich heute einen kleinen Schwerpunkt setzen. Die sind für den Lernerfolg von entscheidender und zentraler Länder, teilweise sogar einzelne Schulen arbeiten mit Bedeutung. Deshalb haben wir das in unserem Antrag, unterschiedlichen Lernplattformen. Das erschwert zum der insgesamt neun konkrete Punkte enthält, ganz an die einen den Überblick, was verständlicherweise viele Leh- Spitze gestellt. Weder der Computer noch selbstorgani- rerinnen und Lehrer in ihrem Arbeitsalltag frustriert. Zum siertes Lernen können das ersetzen. Wir wissen heute anderen verschenken wir damit viel zu viel Potenzial, was nicht, welche Anforderungen die Zukunft an unsere im System ja vorhanden ist. Viele Lehrkräfte sind gerade Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24739

Marja-Liisa Völlers (A) wahnsinnig kreativ. Sie erstellen fantastische Lernvideos, Das bringt mich zu meinem nächsten Punkt. Die digi- (C) Erklärvideos, Podcasts. Das kostet natürlich alles Zeit talen Bildungsinhalte sollten offen und frei verfügbar und in gewisser Weise auch Geld. Warum teilen wir diese sein. Sie sollten weiterentwickelt werden können und Arbeit nicht? Warum sollte sie jede und jeder für sich qualitativ hochwertig sein. Sie sollten sogenannte Open alleine machen? Warum lassen wir die Menschen nicht Educational Resources sein, kurz: OER. Bislang wurden stärker miteinander und voneinander lernen? Diese diese offenen lizensierten Medien überwiegend nur von Synergieeffekte müssen wir – das ist meine persönliche einer kleinen Fachcommunity genutzt. Das wollen wir Meinung, auch als Lehrkraft – noch viel stärker nutzen. nun endlich ändern. OER muss endlich raus aus der Nische und rein in unsere Klassenzimmer. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein kleiner Exkurs zu den Kollegen der AfD: Sie stel- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) len hier in den Raum, man wolle den Lehrer, die Lehrerin abschaffen. Ich habe in meiner ganzen Arbeit als Politi- Darin steckt so viel Potenzial für individualisierte koope- kerin, aber auch als Lehrkraft noch nie so einen Blödsinn rative Lernkonzepte, für inklusive Bildungssettings und gehört wie das. Das ist nirgendwo belegt. eben auch für das Lehren und für das Lernen aus der Ferne. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN – Dr. Götz Ich will diese Potenziale nutzbar machen, und ich freue Frömming [AfD]: Dann kennen Sie sich aber mich sehr, dass es der SPD-Bundestagsfraktion im Rah- schlecht aus in der aktuellen Debatte!) men der Haushaltsberatungen gelungen ist – Dank auch an meine Kollegen und –, In den Ausbildungszentren wird auf multiprofessionelle den Mittelansatz um 4 Millionen Euro zu erhöhen und Teams hingewiesen. Niemand möchte Lehrkräfte abset- nun für die OER-Arbeit insgesamt 12 Millionen Euro zen oder in ihrer Funktion herabwürdigen zu irgendwel- zur Verfügung zu stellen. chen Lernbegleitern. Blödsinn ohne Ende! (Beifall bei der SPD – Dr. Karamba Diaby (Beifall bei Abgeordneten der SPD) [SPD]: Gute Sache!) Zurück zum eigentlichen Thema. Wir wollen eine bun- Abschließend: Es wird Zeit, dass das Bildungsministe- desweite Bildungsplattform an den Start bringen, die für rium die OER-Strategie umsetzt, dass es eine kluge OER- diese Schnittstellen, die ich eben angesprochen habe, und Strategie wird, die viele Akteurinnen und Akteure aus der einheitliche Qualitätsstandards sorgt. Qualität ist auch an Szene einbezieht, damit das an der Stelle vorhandene der Stelle sehr relevant. Unsere Parteivorsitzende hat eine Know-how gut in unseren Schulen ankommt. In diesem (B) solche Bildungsplattform gegenüber der Kanzlerin be- Sinne, meine Damen und Herren: Gehen wir es gemein- (D) reits im Sommer dieses Jahres gefordert. Seit gestern sam an. steht fest, dass der Bund bis 2025 jährlich rund 135 Mil- Vielen Dank. lionen Euro dafür in die Hand nehmen wird. Damit lässt sich viel bewirken. (Beifall bei der SPD) (Beifall des Abg. Johann Saathoff [SPD]) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Das Bundesbildungsministerium muss diese Plattform Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Birke Bull- jetzt an den Start bringen. Ich schaue mal rüber zu Staats- Bischoff, Die Linke. sekretär Meister: Es wäre schön, wenn wir das jetzt ganz schnell miteinander starten könnten. (Beifall bei der LINKEN)

(Beifall bei der SPD) Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE): Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß aus meiner Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Zeit als Lehrerin noch gut, wie schwer es war, passende Kollegen! Das Wichtigste bei dem derzeitigen Krisen- Lernformate zu finden. Das undurchsichtige Angebot management ist nicht, die Autoindustrie zu subventionie- war das eine. Hinzu kam aber, dass vieles hinter der ren, und ebenso nicht, den Militärhaushalt in ungeahnte Bezahlschranke lag oder nicht so angepasst werden konn- Höhen zu puschen. Wichtig ist in Krisenzeiten, te, dass ich es im Arbeitsalltag so nutzen konnte, dass es (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Luft- für meine Lerngruppe passte. filter!) alles, und zwar wirklich alles, dafür zu tun, gute Bildung Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: für Kinder und Jugendliche zu sichern, und zwar spätes- Frau Kollegin, die Kollegin Höchst möchte eine Zwi- tens ab jetzt, und sozialer Ungleichheit endlich entgegen- schenfrage stellen. zutreten. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Marja-Liisa Völlers (SPD): Margit Stumpp [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nein. Frau Kollegin Höchst hat ja gleich selber die NEN]) Möglichkeit, vom Rednerpult aus zu sprechen. Auch bei der Bildung gilt nämlich: Diejenigen, die aus- (Dr. Karamba Diaby [SPD]: Selbstdarstellung! reichend Geld und Ressourcen haben, kommen relativ Für den Videokanal!) gut durch diese Krise, und diejenigen, denen das genau 24740 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Dr. Birke Bull-Bischoff (A) versagt wird, die werden abgehängt. Das, meine Damen Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kinder und junge (C) und Herren, ist die bittere Bilanz des Krisenmanagements Menschen mit Behinderungen brauchen ganz besondere der Bundesregierung. Aufmerksamkeit, und sie brauchen einen ganz besonders sensiblen Schutz. Das beginnt mit besonderen Kriterien „SOS“ kommt derzeit aus allen Klassenzimmern. Es für diese sogenannten vulnerablen Gruppen. Schülerin- fehlt an Lehrkräften, es fehlt an Schulsozialarbeiterinnen nen mit Behinderung gehören genau dazu; sie sind genau und Schulsozialarbeitern, es fehlt an Räumen, es fehlt an so zu behandeln wie Menschen, die in Gemeinschafts- Luftfilteranlagen, an Masken, an Schnelltests, es fehlt an einrichtungen als Risikogruppen leben und lernen. Waschbecken, Zum Zweiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Rufen Mangel weit und breit darf im Krisenmanagement nicht Sie einmal die zuständigen Landesminister an!) als Begründung für alles Mögliche herhalten: für den es fehlt an Griffen, um die Fenster zu öffnen, es fehlt an Mangel an Lehrkräften, Schulsozialarbeitern, für die leistungsfähigem Internet, es fehlt an vernünftigen Gerä- chronisch unterfinanzierte Kinder- und Jugendhilfe und ten und, und, und. vieles andere mehr. Aber das ist ja gerade die heimliche (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Der Begründung, weshalb zum Beispiel viele, viele Angebote Bund hat das Geld dafür zur Verfügung an Wechselmodellen momentan abgewehrt werden. Das gestellt!) ist die Begründung dafür, dass weiter volle Schulbusse fahren und dass das Angebot der Akteurinnen und Der Verband Bildung und Erziehung sagt heute: „Die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe und der kulturellen angemessene Ressourcenausstattung der Schulen ist Jugendbildung abgelehnt wird, eigene Räume zur Verfü- nicht Kür, sondern Pflicht der Politik“. gung zu stellen, das dortige Personal durchaus zu nutzen, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. um tatsächlich in kleineren Gruppen zu lernen. Sie haben Margit Stumpp [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sich mit einem Brief an die Bundeskanzlerin gewandt, NEN]) leider erfolglos. Für alle ist jetzt einmal mehr sichtbar: Deutschland ist Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bildung von eben kein Bildungsland, zumindest nicht gemessen an Schülerinnen und Schülern wird – da bin ich mir echt den Möglichkeiten. Deshalb muss schnellstens gehandelt sicher – keinen nachhaltigen Schaden nehmen, wenn werden. Mit Verlaub, meine Damen und Herren, da hilft über einige Wochen außerschulische Expertinnen und kein „Luftfilterantrag“, und da hilft auch keine „Luftfil- Experten, Handwerker, Künstlerinnen, Wissenschaftler terdebatte“. Schülerinnen und Schüler beim Lernen begleiten und (B) wenn über einige Wochen der Unterricht in außerschuli- (D) Erstens. Es muss kurzfristig um den Schutz gehen. Das schen Einrichtungen stattfinden kann. Ich würde sogar heißt, wir brauchen Geld dafür, dass Schulen Schutzmas- sagen: Im Gegenteil, Schülerinnen, Lehrkräfte, Eltern ken, idealerweise FFP2-Masken, kaufen können. Öffnen könnten Geschmack finden daran, Sie das Förderprogramm des Wirtschaftsministeriums, um für Schulen mobile wie auch installierte Luftfilteran- (Dr. Götz Frömming [AfD]: Können auch zwei lagen beschaffen bzw. aufrüsten zu können, sodass Monate Theater spielen!) Schulen eben nicht das letzte Rad am Wagen sind. Mo- weil sie nämlich dort einer neuen Lernkultur begegnen, mentan sind es 14 – Klammer auf: 14; Klammer zu – nicht oder nicht nur orientiert an Tests, an Zertifikaten, Schulen, die davon profitieren. sondern weil es Spaß macht. Stellen Sie Schnelltests zur Verfügung, damit die not- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Götz Frömming wendige Quarantäne beispielsweise verkürzt werden [AfD]: Um Gottes willen!) kann, auf wenige Tage begrenzt werden kann. Schülerin- nen, Schüler und Lehrkräfte müssen im Impfkonzept – Ohnehin brauchen wir eine neue Lernkultur für die das geht an das Bundesgesundheitsministerium – nicht Schule der Zukunft, und man kann sich auf diese Art nur vorkommen, sondern müssen prioritär behandelt wer- und Weise durchaus schon mal einen Vorgeschmack den –, eine Forderung im Übrigen aus dem thüringischen holen. Kultusministerium, von dem dortigen Minister Helmut Das Kooperationsverbot ist so weit geöffnet, dass der Holter. Bund die Städte und Gemeinden und Landkreise unter- (Beifall bei der LINKEN) stützen kann, um zusätzliche Räume anzubieten in Volks- hochschulen, in Bibliotheken, in Maker Spaces, in Selbst- Wenn ich einmal dabei bin: Ich soll mal einen schönen lernwerkstätten. All das ist nutzbar und bezahlbar, und es Gruß aus Thüringen sagen, weil die Thüringer wie auch bereichert unsere derzeitige Situation. wir echt keinen Bock darauf haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir miteinander in eine Situation Wir brauchen, drittens, schnelle digitale Lernmittel; da geraten, dass am Ende alle Bundesligafußballer durch- bin ich mir mit Marja-Liisa Völlers absolut einig. Nur, geimpft sind, sich aber Schülerinnen und Schüler hinten das Problem ist, wir warten auf die neue OER-Richtlinie, an der Schlange – Klammer auf: freiwillig; Klammer zu – und in dieser Zeit werden in vielen Landkreisen Tatsa- anstellen müssen. chen geschaffen, weil einfach Schulverwaltungen die Kompetenz dafür fehlt, zu beurteilen: Was kaufe ich, (Beifall bei der LINKEN) was nutze ich, um Abhängigkeiten von Abos und Lizen- Meine Damen und Herren, das geht gar nicht. zen zu vermeiden? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24741

Dr. Birke Bull-Bischoff (A) Meine Damen und Herren, eines ist jetzt schon klar – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) ich komme zum Schluss –: Die Mittel aus dem Digital- sowie der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE Pakt Schule und die Mittel, die auf Ihren Konten LINKE]) schmoren und noch nicht verplant worden sind, die brau- Auch systemische Fehler sind nicht behoben. Der Bil- chen wir dauerhaft. Auch wenn Sie es nicht gar so gerne dungsföderalismus, wie wir ihn uns leisten, ist weder hören: Ohne eine Reform des Bildungsföderalismus wird leistungsfähig noch krisenresilient. Keine Angst, heute das hier nichts mehr. behellige ich Sie einmal nicht mit dem Kooperationsver- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. bot, auch wenn dessen Reform so wichtig wäre wie nie. Nein, ich möchte auf einen anderen Missstand hinaus, der (Beifall bei der LINKEN) die Bildungsungerechtigkeit hierzulande vergrößert statt schmälert. Das Beispiel „DigitalPakt – Zusatzmillionen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: für Endgeräte“ zeigt, dass „gut gemeint“ föderal umge- Margit Stumpp, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächs- setzt nicht „gut gemacht“ ist. Eigentlich sollte den Kin- te Rednerin. dern geholfen werden, deren Familien sich schultaugli- che Endgeräte nicht leisten können – so weit, so richtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Doch herausgekommen ist – und das hat inzwischen so- gar die SPD verstanden – föderaler Murks erster Güte. Einigen konnten sich Bund und Länder nur auf die Aus- Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schüttung der Millionen nach dem Königsteiner Schlüs- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und sel, der den Ländern am meisten gibt, die eh schon am Herren! Eine wichtige und richtige Entscheidung im Rah- meisten haben. Es ist niemandem zu erklären, warum pro men des Teil-Lockdowns war und ist die Vereinbarung, Schülerin und Schüler in Bayern viermal so viele Mittel Schulen offen zu halten. Denn wie sehr sich mangelnder ausgeschüttet werden wie pro Kind in Bremen. Kontakt zu den Lehrkräften auf den Lernerfolg auswirkt, das haben uns die Schulschließungen schmerzhaft vor (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Augen geführt. SES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse- Brömer [CDU/CSU]: Stimmt! Das liegt an Doch was bedeutet es für die Betroffenen, Schulen der Regierung!) offen zu halten? Seit Monaten tragen, ertragen Lehrkräf- te, Eltern, Schülerinnen und Schüler alle Maßnahmen in Gießkanne wäre noch ein Fortschritt; denn jetzt haben großer Solidarität. Schulleitungen und Elternvertretun- wir eine Verteilung von unten nach oben. Das ist grund- gen haben über Monate geackert, Technik flottgemacht, falsch. (B) (D) Wege- und Raumpläne angepasst – viele Nächte lang und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in ihrer Freizeit Filter zu wechseln, wäre das kleinste und bei der LINKEN) Übel. Für das, was sie geleistet haben, gebührt ihnen Respekt, Diesen Fehler wollen wir bei der Finanzierung weite- rer Maßnahmen verhindern, die die Bildungsgerechtig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keit und den Schulbesuch sichern sollen. Untersuchungen sowie bei Abgeordneten der SPD) zeigen – an die CDU: dazu gibt es inzwischen mehrere: Uni Frankfurt, Bundeswehr-Uni, Curtius/Granzin/ Respekt verbal, aber auch in Form von sachlicher und Schrod –, dass mobile Luftfilter die Virenlast in den Räu- organisatorischer Unterstützung. men deutlich reduzieren können. Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte äußern aber inzwischen deutlich ihre Sorgen und bekla- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gen zu Recht, dass sie kaum in Entscheidungen einge- Frau Kollegin Stumpp, es gibt den Wunsch nach einer bunden werden; bei den Beschlüssen vom Mittwoch Zwischenfrage aus der SPD. wären das etwa die Schülerkonferenz und der Elternrat gewesen. Bisher hat ja kaum Kommunikation stattgefun- Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den. Gut, jetzt kann man sagen: Die Ministerin hört nicht Ja, bitte. einmal uns zu. – Aber trotzdem: Das ist unverantwortlich, unverständlich und schafft Misstrauen statt Akzeptanz. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege. Deswegen appelliere ich hier an alle Verantwortlichen, vor allem an die Bundes- und Landesebene: Beziehen Sie Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): endlich die Betroffenen in die Entscheidungen mit ein! Liebe Frau Kollegin Stumpp, was die unglückliche Diskutieren Sie Regelungen! Und hören Sie auf die Nöte Verteilung der Endgeräte für die Schülerinnen und Schü- und Vorschläge von vor Ort! – Wie gut zum Beispiel ler angeht, haben wir ja vollkommene Übereinstimmung. Klassenteilungen organisiert werden können, welche Aber wir sollten auch den Föderalismus sehr ehrlich dis- Kinder geeignet sind und welche nicht, das hängt doch kutieren. Der heftigste Widerstand gegen eine kindge- von den Verhältnissen vor Ort ab. Dort sollte dies dann rechte Verteilung ist ja leider aus Bayern und Baden- auch entschieden werden. Zeigen Sie Respekt nicht nur Württemberg gekommen. Ich will jetzt gar nicht nennen, verbal, sondern auch in Form von Kommunikation! wer dort in der Regierungsverantwortung ist. 24742 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Ein Punkt ist mir dabei wichtig: Auch dieses Luftfilter- (C) Doch! Der Kretschmann!) programm – so nötig es ist – bekämpft nur Symptome, Aber weil das ein Problem ist, sollten wir vor allen Din- Symptome einer jahre- und jahrzehntelangen Miss- und gen dafür werben, dass solche Fehler in Zukunft nicht Mangelwirtschaft an unseren Schulen. Wir haben allein wieder passieren. in unseren Bildungseinrichtungen einen Investitionsstau von über 40 Milliarden Euro. Mancherorts schicken wir Vielleicht können Sie Ihren klugen Gedanken auch unsere Kinder in Schulen, die Bauruinen gleichen: stin- hier noch mal zum Besten geben. Wir waren im Bundes- kende Toiletten, bröckelnde Wände, Schimmelbefall – tag ja schon einmal weiter, nämlich als es um die Finan- von wegen Einbau von Filtersystemen –, undichte zierung von Hilfen für finanzschwache Kommunen ging. Dächer, vernagelte Fenster. Die Liste ließe sich endlos Dort hatten wir nicht einen pauschalen, an der Sache fortsetzen. orientierten Schlüssel, sondern da ging es um Arbeits- losigkeit, da ging es um Finanzkraft, da ging es um so- (Dr. Götz Frömming [AfD]: Wer ist verant- ziale Indikatoren. wortlich?) Ich werbe stark dafür, dass wir kein Bashing betreiben, Das ist beschämend; denn die Instrumente dagegen sondern dass wir uns konstruktiv auf neue Wege begeben, liegen auf der Hand. Zum einen ermöglicht uns der Kom- und das mit der SPD, den Grünen, den Linken und hof- munalinvestitionsförderungsfonds, Schulen zu einladen- fentlich auch mit anderen einsichtsfähigen Kräften den und motivierenden Lernorten zu machen. Die Funk- zusammen. tion des Raums als dritter Pädagoge muss endlich ernst genommen werden. Lassen Sie uns die Laufzeit des (Beifall bei der SPD) Fonds über 2023 hinaus verlängern und die Mittel deut- lich aufstocken, damit Schulen baulich in der Gegenwart Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ankommen können. Herr Rossmann, da bin ich vollkommen bei Ihnen. Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kennen das ja, wie leidgeprüft man unter Umständen in sowie der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE einer Koalition sein kann. Sie haben ja ein ähnliches LINKE]) Schicksal wie wir in Baden-Württemberg. Wir Grüne verfolgen eine andere Bildungspolitik und auch eine Zum anderen brauchen wir – das sage ich Ihnen als andere solidarische Politik. eine jahrelang aktive und engagierte Kommunalpolitike- rin – endlich eine Gemeindefinanzreform, um die Kom- (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Ministerpräsi- munalfinanzen künftig für alle Städte und Gemeinden dent hat nichts zu sagen, oder wie? Wer ist der auskömmlich auszugestalten. Die Gemeinden müssen (B) (D) Ministerpräsident?) allzu oft das umsetzen und bezahlen, was wir hier Aber Frau Eisenmann, CDU, hat die Ressorthoheit, und beschließen, ohne dafür eine adäquate Gegenfinanzie- sie steht im Wahlkampf als Spitzenkandidatin. Sie wis- rung zu erhalten. sen, welche Verwerfungen wir dadurch haben. Auch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Blockade der Mittel für den Ganztag können wir an der Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Stimmt Stelle leider nicht aushebeln. Da teilen wir unser Schick- ja nicht! Die Kommunen haben nie so viel Geld sal; denn auch Sie kämpfen ja mit der Untätigkeit der vom Bund gekriegt wie in den letzten Jahren!) Bildungsministerin hier auf Bundesebene. Kolleginnen und Kollegen, geehrte Kultusministerin- (Dr. Götz Frömming [AfD]: Schuld sind immer nen und Kultusminister, auch an Ministerin Karliczek die anderen!) appelliere ich: Beziehen Sie Lehrkräfte, Eltern sowie Wir waren bei den Luftfiltern. Geräte mit HEPA-Fil- Schülerinnen und Schüler in Ihre künftigen Entscheidun- tern scheinen sehr wirksam zu sein, und sie sind sofort gen mit ein. Machen Sie die Schulen endlich zu Orten des einsetzbar. Einzelne Bundesländer haben dies erkannt. sicheren und modernen Lernens, und sorgen Sie dafür, Das hilft der Mehrzahl der Schulen, die wegen baulicher dass kein Kind auf der Strecke bleibt. Das gilt besonders Mängel und finanzieller Schwäche die Filter dringend für die Pandemie, aber natürlich auch darüber hinaus. brauchen, aber leider gar nicht. Jetzt kann man sich, wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gerade gehört, wortreich aus der Verantwortung ziehen oder eben handeln. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Ja, aus der Nächster Redner ist der Kollege Tankred Schipanski, Verantwortung ziehen, wie Sie es gerade CDU/CSU. gemacht haben!) Deshalb fordern wir 500 Millionen Euro für ein För- (Beifall bei der CDU/CSU) derprogramm „Mobile Luftfilter“ ausschließlich für finanzschwache Kommunen bzw. Quartiere. Der Vertei- Tankred Schipanski (CDU/CSU): lungsschlüssel, Herr Rossmann, soll sich an der Einwoh- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ja nerzahl, dem Kassenkreditbestand und der Arbeitslosen- heute Morgen ein richtiger Rundumschlag in dieser zahl orientieren, damit das Geld genau dort ankommt, wo Debatte. wir es am dringendsten brauchen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein Luftfilter auslösen kann!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24743

Tankred Schipanski (A) Frau Bull-Bischoff, ich finde es schon allerhand, dass Sie Ich will Ihnen auch mal sagen, dass der Bund nicht nur (C) meinen, der Thüringer Kultusminister würde gute Arbeit hier hilft. Allein im ganzen Bereich Bildung – Digital- leisten. Den haben Sie uns geschickt. Der wurde in der Pakt, Kinderbetreuungsausbau, Ganztagsbetreuung – Sowjetunion zum Kader ausbildet und treibt jetzt in Thü- geben wir 14,4 Milliarden Euro zwischen 2008 und ringen sein Unwesen. 2024 aus; so viel zum Jammerlied der Linken. Kommt der Verkehrsbereich hinzu, kommt der Städtebau hinzu, (Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE]: Ist das kommt der soziale Wohnungsbau hinzu, geben wir frei- billig!) willig, ohne Verantwortung zu tragen, 44 Milliarden Euro Seine Fähigkeiten, Frau Bull-Bischoff, können Sie able- in die Länder und Kommunen. Zu sagen, der Bund würde sen beim Abrufen der Mittel aus dem DigitalPakt – ich nicht helfen, ist allerhand. habe es neulich schon gesagt: der Herr Holter beantragt wahrscheinlich beim Bund in Rubel –: (Beifall bei der CDU/CSU – Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE] meldet sich zu (Heiterkeit bei der CDU/CSU) einer Zwischenfrage) Sachsen hat 105 Millionen Euro abgerufen, Thüringen – Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Ich freue mich dann 195 000 Euro. über eine Kurzintervention der Freundin von Herrn Hol- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Don- ter. nerschlag! – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Liebe Kolleginnen und Kollegen, was sind die Projek- Unglaublich!) te, die jetzt für die Koalition anstehen? Das müssen Sie sich mal vorstellen. Und dann erzählen Sie uns hier, daran sollen wir uns ein Vorbild nehmen. (Zurufe von der LINKEN) Meine Güte! Ich bin Frau Völlers dankbar, dass sie es schon gesagt hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben im Koalitionsausschuss am 25. August be- schlossen, dass wir Bildungskompetenzzentren für die Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Linke in digitale Bildung aufbauen. Eine bundesweite Bildungs- einer Parallelwelt lebt, das wissen wir. Aber dass die plattform wurde angesprochen. 90 Millionen Euro stellt FDP, liebe Frau Suding, da jetzt mitmacht, das finde ich der Haushaltsgesetzgeber hier dem BMBF zur Verfü- schon allerhand. Ihre Rede heute ist wirklich eine Steil- gung. Ich denke, das ist eine tolle Ansage. vorlage; meine Kollegin Tiemann hat das schon gesagt. Ihre Behauptungen, der Bund und die Ministerin seien Im Vergleich zur SPD und auch im Vergleich zum tatenlos, sind schlichtweg völlig falsch. Frau Völlers hat BMBF hat die Union hier schon ganz konkrete Vorschlä- (B) dargestellt, welche Mittel bereitstehen: DigitalPakt ge erarbeitet. Diese Vorschläge haben wir am Dienstag (D) Schule – 5 Milliarden Euro; drei Zusatzvereinbarungen beschlossen und am Mittwoch in den Medien entspre- à 500 Millionen Euro. chend vorgestellt. Ich kann Ihnen das Papier „Digitale Bildungsoffensive Schulen“ der CDU/CSU-Bundestags- (Katja Suding [FDP]: Ja, und was ist davon fraktion sehr empfehlen. Darin ist ein ganz genaues Kon- geflossen? Gar nichts!) zept enthalten, wie diese Plattformen, wie die Bundes- Übrigens: Der Mittelabfluss bei den Endgeräten für bildungskompetenzzentren aussehen sollen. Ich glaube, bedürftige Schüler beträgt bis zum Jahresende 400 Millio- hieran kann sich das BMBF ein Beispiel nehmen, aber nen Euro. Wir haben gute Vorschläge gemacht, wie wir selbstverständlich auch der Koalitionspartner. beim Mittelabruf für den DigitalPakt Schule besser wer- den können. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Schicken wir auch Herrn Holter!) (Anke Domscheit-Berg [DIE LINKE]: Es gibt nicht mal eine Vereinbarung!) – Wir schicken das auch dem Herrn Holter, genau. Das ist ein sehr, sehr guter Vorschlag. Gehen wir mal weiter. Frau Suding, Sie behaupten, der Bund soll seine Verantwortung wahrnehmen. Liebe Frau Lassen Sie uns gemeinsam mal in dieses Papier rein- Suding, der Bund unterstützt weit über seine Verantwor- schauen. Es geht ja nicht nur um die Bildungskompetenz- tung hinaus. Wenn die KMK Beschlüsse zum Präsenz- zentren und die entsprechende Bildungsplattform. Viel- unterricht fasst – darum geht es ja heute hier –, dann mehr werden noch mal ganz konkrete Vorschläge müssen diese doch ganz selbstverständlich mit den aufgezeigt, wie wir die Mittel bei dem DigitalPakt Schulträgern abgestimmt sein; darüber müssen die sich schneller abfließen lassen können. Und dann möchte ich doch Gedanken gemacht haben – Luftfilter hin, Luftfilter noch mal betonen: Es liegt nicht am Bund, sondern es her. Ich kann Ihnen nur sagen: Was der Bund ausgibt – liegt an den Ländern. Wir machen ganz konkrete Vor- wir haben es gesagt: DigitalPakt Schule, die ganzen schläge, was die Länder unternehmen können. Zusatzvereinbarungen; ich komme gleich zu weiteren Ich möchte gerne noch auf ein Thema aus dem Digi- Maßnahmen, die wir ergreifen –, ist allerhand. Wir neh- talbereich eingehen, nämlich den Datenschutz. Da höre men unsere Verantwortung über Gebühr wahr, liebe Kol- ich immer: Das kann man nicht machen. – Daher haben leginnen und Kollegen. wir keine digitale Bildung in den Schulen. Wir sprechen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- uns hier für eine einheitliche Unbedenklichkeitsprüfung neten der SPD – Katja Suding [FDP]: Lächer- bei der datenschutzrechtlichen Beurteilung aus. Das kön- lich!) nen die Kultusminister in ihrem Bundesland mit ihren 24744 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Tankred Schipanski (A) jeweiligen Datenschutzbeauftragten klären. Das auf die Nicole Höchst (AfD): (C) Schulen runterzubrechen und dort abzuladen, ist ein Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Bürger! großer Fehler. Zunächst muss ich erneut feststellen, dass die Probleme, an denen hier alle Anträge herumdoktern, seit langer Zeit Meine Redezeit geht zu Ende. Schauen Sie einfach mal von den Altparteien hausgemacht sind. Es zeigen sich in das Positionspapier rein; das sind elf ganz konkrete abermals die fatalen Folgen des Kaputtsparens der Bil- Vorschläge. Sie können das auf unserer Homepage ein- dung. sehen und runterladen. (Dr. Karamba Diaby [SPD]: Das ist langweilig! Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Immer wieder dasselbe!) (Beifall bei der CDU/CSU) Seit ewigen Zeiten leiden die Schulen, und damit unse- re Kinder, an Lehrermangel, zu großen Schulklassen Vizepräsident in : und – Überraschung! – sanierungsbedürftiger Infrastruk- Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Birke Bull- tur. Es ist traurig, wie drastisch die Realität in der Krisen- Bischoff das Wort. zeit den Regierungsparteien allüberall das Desaster vor Augen führt, welches Schüler, Lehrer und Eltern seit Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE): Jahrzehnten beklagen, meine Damen und Herren. Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Dem Kollegen (Beifall bei der AfD – Stefan Müller [Erlangen] von der Ex-Blockpartei möchte ich gerne Folgendes in [CDU/CSU]: Sie tragen immer dieselben Text- seine Rede hineinkorrigieren: Es wird ihm bekannt sein, bausteine vor!) dass es einen Unterschied gibt zwischen abgeflossenen Wir könnten uns vermutlich viele Maßnahmen der Mitteln, beantragten Mitteln und bewilligten Mitteln. Um Coronakrisenpolitik sparen, wenn man Bildung tatsäch- es klarzustellen: Von den 132,3 Millionen Euro, die für lich so prioritär sehen würde, wie Sie das alle so als Pose das Land Thüringen an Mitteln aus dem DigitalPakt zur in sämtlichen Parlamenten immer wieder vortragen. Ihre Verfügung stehen, sind bereits fast 30 Millionen Euro – Taten hingegen bzw. Ihre Unterlassungen sprechen jetzt damit liegen wir über dem Schnitt – bewilligt. Vollständig für sich, und sie sprechen eine überdeutliche Sprache, sind die Mittel aus dem Sofortprogramm für mobile End- meine Damen und Herren. geräte für Schülerinnen und Schüler im Land Thüringen beantragt. Bereits im Juni dieses Jahres forderte die AfD-Fraktion mit ihrem Antrag „Qualitätspakt Schule – Humane und (Beifall bei der LINKEN) humanistische Bildung durch Schüler-Lehrer-Kontakt gewährleisten“ weitreichende und überfällige Maßnah- (B) Vizepräsident in Petra Pau: men. Unter anderem forderten wir genau das, worüber (D) Möchten Sie erwidern, Kollege Schipanski? wir heute reden, nämlich die Entwicklung von Raumbe- lüftungskonzepten. Das wurde von Ihnen allen durch die Tankred Schipanski (CDU/CSU): Bank weg abgelehnt. Jetzt sprechen wir wieder darüber. Wissen Sie, liebe Frau Kollegin, da will ich Ihnen nur Herzlichen Glückwunsch! eine einzige Zahl nennen, nämlich die Zahl eins. Ich habe Frau Dr. Tiemann hält von Luftfilteranträgen nichts. in meinem Heimatlandkreis, in dem ich lebe, eine linke Gleichzeitig bekommen Abgeordnete seit Neuestem Landrätin, und in meinem Heimatland Thüringen habe mobile Raumfilter finanziert. Herzlichen Glückwunsch! ich einen linken Kultusminister. So viel Bigotterie muss man erst mal bringen. (Zurufe von der LINKEN: Och!) Die AfD-Fraktion steht mobilen Raumbelüftungssys- temen offen gegenüber; denn momentan müssen wir nun Ich habe in dem Landkreis, wo die Linke die Verant- einmal mit den überfüllten Schulklassen leben, wie die wortung trägt, eine einzige Schule, die diese DigitalPakt- Politik der Altparteien vor der AfD sie hervorgebracht Mittel abruft – eine einzige Schule! Sie können gerne mit haben. Und es ist sicher jede Maßnahme besser, als unse- Ihren Parteifreunden, re Kinder dauerhaft zum Tragen einer Gesichtsmaske zu (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Totales Ver- zwingen oder im tiefsten Winter alle 20 Minuten die sagen!) schneidende Kälte durch Stoßlüftung in die Klassenzim- dem Herrn Holter und dieser linken Landrätin, klären, mer zu lassen. wie viel Unfähigkeit dort herrscht. (Beifall bei der AfD) (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Unfähigkeit Die Links-Grünen schießen mit ihrem quasiparanoiden und Totalversagen!) Antrag völlig über das Ziel hinaus. Es liest sich, als woll- Vielen Dank. ten Sie den Klassenraum zu einer Art Hochsicherheits- labor unter Reinraumbedingungen umfunktionieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Margit Stumpp [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir wollen ihn sicher machen!) Vizepräsident in Petra Pau: Neben Raumluftfiltern sollen FFP2-Masken und CO2- Das Wort hat die Abgeordnete Nicole Höchst für die Messgeräte zum Einsatz kommen. Schüler sollen durch AfD-Fraktion. Plexiglaswände voneinander isoliert werden, und Schutz- (Beifall bei der AfD) kleidung soll getragen werden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24745

Nicole Höchst (A) ( [DIE LINKE]: Wo steht das Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Maßnahmen (C) denn? – Weiterer Zuruf: Wo haben Sie denn kommen auch rechtzeitig. Es reicht nicht, gute Maßnah- das gelesen?) men zu haben, sondern man muss sie auch rechtzeitig Vielleicht zeigen sich hier die Nebenwirkungen der Des- treffen, so wie wir in Ostfriesland sagen: Beter dree Stün- infektionsmitteldämpfe – ich weiß es nicht. nen to froh as een Minüüt to laat. (Margit Stumpp [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schule ist jetzt anders geworden. Ich will an dieser NEN]: Was erzählen Sie eigentlich? – Ralph Stelle noch sagen: Herzlichen Dank an die Lehrerinnen Lenkert [DIE LINKE]: Falsche Behauptun- und Lehrer, die sich darauf eingelassen haben, die bereit gen! – Abg. Margit Stumpp [BÜNDNIS 90/ waren, in dieser Coronasituation zu unterrichten. DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schenfrage) der CDU/CSU) Diesen Antrag lehnen wir jedenfalls ab. Für Eltern und für Bildung gibt es offensichtlich nur noch eine einzige Nicht zu vergessen: Dank auch an die Sozialpädagogen, echte Alternative und wirkliche Interessenvertretung hier die große Aufgaben vor sich hatten und die Großes in diesem Land: die Alternative für Deutschland. geleistet haben, ebenso an die Hausmeister, die Dinge umorganisieren mussten, und das Verwaltungspersonal Vielen Dank. in den Schulen! (Beifall bei der AfD – Ralph Lenkert [DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten LINKE]: Die Märchenerzähler! – Siegbert der CDU/CSU) Droese [AfD]: Die Umfragewerte geben Ihnen recht, Frau Kollegin! Unsere zumindest!) Ich will an dieser Stelle deutlich machen, dass die Wirkung von mobilen Luftfiltern umstritten ist. Deswe- Vizepräsident in Petra Pau: gen sind diese Luftfilter keinesfalls ein Allheilmittel. Ich Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Johann habe ein bisschen Sorge, dass man mit dem Einsatz von Saathoff das Wort. mobilen Luftfiltern ein Stück weit den Anschein von Sicherheit erzeugt, die letztlich gar nicht gegeben ist. Es (Beifall bei der SPD) ist eigentlich klar: Lüften bleibt die wirkungsvollste Maßnahme. Johann Saathoff (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) Kollegen! Ja, die Coronamaßnahmen bestimmen die Als ehemaliger Bürgermeister will ich abschließend (D) öffentliche Debatte in Deutschland schon seit Monaten – noch sagen: Die unterschiedliche Situation in den und die Regelungen für den Rest des Jahres, die in dieser Schulen in Deutschland ist manchmal wirklich nicht zu Woche gefunden wurden, noch mal in besonderem Maße. ertragen. Wir haben auf der einen Seite Schulen mit ein- Was uns noch bewusst wird, ist, dass es natürlich nicht fachen Holzfenstern, und auf der anderen Seite haben wir nur Belastungen für die Wirtschaft gibt, für die Sportwelt Schulen mit vollautomatischen Lüftungsanlagen. Es darf oder andere Bereiche im gesellschaftlichen Zusammen- eigentlich nicht länger von der Finanzsituation der betrof- sein, sondern dass ganz besondere Belastungen durch die fenen Kommune abhängen, unter welchen Rahmenbedin- Coronamaßnahmen auch für die Familien, für die Kinder gungen Schülerinnen und Schüler lernen dürfen oder entstehen. Ich bin Vater einer 15-jährigen Tochter, die müssen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Dafür natürlich nicht sagen würde, dass sie gerne zur Schule wäre ein Schulinvestitionsprogramm wirklich ange- gehen möchte, die aber schon spürt, dass es notwendig bracht. ist, zur Schule zu gehen, und dass es auch wichtig ist, in Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. der Schule die Sozialkontakte zu pflegen. Belastungen entstehen aber auch für die Eltern, für die es eine echte (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Silke Herausforderung ist, schon seit Monaten, Arbeit und Launert [CDU/CSU]) Familie miteinander in Einklang zu bringen, irgendwie ihrem Erziehungsauftrag gerecht zu werden und den Kin- Vizepräsident in Petra Pau: dern zu erklären, was gerade eigentlich los ist. Das Wort hat der Kollege Peter Heidt für die FDP- Die Ziele, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind klar: Fraktion. Wir wollen die Schulen und die Kitas so lange wie mög- lich offen lassen, und wir wollen das Infektionsgeschehen (Beifall bei der FDP) im Griff haben. Diese beiden Ziele müssen gegeneinan- der abgewogen werden. Auf diese Fragen sind in dieser Peter Heidt (FDP): Woche, wie ich finde, sinnvolle Antworten gefunden Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und worden. Es geht darum, einen vernünftigen, verantwort- Kollegen! Wir müssen täglich feststellen, wie überfordert baren Maskeneinsatz in den Schulen zu organisieren, und unser Bildungssystem mit der Bewältigung der Corona- es geht darum, im Notfall Wechselunterricht oder Hyb- krise ist. Auch hier wurde im Sommer leider nichts dafür ridunterricht festzulegen. Ich glaube, das sind gute Maß- getan, dass die Schulen winterfest gemacht werden. Wert- nahmen, die wir unterstützen können. volle Zeit ist unnütz verstrichen. Und ich frage die CDU, (Beifall bei der SPD) wann Sie endlich mal auf den Trichter kommen, dass die 24746 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Peter Heidt (A) fehlenden Mittelabflüsse vor allen Dingen an der über- oder andere Uni, die wir da genannt haben, gehören zu (C) bordenden Bürokratie liegen, die Sie zu verantworten den renommiertesten Universitäten in Deutschland. Dass haben. Sie denen nicht glauben, spricht sehr für Ihre Arroganz. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Die Schulen gehören leider zu den Verlierern in dieser Die Förderung der Bundesregierung von stationären Krise. Das Homeoffice Schule funktioniert nicht, im Ge- Luftfilteranlagen greift zu kurz. Wir können heute mit gensatz zu vielen Bereichen der Wirtschaft. Das scheitert diesem Antrag eine sinnvolle und schnell umsetzbare schon am fehlenden Internet in vielen Schulen. Maßnahme beschließen. Sie hilft unseren Schulen, sie hilft unseren Kindern. Insofern: Erkennen Sie endlich Wir Freien Demokraten sind zutiefst davon überzeugt, an, dass wir einen guten Antrag gestellt haben! Ich glau- dass das Offenhalten von Schulen eine extrem hohe Prio- be, es ist an der Zeit, dass Sie erkennen müssen, dass das, rität hat. Wir müssen alles daransetzen, dass unsere Kin- was Sie tun, nicht ausreicht. der trotz der Pandemie ihren Anspruch auf eine gute Bildung erfüllt bekommen. Wir wissen, wie dramatisch Vizepräsident in Petra Pau: Schulschließungen für Schüler sind. Gerade Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern haben unter den Schul- Kollege Heidt, kommen Sie bitte zum Schluss. schließungen massiv gelitten. Das in Deutschland schon lange herrschende Problem der starken Abhängigkeit des Peter Heidt (FDP): Bildungserfolges vom Elternhaus wird durch die Schul- Einen letzten Satz. – Ich besuche sehr viele Schulen, schließungen noch einmal extrem verschärft. ich spreche mit sehr vielen Eltern, eben nicht nur in den sonstigen Higher Classes, sondern in den sozialen Brenn- Wir erleben doch jetzt genau dasselbe wie das, was wir punkten. Von daher weiß ich, was los ist. im Frühjahr erlebt haben: Die Schulen mit funktionier- enden Fördervereinen, also mit Schülern aus den besser Vielen Dank. situierten Elternhäusern, schaffen sich über die Förder- (Beifall bei der FDP) vereine Luftfilter an. – Im Frühjahr waren es iPads. Ein schönes Beispiel ist die Sophie-Scholl-Schule in Vizepräsident in Petra Pau: Bad Nauheim. Die Luftfiltergeräte wurden über den För- Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär derverein angeschafft, im Oktober installiert und sind Marco Wanderwitz. seitdem im Einsatz. – Im Oktober! Sie leisten einen her- vorragenden Dienst in der nassen und kalten Jahreszeit. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Man muss jetzt nur noch vor dem Schulbeginn und in den (D) Pausen durchlüften, frischen Sauerstoff reinlassen. Zug- Marco Wanderwitz, Parl. Staatssekretär beim Bun- luft und Kälte bleiben draußen. Die Luftreinigung über- desminister für Wirtschaft und Energie: nimmt der kleine mobile Helfer, dort liebevoll „R2-D2“ Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! genannt. Seit 20. Oktober ist die Richtlinie „Bundesförderung Corona-gerechte Um- und Aufrüstung von raumluft- Wir schließen in Deutschland aktuell sehr viele Ein- technischen Anlagen in öffentlichen Gebäuden und richtungen wie Restaurants und zahlen dann Milliarden- Versammlungsstätten“ in Kraft; es geht um stationäre beträge zum Ausgleich der Schäden. Wie viel sinnvoller Anlagen. Sie liegt im Verantwortungsbereich des Bun- ist es doch, dieses Geld dafür zu verwenden – und wir desministeriums für Wirtschaft und Energie, und deswe- reden von einem überschaubaren Betrag –, dass eben die gen spreche ich heute zu diesem Programm. Einrichtungen nicht geschlossen werden müssen, dass sie mit diesen Maßnahmen in die Lage versetzt werden, Antragsberechtigt sind Länder und Kommunen, Unter- offen bleiben zu können. nehmen, sofern die Finanzierung durch Beteiligung oder auf sonstige Weise zu mindestens 50 Prozent vom Bund, (Beifall bei der FDP) von Ländern oder Kommunen erfolgt, institutionelle Und genau hier setzt der Antrag der Freien Demokra- Zuwendungsempfänger des Bundes sowie Hochschulen ten an. Wir wollen mit mobilen Luftfiltern für Schulen und Träger von öffentlichen Einrichtungen. das Ansteckungsrisiko durch das Coronavirus für Schü- Ergo gehören auch Schulen zum Empfängerkreis, ler/-innen und Lehrer/-innen minimieren. Und wir wissen wenn sie über eine oben so genannte stationäre raum- auch: Das ist kein Allheilmittel. Wer sagt denn das? Das lufttechnische Anlage verfügen. Und das tun nicht weni- ist ein Teil, ein Mosaikstein, um eben eine Lösung zu ge Schulen, insbesondere die, die neu gebaut worden oder haben, und in der kalten Jahreszeit ist ein ständiges Lüf- saniert worden sind. Und diese Anlagen auf- und umzu- ten keine Alternative. Zudem gibt es ja leider in Deutsch- rüsten, das fördern wir mit einem Programmvolumen von land viele Klassenräume, die Sie gar nicht lüften können. 500 Millionen Euro, einer halben Milliarde. Damit rech- Was wollen Sie da machen? nen wir uns aus, dass wir ungefähr 10 000 solcher Anla- gen auch in Schulen kurzfristig um- und aufrüsten kön- Ich frage auch mal Frau Dr. Tiemann nach den wissen- nen. schaftlichen Studien, die Sie für Ihre ganzen Beschlüsse, für die Einschränkungen im Einzelhandel haben. Da gibt (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: es überhaupt gar nichts an wissenschaftlichen Expertisen. Wie viele Schulen denn? – Gegenruf der Abg. Und wir haben wissenschaftliche Expertisen, und die eine Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE]: 14! – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24747

