1908 – 2008 π festschrift zum 100-jährigen gründungsjubiläum 8 0 0 2 – 8 0 9 1

· 100 Jahre y e z l

A Rheinhessen-Fachklinik Alzey k i n i l k h c a F - n e s s e h n i e h R e r h a J 0 0 1

| RFK | Eine Einrichtung des Landeskrankenhauses (AöR) www.landeskrankenhaus.de π impressum

titel Illustration zum 100-jährigen Gründungsjubiläum der Rheinhessen-Fachklinik Alzey Zeichnung von Erhard Hütz, Alzey

redaktion Wolfgang Willenberg, Ref. Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Landeskrankenhaus (AöR), Andernach

layout und herstellung Peter Zilliken, bfk, Offenbach

ressourcenschutz Das für diese Druckschrift verwendete Qualitätspapier erfüllt die Anforderungen des Nordic Environmental Label (Swan-Umweltzeichen) 1908 – 2008 π festschrift zum 100-jährigen gründungsjubiläum

100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey Inhalt

Vorworte Grußworte

Dr. Gerald Gaß, Geschäftsführer Malu Dreyer, Staatsministerin des Landeskrankenhauses (AöR) 6 für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz 12 Direktorium der Rheinhessen-Fachklinik Alzey 8 Christoph Habermann, Aufsichtsrats- vorsitzender des Landeskrankenhauses (AöR) 14 Personalrat der Rheinhessen-Fachklinik Alzey 10 Walter Görisch, Landrat des Kreises Alzey-Worms 16

Christoph Burkhard, Bürgermeister der Stadt Alzey 17

4 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey Anhang

Dr. med. Wolfgang Gather Pressestimmen 1997 – 2007 114 I. Entwicklung der Psychiatrie als Wissenschaft 18 Auf einen Blick 132

Ludwig Lessel Autoren 136 II. Gründungs- und Baugeschichte 30 Impressum 139 Dr. Eva Heller-Karneth III. Innenleben 42

Renate Rosenau, Gunda John, Hedi Klee (Mitarbeit) IV. Die Alzeyer Landes- Heil- und Pflegeanstalt in der Zeit des Nationalsozialismus 66

Dr. med. Wolfgang Guth V. Konzeptionen zur zeitgemäßen Versorgung psychisch Kranker 104

| 5 Vorwort

Dr. Gerald Gaß, Geschäftsführer des Landeskrankenhauses (AöR)

Dr. Gerald Gaß

Sehr geehrte Leserinnen und Leser, die Rheinhessen-Fachklinik Alzey feiert im Jahr 2008 war 1911 bereits erreicht und erhöhte sich in den Folge- ihr 100-jähriges Bestehen. Eröffnet wurde die Klinik jahren kontinuierlich auf bis zu 595 Patientinnen am 1. November 1908 unter der damaligen Bezeich- und Patienten im Jahre 1917 – auch bedingt durch nung »Großherzogliche Landes-Irrenanstalt«, kurz die Folgen des I. Weltkrieges, in dessen Verlauf die darauf als »Großherzogliche Landes-Heil- und Pfle- Klinik zusätzlich als Lazarett für verwundete Solda- geanstalt«. ten genutzt wurde. Bei den Überlegungen hinsichtlich des Standortes Das dunkelste Kapitel ihrer 100-jährigen Geschichte, im damaligen Großherzogtum Hessen hatte sich die die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Stadt Alzey mit Nachdruck dafür eingesetzt, die Anstalt hat die Klinik in der jüngsten Vergangenheit umfas- nach Alzey zu holen, da man sich wirtschaftliche send aufgearbeitet. Wie viele andere psychiatrische Vorteile für Handel und Gewerbe versprach. Wie zutref- Krankenhäuser war auch die Alzeyer Klinik an dem fend und weitsichtig der Beschluss der damaligen »Euthanasie«-Programm der Nationalsozialisten betei- Alzeyer Stadtverordnetenversammlung war, zeigte sich ligt. Mehr als 450 Menschen wurden in dieser Zeit in den folgenden Jahren und Jahrzehnten. Die Klinik von Alzey aus in die damalige Tötungsanstalt nach entwickelte sich zu einem bedeutenden Wirtschafts- Hadamar transportiert. Zum Gedenken an die Opfer faktor über die Stadt Alzey hinaus und ist heute mit der Euthanasie wurde im Jahr 2005 ein Mahnmal mehr als 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der auf dem Gelände der Klinik errichtet. Aus der Schuld, größte Arbeitgeber in der Region. die die Klinik in dieser Zeit auf sich geladen hat, ist Das zum Gründungszeitpunkt für den Anstalts- der Rheinhessen-Fachklinik Alzey eine dauerhafte bau benötigte Gelände umfasste 100 hessische Morgen Verantwortung für die Zukunft erwachsen. – entsprechend 250.000 Quadratmetern. Die Planun- Nach dem II. Weltkrieg und der Gründung des gen für die äußere Gestaltung der Anstaltsgebäude Bundeslandes Rheinland-Pfalz entwickelte sich die wurden von 1902 bis 1904 im Großherzoglichen Hoch- Klinik unter der Bezeichnung »Landesnervenklinik bauamt in vorgenommen und orientierten Alzey« zu einer modernen klinischen Behandlungs- sich an den damals unter der Bezeichnung »Darm- einrichtung. städter Barock« weitverbreiteten Vorstellungen moder- Als Folge der Psychiatrie-Enquete der Bundesre- ner Architektur. Bauliche Stilelemente aus dieser Zeit gierung konnten in den 70er Jahren die Unterbrin- sind auch heute noch an zahlreichen gut erhaltenen gungsbedingungen für psychisch kranke Menschen Klinikgebäuden erkennbar. deutlich verbessert werden. Für das Land Rheinland- Die Kapazität der Klinik war zunächst für 400 Pfalz wurde Mitte der 90er Jahre mit dem Landes- Patientinnen und Patienten ausgelegt. Diese Zahl gesetz für psychisch kranke Personen die Grundlage

6 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

für eine umfassende Psychiatriereform geschaffen mit Nicht zuletzt das erfolgreich absolvierte KTQ-Zerti- der Zielsetzung, die großen psychiatrischen Kran- fizierungsverfahren dokumentiert den hohen Quali- kenhäuser zu verkleinern und eine dezentrale, gemein- tätsstandard der Behandlungsleistungen der Rhein- denahe psychiatrische Versorgung aufzubauen. An hessen-Fachklinik Alzey. Ich möchte deshalb an dieser dieser Aufgabe hat die damalige Landesnervenklinik Stelle die Gelegenheit nutzen, mich bei allen Mitar- Alzey von Beginn an mit großem Engagement mitge- beiterinnen und Mitarbeitern für die in den zurück- wirkt, zum heutigen Zeitpunkt kann der Psychiatrie- liegenden Jahren erbrachten Leistungen zu bedan- reformprozess für Rheinland-Pfalz als weitgehend ken. Mit ihrer Fachkompetenz und ihrem Engagement abgeschlossen bezeichnet werden. hat die gesamte Mitarbeiterschaft dazu beigetragen, Mit der Psychiatriereform verbunden war eine die Klinik zu dem zu gestalten, was sie heute ist – Modernisierung der Trägerstrukturen der damaligen ein modernes Dienstleistungsunternehmen im landeseigenen Betriebe, zu denen auch die Alzeyer Gesundheits- und Sozialwesen mit differenziertem Klinik zählte. Zum 1. Januar 1997 wurden die Landes- Leistungsangebot, moderner Infrastruktur und quali- nervenkliniken Alzey und Andernach sowie das Neuro- fiziertem Fachpersonal. logische Landeskrankenhaus Meisenheim in das zu Neben dieser überaus positiven Entwicklung konnte diesem Datum neu gegründete Landeskrankenhaus die Klinik zudem jederzeit davon profitieren, dass – Anstalt des öffentlichen Rechts – überführt. Die die enge Verbundenheit der Bürgerinnen und Bürger erfolgreiche Entwicklung des neuen Trägerunterneh- der Stadt Alzey mit ihrer psychiatrischen Klinik aus mens veranlasste die Landesregierung, weitere Einrich- den Gründungsjahren bis heute erhalten geblieben tungen in Bad Münster am Stein-Ebernburg, Mainz ist. und Meisenheim dem Landeskrankenhaus (AöR) anzu- Ich bin deshalb sehr zuversichtlich, dass die Klinik gliedern. weiterhin aus Vergangenheit und Gegenwart Perspek- Aus der Landesnervenklinik Alzey wurde die Rhein- tiven für die Zukunft wird entwickeln können und hessen-Fachklinik Alzey – Zentrum für Psychiatrie, wünsche der Rheinhessen-Fachklinik Alzey zu ihrem Psychotherapie und Neurologie. Der Zusammenschluss 100-jährigen Jubiläum alles Gute. der ehemals landeseigenen Einrichtungen unter das Den Leserinnen und Lesern der vorliegenden Fest- gemeinsame Dach des Landeskrankenhauses (AöR) schrift wünsche ich eine interessante und anregende mit einem eigenverantwortlichen, flexiblen Kranken- Begegnung mit unserer Einrichtung. hausmanagement brachte neue Dynamik und erheb- liche Synergieeffekte mit sich. Neben zahlreichen baulichen Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen konnten die bereits bestehenden Angebotsstrukturen der Rheinhessen- Dr. Gerald Gaß Fachklinik gesichert bzw. ausgebaut und neue Leis- Geschäftsführer des Landeskrankenhauses (AöR) tungsakzente im stationären, teilstationären und ambu- lanten Bereich gesetzt werden. Eine Auszeichnung von hoher Bedeutung erhielt die Rheinhessen-Fachklinik im November 2007: Als deutschlandweit erstes Krankenhaus mit einer foren- sisch-psychiatrischen Fachabteilung wurde die Klinik nach KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen) zertifiziert.

| 7 Vorwort des Direktoriums der Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Sehr geehrte Leserinnen und Leser, auf den folgenden Seiten stellen wir Ihnen die wechsel- ortnahen Angeboten in Rheinland-Pfalz bis heute wirkt. volle 100-jährige Geschichte der heutigen Rheinhes- Mit der Gründung des Landeskrankenhauses (AöR) sen-Fachklinik Alzey vor. Seit ihrem Gründungsjahr 1997 als Träger der Einrichtung vollzog die heutige 1908 als »Großherzogliche Landes-Irrenanstalt« war Rheinhessen-Fachklinik Alzey den Wandel zu einem die Einrichtung stets von zeitgeschichtlichen Einflüs- modernen Dienstleistungsunternehmen als Gesund- sen geprägt und ein Spiegel der Gesellschaft und deren heitszentrum mit verschiedenen fachrichtungsüber- jeweiliger Haltung gegenüber psychisch kranken greifenden Angeboten im stationären, teilstationären Menschen. Als ein besonders trauriges Kapitel der und ambulanten Bereich und als Gemeindepsychia- Geschichte der Klinik muss die Zeit der NS-Diktatur trisches Zentrum. mit ihrem sogenannten »Euthanasie«-Programm ange- Der Etablierung einer Psychiatrischen Institutsam- sehen werden. Zahlreiche Patientinnen und Patien- bulanz folgte im Juni 1999 die Eröffnung der neuen ten fielen damals einem systematisch geplanten Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Massenmord zum Opfer, an die heute das Euthana- -psychotherapie. Der ehemalige Langzeitbereich der sie-Mahnmal der Rheinhessen-Fachklinik Alzey erin- Klinik bietet heute als Psychiatrisches und heilpäda- nern soll. gogisches Heim Menschen mit psychischer, geistiger Nach den Jahren des Wiederaufbaus und der Stag- oder mehrfacher Behinderung gezielte Pflege, Betreu- nation setzte die vormalige Landesnervenklinik Alzey ung und Förderung sowohl innerhalb des Klinik- konsequent die Empfehlungen der Expertenkommis- geländes als auch in mehreren Außenwohngruppen sion von 1988 um. Dabei setzten der ärztliche Leiter mit angeschlossenen Tagesstätten in Bad Kreuznach, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klinik Bingen und Oppenheim. Maßstäbe mit einer sozialpsychiatrischen Ausrichtung, deren erklärtes Ziel der Dezentralisierung mit wohn-

8 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Dr. med. Wolfgang Guth Frank Müller Alexander Schneider

Das Leistungsangebot der Neurologischen Abtei- noch einmal erweitert – ein Angebot, für das die Klinik lung konnte im September 2000 mit der Einrich- im Rahmen des Innovationspreises 2007 des Landes tung einer vier Betten umfassenden Schlaganfallein- Rheinland-Pfalz ausgezeichnet wurde. heit noch einmal ausgebaut und verbessert werden. Die sehr erfolgreiche KTQ-Zertifizierung der Klinik Im Oktober 2000 wurde die Gerontopsychiatrisch/ im Jahre 2007 durch externe Gutachter bestätigte -geriatrische Tagesstätte in den Räumlichkeiten des die Leistungsfähigkeit und die Güte des Behand- Sozialzentrums auf dem Klinikgelände eröffnet. Seit lungs- und Betreuungsangebotes ebenso eindrucks- Mitte des Jahres 2003 ist der stationäre Bereich des voll wie die Zertifizierung der Schlaganfalleinheit Kinderneurologischen Zentrums Mainz in den Kran- (Stroke unit) innerhalb der Fachabteilung für Neuro- kenhausbetrieb der Rheinhessen-Fachklinik integriert, logie im gleichen Jahr. so dass die Klinik heute Behandlungsangebote für Wir laden Sie mit der vorliegenden Jubiläumsschrift Menschen in jedem Lebensalter vorhält – vom Klein- herzlich ein, die Entwicklung der Klinik mit Fachbei- kind bis zu hochbetagten Patientinnen und Patien- trägen und zahlreichen Bildern nachzuempfinden und ten. freuen uns auf Ihre Teilnahme an den Veranstaltun- Im April 2007 wurde das Leistungsspektrum durch gen des Trägers und der Rheinhessen-Fachklinik Alzey die Etablierung der Ambulanten psychiatrischen Pflege in ihrem Jubiläumsjahr 2008.