Parl. Staatssekretär Marco Wanderwitz (A) Gegenruf des Abg. Dr. Jens Brandenburg (Peter Heidt [FDP]: Die schwimmen im Geld! (C) [Rhein-Neckar] [FDP]: 14 Schulen, okay!) Die wissen gar nicht, wohin mit dem ganzen Geld!) – Hören Sie doch erst mal zu, und schreien Sie nicht dazwischen. Sie können noch was lernen. die Hauptverantwortlichkeit für Schule liegt bei den Bun- desländern. – Die Kommunen haben, anders als der (Zuruf der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE Bund, die letzten Jahre regelmäßig Überschüsse im kom- LINKE]) munalen Finanzierungssaldo gehabt. Mittlerweile haben wir eine Vielzahl von Anträgen (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: So ist es! Sie beim BAFA, beim Bundesamt für Wirtschaft und Aus- sollten zuhören, dann lernen Sie was! – Weitere fuhrkontrolle, das dieses Programm administriert. Darun- Zurufe) ter sind auch Schulen. Das Programm ist, wie gesagt, gerade erst angelaufen; am 20. Oktober ist es gestartet. Deswegen sage ich als Bundestagsabgeordneter, als Wir sind sehr zuversichtlich, dass auch nicht wenige Mitglied dieses Gremiums, das der Haushaltsgesetzgeber Schulen darunterfallen. ist: Wir müssen dieser gesamtstaatlichen Aufgabe ge- meinsam gerecht werden. Und wenn es vor Ort Schulen Wir können uns zudem vorstellen, wenn uns der Haus- gibt, an denen es sich auch wegen der räumlichen Situa- haltsgesetzgeber diesen Rahmen ermöglicht oder wir tion lohnt – denn es geht doch genau darum, dass die anderweitig Lösungen finden, dass wir in einer zweiten Geräte entsprechend ordentlich bedient werden müssen; Stufe möglicherweise auch den Neubau solcher stationä- sie können nicht in jedem Raum angewendet werden –, rer Anlagen fördern können und damit noch mehr dann ist es Aufgabe der Kommunen als Schulträger, sol- Schulen die Möglichkeit hätten, hier zu beantragen. che mobilen Geräte, die deutlich kostengünstiger sind, anzuschaffen. Warum fördern wir nun nur feste raumlufttechnische Anlagen? Weil das Ziel dieses Programms ist, die Aero- (Beifall bei der CDU/CSU) sole aus den Gebäuden zu befördern, ohne zwangsläufig in regelmäßigen kurzen Abständen lüften zu müssen, und Ein letzter Punkt, Frau Kollegin Höchst, weil Sie ja das mobile Geräte können genau das nicht. Sie wälzen die Thema „Was macht der Deutsche Bundestag?“ angespro- Luft nur um und bringen weder Frischluft von außen chen haben: Wir haben hier im Deutschen Bundestag die rein noch die Raumluft nach außen. Situation, dass nahezu alle Büros über eine Raumluftum- wälzung verfügen. Es gibt einige wenige Büros in einigen Deswegen sind es zwei Paar Schuhe. Das Paar Schuhe, wenigen Liegenschaften, die das nicht haben, kleine (B) das wir fördern, ist die wirksamere Maßnahme. Ein Büros. Abgeordnetenbüros sind ja, wie wir alle wissen, (D) gewisser Nachhaltigkeitsgedanke spielt dabei natürlich nicht besonders groß. Und für diese kleinen Büros hat der mit; denn es geht ja nicht nur um Aerosole, sondern Ältestenrat beschlossen, dass mobile Geräte angeschafft auch darum, beispielsweise CO2 aus der Luft filtern zu werden können. Da es kleine Zimmer sind, in denen es können und damit, wenn wir bei Schulen bleiben, den schnell auch durch ein Mobilgerät eine Luftumwälzung Schülerinnen und Schülern eine bessere Konzentration geben kann, ist das eine sinnvolle Maßnahme. Und der zu ermöglichen, wenn regelmäßiger Frischluft zugeführt Zusammenhang, den Sie darstellen wollen, ist unredlich wird. Deswegen haben die moderneren Schulen, von de- und unsachlich. nen ich am Anfang sprach, beispielsweise die Oberschule in meiner Heimatstadt Hohenstein-Ernstthal, die wir vor (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. wenigen Jahren neu errichtet haben, eine raumlufttechni- Nicole Höchst [AfD]) sche Anlage. Vizepräsident in Petra Pau: (Peter Heidt [FDP]: Das eine zu tun, heißt Das Wort hat der Kollege Dr. Karamba Diaby für die nicht, das andere zu lassen!) SPD-Fraktion. Ich weiß ja nicht, wie das in Ihrem Bundesland ist. Bei (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sepp uns in Sachsen funktioniert es ganz gut. Müller [CDU/CSU]) Die mobilen Raumlüfter versorgen, wie ich schon sag- te, die Räume nicht mit Frischluft, sondern es ist Stoß- Dr. Karamba Diaby (SPD): lüften nötig. Die mobilen Anlagen sind aber auch kosten- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten günstiger, und deswegen will ich an der Stelle auch mal Damen und Herren! Wir haben in Deutschland etwas ansprechen, was hier in der einen oder anderen 40 000 Schulen mit 11 Millionen Schülerinnen und Debatte in den letzten Tagen im Haus ja auch eine Rolle Schülern. Sie dürfen nicht die Verlierer dieser Pandemie gespielt hat. sein. Die Bewältigung der Coronapandemie ist eine gesamt- (Beifall bei der SPD) staatliche Aufgabe: Bund, Länder und Kommunen. Wir fördern jetzt in einem Bereich, für den die primäre Deshalb müssen wir alles daransetzen, dass flächende- Zuständigkeit nicht unbedingt beim Bund liegt, wenn ckende Schließungen von Schulen verhindert werden. wir uns mal die Schulen anschauen, die teuren festen Ich bin froh darüber, dass die Ministerpräsidentenkonfe- Raumluftanlagen. Schulträger sind die Kommunen; renz daran festgehalten hat. 24748 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Dr. Karamba Diaby (A) Fakt ist: Corona verschärft ein Grundproblem, und Zweitens. Diese Summe wird aufgestockt, und zwar (C) zwar soziale Ungerechtigkeit. Das dürfen wir nicht wei- um weitere 1,5 Milliarden Euro für die IT-Administra- terhin hinnehmen, meine sehr verehrten Damen und Her- tion, für Werkzeuge, für die Erstellung digitaler Inhalte ren. sowie für mobile Endgeräte für Schülerinnen und Schüler ebenso wie für Lehrkräfte. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU]) Drittens. Wir wollen Kompetenzzentren für digitalen Unterricht schaffen. Sie sollen bei Schulentwicklungs- So hat das Homeschooling viele Eltern und viele Schüle- plänen beraten. Mit den Beiträgen der Länder bzw. der rinnen und Schüler belastet, ganz besonders die Familien, Schulträger kommen wir insgesamt auf sage und schreibe die einkommensschwach sind und in denen die Kinder 7 Milliarden Euro. Mein Land Sachsen-Anhalt erhält zum teilweise ganz auf sich gestellt waren. Das kann nicht der Beispiel 137 Millionen Euro, die in Schulbildungsinfra- Weg sein. Der Ausfall von wenigen Wochen hat hier struktur und in Lehrerfort- und -weiterbildung investiert schwerwiegende Auswirkungen auf den Lernerfolg. werden. Unser gemeinsamer Anspruch ist es aber, dass jedes Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit können wir die Kind die beste und umfassendste Bildung bekommt, die digitale Gerechtigkeit im Schulbereich verwirklichen, unter den aktuellen Umständen möglich ist. und zwar für jeden und für jede, unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht und Herkunft der Eltern. (Beifall bei der SPD) Danke schön. Jedes Kind muss unter diesen schwierigen Umständen trotzdem die besten Entwicklungsmöglichkeiten bekom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men und seine Potenziale entfalten können; denn Kinder der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE und Jugendliche haben ein Recht auf Bildung, Teilhabe, GRÜNEN – Anke Domscheit-Berg [DIE LIN- Förderung und Schutz. KE]: Alles Gute zum Geburtstag! – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Er hat heute (Beifall bei der SPD) Geburtstag! Glückwunsch! – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Das stimmt! – Beifall) Ich bin Vater eines schulpflichtigen Kindes, und ich weiß, dass die beste Wahl der Präsenzunterricht ist. Erst Vizepräsident in Petra Pau: die zweite Wahl ist die Kombination aus Präsenz- und Onlineunterricht. Damit wir keinem Kind seine schuli- Dann die besten Wünsche, Kollege Diaby. sche Entwicklung erschweren oder faktisch unmöglich (Peter Heidt [FDP]: Es gibt Kuchen! – Heiter- (B) machen, ist der kurzfristige Verzicht auf Präsenzunter- keit) (D) richt für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Das Wort hat die Kollegin Katrin Staffler für die CDU/ keine Lösung. Das Leben ist keine Videokonferenz. Das CSU-Fraktion. gilt auch für die Bildung, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Corinna Rüffer [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Katrin Staffler (CDU/CSU): Das heißt aber nicht, dass wir die Schulen nicht digita- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lisieren sollten. Wir wollen weiterhin eine digitale Jetzt darf ich diese Debatte abschließen. Am schönsten Gerechtigkeit in unseren Schulen. In diesem Zusammen- ist es, wenn man am Ende einer solchen Debatte ein hang ist es auch wichtig, dass wir die Medienkompetenz kleines Fazit, einen Minimalkonsens findet, etwas, auf von Schülerinnen und Schülern sowie von Lehrkräften das wir uns alle einigen können. Wenn man die Debatte verbessern. Es gibt MINT-Akteure wie das „Haus der heute so verfolgt hat, könnte man fast meinen: Das ist bei kleinen Forscher“, die genau solche Angebote haben diesem Thema schwierig. – Deswegen mag es ein wenig und die Schulen, Jugendliche und Lehrkräfte dabei unter- überraschend klingen, wenn ich sage: Es gibt einen sol- stützen können. Es ist zentral, dass wir weiterhin durch chen Minimalkonsens auch in dieser Debatte. – Denn wir die Umsetzung des MINT-Aktionsprogrammes außer- sind uns am Ende des Tages, glaube ich, schon bei zwei schulische Akteure untereinander und mit Schulen Punkten einig. zusammenbringen und gemeinsam ein breites Angebot Wenn man die letzten Wochen und Monate verfolgt schaffen, von dem Schulen, Kinder und Lehrkräfte profi- hat, hat man, glaube ich, gesehen, dass diese für Eltern, tieren. für Kinder, für all diejenigen, die im Bildungsbereich tätig sind, eine unglaublich große Herausforderung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten waren. Es ist nicht einfach, den Kindern zu erklären, der CDU/CSU) dass sie sich heute nicht mit ihren Freunden treffen kön- Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass die Koali- nen. Es ist auch nicht einfach, den Kindern zu erklären, tion auf Druck der SPD Folgendes bereits auf den Weg was so ein Virus überhaupt ist, wie es sich verbreitet und gebracht hat: was so schlimm daran ist. Es ist auch eine Riesenheraus- forderung für alle Familien, jeden einzelnen Tag wieder, Erstens. Mit dem DigitalPakt Schule unterstützt der irgendwie zu koordinieren, wie sie Arbeit und Kinderbe- Bund die Länder und Gemeinden bei Investitionen in treuung unter einen Hut bringen, wie sie das irgendwie digitale Bildung und Infrastruktur mit 5 Milliarden Euro. auf die Reihe bringen sollen, um durch diese Phase zu Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24749

Katrin Staffler (A) kommen. Deswegen ist es auch so wichtig – das ist uns So. Das war für heute praktisch der Grundkurs Förder- (C) allen klar –, dass die Schulen, die Einrichtungen jetzt alismus, den wir in dieser Debatte abgehalten haben. Des- offen bleiben. wegen würde ich sagen: Lassen wir es damit gut sein. Kommen wir zurück zu den Ideen und Vorschlägen, die (Dr. Götz Frömming [AfD]: Ja!) wir als Fraktion haben, wie wir die Schulen für die Zu- Da haben wir schon den ersten Konsens. kunft wappnen. Gleichzeitig haben uns die Erfahrungen aus den letzten Die Vorredner haben es in Teilen schon genannt: Uns Monaten gezeigt, dass wir uns die Fragen stellen müssen, geht es um einen Ansatz, der einer ganzheitlichen Logik wie wir in dieser immer stärker digitalisierten Welt lernen folgt. Das heißt: Natürlich müssen wir erst mal die techni- wollen und müssen und welche Rahmenbedingungen es schen Voraussetzungen schaffen. Und ja, es gehört zur dafür braucht. Wir müssen jetzt den Schwung, den die Wahrheit dazu, dass wir noch besser und vor allem auch Pandemie in die Digitalisierung der Bildung gebracht schneller werden müssen. Deswegen müssen wir zwei- hat, nutzen, und wir dürfen eben nicht, sobald die Pande- felsohne den beschleunigten Mittelabfluss beim Digital- mie irgendwann besiegt sein wird, zu den alten Struktu- Pakt Schule jetzt noch stärker in Angriff nehmen. ren zurückkehren. Auch darin sind wir uns alle einig. Aber es ist halt auch nicht nur die Technik alleine. Dann hört der Konsens leider auch schon wieder auf, Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass zum Beispiel nämlich genau bei dem Wort „wir“. Ja, wir auf Bundes- auch – zweites Thema – Fortbildungsangebote, Bera- ebene können der Ideengeber sein. Wir können die Posi- tungsstrukturen für die digitale Bildung gestärkt werden. tionen formulieren, die Ansprüche formulieren. Aber was Weitere Themen sind die Lizenzierung von digitalen wir auf Bundesebene eben nicht können, ist, dass wir Lernmitteln, um einen einheitlichen Prozess zu etablie- diese Ideen am Ende des Tages auch umsetzen. Das kön- ren – das ist ein Thema, das wichtig ist, aber heute noch nen nämlich nur diejenigen, die primär dafür zuständig gar nicht angesprochen wurde –, Digitalisierung in den sind, und das sind – das ist heute schon oft genug gesagt Curricula abbilden usw. usf. worden – nicht wir, sondern die Länder. Ich würde das gerne noch weiter ausführen; meine Wenn wir das als Unionsfraktion immer wieder beto- Redezeit reicht dazu leider nicht. Deswegen schließe nen, dann hat das, liebe Kolleginnen und Kollegen von ich ab mit einem kleinen Appell: Lassen Sie uns doch der Opposition, nichts damit zu tun, dass wir die ganze bitte weiterhin mit Mut und Zuversicht diese Themen Zeit nur mit dem Finger auf andere zeigen wollen; das ist anpacken. Wenn wir das als Verantwortungsträger nicht schlichtweg dem Grundgesetz, den föderalen Zuständig- tun, ja, wie sollen es denn dann die Menschen in unserem keiten geschuldet. Und es ist echt ermüdend, dass wir Land tun? Deswegen: Wir brauchen Fortschritt anstatt diese verfassungsrechtlichen Grundlagen immer und (B) Rückschritt. (D) immer wieder in diesen Debatten wiederholen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident in Petra Pau: Begreifen Sie die Selbstständigkeit der Länder doch ein- Kollegin Staffler, Sie haben richtig erkannt, dass Ihre fach mal als hohes Gut und nicht als einen, wie Sie es Redezeit ausgeschöpft ist. suggerieren wollen, nervigen Hemmschuh, der uns als Bund daran hindert, mit der Gießkanne das Geld über das ganze Land zu verteilen. Katrin Staffler (CDU/CSU): Ja, der letzte Satz. – Wir brauchen Lust auf Zukunft, Ich war echt positiv erstaunt. Auf einer Podiumsdis- und das kann gute Bildung schaffen. Deswegen: Lassen kussion gestern Abend genau zu diesem Thema hat sogar Sie uns das gemeinsam tun! die Kollegin Bull-Bischoff von den Linken ein flammen- des Plädoyer dafür gehalten, was am Bildungsföderalis- Danke schön. mus an positiven Dingen zu vermerken ist. Ich war erstaunt. Ich habe kurz überlegt, ob ich falsch gehört (Beifall bei der CDU/CSU) habe, aber nein, das war der Fall. Es war durchaus positiv. Vizepräsidentin Petra Pau: (Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE]: „Flam- mend“ ist ein bisschen übertrieben! Ich bin nur Ich schließe die Aussprache. nicht für die Abschaffung!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf – Doch, das war es. Insofern sollten wir uns darauf doch Drucksache 19/24207 an die in der Tagesordnung aufge- immer mal wieder berufen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD Abgesehen davon haben wir in den letzten Jahren den wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft Ländern bei der Finanzierung von Bildungsaufgaben und Energie. Die Fraktion der FDP wünscht Federfüh- durchaus maßgeblich unter die Arme gegriffen, zum Bei- rung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Tech- spiel – das ist schon angesprochen worden – durch den nikfolgenabschätzung. DigitalPakt Schule oder den Hochschulpakt. Aber gerade dieses letzte Beispiel zeigt doch eindrücklich, dass wir Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor- bei diesen Bund-Länder-Vereinbarungen sehr genau hin- schlag der Fraktion der FDP. Wer stimmt für diesen Über- schauen müssen, dass die Gelder auch wirklich da einge- weisungsvorschlag? – Das sind die FDP-Fraktion, Die setzt werden, wo sie gebraucht werden. Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dage- 24750 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) gen? – Die Koalitionsfraktionen. Wer enthält sich? – Die Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor- (C) AfD-Fraktion. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Die AfD-Fraktion, Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- die FDP-Fraktion, Die Linke und Bündnis 90/Die Grü- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder- nen. Wer stimmt dagegen? – Die SPD und die CDU/CSU. führung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – AfD, Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Der Über- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder- weisungsvorschlag ist angenommen. führung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – Die Oppo- fehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und sitionsfraktionen. Enthält sich jemand? – Das ist nicht der Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 19/23792. Fall. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b sowie Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be- den Zusatzpunkt 14 auf: schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion der AfD auf Drucksache 19/22456 mit dem Titel 25 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- „Auf den Lehrer kommt es an – Nachhaltige Aufwertung desregierung eingebrachten Entwurfs eines des Schulwesens statt Ökonomisierung“. Wer stimmt für Gesetzes zur Verbesserung des Verbrau- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – cherschutzes im Inkassorecht und zur Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist gegen Änderung weiterer Vorschriften die Stimmen der AfD-Fraktion mit den Stimmen der Drucksache 19/20348 übrigen Fraktionen angenommen. Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung emp- schusses für Recht und Verbraucherschutz fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak- (6. Ausschuss) tion der FDP auf Drucksache 19/20582 mit dem Titel Drucksache 19/24735 „Weniger Bürokratie wagen – DigitalPakt Schule beschleunigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des lung? – Die Koalitionsfraktionen und die AfD. Wer Berichts des Ausschusses für Recht und Ver- stimmt dagegen? – Die FDP und Bündnis 90/Die Grünen. braucherschutz (6. Ausschuss) Wer enthält sich? – Die Fraktion Die Linke. Die Be- (B) – zu dem Antrag der Abgeordneten (D) schlussempfehlung ist angenommen. Katharina Willkomm, Stephan Thomae, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordne- Tagesordnungspunkt 24 c. Abstimmung über die Be- ter und der Fraktion der FDP schlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag Inkassokosten senken, Schuldenfallen der Fraktion der FDP mit dem Titel „PISA-Sofortpro- vermeiden gramm – Reformagenda für eine Bildungsnation“. Der – zu dem Antrag der Abgeordneten Amira Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Mohamed Ali, Dr. André Hahn, Gökay Drucksache 19/20896, den Antrag der Fraktion der FDP Akbulut, weiterer Abgeordneter und der auf Drucksache 19/15767 abzulehnen. Wer stimmt für Fraktion DIE LINKE diese Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen und die AfD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die FDP. Inkassounwesen beenden – Gesetzliche Maximalkosten einführen Wer enthält sich? – Die Fraktionen Die Linke und Bünd- nis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist ange- – zu dem Antrag der Abgeordneten nommen. Dr. Gerhard Schick, Tabea Rößner, Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Tagesordnungspunkt 24 d. Interfraktionell wird Über- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weisung der Vorlage auf Drucksache 19/24450 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Unseriöses und überteuertes Inkasso schätzung vorgeschlagen. Gibt es weitere Überweisungs- eindämmen vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir Drucksachen 19/20345, 19/20547, 19/6009, wie vorgeschlagen. 19/24735 Zusatzpunkt 13. Interfraktionell wird Überweisung der ZP 14 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Vorlage auf Drucksache 19/24635 an die in der Tages- neten Dr. Lothar Maier, Roman Johannes Reusch, ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Thomas Seitz, weiteren Abgeordneten und der Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der Fraktion der AfD eingebrachten Entwurfs eines CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Gesetzbuches – Gesetz zum Schutz von Ver- Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim brauchern vor unverhältnismäßigen Inkasso- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- forderungen schätzung. Drucksache 19/8276 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24751

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- dass die Geschäftsgebühr 10 Prozent niedriger als vorge- (C) ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- sehen ausfällt, also nur noch eine Geschäftsgebühr von schuss) 0,9 abgerechnet werden kann. All das wird dazu führen, Drucksache 19/11238 dass die Inkassogebühren für die Schuldner und Schuldnerinnen geringer ausfallen werden, liebe Kolle- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten ginnen und Kollegen. beschlossen. Wir werden auch die Informationspflichten deutlich Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den erweitern. Oft sind die Schuldner ja geschäftsunerfahren. Fraktionen vorzunehmen. Deshalb sind die Inkassounternehmen zukünftig ver- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege pflichtet, über ihre Auftraggeber genaue Daten anzuge- Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion. ben, etwa den Namen und den Forderungsgrund. Und damit kein Schuldner vorschnell im Wege eines Aner- (Beifall bei der SPD) kenntnisses auf seine Rechte verzichtet, wird zukünftig ein Schuldanerkenntnis nur dann wirksam sein, wenn der Dr. Johannes Fechner (SPD): Schuldner ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! er durch das Anerkenntnis die Möglichkeit verliert, Ein- Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Nach einer Schät- reden und Einwendungen geltend zu machen. zung des ZDF bearbeiten Inkassounternehmen in Es gibt also ganz wichtige Verbesserungen für die Deutschland jährlich 20 Millionen Mahnungen. Es mag Schuldnerinnen und Schuldner. überwiegend berechtigt sein, dass diese Forderungen bestehen, und überwiegend mögen die Inkassobüros In unserem Entschließungsantrag greifen wir zwei auch seriös vorgehen. Aber es gibt eben auch Miss- Missstände auf, nämlich zum einen, dass die Aufsicht brauchsfälle in der Branche, wo die Rechtsunerfahrenheit über die Inkassobüros erheblich zersplittert ist, und zum der Schuldner wirklich ausgenutzt wird. Deswegen anderen, dass immer häufiger gerade beim Onlinehandel machen wir dieses Gesetz. Wir wollen keine Abzocke Identitäten gestohlen werden, also unter falschem Namen der Schuldner, liebe Kolleginnen und Kollegen. Bestellungen aufgegeben werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es ist ein gutes Gesetz. Dank an das Justizministerium der CDU/CSU – [SPD]: Gut für die gute Vorlage und an die Kollegen für die gute so!) Zusammenarbeit. Wir schützen mit diesem Gesetz wirk- lich die Schuldner vor Abzocke durch Inkassounterneh- Wir stoppen mit diesem Gesetz, dass für Schuldner men, liebe Kolleginnen und Kollegen. (B) unnötige Belastungen dadurch entstehen, dass in (D) bestimmten Fällen eine Geschäftsgebühr und eine Eini- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gungsgebühr anfällt, und wir stellen klar, dass ein Gläubi- der CDU/CSU) ger, der ein Inkassobüro und einen Rechtsanwalt beauf- tragt, grundsätzlich nur einmal eine Gebühr verlangen Vizepräsidentin Petra Pau: kann, es sei denn, es tritt die Ausnahme ein, dass der Das Wort hat der Abgeordnete Jens Maier für die AfD- Schuldner die Forderung nach der Beauftragung des Fraktion. Inkassounternehmens bestritten hat. Und wir stellen klar, dass dieses Bestreiten wirklich durch ein aktives (Beifall bei der AfD) Tun erfolgen muss, damit es hier also keine Unklarheiten gibt. Wir wollen die Schuldner vor doppelten Gebühren Jens Maier (AfD): schützen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- ren! Ganz egal, welche gesetzliche Lösung sich jetzt hier Wichtig war uns auch, dass wir bei den üblichen Vor- durchsetzt, eins ist klar: Der Dank für den Schutz von gängen im Inkassogeschäft die Gebühren reduzieren. So Verbrauchern vor Inkassoabzocke gebührt einzig und stellen wir ausdrücklich klar, dass es keine erhöhte Eini- allein der AfD. gungsgebühr mit einem Gebührensatz von 1,5 geben wird, wenn der Hauptanspruch anerkannt wird; bei (Beifall bei der AfD – Lachen und Widerspruch Rechtsanwälten gibt es ja durchaus entsprechende Fälle. bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Hier stellen wir jetzt klar, dass der Gebührensatz von 1,5 Jeder Verbraucher, der künftig im Zahlungsverzug vor nicht anfällt. Das war ein sehr großer Kostenfaktor in der überzogenen Kosten geschützt wird, weiß, dass die Vergangenheit, und deswegen gehen wir hier dagegen gesetzlichen Änderungen auf die Initiative der AfD vor. Und wenn der Anspruch anerkannt wird und eine zurückzuführen sind. Zahlungsvereinbarung getroffen wird, dann kann nur die niedrige Einigungsgebühr mit einem Gebührensatz (Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Ist ja lächer- von 0,7 abgerechnet werden. lich! Stand vorher schon im Koalitionsvertrag!) Weil wir die Anwaltsgebühren zum Jahreswechsel ver- Es war die AfD, die schon im März 2019, also schon vor mutlich beim nächsten Tagesordnungspunkt erhöhen über anderthalb Jahren, auf die Problemstellungen, die werden, wollen wir klarstellen, dass diese Erhöhung der mit dem Inkassobetrieb einhergehen, hingewiesen hat, Gebühren nicht dazu führt, dass die Reduzierung, die wir (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Das haben Sie hier für die Schuldner erreichen wollen, wieder aufge- aber gut verheimlicht! – Weiterer Zuruf der fressen wird. Deswegen haben wir hier auch geregelt, Abg. Mechthild Rawert [SPD) 24752 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Jens Maier (A) was auch konsequent ist, denn das haben wir unseren Inkassothematik vorzulegen. Lediglich drei Anträge kön- (C) Wählern im Wahlprogramm versprochen. nen sie vorweisen. Frau Amira Mohamed Ali, das ist die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, hat im März letzten (Beifall bei der AfD) Jahres hier an diesem Rednerpult großmundig geäußert: Dazu gehörte eine Analyse der Lage in Bezug auf Wir brauchen eine viel größere Lösung. Wir müssen Überfallinkasso, die Geltendmachung zusätzlicher und an das System der Inkassoabzocke ran. Wir Linken unberechtigter Inkassokosten, erstattungspflichtige Dop- sagen: Das Geschäft mit der Not darf sich nicht mehr pelaufträge an Inkassobüros wie an Rechtsanwälte, soge- lohnen. nanntes Konzerninkasso, aber auch das Androhen von unbegründeten Maßnahmen wie unmittelbar bevorste- (Zurufe von der LINKEN: Richtig! – Recht hender Haft für den Schuldner, wenn er die Forderung hatte sie!) nicht begleicht. Heute, nach anderthalb Jahren, kann jeder sehen, was Es war die AfD-Fraktion, die vor anderthalb Jahren das Thema Inkassoabzocke der Linkspartei wert gewesen den ersten Gesetzentwurf zu diesem Thema vorgelegt ist: einen Antrag mit dem Umfang von sage und schreibe hat, durch den mit einem Schlag sämtliche Verbraucher, zweieinhalb Seiten. die Bagatellbeträge schulden, von Inkassokosten freige- (Zuruf der Abg. Amira Mohamed Ali [DIE stellt würden. LINKE]) (Zurufe der Abg. Mechthild Rawert [SPD], Frau Wagenknecht hat recht, wenn sie äußert: Amira Mohamed Ali [DIE LINKE] und [DIE LINKE]) Statt um soziale Ungleichheit, Armutslöhne und niedrige Renten drehen sich linke Debatten heute Die Umsetzung unserer Vorschläge würde dazu führen, oft um Sprachsensibilitäten, Gendersternchen und dass Inkassobüros die Schuldner zunächst durch eine Lifestyle-Fragen. kostenfreie und qualifizierte Mahnung vor weiteren Kos- ten warnen müssten. Unsere Initiative würde die Schuld- ... Von Arbeitern und Arbeitslosen werden linke Par- ner von Inkassokosten vollständig befreien, wenn die teien kaum noch gewählt. zugrundeliegende Hauptforderung entweder 100 Euro (Beifall bei der AfD) bei einer einzelnen Forderung oder 160 Euro bei mehre- ren Forderungen inklusive Umsatzsteuer nicht übersteigt. Im Unterschied dazu können die Bürger in unserem Land an diesem Beispiel sehen: AfD wirkt. Und vor allem: Wir (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Und das geht halten Wort. immer noch nicht!) (B) Besten Dank. (D) Für Schuldner von Bagatellforderungen wären damit in transparenter und verständlicher Weise alle mit Inkasso (Beifall bei der AfD – Widerspruch bei der verbundenen Probleme gelöst. Besser geht es nicht. CDU/CSU und der LINKEN) (Beifall bei der AfD) Vizepräsidentin Petra Pau: Zwar haben die Altparteien wieder einmal mit vorgesc- Das Wort hat der Kollege Sebastian Steineke für die hobenen Gründen unsere Initiative boykottiert. Jedoch ist CDU/CSU-Fraktion. es eine Bestätigung für die Qualität unserer parlamentari- schen Arbeit, wenn die Altparteien und auch die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU) regierung unsere Initiative aufgreifen, (Zurufe von der LINKEN) Sebastian Steineke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch wenn sie das Ganze als eigene Idee und dann noch in Kollege Maier, es wird nicht richtiger, wenn man ständig einer deutlich weichgespülten Variante präsentieren; das was Falsches behauptet. haben wir ja gerade gehört. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der AfD) ordneten der SPD) Immerhin werden nach den Vorstellungen der Bundes- CDU, CSU und SPD haben im Koalitionsvertrag 2018 regierung die Inkassokosten für die Beitreibung von bis vereinbart – ich zitiere wörtlich –, „die Aufsicht über zu 50 Euro nach oben gedeckelt. Das ist zwar nicht aus- die Inkassounternehmen“ zu verstärken „und die Regel- reichend, aber ein Schritt in die richtige Richtung. Auch ungen zum Inkassorecht verbraucherfreundlich“ weiter- § 288 BGB soll leider nur geringfügig angepasst werden. zuentwickeln. Damit wird dem Überfallinkasso anders als bei unserer Lösung kein Riegel vorgeschoben. Insgesamt bleibt die Dazu brauchen wir die AfD nun wirklich nicht. Bundesregierung beim Verbraucherschutz deutlich hinter (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- unserer Vorlage zurück. ordneten der SPD und der LINKEN) Zu guter Letzt komme ich noch auf die Initiativen von Dieses Gesetz ist ein Verbraucherschutzgesetz, und ich FDP, Grünen und Linken zu sprechen, die ja auch auf finde, dass es uns unter allen Gesichtspunkten gut gelun- diesen Zug aufgesprungen sind. Es bleibt festzustellen, gen ist. Kollege Maier, wenn wenigstens der andere Kol- dass keine der genannten Fraktionen imstande oder wil- lege Maier von Ihrer Fraktion da gewesen wäre! Dem lens gewesen wäre, einen eigenen Gesetzentwurf zu der haben wir das hier schon mehrfach erklärt: Die Umset- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24753

Sebastian Steineke (A) zung Ihrer Vorschläge ist rechtlich schlicht nicht mög- wir uns noch mal über die Geschäftsgebühr unterhalten (C) lich. – Verlautbarungen des Bundesverfassungsgerichts und haben es für sachgerecht gehalten, über einen und des Bundesgerichtshofs, der Grundsatz der Totalre- Gebührensatz von 0,9 anstatt 1,0 nachzudenken. paration im Schadensrecht bis hin zur Richtlinie zur (Zuruf der Abg. Katharina Willkomm [FDP]) Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr – alle sagen: Der Gläubiger hat ein Anrecht darauf, dass Das ist übrigens noch mal eine deutliche Absenkung in seine Kosten erstattet werden. – So. Das könnten Sie diesem Bereich. sich doch irgendwann auch mal merken. Vielleicht schaf- Was haben wir am Regierungsentwurf noch geändert? fen wir es dann beim nächsten Mal in der Debatte. Wir haben – das mag was für juristische Feinschmecker sein – den § 288 Absatz 4 BGB noch mal angefasst; der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) steht der Verzugssystematik des BGB komplett fremd Wir haben – offensichtlich im Gegensatz zu Ihnen – gegenüber. Ihn beizubehalten, hätte im Übrigen bedeutet, mit allen Beteiligten Gespräche geführt: Mit dem Inkas- dass zum Beispiel bei deliktischen Forderungen allen soverband, mit den Inkassounternehmen, mit Rechtsan- Ernstes verlangt worden wäre, dass darauf noch mal hätte wälten, mit der Verbraucherzentrale und auch mit einzel- hingewiesen werden müssen usw. Das können wir nicht nen betroffenen Verbraucherinnen und Verbrauchern. allen Ernstes fordern; gerade in diesem Bereich ist das Wie Sie sich vorstellen können, sind da die Wünsche völlig unzumutbar. deutlich unterschiedlich. Einige wollen eigentlich fast (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gar nichts mehr bezahlen, und die Unternehmen möchten natürlich am liebsten, dass alles so bleibt, wie es ist. Das Bei zwei Teilaspekten sind wir tatsächlich noch nicht hat auch die Anhörung relativ deutlich gezeigt. Wir haben zufrieden. Wir haben gefordert, im Bereich des Identitäts- damals schon gesagt: Wenn man von beiden Seiten so diebstahls deutlich mehr zu machen. Da hat uns der Ent- viel wohlwollende Kritik bekommt, kann der Entwurf wurf nicht gefallen, da ist man deutlich zu kurz gesp- gar nicht so schlecht sein. – Aber wir haben uns trotzdem rungen, wie wir feststellen mussten. Das war ein großes noch mal hingesetzt und seit dem September wesentliche Thema. Deswegen haben wir den Entschließungsantrag Änderungen verhandelt. Ich glaube, deswegen können hinzugefügt und mit einer Frist versehen, sodass wir noch wir sagen, dass wir am Ende einen guten Entwurf zusam- in dieser Legislaturperiode Ergebnisse bekommen. Da men hinbekommen haben. müssen wir alle Bereiche durchprüfen: Strafrecht, Gewerberecht, Wettbewerbsrecht. Da sollte nichts unge- Auf eins müssen wir vielleicht noch mal hinweisen: prüft bleiben. Die Entwicklung in diesem Bereich ist Inkasso ist für die Unternehmen ein ganz wesentlicher inakzeptabel; diese wollen wir als Union bekämpfen. (B) Faktor. Wir führen jährlich 5 bis 10 Milliarden Euro (D) durch Inkassodienstleistungen zurück in den Wirtschafts- Das Thema „Zentralisierung der Aufsicht“ ist genannt kreislauf. Das ist wichtig, nicht nur für die großen Unter- worden; das war auch ein großes Thema. Da müssen wir nehmen, sondern gerade für die kleinen Unternehmen, deutlich sagen: Das – also einen Gleichklang mit dem die keine eigene Rechtsabteilung haben. RVG herzustellen – konnten wir in der Kürze der Zeit nicht mehr regeln; denn das fällt in die Zuständigkeit Nichtsdestotrotz – das ist schon von Anfang an unser der Länder. Das muss man auch so deutlich sagen. Der Ziel gewesen – müssen wir die Verbraucherinnen und Bund kann von daher nicht alleine entscheiden, ob und in Verbraucher vor übermäßigen Inkassokosten schützen. welchen Bereichen zentralisiert wird. Aber das wäre ein Deswegen war es uns als Union besonders wichtig, dass wesentlicher Faktor, um einen Gleichklang herzustellen; wir die Kleinstforderungsregelung in diesem Entwurf denn die Unternehmen sind ja nicht nur in einem Bundes- haben. Die stand schon von Anfang drin. Wir schaffen land tätig. endlich diese Unwucht ab, dass im Bereich unter 50 Euro Zusammengefasst: Uns ist durchaus bewusst, dass es die Kosten höher sind als die einzelne Forderung. Das an dem Entwurf von beiden Seiten Kritik gibt – wir haben war uns als Union sehr wichtig. Das haben wir durchge- es gesagt –, und zwar sowohl von der Verbraucherzent- setzt, und das ist ein ganz wesentlicher Faktor. rale, die sagt: „Das ist alles zu viel“, als auch von den Branchenverbänden, die sagen: „Das ist alles zu wenig.“ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen bleibe ich dabei: Wenn wir bei so einem Darüber hinaus – Kollege Fechner hat es gesagt – durchaus umstrittenen Thema von beiden Seiten so viel haben wir die Inkassogebühren noch mal angefasst. Wir wohlwollende Kritik bekommen, ist es aus unserer Sicht haben noch mal nachjustiert, wir haben die unerwünsch- ein sehr guter Entwurf geworden. Ich glaube, Sie können ten Auswüchse, glaube ich, kontrolliert, wir haben den besten Gewissens zustimmen. schwarzen Schafen einen Riegel vorgeschoben und hel- Vielen Dank. fen übrigens der Branche aus unserer Sicht deutlich da- durch, dass wir insgesamt die Transparenz erhöhen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) Klar ist, dass wir hier einen Interessenausgleich zwi- schen Verbraucherinnen und Verbrauchern und den Vizepräsidentin Petra Pau: Unternehmen brauchen. Deswegen haben wir am Ende Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Katharina des Tages gesagt: Da natürlich die Änderung der Rechts- Willkomm das Wort. anwaltsvergütungen – das Thema RVG behandeln wir gleich – zu einem Aufwuchs der Gebühren führt, haben (Beifall bei der FDP) 24754 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

(A) Katharina Willkomm (FDP): (Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Das ist doch (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und gut! Kosten senken für die Verbraucher!) Kollegen! Schulden per se sind weder schlimm noch sel- Wir als FDP wollen den Menschen helfen, damit sie ten. Unser Wirtschaftssystem baut sogar darauf, dass wir raus aus den Schulden kommen. Ihre Reduktion der Eini- Verbindlichkeiten eingehen. Kaum ein Haus würde in gungsgebühr macht das nur schwerer. Ein weiterer diesem Land gebaut werden, wenn die Menschen sich Grund, warum wir Ihrem Gesetz nicht zustimmen kön- nicht trauten, Schulden zu machen. So paradox es klingt: nen. Schulden schaffen Werte. Problematisch ist nur, wenn sie dem Schuldner über den Kopf wachsen. Dem Schuldner Vielen Dank. gegenüber steht der Gläubiger. Der hat buchstäblich (Beifall bei der FDP) schon geliefert, Dienstleistungen erbracht und darauf ver- traut, dass der Schuldner auch bezahlt. Selbstverständlich will er sein Geld haben, und selbstverständlich darf er Vizepräsidentin Petra Pau: sich dafür auch eines Inkassodienstleisters bedienen. Das Wort hat die Kollegin Amira Mohamed Ali für die Das Verhältnis dieser drei hat der Gesetzgeber im Schuld- Fraktion Die Linke. und Verfahrensrecht austariert. Dieses Gleichgewicht (Beifall bei der LINKEN) interessiert die Regierung nicht. Sie beschränken sich darauf, einseitig die Kosten zu drücken. Der Inkasso- dienstleister soll ausbaden, dass Ihnen nichts einfällt, Amira Mohamed Ali (DIE LINKE): um finanzschwache Verbraucher vor neuen Schulden zu Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- bewahren. legen! Wir reden nicht das erste Mal über das Inkassoun- wesen. Das Problem ist seit Jahren bekannt; es wurde (Beifall bei der FDP) nicht beseitigt und wird leider heute auch nicht durch Hätten Sie, ach hätten Sie nur genauer den Antrag Ihren Vorschlag beseitigt, Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion gelesen! von Union und SPD. Dabei nimmt die Dringlichkeit zu. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat mitgeteilt, dass (Heiterkeit bei der CDU/CSU) inzwischen 13 Millionen Menschen in unserem Land Wir wollen die Höhe der Inkassokosten für die kleinen arm sind. Über 4 Millionen davon sind übrigens arm, Forderungen im zweistelligen Bereich stärker ausdiffe- obwohl sie in Vollzeit arbeiten. Ein absoluter Skandal, renzieren. Im Alltag nimmt das Bezahlen mit Kreditkarte, ein völliges Versagen der Bundesregierung! Handy oder sogar der Smartwatch immer mehr zu, genau- (Beifall bei der LINKEN) so wie kleine Impulskäufe im Internet. Forderungen, die (B) (D) nicht sofort in bar beglichen werden, hat man schwer im Wir wissen, dass aufgrund der Coronakrise immer Blick. Daher haben wir schon zu Beginn der Reform eine mehr Menschen in die Armut abrutschen werden. Die neue Niedrigstufe im Kostenrecht gefordert. Der Anwalt Verbraucherzentralen warnen bereits heute, dass eine sollte nicht teurer sein als die Schuld. Das haben Sie Welle an Insolvenzen auf uns zukommt, dass immer übernommen; das begrüßen wir. mehr Menschen in Zahlungsschwierigkeiten geraten wer- den, eben weil Einkommen zum Teil dramatisch einbre- Noch besser wäre es für die Schuldner aber gewesen, chen oder ganz weggefallen sind. Und was machen Sie wenn Sie auch unsere anderen Vorschläge übernommen mit Ihrer Regierungsverantwortung in dieser historischen hätten. Krise? So könnte mit unserer Umkehrung der gesetzlichen (Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Wir senken Tilgungsreihenfolge nicht nur der Schuldner entlastet massiv die Kosten!) werden, der sich über Jahre an immer neuen Zinsen abar- beitet, ohne nennenswert die Hauptforderung zu senken, Sie lassen die Betroffenen allein, auch den unterfinanzierten Schuldnerberatungen wäre (Mechthild Rawert [SPD]: Ein Quatsch!) damit Arbeit abgenommen. und leider zeigt sich hier ein Muster. Ich möchte nur zwei Ebenso hätte unser Vorschlag einer festen Inkassoge- Beispiele nennen: Seit Juli ist es wieder möglich, Miet- bühr von 1,0 Vorteile für alle: Für Verbraucher würde es wohnungen aufgrund von Zahlungsrückständen zu kün- billiger, für die Aufsicht leichter, und kleine Inkassobüros digen. Ebenso ist es wieder möglich, dass Menschen der hätten ein Auskommen, sodass der Markt sich nicht auf Strom in den Wohnungen abgeschaltet wird, wenn sie die wenige große Anbieter konzentriert. Rechnungen nicht bezahlen können: mitten in dieser Kri- Wir schlagen außerdem vor, feste Fristen zwischen se, mitten im Winter! Unglaublich ist das. Rechnung, Mahnung und Inkasso einzuführen. Das ver- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. schafft dem Schuldner mehr Sicherheit, Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) (Beifall bei der FDP) Und genauso, wie Sie sich hier auf die Seite der Immo- und wir unterbinden, dass Post vom Inkasso teilweise vor bilienkonzerne, der Stromkonzerne stellen, anstatt auf die der Ware ankommt. Seite der Bürgerinnen und Bürger, stellen Sie sich beim Ihr Entwurf ist vor allem weiße Salbe, ohne praktische Thema Inkassounwesen nach wie vor pauschal auf die Hilfe. Er soll nur Kosten senken, um das Schuldnerdasein Seite der Inkassounternehmer. Und das ist unverantwort- erträglicher zu machen. lich! Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24755