Dr. med. Wolfgang Guth Frank Müller Alexander Schneider Ärztlicher Direktor Pflegedirektor/Heimleiter Verwaltungsdirektor

| 9 Vorwort

Manfred Kiefer, Vorsitzender des Personalrates der Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Sehr geehrte Leserinnen und Leser, in diesem Jahr feiert die Rheinhessen-Fachklinik Alzey gestützter Therapiemöglichkeiten in den 50er und ihr 100-jähriges Gründungsjubiläum. 60er Jahren und insbesondere ab den 80er Jahren Von den Anfängen als »Großherzogliche Landes- des vergangenen Jahrhunderts wandelte sich die Irrenanstalt« über »Großherzogliche Landes- Heil- und Landesnervenklinik Alzey, später Rheinhessen-Fach- Pflegeanstalt« und Landesnervenklinik bis zu einem klinik Alzey, zu einem sozialpsychiatrisch ausgerich- modernen Anbieter im Gesundheitswesen und zu teten Leistungserbringer in der Region. einem Zentrum der gemeindenahen psychiatrischen, Gerade in den letzten beiden Dekaden wurde dieser psychotherapeutischen und neurologischen Versor- Prozess durch die Psychiatriereform in Rheinland- gung mit breit gefächertem Leistungsspektrum hat Pfalz und durch die Umwandlung von einem Landes- die Rheinhessen-Fachklinik Alzey eine wechselvolle betrieb in ein nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten Geschichte durchlebt. geführtes Unternehmen in der Trägerschaft des Landes- Im ausgehenden 19. bzw. beginnenden 20. Jahr- krankenhauses (AöR) geprägt. Für die MitarbeiterIn- hundert setzten Entwicklungen ein, die das »Anders- nen bedeuteten diese Entwicklungen ernorme Verän- sein« als Krankheit anerkannt haben. Mit ersten Ansät- derungen in ihrer gewohnten und bekannten Arbeits- zen zur Behandlung dieser Krankheitsformen wurde welt. Neuen Anforderungen und Wechseln zu ande- die Gründung von Einrichtungen, wie unserer Klinik, ren Arbeitsmethoden und -formen waren Herausfor- zur Versorgung psychisch erkrankter Menschen derungen, denen sich unsere KollegInnen erfolgreich notwendig. Während der Zeit des Nationalsozialismus gestellt haben. Mit gewerkschaftlicher Unterstützung wurde diese Entwicklung jedoch ins Gegenteil verkehrt. durch die damalige Gewerkschaft ÖTV – eine der Hier erlebte die Klinik das dunkelste Kapitel ihrer Gründungsgewerkschaften von ver.di – wurde die Geschichte – Euthanasie und Rassenideologie. Nach Umsetzung der Psychiatriereform begleitet. Durch dem 2. Weltkrieg, der Entwicklung pharmazeutisch Engagement und aktive Mitgestaltung der Mitarbei-

10 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Manfred Kiefer

terInnen hat sich die Rheinhessen-Fachklinik Alzey kommt die Klinik auch ihrer gesellschaftlichen Ver- von einem Landesbetrieb zu einem modernen, erfolg- pflichtung nach, was nicht überall selbstverständlich reichen Unternehmen und Erfolgsmodell hin entwi- ist, und stellt jungen Menschen über 90 Ausbildungs- ckelt. Beides Prozesse, die ohne die große Akzeptanz plätze, vor allem in der Gesundheits- und Kranken- und den Einsatz der MitarbeiterInnen unsere Klinik pflege, aber auch im kaufmännischen Bereich zur nicht zu den Erfolgen geführt hätten, wie sie sich heute Verfügung. darstellt. Ich wünsche Ihnen eine interessante Begegnung Parallel zu dem medizinischen Wandel und der mit unserer Einrichtung und der Rheinhessen-Fach- Neuausrichtung der Klinik erfolgte der Aufstieg zu klinik Alzey sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitar- einem bedeutenden Arbeitgeber in und für Alzey sowie beitern zum 100-jährigen Jubiläum der Klinik alles zu einem starken Wirtschaftsfaktor in der ländlich Gute. geprägten rheinhessischen Region. Heute bietet die Rheinhessen-Fachklinik Alzey über 900 MitarbeiterIn- nen und ihren Familien, in einer Vielzahl von ver- schiedenen Berufen, einen sicheren Arbeitsplatz im Manfred Kiefer nähren Umfeld ihres Lebensmittelpunktes. Dabei Vorsitzender des Personalrates

| 11 Grußwort

Malu Deyer, Staatsministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz

Sehr geehrter Herr Dr. Gaß, liebe Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen,

Sie feiern in diesem Jahr das 100-jährige Bestehen der Rheinhessen- Fachklinik Alzey. Dazu gratuliere ich Ihnen sehr herzlich. Mit meinem Glückwunsch verbinde ich meinen Dank für die hervorragende Arbeit, die Sie täglich leisten. Als rheinland-pfälzische Gesundheits- und Sozial- ministerin bin ich froh, dass die Patientinnen und Patienten in den verschiedenen Einrichtungen der Rheinhessen-Fachklinik Alzey so ausge- zeichnet versorgt werden. Vieles ließe sich sagen über den Wandel der Klinik in den vergange- nen 100 Jahren. Ich möchte einen Aspekt besonders hervorheben: die sozialpsychiatrische Öffnung der Klinik, ihren Weg in die Gemeinde. Die heutige Rheinhessen-Fachklinik Alzey versteht sich als Zentrum eines Gemeindepsychiatrischen Verbundes, dessen Ziel es ist, psychisch Malu Dreyer kranken Menschen in ihrem vertrauten Lebens- und Sozialraum differen- zierte Hilfen anzubieten und sie bei einer möglichst selbstverantwort- lichen Lebensführung zu unterstützen. Das gilt auch und gerade für chro- nisch psychisch kranke Menschen. Dieses Verständnis von Normalität und Integration steht im Gegen- satz zu den – gleichwohl zur damaligen Zeit fortschrittlichen – Zielen der Erbauer der ehemaligen Großherzoglichen Landesirrenanstalt Alzey. Als dritte Klinik für psychisch Kranke im Großherzogtum Hessen wurde die Klinik im Herbst 1908 eröffnet. Im so genannten Pavillonstil erbaut, lag sie da »wie ein friedliches schmuckes Dörfchen mit gefälligen Bauten und roten Ziegeldächern«, bei dem nichts an eine Krankenanstalt erinnert habe, so ein ehemaliger Oberarzt. Fernab der Gemeinde sollten die Kranken hier in Ruhe genesen können. Die Klinik war – auch durch ihren hohen Grad an Selbstversorgung – eine kleine »Welt für sich«. Die Mauern der Klinik sollten die Patientinnen und Patienten im Inne- ren, aber auch die Bevölkerung auf der anderen Seite schützen. Zwar kehrten nicht wenige Patientinnen und Patienten nach relativ kurzer Behandlungsdauer zu ihren Familien zurück, doch diejenigen, die nicht geheilt werden konnten, blieben in den Langzeitbereichen und wurden dort mehr oder weniger »verwahrt«. Die Nationalsozialisten pervertierten den ursprünglichen Fürsorge- und Schutzgedanken dann auf das Grausamste. Im Rahmen der so genann- ten T4-Aktion ermordeten sie 1940 und 1941 über 70.000 chronisch psychisch kranke Menschen in zentralen Tötungsanstalten. Etwa 200.000 psychisch kranke Menschen starben in den Kliniken den Hungertod. Auch von Alzey aus wurden ca. 400 chronisch Kranke Alzeyer Patien- tinnen und Patienten in die Tötungsanstalt Hadamar gebracht. Zu ihrem 12 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Gedenken wurde auf dem Gelände der Rheinhessen-Fachklinik ein Mahn- mal errichtet. Der sozialpsychiatrische Aufbruch der Klinik begann Mitte der 1980er Jahre, zu einer Zeit, in der Rheinland-Pfalz – was die Umsetzung der Psychiatriereform anbetraf – noch in tiefem Dornröschenschlaf lag. In Alzey begann der Auszug der psychisch kranken Menschen aus den so genannten Langzeitbereichen der rheinland-pfälzischen Kliniken in die Gemeinde. Hier wurden die ersten Außenwohngruppen eingerichtet und damit auch der Nachweis erbracht, dass die meisten chronisch psychisch Kranken in Wohnungen außerhalb von Institutionen leben können – mit mehr oder weniger intensiver Betreuung. Mit dem politischen Rückenwind der ersten sozialliberalen Koalition in Rheinland-Pfalz wurden in der Rheinhessen-Fachklinik Alzey weitere Reformen der Psychiatrie-Enquete und der »Expertenkommission zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psy- chosomatischen Bereich« in die Tat umgesetzt. Durch die Dezentralisie- rung der psychiatrischen Krankenhausversorgung und die Entwicklung der komplementären Angebote kehrten psychisch kranke Menschen in ihre Gemeinden zurück oder mussten sie erst gar nicht verlassen. Bis heute gehen von Alzey wichtige Impulse für die Weiterentwick- lung der psychosozialen Versorgung in ganz Rheinland-Pfalz aus. So wurde hier das erste rheinland-pfälzische Kompetenznetz Depression in Rheinland-Pfalz gegründet. Ziel dieses Kompetenznetzes ist es, die Volkskrankheit Depression aus der Tabuzone zu rücken und gemein- sam mit möglichst vielen Partnern für Aufklärung über Behandlungs- möglichkeiten und die Endstigmatisierung Betroffener zu sorgen. Zu ihrem 100. Geburtstag präsentiert sich die Rheinhessen-Fach- klinik Alzey als kompetentes Zentrum eines Gemeindepsychiatrischen Verbundes, in dem psychisch kranke Menschen individuell zugeschnit- tene Hilfe erfahren und diese Hilfen gemeinsam mit den Betroffenen und ihren Angehörigen weiter entwickelt werden. Zu diesem guten und richtigen Weg gratuliere ich heute ganz herz- lich und wünsche weiter gutes Gelingen!

Malu Dreyer Staatsministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz

| 13 Grußwort

Christoph Habermann, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz Aufsichtsratsvorsitzender des Landeskrankenhauses (AöR)

Sehr geehrter Herr Dr. Gaß, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

zum 100-jährigen Bestehen der Rheinhessen-Fachklinik Alzey gratuliere ich Ihnen herzlich. Meine guten Wünsche gelten allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Rheinhessen-Fachklinik Alzey. Ich möchte Ihnen meinen Dank und meine Anerkennung für Ihre engagierte und erfolg- reiche Arbeit sagen. Ihre Arbeit ist die Voraussetzung dafür, dass die Patientinnen und Patienten in den Einrichtungen der Rheinhessen- Fachklinik Alzey so hervorragend behandelt und unterstützt werden. Jubiläen sind Gelegenheiten zur Rückschau. Ich freue mich, dass die Rheinhessen-Fachklinik Alzey mit dieser Festschrift ihre wechselvolle Geschichte der Öffentlichkeit vorstellt. Dank der Forschungen einer Alzeyer Arbeitsgruppe in der historisch interessierte Bürgerinnen und Bürger, die Klinikleitung, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Vertreter des Christoph Habermann Alzeyer Museums zusammengefunden haben, können wir heute den Weg nachzeichnen, den die ehemalige »Großherzogliche Landesirrenanstalt Alzey« bis zum heutigen Tag genommen hat. Mit ihren 100 Jahren ist die Alzeyer Klinik fast so alt, wie die Psychi- atrie als eigenständige medizinische Wissenschaft existiert. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren Zwang und Gewalt bei der Behand- lung und Unterbringung psychisch Kranker die Regel: Sturzbäder mit kaltem Wasser, Zwangsstehen, Schläge mit Ruten, Stöcken und Peit- schen oder die Anwendung von Drehstühlen. Die Anfang des 20. Jahrhunderts gegründeten »Anstalten« – unter ihnen auch die »Großherzogliche Landesirrenanstalt Alzey« haben diese barbarischen »Behandlungsmethoden« beendet. Sie hatten einen bis dato nie erreichten Qualitätsstandard bei der Behandlung und im Umgang mit psychisch Kranken und galten zu ihrer Zeit als vorbildlich. Ihre Gründung steht in engem Zusammenhang mit den Arbeiten des deut- schen Psychiaters Wilhelm Griesinger. Er hat sich als einer der ersten deutschen Psychiater erfolgreich für die gewaltfreie Behandlung psychisch Kranker eingesetzt und löste mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten die Psychiatrie auch von den Vorstellungen, psychisches Kranksein habe irgendetwas zu tun mit »Sünde« und »schlechtem Lebenswandel«. Heute noch erinnert in der Rheinhessen-Fachklinik das Wilhelm-Grie- singer-Haus an diesen Pionier einer modernen, (natur-)wissenschaftlichen Psychiatrie. Die Festschrift informiert über den weiteren Werdegang der »Groß- herzoglichen Landesirrenanstalt Alzey«. Dazu gehört auch das dunkel- ste Kapitel der deutschen Psychiatriegeschichte, die mörderische Psychia- trie- und Euthanasiepolitik der Nationalsozialisten, der auch ca. 400 14 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Alzeyer Psychiatriepatienten zum Opfer gefallen sind. Mein besonderer Dank gilt der Gruppe von Alzeyer Frauen, die den Anstoß für die Aufklä- rung dieses Teils der Klinikgeschichte gegeben haben. Im Jahr ihres 100. Geburtstages gehört die Rheinhessen-Fachklinik Alzey zu den leistungsstärksten Behandlungszentren für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie in Rheinland-Pfalz. Sie ist heute Zentrum eines gemeindepsychiatrischen Versorgungsverbundes mit Tagesklinik, Institutsambulanz und komplementären Einrichtungen. Rund 900 Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter arbeiten in der Rheinhessen-Fachklinik Alzey. Die Klinik ist damit auch ein großer Arbeitgeber in der Region und in ganz Rheinland-Pfalz. Besondere Verdienste hat sich die Klinik bei der Umsetzung der Psychia- triereform in Rheinland-Pfalz erworben. Schon 1985 – lange vor der politischen Weichenstellung in Richtung Dezentralisierung und Aufbau der Gemeindepsychiatrie – ist in Alzey mit der Enthospitalisierung von Langzeitpatienten und dem Aufbau des betreuten Wohnens begonnen worden. Einen Sprung nach vorn hat die Klinik in den vergangenen elf Jahren in der Trägerschaft des Landeskrankenhauses (AöR) gemacht. Heute steht die Rheinhessen-Fachklinik Alzey fachlich und wirtschaftlich besser da denn je. Sie, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erarbeiten diesen Erfolg Tag für Tag zum Wohle der Patientinnen und Patienten. Dafür möchte ich Ihnen noch einmal ganz herzlich danken, und ich wünsche Ihnen persönlich und für Ihre Arbeit alles Gute.

Christoph Habermann Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz Aufsichtsratsvorsitzender des Landeskrankenhauses (AöR)

| 15 Grußwort

Ernst Walter Görisch, Landrat des Kreises Alzey-Worms

Zum 100-jährigen Jubiläum der Rheinhessen-Fachklinik Alzey übermittele ich die Grüße des Landkreises Alzey-Worms. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts als Landesirrenanstalt im Südosten der Stadt Alzey gegründet, kann das heutige hochmoderne Behandlungszentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie, in Trägerschaft des Landeskrankenhauses in Andernach, auf eine lange und wechselvolle Geschichte zurückblicken. Sich entwickelnde Formen von Diagnostik und Behandlung im Bereich der psychischen Erkrankungen prägen die Historie der Klinik und sind Spiegelbild äußerer gesellschaftlicher Bedingungen und Strömungen. Alle Phasen der Psychiatrieentwicklung wurden auf dem Weg zur modernen Therapiezentrum im Laufe der Jahrzehnte durchlebt. Im Jubiläumsjahr präsentiert sich die Rheinhessen-Fachklinik mit 740 Betten und rund 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Zentrum eines gemeindepsychiatrischen Versorgungsbundes mit Tagesklinik, Insti- tutsambulanz und außerklinischen Versorgungsaufgaben. Mit ihrem enor- men Leistungsangebot, dem vorbildlichen Einsatz der Mitarbeiterinnen Ernst Walter Görisch und Mitarbeiter und einem weit über die Grenzen unseres Landkreises hinausreichenden ausgezeichneten Ruf, bietet die Rheinhessen-Fachklinik ihren Patientinnen und Patienten medizinische Leistungen, Betreuung und Pflege auf höchstem Niveau. Ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Rheinhessen- Fachklinik Alzey für ihr Einfühlungsvermögen, ihre Geduld und ihre Liebe zum Beruf, die den Patienten ein menschenwürdiges Kranksein ermöglichen und wünsche für die Zukunft alles Gute sowie viel Kraft und Freude bei der sicher nicht immer einfachen Aufgabe.

Ernst Walter Görisch Landrat des Kreises Alzey-Worms

16 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Grußwort

Christoph Burkhard, Bürgermeister der Stadt Alzey

Seit genau 100 Jahren besteht in Alzey eine stationäre Einrichtung für psychisch Kranke. Speziell die Älteren werden sich noch gut daran zurückerinnern können, dass so mancher ortsfremde Zeitgenosse die Stadt Alzey einzig und allein mit der so genannten »Hoppla« in Verbindung brachte. Der dadurch entstandene Bekanntheitsgrad wurde damals durchaus als Makel empfun- den, womöglich hat sich der ein oder andere Alzeyer wegen seines Wohnortes sogar ein klein wenig geschämt. Aber im gleichen Tempo, wie sich die frühere »Heil- und Pflegean- stalt« über »Landesnervenklinik« hin zur hochmodernen »Rheinhessen- Fachklinik Alzey« im medizinischen Bereich weiterentwickelt hat, ist auch ihr Ansehen weit über die rheinhessischen Grenzen gestiegen. Die Rheinhessen-Fachklinik ist der größte Arbeitgeber am Ort, bietet direkt auf dem Gelände der Dautenheimer Landstraße rund 900 quali- fizierte Arbeitsplätze an. Zahlreiche kleine und mittelständische Betriebe der Umgebung verdanken der Rheinhessen-Fachklinik einen Großteil ihrer Arbeitsaufträge. Im Laufe der vergangenen 100 Jahre ist die Einrichtung zwar geogra- Christoph Burkhardt phisch immer mehr mit der Kernstadt zusammengewachsen, dennoch erahnt man bei einem Spaziergang über die großzügig angelegten Wege den Ursprungsgedanken moderner Psychiatrie anno 1908. Ein riesiges, (ursprünglich) abgelegenes Areal mit einer Infrastruktur, ähnlich der eines Dorfes mit Gebäuden, Straßen, Wegen, Plätzen, ja selbst einer Kapelle. Zu dieser »kommunalen Struktur« gehörten auch diverse eigene Werkstätten, eine Heizzentrale mit Kesselhaus, Wäscherei und Gutshof. Die »Heil- und Pflegeanstalt« war mehr oder weniger vom normalen Leben ausgeklammert, sie war faktisch Selbstversorger. Die Zeiten haben sich zum Glück geändert, die Rheinhessen-Fach- klinik hat sich geöffnet. Heute laden nicht nur die gepflegten Wildge- hege viele Alzeyer zum sonntäglichen Familienausflug ein. Der ein oder andere niedergelassene Arzt hat die Zeichen der Zeit erkannt und sich hier auf dem Gelände eine Praxisexistenz geschaffen und die Baukräne bezeugen es: Diese positive Entwicklung geht auch in rasanten Schritten weiter. Ich beglückwünsche die Rheinhessen-Fachklinik für diese Leistung und wünsche ihr, den Patienten und Mitarbeitern für die Zukunft alles Gute. Gleichzeitig bedanke ich mich namens der Kreisstadt Alzey bei den verantwortlichen Personen für die vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Christoph Burkhard Bürgermeister der Stadt Alzey

| 17 Schema der antiken Elemente- und Säftelehre

18 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Teil I – Entwicklung der Psychiatrie als Wissenschaft Dr. med. Wolfgang Gather

Die Antike | Die Medizin insgesamt und auch die »Psychosomatik«. Hippokrates erkannte auch schon, psychiatrische Wissenschaft – die es aber per defini- dass »der Arzt nur unterstützen könne, die Natur tionem selbstverständlich noch nicht gab – wurde müsse heilen« (medicus curat, natura sanat). Wich- lange Zeit vom antiken Griechenland bestimmt, zu tig war auch seine Feststellung »der Arzt muss nicht nennen ist hier vor allem Hippokrates (460 – 377 v. nur selbst bereit sein, sondern auch der Kranke, der Chr.). Pfleger und die äußeren Umstände«, welchen er sehr Die hippokratische Medizin war bis zu Beginn des großen Wert beimaß. Damit sah er schon zur dama- 19. Jahrhunderts in ganz Europa führend. Hippokra- ligen Zeit, wie wichtig »Milieu und soziales Umfeld« tes und seine Zeit sahen den Menschen als Ganz- für die Behandlung psychischer Erkrankungen sind. heit, sie sahen eine Harmonie der Zusammenset- zung der »Körpersäfte« in Korrelation mit psychischer Ω In der griechischen Antike herrschte das Ideal der und körperlicher Gesundheit, darüber hinaus sahen Gesundheit und der Harmonie vor, für chronisch sie den Menschen als Ganzes wiederum mit seiner und unheilbar Kranke war in diesem Denken kein Gesamtumwelt in engem Kontakt (»Mikrokosmos – Platz, diese durften an der Gesellschaft nicht teilha- Makrokosmos« – Wechselspiel). ben. µ Auf die Psychiatrie bzw. Psychosomatik bezogen sah das hippokratische Modell eine Störung der Das Mittelalter | Im Mittelalter kam es einerseits zu »Körpersäfte« als Ursache für psychische und körper- einem Rückgang der wissenschaftlichen Erkenntnisse, liche Erkrankungen an. Bekannt sind besonders die besonders der naturwissenschaftlichen Bemühun- von Hippokrates mit fehlender Harmonie der Körper- gen, gleichzeitig kam es mit der Ausbreitung des Chris- säfte in Verbindung gebrachten Temperamente (Chole- tentums zu einer zumindest notdürftigen Versor- riker, Sanguiniker, Phlegmatiker, Melancholiker). Bei gung der Randgruppen der Gesellschaft, zu denen den genannten Persönlichkeitstypisierungen vermu- auch die psychisch Kranken zählten. Im frühen Mittel- tete er ein Übergewicht bestimmter Anteile in den alter entstand die Idee der Diakonie und der Caritas. »Körpersäften«, z.B. die so genannte »schwarze Galle« In jedem Bistum entstand ein so genanntes »Xeno- beim Melancholiker. dochion«, wie die ersten Hospitäler genannt wurden. Hippokrates und seine Schule grenzten psychi- Über die Klostergründungen bzw. überhaupt über sche und körperliche Erkrankungen letztendlich nicht »Mönchtum und Kloster« kam es dann zu einem enor- voneinander ab, sondern sahen eine enge Verquickung men Aufschwung der Kranken- und Armenpflege. Die beider Phänomene, artikulierten also eine frühe Hospitäler waren an die Klöster angegliedert und

| 19 dort wurde eine hohe Pflegekultur erreicht, genannt seien an dieser Stelle Namen wie »Hildegard von Bingen« und die »Heilige Elisabeth von Marburg«. Die erste Klostergründung erfolgte 529, die benedik- tinische Ordensregel knüpfte einerseits an die alten antiken Regeln der Diätetik – der gesunden Lebens- führung – an, gleichzeitig legte sie im 36. Kapitel dieser »Regula benedicti« die Sorge für Gesunde und Kranke in die Hand der Klöster, ein wichtiger Punkt auch für die Entwicklung der Psychiatrie. Viele psychi- atrische Krankenhäuser bzw. Betreuungsstätten sind historisch aus Klosteranlagen hervorgegangen. Mit dem Niedergang des Mittelalters kam es neben W. Hogarth (1697 – 1764), Szenen aus Bedlam, einem traditions- vielen anderen Sozialproblemen und insbesondere reichen Londoner Irrenhaus auch durch den Ausbruch der Pest (1347 – 1352), die in mehreren Epidemien innerhalb von fünf Jahren ca. 25 Millionen Menschen in Europa den Tod brachte, zu erheblichen gesamtgesellschaftlichen Umwälzun- gen, welche die Menschen zur Rückkehr in den Animismus und die Dämonologie führten. Den Hexen- verfolgungen des Spätmittelalters fielen auch viele psychisch Kranke zum Opfer, die als »absonderlich, bizarr, besessen« tituliert und daraufhin ausgegrenzt und verfolgt wurden.