Amira Mohamed Ali (A) (Beifall bei der LINKEN) durch die Inkassobranche belastet werden, sind immer (C) Denn was unseriöse Inkassounternehmen tun, das hat noch viel zu hoch. Sie sind zum Teil sogar noch ange- nichts mit der Durchsetzung berechtigter Interessen zu stiegen. Damit hat die Bundesregierung die Verbraucher- tun. innen und Verbraucher lange im Regen stehen lassen. Wir brauchen deutlich mehr Einsatz für Verbraucherschutz, ( [FDP]: Doch!) und das auch gerade in Coronazeiten. Diese Unternehmen schlagen ungehemmt Profit aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschen, die oft in tiefer Not sind, denen das Wasser sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wirklich bis zum Hals steht. Dabei ist ihnen oft jedes Mittel recht: Sie schreiben Drohbriefe, machen Telefon- Wir Grüne haben schon im Jahr 2018 Verbesserungen terror – unlautere Geschäftspraktiken sind leider an der vorgeschlagen. Neben einer deutlichen Senkung der Tagesordnung. Die Inkassoaufsicht endlich beim Bund Inkassogebühren fordern wir vor allen Dingen eine stär- anzusiedeln, um so eine einheitliche, effiziente Aufsicht kere Aufsicht; denn die greift kaum. Über zwei Jahre zu gewährleisten, wie wir es seit Jahren fordern, schieben später legt nun die Bundesregierung einen Gesetzentwurf Sie weiter auf. vor. Ein Schutz vor Abzocke ist das wahrlich nicht; das erkennen Sie, wenn Sie der Anhörung richtig gefolgt (Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Ja, dann kön- sind. nen Sie mal in Thüringen überzeugen! Die wol- len nämlich auch nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vor allem dürfen sie noch immer viel zu hohe Inkasso- Ich habe selten erlebt, dass Sachverständige einen Ge- gebühren erheben. Nach Ihren Vorschlägen dürfen sich setzentwurf so zerrissen haben. Statt das Gesetz aber die Inkassogebühren nach wie vor am Rechtsanwaltsver- noch einmal richtig zu überarbeiten, kommen von der gütungsgesetz orientieren, und das ist wirklich absurd. Koalition nur minimale Änderungen, obwohl doch glas- klar ist, welche Verbesserungen nötig sind. Ihre Änderun- (Beifall bei der LINKEN) gen lösen das eigentliche Problem nicht. Als Juristin möchte ich sagen: Inkasso ist keine kompli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zierte Tätigkeit, überhaupt nicht; das sind oft automati- sowie der Abg. Amira Mohamed Ali [DIE sierte Prozesse. Inkassounternehmen leisten keine seriöse LINKE]) Rechtsberatung, und sie sind – übrigens anders als Rechtsanwälte – nicht mal verpflichtet, zu prüfen, ob Ein Grundproblem – das wurde angesprochen – ist die die Forderung, die sie da eintreiben, offensichtlich unbe- Koppelung der Gebühren an die Rechtsanwaltsvergü- gründet ist. tung. Die Senkung des Gebührensatzes von 1 auf 0,9 ist (B) gleich wieder hinfällig, sobald die Gebühren wie geplant (D) Es ist dringend notwendig, die Inkassokosten klar auf angehoben werden. Der Effekt ist also eher minimal und deutlich niedrigerem Niveau zu deckeln. Wir fordern nicht wirklich eine Verbesserung. maximal 5 Euro bei Bagatellforderungen bis 50 Euro und maximal 100 Euro Inkassokosten bei allen anderen (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Ihr Forderungen. stimmt doch gleich zu!) (Beifall bei der LINKEN) Immerhin gibt es die 0,5er-Gebühr, aber nur für bestimm- Außerdem brauchen wir endlich, besonders in diesen te Fälle. Die sollte aber Regel sein und nicht Ausnahme. Zeiten, ein Recht auf kostenfreie Schuldnerberatung für Nach wie vor ist es möglich, bei umfangreichen Fällen alle, damit die Betroffenen in dieser Notlage schnell Hilfe eine 1,3-Gebühr zu verlangen. Ich erinnere noch einmal, bekommen. worauf die Sachverständigen in der Anhörung verwiesen Danke schön. haben: Beim Geschäftsfeld der Inkassounternehmen han- delt es sich überwiegend um automatisierte Masseninkas- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. soschreiben. Verbraucherinnen und Verbraucher werden Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- also auch zukünftig im wahrsten Sinne des Wortes über NEN]) Gebühr belastet. Wir Grüne fordern daher eine deutliche Senkung, insbesondere bei Standardschreiben, damit die Vizepräsidentin Petra Pau: Verbraucherinnen und Verbraucher auch wirklich entlas- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Tabea tet werden. Rößner das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Darüber hinaus braucht es eine zentrale und gestärkte Aufsicht. Auch davon steht nichts im Gesetzentwurf. Die Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aufsicht bleibt zersplittert und ineffektiv. Der Verbrau- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem cherschutz läuft weiter ins Leere. Gesetz gegen unseriöse Geschäftspraktiken aus dem (Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Auch die Jahr 2013 wollte die damalige Bundesregierung den Ver- grünen Länder wollen das nicht!) braucherschutz beim Inkasso verbessern. 2018 kam der Evaluationsbericht. Er hat deutlich gezeigt: Dieses Ge- Das Inkassowesen bräuchte eigentlich eine umfassen- setz hat dieses Kernanliegen ganz klar verfehlt; denn de Modernisierung. Das wurde in der Anhörung ganz die Kosten, mit denen Schuldnerinnen und Schuldner klar. Schade, dass Sie dem Appell der Sachverständigen 24756 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Tabea Rößner (A) nicht folgen. Sie haben immer mal wieder an kleinen (Zuruf der Abg. Amira Mohamed Ali [DIE (C) Stellen etwas herumgedoktert. Gestärkt hat es den Ver- LINKE]) braucherschutz wahrlich nicht. Diese Forderungen bestehen, unabhängig davon, ob es Vielen Dank. Inkasso gibt oder nicht. Das Problem für finanzielle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schwierigkeiten geht aber viel tiefer. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Auch das können Sie verhindern!) Vizepräsidentin Petra Pau: Und das müssen wir auch in diesem Hause angehen, aber Das Wort hat Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD- bitte nicht mit dem Gesetz zur Verbesserung des Verbrau- Fraktion. cherschutzes im Inkassorecht. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Jan- Marco Luczak [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich glaube, meine Kolleginnen und Kollegen, dass wir Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): einen sehr guten Weg gegangen sind, indem wir zum Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kol- einen die bisher sehr unterschiedliche kostenrechtliche leginnen und Kollegen! Wenn man als siebter Redner zu Behandlung von Inkassodienstleistern und Rechtsanwäl- einem – in Anführungszeichen – sehr trockenen Thema tinnen und Rechtsanwälten aufgehoben haben. Übrigens wie den Inkassokosten an die Reihe kommt, könnte man sehen das die Inkassodienstleister nicht so – das ist ein denken, man müsste beginnen wie Karl Valentin: Es ist Plus auf deren Seite. Wir haben zum anderen die Erst- schon alles gesagt, nur noch nicht von mir. – Aber ich attungsfähigkeit bei Doppelbeauftragung ganz klar gere- will, nachdem ich versucht habe, die vorherigen Redne- gelt. Sie darf nicht mehr stattfinden, von ganz wenigen rinnen und Redner zu verstehen, doch auf einige dieser Einzelfällen ausgenommen, die dann begründbar sind, Argumente eingehen. weil entsprechende Einwendungen erst nach dem Inkas- soverfahren erfolgten. Ich glaube, dass mit dem Gesetz zur Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht und zur Änderung Wir sind hinsichtlich der Eignung und Zuverlässigkeit weiterer Vorschriften heute ein Gesetzentwurf in zweiter der Inkassodienstleister mit dem Entschließungsantrag und dritter Lesung zum Abschluss kommt, der gerade einen guten Weg gegangen. Und den müssen wir gemein- deshalb, weil er, wie die Kollegin Rößner sagte, von allen sam mit unseren Ländern gehen. Hier darf ich ganz deut- möglichen Seiten so zerrissen wurde, ein ganz guter Ge- lich sagen, auch an Sie gerichtet, Frau Kollegin Rößner: (B) setzentwurf ist. Da brauchen wir die Länder, in denen die Grünen Verant- (D) Denn: Wie war die Ausgangslage? Die Ausgangslage wortung tragen, da brauchen wir die Länder, in denen die Gelben Verantwortung tragen, und da brauchen wir die war doch so, dass aus bestimmen Teilen dieses Hauses und aus bestimmten Teilen der Gesellschaft eigentlich ein Länder, in denen die Koalitionsfraktionen die Verantwor- Ende der Inkassodienstleistungen für Rechtsanwältinnen tung tragen, um gemeinsam eine vernünftige Lösung auf den Weg zu bringen. und Rechtsanwälte oder Inkassounternehmen vorgesehen war, eigentlich eine Zerschlagung oder Beendigung eines Und: Wir haben verbraucherschutzrechtlich geregelt, Geschäftsmodells oder eine Zerschlagung eines Rechts- dass die Verbraucherinnen und Verbraucher gut infor- grundsatzes. Das ging so weit, dass aus diesem Hause miert werden, wenn Inkassodienstleistungen bei ihnen Vorschläge unterbreitet wurden, hier rechts zu meiner eingeholt werden. Wir haben für die Opfer von Identitäts- Seite, die zum Gegenstand hatten, dass Forderungen bis diebstahl mit dem entsprechenden Entschließungsantrag 100 Euro überhaupt nicht mehr bezahlt werden müssen, einen guten, so ich glaube, richtungsweisenden Weg was zur Folge hätte, dass – so würde ich als im Wirt- gefunden; denn es wäre falsch gewesen, im Inkassorecht schaftsleben Tätiger es zumindest verstehen – nur noch selbst strafrechtliche Vorschriften mit zu ändern. Forderungen ab einer Höhe von 101 Euro in Anspruch zu nehmen wären. Das heißt, die Brezel würde dann Wir werden von allen Seiten gescholten. Aber mit dem 101 Euro kosten, weil ich eine Forderung von 100 Euro Kostenrechtsänderungsgesetz im nächsten Tagesord- nicht mehr durchsetzen kann. nungspunkt werden wir die Kosten anpassen und dafür sorgen, dass alle in der Branche mit dem Gebührensatz Diese beiden sehr, sehr weit gespannten Forderungen von 0,9 leben können. Denn, wenn Sie rechnen können, waren es, die uns und die Sachverständigen in diesem wissen Sie: 0,9 plus eine Erhöhung um 10 Prozent ergibt Gesetzesvorhaben beschäftigt haben. Bereits im Koali- die 1,0. Das ist eine ganz einfache Formel des Dreisatzes, tionsvertrag hatten wir festgelegt, Verbraucherrechte zu also können Sie damit leben. stärken und Inkassokosten zu senken. Auch das wurde in den Mittelpunkt gestellt. Ich danke recht herzlich für die Aufmerksamkeit – Frau Präsidentin, ich habe Ihr Zeichen vernommen –, Ich glaube, dass das, was viele Menschen in diesem wünsche den Beratungen weiterhin viel Erfolg und bitte Lande betrifft – dass sie in der Coronakrise keine Miete um Zustimmung zu diesem sehr guten Gesetzentwurf. Ich bezahlen können, dass ihnen der Strom abgestellt wird, bedanke mich bei der Union für die gute Zusammenarbeit dass ihnen das Wasser abgestellt wird –, mit Verlaub und bei der Ministerin für die hervorragende Vorlage. gesagt, liebe Kollegin Mohamed Ali, nichts mit dem Inkasso zu tun hat. Danke schön. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24757

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Ja, aber (C) der CDU/CSU) das sind doch mehr als Rechtsverfolgungskos- ten!) Vizepräsident in Petra Pau: Vielmehr geht es darum, dass eine Leistung erbracht wor- Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU- den ist, die man auch bezahlen muss. Wir begrenzen doch Fraktion. die Rechtsverfolgungskosten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Aber nicht genug!) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Die Rechtsverfolgungskosten so abzusenken, dass eine Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Rechtsverfolgung nicht mehr möglich ist, würde letztlich Herren! Wir beraten und beschließen heute Verbesserun- dazu führen, dass das System von Leistung und Gegen- gen für Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich einer leistung völlig aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Forderung ausgesetzt sehen. Wir verbessern den Verbrau- Das wäre weder unserer Volkswirtschaft noch unserer cherschutz im Inkassorecht. Aber klar ist – und ich will es Rechtsordnung angemessen. noch einmal einordnen –: Wer etwas kauft oder etwas (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. bestellt, der muss es bezahlen. Das ist nicht nur ein Katharina Willkomm [FDP] – Amira Grundsatz im bürgerlichen Recht, sondern das gebietet Mohamed Ali [DIE LINKE]: Das fordert auch der Anstand. doch auch niemand! Das ist doch Quatsch!) Forderungsausfall ist übrigens keine Lappalie in unse- Ich will abschließend auf zwei wichtige Aspekte aus rer Volkswirtschaft. Er betrifft vor allen Dingen kleine unserem Entschließungsantrag hinweisen. Zum einen und mittelständische Unternehmen oder auch Gläubiger, wollen wir das Problem des Identitätsdiebstahls stärker die ihrem Geld hinterherlaufen müssen. Der Betrag, der angehen, also wenn jemand einfach etwas auf einen frem- durch die Liquidität in die Volkswirtschaft zurückgespült den Namen bestellt und die Verbraucher und Verbrau- wird, erreicht nach Schätzungen 5 bis 10 Milliarden cherinnen, deren Identität verwendet wurde, plötzlich Euro – Geld, das auch Arbeitsplätze sichert und Existen- die Rechtsverfolgungskosten zu tragen haben. Hier müs- zen erhält. Klar ist aber auch, dass die Beitreibung von sen die Inkassounternehmen stärker in die Pflicht genom- Forderungen zwar ein legitimes Ziel ist, aber es klarer men werden, zu prüfen: Handelt es sich wirklich um die und fairer Regeln, sozusagen Spielregeln, bedarf, die Person, die hier angegeben ist? die Kleinen und die Schwachen nicht überfordern. Diese (B) Spielregeln verbessern wir heute zugunsten der Verbrau- Zum anderen müssen vor dem Hintergrund unseriöser (D) cherinnen und Verbraucher. Geschäftspraktiken einige schwarze Schafe – nicht alle sind schwarze Schafe – unter Kuratel der Aufsicht (Beifall bei der CDU/CSU) gestellt werden. Wir brauchen im Inkassobereich eine Wir wollen zukünftig gesichert sehen, dass Geschäfts- Verstärkung und Verschärfung der Aufsicht, gerne auch praktiken, aber auch die Gebühren nachvollziehbar und bundeseinheitlich zentral beim Bundesamt für Justiz. Das angemessen sind. Es ist ein langjähriges Ärgernis, dass fordern wir in unserem Entschließungsantrag. gerade bei kleinen Forderungen oftmals die Rechtsver- Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf und dem Entschlie- folgungskosten höher sind als der Betrag der Hauptfor- ßungsantrag zuzustimmen. derung selbst. Gerade bei kleineren Forderungen bis 50 Euro ist es nach bisheriger Rechtslage so, dass bereits Herzlichen Dank. auf ein erstes Mahnschreiben hin Kosten in Höhe von (Beifall bei der CDU/CSU) über 58,50 Euro plus Auslagenpauschale fällig werden. Das ist nicht richtig. Das kann nicht verhältnismäßig sein. Deswegen führen wir eine neue gesonderte Wertstufe in Vizepräsidentin Petra Pau: Höhe von 30 Euro ein. Damit machen wir deutlich: Eine Ich schließe die Aussprache. Forderung muss zwar bezahlt werden, es darf aber keine Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Überforderung stattfinden. Ich glaube, das ist ein guter desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesse- und angemessener Kompromiss, ebenso wie die Absen- rung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht und zur kung des Gebührensatzes auf 0,9. Dieser Kompromiss Änderung weiterer Vorschriften. Der Ausschuss für macht deutlich: Rechtsverfolgung muss etwas kosten, Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a aber sie darf die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24735, überfordern. den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 19/20348 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Ich glaube, dass wir bei diesem Kompromiss bleiben sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind sollten. Frau Kollegin, es ist nicht angemessen, sozial- die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Die politische Erwägungen in diesem Gesetzentwurf zu dis- AfD-Fraktion, die FDP-Fraktion, Die Linke und Bünd- kutieren; denn die Frage, ob jemand etwas bezahlen kann nis 90/Die Grünen. Enthält sich jemand? – Das ist nicht oder nicht, spielt bei den Rechtsverfolgungskosten der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung zunächst keine Rolle. angenommen. 24758 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Dritte Beratung Zusatzpunkt 14. Abstimmung über den Gesetzentwurf (C) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem der Fraktion der AfD zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gesetzbuches – Gesetz zum Schutz von Verbrauchern Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- vor unverhältnismäßigen Inkassoforderungen. Der Aus- entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in sei- gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/11238, den men. Gesetzentwurf der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/8276 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Tagesordnungspunkt 25 b. Wir setzen die Abstimmun- setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – gen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 19/24735 entwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen fort. der AfD-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Geschäftsordnung die weitere Beratung. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FDP Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 c auf: auf Drucksache 19/20345 mit dem Titel „Inkassokosten a) – Zweite und dritte Beratung des von der senken, Schuldenfallen vermeiden“. Wer stimmt für diese Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer eines Gesetzes zur Änderung des Justiz- enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die kosten- und des Rechtsanwaltsvergü- Stimmen der FDP-Fraktion bei Zustimmung aller ande- tungsrechts (Kostenrechtsänderungs- ren Fraktionen angenommen. gesetz 2021 – KostRÄG 2021) Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 25 b. Des Drucksachen 19/23484, 19/24229, Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c sei- 19/24535 Nr. 8 ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/20547 mit dem Beschlussempfehlung und Bericht des Titel „Inkassounwesen beenden – Gesetzliche Maximal- Ausschusses für Recht und Verbraucher- kosten einführen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- schutz (6. Ausschuss) fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Drucksache 19/24740 Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der Koalitionsfrak- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- tionen, der AfD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Drucksache 19/24741 (B) (D) Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ableh- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Berichts des Ausschusses für Recht und Ver- auf Drucksache 19/6009 mit dem Titel „Unseriöses und braucherschutz (6. Ausschuss) zu dem An- überteuertes Inkasso eindämmen“. Wer stimmt für diese trag der Abgeordneten Katja Keul, Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen, die Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, AfD-Fraktion und die FDP-Fraktion. Wer stimmt dage- weiterer Abgeordneter und der Fraktion gen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sich? – Die Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfeh- Aktive Nutzungspflicht des besonderen lung ist angenommen. elektronischen Anwaltspostfaches weiter Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e zurückstellen seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24735, Drucksachen 19/23153, 19/24740 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen. Wer c) Beratung der Beschlussempfehlung und des stimmt dagegen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Berichts des Ausschusses für Recht und Ver- Wer enthält sich? – Die FDP-Fraktion und die AfD-Frak- braucherschutz (6. Ausschuss) zu dem An- tion. – Wie hat sich jetzt bitte Die Linke verhalten? trag der Abgeordneten Katja Keul, Luise Amtsberg, Canan Bayram, weiterer Abge- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Zugestimmt!) ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ – Aha. – Also dann stellen wir das noch einmal fest: DIE GRÜNEN Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen und die Frak- Anwaltliches Berufsrecht zukunftsfest tion Die Linke; die AfD-Fraktion und die FDP-Fraktion machen haben sich enthalten, und die Grünen haben dagegenge- stimmt. – Beim nächsten Mal bitte ich die Fraktion Die Drucksachen 19/16884, 19/22807 Buchsta- Linke, gleich mitabzustimmen. be b (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ich habe mich Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein gemeldet!) Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. – Ja, aber bitte nicht nur stellvertretend die Parlamenta- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten rische Geschäftsführerin. Dann ist es ein bisschen beschlossen. schwierig, das Abstimmungsverhalten festzustellen. Ich Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin bitte also die Fraktion Die Linke, hier mitzutun. Esther Dilcher für die SPD-Fraktion. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24759

Vizepräsidentin Petra Pau (A) (Beifall bei der SPD) überlegt haben: Wir warten vielleicht noch mit einer (C) Beratung, bis das alles vorbei ist. – Die Fixkosten der Esther Dilcher (SPD): Anwälte laufen jedoch weiter: Miete für Räume und Guten Morgen – – Geräte, Personalkosten, Nebenkosten, Beiträge für die Versorgungswerke, Haftpflichtversicherung, Steuern (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU etc. Die Tariflöhne hingegen sind seit 2013 um 19 Prozent und der FDP – Friedrich Straetmanns [DIE gestiegen. Damit zeigt sich deutlich, dass das keine wirk- LINKE]: Guten Morgen?) lich angemessene Anpassung ist. Deshalb war es uns – Ich war heute im Haushaltsausschuss und habe bis etwa umso wichtiger, diese Erhöhung jetzt nicht weiter zu ver- halb fünf Uhr morgens in der Bereinigungssitzung geses- zögern und sie zum 1. Januar auf den Weg zu bringen. sen. Deswegen sehen Sie mir diese Begrüßung nach, Ent- Ich will jetzt auch keine gebührenrechtliche Vorlesung schuldigung. halten, sondern einfach mal das Ganze für diejenigen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- erläutern, die das als trockenes Thema empfinden: Wie nen und Kollegen Abgeordnete! Sehr geehrte Kollegin- kommt denn so eine Rechtsanwaltsvergütung überhaupt nen und Kollegen aus der Anwaltschaft! 1994, 2013, zustande? Der Mandant kommt zu mir. Dann frage ich 2020: Das sind die Jahre, in denen die Anwaltsvergütung ihn in der Regel – manchmal wird er vorher schon wie an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst wurde bzw. beim Arzt von meinen Mitarbeitern oder meinen Mitar- zum 1. Januar 2021 angepasst wird. Wir haben eben beiterinnen gefragt –: Sind Sie Selbstzahler? Oder haben schon gehört: Unsere Gesetze aus dem Bereich Justiz Sie eventuell einen Anspruch auf Beratungshilfe oder und Verbraucherschutz sind oft sehr trocken. Das kann Verfahrenskostenhilfe? ich Ihnen möglicherweise an dieser Stelle auch nicht Die Rechtsanwaltsvergütung geht davon aus, dass wir ersparen. Ich werde versuchen, das Ganze nachher ein eine Mischkalkulation haben. Eine Beratung in Familien- bisschen aufzulockern. sachen kann sich teilweise außergerichtlich über ein, Der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsan- zwei Jahre hinziehen, ohne dass wir irgendwann mal waltskammer versuchen seit Jahren, in diesem Bereich ein gerichtliches Verfahren einleiten. Dann kriegen wir eine sogenannte dynamische Anpassung zu erreichen, für eine solche Beratung, bei der die Akten, bei mir jeden- die dann ständig neue Verhandlungen über die Rechts- falls, relativ dick werden, knapp über 100 Euro; viel mehr anwaltsvergütung zum Teil ersetzen oder zumindest gibt es da nicht. Dazu sind wir verpflichtet, weil man erleichtern würde. hatte beim Parlamentari- davon ausgeht, dass wir in anderen Fällen eben auch für schen Abend der BRAK im Januar 2018 bereits für diese relativ wenig Aufwand eine viel höhere Vergütung erhal- ten können. (B) Legislatur in Aussicht gestellt, dass eine Anpassung der (D) Rechtsanwaltsvergütung erfolgen solle, und hat das auch Das liegt daran, dass wir sogenannte Gebührentabellen auf den Weg gebracht. Allerdings haben sich die Ver- haben. Wir gucken uns den Streitwert an. Das heißt, wir handlungen mit den Ländern als eine sehr zähe Angele- schauen: Wie viel ist eine Sache wert, nach der abgerech- genheit entpuppt. Es bedurfte sicherlich nicht des Antra- net werden kann? Wenn ich eine Forderung geltend ges einiger Fraktionen, um das ins Laufen zu bringen, mache, zum Beispiel 5 000 Euro, die ich irgendwo ein- sondern das lief wirklich im Hintergrund. Aber wir wer- klage, dann ist der Gegenstandswert 5 000 Euro. Dann den dazu sicherlich nachher noch was Gegenteiliges gucke ich in die Tabelle, um zu sehen: Was bekomme hören. ich dafür an Gebühren? Die Länder müssen beteiligt werden, da sie einen Es gibt aber nicht überall diese Streitwerte. Ich nehme Großteil der Kosten tragen. Sie fragen sich jetzt viel- wieder das Familienrecht: Wie will ich das Sorgerecht in leicht: Wieso tragen die Länder die Kosten für die Ver- Kindschaftssachen bewerten? Was hat das für einen gütung eines Rechtsanwalts? Auf diese Frage komme ich Wert? Ein anderes Stichwort ist hier das Umgangsrecht. später zurück und werde auch eine Antwort geben. Also hat der Gesetzgeber gesagt: Das müssen wir irgend- Zum 1. Januar 2021 wird diese Rechtsanwaltsvergü- wie bewerten. – Dafür hatte er mal 3 000 Euro angenom- tung erst mal um 10 Prozent angehoben. Im Gesetzent- men; das war in meinen Augen auch etwas zu wenig. Wir wurf – das kann man nachgucken – stehen viele einzelne werden diesen Betrag jetzt auf 4 000 Euro erhöhen. Im Gebührentatbestände, zum Beispiel dass die Angabe Ausschuss haben wir trefflich darüber diskutiert, ob wir „90 Euro“ durch „99 Euro“ ersetzt wird usw., dass also das nicht auf 5 000 Euro hätten erhöhen können wie beim die einzelnen Gebühren angehoben werden. Das könnte Regelstreitwert. – Frau Keul nickt schon. Ich glaube, wir man sich durch eine Dynamisierung natürlich ersparen, als Kolleginnen sind uns da sehr einig. – Aber mit diesen aber so weit sind wir noch nicht. 4 000 Euro können wir auch schon ganz gut leben, weil das wenigstens eine Anpassung ist. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider!) Auch für die Länder ist diese Anpassung wichtig. Denn: Wenn ein Mandant selber nicht zahlen kann, Im sozialrechtlichen Bereich werden die Gebühren um dann kann Beratungshilfe oder Prozesskostenhilfe bean- 20 Prozent angehoben. Das bleibt weit hinter den Erwar- tragt werden; das ist Sache der Länder. Die Länder müs- tungen der Anwaltschaft zurück. sen die Kosten tragen, wenn ein Mandant sich selbst Die Anwälte sind von Corona auch nicht verschont einen Prozess nicht leisten und die Kosten für sein Ver- worden und hatten Umsatzeinbrüche zu verzeichnen, da fahren nicht selbst übernehmen kann. Das sind nicht einige Mandanten doch nicht so klagewütig waren oder gerade geringe Kosten. Das sind große Millionenbeträge, 24760 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Esther Dilcher (A) die die Länder hierfür aufwenden müssen. Deswegen AfD wirkt: Was lange währt, wird endlich gut. Dazu im (C) haben sie auch ein Interesse daran, da immer ein bisschen Einzelnen: Seit dem Jahr 2013, also inzwischen seit über zu bremsen, um nicht zu viel Geld ausgeben zu müssen. sieben Jahren, gab es für Rechtsanwälte keine Gebühren- anpassung, weder strukturell noch linear – und das Ganze Die gesetzlichen Gebühren, um noch einmal darauf trotz erheblich gestiegener Kosten. hinzuweisen, richten sich nicht nach dem Aufwand. Wenn mich eine Sache sehr, sehr viele Stunden beschäf- Es geht bei der Gebührenanpassung, die wir heute vor- tigt, meine Kosten dafür aber nicht abgedeckt werden, nehmen, nicht um die Spitzenverdiener, die 400, 500 oder habe ich in diesem Fall noch die Möglichkeit, eine Ver- mehr Euro die Stunde abrechnen können, sondern es geht gütungsvereinbarung mit dem Mandanten zu treffen. Ich um die Anwälte in der Fläche, um die Anwälte, die für komme aus dem ländlichen Raum. Ich muss sagen: Bei alle Bürger den Zugang zum Recht sicherstellen; Anwälte mir gibt es in 80 Prozent der Fälle Verfahrenskostenhilfe. also, die durch ihre Arbeit auch den ländlichen Raum Da werde ich keinen Mandanten dazu bringen können, stärken; Anwälte – wir haben es gerade in der Corona- mit mir eine Honorarvereinbarung zu schließen, nach der krise erlebt –, die dafür da sind, den Rechtsstaat in Zeiten ich meinen Aufwand nach einem Stundensatz abrechnen durchzusetzen, in denen der Rechtsstaat von den Altpar- kann, also 150 oder 250 Euro die Stunde, je nachdem, teien weitestgehend aufgegeben wurde. Sehr viele was die Anwälte für angemessen halten. In großen Städ- Anwälte haben gekämpft und Dutzende von Urteilen ten muss man manchmal mehr bezahlen als bei uns auf gegen den Coronabekämpfungswahnsinn erstritten. dem flachen Land, wie ich jetzt wieder erfahren habe. Aber bei uns finde ich erst gar keinen oder nur wenige Meine Damen und Herren, was tun die Blockparteien Mandanten, die mit mir eine Vergütungsvereinbarung für die Anwälte? Sie tun gar nichts, jedenfalls so lange schließen würden, schon gar nicht in Kindschaftssachen. gar nichts, wie die AfD nichts getan hat. Zur Historie: Nach langer Vorarbeit hatten Deutscher Anwaltverein Jetzt können Sie vielleicht verstehen, warum Anwälte und Bundesrechtsanwaltskammer im März 2018 einen im Allgemeinen nicht die Großverdiener sind und wes- Forderungskatalog vorgelegt, der im April 2018 der Bun- halb dieses heute vorliegende Gesetz so wichtig ist, um desjustizministerin übergeben wurde. Danach passierte unseren Rechtsstaat zu stärken und die Anwälte als Orga- nichts. Es gab ein unambitioniertes Schreiben des Bun- ne der Rechtspflege in ihrer Tätigkeit entsprechend zu desjustizministeriums an die Länder. Daraufhin passierte honorieren. erst einmal nichts, und zwar so lange nichts, bis die AfD Der SPD-Fraktion wäre es auch ein Anliegen, diese im Januar 2019 das Thema aufgegriffen hat und erstmalig Anpassung der Anwaltsgebühren zu dynamisieren. Diese parlamentarisch in den Raum gestellt hat, nämlich in den Auffassung teilen viele Kolleginnen und Kollegen hier Rechtsausschuss und danach auch in das Plenum. (B) im Bundestag, nicht aber die Länder. Wir hoffen daher, (D) dass die nächste Gebührenanpassung nicht wieder so (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Das könne Sie lange ausverhandelt werden muss. nicht beurteilen! Sie sind so selten im Rechts- ausschuss!) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Erst dann nahm die Sache Fahrt auf. Eine Handvoll (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stellungnahmen trudelte ein. Insbesondere die grünen der CDU/CSU und der Abg. Katja Keul Justizminister hielten sich sehr zurück, die wahrschein- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) lich keine Ahnung davon haben; denn wie wir alle inzwi- schen wissen, disqualifiziert es einen grünen Justizminis- Vizepräsidentin Petra Pau: ter geradezu, Jurist zu sein. Wir schauen nach Thüringen; Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Brandner für da haben wir einen Ofenbauer. Wir schauen nach Sach- die AfD-Fraktion. sen; da haben wir eine verkappte Linksextremistin. In Hamburg ist es auch nicht viel besser. Die Justizministe- (Beifall bei der AfD) rien der Länder entpuppen sich so langsam zum Abkling- becken für gescheiterte Linksextremisten bei den Grünen. Stephan Brandner (AfD): Egal! Meine Damen und Herren! Werte Frau Präsidentin! (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Die deutsche Sprache ist voller Sprüche und Kurzfor- Mechthild Rawert [SPD]) meln: „Auf einen Weisen kommen tausend Narren“, habe ich gelesen. Im Bundestag sind es eher nur 620. Nun liegt nach etwa zwei Jahren der Gesetzentwurf der Es gibt einen Spruch, der mir sehr gut gefällt: Rechts Bundesregierung vor. Er ist nicht perfekt, aber er bietet vor links! Es gibt den Spruch: Was lange währt, wird Anlass zur Hoffnung: 10 Prozent lineare Steigerung, eini- endlich gut. Und es gibt den Spruch: AfD wirkt! ge strukturelle Verbesserungen für die Anwaltschaft. Noch besser, liebe Blockparteien, hätten Sie es machen (Beifall des Abg. [AfD]) können, wenn Sie unserem Änderungsantrag gefolgt Je länger man die Debatten hier verfolgt, auch und vor wären, der interessanterweise gestützt wird von DAV allem im Rechtsbereich, desto eher merkt man: AfD und BRAK. Ich habe selten eine solche Zustimmung in wirkt. Der Kollege Maier hatte schon darauf hingewie- der Anhörung im Rechtsausschuss erlebt. BRAK und sen, wie die AfD im Inkassorecht wirkt. Ich werde Ihnen DAV unterstützen die Brandner’schen Ideen. Das war jetzt darlegen, wie die AfD im Bereich der Rechtsan- für mich so ein kleiner innerer Bundesparteitag, der sich waltsvergütung wirkt. da abgespielt hat. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24761

Stephan Brandner (A) (Esther Dilcher [SPD]: Nur, dass der Forde- (Stephan Brandner [AfD]: Abgesetzt!) (C) rungskatalog schon vorlag!) waren wir ganz auf der Linie des Deutschen Anwaltver- Wenn Sie also heute unseren Änderungsantrag ablehnen, eins, der genau das gefordert hatte, weil er der Meinung wie Sie es in den Ausschüssen getan haben, stimmen Sie war, dass Sie der Würde dieses Amtes nicht gerecht wer- gegen DAV und BRAK. den. Genauso haben wir es dann gemacht. Dass Sie sich Aber auch die Grünen tragen noch ein bisschen zur jetzt hierhinstellen als Anwalt der Anwälte, ist wirklich Perfektion bei. Deshalb möchte ich um Unterstützung hochnotpeinlich, meine Damen und Herren. für den Antrag der Grünen werben. Der Justizabschlag (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP ist nicht mehr hinnehmbar. Sachverständige und Dolmet- und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des scher sollten angemessen bezahlt werden, auch wenn die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Grünen hier mit gespaltener Zunge reden: In den Ländern Abg. Stephan Brandner [AfD]) sind sie dagegen, im Bundestag sind sie dafür. Gleich- wohl ist der Antrag nicht verkehrt. Er sollte unterstützt Was wir heute machen, ist ganz wichtig. Wir alle werden genauso wie der Antrag der Grünen, die Ver- sagen: Ein starker Rechtsstaat braucht eine starke pflichtung zur Nutzung des Anwaltspostfaches auszuset- Anwaltschaft; denn die Rechtsanwälte sind diejenigen, zen. Auch da folgen die Grünen unserem Ansatz. Wir die den Zugang zum Recht garantieren. Der Zugang hatten bereits im Oktober letzten Jahres beantragt, den zum Recht, meine Damen und Herren, ist vor allen Din- Nutzungszwang aufzuheben. Die Grünen sind auch hier gen für das Funktionieren und – viel wichtiger noch – für endlich auf dem rechten Weg. Deshalb können wir die- die Akzeptanz des Rechtsstaates unabdingbare Voraus- sem Antrag auch zustimmen. setzung. Deswegen ist der Zugang zum Recht sogar in unserer Verfassung garantiert. Meine Damen und Herren, es gibt das Sprichwort: „Wir immer recht hat, um den wird es sehr einsam.“ So Es ist wichtig, dass wir nun das vorliegende Kosten- ist es leider um die AfD hier im Bundestag bestellt. rechtsänderungsgesetz – längst überfällig – auf den Weg Gleichwohl sehen Sie auch an diesem Beispiel: AfD bringen und die Gebühren der Rechtsanwälte erhöhen; wirkt, AfD wirkt für Deutschland, – denn – auch das ist eine Binsenwahrheit – Anwälte kön- nen nicht alleine von hehren Zielen und honorigen Wor- ten, wie wir sie hier im Bundestag verwenden, leben. Sie Vizepräsidentin Petra Pau: können nicht von Luft und Liebe allein leben, sondern sie Herr Brandner, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen. müssen natürlich auch wirtschaften. Sie müssen sich und ihre Familien ernähren und auch ihren Kanzleibetrieb (B) Stephan Brandner (AfD): aufrechterhalten. Wenn man sich einmal anschaut, was (D) – AfD wirkt für die Bürger, AfD wirkt für Freiheit, in den letzten Jahren so passiert ist, stellt man ganz Grundrechte und Demokratie. schnell fest: Die Gehälter der Mitarbeiter sind gestiegen. Vielen Dank. Der Strompreis ist gestiegen. Kosten für Versicherungen und Software sind gestiegen. Natürlich sind auch die (Beifall bei der AfD) Kosten für die Räume der Kanzleien gestiegen. Deswe- gen ist es jetzt, nach über sieben Jahren, Zeit für eine Vizepräsidentin Petra Pau: Anhebung der Gebühren. Wir wollen auch zukünftig Könnten Sie bitte den Mundschutz aufziehen, Herr eine fundierte und qualitativ hochstehende Rechtsbera- Brandner! – Das Wort hat Dr. Jan-Marco Luczak für die tung garantieren. Auch das spiegelt sich in den Gebühren CDU/CSU-Fraktion. wider. Wie gesagt, die letzte Erhöhung ist sieben Jahre her. Es ist jetzt wirklich Zeit, dass das passiert. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will an dieser Stelle auch sagen – Kollegin Dilcher hat das schon angesprochen –: Wir müssen darauf achten, Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): dass die nächste Gebührenerhöhung nicht erst wieder in Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen sieben Jahren erfolgt. Es darf sich nicht wieder aufstauen. und Kollegen! Sehr geehrter Herr Brandner, dass Sie Wir haben zwar keine gesetzliche Dynamisierung vorge- sich jetzt hier als Anwalt der Anwälte aufspielen, nommen. Aber für uns ist ganz klar, dass wir regelmäßige (Stephan Brandner [AfD]: Ist richtig!) Anpassungen in der Zukunft wollen. Das ist die Aufgabe, die wir alle miteinander haben. ist wirklich hochnotpeinlich. Mir ist wichtig, noch einen anderen Punkt zu betonen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Wir heben die Rechtsanwaltsgebühren nicht alleine für der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE die Anwälte in den großen Städten, in den Ballungsge- GRÜNEN) bieten an. Die dort tätigen Anwälte haben häufig Manda- Jeder, der sich ein bisschen in der Szene auskennt und mit te, die von der Struktur und der Höhe der Streitwerte her Anwälten spricht, weiß um Ihr Verhältnis zu den Anwäl- so sind, dass man dort gar nicht nach dem RVG arbeitet. ten und zum Deutschen Anwaltverein. Damit meine ich Dort werden vielmehr Honorarsätze auf Stundenbasis nicht nur den Eklat, den Sie einmal bei einem Neujahrs- vereinbart. Uns als Union ist aber wichtig, dass der empfang verursacht haben. Sie wissen ganz genau: Als Rechtsstaat auch in der Fläche präsent ist und dass auch wir Sie als Vorsitzender des Rechtsausschusses abge- die Anwälte in ländlichen und strukturschwachen Regio- wählt haben, nen auskömmlich wirtschaften können. Da hat man eine 24762 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Dr. Jan-Marco Luczak (A) völlig andere Struktur als in den großen Städten, in den als Anwalt seinen Job gut machen will, einfach nicht (C) Ballungsgebieten. Die in ländlichen Regionen tätigen gerecht. Es geht bei Fragen des Sorge- und Umgangs- Anwälte haben es in den letzten Jahren unglaublich rechts schließlich um existenzielle Fragen. Eine Anpas- schwer gehabt, überhaupt noch ihren Kanzleibetrieb wirt- sung an den sonst im Kostenrecht üblichen Auffangstreit- schaftlich aufrechtzuerhalten. Ich zitiere einmal die Kol- wert von 5 000 Euro hätte eigentlich selbstverständlich legin Keul, die einmal die schöne Formulierung verwen- sein sollen. det: Die Anwälte sind sozusagen die Hausärzte des Rechts. – Das ist ein sehr schöner Ausdruck. Für uns ist (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ ganz wichtig, die Hausärzte des Rechts, die Anwälte, in DIE GRÜNEN) der Fläche auch weiter gehend zu unterstützen. Deswe- Enttäuschend ist die Situation für die Dolmetscher und gen ist die Erhöhung notwendig. auch für die Sachverständigen. Die Streichung der Mög- Die lineare Erhöhung beträgt im Schnitt 10 Prozent. lichkeit, Rahmenverträge mit Sprachmittlern zu verein- Wir haben an einigen Stellen strukturelle Anpassungen baren, hat gar nicht erst Eingang in das Gesetz gefunden. vorgenommen. Das war das, was möglich war. Es ist Dabei war in einem früheren Entwurf noch gesehen wor- darauf hingewiesen worden: Wir müssen immer mit den den, dass diese Verträge immer wieder als Druckmittel Ländern gemeinsam Vereinbarungen treffen. An dieser missbraucht werden. Wer keinen günstigen Rahmenver- Stelle will ich aber auf einen Wermutstropfen aufmerk- trag schließt, dem wird der Zugang zu Aufträgen der sam machen. Wir passen mit diesem Gesetz nicht nur die Justiz von vornherein insgesamt verwehrt. Auch das Vor- Höhe der Gebühren für die Rechtsanwälte an, sondern im haben, den Justizrabatt, den Sprachmittler und Sachver- gleichen Zug auch die Gerichtskosten. Das ist etwas, was ständige gewähren müssen, abzuschaffen, ist auf den letz- den Zugang zum Recht natürlich ein Stück weit ten Drücker rausgestrichen worden. erschwert. Ich persönlich hätte mir auch einen nicht ganz so starken Anstieg der Gerichtskosten vorstellen (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Verändert können. Ich finde, gerade in Zeiten von Corona ist der worden! Nicht rausgestrichen worden!) Zugang zum Recht, ist ein starker Rechtsstaat unheimlich Wir hätten es richtig gefunden, wenn auch die Justiz wichtig. Am Ende war mit den Ländern nichts anderes Marktpreise zahlt, möglich. Das ist etwas, was ich mir noch hätte anders vorstellen können. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Unter dem Strich aber: ein gutes Gesetz! Es stärkt GRÜNEN) unseren Rechtsstaat, es stärkt die Anwaltschaft. Deswe- gen bitte ich Sie fraktionsübergreifend um Zustimmung auch damit besonders qualifizierte Dolmetscher und (B) zu diesem Gesetz. Sachverständige sich nicht abwenden. (D) Vielen Dank. Aber trotz aller Mängel ist das Gesetz ein Schritt in die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- richtige Richtung und sollte heute zügig verabschiedet neten der SPD und der Abg. Katja Keul werden. Dann müssen wir aber auch endlich weiter- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) denken. Da wir wissen, dass das nicht die Stärke der Koalition ist, Vizepräsidentin Petra Pau: (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP, der AfD Das Wort hat die Kollegin Katrin Helling-Plahr für die und der LINKEN) FDP-Fraktion. haben wir als Serviceopposition dazu einen Entschlie- (Beifall bei der FDP) ßungsantrag vorgelegt. (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das ist ja Katrin Helling-Plahr (FDP): fast schon paternalistisch!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- ren! Sehr geehrte Frau Ministerin! Bereits vor über Die Tatsache, dass wir als Gesetzgeber hier nach jahre- anderthalb Jahren haben wir die Bundesregierung aufge- langem Ringen alle paar Legislaturperioden über Gebüh- fordert, ein konkretes Konzept zur Reform des RVG vor- renerhöhungen beraten, ist nicht gerecht und für alle zulegen. Am 9. Mai 2019 haben die Koalitionsfraktionen Beteiligten äußerst unbefriedigend. Lassen Sie uns wei- gegen die Stimmen von FDP, Grünen und Linken bei terdenken und die Gebühren für Anwälte, Sprachmittler Enthaltung der AfD unseren Antrag mit dem Titel und Sachverständige auf Räder stellen, sie indexieren und „Rechtsanwaltsgebühren zukunftssicher gestalten“ abge- an die allgemeine Lohnentwicklung koppeln! Da haben lehnt. Heute liegt uns nun endlich der Entwurf eines ja auch die SPD, die Grünen und die Linken Zustimmung Gesetzes zur Änderung des Justizkosten- und des Rechts- signalisiert. Herr Luczak, Sie haben gesagt, regelmäßige anwaltsvergütungsrechts vor, der aber alles andere als Anpassungen wären richtig. Wieso Sie sich da nicht auch perfekt ist. an eine Indexierung trauen, verstehe ich nicht. Ich bin auf Beispielhaft im Bereich der Rechtsanwaltsvergütung das Stimmverhalten jetzt gleich bei der Abstimmung zu möchte ich die Anhebung des Verfahrenswerts für Kinds- unserem Entschließungsantrag gespannt. chaftssachen anführen. Auch ein Verfahrenswert von Vielen Dank. 4 000 Euro wird der Wichtigkeit der Rechtssachen und dem auch meist erheblichen Arbeitsaufwand, wenn man (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24763

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: ser Mangel macht die Tätigkeit für Berufseinsteigerinnen (C) Das Wort hat der Kollege Friedrich Straetmanns für die und Berufseinsteiger aber unattraktiv, und wieder einmal Fraktion Die Linke. verzeichnen wir eine strukturelle Ungleichbehandlung in einem Bereich mit sehr hohem Frauenanteil; denn der (Beifall bei der LINKEN) liegt in diesem Feld bei circa 80 Prozent.

Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nen und Kollegen! Wir als Linke werden dem vorliegen- Vergütung und Entschädigung im Justizwesen ist ins- den Gesetzentwurf zur Änderung des Justizvergütungs- gesamt ein wichtiges Thema, das in seiner Bedeutung und -entschädigungsgesetzes, kurz: JVEG, zustimmen, weit über die reine Frage der Vergütung hinausgeht. Es zum einen, weil wir für eine Anhebung der Sachverstän- geht um faire Verfahren. Es geht um Qualität der Ver- digenhonorare sind, und zum anderen, weil eine fahren, und die bekommt man eben nur bei fairer Bezah- Ungleichbehandlung zur ebenfalls erfolgenden Gebüh- lung. renanhebung für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte nicht zu rechtfertigen wäre. Wir halten auch die Anhe- Vielen Dank. bung der Gerichtsgebühren für gerechtfertigt. (Beifall bei der LINKEN) Immerhin weist das deutsche Justizsystem im interna- tionalen Vergleich einen besonders hohen Kostende- ckungsgrad bei gleichzeitig sehr hoher Qualität auf. Das Vizepräsidentin Petra Pau: wollen wir als Linksfraktion erhalten. Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der LINKEN) Ich will aber zu den Stundenhonoraren für Sachver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ständige etwas ergänzen. Diese wurden zuletzt 2013 erhöht. Eine Anhebung ist daher mehr als überfällig. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das belegt auch die 2017 durchgeführte Marktanalyse. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Daher sehen wir Probleme, sollten die Stundensätze in Kollegen! Nach sieben Jahren passen wir heute endlich der Zukunft nicht schneller an die allgemeinen Preisstei- die Gebühren im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz an, und gerungen angepasst werden. Eine Indexierung – eben ist das ist gut so. es angesprochen worden – halten wir in diesem Bereich insgesamt für geboten. Für alle Berufe, deren Gebühren durch den Gesetzge- (B) ber geregelt werden, ist es jedes Mal ein Kraftakt, und es (D) An dieser Stelle ist es aber auch wichtig, noch einmal besteht ein Rechtfertigungsdruck, zumal die Anwalt- die Bedeutung der Sachverständigentätigkeiten für Pro- schaft auch noch zwischen den politischen Fronten fest- zesse hervorzuheben. Sachverständige sind oft eher in steckt: dem Bund, der die Zuständigkeit hat, und den Kontakt zu Klägern und können durch diesen Kontakt Ländern, die erhöhte Kosten bei der Prozesskostenhilfe die Akzeptanz auch negativer Begutachtungen und sogar befürchten. Wir hätten uns daher auch endlich eine Dyna- Entscheidungen erhöhen. In sozialgerichtlichen Verfah- misierung der Gebühren gewünscht, die uns jeweils eine ren sind in hoher Zahl Gutachten einzuholen. Gerade als Gesetzesänderung ersparen würde. Richter am Sozialgericht war ich für die Beurteilung von komplexen medizinischen Sachverhalten sehr häufig auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN solche Gutachten angewiesen. Ohne angemessene Ver- sowie bei Abgeordneten der FDP und des gütung ist es aber kaum möglich, ausreichend qualifizier- Abg. Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]) te Sachverstände zu finden, insbesondere in ländlichen Regionen. Wer jetzt an die gut verdienenden Anwältinnen in den Großkanzleien denkt, der muss wissen, dass die darauf Wenn im Gesetzentwurf zum Beispiel ein Unterschied gar nicht angewiesen sind, weil sie nach Stundensätzen zwischen der Abrechnung von Röntgen- und Ultraschall- abrechnen. leistungen gemacht wird, ist das nicht praktikabel. Hier empfehlen wir die Abrechnung sämtlicher Untersuchun- Auf die gesetzlichen Gebühren sind die Anwältinnen gen, angelehnt an die Gebührenordnung für Ärzte, zu in der Fläche angewiesen, die den Menschen bei ihren einem festen Vergütungssatz. Das würde die Abrechnun- rechtlichen Alltagsproblemen den Zugang zum Recht gen der Justizverwaltung erleichtern und den Verwal- sichern – als Hausärzte des Rechtsstaats –, beispielsweise tungsaufwand dementsprechend verringern. im Familienrecht. Hier hätten wir uns gerade in Kinds- chaftssachen mehr gewünscht. Statt der Einführung eines Dass die Vergütungssätze für Sprachmittlerinnen und Regelstreitwerts von 5 000 Euro wurde der bisherige Sprachmittler an marktübliche Honorare angepasst wer- Wert von 3 000 Euro erst mal auf 4 000 Euro erhöht. Es den, ist zu begrüßen. Hier sehen wir aber immer noch das ist aber nicht einzusehen, warum das Schicksal eines Problem der fehlenden Absicherungsmöglichkeit fürs Kindes immer noch niedriger bewertet wird als das eines Alter. Im Gegensatz zu medizinischen Sachverständigen, Erwachsenen, beispielweise im Betreuungsrecht. die häufig aus einer sicheren Haupttätigkeit heraus tätig werden, sind die Sprachmittlerinnen und Sprachmittler (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN selbstständig tätig. Das bedeutet, mit dem Honorar sowie der Abg. Katrin Helling-Plahr [FDP] muss eine eigene Alterssicherung aufgebaut werden. Die- und Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]) 24764 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Katja Keul (A) Neben der Rechtsanwaltsvergütung geht es heute auch Hans-Jürgen Thies (CDU/CSU): (C) um die Vergütung von Dolmetschern und Sachverständi- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Bundesministerin! gen. Die werden jetzt doch nicht so erhöht, wie es im Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Kostenrecht- ursprünglichen Entwurf vorgesehen war. Aber was noch sänderungsgesetz passen wir das Justizkosten- und das viel ärgerlicher ist: Die Ausnahmevorschrift des § 14 Rechtsanwaltsvergütungsrecht an aktuelle Entwicklun- JVEG wurde wieder nicht gestrichen, wonach die Länder gen an. Die Gebühren im Anwaltsbereich waren – das per Rahmenvereinbarung Dolmetschergebühren unter- ist hier heute schon mehrfach gesagt worden – zuletzt halb der gesetzlichen Gebühr vereinbaren können. 2013 geändert worden. Mit den Anpassungen, die wir Gesetzliche Gebühren müssen auch gegenüber dem Staat jetzt vornehmen, werden die in den letzten sieben Jahren wirklich Mindestgebühren sein. doch sehr deutlich gestiegenen Kanzleikosten zumindest teilweise kompensiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katrin Helling-Plahr [FDP]) Die Erhöhung der RVG-Vergütung ist gerade für klei- nere Anwaltskanzleien und für Einzelanwälte vor allen Auch hier schieben sich Bund und Länder gegenseitig Dingen in ländlichen Regionen und in strukturschwachen die Verantwortung dafür zu, wer die Streichung wieder Gebieten eminent wichtig. Dort sind Vergütungsverein- verhindert hat. barungen – auch das ist wiederholt schon gesagt worden – (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Na, eure Län- eben vielfach nicht durchsetzbar. Natürlich haben auch der!) wir als Union uns weitere, insbesondere strukturelle Ver- besserungen bei den RVG-Vergütungen gewünscht. So – Das diskutieren wir an anderer Stelle aus. lassen sich PKH- und VKH-Mandate in der Regel nicht (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Gerne! So ist kostendeckend durchführen. Auch Pflichtverteidigungen es!) in Strafverfahren sind in aller Regel nicht kostendeckend Jetzt noch mal zurück zur Anwaltschaft, der es ab dem durchzuführen. 1. Januar 2022 per Gesetz verboten sein wird, einen eili- Ich gebe zu bedenken: Damit der Rechtsstaat funktio- gen Schriftsatz abends noch persönlich in den Briefkas- niert, sind wir flächendeckend auf eine gute anwaltliche ten des Gerichts einzuwerfen oder per Fax zu übermitteln, Versorgung angewiesen. Deshalb müssen wir sehr genau weil das Internet gerade ausgefallen ist. Das haben wir im auch die Ursachen in den Blick nehmen, weshalb in den Jahr 2013 beschlossen. Sieben Jahre hören sich lang an; letzten Jahren die Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte aber der faktische Probelauf war erheblich kürzer, weil in Deutschland sogar rückläufig war. Wir werden uns in das elektronische Postfach erst später an den Start ging Zukunft stärker mit der Frage befassen müssen und diese und dann auch phasenweise wieder ausfiel. Anders als auch neu bewerten müssen – sie ist heute auch hier wie- (B) Behörden oder Gerichte haften die freiberuflichen der gestellt worden –, ob nicht eine regelmäßige Dyna- (D) Anwältinnen gegenüber ihren Mandanten mit ihrem misierung der RVG-Vergütungssätze geboten wäre. gesamten persönlichen Vermögen dafür, dass der Schrift- (Beifall des Abg. Dr. Jürgen Martens [FDP]) satz fristgerecht übermittelt wird. Sie tragen gegebenen- falls auch die Beweislast für die technische Störung, Gegenstand des Kostenrechtsänderungsgesetzes ist wenn sie Wiedereinsetzung beantragen. Hier wird die ferner eine Anpassung der Vergütungssätze im JVEG Anwaltschaft mit den Risiken des elektronischen Rechts- für Sachverständige und Dolmetscher an die marktübli- verkehrs unverhältnismäßig belastet. Auch sind die chen Honorare. Sachverständige und Dolmetscher sind Sicherheitsfragen noch nicht abschließend geklärt, und ganz wichtige Gehilfen des Gerichts und der Behörden. eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist nicht gewährleis- Ihre Qualität wirkt sich unmittelbar auf die Qualität tet. Ja, man kann nicht einmal ausschließen, dass der ehe- behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen aus. Des- malige private Auftragnehmer Atos über die Schlüssel halb war es unbedingt notwendig, die Honorare in diesem verfügt, um gegebenenfalls die gesamte Anwaltskommu- Bereich anzupassen. Dies wird mit der vorliegenden nikation entschlüsseln zu können. Daher beantragen wir, Gesetzesänderung geschehen. Die Dolmetschervergütun- die Ausschließlichkeit der elektronischen Übermittlung gen werden um circa 20 Prozent angehoben werden und für weitere drei Jahre zurückzustellen. die Vergütungen für Sachverständige um 15 bis 30 Pro- zent, also auch nicht gerade gering. Für die Justiz ist das auch nicht unzumutbar, weil die Annahme von Papier ohnehin weiter gewährleistet sein Die vorgesehenen Stundensätze für die Sachverständi- muss in Verfahren ohne Anwaltszwang, wo Bürgerinnen gen und Dolmetscher bleiben aber immer noch hinter den und Bürger Klagen weiter auf Papier einreichen können. marktüblichen Honoraren zurück. Genau deshalb hätten Letztlich gilt: Technik sollte dienen und darf Lösungen wir uns teilweise noch etwas höhere Stundensätze ge- nicht behindern. wünscht. Auch einen Wegfall des sogenannten Justizra- battes und des § 14 JVEG hätten wir uns durchaus vor- Vielen Dank. stellen können. Aber, meine Damen und Herren, leider (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) haben sich da die Bundesländer quergestellt. Natürlich sind bei den Vergütungssätzen nicht nur für Rechtsanwäl- Vizepräsidentin Petra Pau: te, sondern auch für Dolmetscher und für Sachverständi- ge ganz unmittelbar die Kosteninteressen der Justizhaus- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hans- halte der Bundesländer betroffen. Mit der Behauptung, Jürgen Thies für die CDU/CSU-Fraktion. die Veränderungen im JVEG würden die Länderhaushalte (Beifall bei der CDU/CSU) jährlich mit 170 Millionen Euro zusätzlich belasten, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24765

Hans-Jürgen Thies (A) haben die Bundesländer, und zwar unabhängig von der desregierung auf den Drucksachen 19/23484 und (C) politischen Farbenlehre in den jeweiligen Bundesländern, 19/24229 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte ganz unverhohlen mit einer Ablehnung des Kostenrecht- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sänderungsgesetzes im Bundesrat gedroht. Dies hätte sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer dazu geführt, dass das Gesetz nicht zum 1. Januar 2021 stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- in Kraft treten könnte. wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom- Deswegen waren wir gehalten, über einen Änderungs- men. antrag der Koalitionsfraktionen den Ländern zumindest Dritte Beratung in drei, vier Einzelpunkten noch ein klein wenig entge- genzukommen. Den Ländern war dabei insbesondere die und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Absenkung der Freigrenze für die PKH auf die bundes- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – weiten Regelbedarfssätze wichtig. Ich kann nur hoffen, Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- dass die Bundesländer dieses Entgegenkommen wertzu- entwurf ist einstimmig angenommen. schätzen wissen und nunmehr ihre Blockadehaltung im Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Frak- Bundesrat auch wirklich aufgeben werden. Angesichts tion der FDP auf Drucksache 19/24745. Wer stimmt für der Tatsache, dass in den letzten Monaten der Bundesge- den Entschließungsantrag? – Die FDP, Die Linke und setzgeber umfangreiche finanzielle Hilfen für die Länder Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die auf den Weg gebracht hat, und angesichts der Tatsache, Koalitionsfraktionen. Wer enthält sich? – Die AfD-Frak- dass wir eine leistungsstarke Justiz benötigen, die in den tion. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Haushalten des Bundes und auch der Länder nur sehr kleine Etats beansprucht, rate ich den Ländern dringend: Tagesordnungspunkt 26 b. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht Überspannen Sie den Bogen jetzt nicht. und Verbraucherschutz auf Drucksache 19/24740 fort. Die beiden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen leh- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- nen wir ab. Die aktive Nutzungspflicht des beA ist seit schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- vielen Jahren eine beschlossene Sache. BeA funktioniert tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/23153 und wird inzwischen reibungslos von einer großen Mehr- mit dem Titel „Aktive Nutzungspflicht des besonderen zahl der Anwälte genutzt. Eine besondere Haftungsträch- elektronischen Anwaltspostfaches weiter zurückstellen“. tigkeit hat sich in diesem Bereich nicht ergeben. Deswe- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koa- gen sollte beA ab dem 1. Januar 2023 verpflichtend zum litionsfraktionen und die FDP-Fraktion. Wer stimmt Einsatz kommen. Einen weiteren Aufschub, wie die Grü- dagegen? – Die AfD und Bündnis 90/Die Grünen. Wer nen ihn fordern, lehnen wir ab. enthält sich? – Die Fraktion Die Linke. Die Beschluss- (B) (D) Gleiches gilt für den Antrag, das anwaltliche Berufs- empfehlung ist damit angenommen. recht zukunftsfest zu machen. Natürlich muss das anwalt- Tagesordnungspunkt 26 c. Abstimmung über die Be- liche Berufsrecht ständig evaluiert und weiterentwickelt schlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Ver- werden; das ist doch überhaupt keine Frage. Die Vor- braucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ schläge der Grünen haben sich aber mit dem heute zu Die Grünen mit dem Titel „Anwaltliches Berufsrecht beschließenden Kostenrechtsänderungsgesetz weitestge- zukunftsfest machen“. Der Ausschuss empfiehlt unter hend erledigt. Dies gilt auch für die Neuregelung des Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Berufsrechts; denn das Bundesjustizministerium hat dan- che 19/22807, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die kenswerterweise vor gut einem Monat einen Referenten- Grünen auf Drucksache 19/16884 abzulehnen. Wer entwurf zur Neuordnung des Berufsrechts der anwaltli- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koali- chen Berufsausübungsgesellschaft vorgelegt. Darin soll tionsfraktionen und die AfD-Fraktion. – Wer stimmt verfassungskonform auch die interprofessionelle Zusam- dagegen? – Die FDP und Bündnis 90/Die Grünen. – menarbeit geregelt werden. Ich bin gespannt auf die wei- Wer enthält sich? – Die Fraktion Die Linke. Die Be- teren Beratungen. schlussempfehlung ist angenommen. Mit dem Kostenrechtsänderungsgesetz stärken wir – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 e auf: das ist ganz eindeutig so – den Justizstandort Deutsch- land. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu diesem a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Filiz Gesetzentwurf. Polat, Claudia Roth (Augsburg), Dr. Konstantin von Notz, weiterer Abgeord- Vielen herzlichen Dank. neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN Für eine antirassistische und chancenge- Vizepräsidentin Petra Pau: rechte Einwanderungsgesellschaft – Ras- Ich schließe die Aussprache. sismus bekämpfen, Vielfalt stärken Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Drucksache 19/24636 desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung Überweisungsvorschlag: des Justizkosten- und des Rechtsanwaltsvergütungs- Ausschuss für Inneres und Heimat (f) rechts. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 19/24740 den Gesetzentwurf der Bun- Ausschuss für Kultur und Medien 24766 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Canan Bayram, Filiz Polat, Luise Amtsberg, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und weiteren Abgeordneten und der Fraktion Kollegen! Rassismus ist für viele Menschen in Deutsch- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten land Alltag. Schon Kinder müssen dies früh erleben: Ihr Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Äußeres, ihre Namen und die Vorurteile, die damit ver- Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 – Erset- knüpft sind, verfolgen sie auf Schritt und Tritt. Schmerz- zung des Wortes Rasse und Ergänzung lich müssen sie erfahren – ohne den Begriff bereits zu zum Schutz gegen gruppenbezogene Men- verstehen –, dass Rassismus ihr ständiger Begleiter ist. schenwürdeverletzungen) Das können und wollen wir nicht länger verantworten. Drucksache 19/24434 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Wirtschaft und Energie Meine Damen und Herren, Rassismus behindert, Ausschuss für Arbeit und Soziales grenzt aus, verletzt – sei es auf dem Wohnungsmarkt, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit auf dem Arbeitsmarkt oder auf der Schulbank. Rassismus Ausschuss Digitale Agenda führt dazu, dass viele Menschen nicht sicher sind. Die c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle schrecklichen Anschläge in Lichtenhagen, Mölln, Solin- Schauws, Filiz Polat, Canan Bayram, weite- gen, die Mordserie des NSU, Halle und Hanau und der rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Mord an Walter Lübcke: Das sind traurige Höhepunkte NIS 90/DIE GRÜNEN rassistischer Gewalt. Das ist die Realität in Deutschland, auch noch im Jahr 2020. Das muss sich endlich ändern, Unabhängigkeit der Antidiskriminie- meine Damen und Herren! rungsstelle des Bundes stärken (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 19/24431 und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Überweisungsvorschlag: der FDP) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Das sind wir den Opfern rassistischer Gewalt schuldig. Ausschuss für Inneres und Heimat Das sind wir aber auch jedem einzelnen Menschen, der in Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Deutschland Rassismus erfährt, schuldig. Es muss Federführung strittig Schluss sein mit dem Weiter-so! (B) d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Meine Damen und Herren, deshalb war die Einsetzung (D) Gökay Akbulut, Dr. André Hahn, Ulla des Kabinettsausschusses zur Bekämpfung von Rechts- Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Frak- extremismus und Rassismus ein Meilenstein in der Ge- tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs schichte der Bundesrepublik, ein Meilenstein ohne Frage, eines Gesetzes zur Änderung des Grund- gesetzes (Änderung des Artikels 3 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Absatz 3 – Streichung des Begriffs Rasse) sowie des Abg. Thorsten Frei [CDU/CSU]) Drucksache 19/20628 ein Meilenstein, den wir aber vor allem dem unermüd- lichen Engagement der postmigrantischen Zivilgesell- Überweisungsvorschlag: schaft zu verdanken haben. Dafür möchten wir von Her- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Inneres und Heimat zen Danke sagen: Danke schön! e) Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Marc Jongen, Dr. Götz Frömming, Nicole sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Höchst, weiterer Abgeordneter und der Frak- Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) tion der AfD Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat Gesellschaftlichen Zusammenhalt stär- nun also einen Maßnahmenkatalog vorgelegt. Die ken – Nationalen Aktionsplan gegen Ras- Begeisterung darüber – vor allem bei der SPD – verwun- sismus aufheben dert mich aber, ehrlich gesagt, schon; denn der vielver- sprochene Paradigmenwechsel ist das sicherlich nicht. Drucksache 19/24654 Mehr Rechte? Mehr Teilhabe? Mehr Schutz vor Diskri- Überweisungsvorschlag: minierung? Fehlanzeige! Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Rassismus ist tief in unseren Strukturen, in unserer zung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Gesellschaft, in uns verwurzelt. Generalsekretär Lars Ausschuss für Kultur und Medien Klingbeil verkennt deshalb das Problem, wenn er sagt, Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten wir müssten uns gegen die Rassisten stellen. Wir dürfen beschlossen. hier nicht nur auf den rechten Rand zeigen – wir müssen bei uns anfangen, wir müssen unsere eigenen Strukturen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin und Muster konsequent hinterfragen. Filiz Polat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24767

Filiz Polat (A) Ja, das ist oft unangenehm, keine Frage, aber notwendig – eine antirassistische Gesellschaft. Deshalb freuen wir uns (C) notwendig, wenn wir eine antirassistische Einwande- auf die Diskussion mit Ihnen. Denn wir Demokratinnen rungsgesellschaft gestalten wollen. und Demokraten sind uns im Grunde einig. Um es mit Meine Damen und Herren, strukturelle Probleme las- den Worten von Frau Staatsministerin Widmann-Mauz zu sen sich nur mit strukturell nachhaltigen Maßnahmen sagen: Wir müssen Rassismus erkennen, benennen und bekämpfen. Deshalb legt meine Fraktion hier heute einen bekämpfen. – Lassen Sie es uns gemeinsam anpacken! Antrag im Parlament vor, eine kohärente Gesamtstrategie Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zur Bekämpfung von Rassismus. Ich möchte drei Punkte hervorheben, weil sie wirklich im Maßnahmenkatalog zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenig oder gar nicht vorkommen: sowie der Abg. [DIE LINKE]) Erstens, ein effektiver Schutz vor Diskriminierung. Vizepräsident : Wir brauchen endlich ein Antidiskriminierungsgesetz, das auch im öffentlichen Bereich schützt, ein AGG mit Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Nächster Redner Verbandsklagerecht, damit die Betroffenen nicht nur auf ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thorsten Frei. sich selbst angewiesen sind. Wir brauchen eine Antidis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kriminierungsstelle, die finanziell und personell endlich für ihre große Aufgabe gewappnet ist, meine Damen und Thorsten Frei (CDU/CSU): Herren. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollegen! Wir beraten in dieser Debatte eine ganze Reihe sowie bei Abgeordneten der LINKEN) von Anträgen rund um das Thema Bekämpfung von Ras- Zweitens. Unsere plurale Demokratie kann doch nur sismus, von Diskriminierung. Letztlich kann man das funktionieren, wenn endlich alle mit am Tisch sitzen, Bild auch größer zeichnen: Es geht um den Zusammen- mitreden, mitbestimmen können. Ein Partizipationsge- halt in unserer Gesellschaft, darum, dass wir gut mitei- setz, wie die Verbände es seit Jahrzehnten fordern, muss nander leben können in dieser Gesellschaft. auch auf Bundesebene endlich durchgesetzt werden. Frau Polat, Sie haben zu Recht angesprochen, dass wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) da nicht an einem Nullpunkt stehen, sondern, ganz im Gegenteil, in den vergangenen Wochen und Monaten Die interkulturelle Öffnung, die diversitätssensible Öff- sehr viel passiert ist, sowohl hier im Parlament als auch nung der Institutionen muss endlich gesetzlich verankert im Bereich der Regierung. Ich gehe davon aus, dass die und aktiv gefördert werden. Frau Staatsministerin nachher intensiv auch darauf ein- (B) (D) Ja, und 20 Jahre nach der Reform des Staatsangehörig- gehen wird, was der Kabinettsausschuss am vergangenen keitsrechts erwarten wir eine Weiterentwicklung statt Mittwoch in 89 Punkten, Forderungen, Feststellungen weiterer Rückschritte, meine Damen und Herren – dann und Entscheidungen dargelegt hat, wie wir Rassismus braucht es auch keine Einbürgerungsoffensive mehr. in unserer Gesellschaft effektiv bekämpfen können. Meine Damen und Herren, wir legen heute auch eine Ich möchte aber auch daran erinnern, dass wir natürlich Grundgesetzänderung vor, mit einem konkreten Vor- auch hier im Parlament bereits – weil Sie das angemahnt schlag und Angebot für die Ersetzung des Wortes „Ras- haben – eine ganze Reihe von Debatten geführt – keine se“. Aus unserer Sicht muss diese Änderung allerdings folgenlosen Debatten – und Gesetze verabschiedet haben, Hand in Hand gehen mit einer Gewährleistungspflicht unter anderem das Gesetz zur Bekämpfung des Rechts- des Staates. Wir würden uns wirklich freuen, wenn dieses extremismus und der Hasskriminalität. Deshalb, glaube Vorhaben noch in dieser Legislaturperiode mit breiter ich, können wir schon sagen, dass wir die vergangenen Mehrheit im Parlament verabschiedet wird, meine Monate intensiv genutzt haben, um gegen Rassismus, Damen und Herren. gegen Antisemitismus, gegen Diskriminierung in unserer Gesellschaft klare Ausrufezeichen zu setzen. Und wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden das fortsetzen, weil das eine Aufgabe ist, die nicht Mit unserem Antrag tragen wir erstmals eine Gesamt- beendet ist – die auch nicht beendet sein wird mit dem strategie zur Bekämpfung von Rassismus in das Parla- Kabinettsbeschluss zu diesem Thema –, sondern es wird ment, in die Herzkammer unserer Demokratie. Für diese weitergehen, es wird weiteres Handeln von uns erfordern. Demokratie sind Antirassismus und die Gestaltung unse- Sie haben in Ihrer Rede – wir haben ja auch entspre- rer Einwanderungsgesellschaft zentral. Denn Demokratie chende Anträge hier vorliegen – darauf hingewiesen, dass bedeutet doch letztendlich die ständige Aushandlung und es sinnvoll sein könnte – Sie finden es sinnvoll –, den respektvolle Diskussion – ja, auch mal im Streit –, um am Begriff „Rasse“ im Grundgesetz in Artikel 3 Absatz 3 zu Ende auf komplexe Fragen komplexe Antworten zu fin- ersetzen. Ich glaube, Folgendes ist klar, da können wir den. Hierfür ist das Parlament der richtige Ort, meine Gemeinsamkeiten definieren: Damen und Herren. Erstens. Es gibt keine menschlichen Rassen. Die bio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) logisch-naturwissenschaftliche Forschung ist in diesem Nach der Erleichterung über die Einsetzung des Kabi- Bereich so klar wie bei kaum einem anderen Thema. nettsausschusses kam vorgestern die Ernüchterung. Aber Zweitens. Trotzdem haben wir Rassismus in unserer heute habe ich, haben wir die Hoffnung, dass wir gemein- Gesellschaft. Drittens. Wir müssen in jedem Fall eine sam bei aller Debatte das gleiche Ziel erreichen wollen: Lösung finden, die am Ende nicht zu einer Verkürzung 24768 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Thorsten Frei (A) des absoluten Diskriminierungsschutzes führt, sondern – Es ist nicht so, dass es diese Schutzfunktion des Staates (C) im Gegenteil – letztlich das hohe Niveau des Schutzes nicht gebe; die gibt es. Es gibt eine UN-Konvention für unseres Grundgesetzes erhält. bürgerliche und politische Rechte. Die wirkt bei uns in Deutschland als einfaches Bundesgesetz. Deshalb ist es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) richtig, dass wir nicht weitermachen mit dem Trend, In diesem Spannungsverhältnis sind wird unterwegs, und alles, wovon wir glauben, dass es wichtig ist, vom ein- in diesem Spannungsverhältnis müssen wir eine Lösung fachen Gesetz zum Verfassungsrecht zu machen. Das ist finden. eine falsche Motivation; denn es wird letztlich auch der Askese unseres Grundgesetzes nicht gerecht. Mir ist ganz wichtig, darauf hinzuweisen: Die Erkennt- Wir diskutieren diese Fragen, wir greifen die Kritik nis, dass es keine menschlichen Rassen gibt, ist nicht eine auf, wir finden Lösungen – aber mit Maß, Mitte und Ziel. neue Erkenntnis von uns, sondern auch die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten diese Erkenntnis schon. Herzlichen Dank. Als sie sich vor 71 Jahren entschieden haben, diesen (Beifall bei der CDU/CSU) Begriff ins Grundgesetz zu übernehmen, war dieser nie affirmativ gemeint, sondern – ganz im Gegenteil – ableh- nend, abgrenzend; es war die Antwort der Mütter und Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Väter unseres Grundgesetzes auf den Rassenwahn der Vielen Dank, Herr Kollege Frei. – Nächster Redner ist Nazis. – Das sollten wir im richtigen Kontext betrachten. der Kollege Dr. Bernd Baumann, AfD-Fraktion. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen hier immer auch die Frage beantworten, Dr. Bernd Baumann (AfD): ob das, was wir tun, die Situation verbessert oder ob es sie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- eben nur verändert. Ich bin dafür, dass wir den ersten Weg destagswahlen stehen vor der Tür. CDU und Grüne wählen. Wir hatten vor etwa zehn Jahren hierzu schon machen sich füreinander hübsch. einmal einen Antrag der Fraktion Die Linke und im Jahr 2012 eine Debatte hier im Deutschen Bundestag. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Damals haben im Übrigen alle den Antrag der Linken GRÜNEN]: Oh! Wir sind hübsch!) abgelehnt, die damals eine Streichung dieses Begriffes Auch die Kanzlerkandidaten der CDU flirten schon auf im Grundgesetz gefordert und einen Vorschlag gemacht offener Bühne mit Habeck und Co. haben, wie man ihn ersetzen kann. Man muss, glaube ich, Aber wofür stehen die Grünen? Sie wollen nicht nur (B) arg aufpassen, dass man diese Diskussion nicht nur unter offene Grenzen – jeder kann kommen und gleich deut- (D) Sozialwissenschaftlern führt, sondern auch den juristi- scher Staatsbürger werden –, heute legen sie einen Plan schen Aspekt mit einbezieht und darauf achtet, dass vor, wie sie Deutschland insgesamt umbauen wollen, und man die Dinge verbessert und nicht verschlechtert. dann mithilfe der CDU. Die Einwanderung soll unser Wir sind ja schon weiter als damals, 2012. Ich glaube, Land grundlegend verändern. Deutschland, wie wir es es gibt niemanden mehr, der eine Streichung des Begrif- kennen, soll noch schneller abgeschafft werden; das müs- fes fordert, sondern es geht darum, ihn zu ersetzen. Wenn sen wir verhindern, meine Damen und Herren. es so ist, dass sich viele Menschen in unserem Land von (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Yvonne diesem Begriff beleidigt, abgestoßen oder in sonstiger Magwas [CDU/CSU]) Weise betroffen fühlen, dann finden wir dafür eine Lösung. Die muss aber den gleichen Grundrechtsschutz Schon der erste Satz der Grünen: eine Frechheit. Sie beinhalten wie den, den wir heute haben. behaupten, Rassismus und Menschenfeindlichkeit seien in der deutschen Gesellschaft zutiefst verwurzelt. – Lassen Sie mich darauf eingehen, dass im Antrag der Allein das ist doch schon Unsinn. Grünen beispielsweise eine entsprechende Gewährleis- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tungsverpflichtung gefordert wird. Ich möchte mich ger- ne dagegen aussprechen; denn unser Grundgesetz und Kein Land der Welt nimmt so viele Migranten auf. Kein insbesondere der Grundrechtsbereich, also die Herzkam- Land der Welt teilt mit so vielen Fremden so freigiebig mer unseres Grundgesetzes, ist auf eine Abwehrdimen- seinen Sozialstaat. Meine Damen und Herren, in kein sion gerichtet, gegen den Staat. Die kann sich im Einzel- anderes Land der Welt sehnen sich die Menschen so fall zu einer Schutzdimension verdichten; das ist wohl sehr und drängen hinein. Ihr kalter Rassismusvorwurf wahr. Aber, ich glaube, wir sollten aufpassen; denn wir an die Deutschen ist eine infame Lüge. Wie sehr müssen machen, offen gestanden, hier im Parlament viel zu oft Sie dieses Land und seine Menschen hassen, meine den Fehler, dass wir zu wenig Respekt vor unserem Damen und Herren? Grundgesetz haben, es zu oft ändern und die Änderungen (Beifall bei der AfD) im Regelfall keine Verbesserung, sondern eine Ver- schlechterung des ursprünglichen Textes sind. Diese bösartige Verdammung der Deutschen dient aber einem Zweck: Die Grünen planen, unsere vertraute Hei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mat in eine anonyme Weltgesellschaft umzubauen Genauso ist es in diesem Fall. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Jetzt sagen Sie schon das rassistische, (Zuruf der Abg. [DIE LINKE]) rechtsextreme Wort!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24769

Dr. Bernd Baumann (A) mit maximaler Vielfalt. Damit weitere Masseneinwande- dass im Ursprungsentwurf das Wort „Rasse“ noch gar (C) rung rigoros durchgesetzt werden kann, soll das ganze nicht enthalten gewesen ist. Es ist erst in der sechsten Land, laut Antrag der Grünen, überzogen werden mit Sitzung des Grundsatzausschusses am 5. Oktober 1948 einem dichten Netzwerk von Antirassismus-, Melde- eingeführt worden. und Kontrollstellen. Auch alle Polizisten sollen gegen Daran hat sich eine Diskussion angeschlossen, die im Rassismus permanent überwacht werden. Eine Antidis- Licht der damaligen Zeit geführt wurde und die richtig kriminierungsstelle des Bundes soll künftig als oberste gewesen ist. Es ging nämlich um die klare Abgrenzung Bundesbehörde die Deutschen auf Linie bringen. Ein zum Rassebegriff der Nationalsozialisten, welcher neues Partizipationsgesetz soll erzwingen, dass in allen geprägt war vom völkischen Prinzip, die Überlegenheit Behörden feste Migrantenquoten gelten, also Einstellung einer nordisch-arischen Herrenrasse postulierte und nicht nach Leistung, sondern nach Hautfarbe. Das ist andere Menschen zu lebensunwertem Leben oder Unter- noch schlimmer als die Frauenquote, meine Damen und menschen degradierte. Das führte dazu, dass die Begriffe Herren. Wie weit kann man den Wahnsinn denn über- „Auslese“ und „Ausmerzungen“ Leitbegriffe dieses Ras- haupt noch steigern? senwahns gewesen sind. (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Marianne In dieser Sitzung am 5. Oktober 1948 war die Formu- Schieder [SPD]) lierung, dass alle Menschen gleich sind, fortschrittlich, Und das ist noch nicht alles. Dazu kommen antirassis- und zwar als Gegenentwurf zu der Unrechtszeit der tische Seminare für alle Lehrer, verpflichtende rassismus- Nazis. Und es war damals richtig, diesen Begriff aufzu- kritische Schulungen für alle Bundesbeamten. Jeder, der nehmen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, was kritisiert, ist ausdrücklich Rassist oder Menschenfeind. damals fortschrittlich war, kann heute berechtigte und Gegen solche Abweichler soll der Verfassungsschutz in richtige Diskussionen auslösen. Denn wir wissen, dass Stellung gebracht werden, dafür soll er auf- und umge- es keine Rassen gibt; wir haben das gerade gehört. Und rüstet werden. diejenigen, die doch daran glauben, sind ehrlicherweise Das Ziel der Grünen ist letztlich eine neue Art von meist diejenigen, die den Entwurf der Mütter und Väter Erziehungsstaat, Umerziehungsstaat. Wie prahlte Grü- des Grundgesetzes sicherlich damals abgelehnt hätten nenchefin Baerbock jüngst? „Wir können Wunder bewir- und auch heute nicht auf dem Boden dieses Grundgeset- ken.“ – Das glaube ich auch. zes stehen. (Siegbert Droese [AfD]: Zu viel geraucht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wundern werden sich die CDU-Wähler nach der Wahl, wenn sie sehen, wem sie da zur Macht verholfen haben: Darum ist die Beschäftigung mit dem Thema Rassis- (B) mus wichtig: weil sie uns immer wieder Althergebrach- (D) (Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tes, bestimmte eingespielte Verhaltensweisen, auch Sym- Da müssen Sie aber Angst vor uns haben, bole hinterfragen lässt. Denn leider – und das gehört zur Herr Baumann!) Wahrheit dazu – ist Rassismus immer noch allgegenwär- nach außen hin friedensbewegte Naturfreunde und Kli- tig. Und darum ist es richtig und gut, dass sich die Regie- maschützer, im Kern aber die alten Linksextremisten und rungskoalition darauf verständigt hat, eine Änderung des radikalen Deutschlandabschaffer. Grundgesetzes vorzunehmen. Es ist wichtig, dass wir hier (Beifall bei der AfD – [BÜND- gemeinsam diesen Punkt angehen. Aber ich will auch NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war heute eine deutlich sagen: Das anzugehen und voranzubringen, schwache Rede, Herr Baumann! Ganz, ganz wird nicht einfach. schwach auf der Brust! Das war eine peinliche Die Beschlüsse des Kabinettsausschusses vom Mitt- Rede! – Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- woch zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Ras- NEN]: Da müssen Sie aber Angst vor uns sismus – sie sind angesprochen worden – sind richtig. Wir haben! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜND- haben in den vergangenen Wochen hier im Bundestag NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass Ihnen das nicht auch zu Fragen der Kolonialzeit Debatten geführt. Dabei peinlich ist! – Gegenruf des Abg. Siegbert haben wir angesprochen, dass Straßenschilder mit kolo- Droese [AfD]: Frau Roth, genau ins Schwarze nialem Bezug lange einfach so bei uns im Land standen. getroffen bei Ihnen!) Wir sind an ihnen vorbeigelaufen, wir sind unter ihnen hergelaufen. Teilweise waren sie mit Namen von Tätern Vizepräsident Wolfgang Kubicki: versehen, von Menschen, die aus rassistischen Motiven Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Baumann. – Nächster gemordet haben. Redner ist der Kollege Dirk Wiese, SPD-Fraktion. Auch darum ist es richtig, dass der Kabinettsausschuss (Beifall bei der SPD) jetzt noch einmal bestätigt hat, dass wir die Ersetzung des Begriffs „Rasse“ vornehmen sollen. Ich will aber auch daran erinnern, dass es bereits kurz zuvor eine Einigung Dirk Wiese (SPD): der Minister Olaf Scholz und Horst Seehofer gegeben Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und hat; sie hatten sich bereits darauf verständigt. Kollegen! Wenn man in die alten Dokumente, in die Ent- würfe von Herrenchiemsee reinschaut, die die Grundlage Ich will heute sagen, dass ich den vorliegenden Gesetz- für die Beratungen im Parlamentarischen Rat 1948/1949 entwurf der Grünen richtig und wichtig finde. Ich glaube, gewesen sind, dann stellt man erst einmal erstaunt fest, unsere gemeinsame Herausforderung im Lichte der Be- 24770 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Dirk Wiese (A) schlüsse vom Mittwoch wird jetzt allerdings sein, dass zum Artikel 3 Absatz 3 GG, dem Begriff der Rasse im (C) wir den Begriff „Rasse“ ersetzen, ohne – da hat Thorsten Grundgesetz zuwenden. Dazu haben die Kollegen Frei Frei völlig recht – das bestehende Schutzniveau zu sen- und Wiese eben schon ausgeführt, dass es keine triviale ken. sprachliche Aufgabe ist, das Problem zu beheben, ohne den Schutzraum zu verengen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Momentan sagt Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz, dass Diese Herausforderung – das will ich auch all denjeni- niemand „wegen … seiner Rasse … benachteiligt oder gen sagen, die jetzt schnell einen anderen Begriff zur bevorzugt werden“ darf. Auf den ersten Blick ist diese Hand haben – wird juristisch nicht ganz einfach werden. Unrechtskennzeichnung auch nicht zu beanstanden; Wir sollten uns gemeinsam die Zeit nehmen und uns aber – und das ist das Problem, das schon angesprochen fraktionsübergreifend dieser Aufgabe stellen – nicht nur worden ist – die Verwendung des Begriffes „Rasse“ im vor dem Hintergrund, dass es zur Änderung des Grund- Grundgesetz setzt voraus, dass es Rassen gibt, derentwe- gesetzes einer Zweidrittelmehrheit bedarf, sondern auch, gen man eben nicht benachteiligt werden darf. Aber – Sie weil diese wichtige Änderung sowieso von einer großen sagten es schon, Herr Kollege Frei – das entspricht nicht Mehrheit angegangen werden sollte. Da bin ich in großen den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen; auch Teilen bei dem Gesetzentwurf der Grünen und halte ihn Frau Kollegin Polat hat dies ausgeführt. Menschenrassen für richtig. Ich kann allerdings heute – das möchte ich gibt es eben nicht – im Gegensatz zu den anderen Krite- auch offen zugeben – noch keine Formulierung auf den rien in Artikel 3 Absatz 3 wie Sprache, Geschlecht, Punkt bringen, mit der letztendlich rechtssicher das Abstammung, Herkunft, Glaube. Das sind Dinge, die es aktuelle Schutzniveau erhalten bleibt. Eine solche For- gibt, wohingegen es Menschenrassen eben nicht gibt, mulierung zu finden, ist die Herausforderung, vor der meine Damen und Herren. wir in den nächsten Wochen stehen. Ich glaube jedoch, wir werden das übergreifend, aber auch getragen von der (Beifall bei der FDP) Regierungskoalition mit Elan und Engagement angehen; Deshalb müssen wir uns von diesem Begriff der Rasse denn es ist richtig. lösen, ohne die Unrechtskennzeichnung von Rassismus Ich will auch noch mal sagen, liebe Kolleginnen und aufzuheben und ohne den Schutzraum einzuengen. Das Kollegen: Die Regierungskoalition hat hier am Mittwoch ist genau das Problem, um das es geht. geliefert. Die 89 Maßnahmen zur Bekämpfung von Es gab schon mal vor vielen Jahren den Ansatz, den Rechtsextremismus und Rassismus sind wichtig. Es Begriff der Rasse einfach zu streichen; aber damit würde sind übrigens auch wichtige Punkte zur Auseinanderset- die Unrechtskennzeichnung nicht mehr im Verfassungs- zung mit dem Thema „Kolonialgeschichte und Kolonia- text selber sichtbar sein. Das Merkmal muss gleichwohl (B) lismus“ drin; das will ich noch mal unterstreichen. Es soll weiterhin benannt werden, ohne sich die Rassentheorie (D) ebenfalls zur Einsetzung eines Bundesbeauftragten gegen anzueignen. Rassismus kommen. Entscheidend ist auch: Wir werden gleichzeitig Richtern mit der Schließung von Lücken bei Deswegen gab es als Zwischenschritt die Überlegung, der Strafbarkeit von verhetzenden, antisemitischen, aber ob man das Verbot der Benachteiligung aus rassistischen auch rassistischen Beleidigungen ein besseres Hand- Gründen ins Grundgesetz aufnehmen solle. Das löst aber werkszeug in die Hand geben. das Problem auch nicht; denn es kommt ja eigentlich nicht darauf an, welche Gründe jemand für sein Verhalten Von daher glaube ich: Es ist ein wichtiger Punkt, dass hat, sondern ob objektive Kriterien jemandem einen wir auch im Dialog mit einer breiten Zivilgesellschaft Nachteil zuweisen, weil er einer bestimmten Volksgruppe letztendlich diese Maßnahmen auf den Weg gebracht zugewiesen wird oder weil er tatsächliche oder vermeint- haben. Und ich kann nur sagen: Gehen wir gemeinsam liche vererbbare Merkmale aufweist. dieses wichtige Verfahren an, gehen wir gemeinsam diese All das reflektieren zwar die beiden Gesetzentwürfe Grundgesetzänderung an. von Grünen und Linken, die wir heute beraten; aber in Vielen Dank. Wirklichkeit macht es die Sache nicht besser, nur von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einer „Benachteiligung“ zu sprechen, wenn jemand ras- der CDU/CSU und der Abg. Claudia Roth sistisch diskriminiert wird. Denn auch das entspringt ja [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) einer Geisteshaltung; „rassistisch“ ist ein innerer Tatbe- stand. Wir müssen aber, um jetzt das Gute zu tun, ohne dabei den Verfassungstext zu verschlechtern, überlegen, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ob es nicht auch Fallgruppen und Fallgestaltungen geben Vielen Dank, Herr Kollege Wiese. – Als nächstem kann, in denen jemand wegen seiner ethnischen Zuge- Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Stephan hörigkeit schlechtergestellt wird, das aber gar nichts mit Thomae, FDP-Fraktion. einer inneren Geisteshaltung, also „rassistisch“ oder (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thorsten „Rassismus“, zu tun hat. Diese Fälle wollen wir nicht Frei [CDU/CSU]) ausschließen, und das hinzubekommen, ist die nicht tri- viale Aufgabe, vor der wir hier stehen.

Stephan Thomae (FDP): (Beifall bei der FDP) Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Deswegen müssen wir gut überlegen und beraten, wel- Verehrte Kollegen! Von den fünf Vorlagen, die wir heute che Formulierungen wir wählen, damit es nicht zu einer behandeln, möchte ich mich den beiden Gesetzentwürfen Verengung des Schutzraumes kommt. Genau das wollen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24771

Stephan Thomae (A) wir eben nicht. Und hier bleibt festzustellen: Den Stein Die Diskussion um die Grundsatzfragen im Parlamen- (C) der Weisen hat noch keiner gefunden. Die Systematik, tarischen Rat, an der sich Mangoldt, aber auch die ande- abstraktive Substantiva zu nutzen, die Tatsachen markie- ren Berichterstatterinnen und Berichterstatter beteiligten, ren, statt Adjektive oder Adverbien, die eben innere Hal- basierte oftmals auf rassistischen Ideologien. Ja, auch tungen, Eigenschaften, Bewertungen oder Beschreibun- einige Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben gen enthalten – das ist das Problem, mit dem wir uns selbst ein rassistisches Weltbild gehabt. In den Protokol- befassen müssen, und da sollten wir jetzt in Gespräche len des Parlamentarischen Rates zeigt sich, dass die Be- eintreten. richterstatter selber beispielsweise das N-Wort verwende- ten. Aber auch der vorhandene Antiziganismus wird Es gab schon mal im Juni dieses Jahres einen Brief erschreckend deutlich, wenn wörtlich von „asozialen Per- meines Fraktionsvorsitzenden an Ihre sonen“ gesprochen wird und Sinti und Roma als „Plage“ Fraktionsvorsitzenden, Frau Göring-Eckardt und Herrn bezeichnet werden. Ja, das kann man alles nachlesen. Hofreiter, um Gespräche aufzunehmen. Wir freuen uns sehr, dass jetzt ein Beschluss des Kabinettsausschusses Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland vorliegt, mit dem ebenfalls dieser Faden aufgenommen stellt bereits seit vielen Jahren die Forderung auf, einen wird. Das heißt: Jetzt sollten die Beratungen beginnen, wirksamen Schutz vor Diskriminierung zu verankern. wie wir uns von diesem Begriff lösen, ohne im Grunde Dabei darf man sich nicht auf einen Begriff berufen, den Schutzraum zu verengen, den wir alle erhalten wol- den rassistische Ideologien selbst hervorgebracht haben; len. Das wird anspruchsvoll, aber ich freue mich sehr denn das Grundgesetz sollte eigentlich einen Gegenent- darauf. wurf zum nationalsozialistischen Regime darstellen. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Wunsiedel- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Beschluss 2009 ausdrücklich entschieden. Umso wichti- ger ist es, dass dieses Urteil Verfassungswirklichkeit Herr Kollege. wird.