16. bis 18. Jahrhundert | Mit der Renaissance kam es im 16. Jahrhundert zum Aufschwung in eine neue Zeit. Mit der Entdeckung fremder Erdteile und der Der »Wiener Narrenturm« 1789 Erschließung neuer Handelswege rückte Europa immer mehr in das Zentrum der Wissenschaft. Die Medizin machte Fortschritte, insbesondere bei der Entwicklung stecken in einer »Description« einzelner Erscheinun- anatomischer Erkenntnisse und physiologischen gen, die aber nicht in ein großes Gesamtes umge- Wissens, eine Grundvoraussetzung für die naturwis- setzt werden konnte. Selbst Sydenham (1624 – 1689), senschaftliche Medizin überhaupt. ein damals führender Londoner Mediziner, der als Die Psychiatrie bzw. die Beschäftigung mit psychisch erster die sog. »Hysterie« beschrieb und die hysteri- Kranken gingen mit dem naturwissenschaftlich – schen Lähmungen als aus »einer heftigen Gemüts- anatomisch – physiologischen Wissenszuwachs dem- bewegung« entstanden sah, war noch immer der entsprechend eher zurück. Ansicht, dass »tierische Geister« Krankheiten verur- Für die psychiatrischen Patienten gab es nach wie sachen könnten. vor keine wirkliche Versorgung. Es wurde im Kran- Auch im 18. Jahrhundert waren die Verhältnisse kenhauswesen getrennt zwischen dem Akutkranken- in den psychiatrischen Krankenhäusern verheerend, haus und dem Krankenhaus für chronische Fälle, in die Krankenhäuser glichen eher einem Strafvollzug dem sich »Alte, Bettler, Vagabunden und Kleinkrimi- als einer Pflegestätte. Krieg, Armut und Hungers- nelle, daneben eben auch chronisch psychisch Kranke« nöte trieben gesellschaftlich Gestrandete zuhauf in aufhalten konnten. Dies aber nicht mehr im Sinne diese Krankenhäuser. Es fehlte an Pflegepersonal, statt- der Caritas, sondern zur Verwahrung und Ausgren- dessen wurden sog. »Lohnwärter« eingestellt, die nur zung. notdürftigste Versorgung gewährleisten konnten. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich die psychiatri- Hinsichtlich somatischer Erkrankungen war die Ärzte- sche Wissenschaft kaum weiter. Die Psychiatrie blieb schaft damals relativ gut ausgebildet, für psychisch

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Im Gefolge der fran- zösischen Revolution 1789 war Philipp Pinel (1755 – 1826) der erste Psychiater, der daran ging, diese Zustände zu refor- mieren und »die Geistes- kranken von ihren Ketten« zu befreien, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Vom französischen Revolutionsrat war Pinel dazu ernannt worden, die psychiatrischen Abteilun- gen zu reformieren, u.a. die der Klinik »Salpetiere« in Paris. Er ging dabei Pinel nimmt den Geisteskranken der Salpêtrière die Fesseln ab aber durchaus behutsam vor. Pinel war der Ansicht, Kranke gab es allerdings keinerlei Behandlungs- dass Geisteskrankheiten Folge seien von Vererbung methoden. und pathologischen Erlebnissen, er studierte das Als Beispiel sei genannt das 1784 gegründete allge- Verhalten der Kranken, legte als erster Wert darauf, meine Krankenhaus in Wien (in der Zeit entstanden auch die gesunden Anteile der Kranken festzuhalten viele solcher Großkrankenhäuser), das über insgesamt und zu beachten, er lehnte generell die, wie er es 2.000 Betten verfügte und »Modellcharakter« für die bezeichnete, »Phantasiechemie der Säfte« ab, die bis damalige Zeit hatte. Es untergliederte sich in eine dahin das medizinische und psychiatrische Denken Akutkrankenabteilung, ein Siechenhaus, ein Findel- beherrscht hatten. haus, eine Gebäranstalt und einen so genannten Pinel wies auch darauf hin, dass sich die gesamt- »Narrenturm«. gesellschaftliche Haltung zu Geisteskranken verän- dern müsse und war insgesamt bezüglich der Psychi- Ω Christian Reil, Stadtphysikus und Professor für Medi- atrie – selbstverständlich mit anderen – ein Vorreiter zin in Halle, beschrieb die damaligen Zustände so: der Reformen und einer Neudefinition des Faches. »Wir sperren diese unglücklichen Geschöpfe ein, als Er leitete eine allgemeine Reformbewegung ein, die ob sie Verbrecher in verwahrlosten Zuchthäusern bei in Nordamerika mit dem Namen Benjamin Rush den Lagerstätten der Eulen in kahlen Schluchten und in Deutschland mit dem Namen Christian Reil jenseits der Stadtmauern wären oder halten sie in verbunden ist. feuchten Kerkergewölben, wohin niemals der mitlei- Man setzte sich generell ein für Gefangene und dige Blick des Menschenfreundes dringt. Wir lassen die Lebensbedingungen der Armen. Benjamin Rush sie angekettet in ihren eigenen Exkrementen verkom- war insbesondere auch ein Kämpfer gegen Sklaverei men. Ihre Fesseln haben das Fleisch vom Knochen und gegen die Todesstrafe, ein Fürsprecher öffent- gewetzt und ihre abgehärmten blassen Gesichtern licher Schule und der kostenlosen ärztlichen Versor- blicken voll Hoffnung auf die Gräber, die das Ende gung, der höheren Schulbildung auch für Frauen ihres Unglücks sein und unsere Schande bedecken und der Anstaltsbehandlung von Alkoholikern. Es ist werden. ... Das Gebrüll erregter Patienten und das erkennbar, dass Reformbestrebungen dem Zeitgeist Gerassel der Ketten ist Tag und Nacht vernehmbar entspringen und der »Umgang mit und das Verständ- und raubt den Neuankömmlingen die wenige Vernunft, nis von psychisch Kranken in ganz besonderer Weise« die sie noch haben ...« µ – bis heute – von der gesamtgesellschaftlichen Entwick- lung und Haltung abhängig ist.

| 21 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es in der ersten Hälfte psychiatrisch gesehen zu einem Rückschritt Unter dem französischen Psychiater Béné- dict Augustin Morell (1809 – 1873) entstand die bis in die Zeit des Nationalsozialismus hineinreichende »Degenerationshypothese«, d.h. die Vorstellung, dass geisteskranke Familien existierten, die durch Weiter- reichung des Erbgutes zu einer stetigen Verschlim- merung der Krankheitsprozesse führen würden. Paral- lel dazu gab es in der deutschen sog. romantischen Psychiatrie Gegenströmungen gegen die »Somati- ker« (wie man sieht, war die Psychiatriegeschichte stetig durchzogen von solch einem Anschauungsstreit zwischen »Somatikern« und »Psychikern«, eine Strö- mung, die ebenfalls bis in die heutige Zeit hinein- wirkt, aber auch diese Dichotomie wird in den letz- »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« ten Jahren zunehmend überwunden). Wilhelm Griesinger (1817 – 1868) Die deutsche romantische Psychiatrie entwickelte im wesentlichen unter Johann Christian Heinroth geistig Behinderte (»Idiotenanstalten«), solche für (1773 – 1843), Lehrbeauftragter auf dem ersten »Lehr- »Arbeitsscheue« (»Arbeitshäuser«) wurden geschaf- stuhl für psychische Therapie« seit 1811 in Leipzig, fen, für Straffällige eigene Gefängnisse und für die ihre stark psychologisch, zum Teil aber auch roman- »Irren« eben so genannte »Irrenanstalten«. In diese tisch-religiös gefärbten Anschauungen über »psychi- Zeit fallen zahlreiche Gründungen großer psychiatri- sche Prozesse und psychiatrische Erkrankungen«, scher Anstalten, die noch heute zum Teil als moderne wie ein damals erschienenes Werk von Heinroth beti- Fachkliniken weiterexistieren. telt war. Heinroth versuchte erstmals eine Einteilung Aus der deutschen Psychiatrie ist wichtig zu nennen des »psychischen Apparates« in 3 Ebenen, nämlich Wilhelm Griesinger (1817 – 1868), der zuletzt die Berli- 1. Die Instinktkräfte und Gefühle, 2. Das Ich, das unter ner Klinik Charité leitete. Griesinger verfasste 1845 der Führung des Intellekts funktioniert und 3. die sein entscheidendes Werk »Pathologie und Therapie höchste Ebene des geistigen Geschehens (als die Hein- der psychischen Krankheiten«, welches als bahnbre- roth das Gewissen ansah). chend für die weitere Entwicklung zu bezeichnen Er nahm also manches voraus, was später fortent- ist. Er trat nachdrücklich dafür ein, dass »die Psychi- wickelt werden sollte, brachte als erster das zentrale atrie eine selbständige Disziplin werden müsse und Problem der modernen Psychotherapie, das des »inne- dass sie medizinisch, nicht poetisch oder moralis- ren Konfliktes« zum Ausdruck; seine Vorstellungen tisch eingestellt sein solle« Er löste erstmalig und nach- waren aber geprägt vom Zeitgeist und durchzogen von haltig die Psychiatrie von den immer wiederkehren- »religiös-moralischer Terminologie«, was seine Bedeu- den Vorstellungen, psychisches Kranksein habe irgend- tung aus heutiger Sicht etwas verblassen lässt. etwas zu tun mit »Sünde«, »schlechtem Lebenswan- In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden del«, »Amoral« oder »übersteigerten Gefühlen«., d.h. auf technologisch-industriellem ebenso wie auf natur- er versachlichte die Psychiatrie als solche ungemein. wissenschaftlich-biologischem Gebiet enorme Fort- Von Griesinger stammt der wichtige Ausspruch: schritte statt. Gleichzeitig kam es dadurch sozial-ökono- »Psychische Krankheiten sind Erkrankungen des misch gesehen zu einer großen Verschiebung, es Gehirns«, oder anders ausgedrückt »Das Irresein ist entstand das klassische städtische Industrieproletariat. nur ein Symptomenkomplex verschiedener anorma- In dieser Zeit wurden im Rahmen des sozialen Umver- ler Gehirnzustände«. teilungsprozesses und der sozialen Umverteilungsre- form spezifische soziale Einrichtungen geschaffen bzw. Ω Eines der Gebäude der Rheinhessen-Fachklinik Alzey systematische Versorgungssysteme entwickelt: Alten- ist nach dem Psychiater Wilhelm Griesinger benannt heime, Pflegeheime, Waisenhäuser, Einrichtungen für worden. µ

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tion der psychiatrischen Störungen entwickelte. Krae- pelin setzte als erster den Verlauf psychiatrischer Erkrankungen als wichtiges diagnostisches Kriterium ein, ein bis heute gültiges Verfahren. Aus heutiger Sicht unterlag er allerdings dem Fehler, die schizophrenen Erkrankungen nach ihrem Nega- tivverlauf zu definieren. Da er unter den damaligen Behandlungsmöglichkeiten wenig Konkretes zur Verfü- gung hatte, prägte er jahrzehntelang das Bild der Schi- zophrenie als prozesshaftes, nicht therapierbares Krank- heitsgeschehen.

Ω In der Alzeyer Klinik wurden in den ersten Jahren überwiegend an Schizophrenie Erkrankte aufgenom- men und oft jahre-/jahrzehntelang betreut und ver- wahrt, da es als Behandlungsmöglichkeiten nur die Arbeitstherapie, bei akuten Erregungszuständen Emil Kraepelin (1858 – 1926) »Dauerbäder« und fixierende Maßnahmen gab. µ

Psychiatrie-historisch war dies ein entscheidender Ebenso ist für die weitere Psychiatrieentwicklung Durchbruch, da die Zusammenhänge zwischen Gehirn- wichtig, dass Kraepelin einerseits psychisch Kranke funktion und möglicher psychischer Erkrankung in den somatisch Kranken gleichstellte und sie von mora- solcher Klarheit bis dahin nicht gesehen worden waren. lischer Mitschuld exkulpierte, andererseits aber die Griesinger beschäftigte sich aber durchaus auch mit psychisch Kranken aus seinem Verständnis heraus psychologischen Phänomenen, maß den Träumen und eben auch wie die somatisch Kranken behandelte, d.h. dem »Unbewussten Seelenprozess« erhebliche Bedeu- sie inaktivierte, »ins Bett legte« und in Krankenan- tung zu. stalten dauerhospitalisierte. Die damals in großer Zahl Im Jahr 1857 wurden die Zusammenhänge zwischen gegründeten »Anstalten« galten aber durchaus als dem psychiatrischen Bild der »progressiven Paralyse« vorbildlich – so auch die Alzeyer Klinik – und zeig- und einer Infektion des zentralen Nervensystems mit ten einen bis dato nie erreichten Qualitätsstandard dem Erreger der Syphylis, einer damals weit verbrei- für die Versorgung psychisch Kranker. teten Erkrankung, erkannt. Damit wurde erstmals Im weiteren Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahr- ein kausaler Faktor für manche psychiatrische Krank- hunderts kam es also zu einem Aufschwung der heitsbilder gefunden. Dies lenkte den Blick verstärkt deutschen »wissenschaftlichen« Psychiatrie, die damit auf somatische Prozesse im Gehirn, die psychische europaweit führend wurde, vor allem auf den Gebie- Störungen hervorrufen können und setzte eine einer- ten Psychopathologie/Nomenklatur und Deskription seits naturwissenschaftlich fruchtbare Beschäftigung /Systematik/diagnostische Kriterien. In die damalige mit psychiatrischen Erkrankungen in Gang, anderseits Zeit fällt auch die Trennung zwischen der Anstalts- aber auch eine Bewegung, die jahrzehntelang psycho- und der Universitätspsychiatrie (diese Trennung wirkt logisch-psychodynamische Zusammenhänge bei der bis heute nach, psychiatrische Forschung findet in Entstehung psychischer Störungsbilder vernachlässigte Deutschland nahezu ausschließlich an Universitäten bzw. die psychotherapeutische Ausrichtung von der statt, während Kliniken wie die Rheinhessen-Fachkli- Psychiatrie abkoppelte. nik Alzey ihren eindeutigen Schwerpunkt in der Kran- In diesem Zusammenhang ist auch Emil Kraepe- kenversorgung haben) und die Ausblendung alles lin (1856 – 1926) zu nennen, der sich insbesondere »Psychologischen«, die Entwicklung eines Therapie- der Forschung der Schizophrenie widmete und um pessimismus und der Beginn einer jahrzehntelan- die Jahrhundertwende dieses Krankheitsbild als erster gen »Feindschaft« zwischen »Psychiatrie« und »Psycho- eingrenzte und definierte, darüber hinaus eine – in analyse«, da die Kraepelin’sche Schule eher »biolo- wesentlichen Ansätzen bis heute gültige – Klassifika- gistisch« im heutigen Sinne ausgerichtet war.

| 23 Dauerbad im Landeshospital in Hofheim, Anfang 20. Jhdt.

Entwicklung der Psychotherapie | Wesentlich für die nismus zugleich, in Reaktion auf Reize von außen Entwicklung der Psychotherapie im engeren Sinne und von innen, nach Anpassungs- und Spannungs- sind einmal die auf der Grundlage von John B. Watson ausgleich und Vermeidung von Unlust strebe«. (1878 – 1958) entwickelten behavioristischen Thera- Sigmund Freud entwickelte die Einteilung der früh- pien, die davon ausgehen, dass Verhaltensstörungen kindlichen psychosexuellen Entwicklungsstadien in auf dem Boden gestörter Lernprozesse entstehen und verschiedene Phasen und gliederte den psychischen als erworbene Störungen auch auf lerntheoretischer Organismus (»psychischen Apparat«) in die Ebenen Grundlage wieder behandelt werden können. »Es – Ich – Über-Ich«. Freuds Lehre insbesondere von Auf der anderen Seite kam es durch Sigmund Freud der Bedeutung des sogenannten »Unbewussten« hatte (1856 – 1936) angestoßen und entwickelt bis in die weltweit beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung heutige Zeit und weit über die Psychiatrie und Psycho- nicht nur der Psychologie und der Medizin, sondern therapie hinaus zu grundlegenden Erkenntnissen über auch der Anthropologie, Philosophie, Kunst und der psychodynamische Zusammenhänge zwischen psychi- Literatur. scher Erkrankung/sog. Verhaltensstörungen und inne- In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich die ren psychischen Konflikten. Sigmund Freud begrün- beiden grossen Schulen der Psychotherapie, »verhal- dete die Psychoanalyse als sein Erklärungsmodell für tenstherapeutische Konzepte« und »tiefenpsycho- das »gestörte und das normale Seelenleben«. Das logische Konzepte«, in vielen Punkten angenähert, gesamte psychische Geschehen sah Freud von Trieb- profitieren gegenseitig von ihren grundsätzlichen theo- energien bestimmt, wobei seiner Theorie nach »Trieb- retischen Ansätzen und haben vielfältige störungs- wünsche aus der seelischen Schicht des Unbewus- spezifische Entstehungskonzepte und Behandlungs- sten auf Befriedigung zielen und der psychische Orga- methoden entwickelt.

24 | Psychiatrie als Wissenschaft

Bettbehandlung im Wachsaal der Frauenabteilung. Die sich seit den späten 1880er Jahren durchsetzende Bettbehandlung diente einerseits zur Beruhigung der Patienten, andererseits zur besseren Überwachung. Vor allem stellte sie zumindest äußerlich psychiatrische Patienten mit denen anderer Krankenhäuser gleich.

Nach der NS-Zeit mit ihren schrecklichen Verbre- chen auch an psychisch Kranken erholte sich die deutsche Psychiatrie nur mühsam von den nach- haltigen Schädigungen. Weltweit kam es dann in den letzten Jahrzehnten zum Durchbruch der Psycho- pharmakatherapie, der sozialpsychiatrischen Behand- lungsansätze und Strukturen neben einer intensiven Einbindung psychotherapeutischer Behandlungsme- thoden im Sinne eines bio-psycho-sozialen Verständ- nisses psychischer Störungsbilder ganz generell. Die Psychiatrie als Wissenschaft ist jung, aber sie ist in ihrer vergleichsweise kurzen Geschichte schon mit vielfältigen Rückschlägen und Problemen kon- frontiert worden. Schon immer war der Umgang mit psychisch Kranken und Behinderten eng geknüpft an das gesamtgesellschaftliche Konzept und Kultur- niveau. Je differenzierter beide sind, desto verant- wortlicher ist auch immer die Fürsorge für sozial schwächere und/oder psychisch weniger belastbare Menschen, dies zeigt sich auch deutlich im histori- schen Rückblick. π Sigmund Freud (1856 – 1936)

| 25 Diagnosen, Behandlungsformen und -verläufe Einblicke in die Krankenakten der Alzeyer Klinik aus den Anfangsjahren

1912 | Die Krankenakten in dieser Zeit sind sehr Ω Ein Kranker meldete sich im Jahr 1912 ohne Voran- ordentlich geführt, zu mehr als 90% ist die Kran- meldung und ohne ärztliche Einweisung beim Pfört- kengeschichte in Schreibmaschinenschrift niederge- ner, als Aufnahmediagnose wurde »nervlicher Aufre- legt. Die Patienten kommen aus den verschiedenen gungszustand« diagnostiziert mit einem parallel beste- sozialen Schichten der Bevölkerung, es finden sich henden »Abusus alcoholi«. In der Akte findet sich eine von einfachsten landwirtschaftlichen Hilfsarbeitern bis umfangreiche Korrespondenz mit dem Kostenträger, zu selbständigen Unternehmern und Studenten alle der zuständigen Krankenkasse, wegen der Kostenüber- Berufsgruppen, wobei auffällt, dass die »höheren« sozi- nahme. Bei Entlassung wurde dem Patienten eine alen Schichten gleichberechtigt vertreten sind, was für ausführliche Bescheinigung für seine Lebensversi- eine hohe Akzeptanz/Kompetenz der Klinik zur dama- cherung mitgegeben; so wird eine »soziale Psychia- ligen Zeit spricht. trie« deutlich. µ In den Akten sind lebhafte Angehörigenkontakte vermerkt, regelmäßige Besuche und auch Korrespon- Offensichtlich war in dieser Zeit zumindest bei denzen zwischen Klinikleitung und Angehörigen. In den Behandlungspatienten ein relativ hoher medizi- der überwiegenden Zahl der Fälle erfolgt die Entlas- nisch-sozialer Standard gegeben. sung nach Hause ins familiäre Umfeld, häufig mit Die Diagnostik war damals angelehnt an das Krae- dem Vermerk »gebessert«. Die durchschnittliche pelin’sche System, wurde aber nicht stringent in allen Aufenthaltsdauer beträgt ca. 1 Jahr. Krankenakten durchgehalten. Eine häufige Diagnose Weiterhin geht aus den Akten hervor, dass ein in dieser Zeit war »Neurasthenie«, ein Begriff, der relativ gut ausgebautes soziales Unterstützungssystem relativ oft auftauchte, unter dem offenbar verschie- existierte: die Aufnahmen erfolgten häufig über umlie- dene Krankheits- und Störungsbilder subsumiert gende somatische Allgemeinkrankenhäuser, in einem wurden. Fall z.B. über den dort hinzugezogenen »Armenkon- Die Behandlung bestand im wesentlichen in arbeits- trolleur«, der die Einweisung eines »chronisch alko- therapeutischen Aktivitäten, mehrfach ist »Gartenar- holkranken Wohnsitzlosen« in die Klinik veranlasste. beit« erwähnt, bei einem Patienten wird von »Psycho- Ebenso ist die Entlassung durchaus sozial abgesi- therapie und Suggestion« neben »Sitzbädern und chert worden, so wurden einem Patienten bei der Umschlägen« als Behandlungsmaßnahmen gespro- Entlassung über einen schon damals existierenden chen. »Hilfsverein« 30 Reichsmark zur »Unterstützung für Auch eine medikamentöse Behandlung wurde häufi- die Familie« mitgegeben. Bei einem anderen Patien- ger durchgeführt, besonders bei den Patienten mit ten wurde mit der Entlassung ein ausführliches »Inva- »Katatonie« (einer Unterform der schizophrenen lidenrentengutachten« erstattet, um die weitere finan- Erkrankungen), es standen aber lediglich »Veronal« zielle Absicherung zu ermöglichen. und »Morphium« zur Verfügung, also rein sedierende Medikamente, die Neuroleptika waren zur damali- gen Zeit noch nicht entwickelt worden.

26 | Psychiatrie als Wissenschaft

1917 | Verglichen mit dem Jahr 1912 ist 1917 die Ω Ein Patient wurde wegen fortgesetzten Alkoholab- Sterberate bei den Frauen um 45% gestiegen, bei usus in der Stellung eines Leutnants stationär aufge- den Männern um 21%. Bei der Obduktion der Verstor- nommen, in der Krankenakte ist vermerkt: »Im Feld- benen wird immer wieder auf massive Mangelernäh- zug nach Beginn des Stellungskrieges massiv getrun- rung hingewiesen, z.B. »kleine weibliche Leiche in ken, bis 40 Glas Bier pro Tag«. Er wurde dann über sehr schlechtem Ernährungszustand«, »außerordent- ein Festungslazarett in Mainz in die Alzeyer Klinik lich stark abgemagerte Leiche«, »Magen-Darm-Katarrh, eingewiesen, mit dem Vermerk »Da der Militärbe- Erschöpfung«. hörde keine entsprechende Einrichtung zur Verfügung Die Krankengeschichten sind im Umfang deutlich steht«. Der Patient wurde dann nach dreiviertel-jähri- reduziert, sowohl formal als auch inhaltlich schlech- gem Aufenthalt »nach Hause zur Mutter entlassen«, ter geführt, häufig mit Hand- statt Schreibmaschi- nachdem er lt. Aktenvermerk zuvor »unehrenhaft« nenschrift abgefasst. aus der Armee entlassen wurde. µ Bei den Männern wurden mehr als 50% in direk- tem Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen aufge- Insgesamt sind die Krankenakten aus dem Jahr 1917 nommen. Sehr viele Patienten kamen als Kriegsge- deutlich vom Kriegsgeschehen geprägt, die sozial-absi- fangene aus entsprechenden Lagern, in denen sie chernde Komponente, die 1912 noch sehr ausgeprägt psychisch so auffällig geworden waren, dass sie offen- war, fehlt nahezu völlig. sichtlich in diesen Lagern nicht weiter führbar waren. Es finden sich verschiedene Nationalitäten, vor allem polnische und russische, aber auch englische und fran- zösische Staatsangehörige. Zum Teil lässt sich aus den Krankengeschichten entnehmen, dass die Patienten schon vor dem Krieg in deren Heimatland psychia- trisch stationär behandelt wurden, andere sind wohl erst unter der Belastung der Kriegsgefangenschaft psychisch dekompensiert. Die Patienten aus Kriegs- gefangenenlagern wurden in der ganz überwiegen- den Mehrzahl wieder in das Kriegsgefangenenlager zurück entlassen, z.B. mit dem Vermerk »gebessert nach Gefangenenlager nach Worms zurückgebracht«; bei einem dieser Patienten wird vermerkt: »bei Entlas- sung: blickt zitternd, hilflos um sich, geht aber dann willig mit dem Wachmann weg«.