Stephan Thomae (FDP): (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank. Einige Mitgliedstaaten der EU haben bereits im Zuge der Umsetzung der Antirassismusrichtlinie den Begriff (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Claudia „Rasse“ aus ihren nationalen Gesetzen verbannt. Wir Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als Linksfraktion haben bereits 2010 gefordert, den NEN]) Begriff „Rasse“ im Grundgesetz zu ersetzen. Einige Bun- desländer haben ebenfalls ihre Landesverfassungen (B) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: reformiert oder sind gerade noch dabei. (D) Herr Kollege Thomae, herzlichen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Gökay Akbulut, Fraktion Die Dem Wortlaut „rassistisch“, den wir als Linksfraktion Linke. einfügen wollen, wohnt bereits eine Verurteilung von Rassismus inne. Dieses Bekenntnis sind wir in erster (Beifall bei der LINKEN) Linie den Opfern von Rassismus, aber auch unserer gesamten Gesellschaft schuldig. Struktureller und institu- tioneller Rassismus sind nach wie vor ein großes Problem Gökay Akbulut (DIE LINKE): in Deutschland, nicht erst seit dem rassistischen Mord an Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und George Floyd. Aber die Reaktion auf seine Tötung hat Kollegen! Wir diskutieren heute über zwei wichtige das gesellschaftliche Problem aufgezeigt, indem sich Gesetzentwürfe zur Änderung des Grundgesetzes. In Hunderttausende den Protesten der Black-Lives-Matter- unserem Gesetzentwurf geht es darum, den Begriff „Ras- Demos angeschlossen haben. se“ nicht nur zu streichen, sondern zu ersetzen. Der Begriff „Rasse“ sollte ersetzt werden durch ein Verbot Für uns ist es wichtig, dass sich das Recht klar schüt- von rassistischer Diskriminierung, sodass keine Schutz- zend vor die Menschen stellt, die rassistische Diskrimi- lücke entsteht; denn es gibt Rassismus, aber keine Ras- nierung tagtäglich erfahren. Erst vor knapp drei Wochen sen. hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung den Rassenbegriff in Anführungszeichen gesetzt. Das Zu Zeiten des Nationalsozialismus war der Diskurs um Bundesverfassungsgericht distanziert sich also selber den Begriff „Rasse“ ganz anders als heute. Dieses Welt- von dem Begriff. Gleichzeitig wird deutlich, dass die bild haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht Auslegung des Begriffs immer über die Notlösung einer einfach abgelegt. So spiegelt es sich auch heute in unserer Distanzierung von dem Begriff erfolgen muss, um den Verfassung wider. Hermann von Mangoldt, einer der Diskriminierungsschutz herzuleiten. Es bleibt abzuwar- Väter des Grundgesetzes, war Vorsitzender des Aus- ten, welche Auswirkungen diese Entscheidung des ober- schusses für Grundsatzfragen des Parlamentarischen sten deutschen Gerichts haben wird. Rates. Er selbst vertrat jedoch ein rassistisches Weltbild. So veröffentlichte der Antisemit und Nationalsozialist Insgesamt besteht in der juristischen Literatur zwar Mangoldt 1939 die rechtsvergleichende Schrift „Rassen- Konsens darüber, dass es Rassismus gibt, aber kein recht und Judentum“, in welcher er unter Bezug auf Konsens darüber, dass es keine Rassen gibt. Das wird Hitlers „Mein Kampf“ die rechtlichen Grundlagen der deutlich, wenn man beispielsweise einen Blick in die Nürnberger Gesetze mit den Verfassungen der angelsäch- juristischen Kommentare wirft. Diese werden für die sischen Länder verglich. Auslegung und Deutung des Begriffs herangezogen. 24772 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Gökay Akbulut (A) Nicht einmal dort wird von vielen Fachleuten verstanden, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (C) dass es keine Menschenrassen gibt. Teilweise finden sich und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie sogar Rechtfertigungen des Rassenbegriffs in juristischen bei Abgeordneten der LINKEN) Werken wieder. Solche Kommentare würden infolge der Rassismus ist der Nährboden von Rechtsextremismus, Grundrechtsänderung entfallen, und alle Juristinnen und Antisemitismus und jeder Form von gruppenbezogener Juristen müssten sich mit dem Verbot rassistischer Dis- Menschenfeindlichkeit. Und Rassismus hat viele Gesich- kriminierung auseinandersetzen. Das ist auch notwendig. ter. Das ist ein Grund, warum der Kampf dagegen eine (Beifall bei der LINKEN) Daueraufgabe ist und auf so vielen Ebenen geführt wer- den muss: mit den Kräften der Zivilgesellschaft, mit der Dass der Diskriminierungsschutz, den wir jetzt haben, Wissenschaft und mit den staatlichen Institutionen und nicht ausreicht, ist klar. Zahlreiche Organisationen und Behörden. auch die Antidiskriminierungsstelle verzeichnen einen Genau dieses Bündnis müssen wir stärken, damit unse- drastischen Anstieg rassistischer Diskriminierung. In re Demokratie wehrhaft bleibt und sich das Gift des Has- Gesprächen mit Wissenschaftlern, Engagierten und ses nicht weiter ausbreitet – ob in den sozialen Medien, Betroffenen wurde die Ersetzung des Begriffs „Rasse“ auf vermeintlichen Widerstandsdemos oder hier in unse- im Grundgesetz teilweise als ein Vortäuschen von rem Parlament. Denn das Grundprinzip der Entmenschli- Diskriminierungsschutz gewertet. Damit diese Ver- chung ist immer das gleiche: Erst kommt die Abgren- fassungsänderung nicht nur zu einer Alibihandlung ver- zung; Menschen werden in Schubladen eingeteilt, auf kommt, fordern wir als Linksfraktion, eine zusätzliche Herkunft und Hautfarbe reduziert. Es folgt die Stigmati- Schutz- und Förderklausel im Grundgesetz zu verankern. sierung und Entwürdigung ganzer Bevölkerungsgruppen. Mit der Einfügung der Schutzklausel wird ein Gebot zum Am Ende entsteht ein Feindbild, ein Sündenbock, der Schutz vor allen in Artikel 3 Absatz 3 GG genannten ohne Rücksicht bekämpft wird. Doch so weit lassen wir Diskriminierungsformen aufgestellt. es nicht kommen. Die Grundgesetzänderung wird nur einer von vielen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP nötigen Schritten sein, bis wir insgesamt mehr Diskrimi- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie nierungsschutz erreichen. Dennoch ist das ein wichtiger bei Abgeordneten der LINKEN) Schritt. Unsere Verfassung soll alle Menschen in diesem Land wirksam vor Ungleichbehandlung schützen, ohne Wenn wir schauen, was Menschen mit und ohne Ein- selbst einen diskriminierenden Charakter zu haben. wanderungsgeschichte wirklich wichtig im Kampf gegen Rassismus ist, dann erkennen wir, dass es der Mehrheit (Beifall bei der LINKEN) nicht zuerst um Symbole geht. Ihnen geht es um ganz (B) konkrete Lebenssituationen, ihnen geht es um Aufklä- (D) Zum Maßnahmenkatalog des Kabinettsausschusses rung, Bildung und Lehrpläne in den Schulen, um mehr kann ich nur sagen, dass wir viele Maßnahmen unterstüt- Begegnungen und vor allen Dingen um gegenseitige zen. Für uns ist jedoch wichtig, dass die Maßnahmen Wertschätzung in einer vielfältigen Gesellschaft. Hier dauerhaft finanziert werden, und vor allem, dass die Eva- müssen wir ansetzen; denn nur so packen wir Rassismus luation gemeinsam mit der Zivilgesellschaft gestaltet an der Wurzel. wird. Genau das macht der Kabinettsausschuss zur Bekämp- Vielen Dank. fung von Rechtsextremismus und Rassismus. Wir haben am Mittwoch die Ergebnisse unserer Arbeit vorgestellt. (Beifall bei der LINKEN) Sie sind historisch ein echter Meilenstein; denn wir wer- den mit 89 Maßnahmen nicht nur Strafverfolgung, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Sicherheitsbehörden und Programme zur Prävention Vielen Dank, Frau Kollegin Akbulut. – Ich erteile nun- und Demokratiearbeit mit über 1 Milliarde Euro in den mehr der Frau Staatsministerin Annette Widmann-Mauz nächsten vier Jahren stärken. Nein, wir werden der das Wort. gesamtgesellschaftlichen Relevanz, die der Kampf gegen Rassismus hat, endlich gerecht. (Beifall bei der CDU/CSU) Darum haben wir ganz bewusst die Perspektive der Opfer von Rassismus und der Migrantenorganisationen in den Kabinettsausschuss integriert. Wir schaffen ein Annette Widmann-Mauz, Staatsministerin bei der Beratungszentrum als bundesweite niederschwellige Bundeskanzlerin: Anlaufstelle mit einer Hotline, die für Opfer von Alltags- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! rassismus, aber auch für Angehörige, Lehrer oder Arbeit- Ajla Kurtovic verlor bei der rassistischen Mordtat in geber schnell und unbürokratisch erreichbar ist, die hilft, Hanau ihren Bruder Hamza. Sie hat bei der Trauerfeier die Betroffenen an bestehende Opferberatungs- und Anti- am 4. März gesagt: Deutschland ist unsere Heimat. Sor- diskriminierungsstellen weiterzuleiten. gen Sie dafür, liebe Politikerinnen und Politiker, dass sich so eine Tat nicht wiederholen kann. Verbannen Sie das Wir wollen das Wort „Rasse“ im Grundgesetz ersetzen, Gift des Rassismus aus unserer Gesellschaft, damit wir ohne den Schutzgehalt in Artikel 3 zu schmälern; denn alle friedlich in diesem Land leben können. – Ich war Sprache prägt das Denken. Welch hässliche Blüten genau damals in Hanau, und ich verstehe diese Worte als einen das treiben kann, haben wir heute hier im Haus, in dieser Auftrag für uns alle, liebe Kolleginnen und Kollegen. Debatte, schon erlebt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24773

Staatsministerin Annette Widmann-Mauz bei der Bundeskanzlerin (A) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- (Beifall bei der AfD) (C) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD und der Abg. Ulla Jelpke [DIE Dr. Marc Jongen (AfD): LINKE]) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Anti- Wir richten einen Expertenrat für Integration und Viel- rassismus ist derjenige Missstand, für dessen Bekämp- falt ein, damit die wichtige Expertise aus den Migrante- fung er sich hält. Zu keinem anderen Urteil kann man norganisationen und aus der Wissenschaft dauerhaft ge- gelangen, wenn man die heutige Debatte hier verfolgt hört und berücksichtigt wird. Und wir werden auch eine und die geradezu hysterischen und jedenfalls heuchler- Diversitätsstrategie für den öffentlichen Dienst und die ischen Vorlagen der Grünen und Linken zum Antirassis- Bundesministerien mit zeitgemäßen Auswahlverfahren mus liest. bei Bewerbungen und Einstellungen, mit Diversitätsleit- (Zuruf von der AfD: Sehr richtig, Herr Kolle- linien in den Ministerien entwickeln; denn Behörden ge!) müssen Spiegel unserer Gesellschaft sein. Das stärkt das Vertrauen in unsere staatlichen Institutionen, und Ein „friedliches und chancengerechtes Zusammenle- das liefert nicht nur in der Wirtschaft nachweislich bes- ben“ wollen Sie erreichen. In Wahrheit spalten Sie doch sere Ergebnisse. die Gesellschaft Klar ist aber auch: Mit staatlichen Maßnahmen und (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gesetzen allein werden wir den Kampf gegen Rechts- NEN]: Sagt der Richtige!) extremismus und Rassismus nicht gewinnen. Wir brau- in die angeblich bösen rassistischen Einheimischen und chen die Mitwirkung der ganzen Gesellschaft. Es geht die angeblich nur guten unterdrückten Migranten und auch darum, dass wir ein Bewusstsein und eine Sensibi- Minderheiten. lität dafür entwickeln, wo Menschen im Alltag, am Arbeitsplatz, im Supermarkt oder bei der Wohnungssu- (Beifall bei der AfD – Ulle Schauws [BÜND- che bewusst oder unbewusst diskriminiert werden. Und NIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie nicht rich- wir brauchen ein Selbstverständnis in der Gesellschaft, tig zugehört?) das Vielfalt nicht nur als Realität, sondern auch als Nor- Dieses simple Schwarz-Weiß-Denken ist nicht getragen malität begreift, ein Selbstverständnis, das klar bekennt: von Menschenliebe, wie Sie sich selbst und der Öffent- Ja, auch Vielfalt, auch die 21 Millionen Menschen mit lichkeit vormachen, sondern von einem tiefsitzenden Einwanderungsgeschichte haben uns zu einem erfolgrei- antideutschen Ressentiment und von kulturellem Selbst- chen und wohlhabenden Land in der Mitte Europas hass. Die ethnischen Bruchlinien, deren Existenz Sie gemacht. leugnen, vertiefen Sie in Wahrheit eben damit immer (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie mehr. der Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD] und (Beifall bei der AfD) Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Die Folgen Ihres Rassismuswahns erleben wir doch GRÜNEN]) schon. Die von Ihnen regelmäßig als rassistisch denun- Und nein, die Opfer von Rassismus und Diskriminie- zierte Polizei wird angepöbelt, bespuckt, tätlich angegrif- rung sind keine Fremden; sie sind Teil dieses Landes, fen. Kriminelle migrantische Jugendbanden und Links- genau des Deutschlands, das wir kennen, sehr geehrter extremisten verlieren jeden Respekt vor ihr und fühlen Herr Baumann. Es sind nämlich unsere Nachbarn, Freun- sich legitimiert von Ihnen. Bürger trauen sich kein Wort de, Arbeitskollegen, die täglich ihren Beitrag für dieses mehr dazu zu sagen, weil sie sich dann von der herrsch- Land leisten. enden Ideologie als rassistisch und menschenfeindlich (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP denunziert sehen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der AfD) Zusammen sind wir Deutschland, zusammen sind wir Dass Sie die offen gewalttätige und aggressiv antiweiße eins. Wenn wir das erkennen und das Einende wertschät- Black-Lives-Matter-Bewegung, die übrigens auch zen, dann ist das die beste Prävention. Das schulden wir Schwarze massiv geschädigt hat, mehrfach positiv den Opfern, und das schulden wir Ajla Kurtovic. erwähnen, spricht Bände und zeigt Ihre linksradikale Vielen Dank. Gesinnung. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) SES 90/DIE GRÜNEN) Der französisch-jüdische Philosoph Alain Finkielkraut Vizepräsident Wolfgang Kubicki: hat die Ideologie des Antirassismus als den „Kommunis- Vielen Dank, Frau Staatministerin. – Die Unionsfrak- mus des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. tion kann sich schon mal überlegen, wem von den nach- (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- folgenden Rednern ich eine Minute Redezeit abziehen NEN]: Ja genau!) darf. Eine Minute vierzig zu überziehen, das ist schon Diese Ideologie strebe unter dem Deckmantel der Gleich- eine Menge. heit nach der Zerstörung der europäischen Zivilisation. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, Den Beweis sehen wir auf den Straßen der USA und in AfD-Fraktion. erschreckendem Ausmaß auch schon hierzulande. 24774 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Dr. Marc Jongen (A) (Beifall bei der AfD) und eine weitere Milliarde im Kampf gegen rechts, unter (C) anderem für die „Stasi-Antonio-Stiftung“, für die Antifa. Es ist ja interessant, dass der Rassismus nichtweißer Das ist ein regelrechtes Umerziehungsprogramm für die Akteure, allen voran der arabisch-islamische Antisemitis- Bevölkerung. mus, von der antirassistischen Ideologie vollständig aus- geblendet wird. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) ( [AfD]: Hört! Hört!) Wenn Sie – ich komme zum Schluss – das Klima in diesem Land wirklich entgiften wollen, dann stoppen Kein Wort davon auch in Ihren Anträgen! Sie liefern die Sie den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus, stop- ideologische Legitimation für eine Migrationspolitik, die pen Sie auch dieses Programm, massenweise waschechte Antisemiten ins Land holt. Die Juden sind die ersten Opfer Ihres Antirassismus. Ihre (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE Reden gegen den Antisemitismus sind daher pure Heu- GRÜNEN]: Wir stoppen Sie und sonst gar chelei. nichts!) (Beifall bei der AfD) und kümmern Sie sich um die wirklichen Probleme in diesem Land. Zugleich wollen Sie jetzt das Wort „Rasse“ aus dem Vielen Dank. Grundgesetz tilgen, nach dem Motto: Rassismus ohne Rassen. Wie das Geschlecht in der Genderideologie sol- (Beifall bei der AfD) len auch alle sonstigen naturgegebenen Unterschiede zwischen den Menschen nur noch eine böswillige gesell- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: schaftliche Konstruktion sein. Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion. GRÜNEN]: Was für ein Stuss!) (Beifall bei der SPD) Ob der Begriff „Rasse“ heute noch angemessen ist, darü- ber kann man zweifellos diskutieren. Aber es ist doch Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): nicht bereits das Sehen und Benennen von natürlichen Sehr verehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle- Unterschieden rassistisch; rassistisch ist, einen Überle- ginnen und Kollegen! Sprachlosigkeit zeichnet mich in genheitsanspruch, eine Unterdrückung daraus abzuleiten. der Regel nicht aus, aber nach den Worten, die ich jetzt Zu diesem sachgerechten Rassismusbegriff müssen wir gehört habe, bin ich sprachlos – sprachlos darüber, wie zurückkehren, meine Damen und Herren. wenig unser Grundgesetz seit 1949 bei Menschen (B) gewirkt hat, mit denen ich im gleichen Atemzug als Kol- (D) (Beifall bei der AfD) lege im Deutschen Bundestag genannt werden muss. Ich Es ist ja schon gesagt worden: Die Väter und Mütter schäme mich dafür, dass es derartige Aussagen in diesem des Grundgesetzes haben sich vor dem Hintergrund der Parlament gibt. Nazibarbarei gegen jede Diskriminierung gewandt. Und (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, das waren gewiss bessere Demokraten als Sie. der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN) NEN]: Was? – Dr. Franziska Brantner [BÜND- Ich schäme mich deshalb, weil ich hier als Abgeordneter NIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!) des Deutschen Bundestages stehe, um gemeinsam für Ihr Weltbild wird tagtäglich widerlegt. Wenn Deutsch- dieses Land gegen Diskriminierung von jedermann in land so rassistisch ist, wie Sie behaupten, wieso gibt es dieser Gesellschaft zu arbeiten – für ein Deutschland, dann Hunderttausende Migranten, die hier Einlass begeh- das nicht diskriminiert, für ein Deutschland, das nicht ren und den Schleppern Tausende Dollar dafür bezahlen? rassistisch ist, für ein Deutschland, das nicht antisemi- In Wahrheit leben wir doch in dem am wenigsten rassisti- tisch ist, für ein Deutschland, das bunt und integrierend schen Deutschland aller Zeiten. Das zeigen auch die vie- ist. Das haben 1949 die Mütter und Väter unseres Grund- len gut integrierten Zuwanderer. gesetzes gewollt: nicht ausgrenzen, sondern integrieren in dieses schöne Land, in diese Bundesrepublik Deutsch- ( [SPD]: Gefällt Ihnen nicht, land, die uns seit 1949 in Frieden zu Freiheit und auch oder?) Wohlstand geführt hat. Das ist der reale Kontrast zu Ihrer grotesken Gespenster- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten seherei. der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der AfD) Nicht umsonst haben die Vorlagen der Grünen und der Die Regierung ist aber leider keinen Deut besser als die Linken, auch wenn es textlich Unterschiede gibt, eines Linksradikalen in diesem Haus. Während ringsum die gemein: Es geht darum, Artikel 3 Absatz 3 unseres Islamisten Köpfe abschneiden und Linksextremisten gan- Grundgesetzes nicht zu ändern, sondern einer Revision ze Straßenzüge verwüsten, hat das Kabinett vorgestern zu unterziehen und den Begriff „Rasse“ durch einen neu- einen Maßnahmenkatalog gegen Rassismus beschlossen zeitlichen und der jetzigen wissenschaftlichen Kenntnis entsprechenden Begriff zu ersetzen. Ich bin froh, dass der (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist aber Kabinettsbeschluss mit den 89 Maßnahmen am Mittwoch absurd, dieser Vergleich! Völlig absurd!) dieser Woche den Weg dafür eröffnet hat. Es geht zum Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24775

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) einen darum, am Grundgesetz nicht final Hand anzule- Grigorios Aggelidis (FDP): (C) gen, sondern das Grundgesetz auszutarieren, und zum Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und anderen darum, die vielen Maßnahmen zur Antidiskrimi- Kollegen! Es ist gut, dass wir diese Debatte im Parlament nierung in diesem Land auf den Weg zu bringen, damit führen, und es ist gut, dass wir hier über das Thema wir das, was in diesem Land Realität ist, nicht mehr „Antirassismus und Antidiskriminierung“ sprechen. Es erleben müssen. darf in unserem Land keine Rolle spielen, woher jemand Realität ist, dass wir wissen, wer zuerst kontrolliert kommt und woher jemand abstammt. Entscheidend muss wird, wenn in einem Omnibus oder einer U-Bahn eine doch sein, wie wir hier alle zusammen leben wollen und Kontrolle durchgeführt wird. wo wir alle zusammen hinwollen, meine Damen und Herren. (Stefan Keuter [AfD]: Der vorne sitzt!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sind es die zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben weißen, der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- hellen, netten Deutschen, oder ist es die Gruppe von vier SES 90/DIE GRÜNEN) südländisch aussehenden Menschen? Ich kann es Ihnen sagen: Es sind die südländisch aussehenden Menschen. Fast 70 Jahre, nachdem die ersten Gastarbeiter herge- Wer bekommt die Wohnung, wenn man sich um eine kommen sind, muss doch klar sein: Deutschland ist ein Wohnung bewirbt? Das adrette weiße Paar oder das Einwanderungsland. Es muss aber auch klar sein: Vielfalt schwule Paar, das lesbische Paar, die Transe oder gar unter der Klammer des Grundgesetzes ist eine Bereiche- das eritreische Ehepaar mit zwei Kindern? Ich kann Ihnen rung und ist die Voraussetzung für Prosperität und eine sagen, wer sie in diesem Land bekommt. – Das alles ist gute Entwicklung, meine Damen und Herren. Diskriminierung, die wir in diesem Lande beenden müs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sen, beenden wollen und – das sage ich auch – beenden der CDU/CSU) werden. Antirassismus ist mir persönlich, muss ich Ihnen ehr- Der aus der Nazizeit stammende Begriff der Rasse, lich sagen, nicht genug, auch nicht Antidiskriminierung. (Dr. [AfD]: Verwendet auch die Wir müssen endlich, so viele Jahrzehnte später, zu einem UNO!) respektvollen Umgang miteinander in aller Vielfalt kom- men. welcher letztendlich in Artikel 3 unseres Grundgesetzes Eingang gefunden hat, hat zum Begriff des Untermen- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schen geführt, überspitzt dann zum slawischen Unter- der CDU/CSU) menschen, zum jüdischen Untermenschen, zum sexuel- Denn unser Grundgesetz fordert genau, dass es eben kei- (B) len Untermenschen – Begriffe, die wir in diesem Land nie ne Rolle spielt, welchen Hintergrund Menschen haben. (D) wieder hören wollen. Deshalb bin ich froh, dass wir für Und wir können Rassismus nur dann effektiv bekämpfen, diesen Begriff in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz partei- wenn wir genau das tun: wenn wir Akzeptanz und Res- übergreifend eine Lösung finden wollen. Ich sage ganz pekt vor Vielfalt nicht erst fördern müssen, sondern tat- deutlich, dass ich mir eine Änderung wünsche, bei der sächlich haben, wenn wir Identifikation mit dem Gemein- nicht nur die ethnischen Unterschiede, sondern auch die wesen stärken, aber auch die Herausforderungen, die eine sexuellen Identitäten in diesem Lande berücksichtigt Einwanderungsgesellschaft mit sich bringt, anpacken. werden, also alle Menschen in diesem Land. Denn egal ob farbig, zugewandert oder schon immer in Deutschland (Beifall bei der FDP) lebend, ob trans, schwul oder lesbisch, Ich möchte ein persönliches Erlebnis nennen, das (Nicole Höchst [AfD]: Andersdenkende!) mich – gerade auch nach dem, was Frau Widmann- Mauz im Familienausschuss berichtet hat – noch 40 Jahre alle diese Menschen gehören zu Deutschland. Dies ist danach wirklich auf die Palme bringt. Vor 40 Jahren durf- unser Deutschland. Wir sind dieses Deutschland. te sich ein kleiner Junge mit griechischem Migrations- hintergrund von seiner Mathelehrerin anhören: Es ist Vizepräsident Wolfgang Kubicki: echt schade, dass ich dir eine Drei geben muss und keine Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss. Vier geben kann. – Dass wir 40 Jahre später immer noch Studien darüber haben, dass Kinder mit Migrationshin- tergrund bei gleichen Leistungen – bei gleichen Leistun- Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): gen! – schlechtere Noten und schlechtere Schulempfeh- Und wir gestalten dieses Deutschland und nicht Sie. lungen bekommen, ist aus meiner Sicht, meine Damen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Herren, ein Skandal der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN GRÜNEN und des Abg. Dr. Jens Brandenburg und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [Rhein-Neckar] [FDP]) und zeigt, warum diese Debatte ins Parlament gehört und nicht in Regierungszirkel. Deswegen möchte ich auch Vizepräsident Wolfgang Kubicki: weit darüber hinausgehen, irgendwelche Parallelräte – Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. – Nächster ich nenne das jetzt mal so – zu fördern. Ich möchte, Redner ist der Kollege Grigorios Aggelidis, FDP-Frak- dass wir die Migrantenorganisationen nachhaltig stärken, tion. damit sie selber Teil der aktiven Zivilgesellschaft unseres (Beifall bei der FDP) Landes sind. 24776 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Rassismus ist etwas, das Menschen in ihren Alltags- (C) Herr Kollege Aggelidis, eine kurze Unterbrechung. erfahrungen spüren, weil sie sich ausgegrenzt vorkom- Der Kollege Rix bekommt von mir einen Ordnungsruf men, weil sie einen anderen Namen tragen oder eine wegen Nichttragen der Maske. – Entschuldigung, Sie andere Hautfarbe haben. Aber Rassismus war auch das können jetzt weiterreden. Motiv für schrecklichste Verbrechen in unserem Land: für die Mordserie des NSU, für die Tat von Halle oder von Hanau. Deswegen macht es mich hier sehr betroffen – Grigorios Aggelidis (FDP): und das sage ich an die rechte Ecke des Hauses gerich- Danke. – Wir müssen faire und gleiche Chancen schaf- tet –, von Ihnen rassistische Stereotype zu hören, aber fen, damit sich alle Menschen hier in demokratische kein Wort der Empathie den Opfern gegenüber. Strukturen einbringen und an ihnen teilhaben können. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Wer Vielfalt und Antirassismus will, für den, meine der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Damen und Herren auch von der CDU – das muss ich GRÜNEN) mit einem gewissen Bedauern sagen –, ist doch klar: Integration heißt eben nicht, dass man im Gleichschritt Wir sprechen heute über die Frage der Notwendigkeit leben oder denken muss. Bei Integration geht es auch einer Änderung des Begriffs „Rasse“ in Artikel 3 Grund- nicht um die Frage nach einer völlig überholten Leitkul- gesetz. Es ist richtig, wie einige Vorredner deutlich turdebatte, sondern um die Frage: Nach welchen Regeln gemacht haben, dass es keine Menschenrassen gibt, wollen wir leben? dass dies zu den größten Irrlehren der Geschichte gehört. Deswegen sage ich Ihnen, Herr Kollege Jongen: Es ist (Beifall bei der FDP) nicht diskussionsfähig, ob es Rassen gibt oder nicht. Die gibt es nicht! Wer darüber diskutiert, bereitet einer rassis- Wie wollen wir eine gemeinsame Zukunft aufbauen? Und tischen Ideologie den Boden. wie wollen wir unsere gemeinsame Heimat weiterentwi- ckeln? Damit schaffen wir – letzter Satz, Herr Präsident – (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, die Voraussetzungen für Respekt vor Vielfalt und respek- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE tieren endlich auch die Lebensleistung der Millionen GRÜNEN) Menschen, die hierhergekommen sind und dieses Land Der Begriff „Rasse“ im Grundgesetz ist die direkte zu dem gemacht haben, was es heute ist. Und es ist eine Antwort auf die Nürnberger Rassegesetze, die den Weg Einladung an all jene, die wir hier haben wollen, meine gebahnt haben zu den schrecklichsten Menschheitsver- Damen und Herren. brechen bis hin zur Shoah. Der Begriff „Rasse“ ist aber (Beifall bei der FDP) auch Teil einer zutiefst antirassistischen Haltung. Der (B) Schutz vor rassistischer Diskriminierung findet sich nicht (D) Deswegen: Lassen Sie uns alle zusammenstehen – für nur im Grundgesetz, sondern im gleichen Zeitraum auch Vielfalt und für Freiheit im Geiste unseres Grundgeset- in der Europäischen Menschenrechtskonvention oder in zes. der UN-Charta. Und es hat sich in den letzten 50 Jahren immer gezeigt, dass dieser Begriff gemeint hat: Wir müs- Danke. sen gegen Rassismus vorgehen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gleichwohl kann ich verstehen, wenn Betroffene der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- sagen: Wenn sich ein Sprachbild in der Gesellschaft SES 90/DIE GRÜNEN) ändert, lasst uns doch über diesen Begriff sprechen. – Ja, wir können und, ich meine, wir müssen über diesen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Begriff sprechen. Aber worüber wir nicht sprechen dür- Kollege Aggelidis, vielen Dank. – Also, dass vier nicht fen, ist, dass es weniger Schutz gibt. Es muss in Artikel 3 eins ist, weiß man auch, wenn man in Mathe eine Drei Grundgesetz klar und deutlich gemacht werden, dass es bekommen hat. ganz vorn in unserer Verfassung eine klare Ansage gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen gruppenbezo- (Heiterkeit) gene Menschenfeindlichkeit gibt. Das ist der Kern unse- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, res Grundgesetzes und die Seele unserer Demokratie und CDU/CSU-Fraktion. des Zusammenlebens. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Beifall bei der CDU/CSU) FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Deswegen bitte ich, dass wir uns sehr klar und deutlich Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- überlegen, mit welchem Begriff wir in Artikel 3 des ren! Rassismus ist eine Schande. Er entwürdigt und ent- Grundgesetzes diesen besonderen Schutz gewährleisten. menschlicht. Er ist Gift für das Zusammenleben in einer Es ist wichtig, dass vor allen Dingen die Betroffenen Gesellschaft. Es ist Aufgabe aller demokratischen Kräfte, deutlich sehen, dass das Grundgesetz sich hier um sie Rassismus zu benennen, ihn zu ächten und mit aller Kraft kümmert. zu bekämpfen. Wir wissen auch, dass eine grundgesetzliche Veranke- (Beifall des Abg. Dr. rung eines Worts allein das Problem nicht beseitigt, son- [CDU/CSU]) dern dass wir nach wie vor in unserer Gesellschaft stark Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24777

Dr. Volker Ullrich (A) gegen Rassismus, gegen Ausgrenzung und gegen Anti- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) semitismus aufstehen müssen. Das bedeutet, dass die Herr Kollege Lindh, erlauben Sie eine Zwischenfrage Sicherheitsbehörden, dass der Staat gefordert ist. Aber von Herrn Jongen aus der AfD-Fraktion? das bedeutet auch eine Verantwortung von jedem Einzel- nen. Das bedeutet Zivilcourage, das bedeutet Hinsehen, Helge Lindh (SPD): das bedeutet Toleranz und das bedeutet ein Einstehen für Ich erlaube gerne eine Zwischenfrage von Herrn die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Rassismus Jongen, weil die Beantwortung immer ein sehr lehrrei- zu bekämpfen, ist im Kern von demokratischen Kräften ches Erlebnis für ihn ist. angelegt. Deswegen bitte ich, dass wir diese Grund- gesetzänderung und die vielen anderen Themen, die im (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der Kabinettsausschuss beschlossen worden sind, gemein- CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- sam angehen, in einer gemeinsamen Haltung demokrati- SES 90/DIE GRÜNEN) scher Kräfte. Herzlichen Dank. Dr. Marc Jongen (AfD): Vielen Dank, Herr Lindh, dass Sie die Zwischenfrage (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP zulassen. – Ich glaube, es wird vor allen Dingen ein lehr- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) reiches Erlebnis für die Zuschauer unserer Debatte sein. Sie haben gerade behauptet, wir würden hier für einen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: „Rassismus mit Rassen“ plädieren. Sie haben uns quasi Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. unterstellt, Rassisten zu sein. Aus meiner Rede werden Sie das nicht ableiten können; Ich nutze die Pause, um noch einmal auf die Allge- meinverfügung des Bundestagspräsidenten hinzuweisen. (Simone Barrientos [DIE LINKE]: Doch! Die Mund-Nase-Bedeckung muss nicht getragen werden, Doch! Ganz einfach sogar!) wenn Sie sitzen oder von hier vorne reden. Sowie Sie sich aber das steht Ihnen natürlich sozusagen frei. Solche in Bewegung setzen, ist die Mund-Nase-Bedeckung zu Unterstellungen sind wir ja gewohnt. tragen. Ich sehe immer wieder, dass Kolleginnen und Ich möchte jetzt aber auf Ihren Rassismusbegriff zu Kollegen aufstehen und durch den Saal laufen, ohne sie sprechen kommen und Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, zu tragen. Ich bitte darum, das wirklich zu beachten, weil dass es in den USA – ich zitiere hier aus einer englischen das Präsidium angesichts der allgemeinen Lage in Wikipedia-Seite, die darüber berichtet – „five racial cate- Deutschland sich entschieden hat, jetzt auch hart durch- gories“ gibt, nämlich „White American, Black or African (B) zugreifen. American, Native American, Alaska Native, Asian Ame- (D) (Beifall des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) rican, Native Hawaiian, and Other Pacific Islander“? Das ist also offizielle US-Politik. Was man daraus ableiten Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD- kann: Die USA sehen hier sozusagen naturgegebene Fraktion. Unterschiede zwischen den Menschengruppen. Sie nen- nen sie „Rassen“, wir können sie anders nennen. (Beifall bei der SPD) (Jörg Cezanne [DIE LINKE]: Das ist ein dum- mes Zeug! Beschäftigen Sie sich mal mit der Helge Lindh (SPD): Frage, wie das in den USA definiert wird! Das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ist hat damit überhaupt nichts zu tun!) Dieter Nuhr ein Rassist? Ich überlasse es Ihnen, zu über- legen und zu entscheiden. Aber dieser aktuelle Fall sagt Darum geht es nicht; es geht nicht um die Benennung. Es sehr viel darüber aus, wie wir in diesem Land mit Ras- geht darum, die naturgegebenen Unterschiede zwischen sismus umgehen. den Menschen anzuerkennen und dann den Anspruch zurückzuweisen, dass eine Gruppe sich über die andere Ähnlich viel sagt darüber das Sprechen und Schreiben erhebt und sozusagen einen Unterdrückungsanspruch aus der AfD zu den Begriffen „Rassismus“, „Rasse“ und diesen Unterschieden ableitet. Das wäre ein vernünftiger „Kultur“ aus. Aber noch viel mehr offenbart darüber Begriff von Rassismus. das tagtägliche Erleben von Opfern von Rassismus, von Stimmen Sie dem zu, oder teilen Sie sozusagen die schwarzen Menschen, von Musliminnen und Muslimen, konstruktivistische, tendenziell linksradikale Meinung, von Roma, die tagtäglich buchstäblich Rassismus erfah- ren und das eben nicht abschütteln können. (Simone Barrientos [DIE LINKE]: So viel Dummheit auf einem Haufen! Mann, Mann, Die AfD plädiert, um ihren Antrag zusammenzufassen, Mann!) gegen das Konzept „Rassismus ohne Rassen“, das auf einen Begriff von Stuart Hall und Balibar Bezug nimmt, dass es so was wie naturgegebene Unterschiede gar nicht und auch gegen den „Kulturrassismus“. Letztlich plädie- gibt, dass das alles nur unsere gesellschaftliche Konstruk- ren Sie für einen Rassismus mit Rassen. Sie plädieren tion sei? letztlich für Rassenlehre, und das muss klar so benannt werden. Dafür braucht es nicht siebenseitige Elogen. Sie Helge Lindh (SPD): hätten das in einem Satz machen können; Sie haben es Ich bin erst mal aus dem Grund dankbar für die Frage, eben vorgeführt. dass ich jetzt das Thema noch breiter aufgreifen kann, 24778 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Helge Lindh (A) (Grigorios Aggelidis [FDP]: Nein! Quatsch Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) bleibt Quatsch, auch wenn man länger darüber Herr Kollege. redet!) obwohl Sie gerade selbst den Beweis geführt haben, dass Helge Lindh (SPD): Sie rassistischem Denken anhängen, wie Sie es gerade Aber auf diese Masche fällt niemand herein, der mit deutlich gemacht haben. Gleichwohl nutze ich die Gele- Verstand ausgestattet ist. genheit zu einer Einführung, ohne Hoffnung auf Ver- ständnis und Empathie bei Ihnen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Jawohl, jeder mit einigermaßen Verstand sollte heutzu- Herr Kollege, ist das noch Teil Ihrer Antwort, oder ist tage, im Jahre 2020, begriffen haben, dass Rassen ein das schon Ihre fortführende Rede? soziales Konstrukt darstellen. Man nennt das den „Pro- zess der Rassifizierung“. Nicht Rassen konstituieren Ras- sismus, sondern Rassismus konstituiert Rassen, was Sie Helge Lindh (SPD): ja in Ihrem Antrag und Ihren Ausführungen gerade best- Das war noch Antwort. möglich demonstriert haben, (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/ was Sie mit Ihren Ausführungen, mit Ihrer Stimmungs- DIE GRÜNEN) mache, mit Ihrem siebenseitigen Sichabarbeiten am IKG, an dem Begriff „gruppenbezogene Menschenfeindlich- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: keit“, am Begriff „Rassismus ohne Rassen“ beweisen. Ich bitte darum, dass niemand mehr den Kollegen Sie haben es ja noch weiter bewiesen: Sie haben eben Lindh fragt, weil er jetzt vier Minuten auf eine Frage fünf Kategorien aufgeführt, mit denen Sie genau zeigen geantwortet hat. wollten, dass es angeblich doch biologisch motivierte Rassen gebe. Helge Lindh (SPD): Noch etwas. Ich höre Ihnen immer gut zu. Das ist Ihr Aber es gilt das Äquivalenzprinzip, und diese Frage Problem; denn Sie hören mir nicht genau zu, aber Sie oder Scheinfrage war auch vier Minuten lang. sollten das. Sie zitierten am Anfang sinngemäß Sarrazin, „Deutschland schafft sich ab“, und haben das bewusst Ich komme aber jetzt zurück zu meinem eigentlichen gesetzt. Thema. Ich hatte nicht nur auf die AfD bewusst verwie- sen, sondern auch auf den Fall Nuhr, weil man aus diesem (B) (D) (Volker Münz [AfD]: Sarrazin hat er nicht zi- Fall sehr viel lernen kann. Da hat sich der Kabarettist über tiert!) den Titel „Was weiße Menschen nicht über Rassismus Auch das ist letztlich ein biologistisch-rassistisches hören wollen aber wissen sollten“ des Buches von Alice Modell, in dessen Tradition Sie sich stellen. Hasters aufgeregt. Er nannte ihn „reißerisch“ und „rassis- tisch“. In seinen weiter gehenden Erläuterungen betont er Sie haben im Übrigen – erlauben Sie mir diese Zwi- auch noch, dass er keineswegs Rassist sei; er tat das sehr schenbemerkung – so lange Ausführungen gemacht, dass leidend, selbstmitleidig und larmoyant und kritisierte es für Ihre Fans schwierig sein wird, das zu schneiden. übrigens, wie Sie auch, den Begriff eines „strukturellen Aber das ist nur eine Randbemerkung, und das war wahr- Rassismus“. Wie muss sich eine solche Ausführung, eine scheinlich auch in der Sprachform etwas abgehoben. solche Darlegung in den Ohren eines Menschen anhören, Nichtsdestotrotz haben Sie selbst eben in Ihren Aus- der erlebt, was es bedeutet, als Schwarzer hier aufzu- führungen, in Ihrer Rede noch einen weiteren Beleg wachsen? Wie fühlt es sich an für eine Frau mit Hidschab, geliefert, indem Sie – das machen Sie übrigens regelmä- die tagtäglich erlebt, dass man sie nach ihren Deutsch- ßig – darauf hinwiesen, dass der französisch-jüdische kenntnissen fragt und ob sie selbstbestimmt lebe? Wie Philosoph Finkielkraut das und das sage. Wozu erwähnen fühlt es sich für einen Marokkaner an, der permanent Sie da „jüdisch“? Sie weisen in Ihren ganzen Ausfüh- Kontrollen und rassistische Blicke erlebt? rungen auch extra darauf hin, dass Jüdinnen und Juden durch Migrantinnen und Migranten besonders gefährdet (Grigorios Aggelidis [FDP]: Nennen sie jetzt würden. alle Staatsangehörigkeiten?) (Nicole Höchst [AfD]: Weil es so ist!) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol- legen, worum geht es hier eigentlich? Menschen, die ras- Das ist ein zutiefst rassistischer Ansatz, weil Sie auf diese sistisch verfolgt werden, müssen sich tagtäglich erklären, billige Weise den Antisemitismus zu instrumentalisieren beweisen, mehr Leistung bringen, rechtfertigen. Und versuchen wenn sie es dann einmal wagen, wütend zu sein und zu (Lachen der Abg. Nicole Höchst [AfD]) widersprechen und Rassismus kenntlich zu machen, pas- siert dasselbe wieder: Sie müssen sich dafür rechtferti- und Jüdinnen und Juden gegen Menschen, die aus ande- gen, erklären, beweisen. Dann kommt noch ein Nuhr oder ren Gründen rassistisch verfolgt werden, in Stellung zu die Nuhrs dieser Welt – das sind ganz viele; ich schließe bringen versuchen. mich ein – mehr oder weniger jeden Tag und sagen: Wie (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- könnt ihr uns „rassistisch“ nennen? Dafür müssen sie sich SES 90/DIE GRÜNEN) dann auch noch entschuldigen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24779