| 27 1925 | Bei den entlassenen Frauen ist eine breite diagnostische Streuung vorhanden. Insgesamt werden bei den 36 entlassenen Frauen 18 verschiedene Diagno- sen genannt, die sich in die Großgruppen der Psycho- sen im engeren Sinne einteilen lassen, in Störun- gen, die mit Intelligenzminderungen assoziiert sind und in organische Hirnerkrankungen im engeren Sinne, wobei die Psychosen bei den Frauen als Diagnose am häufigsten genannt werden. Der Anteil der in Erwerbstätigkeit stehenden Frauen ist erstaun- lich hoch; es überwiegen ebenso wie im Jahrgang 1917 die typischen damaligen Frauentätigkeiten wie »Haus- mädchen«, »Dienstbotin«, »Haustochter«. Bei den entlassenen Männern weisen fast 20% alko- holassoziierte Störungen auf, darüber hinaus syphili- tische Folgeerkrankungen, eine Erkrankung, die zur damaligen Zeit europaweit eine sehr große Bedeutung erreicht hatte. Die Diagnose der »progressiven Para- lyse« ist bei 50% der verstorbenen Männer die Todes- ursache. Bei den verstorbenen Frauen des Jahrgangs 1925 überwiegt als Diagnose die sog. »arteriosklero- tische Demenz«, darüber hinaus finden sich eben- falls sehr viele Fälle von progressiver Paralyse. Bei den verstorbenen Frauen liegt das Durchschnittsalter bei 41 Jahren, bei den Männern bei 49 Jahren. Das heißt, auch 1925 herrschen sichtbar noch sehr schlechte ökonomische Verhältnisse, die sich entsprechend in diesen Zahlen widerspiegeln. π

28 | Psychiatrie als Wissenschaft

Literatur Teil I – Entwicklung der Psychiatrie als Wissenschaft

1 Ackerknecht, E.: Kurze Geschichte der Psychiatrie, Stuttgart 1967 2 Alexander, F., Selesnick, S. T.: Geschichte der Psychiatrie. Ein kritischer Abriss der psychiatrischen Theorie und Praxis von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart, Konstanz 1969 3 Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M. 1993 4 Friedell, Egon: Kulturgeschichte der Neuzeit, München 1969 5 Geiss, I.: Geschichte griffbereit. Band I, Epochen, Dortmund 1993 6 Kolle, K. (Hrsg.): Grosse Nervenärzte, Stuttgart 1956 7 Kraepelin, E.: Hundert Jahre Psychiatrie. Ein Beitrag zur Geschichte menschlicher Gesittung, Berlin 1918 8 Leibbrand, W., Wettley, A.: Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie, Freiburg 1961 9 Peters, U. H.: Psychiatrie im Exil. Die Emigration der Dynamischen Psychiatrie aus Deutschland 1933 – 1939, Düsseldorf 1992 10 Peters, U. H.: Ein Jahrhundert der deutschen Psychiatrie (1899 – 1999) Fortschr. Neurologischer Psychiatrie 67 (1999), S. 540 – 557 11 Schwaiger, G. (Hrsg.) Teufelsglaube und Hexen- prozesse, München 1991 12 Seidler, E.: Geschichte der Pflege des kranken Menschen, Stuttgart 1966.

| 29 Hess. Regierungsblatt (S. 569) vom 23.12.1911 mit der erstmaligen Verwendung der Bezeichnung »Großherzogliche Landes-Heil- und Pflegeanstalt«.

30 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Teil II – Die Gründungs- und Baugeschichte Ludwig Lessel

Am Ende des 19. Jahrhunderts standen im dama- Kranken in »Klinik für psychische und nervöse Krank- ligen Großherzogtum Hessen für die Aufnahme und heiten« umbenannt. (2 Versorgung von Geisteskranken zwei Landes-Irren- Ergänzt wurde dieses von Geheimrat Ludwig initi- anstalten zur Verfügung: eine in Hofheim, die andere ierte Reformprogramm durch den Bau von »Siechen- in Heppenheim, beide Orte im südlichen Landesteil, anstalten«, für die allerdings nicht der Staat, sondern in der Provinz Starkenburg gelegen. die Provinzen zuständig sein sollten. So kam es, dass Die Anstalt in Hofheim geht zurück auf die Stif- für die Provinz Rheinhessen bereits 1893 eine Siechen- tung des Landeshospitals Hofheim durch den Land- anstalt mit 318 Plätzen in Heidesheim eröffnet wurde. grafen Philipp den Großmütigen im Jahre 1533 mit 1903 folgte die Provinz Starkenburg mit der Anstalt einer Bestätigungsurkunde, die auf den 20. Juni 1535 in Eberstadt, 1904 die Provinz Oberhessen mit Gießen. datiert ist. (1 1904 erhielt die Anstalt zur Erinnerung Doch bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahr- an den Stifter den noch heute gültigen Namen hundert stand fest, dass alle Bau-, Umbau- und Erwei- »Philippshospital«. Die Straße von Crumbach nach terungsmaßnahmen in den beiden Anstalten in Goddelau, zu deren beiden Seiten die Anstaltsgebäude Hofheim und Heppenheim nicht ausreichten, um den errichtet waren, bildete damals auch die Trennungs- steigenden Bedarf an Anstaltsplätzen für die Behand- linie zwischen Männer- und Frauenabteilung. Da lung und Pflege psychisch Erkrankter zu befriedi- Goddelau auch die zum Hospital nächstgelegene Bahn- gen. station war, – vor hundert Jahren für den Transport In dem Zeitraum von 1885 bis 1900 nahm die Be- von Patienten und auch für Besucher von weit größe- völkerung des Großherzogtums Hessen von 956.611 rer Bedeutung als heute – wurde die Anstalt unter Einwohnern auf 1.119.893 Einwohner zu. Im glei- diesem Ortsnamen weithin bekannt. chen Zeitraum stieg die Zahl der in den beiden Landes- Zur Entlastung der ständig überbelegten Anstalt Irrenanstalten in Pflege befindlichen Kranken von in Hofheim wurde 1866 die zweite hessische Landes- 848 auf 1.487. Irrenanstalt in Heppenheim eröffnet. Einem Bevölkerungsanstieg von 17 Prozent stand Erweitert wurden die Möglichkeiten der Behand- ein Zuwachs von 75 Prozent »verpflegten Geistes- lung und Unterbringung von an Geisteskrankheiten kranken« gegenüber. (3 leidenden Patienten durch den Bau einer am 26. Die Zahlen zeigen, dass nicht, oder nicht nur, der Februar 1896 eröffneten Klinik in Gießen, dem Sitz Bevölkerungszuwachs den steigenden Bedarf an Pfle- der hessischen Landesuniversität. 1906 wurde diese geplätzen verursachte, sondern andere Faktoren hinzu- Institution wegen der mehrheitlich dort behandelten kamen. Dies war einmal die sich wandelnde allge-

| 31 meine Einstellung seelisch und geistig Erkrankten sich wenig Erfolg verspreche, beschlossen, darauf gegenüber und vor allem aber die um die Jahrhun- hinzuwirken, diese Anstalt nach Rheinhessen und dertwende besonders intensiven, neuen Erkenntnisse zwar in nächster Nähe von Mainz zu bekommen. Es in der Psychiatrie. Die Entwicklung dieser Fachwis- wird deshalb beschlossen, auch diesseits in gleicher senschaft wird in einem anderen Beitrag ausführlich Weise für Alzey zu wirken.« (6 In diesem Zusammen- dargestellt. hang ist festzuhalten, dass von den größeren rhein- Da die Fürsorge für die Geisteskranken, »insonder- hessischen Städten Mainz, Worms und Bingen keine heit für die der Anstaltsbehandlungsbedürftigen unter weiteren Bemühungen bekannt wurden, Sitz der ihnen« im Großherzogtum Hessen von jeher in geplanten Anstalt zu werden. Ein dafür ausschlagge- Händen des Staates lag, (4 wurde ab 1899/1900 im bender Grund mag gewesen sein, dass der für das Großherzoglichen Ministerium des Innern in Darm- Baugelände erforderlich werdende Grunderwerb in stadt die Planung für die Errichtung einer 3. Landes- Folge der im Umkreis der genannten Städte stark Irrenanstalt begonnen. Als Standort kamen die Provin- expandierenden Industrieansiedlungen nur schwer zu zen Rheinhessen oder Oberhessen in Frage. Die zustän- verwirklichen gewesen wäre. Aber auch emotionale digen Beamten der »Abteilung für öffentliche Gesund- Gründe, die im Zuge des »Rhein-Tourismus« einer heitsfürsorge« favorisierten Gießen wegen der Nähe Verbindung des Städtenamens mit einer »Irrenanstalt« zur dortigen Universität. nicht förderlich zu sein schienen, sind nicht auszu- schließen. Im Gegensatz dazu versprach man sich in Alzey, Die Anfänge zu dieser Zeit fernab von Tourismus und, mit Aus- Die Stadt Alzey wird initiativ nahme der Schuhe und landwirtschaftliche Geräte produzierenden mittleren Unternehmen ohne weitere Der Zeitpunkt, zu dem das geplante Bauvorhaben Industrieansiedlung, für den ortsansässigen Handel zur Kenntnis der Öffentlichkeit kam, war nicht zu und das Gewerbe einen wirtschaftlichen Vorteil. ermitteln. Doch steht das genaue Datum fest, an Am 4. Januar 1901 vermerkt das Protokoll der Stadt- dem man sich in Alzey erstmals offiziell mit der Idee verordnetensitzung: »Für den Fall, dass die Regie- befasste, für den Bau einer Irrenanstalt am Ort einzu- rung geneigt wäre, die geplante 3. Landesirrenanstalt treten. Im Protokoll der Sitzung der Stadtverordne- in Rheinhessen und zwar in Alzey zu errichten, erklärt ten-Versammlung vom 4. Mai 1900 heißt es im letz- sich die Versammlung bereit, einen geeigneten ten Absatz: Bauplatz in der Nähe des Kreiskrankenhauses oder »Herr Stadtverordneter (Wilhelm) Schäfer macht an der Weinheimerlandstraße, je nach Wahl der Regie- alsdann noch auf das Projekt der Errichtung einer rung zur Verfügung zu stellen. (7 Irrenanstalt in Rheinhessen aufmerksam und bittet, Am 31. Januar 1901 antwortet die Bürgermeisterei dafür einzutreten, daß die Anstalt nach Alzey komme. Alzey auf eine Verfügung des Großherzoglichen Kreis- Der Vorsitzende (Bürgermeister Dr. Sutor) erwidert, amtes Alzey vom 26. Januar 1901, in der es um die dass die Sache im Provinzialtage zwar schon zur Bauplatzfrage geht: »In hiesiger Gemarkung sind Beratung gestanden habe, aber noch nicht spruchreif mehrere für die Errichtung der fraglichen Anstalt sehr sei; bei der Wahl des Ortes für die genannte Anstalt geeignete Geländeflächen vorhanden und erlauben wir wolle er für Alzey eintreten. (5 [ Zusätze in (Klammern) uns, die nachstehend näher bezeichneten in Vorschlag vom Verfasser]. zu bringen: Die nächste Nachricht finden wir ein halbes Jahr 1. Das Gelände zwischen Kaiserstraße und Mauchen- später, unter dem Datum 23. November 1900, wiede- heimerweg, vom Bahnkörper nach Westen hin rum im Protokoll einer Stadtverordnetensitzung, wo aufgeteilt; es unter Punkt V heißt: 2. Das Gelände hinter dem St. Georgenkirchhof, west- »Der Vorsitzende teilt in Bezug auf den seinerzei- lich von dem Eppelsheimerweg bis zur Wormser- tigen Antrag des H. Stadtv. Schäfer mit, daß wie aus straße bzw. bis zum Weg an den alten Kohlenla- Zeitungsnotizen zu entnehmen sei, beabsichtigt werde, gern; die 3. Landes-Irrenanstalt in Oberhessen zu errichten. 3. Gelände südlich an der Dautenheimer Landstraße, Die Mainzer Stadtv.-Versammlung habe, obwohl sie vom Eppelsheimerweg östlich bis zum Taubhaus;