Helge Lindh (A) All die Maßnahmen, die wir jetzt planen, ein Demo- Gleichwohl sind auch wir der Überzeugung, dass es (C) kratiefördergesetz, eine Rassismusbeauftragte, ein Minis- sich lohnt, über die Novellierung dieses Gesetzes nach- terium – so hoffe ich –, das sich um Diversität, Gleich- zudenken, und das wollen wir mit Ihnen gemeinsam auch stellung kümmern wird, und flächendeckende tun. Denn jedem, der mit offenen Augen und offenem Meldestellen für Diskriminierungserfahrungen machen Herzen durchs dieses Land geht, wird klar: Wir haben doch nur Sinn vor dem Hintergrund folgender Erkennt- Diskriminierung rauf und runter, wir haben latente Dis- nis: Beim Kampf gegen Rassismus geht es doch ver- kriminierung, offensichtliche Diskriminierung, wir haben dammt noch mal nicht um die Befindlichkeiten und sie in struktureller Form und in persönlicher Form. Bedürfnisse und Empfindlichkeiten von weißen Men- schen. Begreifen Sie das nicht? Es geht um die Erfah- Wir müssen auch darüber nachdenken – lassen Sie rungen, die Befindlichkeiten und die Bedürfnisse der mich ganz kurz darauf hinweisen; mir ist eine Minute Opfer von Rassismus, der schwarzen Menschen, der Redezeit weggenommen worden –: Woher kommt denn Musliminnen und Muslime, der Roma und Romnija. Sie eigentlich Diskriminierung? Woher kommt Rassismus? gehören in den Mittelpunkt! Es kommt daher, weil die meisten Menschen, Gruppen, (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Institutionen, Nationen eine wackelige Identität haben, des Abg. [BÜNDNIS 90/DIE weil sie glauben, sie müssen besser sein als die anderen, GRÜNEN]) weil sie ihre Identität – das gilt auch zwischenmensch- lich – immer dadurch definieren, dass sie dem anderen überlegen sein müssen und der andere ein bisschen we- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: niger wert ist. Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss. Ich wünsche mir – das ist ein Bekenntnis; ich fürchte Helge Lindh (SPD): überhaupt nicht um meine Identität, denn das ist meine Wir brauchen keine AfD. Aber wir brauchen ein Identität –, dass ich in eine Welt hineinwachse, in der der Bekenntnis zur Diversität: nicht als Gutmenschenaktion, Tatsache, dass die Welt sich wandelt, Rechnung getragen nicht als Utopie oder Hoffnung, sondern als Anerken- wird, dass wir neue moralische Prinzipien von Zusam- nung der Realität einer diversen Gesellschaft. menleben aufstellen, die wir dann nach und nach auch in Gesetze überführen. So war das immer, und da sind (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie wir auf einem guten Weg. Wir wollen den Menschen, die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Angst um die Zukunft haben, weil sie nicht mehr tolle GRÜNEN) Deutsche sind, zuhören. Ich fühle mich wirklich als Deut- (B) scher, und ich freue mich, dass wir dieses Grundgesetz (D) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: haben und dass wir mit diesem Grundgesetz tatsächlich Vielen Dank, Herr Kollege Lindh, Sie hatten heute die an einer neuen Welt mitbauen, dass meine Enkel nicht absolut längste Redezeit. mehr im Krieg leben müssen, weil sie sich besser fühlen als die anderen oder schlechter fühlen als die anderen. (Grigorios Aggelidis [FDP]: Das wird von seiner nächsten Rede abgezogen!) Nächster und letzter Redner zu diesem Tagesordnungs- (Nicole Höchst [AfD]: Der Krieg ist jetzt auf punkt ist der Kollege Martin Patzelt, CDU/CSU-Frak- den Schulhöfen, Herr Patzelt!) tion. Wir sind auf dem richtigen Weg; wir haben noch viel (Beifall bei der CDU/CSU) vor. Lassen Sie es uns anpacken! Der Diskriminierungs- beauftragte darf kein Feigenblatt sein; es darf nicht so Martin Patzelt (CDU/CSU): sein, dass wir diese Institution schaffen, mit ein paar Mit- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- arbeitern und ein bisschen Geld ausstatten und dann ne Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Wir werden als sagen: Jetzt haben wir es gepackt. – Nein. Antidiskrimi- Fraktion der CDU/CSU dem Gesetzentwurf der Grünen- nierung ist die Aufgabe von jedem in unserer Gesell- fraktion zur Novellierung des Allgemeinen Gleichbe- schaft, angefangen bei uns selbst; mein Vorredner hat es handlungsgesetzes nicht zustimmen. Das sage ich gleich gesagt: Wir müssen selber darauf achten. Wir sind oft einmal vorab, und damit wäre meine Redezeit eigentlich diskriminierend, weil wir auch immer im Konkurrenz- schon fast zu Ende, Herr Präsident. kampf stehen und entsprechend denken und fühlen. Das haben wir nicht nötig. Wir können kooperieren, wir kön- (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und nen eine ganz neue Gemeinschaft von Menschen mithel- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fen aufzubauen. Ich werde es nicht mehr erleben; aber es Aber ich will noch sagen, warum: weil wir uns im Minis- geht voran. terium in einem laufenden Besetzungsverfahren befin- den, es sind Konkurrentenklagen anhängig; das ist alles Danke. nicht ausgestanden. Es ist in die nächste Instanz gegan- gen, und in einer solchen Situation kann man nicht grund- sätzlich die Pferde wechseln. Das ist unsere Auffassung, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und deswegen lehnen wir das erst einmal ab. ordneten der SPD) 24780 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten (C) Vielen Dank, Herr Kollege. Sie hätten offensichtlich beschlossen. – Der Platzwechsel hat stattgefunden. die Minute, die nicht ich Ihnen weggenommen habe, Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- sondern die Staatsministerin, gar nicht gebraucht; denn nerin der schleswig-holsteinischen Kollegin Petra Sie hatten jetzt noch eine Minute Redezeit. Insofern, Nicolaisen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Grigorios Aggelidis [FDP], an den Abg. Martin Patzelt [CDU/CSU] gewandt: Dann Petra Nicolaisen (CDU/CSU): muss Herr Lindh Ihnen eine geben, das nächste Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Mal!) Kollegen! Damit schließe ich die Aussprache. Die traditionellen Minderheiten waren bisher das am Tagesordnungspunkte 27 a, 27 b, 27 d und 27 e. Inter- besten bewahrte Geheimnis Europas. Die MSPI hat fraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den dieses Geheimnis gelüftet. Sie sind in Europa ange- Drucksachen 19/24636, 19/24434, 19/20628 und kommen. 19/24654 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- Das ist ein Zitat von Hans Heinrich Hansen, Ehrenpräsi- schüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Überweisungs- dent der FUEN und einer der Initiatoren der MSPI. vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann wird verfahren wie vorgeschlagen. Die europäische Bürgerinitiative „Minority SafePack“ sammelte innerhalb eines Jahres 1,1 Millionen Unter- Tagesordnungspunkt 27 c. Interfraktionell wird Über- schriften und ist aus Sicht der Antragstellerinnen und weisung der Vorlage auf Drucksache 19/24431 an die in Antragsteller sicher die erfolgreichste Initiative der der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- autochthonen nationalen Minderheiten in den letzten Jah- gen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen ren – eine großartige organisatorische Leistung! der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ich lebe in einer Region in Schleswig-Holstein, in der Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federfüh- Minderheiten und Mehrheiten harmonisch zusammenle- rung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. ben. Wir sprechen unsere Sprache, meine Kinder spre- chen die Sprache der dänischen Minderheit. Wir leben Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor- unsere Traditionen und Kulturen; die Minderheiten dies- schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt seits und jenseits der Grenze tun das ebenfalls. FUEN hat für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage- mit ihren vielfältigen Initiativen die Minderheiten sicht- (B) (D) gen? – Wer enthält sich? – Dann ist bei Enthaltung der bar gemacht. Diese Vielfalt macht die Region lebens- und FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bünd- liebenswert. Der Verlauf der deutsch-dänischen Grenze nis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktio- hat sich über die Jahre mehrmals verändert, aber die nen des Hauses der Überweisungsvorschlag abgelehnt. Menschen nicht. 100 Jahre friedliches Zusammenleben ist das Motto im Jahre 2020. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- schlag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD: Feder- Ich habe bereits im schleswig-holsteinischen Landtag führung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen diese Initiative, deren Ziel ein verstärkter Minderheiten- und Jugend. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- schutz in Europa ist, von Anfang an unterstützt. Drei von schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. vier nach dem Rahmenübereinkommen des Europarates Dann ist gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke geschützte Minderheiten in Deutschland – die Dänen, die und Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übri- Friesen und die Sinti und Roma – leben in Schleswig- gen Fraktionen des Hauses der Überweisungsvorschlag Holstein. Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit. angenommen. Wir haben die Minderheiten unter den Schutz unserer Landesverfassung gestellt, und ihr Schutz und ihre För- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf: derung ist fraktionsübergreifend Konsens in unserem a) Beratung des Antrags der Fraktionen der Bundesland. CDU/CSU und SPD Die Minderheiten sind Brückenbauer. Sie leisten einen Aufforderung an die Europäische Kom- wichtigen Beitrag für gegenseitiges Verständnis und den mission zur Umsetzung der Bürgerinitia- Frieden in Europa. Sie können jedoch nur dann Brücken- tive „Minority SafePack“ bauer sein, wenn ihre Rechte anerkannt und durchgesetzt werden und ihr Schutz und ihre Förderung in den einzel- Drucksache 19/24644 nen Staaten gewährleistet wird. Leider ist die Situation b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Filiz von vielen Minderheiten in europäischen Staaten bis heu- Polat, Luise Amtsberg, Margarete Bause, te eine andere. weiterer Abgeordneter und der Fraktion Förderung und Schutz von Minderheiten sind keine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Selbstverständlichkeit. Das Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten sowie die Europäische Unterstützung der Europäischen Bürger- Charta für Regional- oder Minderheitensprachen sind initiative „Minority SafePack“ die wirksamsten völkerrechtlichen Abkommen zur Rege- Drucksache 19/24637 lung der Belange der nationalen Minderheiten in Europa. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24781

Petra Nicolaisen (A) Sie sind im Rahmen des Europarates entstanden, jedoch und das jenseits der Staatsbürgerschaft, und dass Sie das (C) nicht von allen Mitgliedstaaten, auch nicht denen der positiv sehen. Das war schon immer die Sichtweise der Europäischen Union, gezeichnet und ratifiziert worden. AfD. Ich freue mich, dass Union, SPD und sogar die Es ist daher notwendig, dass sich der Deutsche Bun- Grünen sich jetzt mit ihren Anträgen unserer Auffassung destag und die Bundesregierung für eine erstmalige anschließen. umfassende Verankerung von Rechten zum Schutz und zur Stärkung der nationalen Minderheiten auf Ebene der (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- Europäischen Union einsetzen. Der Einfluss der Minder- ten der CDU/CSU) heiten muss weiter gestärkt werden, zumal es in der EU Zweitens. Wenn wir feststellen, dass Volksgruppen gegenläufige Tendenzen dazu gibt. Dazu brauchen die und nationale Minderheiten eine kulturelle Identität besit- Minderheiten ein unverwechselbares Gesicht, ein Zent- zen, die bewahrt werden soll, dann gilt das auch für rum, eine starke Vertretung, die auch für Brüssel sichtbar nationale Mehrheiten. Sie können nicht behaupten, natio- und schlagkräftig die Interessen der Minderheiten ver- nale Minderheiten wie die Sorben, Friesen und Dänen tritt. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass hätten eine kulturelle Identität, und gleichzeitig erklären, sich die Europäische Kommission, das Europäische Par- die nationale Mehrheit in Deutschland hätte das nicht, so lament wie auch der Rat der Europäischen Union auf wie Frau Özoğuz das gesagt hat. Das verstößt gegen die institutioneller Ebene mit dem Schutz von Minderheiten Gesetze der Denklogik. Beides, die kulturelle Identität befassen und Rechte zum Schutz der nationalen Minder- nationaler Minderheiten und die kulturelle Identität natio- heiten im Rechtsrahmen der Europäischen Union veran- naler Mehrheit, ist wertvoll. Beides muss bewahrt, beides kern. muss geschützt werden. Ich bitte um Unterstützung und danke für die Aufmerk- samkeit. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD und der LINKEN) Drittens. Die Debatte straft auch das Bundesamt für Verfassungsschutz Lügen. Es sagt, es sei verfassungs- feindlich, von einer nationalen kulturellen Identität Vizepräsident Wolfgang Kubicki: jenseits des Passes zu sprechen. Das sei, so der linke Vielen Dank, Frau Kollegin Nicolaisen. – Nächste Kampfbegriff, völkisch. Wenn es völkisch und verfas- Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch, AfD-Frak- sungswidrig ist, von nationalen Identitäten jenseits der tion. Staatsbürgerschaft auszugehen, dann wäre der Antrag (Beifall bei der AfD) von Union, SPD und Grünen auf gezielte Förderung der (B) nationalen autochthonen Minderheiten und Volksgruppen (D) völkisch und verfassungsfeindlich, was er nicht ist. Beatrix von Storch (AfD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa ist historisch gewachsen und kein Kontinent aus der Retorte (Zuruf von der AfD: Aha!) von Sozialingenieuren. Es gibt 50 Millionen Angehörige Das Ziel, kulturelle Identität zu bewahren, ist aber eben nationaler Minderheiten, 24 Amtssprachen und 60 Regio- keine verfassungsfeindliche völkische Ideologie. Es ist nal- und Minderheitensprachen. Das ist auch der große die Anerkennung gewachsener historischer Strukturen, Unterschied zwischen Europa und den USA. Margaret oder, wie der Soziologe Émile Durkheim sagen würde, Thatcher hat gesagt, Europa wurde durch die Geschichte es handelt sich um soziale Tatsachen. Es ist eine infame geschaffen und die USA durch die Philosophie. Wie Unterstellung, zu behaupten, wer die nationale Identität wahr! der Deutschen bewahren will, will Minderheiten ausgren- Europa braucht keine Vielfalt durch Einwanderung zen oder ihnen gar ihre staatsbürgerlichen Rechte neh- und Multikulti-Ideologie. Europa ist Vielfalt. Diese Viel- men. Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. falt wollen wir erhalten. Und wir wollen die Kultur der autochthonen nationalen (Beifall bei der AfD) Minderheiten ausdrücklich schützen. Darum stimmen wir dem vorliegenden Antrag der Union und SPD zu, weil er Gerade die traditionellen nationalen Minderheiten sind unserer Überzeugung entspricht, und die heißt: Wir wol- ein Gegengewicht gegen die Gleichmacherei der Globa- len ein Europa kultureller Vielfalt, kein sozialistisches listen. Die Debatte über die traditionellen nationalen Einheitseuropa und ganz gewiss keine „One World“. Minderheiten ist eine sehr wichtige, nicht nur die kon- kreten einzelnen Punkte zu ihrem Schutz, sondern auch Vielen Dank. ihre grundsätzlichen Botschaften. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der AfD) GRÜNEN]: Deshalb bekämpft die AfD auch die Sorben! Warum denn?) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Erstens. Die Anträge von Union, SPD und Grünen Vielen Dank, Frau Kollegin von Storch. – Als nächste fordern, autochthone nationale Minderheiten und Volks- Rednerin hören wir die Kollegin Sylvia Lehmann, SPD- gruppen zu fördern, die auf Herkunft, Sprache und Kultur Fraktion. beruhen – und eben nicht auf dem Pass. Damit bekennen Sie sich dazu, dass es nationale kulturelle Identität gibt, (Beifall bei der SPD) 24782 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

(A) Sylvia Lehmann (SPD): Maßnahmenpaket vor. Darin geht es unter anderem um (C) Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- kulturellen und sprachlichen Schutz inklusive Förderung, gen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich habe um Gleichstellung von staatenlosen nationalen Minder- meine Rede ganz bewusst als Fachvortrag vorbereitet, heiten wie der Sinti und Roma – sie bilden mit 12 Millio- eigens und extra für die AfD. Ich hoffe, dass insbesondere nen bis 14 Millionen Menschen die größte Gruppe der Frau von Storch jetzt gut zuhört. autochthonen Minderheiten –, aber es geht auch um die Ich beginne aber mit einem Zitat: Entwicklung eines europäischen Sprachenzentrums und die Entwicklung von Förderprogrammen für kleine Sage mir, wie die Minderheiten in deinem Land Sprachgemeinschaften sowie um die Einbindung von behandelt werden, und ich werde Dir sagen können, Minderheiten in den europäischen Regionalentwick- in was für einem Staat du lebst. lungsfonds. Das ist ein Zitat des ehemaligen dänischen Parlaments- Seit die MSPI mit überwiegend positivem Feedback präsidenten Ivar Hansen. vor dem EU-Parlament und der Kommission präsentiert In der Europäischen Union leben über 50 Millionen wurde, tickt, liebe Kolleginnen und Kollegen, im wahrs- Angehörige nationaler Minderheiten. Jeder achte EU- ten Sinne des Wortes die Uhr; denn bei europäischen Bürger gehört entweder einer Minderheit an oder spricht Bürgerinitiativen beginnt mit der Präsentation eine Drei- eine Minderheitensprache. Neben 24 Amtssprachen gibt monatsfrist. Die EU-Kommission hat nun bis zum es rund 60 Regional- und Minderheitensprachen. Der 15. Januar nächsten Jahres die Möglichkeit, zu reagieren – Europarat mit 47 europäischen und benachbarten Staaten oder die Initiative verstreicht. Just in diesem Moment spricht von 230 indigenen Sprachen und Sprachgruppen. bereiten unsere Kollegen in Analogie zu diesem Antrag Da laut UNESCO die Hälfte der über 6 000 Sprachen eine fraktionsübergreifende Resolution des Europäischen weltweit vom Aussterben bedroht ist, kommt dem Erhalt Parlaments vor. Sie wird Mitte Dezember diskutiert und von Vielfalt eine besondere Bedeutung zu. aller Voraussicht nach beschlossen, um ein eindeutiges Signal an die Kommission zu senden. (Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Die Wahrung und die Förderung der kulturellen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns heute sprachlichen Vielfalt, ein wirksamer Schutz der Rechte Vorreiter sein. Stimmen Sie diesem Antrag zu! Denn wir nationaler Minderheiten sowie ihre gleichberechtigte sind verpflichtet, prekäre Lebenssituationen zu verbes- gesellschaftliche Teilhabe sind leider auch innerhalb der sern. Wir sind auch verpflichtet, Doppelstandards endlich Europäischen Union nicht selbstverständlich, obwohl die abzuschaffen und das hohe Niveau zum Schutz von Min- (B) Wahrung der Rechte der Angehörigen von Minderheiten derheiten nicht nur von den Staaten zu fordern, die der (D) in Artikel 2 als Grundwert der europäischen Verfassung EU beitreten wollen, sondern auch von jenen, die bereits definiert ist, obwohl Artikel 3 die EU zum Schutz und zur Mitglied sind. Entwicklung des kulturellen Erbes sowie zur Wahrung (Simone Barrientos [DIE LINKE]: Ganz ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt verpflichtet, besonders!) obwohl der Europäische Gerichtshof nach einer Klage entschied, dass Vielfalt sowohl die Vielfalt zwischen als Es ist höchste Eisenbahn, dass Staaten wie Frankreich, auch die Vielfalt innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten Belgien oder Griechenland die Sprachen- und Minder- beinhaltet. Daraus folgt: Die Europäische Union darf und heitencharta des Europarates endlich ratifizieren; denn muss bei Minderheitenfragen tätig werden, natürlich die Umsetzung der MSPI kann auch Nachzügler zu solch ohne in die Kompetenz ihrer Mitgliedstaaten einzugrei- überfälligen Schritten motivieren. Und bitte tun Sie es fen. mir gleich: Fordern Sie die Europaabgeordneten Ihrer Fraktionen auf, der geplanten EU-Resolution zuzustim- Die FUEN – sie ist heute bei uns; ich darf sie herzlich men! begrüßen –, also die Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten, als hauptverantwortliche Dachorganisa- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sandra tion der autochthonen Minderheiten schreibt mit der Bubendorfer-Licht [FDP]) Minority-SafePack-Initiative inzwischen Erfolgs- Alle Beteiligten wissen, wie hürdenreich der Weg bis geschichte. Die MSPI ist die fünfte europäische Bürger- hierher gewesen ist. Deshalb Dank an Petra Nicolaisen initiative überhaupt. Sie hat somit immer noch Pionier- und Astrid Damerow von der CDU/CSU und an die charakter und schon bei der Registrierung hohe Opposition für die regelmäßigen Kleinen Anfragen. Ich Anforderungen erfüllt. Der FUEN ist es zudem gelungen, danke Herrn Bundesbeauftragten a. D. Hartmut Koschyk in kürzester Zeit über 1 Million Unterschriften zu sam- für die vorbehaltlose Unterstützung. Ich danke auch den meln. Nach Beschlüssen der Landesparlamente in Minderheitenverbänden wie der Domowina, dem Bund Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Brandenburg Lausitzer Sorben und vor allem der FUEN für die gute beschäftigen sich – wir erleben es heute – der Bundestag Zusammenarbeit. und später dann das Europäische Parlament mit ihr. Ich habe meine Rede mit einem Zitat begonnen, und (Beifall bei der SPD) ich möchte sie mit einem Zitat des Wissenschaftlers Was ist nun die Minority-SafePack-Initiative? Sie for- Martin Henry Fischer beenden: „Minderheiten sind die dert die Förderung und den Schutz der nationalen Min- Sterne des Firmaments; Mehrheiten sind das Dunkel, in derheiten auf europäischer Ebene und schlägt hierfür ein dem sie fließen.“ Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24783

Sylvia Lehmann (A) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Verstehen Sie mich nicht falsch: Alle diese anerkann- (C) ten Minderheiten in der gesamten EU haben ihre Heraus- Herzlichen Dank. forderungen, aber der jeweilige Umgang mit ihnen ist (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie dennoch zum Teil sehr unterschiedlich. Hier gibt es bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- noch großen Handlungsbedarf. Es geht um Sprache, um SES 90/DIE GRÜNEN) Traditionen, um Wissen, um Sagen, um Mythen, um Essen, um Gesellschaft, Kultur, Geschichte und vieles, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: vieles mehr; denn genau diese Diversität trägt einen star- ken Beitrag zur sprachlichen und kulturellen Vielfalt Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich möchte die Kolle- Europas bei. ginnen und Kollegen doch noch mal darauf hinweisen: Selbst ein Handy am Ohr befreit nicht von der Pflicht (Beifall bei der FDP) zum Tragen der Maske. Es ist mir schon wieder aufge- fallen, dass zwei Kolleginnen und Kollegen den Saal mit Alle Europäer sollen die Möglichkeit bekommen, zu einem Handy am Ohr verlassen haben, ohne die Maske zu definieren, wohin die Zukunft Europas geht – eine Zu- tragen. Ich werde durchgreifen – in allem Ernst. kunft, in der nicht nur große Sprachen dominieren, son- dern auch den Bedürfnissen von Minderheiten Rechnung (Beatrix von Storch [AfD]: Essen und Trin- getragen wird. Damit bleibt die kulturelle Identität ken?) bewahrt. Erst wenn etwas nicht mehr da ist, stellen wir – Am Platz können Sie machen, was Sie wollen, Frau von schmerzlich fest, wie sehr es fehlt. Storch; Der Minority SafePack ist zur wichtigsten von Minder- (Simone Barrientos [DIE LINKE]: Bitte nicht!) heiten vorangetriebenen Initiative in Europa geworden. Über 1,2 Millionen Bürger haben diese Initiative aktiv essen und trinken im Plenarsaal eigentlich auch nicht; unterstützt. Wir als FDP-Bundestagsfraktion unterstützen aber das ist wahrscheinlich nicht ordnungsruffähig. Mit den Minority SafePack und werden daher selbstverständ- dem Tragen der Masken meinen wir es aber wirklich lich auch zustimmen. ernst. Wir brauchen ein positives Signal nach Brüssel; denn Nächste Rednerin ist die Kollegin Sandra gerade bei der sprachlichen Vielfalt ist vieles in Gefahr. Bubendorfer-Licht, FDP-Fraktion. Zum Überleben einer Sprache braucht es mindestens (Beifall bei der FDP) 300 000 aktive Sprecher. In Europa haben wir mittler- weile eine sehr kritische Grenze erreicht: 80 Prozent der (B) europäischen Regional- und Minderheitensprachen sind (D) Sandra Bubendorfer-Licht (FDP): gefährdet. Lassen wir das nicht zu! Bleiben wir in Vielfalt Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten geeint! Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unie dans la diversité, unita nella diversità, united in Herzlichen Dank. diversity, in Vielfalt geeint – derselbe Satz in 4 von 24 (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten verschiedenen Sprachen, die in der Europäischen Union der CDU/CSU) als Amts- und Arbeitssprachen anerkannt sind. Die sprachliche Vielfalt ist aber um ein Vielfaches größer. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Es wird geschätzt, dass es rund 400 Minderheiten, Weil Sie so schön bayerisch geredet haben, habe ich Volksgruppen und Nationalitäten auf unserem Kontinent gerade die Überschreitung der Redezeit zugelassen. gibt. Jede siebte Person gehört einer Minderheit an, ob bewusst oder unbewusst. Diese Minderheiten haben alle (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP – Zurufe ihre Besonderheiten, ihre Einzigartigkeit und sind vor von der LINKEN) allem eine besondere Bereicherung der Vielfalt. Das ist in meinen Ohren auch eine Minderheitensprache; (Beifall bei der FDP) ich komme ja aus dem Norden. Mit dem Minority SafePack soll diese kulturelle, histori- Nächste Rednerin ist die Kollegin Simone Barrientos, sche und sprachliche Diversität erhalten, gefördert und Fraktion Die Linke. gestärkt werden. Das ist gerade deshalb wichtig, da Min- derheit in der Realität leider nicht immer gleich Minder- (Beifall bei der LINKEN) heit ist. Es gibt erhebliche Unterschiede im Umgang, in der Unterstützung und leider manchmal auch in der Simone Barrientos (DIE LINKE): gesellschaftlichen Akzeptanz. Sehr geehrter Präsident! Werte Kolleginnen und Kol- legen! „Die Demokratie ist nicht die Herrschaft der (Beifall bei der FDP) Mehrheit, sondern die Beschützerin der Minderheiten.“ Während die Sorben bereits einen Regierungschef in Das sagte der Schriftsteller Albert Camus, und er hat Sachsen stellten und die Dänen eine eigene Partei mit recht, finde ich. Dem wird die Demokratie in der EU besonderen Privilegien in Schleswig-Holstein haben, aber noch nicht gerecht. Das zeigt die Bürgerinitiative arbeiten die Friesen hart daran, ihre Kultur zu retten, „Minority SafePack – eine Million Unterschriften für und bei Sinti und Roma kämpfen wir noch heute um die Vielfalt Europas“. Wir haben es schon gehört: Mehr mehr Akzeptanz und vor allem Verständnis. als 1 Million Unterschriften kamen zusammen. Ich muss 24784 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Simone Barrientos (A) sagen: Das ist ein großartiger Erfolg, und ich möchte Meine Fraktion schließt sich den Forderungen in den (C) jenen danken, die diesen Erfolg möglich gemacht und Anträgen von Koalition und Grünen an. Auch wir fordern erkämpft haben. eine schnelle Umsetzung auf EU-Ebene durch die Kom- mission. Es gibt noch verdammt viel zu tun. Lassen wir (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- an dieser Stelle mal Worte zu Taten werden. neten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Fakt ist: Sprachen von Minderheiten drohen auszuster- ben, und das wäre ein nicht wiedergutzumachender kul- tureller Verlust. Es geht hier um die Sprachen von 8 Pro- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: zent der europäischen Bevölkerung, also um rund Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die 50 Millionen Menschen, die sie sprechen. Nur mal zum Kollegin Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen. Vergleich: Das entspricht in etwa der Bevölkerungszahl (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von Spanien. Man kann diese Minderheiten also nicht kleinreden. Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn die Grenzen unserer Sprache aber die Grenzen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und unserer Welt bedeuten, dann würden mit diesen Sprachen Kollegen! Dem Anlass entsprechend versuche ich mich ganze Welten voller einzigartiger Perspektiven für immer mal in unseren Minderheiten- und Regionalsprachen – verschwinden. Wie klein und wie arm wäre Europa dann? darin bin ich allerdings nicht gut –: Latscho dives! Dobry dźeń! Goddag! Was wir brauchen – da sind wir uns fast alle einig, – ist mehr Vielfalt. Aber wir brauchen auch Akzeptanz. Wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – aber soll Akzeptanz entstehen, wenn man nichts vonei- Marianne Schieder [SPD]: Bravo! – Stefan nander weiß, wenn also mit den Sprachen auch die Ge- Keuter [AfD]: Falsch betont!) schichte und die Geschichten verschwinden? Egal ob Ich bin froh, dass wir heute mit unseren Initiativen im Sorbinnen oder Friesen, egal ob Däninnen oder Sinti Deutschen Bundestag die autochthonen Minderheiten in und Roma: Nationale Minderheiten in Deutschland und Deutschland und der Europäischen Union in ihrer Hete- in der ganzen EU müssen respektiert und unterstützt wer- rogenität würdigen. Denn Angehörige einer Minderheit den. Da darf es keine Unterschiede in der Unterstützung verkörpern mit ihren pluralen Identitäten und Sprachen geben. Da darf es keine Zweiklassenminderheiten geben. und Kulturen unsere europäische Vielfalt; das haben die Da darf es nicht mehr oder weniger Rechte geben, bessere Kolleginnen bereits gesagt. Auch wir, die Fraktion Bünd- (B) oder schlechtere, unerwünschte oder erwünschte Minder- nis 90/Die Grünen, gratulieren dazu, dass Sie mit der (D) heiten. Das darf nicht sein. europäischen Minority-SafePack-Initiative eine der erfol- greichsten Bürgerinnen- und Bürgerinitiativen in der (Beifall bei der LINKEN) Europäischen Union vorgelegt haben. Fakt ist – auch das wurde hier schon gesagt –: Sinti und Es fehlt tatsächlich an einem wirkmächtigen, überprüf- Roma werden in Europa diskriminiert. Ihre so alte und so baren und sanktionierbaren Schutzmechanismus für Min- reiche Kultur wird weder von allen anerkannt, noch wird derheiten auf Ebene der Europäischen Union. Diese ihre Sprache angemessen gefördert. Sie werden ausge- Lücke wollen wir schließen, und wir wollen ein kraft- grenzt, sie werden angefeindet. Es gibt unzählige erschüt- volles Signal in Richtung Europäische Kommission sen- ternde Beispiele für Hass und Hetze gegen diese Bevöl- den, meine Damen und Herren. kerungsgruppe. Das sind Vorurteile und althergebrachte Minderheitenschutz muss zum gemeinsamen Ziel aller Ressentiments. Die gleichen Gründe, die die Nazis Europäerinnen und Europäer werden; da sind wir uns benutzt haben, um diese Menschen zu ermorden, werden einig. Es ist doch absurd, dass zur Aufnahme in die Euro- heute benutzt, um sie auszugrenzen. Das ist unsäglich. päische Union die Achtung und der Schutz von Minder- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- heiten nach den Kopenhagener Kriterien von 1993 ver- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN wirklicht sein müssen, dass es aber innerhalb der und der Abg. Sylvia Lehmann [SPD]) Europäischen Union selbst keinen entsprechenden Schutzmechanismus für nationale Minderheiten gibt. Das ist nicht nur falsch, es ist rassistisch. Es sind genau Das zeigt sich aktuell im Minderheitenschutz nicht nur diese Ressentiments, die zu Antiziganismus, zu Ausgren- in Europa, sondern auch in Deutschland. So fehlt es zum zung und Gewalt führen. Denn dass aus Gedanken Worte Beispiel an ausreichenden finanziellen Förderungen, an werden, haben wir hier heute wieder erlebt; dass aus Möglichkeiten, die eigene Sprache zu sprechen und zu Worten Taten werden, wissen wir auch. Der Anschlag erlernen, und an der effektiven und gleichberechtigten mit einer brennenden Fackel auf den Wohnwagen einer Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen. Und Roma-Familie im baden-württembergischen Dellmensin- Diskriminierung ist für viele Angehörige von Minderhei- gen spricht Bände. Es gibt unzählige erschütternde Bei- ten leider noch bitterer Alltag. Das gilt es zu ändern, spiele für die Folgen von Antiziganismus. Diese Men- meine Damen und Herren. schen aber leben unter uns. Sie gehören zu uns, sie gehören zu Europa. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei der LINKEN) SPD und der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24785

Filiz Polat (A) Als Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen haben wir Die deutschen Minderheiten sind wertvolle Brücken- (C) uns immer – übrigens auch die Minderheitenorganisatio- bauer zwischen der Bundesrepublik und unseren Nach- nen selbst – eine interfraktionelle Initiative als gemein- barn. Ich erinnere nur an die Worte des Siebenbürgers sames starkes Signal aus dem Deutschen Bundestag ge- Klaus Johannis, ehemaliger Bürgermeister von Hermann- wünscht. Dem hat sich die Union leider verweigert. Ich stadt, nach seiner Wahl 2014 zum Staatspräsidenten von bin auch etwas irritiert, meine Damen und Herren, dass Rumänien. Zitat: der Bundesbeauftragte für nationale Minderheiten nicht anwesend ist. Ich weiß nicht, ob er entschuldigt ist. Frau Ich habe meine ethnische Zugehörigkeit … nie in Lehmann hat es ja kurz erwähnt; sie hat ausdrücklich den Hintergrund gespielt. Mein Deutschtum hat seinem Vorgänger für seine Initiative in dem Bereich nichts mit der Bundesrepublik als Staat zu tun, son- gedankt. Ich hoffe, dass das auch für den aktuellen Bun- dern mit der Sprache und mit der Kultur. desbeauftragten gelten wird. Alle wissen jetzt, was ich meine. Meine Damen und Herren, die Regelungen der bislang durch den Europarat geprägten Minderheitenpolitik Trotzdem ist meiner Fraktion die breite parlamentari- haben sich nicht als ausreichend erwiesen. Dieses Pro- sche Unterstützung der Minority-SafePack-Initiative blem greift der vorliegende Koalitionsantrag auf. Das wichtig. Deshalb stimmen wir auch dem Antrag der Ringen um den muttersprachlichen Unterricht ist etwa Großen Koalition zu und hoffen natürlich auch auf für die deutsche Minderheit in bestimmten Ländern Zustimmung zu unserem Antrag. immer noch die größte Herausforderung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. In Rumänien leben knapp 40 000 Angehörige der deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen Minderheit, deren Kinder mehrere Schulen besu- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- chen können, darunter das berühmte Brukenthal-Gymna- KEN und der Abg. Sandra Bubendorfer-Licht sium, wo Deutsch in allen Fächern die Unterrichtssprache [FDP]) ist. In Polen hingegen, wo die deutsche Minderheit mit knapp 150 000 Menschen mehr als dreimal so groß ist, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gibt es keine einzige Schule mit Deutsch als Unterrichts- Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Nächster Redner sprache. In Slowenien wird die deutschsprachige Minder- ist der Kollege Eckhard Pols, CDU/CSU-Fraktion. heit bis heute nicht offiziell anerkannt. Daher begrüßt unsere Fraktion sehr die Bemühungen des österreichi- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Bundeskanzlers Sebastian Kurz kürzlich bei sei- nem Besuch in Ljubljana. (B) (D) Eckhard Pols (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Meine Damen und Herren, wir wollen den Minderhei- nen und Kollegen! Alle demokratischen Fraktionen in tenschutz stärken und unterstützen daher die Anliegen Landtagen und auch die hier im Bundestag sind sich der europäischen Bürgerinitiative, die EU stärker in die einig, dass die Art des Umgangs eines Staates mit seinen Pflicht zu nehmen. Auch das Europäische Parlament Minderheiten ein Gradmesser für eine gelebte, vielfältige muss sich damit befassen, dass heute über Minderheiten- Demokratie ist. Nur wenn nationale Minderheiten tole- fragen neue Konflikte vom Zaun gebrochen werden sol- riert, respektiert und auch gefördert werden, ist ihnen ein len. Dies geschieht im Geiste von Abgeordneten einer Leben und Überleben in einem anderen Kulturkreis mög- Fraktion in diesem Hohen Hause. Das legen die deut- lich. Daher ist die Minderheitenpolitik ein wichtiges schen Ermittlungen im Fall des Terroranschlags im Jah- Instrument, um den Zusammenhalt der Gesellschaft re 2018 auf das Kulturinstitut der ungarischen Minderheit sicherzustellen. in Uschgorod nahe. Die Täter sind mittlerweile zu Haft- strafen verurteilt und haben gestanden, dass das Ziel des Aus diesem Verständnis heraus hat die Union bereits Anschlags war, die Ukraine zu destabilisieren. Meine 1988 – jetzt kommen wir zu Herrn Fabritius – das Amt Fraktion wird nachfassen und nicht zulassen, dass sich des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfra- Brandstiftung aus dem Bundestag heraus wiederholen gen und nationale Minderheiten im Bereich des Bundes- wird. ministeriums des Innern geschaffen. Die Berufung des erfahrenen Vertriebenenpolitikers Dr. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. so der Bundesinnenminister Horst Seehofer 2018 – unterstreiche, dass die „Bundesregierung in der Aussied- ler- und Minderheitenpolitik eine Schwerpunktaufgabe (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. sieht“. Sandra Bubendorfer-Licht [FDP]) Unsere Fraktion kann sich für die nächste Legislatur- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: periode sogar vorstellen, das Amt konzeptionell noch zu verstärken und aufzuwerten. Denn es gibt kein Land auf Vielen Dank, Herr Kollege Pols; genau auf die Sekun- diesem Kontinent außer unserem, das in 27 Ländern de. – Abschließende Rednerin ist die Kollegin Astrid Europas und den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sow- Damerow, CDU/CSU-Fraktion und Schleswig-Holstei- jetunion deutschsprachige Minderheiten hat. Circa 1 Mil- nerin. lion Menschen sind lebendiger Teil unseres historischen Erbes, das wir gar nicht hoch genug schätzen können. (Beifall bei der CDU/CSU) 24786 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

(A) Astrid Damerow (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist viel dazu ge- (C) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! sagt worden. Mit Ausnahme des Beitrages von Frau von Verehrte Gäste und Vertreter der FUEN! Ich freue mich Storch unterstütze ich dies alles auch. außerordentlich, dass Sie hier sind. Ich freue mich außer- (Beatrix von Storch [AfD]: Wir stimmen zu! dem – ich denke, das geht heute ganz vielen so –, dass wir Da haben Sie wohl gepennt! – Weiterer Zuruf über die Minority-SafePack-Initiative im Deutschen von der AfD: Falsche Rede gezogen!) Bundestag diskutieren. Ich bedanke mich für die Initiati- ve bei den Kolleginnen Frau Lehmann und Frau Deshalb möchte ich das hier nicht wiederholen. Ich Nicolaisen. Ich freue mich auch deshalb, weil wir schon möchte aber bei euch allen, bei Ihnen allen dafür werben: 2013 im schleswig-holsteinischen Landtag – damals war Setzen Sie sich mit der Minderheitenpolitik auseinander! ich europapolitische und minderheitenpolitische Sie ist wirklich toll. Es ist ein Schatz, den wir in unserem Sprecherin – über diese Initiative diskutiert haben. In Land haben. Dass man sich für Minderheitenpolitik ein- Schleswig-Holstein haben wir über alle Fraktionsgrenzen setzen kann, ohne einer Minderheit anzugehören, sehen hinweg aktiv Stimmen gesammelt und auch mitunter- Sie an mir. Ich stamme aus dem Schwarzwald und bin zeichnet. zugezogen in Schleswig-Holstein. Aber ich kämpfe für meine Minderheiten, – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa steht für Vielfalt auch durch seine Minderheiten. Diese Vielfalt Vizepräsident Wolfgang Kubicki: erlebe ich wie auch die Kollegin Nicolaisen täglich in meinem Wahlkreis. In Nordfriesland und Dithmarschen Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss. Nord leben Friesen, Dänen sowie Sinti und Roma. Allein in dieser kleinen Region leben drei der vier anerkannten Astrid Damerow (CDU/CSU): nationalen Volksgruppen und Minderheiten. Die insge- – und meine Minderheiten haben mich stets freundlich samt fünf Sprachen in meiner Region – zählt man Roma- aufgenommen. Dafür danke ich auch. In diesem Sinne: nes dazu, sind es sogar sechs –, die Geschichte und die Lassen Sie uns weiterhin gute Minderheitenpolitik für Kultur bereichern unsere Gesellschaft. Hinzu kommt unser Land machen. dann noch der enge Kontakt nach Dänemark, zur deut- Herzlichen Dank. schen Minderheit, zu den Nordschleswigern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Im Übrigen ist es die Volksgruppe der Friesen, die mit neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ihrer Dreigliedrigkeit – Nordfriesen in Schleswig-Hol- GRÜNEN) stein, Ostfriesen und Saterfriesen in Niedersachsen und (B) (D) Westfriesen in den Niederlanden – einen Beweis für die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Qualität internationaler, interkultureller Zusammenarbeit Vielen Dank, Frau Kollegin Damerow. und Verständigung liefern, und zwar über ganz viele Bereiche hinweg, nicht zuletzt auch in der Politik, Damit schließe ich die Aussprache. Schwerpunkt Kommunalpolitik. Tagesordnungspunkt 28 a. Wir kommen zur Abstim- mung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/24644 mit dem Titel „Aufforde- der SPD) rung an die Europäische Kommission zur Umsetzung der Bürgerinitiative ‚Minority SafePackʼ“. Wer stimmt für Und selbstverständlich ist auch das sorbische Volk aus den Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Niemand dagegen. der Lausitz, in Sachsen und in Brandenburg mit seinem Niemand enthält sich. Dann ist dieser Antrag einstimmig Staatsvertrag beispielgebend für eine bei uns, wie ich angenommen. finde, durchaus gelungene Minderheitenpolitik. Tagesordnungspunkt 28 b. Abstimmung über den An- Ich denke, wir können mit Stolz auf unsere Minder- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache heitenpolitik schauen, wohl wissend, dass wir natürlich 19/24637 mit dem Titel „Unterstützung der Europäischen immer noch an vielen Stellen nachbessern müssen und Bürgerinitiative ‚Minority SafePackʼ“. Wer stimmt für auch nachbessern wollen. Wenn wir uns allerdings in diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Europa umschauen, müssen wir feststellen, dass es eben Keine. Dann ist dieser Antrag gegen die Stimmen der Mitgliedstaaten gibt, die entweder keine Minderheiten- Fraktionen der FDP, der Linken und Bündnis 90/Die Grü- politik betreiben oder zumindest Nachholbedarf haben. nen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses Deshalb freue ich mich, dass wir dies heute diskutieren, abgelehnt. dass wir mit unserem Antrag die Minority-SafePack-Ini- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c auf: tiative deutlich unterstützen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mein Dank gilt hier auch unserem Beauftragten für Marc Bernhard, Frank Magnitz, Udo Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Dr. Bernd Theodor Hemmelgarn, weiterer Abgeordne- Fabritius, für seine Unterstützung und auch für seine ter und der Fraktion der AfD Arbeit. Er war bereits mehrfach bei unseren Minderheiten in Schleswig-Holstein und auch bei dem Volk der Sorben Innenstädte als Heimatraum – Lebensfä- und hat sich dort sehr intensiv mit der Problematik, die higkeit entwickeln, Verödung stoppen vor Ort herrscht, auseinandergesetzt. Drucksache 19/24658 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24787

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Überweisungsvorschlag: Die Bundesregierung fördert also den unfairen Wett- (C) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommu- bewerb zulasten der Kleinunternehmer und Mittelständ- nen (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ler. Da hilft es auch nicht, die sogenannte transformative Finanzausschuss Kraft der Städte zu beschwören. In der heutigen Zeit Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur haben Innenstädte drei Grundlagen: eine städtische, eine Haushaltsausschuss nationale und eine internationale. Die städtische Grund- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten lage habe ich soeben beschrieben. Mit ihr befasst sich Marc Bernhard, Udo Theodor Hemmelgarn, unser Antrag „Innenstädte als Heimatraum“. Er enthält Frank Magnitz, weiterer Abgeordneter und Maßnahmen zur Erhöhung ihrer Attraktivität. Einkaufen der Fraktion der AfD muss wieder zum haptischen Erlebnis werden. Im Rah- men eines Bundesförderprogramms geht es um eine aus- Innenstädte erhalten, Umnutzung von geglichene Mischung gewerblicher und privater Nutzung Gewerbeimmobilien erleichtern inklusive Wohnraum, ungehinderte Erreichbarkeit und Drucksache 19/24661 ausreichende kostenfreie Parkmöglichkeiten, eine größ- ere Vielfalt von Handelsangeboten und die Koordinie- Überweisungsvorschlag: rung der Stadtplanung zwischen Nachbarstädten und Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommu- nen (f) Kommunen. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Die als Event- und Partyszene verharmlosten Gewalt- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des täter sind inzwischen vielerorts die neuen Herren der Berichts des Ausschusses für Recht und Ver- Innenstädte. Sie verdrängen Bewohner, Besucher und braucherschutz (6. Ausschuss) zu dem An- Gewerbetreibende. Deshalb legt unser Antrag Wert auf trag der Abgeordneten Claudia Müller, Anja Sicherheit und Sauberkeit in den Innenstädten. Hajduk, Dr. Manuela Rottmann, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Die nationale Grundlage ergibt sich aus dem Corona- DIE GRÜNEN hype. Seit gestern ist das Maskentragen an belebten Risikoverteilung bei Gewerbemieten klar- öffentlichen Orten Pflicht, und jedem Kunden müssen stellen – Selbstständige, kleine und mitt- in Geschäften 10 bzw. 20 Quadratmeter Platz zur Ver- lere Unternehmen in der Corona-Krise fügung stehen. Gleichzeitig bewegen sich Bürger zum unterstützen Beispiel in Bus und Bahn auf engstem Raum. Es sind genau diese schreienden Widersprüche, die den Unsinn Drucksachen 19/22898, 19/24501 der Coronamaßnahmen deutlich machen, und ich sage (B) Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Ihnen: Schluss damit! (D) beschlossen. – Der Platzwechsel ist vorgenommen wor- den. (Beifall bei der AfD) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Die Innenstädte sind mit Masken- und Abstandspflicht ner dem Kollegen Frank Magnitz, AfD-Fraktion, das weder ein Raum zum Verweilen noch zum Erleben und Wort. Wohlfühlen und erst recht kein Heimatraum. Aber es ist nicht das Virus, das unsere Innenstädte zerstört. Es sind (Beifall bei der AfD) die völlig unverhältnismäßigen Maßnahmen des Corona- kabinetts. Wie es geht, zeigt ein Blick nach Schweden: Frank Magnitz (AfD): kein Zwang, kein Denunziantentum, kein Polizeistaat, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man stattdessen entspannte Atmosphäre, vertrautes Miteinan- das beste Deutschland aller Zeiten sehen will, dann der, prosperierende Innenstädte. genügt momentan ein Blick in die deutschen Innenstädte. Schwindende Attraktivität, zunehmende Verödung und (Eckhard Pols [CDU/CSU]: Das ist doch oftmals auch ein latentes Gefühl der Unsicherheit, das Quatsch!) ist es, was unsere Innenstädte mittlerweile ausmacht. Diese Situation ist nicht neu. Innenstädte sind vor allem Wie man sieht, kann es doch so einfach sein. Weshalb Handelsplätze und Orte der Begegnung. Durch die Kon- dann die überzogenen Maßnahmen in Deutschland? Dazu kurrenz riesiger Einkaufszentren auf der grünen Wiese äußerte sich die Bundeskanzlerin schon im Februar die- und den zunehmenden Onlinehandel verloren sie in den ses Jahres in Davos. Zitat: vergangenen Jahren beides: Kunden und Kaufkraft. Diese Transformation bedeutet im Grunde, die ge- (Eckhard Pols [CDU/CSU]: Ihr Kollege samte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie Hemmelgarn baut doch so was! Der fördert wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, das doch!) in den nächsten 30 Jahren zu verlassen … Genau in dieser Situation gewinnen Internetkonzerne Wer diese Politik für kopflos hält, der irrt. Sie ist mit freundlicher Unterstützung der Kartellparteien immer geplant und wird gegen jeden Widerstand durchgesetzt, mehr an Bedeutung, während die Läden in der Nachbar- inzwischen mit Wasserwerfern, gewaltbereiten Polizis- schaft vor die Hunde gehen. Und die freundliche Verkäu- ten, durch rechtswidrige Festnahmen unbescholtener ferin aus dem Buchladen darf demnächst bei Amazon Bürger, darunter sogar eines Abgeordneten meiner Frak- Paletten hin- und herschieben. tion. 24788 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Frank Magnitz (A) (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- Irgendwas Russisches? – Heiterkeit bei Abge- (C) ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ ordneten der CDU/CSU, der FDP und des DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf Warum nur setzt die Bundesregierung auf Verunsiche- der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜND- rung und Panik? NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nee, die brauchen nichts zu nehmen! Das ist schon ohne so (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Warum müs- geschädigt!) sen Sie immer provozieren?) – Hören Sie ruhig zu. Vizepräsidentin Petra Pau: (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Sie haben Das Wort hat der Kollege Michael Kießling für die doch provoziert!) CDU/CSU-Fraktion. Selbst die Kanzlerin, ihr Kabinett und die Minister- (Beifall bei der CDU/CSU) präsidenten der Länder müssen doch erkennen, was ihr Handeln bewirkt: fundamentale Eingriffe in die Grund- Michael Kießling (CDU/CSU): und Freiheitsrechte der Bürger, Zerstörung unserer wirt- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen schaftlichen und mentalen Lebensgrundlagen, Hass und und Kollegen! Das Beste, was Sie gesagt haben, Herr Hetze gegen Andersdenkende und schließlich komplette Magnitz, war: „Ich komme ... zum Schluss.“ Überwachung der Menschen. Wird das RKI etwa zur Stasizentrale? (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜND- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ NIS 90/DIE GRÜNEN) CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ganz ehrlich: Sie mussten über das Thema Corona reden, weil Ihr Antrag zum Thema Innenstädte nichts – Schön, Sie haben es gemerkt. hergibt. Sie vermischen dort die Zuständigkeiten in unse- (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Völlig durch- rem föderalen System. Sie vermischen die Verantwortung gedreht! – Eckhard Pols [CDU/CSU]: Wir der Länder und die Planungshoheit der Kommunen. Das unterhalten uns hier über Gewerbemieten und Interessante ist: Sie ignorieren auch das Eigentum der Innenstädte! Also, Herr Magnitz: Thema ver- Menschen. Bei einer Innenortsentwicklung haben Sie fehlt, sechs!) sowohl die Kommunen als auch die Eigentümer als auch die Investoren an Bord. Das scheinen Sie in Ihrem Die internationale Grundlage ist der große Neustart. (B) Antrag komplett zu vergessen. (D) Wenn der gelingen soll, müssen vertraute Werte wie Familie, Nation, Bargeld und Eigentum ganz offensicht- Das Schöne ist: Sie sprechen von Ordnung und von lich abgeschafft werden. The Great Reset ist eine real Innenpolitik. Sie sagen, Sie wollen Ordnung und Sicher- existierende Theorie. Das gleichnamige Buch des Herrn heit haben. Was den Föderalismus angeht: Sie sind wahr- Schwab vom Weltwirtschaftsforum ist bereits auf dem scheinlich genauso lange im Bundestag wie ich und Markt. Es geht nicht mehr um die Innenstädte; es geht müssten daher eigentlich erkannt haben, wofür die Län- um unser ganzes Land. der, wofür der Bund und wofür die Kommunen zuständig sind. Wenn Sie von Ordnung und innerer Sicherheit reden, dann reden Sie also von Länderverantwortung. Vizepräsidentin Petra Pau: Kommen Sie bitte zum Schluss. Zurück zum Antrag. Ich will gar nicht so sehr darauf eingehen, weil wir einiges, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, längst umsetzen und auch schon auf den Weg Frank Magnitz (AfD): gebracht haben, und zwar zusammen mit unserem Koa- Ich komme jetzt zum Schluss. – Die AfD ist in der litionspartner, der SPD. Die Städtebauförderung ist die Herzkammer der Demokratie die Stimme der Vernunft. zentrale Säule der Städtebauentwicklungspolitik des Die Menschen da draußen bitte ich: Lassen Sie sich keine Bundes, und das schon seit fast 50 Jahren; nächstes Jahr Angst machen! Wehren Sie sich, und gehen Sie auf die werden es 50 Jahre sein. Deshalb stellen wir dort 1 Mil- Straße! liarde Euro für 2021 zur Verfügung. Davon gehen (Beifall bei der AfD – [CDU/ 110 Millionen Euro an den Investitionspakt Sportstätten CSU]: Unfassbar! – Eckhard Pols [CDU/ und 790 Millionen Euro in die Städtebauförderung. CSU]: Aua, aua, aua! Das tut ja schon richtig Der Unterschied zwischen unseren Städtebauprogram- weh! – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/ men und denen, von denen Sie in Ihrem Antrag schreiben, DIE GRÜNEN]: Das RKI als Stasizentrale zu ist, dass wir sowohl den demografischen Wandel als auch bezeichnen, das ist so was von geschichtsver- die gesellschaftliche Veränderung als auch den Klima- gessen! – Gegenruf des Abg. Dr. Jürgen wandel in unsere Programme aufnehmen und damit sozu- Martens [FDP]: Ich würde so was eher durch sagen auch die Querschnittsaufgabe mit abdecken. den massiven Einsatz von Psychopharmaka erklären! – Gegenruf der Abg. Dr. Franziska Was wollen wir? Wir wollen lebendige, liebenswerte Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da Orte mit einer attraktiven Innenstadt haben. Dafür haben fragt man sich, was der genommen hat! – wir verschiedene Maßnahmen. Wir wissen aber auch, Gegenruf des Abg. Dr. Jürgen Martens [FDP]: dass die Kommunen aufgrund der Coronapandemie in Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24789

Michael Kießling (A) eine gewisse finanzielle Herausforderung reinlaufen. Zusammenarbeit, was die Städtebauförderung betrifft. (C) Daher haben wir zusätzlich zur Städtebauförderung, die Wir sprechen zusätzlich auch oft über die Digitalisie- als Standard enthalten ist, auch kommunale Konjunktur- rung – dieses Thema wird oft aufgerufen –; Digitalisie- pakete auf den Weg gebracht. Das heißt, es gibt zusätzlich rung hilft, die Städte nachhaltig zu gestalten. zu der Städtebauförderung, um den Kommunen Luft zu Herr Magnitz, wenn Sie schon einen Antrag stellen, geben und um sie entsprechend handlungsfähig zu dann reden Sie auch darüber, und reden Sie nicht über machen, zum Beispiel die Kompensation der Gewerbe- so viel Unsinn. steuereinnahmen von rund 5,9 Milliarden Euro, 75 Pro- zent der Übernahme der KdU, was 4 Milliarden Euro Herzlichen Dank. ausmacht, sowie die Unterstützung des ÖPNV von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- 2,5 Milliarden Euro. Das sind enorme Summen, die wir ordneten der SPD) den Kommunen zur Verfügung stellen, damit sie ihren Aufgaben vor Ort gerecht werden. Vizepräsidentin Petra Pau: Sie schreiben in Ihrem Antrag, man müsse den Indivi- Das Wort hat der Kollege Hagen Reinhold für die FDP- dualverkehr in den Orten besser gestalten. Gleichzeitig Fraktion. schreiben Sie weiter unten aber, die Innenstädte müssen durch den ÖPNV leichter erreichbar sein. Wie wollen Sie (Beifall bei der FDP) das machen? Sind Sie mal durch unsere Städte gefahren und haben sich angeschaut, wie die Straßen und der Hagen Reinhold (FDP): ÖPNV genutzt werden? Ich muss sagen: Da sind Sie Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten etwas auf dem Holzweg. Damen und Herren! Das Erste, was mir einfiel, als ich mir die Anträge durchgelesen habe, war: Etiketten- Ich glaube, dass wir unsere Kommunen darin unter- schwindel. Da wir von den im Gleichklang rechts stützen müssen, sich mithilfe eines Gesamtkonzepts Marschierenden hier drüben nichts anderes gewohnt zukunftsfähig und klimaresilient – das haben wir gestern sind, hat es mich jetzt gar nicht gewundert, dass sie staat- gehabt – aufzustellen, um in der Lage zu sein, die Lebens- liche Kundenumerziehungsmaßnahmen organisieren qualität vor Ort nachhaltig sicherzustellen. wollen. Sie sind die Ersten, die aufschreien, wenn es Zum Thema Innenstadt. Das BMI ist aktiv geworden um Planwirtschaft und Sozialismus geht. Wenn man und hat einen Beirat Innenstadt eingerichtet, wo betrof- sich den Antrag mal anschaut und guckt, wie Sie staatlich fene Akteure zusammenkommen. Wir sagen also nicht: verordnet Innenstädte organisieren wollen, dann wird „Wir machen die bessere Politik“, sondern wir fragen vor einem schon schlecht; denn mehr Planwirtschaft geht (B) Ort Experten, die sich auskennen, um daraus entspre- eigentlich gar nicht. (D) chende Maßnahmen abzuleiten und die Städtebauförde- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rung entsprechend aufzustellen. Dazu sind Vertreter von der CDU/CSU und der SPD) Handel, Gastronomie, der Immobilienbranche und von Städte- und Gemeindeebenen eingeladen. Dann lese ich weiter und finde was über Sauberkeit und innere Ordnung. Da habe ich eigentlich nur noch Sie reden auch vom Leerstand; das steht in Ihrem zwei- darauf gewartet, dass ein Fahnengebot für Häuser in der ten Antrag. Wenn Sie hergehen und Gebäude des Einzel- Einkaufszone kommt. Das hätte das Ganze perfekt handels einfach umnutzen wollen, zum Beispiel in Senio- gemacht. renheime, dann müssen Sie auch die Emissionen – ich weiß nicht, ob Sie davon schon gehört haben – berück- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei sichtigen, also Lärm, Verkehr. Wenn man einen vorha- Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) benbezogenen Bebauungsplan hat und eine andere Nut- Ich war entsetzt, ehrlich gesagt. Und dass jetzt Händler zung draufsetzen will, ist es also wichtig, dass man sich langfristig angesiedelt sein müssen, damit sie überhaupt Gedanken macht, wie man das gestaltet, weil es einfach in den Genuss der Förderprogramme kommen: Na ja, unterschiedliche Interessen gibt, die abgewogen werden egal. müssen. Aber wie oldschool die AfD ist, zeigt sich eigentlich an Kurz und gut: Ihr Antrag ist eigentlich eine Katastro- einem anderen Punkt. Nun habe ich überhaupt nichts phe. Wenn man ihn sich durchliest, sieht man: Da steht gegen Bibliotheken. Aber Einkaufszentren ersetzen wir nichts von Städtebauförderung, und Sie vermischen die jetzt durch Bibliotheken? Ich bin mir nicht sicher, wie verschiedenen Ebenen. Es ist also eigentlich schade um lange Bibliotheken in der jetzigen Struktur noch bestehen die Zeit, die wir heute damit verbringen müssen. werden; aber ob das das Konzept der Zukunft ist, das Wichtig ist, denke ich, dass wir es gemeinsam mit wage ich zu bezweifeln. unseren Kommunen und mit den Ländern schaffen, unse- (Beifall bei der FDP) re Städte langfristig zu gestalten; Städtebauentwicklung Gleiches ist mir aber, ehrlich gesagt, auch bei den ist ein langfristiges Projekt. Daher müssen auch die Gel- Grünen aufgefallen. Sie sind die Ersten, die schreien: der entsprechend lange zur Verfügung gestellt werden. Wenn „gesund“ oder „Kirsche“ draufsteht, dann muss Wir sind auf einem guten Weg, die Haushaltsmittel auch gesund oder Kirsche drin sein. – Das kann ich nach- auch im nächsten Jahr wieder zu gewährleisten. Ich freue vollziehen. Aber wer in seinen Antrag schreibt, dass für mich auch auf die Haushaltsberatungen und darüber, dass kleinere und mittlere Unternehmen der § 313 BGB geän- das vorangeht. Herzlichen Dank an die SPD für die gute dert werden soll, der muss auch die ganze Wahrheit sagen 24790 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Hagen Reinhold (A) und darf nicht Etikettenschwindel betreiben. Das gilt Handel vor Ort, wenn Sie das wirklich wollen. Waffen- (C) dann natürlich auch für die großen Filialisten und für all gleichheit zwischen Online- und Offlinehandel, das ist diejenigen, die im März/April ratzfatz ihre Mieten das Gebot der Stunde. gesenkt haben. Das gilt dann nicht nur für kleine und (Beifall bei der FDP) mittlere Unternehmen; in einem Rechtsstaat – es sei denn, Sie wollen ihn umgestalten; dann müssen Sie das Setzen Sie die Umsatzsteuer überall im Internet durch. mal ehrlich sagen – gilt das Recht immer noch für alle. Erste Schritte wurden gemacht; das reicht aber noch nicht. Nur so sichern wir den Handel in Deutschland in (Beifall bei der FDP) Zukunft. Es gibt noch eine ganze Menge, was wir selber Ich glaube, § 313 BGB ist extra so global gestaltet, machen können. Das wäre richtig. damit er eine Vielfältigkeit abbilden kann. Ihr Vorschlag Solange die B-Pläne in Deutschland acht Jahre brau- würde kein Problem lösen. Selbst wenn Sie festschreiben: chen, nutzt das schönste Gesetz, das im Bundestag be- „Corona ist eine außergewöhnliche Situation; es muss schlossen wird, nichts, weil sich der Handel vor Ort dann reagiert werden“, wer sagt denn dann, wie viel Prozent gar nicht so schnell ändern kann. der Miete demnächst erlassen werden können? Das ist doch viel zu individuell. Entweder gehen Vermieter und (Beifall bei der FDP) Mieter aufeinander zu und einigen sich, wie es deutsch- landweit tausendfach in der Coronakrise schon gesche- Vizepräsidentin Petra Pau: hen ist und auch aktuell geschieht, oder sie landen vor Kollege Reinhold, auch wenn Sie schon vermeiden, Gericht, weil sie sich nicht einigen können, wie hoch die Luft zu holen, müssen Sie jetzt trotzdem Schluss machen. Miete überhaupt ist. Den Gang vor Gericht ersparen Sie dadurch keinem. Schnellere Justizprozesse, das wäre das (Heiterkeit bei der FDP) Richtige. Hagen Reinhold (FDP): (Beifall bei der FDP) Das wollte ich gerade. – Ich wollte noch allen einen Eine Justiz, die viel zu ausgedünnt ist, kann Rechtsstaat- schönen Nachmittag wünschen. Das mache ich jetzt lichkeit nicht umsetzen. Das sollten wir jetzt angehen, trotzdem, in der gegebenen Ruhe: Ich wünsche allen mehr aber nicht. einen schönen Nachmittag und danke für die Redezeit. Wenn wir etwas für den Handel in den Innenstädten tun (Beifall bei der FDP) wollen, könnten wir im Bereich der Baunutzungsverord- nung so einiges machen. Solange wir Städte segmentiert (B) Vizepräsidentin Petra Pau: (D) in Wohnen, Arbeiten, Industrie und Handel aufteilen, ist Manchmal macht man sich hier vorne auch Sorgen. keine Stadt der Zukunft in Sicht, sondern eine Stadt der Vergangenheit. (Hagen Reinhold [FDP]: Um meine Atmung? Das habe ich extra trainiert!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Wort hat der Kollege Bernhard Daldrup für die SPD-Fraktion. Wenn Innenstädte belebt sein sollen, wenn Arbeit zurück in die Städte kommen soll, brauchen wir eine Änderung. (Beifall bei der SPD) Das ist doch logisch. Auch bei den Quadratmeterzahlen können wir etwas machen; denn die Aufteilung in Groß- Bernhard Daldrup (SPD): und Einzelhandel funktioniert überhaupt nicht mehr; Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dazwischen liegen so viele Schritte. Die Baunutzungsver- Nachdem die Zukunft der Innenstädte hier schon von ordnung kann angepackt werden. Los geht’s! Da ist eine vielen Fraktionen thematisiert worden ist, kommt jetzt ganze Menge Luft nach oben. auch die AfD auf das Thema zu sprechen. Ich glaube, das ist nur ein Versuch der Anbiederung bei den Frustrier- (Beifall bei der FDP) ten; Herr Magnitz hat das gerade bewiesen. Inhaltlich Wenn wir alles – Gewerbe, Arbeiten, Wohnen – zurück steht nichts dahinter. in die Stadt holen wollen, müssen wir sehen, dass die Zwei interessante Antworten werden gegeben: TA Lärm das behindert. Eine Experimentierklausel wäre hilfreich. Sie könnte uns helfen, die Innenstädte zu Erstens will die FDP beleben. (Dr. Jürgen Martens [FDP]: Was? Hallo?!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einen stärkeren motorisierten Individualverkehr und der SPD und der Abg. mehr Parkplätze. – Sie haben gar nichts verstanden, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wenn ich das mal so sagen darf. Digitalisieren Sie die Innenstädte. Tun Sie was, damit (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: wir Waffengleichheit zwischen Online- und Offlinehan- AfD!) del haben. Wenn Sie digitalisieren, dann werden die Leu- – Was habe ich gesagt? te, die durch die Städte laufen, über Apps auf Geschäfte und Angebote aufmerksam gemacht und können beim (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Gang durch die Innenstadt bestellen. So retten Sie den FDP!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24791

Bernhard Daldrup (A) – Entschuldigung! Ja, das stimmt. Ich meine die AfD, Pandemie als regelmäßige Störung der Geschäftsgrund- (C) klar. lage bewertet werden kann, sodass man über die Miet- höhe reden kann. (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: So viel Zeit muss sein!) Zum Schluss will ich noch Folgendes sagen: Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit 790 Millionen Zweitens wird die Aufhebung von Masken und Euro Städtebauförderung, von denen alleine 300 Millio- Abstandspflichten gefordert. Das ist angesichts der nen Euro für lebendige Innenstadtzentren zur Verfügung Lage allerdings verantwortungslos. Ich sage es mal stehen, machen wir sehr wohl eine sehr vernünftige ganz deutlich: Welcher Klientel Sie imponieren wollen, Stadtentwicklungspolitik. Wir helfen den Ländern, wir das haben Sie gezeigt, als Sie sich hier als Schleuser von helfen den Kommunen. Auf diesem Weg werden wir „Demokratiefeinden“ und Verschwörungstheoretikern weiterarbeiten. Anträge der AfD – ich sage es noch betätigt haben. Das ist sehr, sehr unangemessen. mal – sind dazu vollständig überflüssig. In Ihrem zweiten Antrag fordern Sie Änderungen im Herzlichen Dank. Baurecht. Ich denke, Sie haben gar nicht mitbekommen, dass die Novelle zum Baugesetzbuch im Kabinett bereits (Beifall bei der SPD) beschlossen ist und dass wir die erste Lesung – Kai Wegner hat mir das ausdrücklich zugesichert – am Vizepräsidentin Petra Pau: 17. Dezember hier im Deutschen Bundestag haben wer- Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für Die Linke. den. Das ist gut. (Beifall bei der LINKEN) Deswegen lautet das Fazit zu den AfD-Anträgen genauso wie das Fazit zur AfD selbst: Hinter der Zeit und eigentlich überflüssig. Caren Lay (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herren! Wenn die AfD allen Ernstes eine Debatte zum der FDP und der Abg. Helin Thema Innenstädte nutzt, um gegen die Maskenpflicht zu [DIE LINKE]) wettern, dann zeigt das nicht nur, dass Sie vom Thema keine Ahnung haben, sondern auch, dass Sie den Ernst Es wurden wichtige Entscheidungen getroffen, die ich der Lage in den Innenstädten nicht begriffen haben. ganz kurz nennen will. Ich finde, es ist ausgesprochen gut, dass der Haushaltsausschuss unsere Anregung auf- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem genommen hat, 25 Millionen Euro für Konzepte zur Zu- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Nicole Höchst (B) kunft unserer Innenstädte aufzunehmen. Wir wollen in [AfD]: Die sterben nämlich, die Innenstädte!) (D) Reallaboren Experimentierfelder schaffen, um Arbeit, In Ihrem Antrag finden sich viele bürokratische Aus- Wohnen, Handel, Digitalisierung, kurzum: Lebensquali- führungen zum Thema. Aber was in Ihren Anträgen, ehr- tät in den Städten zu entwickeln. lich gesagt, völlig fehlt, das sind die Menschen: Men- Das ist aber nicht der Beginn. Wir haben einen runden schen, die wegen steigender Mieten und sinkender Tisch im BMWi, bei dem es darum geht, Konzepte für Einkommen um ihre Wohnungen und um ihre Geschäfte Innenstädte – Digitalisierung und Ähnliches – zu entwi- fürchten müssen. Weder in Ihren jetzigen noch Ihren ver- ckeln. Wir haben den Beirat Innenstadt, in dem alle gangenen Anträgen waren Sie da aktiv. Sie haben sämt- Akteure an einem Tisch sitzen. Auch das ist, glaube ich, liche Anträge von uns Linken und auch den Grünen abge- eine sehr vernünftige Angelegenheit, weil es uns nicht lehnt, weiterbringt, wenn Onlinehandel und stationärer Handel (Nicole Höchst [AfD]: Die konnte man auch dauerhaft nur als Gegensatz thematisiert werden. nur ablehnen!) Wir wollen mit einer Experimentierklausel im Bauge- in denen es um besseren Kündigungsschutz für Mieterin- setzbuch auch Konflikte, beispielsweise im Zusammen- nen und Mieter ging, und auch die, die in der Coronakrise hang mit Lärm und Gewerbe, entschärfen, beispielsweise darüber hinausgingen. Sie sind gegen den sozialen Woh- im Sektor der Klubkultur. Wir wollen Vorkaufsrechte nungsbau, Sie sind gegen mehr Mieterrechte. Aber jetzt stärken. Wir wollen auch Zwischenerwerbe von Kommu- spielen Sie sich hier als Retter der Innenstädte auf? Das nen ermöglichen. Kurzum: Es gibt eine ganze Reihe von ist doch wirklich absurd. Baustellen, die ganz wichtig sind. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Es gibt einen Punkt, der – das will ich ganz offen NIS 90/DIE GRÜNEN) sagen – ein Ärgernis ist, nämlich die Tatsache, dass wir das Kündigungsmoratorium seinerzeit nicht verlängert Das Gleiche ist es übrigens beim Thema Gewerbemiet- haben. Das war eine Fehlentscheidung. Das war ein fal- recht. Eine soziale Deckelung von Gewerbemieten leh- sches Signal, jedenfalls empfinde ich das so. nen Sie ab, ein Kündigungsmoratorium, selbst in der Krise, ganz genauso. Ihre Sorge gilt alleine den Vermie- (Beifall der Abg. Claudia Tausend [SPD] und terinnen und Vermietern. Schön und gut, aber ohne die Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]) Menschen, die in diesen Häusern ein Geschäft betreiben, geht es ja wohl nicht. Deswegen bin ich sehr froh darüber, dass unsere Justiz- ministerin jetzt mit Hochdruck an (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- der Änderung des Gewerbemietrechts arbeitet, damit die NIS 90/DIE GRÜNEN) 24792 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Caren Lay (A) Meine Damen und Herren, ich bin in Ihren Anträgen (Beifall bei der LINKEN) (C) nicht nur über den „Heimatraum“ gestolpert, sondern auch über Ihre Formulierung „deutschen Einzelhandel“. Vizepräsidentin Petra Pau: Auch wenn die AfD es nicht gerne hört: Dort, wo wir Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die noch lebendige Innenstädte haben, mit kleinen Läden Kollegin Claudia Müller das Wort. und lokalem Einzelhandel, verdanken wir das nicht selten Migranteninnen und Migranten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Claudia Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Was wären denn unsere Städte ohne den türkischen Ein- Damen und Herren! Bereits vor drei Wochen sprachen zelhändler oder den türkischen Schneider, ohne die viet- wir zum Thema der Innenstädte hier auf Antrag meiner namesische Gemüsehändlerin? Was wären sie ohne den Fraktion. Seitdem ist wenig passiert. Die Gewerbetreib- libanesischen Döner und die italienische Weinhand- enden leiden weiterhin unter der unfairen Risikovertei- lung? – Ein ganzes Stück öder. lung; denn mit den Überbrückungshilfen erhalten sie ja (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- nur einen Teil der Mietkosten erstattet, schulden aber NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- weiterhin den vollen Mietzins – ohne die rechtlich ver- ten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) bindliche Möglichkeit, hier zu reduzieren. Und warum? Weil sich die Koalition an dieser Stelle uneins ist, ob eine Um im Bild zu bleiben: Sie alle haben hier ihre Heimat gesetzliche Klarstellung in § 313 BGB notwendig ist. gefunden, und das ist doch gut so. Dabei ist doch ganz klar: Es braucht eine faire Risikover- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Ja, teilung zwischen den Gewerbetreibenden und den Deutschland ist meine Heimat!) Gewerbevermieterinnen. Dass bei der AfD angekommen ist, dass die Einkaufs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zentren auf der grünen Wiese den Einzelhandel verdrän- sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE]) gen, das freut mich; das finde ich gut. In der Konsequenz heißt das aber eben auch, nicht vor jedem Investor den Im Justizministerium hat man dies erkannt. Deswegen Kniefall zu machen. Durch Spekulationen und Mietstei- arbeitet man da ja daran, klarzustellen, dass Betriebs- gerungen veröden die Städte. Aber das sehen Sie nicht. schließungen und Nutzungsbeschränkungen aufgrund von behördlichen Coronavorgaben als schwerwiegende Meine Damen und Herren, diese Miniänderung im (B) Veränderung der die Vertragsgrundlagen bildenden (D) Bauplanungsrecht, mehr Citymanager, das wird wirklich Umstände im Sinne des § 313 Absatz 1 BGB anzusehen dem Ernst der Lage überhaupt nicht gerecht. sind und damit endlich ein Anspruch auf eine Mietanpas- (Beifall bei der LINKEN) sung bestehen würde. So weit, so schön. Was wir als Linke fordern, ist ein Kündigungsmorato- Leider sehen Sie, Kolleginnen und Kollegen von der rium für die Dauer der Pandemie. Union, das weiterhin kritisch. Ich frage mich ehrlich: (Beifall bei der LINKEN) Warum wollen Sie weiter Gewerbetreibende in dieser rechtlichen Unklarheit lassen? Dabei wäre das doch Wir brauchen ein soziales Gewerbemietrecht – jetzt und eine Maßnahme, die gerade Gewerbetreibenden in den auch danach. Auch während der Pandemie muss die Innenstädten schnell helfen könnte – und übrigens nicht Absenkung der Mieten rechtssicher sein; das muss nur denen, sondern auch den Immobilienfondsmanage- geschehen, damit kleine Läden die Pandemie überleben. rinnen, die sich momentan vor Schadensersatzklagen (Beifall bei der LINKEN) fürchten, mit denen ihre Anlegerinnen drohen können, wenn sie aufgrund dieser unklaren rechtlichen Situation Zu guter Letzt. Der Bund muss die Kommunen finan- möglicherweise doch in Verhandlungen über Mietsen- ziell unterstützen, damit sie ein gestärktes Vorkaufsrecht kungen treten. Deswegen brauchen wir an dieser Stelle endlich wahrnehmen können. die rechtliche Klarstellung, um hier zu helfen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Schließlich kann es nicht sein, – SES 90/DIE GRÜNEN) Es kann doch nicht Ihr Interesse sein, das an dieser Stelle Vizepräsidentin Petra Pau: zu verhindern. Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Caren Lay (DIE LINKE): Bevor es jetzt aber heißt, wir würden hier nur Vermie- – dass Haushaltswarengeschäfte Steuern zahlen müs- terinnen-Bashing machen: Es gibt natürlich auch noch sen, aber Amazon fast nicht. Damit erhalten die Online- andere, es gibt natürlich diejenigen, die ihre Gewerbe- händler einen weiteren Standortvorteil. Das kann nicht treibenden unterstützt haben, die Mietanpassungen vor- sein. Also lassen Sie uns die Steueroasen endlich schlie- genommen haben, die sich dafür interessieren, was in den ßen! Und: Make Amazon pay! Innenstädten passiert. Diesen ist an dieser Stelle Danke Vielen Dank. zu sagen; denn auch sie unterstützen eine positive Ent- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24793

Claudia Müller (A) wicklung in den Innenstädten. Deswegen wollen wir städte? Eines der Hauptargumente, die ich in Bürgerge- (C) genau diese Vermieterinnen und Vermieter, diese Eigen- sprächen immer wieder höre, ist: Ich komme mit dem tümerinnen, an dieser Stelle auch stärken. Auto nicht mehr in die Stadt. – Frau Müller ist jetzt weg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn ich mal meinen ländlich geprägten Wahlkreis Folglich fordern wir, dass auch sie das Recht haben, betrachte, kann ich das auch voll nachvollziehen. Wir Darlehensverträge anzupassen, wenn sie die Immobilien erwarten vom Bürger, dass er mit dem Fahrrad oder entsprechend finanziert haben. Es geht darum, dass sie dem ÖPNV in die Stadt kommt. Teilweise fahren aber aufgrund eines Entgegenkommens gegenüber ihren Mie- kaum Busse, oder sie fahren nur in großen Zeitabständen. terinnen keine Probleme bekommen, ihre Darlehensver- Seien wir doch mal ehrlich: Wer von uns würde sich in träge bedienen zu können. Sie könnten sonst in die Situa- einen Bus setzen, eine knappe Stunde in die Stadt fahren, tion kommen, dass sie diese Immobilien möglicherweise um dort, sagen wir, einen Staubsauger zu kaufen, den wieder veräußern müssen, womöglich an große Fonds, zurück zur Bushaltestelle bringen, von dort – nach einer was zu einer weiteren Konzentration auf dem Immobi- entsprechenden Wartezeit – wieder eine knappe Stunde lienmarkt führen könnte. Deswegen wollen wir auch die- zurück nach Hause fahren? Wenn ich alternativ mit dem se Vermieterinnen unterstützen. Auto direkt zu einem Fachgeschäft fahren oder mir die gleiche Ware im Internet nach Hause bestellen kann, sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das leider oft bessere und einfachere Möglichkeiten. Ganz kurz zu den AfD-Anträgen; dazu ist schon viel gesagt worden. Sie fordern ernsthaft, Abstands- und Mas- Hier sollten gerade die Grünen und Linken einmal kenregelungen aufzuheben. Sie fordern mehr Luftver- überlegen, ob es wirklich richtig und zielführend ist, die schmutzung durch mehr Verbrennungsmotoren in den Innenstädte komplett autofrei zu machen. Ganz klar ge- Städten. Übrigens: Die Städte, die inzwischen sehr viele sagt: Nicht jeder Kunde kann oder will mit dem Fahrrad autofreie Zonen haben, haben da eine sehr positive Ent- oder dem ÖPNV in die Innenstadt fahren. wicklung gemacht. Ich sehe hier übrigens nicht allein die Politik in der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Pflicht. Der Einzelhandel hat gerade in der Coronapande- SES 90/DIE GRÜNEN) mie bewiesen, dass es durchaus möglich ist, die Ware an den und zum Kunden zu bringen. In Lüneburg beispiels- Sie fordern also mehr Zerstörung der Umwelt, mehr weise haben sich vor allem die kleineren Läden auf dem Gesundheitsrisiken. Das ist Ihr Konzept für die Entwick- Onlineportal shop-lueneburg.de zusammengeschlossen; lung der Innenstädte. Das kann nicht Ihr Ernst sein – aber hier können die Bürgerinnen und Bürger verschiedenste wahrscheinlich doch. (B) Produkte, von Nahrungsmitteln über Schuhe bis zu (D) Vielen Dank. Schmuck, bestellen, und die Ware wird ihnen dann noch am selben Tag ausgeliefert. Diese Initiative gab es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schon vor Corona. Aber sie ist in diesem Jahr viel stärker gewachsen; denn die Leute kaufen viel regional ein. Ich Vizepräsidentin Petra Pau: bin davon überzeugt, dass dieser Trend anhalten wird und Das Wort hat der Kollege Eckhard Pols für die CDU/ so auch nach Corona für eine Stärkung der Innenstädte CSU-Fraktion. sorgen wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall des Abg. [CDU/CSU])

Eckhard Pols (CDU/CSU): Wenn die Innenstädte weiter, oder, besser gesagt, wie- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten der Heimatraum werden sollen, muss meiner Meinung Damen und Herren! Kommen wir jetzt mal zur Praxis. nach ebenso dafür gesorgt werden, dass auch nach Ja, das sogenannte Kaufhaus Innenstadt hat massive Pro- Geschäftsschluss, also nach 18 bzw. 20 Uhr, Leben in bleme, es befindet sich in einem Strukturwandel, aber das der Stadt bleibt. Die sogenannten dunklen Augen der nicht erst seit Corona. Vielmehr sind diese Probleme Geschäftshäuser, also die oberen Stockwerke über den schon seit Jahren sichtbar und spürbar: In den Innenstäd- Geschäften, müssen wieder zu Wohnraum werden. ten verschwinden immer mehr inhabergeführte Geschäf- Auch hier gibt es schon Initiativen auf kommunaler Ebe- te; die klassischen Einzelhändler verschwinden aus unse- ne und eigene kommunale Förderprogramme, die hier ren Stadtbildern. Die Gründe dafür sind vielfältig: helfen sollen. Denn die Innenstädte stehen nicht nur für erfolglose Nachfolgesuche, steigende Gewerbemieten, Gewerbe, sondern bieten auch Wohnraum. verändertes Kaufverhalten der Kunden, demografischer Gleiches gilt für die Daseinsvorsorge. Je mehr von der Wandel. Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Daseinsvorsorge der Bürger aus den Innenstädten heraus- Ich erlebe das auch gerade in meiner Heimatstadt gezogen wurde, desto mehr wurde dazu beigetragen, dass Lüneburg: Mancher Einzelhändler – und ich gehöre auch Bürger aus der Innenstadt an den Rand gezogen dazu –, der gleichzeitig auch Hausbesitzer ist, sagt sich, sind. Landesbehörden, aber auch kommunale Einrichtun- dass er bei einer Vermietung seiner Immobilie an eine gen sind in den letzten Jahrzehnten verstärkt an die Rän- Ladenkette mehr verdient, als wenn er seinen eigenen der der Städte gewandert, was sich im Nachgang nun Laden selber weiterbetreibt. Dabei stellt sich vor allem rächt. Früher waren die Bürgerinnen und Bürger bei die- eine zentrale Frage, auch unabhängig von Corona, näm- sen Gängen in der Innenstadt und haben gleich ihre Ein- lich: Warum kommen Kunden nicht mehr in die Innen- käufe erledigt. Natürlich leistet auch hier die Möglichkeit 24794 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Eckhard Pols (A) der Onlineerledigung ihr Übriges – was sich mit der Um- Herr Kollege Pols, ich fand Ihre Ausführungen zur (C) setzung des Onlinezugangsgesetzes sicherlich noch autogerechten Innenstadt, einer Rückkehr dazu, wirklich beschleunigen wird. interessant. Das verleitet mich eher zu der Einschätzung: Vielleicht sollten Sie etwas für den ÖPNV und die Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin ein Erreichbarkeit der Innenstadt mit dem ÖPNV in Lüne- großer Fan der Innenstädte und fahre regelmäßig mit burg tun. meiner Familie – natürlich mit dem Bus, der glücklicher- weise fast direkt vor meiner Haustür hält – ins Stadtzent- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Jörg rum. Deswegen befürworte ich alle Maßnahmen, die zur Cezanne [DIE LINKE] und Belebung bzw. Stärkung der Innenstädte beitragen. Ich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Eckhard meine aber, dass nicht der Bund hier der richtige An- Pols [CDU/CSU]: Wenn Sie mal 20 Jahre älter sprechpartner ist, sondern die Akteure, die die Gegeben- sind, werden Sie an meine Worte denken!) heiten vor Ort kennen: der örtliche Einzelhandel und Ver- Kolleginnen und Kollegen, tatsächlich ist München treterorganisationen wie IHK oder Handwerkskammer. auch außerhalb von Pandemien längst nicht mehr umsatz- Die Kommunalpolitik, das Stadtmarketing, die Wirt- stärkste Innenstadt. In der Coronapandemie verschärfen schaftsförderung, Freizeit- und Tourismusbranche, Kul- sich die Tendenzen des Strukturwandels; Geschäfte und tur- und Kreativwirtschaft, diese sind es, die die Lösun- Gastronomiebetriebe schließen, dauerhafte Leerstände gen erarbeiten müssen. Die Menschen müssen spüren, drohen. Daher war es wichtig, dass wir die Situation der eingeladen zu sein, ein Teil ihrer Stadt zu sein. Identifi- betroffenen Branchen mit dem Konjunkturprogramm, kation ist Heimat. mit Überbrückungs- und Stabilisierungshilfen erleichtert Wir als Bund können helfen, ja. Wir können aber nur haben und hier zu einer Besserung der Lage der Branche den ganz großen gesetzlichen Rahmen abstecken. Und beigetragen haben. vor allem müssen wir als Bund dafür sorgen, dass die Wir haben aber auch feststellen müssen, dass diese Einzelhändler, Gastronomen, Tourismusbetriebe, Künst- Überbrückungshilfen oftmals vollständig in die Miete ler – und, und, und – die unverschuldete Krise wirtschaft- fließen und so dazu beitragen, die Mieteinnahmen großer lich überstehen. Das tun wir mit den bereits beschlosse- Immobilienfonds zu sichern – und das alles zulasten der nen Maßnahmen, die auch laufend auf Wirksamkeit Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. So war das aber überprüft werden. Insofern halte ich die Anträge der nicht gedacht, meine Damen und Herren! AfD und der Grünen – übrigens liegt die Umsetzung vieler Forderungen in den Händen der Länder – weder (Beifall bei Abgeordneten der SPD) für notwendig noch für zielführend. Die Lasten des Lockdowns müssen gerecht verteilt (B) An dieser Stelle danke ich unserem Wirtschaftsminis- werden. Immobilienbesitzer, die bisher nicht bereit (D) ter mit seinem Ministerium, der laufend waren, ihren Gewerbemietern entgegenzukommen, müs- überprüft, wo es zu welchen Verbesserungen kommen sen künftig auch ihren Beitrag leisten. muss. Er hat auch immer ein offenes Ohr für Anregung (Beifall bei der SPD) und Kritik. Auch ich bin unserer Bundesjustizministerin Christine Vielen Dank. Lambrecht dankbar, dass sie einen entsprechenden Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) setzentwurf einbringen möchte, der den Pächterinnen und Pächtern eine Änderung ihres Vertragsverhältnisses erlauben wird, und zwar zu ihren Gunsten. Vizepräsidentin Petra Pau: Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Kolleginnen und Kollegen, wir wissen aber auch, dass Claudia Tausend für die SPD-Fraktion. es trotz ähnlich gelagerter Problematik nicht die eine und einzige Lösung für die Innenstadt gibt. Wir sollten daher (Beifall bei der SPD) von Bundesseite unser Augenmerk vor allem darauf rich- ten, Kommunen zu unterstützen und sie in die Lage zu Claudia Tausend (SPD): versetzen, mit den Innenstadtakteuren passgenaue Lösun- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten gen zu entwickeln. Denn die Kommunen wissen selbst Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die am besten, was zu tun ist. Es hat aber was mit Geld zu tun, Stichworte sind gefallen: Die Innenstädte sind das Herz und deshalb war es wichtig, dass wir einen Rettungs- unserer Kommunen, Zentrum von Handel und Gastrono- schirm nicht nur über die Wirtschaft aufgespannt haben, mie, Orte der Begegnung und des sozialen Lebens. – sondern auch über die Kommunen. Heute, in der Coronapandemie, stehen sie leider weitge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hend still. Wir sehen uns hier weiterhin in der Pflicht, appellieren Die Innenstädte – auch das wurde gesagt – sind schon aber auch an die Länder als sogenannte Anwälte der länger unter Druck. Auch hier kennen Sie die Stichwor- Kommunen, ihren Beitrag zu leisten. te – Onlinehandel, Filialisierung –; aber leider auch die Praxis mancher Kommunen, Gewerbegebiete für zent- (Beifall bei der SPD) renrelevante Nutzungen nach wie vor an den Stadträn- Es wurde das Baugesetzbuch angesprochen. Auch ich dern auf der grünen Wiese auszuweisen. Hier möchte freue mich, dass wir noch vor Weihnachten, liebe Kolle- ich auch an die Kommunen appellieren, mitzuhelfen, die- ginnen und Kollegen, endlich, nach wechselvoller Ge- se Praxis zu unterlassen und hier umzusteuern. schichte, in die parlamentarischen Beratungen zur Novel- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24795

Claudia Tausend (A) le des Baugesetzbuches eintreten. Wir leisten auch hier Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (C) einen Beitrag für bezahlbares Wohnen in den Innenstäd- Fabio De Masi für die Fraktion Die Linke. ten – Umwandlungsschutz für Mieterinnen und Mieter –; (Beifall bei der LINKEN) ich nenne auch den neuen Bebauungsplantyp. Vor allem geht es um sozial orientiertes und gefördertes Wohnen. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen – wie gesagt, Fabio De Masi (DIE LINKE): noch vor Weihnachten. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Hier auf der Medienwand stand vor Kurzem übrigens Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. noch „Reform der Wirtschaftsplanung“. Ich bin zwar von der Linken, aber es geht um die Reform der Wirt- (Beifall bei der SPD) schaftsprüfung. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Petra Pau: GRÜNEN]: Das steht jetzt richtig da!) Ich schließe die Aussprache. Der Wirecard-Skandal ist der größte Finanz- und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Bilanzskandal der jüngeren deutschen Geschichte, der den Drucksachen 19/24658 und 19/24661 an die in der so eindrucksvoll in diesem Buch, das ich in der Hand Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. halte, beschrieben ist. Wir wissen: Zahlen, Daten sind Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht wichtig. Sie sind nicht nur wichtig in einer Pandemie, der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. um Politik beurteilen zu können, sondern sie sind auch Tagesordnungspunkt 29 c. Wir kommen zur Abstim- wichtig für Entscheidungen im Wirtschaftsleben. Deswe- mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für gen sind Bilanzen ein öffentliches Gut. Recht und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bei Wirecard haben Wirtschaftsprüfer wie EY sträflich Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Risikoverteilung versagt. Es sind Strafverfahren gegen Mitarbeiter von EY bei Gewerbemieten klarstellen – Selbstständige, kleine anhängig. 1,9 Milliarden Euro fehlen auf Treuhandkon- und mittlere Unternehmen in der Corona-Krise unterstüt- ten dieses Konzerns. Ich sage hier für meine Fraktion: Es zen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- gibt viele Prüfer, die einen guten Job machen; aber wir fehlung auf Drucksache 19/24501, den Antrag der Frak- müssen die Macht der Big Four, der großen Wirtschafts- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/22898 prüfungskonzerne, brechen. abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- lung? – Die Koalitionsfraktionen, die AfD-Fraktion und NIS 90/DIE GRÜNEN) die FDP-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktion (B) Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Die Fraktion Denn es ist nicht nur EY, das von Interessenkonflikten (D) Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. geprägt ist. Wir haben gelernt, dass beispielsweise auch KMPG den ominösen Mauritius-Fonds, der wahrschein- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf: lich dem flüchtigen Wirecard-Manager Jan Marsalek a) Beratung des Antrags der Abgeordneten zugeschrieben werden kann, beraten hat, aber gleichzei- Fabio De Masi, Jörg Cezanne, Klaus Ernst, tig auch Prüfungshandlungen bei Wirecard vorgenom- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE men hat. Meine Fraktion möchte daher zentrale Refor- LINKE men im Bereich der Wirtschaftsprüfung anstoßen: Erstens. Der zentrale Interessenkonflikt ist, dass jene Wirtschaftsprüfung reformieren, Interes- Unternehmen, die geprüft werden sollen, auch die Prüfer senkonflikte reduzieren bezahlen. Deswegen wollen wir ein Poolsystem, ein Drucksache 19/22204 Umlagesystem, aus dem die Prüfer bezahlt werden, damit sie unabhängiger werden. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) (Beifall bei der LINKEN) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Zweitens brauchen wir eine strikte Trennung von Prü- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa fung und Beratung. Die Prüfung ist gar nicht das Paus, Dr. Manuela Rottmann, Anja Hajduk, Geschäft, mit dem sich das große Geld verdienen lässt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion sondern die Beratungsaufträge sind lukrativ. Häufig wird BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht so genau hingeschaut in der Hoffnung auf zukünf- tige Beratungsaufträge. Bilanzbetrug durch kompetente und Ich will hier einmal ansprechen, dass auch Abgeordne- unabhängige Wirtschaftsprüfung schnell aufdecken und erfolgreich bekämpfen te der Großen Koalition in den vergangenen Tagen gesagt haben, man müsse doch darüber nachdenken, ob man EY Drucksache 19/23730 zukünftig von öffentlichen Aufträgen ausschließen will. Ich will nur darauf hinweisen, dass zum Beispiel das Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Gesundheitsministerium beim Maskenchaos während Finanzausschuss der Coronapandemie freihändig Aufträge, auch über Ausschuss für Wirtschaft und Energie sehr lange Zeiträume, an EY ohne Ausschreibung ver- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten geben hat. Ich denke, es wäre an der Zeit, dass wir uns beschlossen. hier ehrlich machen. 24796 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Fabio De Masi (A) (Beifall bei der LINKEN) Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drittens brauchen wir dringend ein Vieraugenprinzip, Der Wirecard-Skandal – das wurde gerade schon gesagt – also Joint Audits, in der Wirtschaftsprüfung, damit auch ist einer der größten Finanzskandale und Betrügereien der mittelständische Prüfer beteiligt werden. Denn ein Argu- deutschen Nachkriegsgeschichte. Lieber Herr Kollege De ment ist ja immer: Diese großen Konzerne können nur Masi, 1,9 Milliarden Euro ist die Summe, die in Asien durch große Prüfungsunternehmen begutachtet werden. – fehlt. Der Schaden für die Anleger und für die deutsche Aber die kleinen können auch eine Rolle in speziellen Volkswirtschaft ist um ein Vielfaches größer; Bereichen spielen; die sollten mit ins Boot genommen werden. Denn eine alte Weisheit sagt: Vier Augen sehen (Zustimmung des Abg. Fabio De Masi [DIE mehr als zwei. LINKE]) (Beifall bei der LINKEN) er wird mit etwa 10 Milliarden Euro beziffert. Um das Weiterhin müssen wir endlich über das Prinzip der einmal in einen Vergleich zu setzen: 3,5 Milliarden Euro Haftung sprechen; denn es ist ja so, dass EY zum Beispiel beträgt die jährliche Summe der Schäden, die durch jetzt nur für Schäden über 4 Millionen Euro haftet, wenn Ladendiebstahl entstehen. Daran sehen wir, was hier für ihnen Vorsatz nachgewiesen werden kann, dass sie also ein Schaden entstanden ist. vorsätzlich falsche Testate abgegeben haben. Die Wahr- scheinlichkeit, dass dies gelingt, ist jetzt durch die anhän- Der Schaden ist deshalb noch viel größer, weil das gigen Strafverfahren gestiegen. Aber der Nachweis des Vertrauen der Anleger, gerade unserer deutschen Anle- Vorsatzes ist eben sehr schwierig. Deswegen sagen wir: ger, in die deutsche Wirtschaft, in die deutschen Aktien- Was für Architekten oder Ärzte oder andere Berufsgrup- gesellschaften fundamental zerstört worden ist. Wir pen gilt, muss auch hier gelten; das Haftungsprivileg haben die Sorge, dass jetzt plötzlich noch mehr Ausländer muss weg. in unsere Gesellschaften investieren und diejenigen aus (Beifall bei der LINKEN) Deutschland, die eigentlich zur Altersvorsorge in solche Werte investieren sollten, es nicht mehr tun. Deshalb ist Es ist natürlich keinem geholfen, wenn wir durch den es angezeigt und richtig, dass wir hier über die Frage Entzug des Haftungsprivilegs dann morgen statt Big diskutieren, was zu tun ist, was vor allen Dingen im Four auf einmal Big Three und noch mehr Konzentration Bereich des Rechtsschutzes zu tun ist; denn da besteht im Markt haben. jetzt in der Tat Handlungsbedarf. (Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Genau so ist es!) Sie von der Linken haben eine ganze Reihe von Vor- Deswegen muss das natürlich mit weiteren Reformen (B) schlägen vorgelegt; auch in dem Grünenantrag ist eine (D) einhergehen. ganze Reihe von Vorschlägen enthalten. Wir wissen, Ich sage hier auch noch einmal für meine Fraktion: dass das Finanzministerium bereits einen Referentenent- Wichtig ist natürlich auch, dass die deutsche Finanzauf- wurf vorgelegt hat, der in der Diskussion ist. Manches sicht, die BaFin, selbst in der Lage ist, Bilanzen zu prü- davon deckt sich, manches nicht. Lassen Sie mich einige fen. Sie muss natürlich nicht die Bilanzen von zig Unter- Punkte aus dem, was jetzt schon angesprochen worden nehmen prüfen. Aber wenn die Polizei ein Tempo-30- ist, herausgreifen: Schild an den Ortseingang stellt, dann muss sie eben Erstens. Es wird ganz einfach und relativ pauschal auch bereit sein, jemanden, der mit 200 Sachen über die gefordert, die Haftung der Wirtschaftsprüfer müsse Kreuzung brettert, aus dem Verkehr zu ziehen, erweitert werden – von 1 Million bzw. 4 Millionen Euro (Beifall bei der LINKEN) auf 8 Millionen bzw. 20 Millionen Euro oder so etwas und die BaFin ist dazu heute überhaupt nicht in der Lage. Ähnliches. Aber ehrlich: Bei einem Schaden von 10 Mil- Ich hoffe, dass wir mit dieser Debatte einen wichtigen liarden Euro ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Aus Anstoß geben können. meiner Sicht wird damit das Problem nicht adressiert. Deshalb, glaube ich, müssen wir, was die Haftung angeht, Wir warten auch weiterhin gespannt auf die Debatte ein bisschen differenzierter nachdenken. zum Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz. Ein Ansatz, der im Raum steht, ist, zu sagen: Lasst uns Wir freuen uns. Wir sehen, dass es Zeit ist, zu handeln. doch die Haftung nach dem Umfang der Prüfungshono- Denn der Wirecard-Skandal zeigt: Kein Stein darf auf rare strukturieren – ein Vielfaches der Prüfungshonorare. dem anderen bleiben. Das ist eine angemessene Größendifferenzierung, die (Dr. Jürgen Martens [FDP]: Ah! – Fritz man mit einer moderaten Haftungserweiterung einherge- Güntzler [CDU/CSU]: Sehr schnell beurteilt!) hen lassen mag – ein Punkt, über den man meines Erach- Vielen Dank. tens nachdenken muss. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Sie haben die sogenannte Dritthaftung ange- sprochen, nämlich nicht die Haftung gegenüber dem Auf- Vizepräsidentin Petra Pau: traggeber, sondern gegenüber den geschädigten Anle- gern; sie müsse unbegrenzt sein. 10 Milliarden Euro – Das Wort hat Dr. Heribert Hirte für die CDU/CSU- das wird nicht funktionieren; denn dann müsste man Fraktion. sich dagegen versichern, die Prüfungshonorare würden (Beifall bei der CDU/CSU) ins Unermessliche gehen. Das kann nicht laufen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24797