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4.Gelände nördlich der Dautenheimer Landstraße werden, womit der Stadt die Verpflichtung erwachse, bis zur Straße nach der neuen Gasfabrik, westlich gegen Zahlung dieser Summe das Gelände dem Staat an den Armsünderweg angrenzend. unentgeltlich zu überlassen. »Bezüglich der Wasser- Bauplatz 1 hat den Mangel, daß der derzeitige Wasser- versorgung wird angefügt, daß das Reservoir so hoch leitungsdruck zur wirksamen Versorgung der Gebäude liegen muß, daß der natürliche Druck ausreicht, die mit Wasser nicht ausreichen wird. Die Plätze 2, 3 auf dem Abhang zu errichtenden Neubauten ohne und 4 sind wegen ihres vorzüglichen Baugrundes und maschinelle Vorrichtungen mit Wasser zu versor- in Bezug auf die Höhenverhältnisse des Terrains dem gen.« (10 Auch die Kosten für den außerhalb des Grund- Platz 1 entschieden vorzuziehen.« (8 stücks der Anstalt zu bauenden Entwässerungskanal Am 25. Februar 1901 melden die »Rheinhessisch- sollte die Stadt übernehmen. en Volksblätter«, dass der Finanzausschuss der Ersten Das Städtische Bau-Bureau unter Leitung des dama- Kammer des hessischen Landtags die Errichtung einer ligen Stadtbaumeisters Jakob Schmitt erstellte darauf- Irrenanstalt in Rheinhessen beschlossen habe und hin einen Bericht für die Bürgermeisterei, in dem auch die Regierung dafür gewonnen sei. Über das für die vom Staat geforderten Leistungen der Stadt ganze Jahr 1901 zogen sich nun Vorverhandlungen für Geländeerwerb, Bau eines Wasserreservoirs, und Besprechungen zwischen dem Innenministerium Leitungsverlegungen für Gas und Wasser und Kanal- in Darmstadt und der Bürgermeisterei in Alzey hin, herstellung ein Betrag von 170.000 Mark in Ansatz unter Zwischenschaltung des Großherzoglichen Kreis- gebracht wird. amts in Alzey, um den gebotenen »Dienstweg« einzu- Diesen Bericht legte Bürgermeister Dr. Sutor auf halten. einer Konferenz in Darmstadt am 28. Oktober 1901 Es ist zu diesem Zeitpunkt auch immer nur von den im Ministerium zuständigen Beamten Geheim- einer 3. Landes-Irrenanstalt für Hessen die Rede, die rat Emmerling, Neidhart und Oberbaurat Klingelhöf- nun gegen die schon erwähnten Widerstände aus fer vor. Er trug dabei auch vor, dass die Stadt bei Darmstadt in Rheinhessen statt in Oberhessen errich- ihrer ungünstigen finanziellen Situation sich unmög- tet werden sollte. Ausschlaggebend für die Wahl Rhein- lich solche Kosten aufbürden könne. Von Emmer- hessens war mit Sicherheit die Bevölkerungsentwick- ling wurde auf dieser Besprechung offenbar Druck lung. Während in der vorwiegend durch landwirtschaft- auf die Stadt mit dem Argument ausgeübt, dass man liche Bodennutzung geprägten Provinz Oberhessen im Prinzip eigentlich für den Bau der Anstalt in Gießen die Bevölkerungszahl zwischen 1819 und 1895 nur sei. Trotzdem war den Verhandlungen des Bürger- von 254.000 auf knapp 272.000 stieg, konnte sich meisters ein Erfolg beschieden, denn aus einer hand- die Einwohnerzahl in Rheinhessen im gleichen schriftlichen Bemerkung auf dem Bericht des Bau- Zeitraum als Folge der mit Einsetzen der Industria- Bureaus geht hervor, dass von der ursprünglich veran- lisierung erfolgenden Verstädterung von 167.000 auf schlagten Summe nur noch ein Betrag von 67.000 323.000 fast verdoppeln .(9 Mark von der Stadt aufgebracht werden sollte. (11 In einem Schreiben vom 9. Oktober 1901 infor- Auch in den folgenden Sitzungen der Stadtverord- miert das Innenministerium das Kreisamt Alzey, dass neten-Versammlung vom 5. November 1901, 7. Februar man den Platz an der Dautenheimer Straße dem 1902 und 17. Februar 1902 war das Thema »Errich- Platz an der Weinheimer Landstraße vorziehe, da tung einer 3. Landesirrenanstalt« auf der Tagesord- letzterer eine unregelmäßige Bodengestaltung und nung mit dem Schwerpunkt auf der Frage der Bewäl- eine nach Norden abfallende Lage habe, die für den tigung der enormen finanziellen Belastung für die vorgesehenen Zweck wenig geeignet sei. Gleichzeitig Stadt. Es wird aber auch gleichzeitig die Meinung wird mitgeteilt, dass für das Baugelände einschließ- vertreten, dass die Stadt ein solches Opfer nicht lich der Anstaltsgärten und der zu bewirtschaftenden scheuen dürfe, bei den Vorteilen, die eine solche Anstalt Äcker nunmehr eine Fläche von 250.000 qm (= 100 für die Stadt bringe. (12 Zusätzlich wird beschlossen, hessische Morgen) statt der ursprünglich geplanten dass der Bürgermeister nochmals in Verhandlung 187.500 qm (= 75 hessische Morgen) erforderlich sei. mit der zuständigen Ministerialabteilung treten solle Auch könnten für die Erwerbung der 100 hessischen und außerdem der für den Wahlkreis Alzey zustän- Morgen höchstens 75.000 Mark vorbehaltlich land- dige Landtagsabgeordnete Edmund Diehl (von 1899 – ständischer Genehmigung zur Verfügung gestellt 1914 Abgeordneter der Nationalliberalen für den Wahl-

| 33 bezirk Rheinhessen 2 (Alzey) (13 aus Gau-Odernheim gende Vorlage, betreffend die Errichtung von Irren- ersucht werden solle, bei den Kammerverhandlun- Anstalten, den Ständen des Großherzogthums, und gen für Alzey einzutreten. zwar zunächst der Zweiten Kammer derselben, zur Am 25. Februar 1902 berichtete der Stadtverord- verfassungsmäßigen Berathung und Beschlußfassung nete Eugen Calman in der Stadtverordneten-Versamm- vorzulegen«. lung über die Gespräche mit dem Abgeordneten Diehl. Es wird dann darauf hingewiesen, dass die Über- Danach habe Alzey in der bestehenden Konkurrenz schrift eines Titels des Haushaltsplans 1901/02 berich- zu , das sich zwischenzeitlich ebenfalls tigt wurde, da man nicht mehr von der Errichtung für die Errichtung der Anstalt in seiner Gemarkung nur einer dritten Irrenanstalt in Gießen, sondern beworben hatte, nur Aussicht auf Erfolg, wenn man nunmehr von je einer in Oberhessen und Rheinhes- mit den von der Regierung als Zuschuss zum Gelände- sen ausgehen müsse. erwerb gebotenen 75.000 Mark einverstanden sei. Es wird dann ausführlich auf die bereits oben Nach eingehender Beratung beschloss die Versamm- geschilderte Entwicklung der Bevölkerungszahlen und lung, das Angebot der Regierung zu akzeptieren. Sie -struktur und die veränderten Verhältnisse in der wählte gleichzeitig eine Deputation, bestehend aus Versorgung und Pflege der Patienten eingegangen. dem Bürgermeister und den Stadtverordneten Calman, In aller Breite werden die in Betracht gezogenen Erwä- Böhmer und Schäfer, die unter Zuziehung des Abge- gungen dargelegt, die es angemessen erscheinen ordneten Diehl weiterhin mit der Regierung verhan- lassen, zwei gleich große, für je 400 Patienten berech- deln sollte. (14 nete Anstalten in den Provinzen Oberhessen und Rheinhessen auf je einer Fläche von 25 ha zu erbauen. Ω Am 4. März 1902 erschien in der »Alzeyer Zeitung« Danach wird zuerst die Begründung für den Stand- ein Artikel über eine Veranstaltung der »Freien Verei- ort der Anstalt in Oberhessen abgehandelt. Dort hatten nigung Alzeyer Bürger«. Von den anwesenden Stadt- sich Gießen und Grünberg beworben. Doch standen verordneten wurde Auskunft erteilt über den Stand die Chancen für die kleine Landstadt von Anfang an der Verhandlungen wegen der Errichtung der Landes- schlecht. In der Vorlage wird eindeutig für die Univer- Irrenanstalt in Alzey, wobei man darauf hinwies, dass sitätsstadt Gießen plädiert und besonders die Nähe den beträchtlichen Ausgaben auch Vorteile von eminen- zur dortigen psychiatrischen Klinik und die damit ter Bedeutung für die Stadt und die Geschäftswelt und verbundenen Möglichkeiten für die wissenschaftli- die Gewerbetreibenden gegenüber stünden. µ che Aus- und Fortbildung hervorgehoben. Bei der Wahl des Ortes für die rheinhessische Anstalt ging es in erster Linie um einen Standort, der eine möglichst rasche Anstaltsversorgung akuter Fälle und Überlegungen zum Standort rasch einsetzende Heilungsversuche garantierte; für Fälle, die bereits in ein chronisches Stadium einge- Am 27. März 1902 erhielten die Abgeordneten der treten seien, stünde einer Überführung in die relativ Zweiten Kammer der Landstände im XXXI. Landtag nahe gelegene, mehr als Pflegeanstalt geltende Anstalt die Drucksache No. 805, eine Regierungsvorlage, gefer- in Hofheim nichts im Wege. tigt vom Großherzoglichen Ministerium des Innern Aus der Provinz Rheinhessen lagen Angebote aus betreffend die Errichtung von Irrenanstalten. (15 3 Orten vor: , Alzey und Armsheim. Ostho- Der erste Absatz lautet: »Mit Allerhöchster Geneh- fen schied wegen seiner Lage an der östlichen Grenze migung Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs der Provinz aus, da eine rasche Überführung von Kran- beehrt sich das unterzeichnete Ministerium nachfol- ken aus allen Teilen der Provinz nicht genügend

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gewährleistet werden konnte. Ein weiterer Grund war Am 16. April 1902 erhielt der Landtag mit der Druck- die Nähe zu den Anstalten in Starkenburg, Heppen- sache No. 830 (16 einen Antrag des Abgeordneten heim und Hofheim und letztlich bestand in Ostho- Michael Wolf VI. aus Stadecken, zu der Zeit Abge- fen auch keine Garantie für die Beschaffung guten ordneter des Bauernbunds für den Wahlbezirk Rhein- und ausreichenden Trinkwassers. hessen 5 (Wörrstadt), (17 in dem er ausführlich begrün- Alzey und Armsheim werden eine für die verschie- dete, warum die »Hohe Kammer« beschließen solle, denen Teile von Rheinhessen zugänglichere Lage zuge- die Irrenanstalt für Rheinhessen in der Gemeinde und billigt. Gemarkung Armsheim zu errichten. Auf Seite 13 der Drucksache heißt es zu Alzey: Diese Drucksache wiederum veranlasste die Bürger- »Alzey machte in erster Linie seine Offerten; durch meisterei Alzey vom Städtischen Bau-Bureau einen das Entgegenkommen der Stadtverordneten-Versamm- umfangreichen Bericht anfertigen zu lassen, in dem lung wird es möglich sein, den nöthigen Geländeer- der Stadtbaumeister Schmitt die Argumente Wolfs für werb von 25 ha ohne Überschreitung der 75.000 M. Armsheim ausnahmslos und in einem für damalige zu vollziehen. Die Wasserversorgung wird für beide Amtsstuben teilweise sehr sarkastischen Ton zer- Alzeyer Plätze unschwer zu ermöglichen sein, da die pflückte. Im letzten Absatz gab er der Hoffnung Stadt Alzey bereit ist, genügende Menge guten Trink- Ausdruck, dass das von dem Abgeordneten Wolf den wassers zum Selbstkostenpreis zur Verfügung zu eventuellen Anstaltsbeamten in Armsheim durchaus stellen. Die Frage der Abführung der Abwässer stößt mögliche »geistige Erfrischen« bei den Regierungs- nicht auf besondere Schwierigkeiten, und es besteht beamten nicht solche Wirkung zeige, dass sie für die Aussicht, daß auch hinsichtlich der Einführung den Bauplatz in Armsheim stimmen würden.(18 elektrischer Beleuchtung sich ein Abkommen mit der Stadt werde treffen lassen. Der Boden, insbeson- dere gilt dies für den Platz an der Dautenheimer Straße, Entscheidung für Alzey ist als Bauterrain geeignet und wird als sehr frucht- bar geschildert.« Am frühen Nachmittag des 1. Juli 1902 ging bei Armsheim bot ebenfalls ein ausreichend großes der Post in Alzey ein Telegramm aus Darmstadt für Gelände zu den gleichen finanziellen Bedingungen, die hiesige Bürgermeisterei ein: »Errichtung der Irren- allerdings mit nicht so ertragsfähigem, schwerem anstalt für Alzey definitiv beschlossen. Diehl« (19 Lettenboden. Auch war die Frage der Wasserversor- Wenn auch die grundsätzliche Entscheidung für gung noch nicht gelöst. Dem verkehrsgünstigen Bahn- Alzey gefallen war und der »Alzeyer Beobachter« am anschluss stand die Lage des vorgesehenen Geländes 25. Juli 1902 vermelden konnte, dass der Bürger- in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof mit der Notwen- meister in Verbindung mit den Stadtverordneten alles digkeit der Gleisüberquerung und der Ruhestörung tun werde, dass die Arbeiten und Lieferungen für durch fahrende und rangierende Züge gegenüber. die Irren-Anstalt soweit nur irgend möglich in Alzey Für Alzey, ebenfalls Knotenpunkt für Bahnlinien blieben, war es noch ein weiter Weg bis zum Beginn aus allen Teilen der Provinz, wurde als Vorteil betont, der eigentlichen Bauarbeiten. dass die ankommenden Kranken ohne die Stadt zu Zunächst stand die genaue Festlegung der benö- berühren in die Anstalt gebracht werden konnten. tigten Grundfläche und der Grundstückerwerb sowie Schließlich wird noch darauf hingewiesen, dass man die Frage der Wasserversorgung für die Klinik im mit Kosten von 1.800.000 Mark für die Errichtung Vordergrund. Gerade letzteres, bei heutigen Bauvor- jeder der beiden Anstalten rechne, nach dem Erfah- haben ein eher nachrangiges Problem, war für lange rungssatz von 4.500 Mark je Bett oder Platz. Jahre, noch über die Eröffnung der Klinik hinaus,