Dr. Heribert Hirte (A) Ich glaube, wir können über einen Punkt nachdenken, (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Wo ist er denn?) (C) der in der Diskussion schon geäußert wurde: Eigentlich – ist heute krankgeschrieben. geht es um den Schutz der Kleinanleger. Das sind dieje- nigen, die sich nicht durch ein gestreutes Depot sozusa- (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Oh!) gen selbst versichern können. Das heißt: Wer ein Depot Wenn aber, wie vorliegend, im Antrag der Linken das hat, das kleiner ist als beispielsweise 100 000 Euro – das Prinzip der freien Prüferwahl komplett abgeschossen ist die Grenze der Einlagensicherung –, also nicht streuen werden soll, dann geht das – es tut mir leid – einfach kann, der mag möglicherweise als Adressat in Betracht viel zu weit. Umlagezahlungen in einen Gesamtfonds, kommen, und in diesen Fällen – das war falsch, was Sie zufällige Auswahl des Prüfers und alles unter staatlicher gesagt haben – gilt schon jetzt nicht die Beschränkung auf Zuteilung – das ist beinharter Struktursozialismus; da Vorsatz. Vielmehr haben wir hier eine Deliktshaftung, die wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. von der Rechtsprechung auf Leichtfertigkeit ausgedehnt wurde. So einfach ist es also nicht. (Zuruf der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]) Drittens. Sie haben gesagt, wir müssten Prüfung und Beratung trennen. Ja, da können wir auf den europäischen Der AK Wirtschaft der Linken hat hier wohl gut bei der Level zurückgehen. Aber der guten Ordnung halber ist Rosa-Luxemburg-Stiftung aufgepasst oder gleich selber wichtig, zu wissen: Das war bei Wirecard nicht das Pro- das Referat dort gehalten, alles nach der Agenda: Es muss blem. nach freier Wirtschaft aussehen, aber wir müssen alles fest in der Hand haben. – Denn genau dafür – es tut mir (Zuruf des Abg. Fabio De Masi [DIE LINKE]) einfach leid – wird mit dieser zusätzlichen Regulierungs- Und im Übrigen: Wenn man die Dinge dann so verlagern behörde der Grundstein gelegt. Die freie Preisfindung und miteinander vermischen würde, dass man sagt, man kann dann wohl gleich ganz weg. brauche allein externe Prüfer, dann fände man zu den Und ja, natürlich ist es ein Problem, wenn Prüfung und Honoraren, die eigentlich gezahlt werden müssten, viel- Beratung verquickt werden. Klar entstehen bei schlechter leicht keine qualifizierten Prüfer. Compliance auch mal Filz oder strafrechtlich relevantes Richtig ist meines Erachtens der Ansatz, darüber nach- Verhalten in Unternehmen. Aber wissen Sie, wohin der zudenken, einen Joint Audit zu machen: Filz und das Gespräch beim Edelitaliener mit Ihrem Ansatz verlagert werden? Zu der Regulierungsbehörde. (Zuruf der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Zuruf des Abg. Fabio De Masi [DIE LINKE]) ein großer Wirtschaftsprüfer plus ein kleiner oder mittel- Dort entsteht eine ganz neue und ungesunde Unwucht hin (B) ständischer Wirtschaftsprüfer zur Kontrolle. Da wäre zu staatlich gelenkter Wirtschaft. (D) dann die Frage, wer sie zu bestellen hätte. Und die ent- Und nein, niemand will, dass jemand mit solchen scheidende Frage ist, ob es teurer würde. Ich glaube, die Machenschaften wie bei Wirecard davonkommt, und Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung, die im Augen- auch eine volle Haftung für die Prüfer, eine deutlich blick eine Art Permanentprüfung macht, wäre dann viel- gesteigerte, kann man ins Auge fassen. leicht verzichtbar. (Zuruf des Abg. Fabio De Masi [DIE LINKE]) Das sind die Überlegungen, die aus meiner Sicht jetzt erörtert werden sollten. Ich freue mich auf die weiteren Aber dafür sind bei uns Zivil- und Strafgerichte da. Beratungen und danke herzlich. (Zuruf der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. GRÜNEN]) Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Existierende Aufsichtsbehörden stärken? Gerne! Persön- liche Haftung von Managern? Das wäre mal eine Idee; Vizepräsidentin Petra Pau: war ein Antrag der AfD. Das Wort hat der Abgeordnete Tobias Matthias Peterka (Beifall bei Abgeordneten der AfD) für die AfD-Fraktion. Aber der grundlegende Schalter unserer Wirtschaft bleibt (Beifall bei der AfD) bitte auf „freiheitlich“ und geht nicht auf „staatsgelenkt“. Die Grünen gehen mit ihrem dazugestellten Antrag in Tobias Matthias Peterka (AfD): eine deutlich sinnvollere Richtung. Die Marktkonzentra- Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Heute, am Freitag- tion bei den vier großen Prüfungsgesellschaften ist ein nachmittag, unterhalten wir uns über die Reform der Problem; auch die Quersubventionierung der Beraterleis- Wirtschaftsprüfung. Bis vorhin stand hier an der Medien- tungen ist ein Problem. Der Ansatz von Joint Audits, also wand noch „Reform der Wirtschaftsplanung“. Ich halte das Vieraugenprinzip – es wurde schon erklärt –, mit es durchaus für einen Freud’schen Versprecher der mittelständischen Prüfern, die auch zum Zuge kommen antragstellenden Linksfraktion. können, würde durchaus zwei Fliegen mit einer Klappe Der hinlänglich bekannte Wirecard-Skandal, der dem schlagen: erstens allzu große – ich nenne es mal so – Antrag zugrunde liegt, hat uns definitiv vor Augen Vertraulichkeit zwischen Prüfern und Unternehmen, geführt, dass nicht alles Gold ist, was im Bereich der zweitens Abbau von Marktzugangshürden für die kleinen Wirtschaftsprüfung glänzt. Da wird noch einiges, auch Prüfer. Konkurrenz belebt das Geschäft, verhindert auch von Kay Gottschalk, meinem Kollegen, aufzuklären sein. Filz und Amigokumpanei. 24798 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Tobias Matthias Peterka (A) (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Und Amigos Dann hatten wir gestern eine interessante, sehr akade- (C) bei Wirecard? Marsalek ist euer Amigo!) mische und abstrakte Diskussion mit einem Wirtschafts- prüfer von Ernst & Young, der uns über zwei Stunden – Diese sind, liebe Linke, keine Fehler eines freien Mark- sehr belesen – klargemacht hat, warum es irgendwie doch tes; sie sind gerade der Ausdruck der Abwesenheit eines Möglichkeiten gibt, dass man da vielleicht nicht so genau freien Marktes. hinschauen muss und dass ein Atari-mäßiger Kontoaus- Den Antrag der Grünen können wir im Ausschuss druck als Beleg ausreicht, was nicht mal ein Zwölfjähri- diskutieren. Definitiv unschön bleibt bei dem Antrag ger glauben würde. Gleichzeitig lesen wir in Dokumenten jedoch das Andocken an die unsägliche Spitzelrichtlinie eines anderen Wirtschaftsprüfers, der mit Ernst & Young der EU. Der sogenannte Whistleblower ist ja ein grünes in die Diskussion gegangen ist, der nachgehakt und Steckenpferd, zusammen mit der Presselobby. Bis in klei- gefragt hat: „Glaubt ihr denn wirklich, dass das aus- ne Unternehmen hinein sollen Arbeitgeber und Arbeit- reicht?“: Die haben bis zum Schluss geglaubt, dass das nehmer gegeneinander aufgehetzt werden; Vertraulich- ausreicht. keit wird zum Zufalls- oder Wegwerfprodukt. Das Das ist ein Problem, meine Damen und Herren, können wir so nicht stehen lassen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Unternehmen gehören anständig geprüft, die Prüfer Abg. Fabio De Masi [DIE LINKE]) gehören anständig überwacht, und Entscheider müssen kongruent haften. Auf der Basis kommen wir dann schon und es ist vor allem deswegen ein Problem, weil es zeigt, zusammen. dass es einen Kulturwandel in dieser Branche braucht. Davon bin ich zutiefst überzeugt. (Beifall bei der AfD – Fabio De Masi [DIE LINKE]: Nein, so kommen wir nicht zusam- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) men! – [CDU/CSU]: Gut, Wir können mit den Maßnahmen, die Grüne, Linke und dass Sie nicht für Ihre Entscheidungen haften die Koalition in die Diskussion einbringen, mit Sicherheit müssen! – Fabio De Masi [DIE LINKE]: Die einige wichtige Punkte machen. Aber wenn es in der dicksten Kumpel von Marsalek! Immer den Wirtschaftsprüferbranche keinen Kulturwandel gibt – Mund voll nehmen!) wenn ganz offensichtliche Probleme sichtbar sind, darf man nicht blumig und mit hundert Vorschriften erklären, Vizepräsidentin Petra Pau: warum das schon so passt, anstatt einfach auszusprechen: Das Wort hat Dr. Jens Zimmermann für die SPD-Frak- hier existiert ein Problem; hier kann etwas nicht stim- tion. men –, werden wir es mit unseren Reformen sehr schwer (B) haben, solche Probleme wie bei Wirecard zu verhindern. (D) (Beifall bei der SPD) Herzlichen Dank. Dr. Jens Zimmermann (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es der CDU/CSU – Fritz Güntzler [CDU/CSU]: ist, finde ich, eine gute Tradition geworden: Wir machen Genau so ist es!) am Donnerstag im Wirecard-Untersuchungsausschuss bis in die Puppen durch, und am Freitagnachmittag tref- Vizepräsidentin Petra Pau: fen wir uns hier wieder, um das Ganze in einer zweiten Das Wort hat der Kollege Hartmut Ebbing für die FDP- Halbzeit fortzusetzen. Aber wenn ich auf die 15 Stunden, Fraktion. die wir gestern miteinander verbracht haben, zurück- schaue, dann stelle ich fest, dass unsere Diskussion im (Beifall bei der FDP) Vergleich zu letzter Woche wieder einige neue Erkennt- nisse gebracht hat, für mich unter anderem die, dass Hartmut Ebbing (FDP): Abschlussprüfer gute Arbeit machen können, aber auch Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und komplett versagen können. Das ist ungefähr die Band- Kollegen! breite, die sich uns gestern im Untersuchungsausschuss dargestellt hat. Deswegen ist es wichtig, daraus jetzt die (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: richtigen Schlüsse zu ziehen. Du kannst die Maske abnehmen!) Ich mache das an einer Sache fest: Im Jahr 2019 hatte – Danke. die Wirecard AG eine Bilanzsumme von 5,9 Milliarden Euro. 1,9 Milliarden Euro lagen auf den Philippinen auf (Heiterkeit) einem Treuhandkonto Besser so als andersherum, nicht? (Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Die waren doch (Beifall des Abg. [DIE LINKE]) gar nicht da! – Matthias Hauer [CDU/CSU]: Mein Berufsstand ist mal wieder in der Öffentlichkeit. Oder auch nicht!) Und erneut stelle ich fest, dass viele in der Öffentlichkeit eines bestenfalls dubiosen Treuhänders. Man sieht schon zwar wissen, was ein Anwalt macht, was ein Steuerbera- an diesen Zahlen: Das Geld auf diesem Treuhandkonto ter so macht, aber nicht genau wissen, was ein Wirt- hat einen wesentlichen Teil des Wertes dieses Unterneh- schaftsprüfer macht, der einen Jahresabschluss zu prüfen mens ausgemacht. hat. Es ist jedenfalls bisher nicht unsere Aufgabe, Betrug Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24799

Hartmut Ebbing (A) festzustellen; das ist, glaube ich, wesentlich. Wenn es so natürlich auch der Umfang der Ausbildung. Die Corpo- (C) sein soll, dann gerne; aber bisher ist es nicht unsere Auf- rate Governance muss eindeutig verbessert werden; das gabe. hat der Fall gezeigt. Und: Neben der Abschlussprüfung Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass sich Die Linke müssen verstärkt hoheitliche Eingriffsrechte bei einem und die Grünen am Gesetzgebungsverfahren zum FISG Anfangsverdacht möglich sein. beteiligen möchten. Aber waren es nicht auch die Grünen Zum Schluss. Die Verschwiegenheit des Wirtschafts- und die Linken, die selbst immer wieder gesagt haben: prüfers ist ein hohes Gut; es muss aber eindeutige gesetz- „Erst wollen wir aufklären, und danach wollen wir die liche Regelungen geben, wann ein WP reden darf. Die Schlüsse ziehen“? jetzigen Unsicherheiten können nicht durch eine Ent- scheidung des BGH beseitigt werden. Wir sind die Legis- (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) lative. Wenn es Unsicherheiten gibt, dann müssen wir die Daran möchten wir von der FDP jedenfalls festhalten: bisherigen Regelungen eindeutiger gestalten. Das sollten Keine Schnellschüsse, sondern erst mal gucken, was der wir ganz schnell machen. Untersuchungsausschuss bringt. Dann können wir gerne Vielen Dank. die Regularien, die wir haben, verbessern. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Fritz (Beifall des Abg. Dr. Jürgen Martens [FDP]) Güntzler [CDU/CSU] – Fritz Güntzler [CDU/ – Ja, das ist mal einen Applaus wert, würde ich sagen. CSU]: Es ist immer gut, dass einer redet, der (Heiterkeit – Beifall bei der FDP sowie bei Ab- was von der Sache versteht!) geordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Jens Zimmermann [SPD]) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Großteil der in den Anträgen der Linken und der Das Wort hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion Grünen enthaltenen Vorschläge hätte den Fall Wirecard Bündnis 90/Die Grünen. meines Erachtens nicht verhindert. Vielmehr würden sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dem Wirtschaftsstandort Deutschland auch noch massiv schaden. Auch die Verschärfung der Haftungsregeln hätte Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den Fall nicht verhindert. Vielmehr treffen strenge Haf- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wurde tungsregeln nicht nur die Kollegen der großen Prüfungs- bereits darauf hingewiesen: Wir haben gestern viel Zeit gesellschaften, sondern vor allem auch die kleinen und im Untersuchungsausschuss verbracht, bis nachts um mittelständischen WP-Praxen. halb vier. Wir hatten sowohl einen Vertreter von KPMG (B) Wollen wir in dieser ohnehin schweren Zeit den Mittel- als auch verschiedene Prüfer von EY zu Gast. (D) stand in Deutschland weiter belasten? Bei einem deut- Man kann natürlich sagen – um Herrn Fritz Güntzler zu lichen Anstieg der Haftungssummen wird die Haftung zitieren –: Ein Hauptproblem war, dass der PS 302, der bei kleineren Prüfungen das Honorar um ein Vielfaches Prüfungsstandard 302, des Instituts der Wirtschaftsprüfer überschreiten, während bei großen Prüfungen das Hono- nicht eingehalten worden ist. rar weiterhin deutlich über der Haftungssumme liegen wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Deshalb mein der LINKEN – Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Vorschlag!) Sehr richtig! Gut aufgepasst!) – Deswegen war der Vorschlag ganz gut; das finde ich – Gut aufgepasst, genau. – Man kann natürlich sagen: Das auch. war das Hauptproblem. Wenn das gemacht worden wäre, (Beifall der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack- wenn EY vernünftig geprüft hätte, wenn auch EY der Zimmermann [FDP]) Meinung gewesen wäre, dass die Einholung von Drittbes- tätigungen auch einen konkreten Kontoauszug umfasst, Im Ergebnis würde dies zu einer weiteren Konzentration auf dem tatsächlich 1,9 Milliarden Euro ausgewiesen führen. Und ja, auch ich finde, eine Dynamisierung ist sind, dass das wichtiger Teil der Prüfung ist, dann hätten eine tolle Sache. wir den ganzen Skandal nicht gehabt, dann hätten wir die Auch eine noch so saubere Trennung von Prüfung und ganzen Probleme nicht, dann wären die 10 Milliarden Beratung hätte den Fall Wirecard nicht verhindert. Es gibt Euro noch da, dann wäre alles kein Problem. bei der Prüfung von Unternehmen im öffentlichen Inte- resse jetzt schon sehr weitreichende Einschränkungen bei (Beifall der Abg. Dr. Franziska Brantner der Erbringung von Prüfungs- und Beratungsleistungen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ein vollständiges Verbot der Erbringung von Nicht- Das wäre der Abschluss dieses Untersuchungsausschus- prüfungsleistungen würde meines Erachtens eindeutig ses und der Beschäftigung mit dem Untersuchungsgegen- zulasten der Prüfungsqualität gehen. Aber auch da gilt stand, und dann bräuchten wir tatsächlich nicht mehr groß es meines Erachtens, die Erkenntnisse des Untersu- über Reformen bei der Wirtschaftsprüfung zu reden; denn chungsausschusses abzuwarten. im Kern bestünde doch eigentlich nur das kleine Pro- Was kann helfen? Wenn Betrug aufgedeckt werden blem: EY hat den PS 302 des Instituts der Wirtschafts- prüfer nicht eingehalten. soll, muss der Auftragsumfang der Abschlussprüfung erweitert werden – nämlich auf Betrug – und in der Folge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 24800 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Lisa Paus (A) So einfach ist es nicht, meine Damen und Herren. Viel- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) mehr gibt es seit Jahren einfach eine massive Marktmacht Kollegin Paus, das müssen Sie jetzt verschieben, bitte. und Konzentration im Bereich der Wirtschaftsprüfer. Man kann davon reden, dass ähnlich wie bei den Banken Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): in diesem Bereich ein „too big to fail“ gilt. Es gibt ja jetzt Wir sagen nicht einfach: „Alles rauf“, sondern wir schon große Panikattacken, dass wir aufgrund dieses müssen das staffeln. Aber auch da müssen wir ran, weil Skandals bei EY plötzlich nicht mehr die Big Four haben, es völlig absurd ist, dass es in Deutschland einen Berufs- die alle DAX-30-Unternehmen prüfen – beim MDAX stand gibt, bei dem es eine solche Ausnahme gibt, wäh- und beim SDAX sieht es nicht viel anders aus –, weil rend es überall sonst anders ist. Das sollte auch bei den die anderen alle sagen: Das können wir gar nicht. – Wirtschaftsprüfern geändert werden. Also totale Marktkonzentration! Das Ergebnis dieses Skandals ist jetzt womöglich, dass wir dann nur noch Vielen Dank. drei haben, also nicht mehr einen Quadrupol, sondern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nur noch einen Tripol. Das ist sozusagen das Ergebnis von Wirecard. Vizepräsidentin Petra Pau: Wir müssen jetzt im Bereich der Wirtschaftsprüfung Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU- ganz dringend dafür sorgen, dass wir wieder Marktver- Fraktion. hältnisse haben, damit in diesem Bereich auch vernünftig Prüfungen und Aufsicht stattfinden können, meine (Beifall bei der CDU/CSU) Damen und Herren. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Fritz Herren! Wenn wir über die Wirtschaftsprüfung sprechen, Güntzler [CDU/CSU]: Aber nicht mit Ihren dann bitte ich, zu differenzieren. Wir haben auf der einen Maßnahmen!) Seite viele Hundert kleine und mittelständische Wirt- Deswegen hat eben auch meine Fraktion einen Antrag schaftsprüfungskanzleien, die vor allen Dingen für das vorgelegt. Handwerk und für den Mittelstand taugliche und kompe- tente Ansprechpartner sind, und auf der anderen Seite Wir brauchen erstens eine Trennung von Prüfung und natürlich eine Konzentration von vier großen Wirt- Beratung. schaftsprüfungsgesellschaften. Diese Struktur dürfen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir nicht aus den Augen verlieren. Es waren übrigens (B) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) mal fünf große Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Eine (D) hat sich vor zwanzig Jahren wegen eines Betrugsfalls Die Quersubventionierung muss ein Ende haben. Sie ist selbst aus dem Rennen genommen. zentral dafür, dass sich diese Marktmacht überhaupt etab- lieren konnte. Wir wissen sehr wohl: Das geht nicht von (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: heute auf morgen; das ist ein Prozess. Aber gerade des- Genau!) wegen sagen wir: Fangen wir jetzt schon an, damit wir Ich glaube, wir müssen sehr gut aufpassen, dass wir aus auch die Zeit haben, um das zu machen. Großbritannien dem Oligopol der großen Vier durch Maßnahmen am hat es vorgemacht. Sie haben denen entsprechend Zeit Ende nicht ein Duopol oder ein Monopol machen. gegeben. So schlagen wir es auch in unserem Antrag vor. Lassen Sie uns gemeinsam diesen Pfad gehen, damit Wir brauchen auch auf dem Prüfungsmarkt eine Viel- die Trennung dann auch tatsächlich stattfindet! Wir den- falt, und es muss vor allen Dingen natürlich auch die ken, bis 2024 ist ein realistischer Zeitraum, in dem das Möglichkeit für Unternehmen geben, Wirtschaftsprü- geschafft werden kann, meine Damen und Herren. fungsgesellschaften auszutauschen. Wenn die Kompe- tenz in Wirtschaftsprüfungsgesellschaften so gebündelt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist, dass gerade große Mandate nur noch von ganz weni- Das Zweite wurde auch schon angesprochen: Wir müs- gen angenommen werden können, dann verfestigt sich sen die Unabhängigkeit der Prüferinnen und Prüfer durch möglicherweise eine Kultur – vielleicht auch eine Fehler- Joint Audits stärken, sodass es möglich wird, dass eben kultur –, die wir in dem Maße nicht gutheißen können. nicht eine Gesellschaft prüft, sondern zwei Gesellschaf- Deswegen, glaube ich, brauchen wir in der Tat eine sehr ten prüfen. Es wird übrigens immer gesagt: Das macht intensive Debatte darüber, wie wir die Wirtschaftsprü- alles teurer. – Es gibt wissenschaftliche Studien, die fung weiterentwickeln, und da müssen wir über ein paar unterstreichen: Das Gegenteil ist der Fall. Das macht es Ansätze diskutieren, die wichtig sind. in der Summe für alle Beteiligen günstiger. Ich glaube, es ist gegen ein sogenanntes Joint Audit nicht viel einzuwenden, aber wenn ein Joint Audit nur (Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Die würde ich dazu führt, dass aus den Großen Vier wiederum jeweils aber gerne mal sehen!) zwei die Mandate bekommen, dann hätten wir den Klei- Auch deswegen, sagen wir, müssen wir das machen. neren nicht geholfen. Dritter und heute letzter Punkt. Wir brauchen tatsäch- Wir müssen auch darüber sprechen, ob die Trennung lich auch eine Veränderung der Haftungsgrenzen. Wir zwischen Prüfung und Beratung ein tauglicher Ansatz- können gerne darüber reden, wie wir das genau ausge- punkt ist. Die Generierung von Wissen in den Wirt- stalten, Herr Hirte. Sie haben unseren Antrag gesehen. schaftsprüfungsgesellschaften und die Compliance in Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24801

Dr. Volker Ullrich (A) den Unternehmen selber müssen hier auch ein Stück weit – Alle außer ihn. Die Wirtschaftsprüfer! (C) gegengerechnet werden. Es soll ja einer Wirtschaftsprü- fungsgesellschaft nicht generell verboten werden, ander- (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Weil Sie „die weitig noch Beratungsgeschäft zu generieren. Nur, dieses Wirtschaftsprüfer“ sagen! – Gegenruf des Beratungsgeschäft darf eben nicht so auf das Prüfungs- Abg. Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Er ist ja geschäft durchschlagen, dass es hier zu Interessenkonf- kein Wirtschaftsprüfer! Der Einzige, der keiner likten kommt. Diese Interessenkonflikte müssen wir aus- ist! – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- räumen. NEN]: Genau! Ist ja keiner!) Wir müssen aber auch darüber sprechen, inwieweit die Eines will ich ganz deutlich sagen, liebe Kolleginnen und Wirtschaftsprüfung in Richtung einer stärkeren forensi- Kollegen: Gerade jetzt, nach diesem größten bandenmä- schen Prüfung fortentwickelt werden kann. Es geht also ßigen Bilanzbetrug, der unserem Wirtschaftsstandort um die Frage: Werden Compliance-Verstöße ein Stück Deutschland massiv geschadet hat, ist nicht eine Zeit weit stärker verfolgt? – Hier wäre die Frage, ob man der radikalen Stille angezeigt. aufseiten der Aufsichtsräte nicht die Prüfungsausschüsse (Beifall bei der SPD und der LINKEN) stärken sollte, damit sie auch ein Stück weit eine eigen- ständige Kompetenz erhalten. Wir haben Vertreter von EY gesehen, die versucht haben, sich aus ihrer Verantwortung herauszuwinden. Schließlich müssen wir darüber sprechen, ob die Regu- Das waren Wirtschaftsprüfer, die für eine der größten lierungsbehörde, die BaFin, ihre Aufsichtspflicht hier Wirtschaftsprüferkanzleien auf der Welt arbeiten. Ihr noch stärker wahrnehmen sollte bzw. muss. Motto „Building a better world“ schien ihnen eine Nach- Ich glaube, insgesamt lässt sich sagen, dass wir die richt von einem anderen Stern zu sein. Statt aufzuklären, Ergebnisse des Wirecard-Untersuchungsausschusses wie man Scheingeld testieren konnte, versteckt sich EY abwarten und bewerten sollten. hinter fadenscheinigen Argumenten, liebe Kolleginnen Wir müssen zudem dafür Sorge tragen, dass die Funk- und Kollegen. Damit schadet EY nicht nur sich selbst, tion der Wirtschaftsprüfung beibehalten und gestärkt sondern dem Berufsstand der Wirtschaftsprüfer insge- wird, nämlich auf der einen Seite die Lauterkeit der samt. Abschlüsse zu prüfen und auf der anderen Seite auch Ja, die meisten Wirtschaftsprüfer gehen ihrem Beruf die Informationsfunktion für den Kapitalmarkt wahrzu- äußerst akribisch nach. Sie prüfen gewissenhaft die nehmen. Da kommt Wirtschaftsprüfern eine wichtige und Bücher von Tausenden Unternehmen. Weil der Kollege auch gewichtige Rolle zu. Ich glaube, das ist nicht nur Ebbing hier gesagt hat, es sei nicht Auftrag der Wirt- eine Frage der Vorschriften allein, sondern auch eine schaftsprüfung, Betrug aufzuklären, muss man, meine (B) Frage der Kultur und der Fehlerkultur. Da wird es auch ich, auch wissen: Wirtschaftsprüfung ist in diesem Land (D) notwendig sein, dass sich hier am Bewusstsein etwas ein öffentlicher Auftrag. Auf ihr Urteil verlassen sich die ändert. Anleger, die Mitarbeiter, die Behörden und die Öffent- Letztlich kann Wirtschaftsprüfung allein kriminelles lichkeit. – Der Fall Wirecard hat dieses Vertrauen massiv Handeln von Vorständen und Aufsichtsräten nicht verhin- zerstört, und deswegen müssen wir die Wirtschaftsprü- dern. Aber man kann dazu beitragen, dass das besser auf- fung reformieren. gedeckt wird und dass durch Frühwarnsysteme entspre- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie chende Strukturen entdeckt werden. bei Abgeordneten der CDU/CSU) In dem Sinne: Lassen Sie uns über diese Fragen mit Solange Prüfer und Prüfling jahrzehntelang gemeinsam sehr viel Sorgfalt diskutieren! in einen Jacuzzi steigen, können wir nicht von Prüfung Herzlichen Dank. sprechen, und deshalb müssen und werden wir die Rota- tionspflicht verschärfen. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch die Haftungsgrenze von 4 Millionen Euro, die es Vizepräsidentin Petra Pau: im Moment gibt, muss fallen. Es kann nämlich nicht sein, Das Wort hat die Kollegin Kiziltepe für die SPD-Frak- dass in diesem Land Hebammen unbegrenzt haften, wäh- tion. rend Wirtschafsprüfer sich auf ihren Haftungsprivilegien ausruhen können. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der LINKEN]) Cansel Kiziltepe (SPD): Und im Entwurf des Finanzmarktintegritätsstärkungsge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! setzes stehen genau diese Maßnahmen alle schon drin. Bevor ich zu den notwendigen Reformen im Bereich Aber das reicht noch nicht. der Wirtschaftsprüfung komme, möchte ich gerne noch Auch bei der APAS, der Abschlussprüferaufsichtsstel- etwas zum gestrigen Auftritt der Wirtschaftsprüfer im le, müssen wir ran, müssen wir nachschärfen. Die Rechts- Untersuchungsausschuss sagen. Es war wie ein Schwei- aufsicht hat hier komplett versagt; eine Fachaufsicht gab gekloster. Ein Schweigekartell zog stundenlang durch es in diesem Bereich gar nicht. Eine Behörde, die wie die den Ausschusssaal. APAS frei fungiert – hier hätte man eigentlich den Betrug (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Meinen Sie den erkennen und nachverfolgen sollen –, braucht kein Herrn Geschonneck?) Mensch. Und damit die APAS kein Buddy-Verein der 24802 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

Cansel Kiziltepe (A) Big Four bleibt, brauchen wir die Fachaufsicht durch das (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Parla- (C) Bundeswirtschaftsministerium, und das werden wir auch mentarische Demokratie!) angehen. gerade mit den Stimmen der Oppositionsfraktionen, rein- (Beifall bei der SPD) geschrieben haben, dass es die Aufgabe des Untersu- Herr Altmaier – er ist heute nicht da – wollte in der chungsausschusses sein soll, Empfehlungen zu erarbei- Ressortabstimmung diese Punkte leider nicht. Ich bin ten. Vielleicht sollte man die Aufklärung abwarten und aber zuversichtlich, dass die neuen Erkenntnisse aus dann kluge Vorschläge machen und diskutieren. dem Untersuchungsausschuss zur Einsicht beitragen wer- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – den. Fabio De Masi [DIE LINKE]: Wir machen Liebe Kolleginnen und Kollegen, anfangen sollten wir schon vorher gute Vorschläge!) damit, dass EY keine weiteren öffentlichen Aufträge Wenn ich mir die beiden Anträge angucke, dann stelle erhält, – ich fest: Die Linken stellen gleich im ersten Satz die steile Behauptung auf: Es gibt ein Defizit in der deutschen Vizepräsidentin Petra Pau: Wirtschaftsprüfung. – Diese These ist, jedenfalls durch Achten Sie bitte auf die Zeit. die Tätigkeiten im Untersuchungsausschuss, derzeit nicht belegt. Im Gegenteil – Herr Dr. Zimmermann hat ja auch Cansel Kiziltepe (SPD): darauf hingewiesen – können wir bis jetzt nicht feststel- – bevor sie nicht umfangreich zur Aufklärung beige- len, dass es ein absolutes Systemversagen in der tragen haben. Wir wollen eine Wirtschafsprüferreform, Abschlussprüfung gegeben hat. die die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfung schärft. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir nicht auf die lange Bank schieben und Hat ja nur sechs Jahre gedauert!) dabei totdiskutieren, sondern das wollen wir so bald wie möglich. Es gibt vielmehr den doch scharfen Verdacht, sag ich mal, Danke. dass hier Prüfer in einem Einzelfall die ihnen obliegenden Pflichten nicht eingehalten haben und die Prüfung nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nach den geltenden Standards durchgeführt wurde. Und der CDU/CSU) das ist ein Unterschied; da fragt man sich, ob ein ganzes System ausgehebelt werden muss, nur weil einer sich Vizepräsidentin Petra Pau: nicht an die Regeln hält. Außerdem leben wir in einem Rechtsstaat, und ich bin der Auffassung, dass eine Vor- (B) Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege (D) Fritz Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion. verurteilung vielleicht nicht ganz fair ist. (Beifall bei der CDU/CSU) (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Macht doch keiner!) Fritz Güntzler (CDU/CSU): Wir haben im Untersuchungsausschuss festgestellt und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sind der Meinung: Die Verschwiegenheitspflicht wäre Was kann es Schöneres geben, als am Schluss einer Sit- nicht gegeben für die Vertreter von EY, weil wir eine zungswoche über die Wirtschaftsprüfung zu debattieren, andere Rechtsauffassung haben als deren Rechtsvertreter. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD – Aber ehrlicherweise muss man sagen: Man kann auch Beifall des Abg. Hartmut Ebbing [FDP]) diese Rechtsmeinung – sie ist teilweise von OLG-Recht- sprechung gedeckt – vertreten. – Und wenn es hier ein nachdem wir, wie es ja schon mehrfach erzählt wurde, Restrisiko gibt, dann kann man vertreten, dass man dies 15 Stunden mit verschiedenen Kollegen aus der Wirt- so vorträgt. Da bin ich beim Kollegen Ebbing, der gesagt schaftsprüfung von der KPMG, von EY und auch von hat: Wenn es diese Rechtsunsicherheit gibt, ist es eigent- Baker Tilly im Untersuchungsausschuss verbracht lich kein gutes Zeichen des Parlamentes, auf den BGH zu haben? Also: ein spannendes Thema. warten, sondern vielleicht sollten wir als Gesetzgeber Ich glaube auch, dass der Wirecard-Skandal Grund auch an diesem Punkt tätig werden. genug ist, sich mit der Abschlussprüfung in Deutschland zu beschäftigen. Dieser Skandal hat erst mal dazu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten geführt, dass das Vertrauen in die Abschlussprüfung der CDU/CSU) gestört wurde. Jetzt müssen wir gucken, ob es deshalb Ein zweiter Punkt, der mir wirklich wichtig ist, auch Maßnahmen geben muss. als Vertreter einer mittelständischen Gesellschaft, die im Ich würde deshalb eindringlich davor warnen, dass wir Rahmen der Wirtschaftsprüfung tätig ist: Ich verstehe den jetzt in einen Aktionismus verfallen, dass ein Antrag dem Ansatz, dass man Konzentrationsprozesse verhindern anderen folgt – letzte Woche einer von der AfD, heute will. Das war übrigens auch Thema der Abschlussprüfer- von den Grünen, dann von den Linken usw. usw. –, reform 2016. Ich befürchte nur – und darüber sollten wir wirklich ernsthaft diskutieren; die Zeit hierzu ist jetzt (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Ja, so ist nicht da –, dass die Maßnahmen, die hier teilweise vor- das im Parlamentarismus!) geschlagen worden sind – Haftung, Trennung von Prü- obwohl wir uns selber in den Untersuchungsauftrag, der fung und Beratung sowie Rotation –, gerade zum Gegen- hier beschlossen wurde, teil führen, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24803

Fritz Güntzler (A) (Zuruf der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident in Petra Pau: (C) GRÜNEN]) Ich schließe die Aussprache. dass wir mehr Konzentration in den Markt kriegen. Wir Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf würden das Kind mit dem Bade ausschütten und würden den Drucksachen 19/22204 und 19/23730 an die in der genau das Gegenteil erzielen. Das sollte nicht unser Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. gemeinsamer Wille sein. Von daher sollten wir das sehr Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht sorgfältig diskutieren und keine Schnellschüsse machen. der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. Sorgfalt vor Eile! Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- (Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Ich habe es nung. eilig!) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Jetzt wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende. tages auf Dienstag, den 8. Dezember 2020, 10 Uhr, ein. Herzlichen Dank. Die Sitzung ist geschlossen. Ich danke Ihnen und wün- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sche Ihnen alles Gute. ordneten der SPD) (Schluss: 16.16 Uhr)

Berichtigung 195. Sitzung, Seite 24705 C, dritter Absatz, dritter Satz ist wie folgt zu lesen: „Ich sehe zum Beispiel bei der Bundeswehr die Funktion des interkulturellen Ein- satzberaters diesbezüglich als außerordentlich wertvoll an, weil unsere Soldaten dadurch in die Lage versetzt werden, in einem schwierigen, unübersichtlichen Terrain auf die verschiedenen Gegebenheiten und die verschie- denen Volksgruppen angemessen zu reagieren; das ist wichtig.“

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020 24805

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Altmaier, Peter CDU/CSU Miazga, Corinna AfD Bär, Dorothee CDU/CSU Mieruch, Mario fraktionslos Beutin, Lorenz Gösta DIE LINKE Müller (Potsdam), Norbert DIE LINKE Brandt, Michel DIE LINKE Müller, Dr. Gerd CDU/CSU Busen, Karlheinz FDP Nestle, Dr. Ingrid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Connemann, Gitta CDU/CSU Nietan, Dietmar SPD Dağdelen, Sevim DIE LINKE Noll, Michaela CDU/CSU Dehm, Dr. Diether DIE LINKE Nord, Thomas DIE LINKE Ehrhorn, Thomas AfD Oehme, Ulrich AfD Fahimi, Yasmin SPD Petry, Dr. Frauke fraktionslos Felser, Peter AfD Pilger, Detlev SPD Freihold, Brigitte DIE LINKE Pohl, Jürgen AfD Gabelmann, Sylvia DIE LINKE Remmers, Ingrid DIE LINKE Gottberg, Wilhelm von AfD (B) (D) Rimkus, Andreas SPD Grötsch, Uli SPD Sauter, Christian FDP Hartmann, Verena fraktionslos Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU Hebner, Martin AfD Schlund, Dr. Robby AfD Hemmelgarn, Udo Theodor AfD Schmidt, Uwe SPD Herrmann, Lars fraktionslos Schneidewind-Hartnagel, BÜNDNIS 90/ Herzog, Gustav SPD Charlotte DIE GRÜNEN Irmer, Hans-Jürgen CDU/CSU Steinke, Kersten DIE LINKE Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/ Tack, Kerstin SPD DIE GRÜNEN Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ Junge, Frank SPD DIE GRÜNEN Kemmer, Ronja* CDU/CSU Ullmann, Dr. Andrew FDP Kleinwächter, Norbert AfD Ulrich, Alexander DIE LINKE Kolbe, Daniela SPD Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE Konrad, Carina FDP Weber, Gabi SPD Lotze, Hiltrud SPD Weiler, Albert H. CDU/CSU Maier, Dr. Lothar AfD Weingarten, Dr. Joe SPD Marschall, Matern von CDU/CSU Weiss (Wesel I), Sabine CDU/CSU Mast, Katja SPD 24806 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. November 2020

(A) – Unterrichtung durch die Bundesregierung (C) Abgeordnete(r) Bericht der Bundesregierung über die Arbeit der Nationalen Kontaktstelle für die OECD-Leitsätze Westig, Nicole FDP für multinationale Unternehmen im Jahr 2019 Zdebel, Hubertus DIE LINKE Drucksachen 19/21175, 19/22346 Nr. 1.9 Zeulner, Emmi CDU/CSU – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Programme zur Innovations- und Zimmermann, Pia DIE LINKE Technologieförderung im Mittelstand in der lau- fenden Legislaturperiode, insbesondere über die * aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Entwicklung des Zentralen Innovationspro- gramms Mittelstand (ZIM) Fortschrittsbericht für das Jahr 2019 Drucksachen 19/23160, 19/23839 Nr. 3 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpo- Anlage 2 litik für konventionelle Rüstungsgüter im ersten Halbjahr 2020 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Drucksachen 19/23995, 19/24535 Nr. 6 Die Fraktion der AfD hat mitgeteilt, dass sie den Wahlvorschlag zur Wahl eines Mitglieds des Stiftungs- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben rates der „Stiftung Haus der kleinen Forscher“ auf Druck- mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- sache 19/24430 zurückzieht. onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mitge- teilt, dass sie den Antrag „Naturzerstörung und Wildtier- Haushaltsausschuss Drucksache 19/24153 Nr. A.3 handel stoppen – Risiko für zukünftige Pandemien sen- Ratsdokument 11588/20 ken“ auf Drucksache 19/20561 zurückzieht. Ausschuss für Wirtschaft und Energie Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie (9. Aus- Drucksache 19/22367 Nr. A.37 schuss) hat mitgeteilt, dass er gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 EP P9_TA-PROV(2020)0199 (B) Drucksache 19/22694 Nr. A.2 (D) der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den Ratsdokument 10240/20 nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 19/24153 Nr. A.4 EP P9_TA-PROV(2020)0224 Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 19/23855 Nr. A.9 Ratsdokument 11418/20 Strategiepapier der Bundesregierung zur Stär- Drucksache 19/24153 Nr. A.5 kung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie EP P9_TA-PROV(2020)0238 Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksachen 19/17296, 19/17663 Nr. 1.2 Drucksache 19/22367 Nr. A.57 Ratsdokument 9338/20 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 19/23265 Nr. A.11 Ratsdokument 10736/20 Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik Drucksache 19/23855 Nr. A.10 für konventionelle Rüstungsgüter im Jahr 2019 Ratsdokument 11188/20

(Rüstungsexportbericht 2019) Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Drucksache 19/24546 Nr. A.21 Drucksachen 19/20370, 19/20806 Nr. 1.8 Ratsdokument 12405/20

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333