| 35 gesamten Fläche von 100 hess. Morgen unter Be- rücksichtigung des staat- lichen Zuschusses von 75.000 Mark einen Betrag von 37.200 Mark aufzu- bringen gehabt. (21 Der Erwerb des durch die in Rheinhessen übli- che Realteilung in viele kleinere Parzellen aufge- teilten Geländes zog sich über einen längeren Zeit- raum hin. Eine Lokalkom- mission hatte eine Preis- spanne von Mk. 2,70 – 3,10 pro Quadratklafter festge- setzt. Maschinenhaus (Kraft-Wärme-Kopplung)

ein ständiger Diskussionspunkt zwischen der Stadt Ω Am 24. November 1904 meldete der »Alzeyer Alzey und der hessischen Landesregierung. Beobachter«, dass die Stadt Alzey bei dem Provinzial- Das für den Anstaltsbau benötigte Gelände von Ausschuss die Enteignung des Geländes von 18 Grund- zunächst 100 hessischen Morgen = 250.000 qm lag besitzern beantragt hatte. Die Eigentümer aus der vollständig in der Alzeyer Flur XXIV in den Gewan- Gemeinde Dautenheim verlangten zwischen 2,90 und nen »Auf dem Sprauberg«, »An den Brunnenhäu- 3,50 Mk. je Klafter mit der Erklärung, dass die zwar sern« und »Ober den Brunnenhäusern«, nach Norden seiner Zeit billiger gekauften Äcker durch Düngung von der Dautenheimer Landstraße und nach Südos- und Bearbeitung verbessert und bedeutend er- ten von der alten »Holzstraße« begrenzt. Durch das tragsfähiger geworden seien. µ Gebiet führte vor Baubeginn noch der »Klauerweg«, von der Weidasser Mühle kommend zur Dautenhei- Am 14. Juli 1905 richtete die Bürgermeisterei Alzey mer Landstraße. (20 ein Schreiben an das Gr. Kreisamt Alzey, in dem sie Die ebenfalls in der Flur XXIV, aber nördlich der mitteilte, dass der Grundstückserwerb endgültig voll- Dautenheimer Landstraße liegende Gewann »Auf dem zogen sei. (22 Sie fügte ein Verzeichnis der erworbe- Dautenheimer Schänzchen« wurde nicht in das nen Liegenschaften, den Nachweis der Überschrei- Anstaltsgelände einbezogen, auch wenn sie der Anstalt bung in Landeseigentum, notarielle Aktenausfertigun- eine der in Alzey oft gebrauchten Bezeichnungen für gen und ein Enteignungsurteil bei. Der Gesamtflä- diese gab: »’s Schänzje«. cheninhalt des erworbenen Geländes belief sich auf Den Grunderwerbspreis schätzte man zunächst 243.745 qm, für den der hessische Staat nach einem auf 2,80 Mark je Quadratklafter (1 Quadratklafter = zwischenzeitlich modifizierten Vertrag einen Zuschuss 6,25 qm). Danach hätte die Stadt für den Erwerb der von Mk. 0,30/qm, also insgesamt Mk. 73.123,50 zu

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leisten hatte. Ein Kriterium von großer Bedeutung bei der Planung für die Anstalt war von Anfang an die Wasserversorgung. Schon bei den ersten Überle- gungen für eine Bewerbung Alzeys hatte man durch Anfragen in Hofheim und Heppenheim erfahren, dass mit einem täglichen Bedarf von 300 Litern je Patient zu rechnen sei. Bei einer Belegung mit 400 Perso- nen ergab das einen Mindestbedarf von 120 cbm. Der durchschnittliche tägliche Wasserverbrauch lag in Alzey um diese Zeit nach den Berechnungen des Städtischen Bau-Bureaus bei 750 cbm; (23 den zu erwartenden Verbrauch der Irren-Anstalt veranschlagte man mit 150 cbm. Die Stadt Alzey wurde seit 1890 von ihrem bei Ober-Wiesen gebauten Wasserwerk mit Wasser aus den im dortigen Kernbachtal nieder- gebrachten Brunnen versorgt. Von dort wurde das Wasser über das Vorholz, die Weinheimer Landstraße, Friedrichstraße, Ernst-Ludwig-Straße und Donners- bergstraße in einer Transportleitung in den an der Noch lange Zeit nach dem 2. Weltkrieg waren die alten Kochkessel Ecke Am Wegweiser/B40 (jetzt B271) unterhalb der in Betrieb über die Bahnlinien führenden Straßenbrücke errich- teten Wasserhochbehälter gepumpt. (24 Um nun den nach Fertigstellung der Irrenanstalt 300 cbm wurde 1907 an der B40 an der Ecke des zu erwartenden, um mindestens 20 Prozent erhöh- zum Wartbergturm führenden Wegs erbaut. ten Wasserbedarf decken zu können, führte die Stadt In einem Nachtrag zu dem 1905 geschlossenen langwierige Verhandlungen mit der Großherzoglichen Vertrag verpflichtete sich der Staat 1915 auf seine Kosten Kulturinspektion in Mainz und dem Innenministe- zum Bau eines eigenen Behälters mit 300 cbm Inhalt rium in Darmstadt, bis man im Jahre 1905 zu einem neben dem städtischen Wasserresevoir und zum Bau Ergebnis kam. In einem am 10. Juli 1905 genehmig- einer eigenen Zuleitung zu der Anstalt. Die Stadt ten Vertrag verpflichtete sich die Stadt Alzey zum verpflichtet sich dagegen, »den staatlichen Behälter Bau eines neuen Hochreservoirs, wobei der Staat zu am Abend jeden Tages voll zu pumpen und den Wasser- den Wasserzuleitungsanlagen einen Zuschuss von stand in demselben nicht unter 0,50 m herabsinken 30.000 Mark leistete. Die Wasserleitung bis zur zu lassen …« (26 Gebietsgrenze der Anstalt sowie der Entwässerungs- kanal außerhalb des Anstaltsgebiets waren auf Kosten Die Baumaßnahmen der Stadt herzustellen und zu unterhalten. Der Staat verpflichtete sich zur täglichen Abnahme bzw. Zahlung Gleichzeitig mit den Verhandlungen über den von mindestens 150 cbm im 1. Betriebsjahr bei Erstat- Grundstückserwerb und die Wasserversorgung begann tung des von der Stadt mit 12 Pfennigen pro Kubik- in den Jahren von 1902 bis 1904 die Planung für die meter errechneten Selbstkostenpreises. (25 Gebäude der neuen Anstalt. Im Großherzoglichen Dieser Hochbehälter mit der Bezeichnung »Hoch- Hochbauamt in Mainz wurden die zahlreichen Ent- zone am Wartberg« mit einem Fassungsvermögen von würfe und Schnitte gezeichnet, unter der verantwort-

| 37 lichen Leitung des Regierungsbaumeisters Kubo, der ßen, so dass man letztlich den Stil, in dem in Alzey auch schon bei dem um diese Zeit in Alzey stattfin- geplant und gebaut wurde, als »Darmstädter Barock« denden Wiederaufbau des Schlosses als zukünftigen bezeichnete. (28 Sitz des Amtsgerichts in der Bauleitung tätig war. (27 Am 12. März 1904 teilt das Ministerium des Inner- Die äußere Gestaltung der Gebäude, auf die hier en der Bürgermeisterei Alzey mit, dass sie in den zunächst eingegangen werden soll, orientierte sich nächsten Tagen einen Lageplan erhalten werde, in an den seit der Jahrhundertwende von der Darm- der die Stellung der einzelnen Gebäude eingetragen städter Künstlerkolonie entwickelten Vorstellungen sei und dass man für den Betrieb der Anstalt das moderner Architektur. Unter Großherzog Ernst Lud- Gelände in seiner ganzen Ausdehnung brauche. Außer- wig, der aus seiner Landeshauptstadt ein führendes dem sei der Erwerb des für die Gartenanlagen in Zentrum neuer Kunst und zeitgemäßen Bauens Aussicht genommenen Teils wegen dessen Bepflan- zung alsbald erforderlich. (29

Ω Eine der ersten Baumaßnahmen, von der wir erfah- ren, wird im »Alzeyer Beobachter« vom 25. April 1904 annonciert: »Die Anfuhr von circa 90 cbm Chaus- siersteinen von der Schloßruine nach dem Gelände der zu erbauenden Irrenanstalt an der Dautenheimer- chaussee soll im Akkord vergeben werden«. Unter- zeichnet ist die Anzeige von dem beim Großherzog- lichen Neubau-Bureau tätigen Hochbauaufseher Woll- rab. Ferdinand Wollrab war nach Beendigung der Bauarbeiten am Schloss in gleicher beruflicher Funk- tion beim Aufbau der Irrenanstalt tätig und später dort Kurz vor Fertigstellung der Anstalt 1908 posierten die Tüncher für ein Erinnerungsfoto als Verwaltungsleiter angestellt. µ

machen wollte, wurden zahlreiche Künstler, Kunst- In der Zeit vom 1. Juni 1905 bis zum 1. Novem- handwerker und Architekten nach Darmstadt beru- ber 1908 wurde der erste Bauabschnitt verwirklicht. fen. Ihre Arbeiten übten in Deutschland und darü- Das zuvor völlig freie, ohne jeglichen Baumbestand ber hinaus in Europa maßgebenden Einfluss auf die sich sanft den Hügel hinaufziehende Baugelände er- Entwicklung des Jugendstils aus. Als wesentliche laubte die Umsetzung fortschrittlichster Ideen in Bezug Grundsätze für die Architektur galten klare Gliede- auf Bautechnik und Funktionalität der Anlage. Nach rung des Baukörpers, helle und übersichtliche Räume einem symmetrisch entwickelten Lageplan wurden auf und eine Außengliederung nach geometrischen Prin- großzügig bemessenen Grundflächen zunächst 17 Ge- zipien. Dazu wurde großer Wert auf handwerklich bäude im so genannten »Pavillonstil« errichtet. Von gute Auswahl und meisterliche Verarbeitung des Mate- dem im unteren Teil an der Straße gelegenen Pfört- rials gelegt. Viele dieser vornehmlich in Darmstadt nerhaus führte der Weg zu dem Direktoren-Wohn- entwickelten Prinzipien für zeitgemäßes Bauen wurden haus. (30 Den ansteigenden Hang hinauf bildeten bei der Planung für die Alzeyer Anstaltsgebäude danach Verwaltungsgebäude, Kapelle, Kochküche und berücksichtigt, wenn man auch nicht so weit ging, Waschküche mit Maschinenhaus eine Mittelachse. Am den Jugendstil in seiner unverwechselbaren Art anzu- oberen Ende stand dann noch, leicht versetzt, die wenden. Man ließ neubarocke Stilelemente mit einflie- Leichenhalle.

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Hess. Regierungsblatt (S. 570) vom 23.12.1911 mit der erstmaligen Verwendung der Bezeichnung »Großherzogliche Landes-Heil- und Pflegeanstalt«.

| 39 Das Verwaltungsgebäude enthielt im Erdgeschoss Die ganze Anstalt war nur mit einem fast 2 Kilo- Empfangszimmer für neu aufzunehmende Kranke, meter langen, zirka 3 m hohen Maschendrahtzaun Besuchszimmer und Büros, im Oberstock zwei eingefriedigt. Der Eindruck beengender, einschließen- Wohnungen für die Oberärzte, im Giebelstock für der Mauern sollte vermieden werden. Die Baukosten die beiden Assistenzärzte. für die in der Bauzeit von 3 Jahren erstellten Gebäude In der 150 qm großen Kochküche mit elektrischer betrugen 2,5 Millionen Mark. Beleuchtung wurden in 6 großen und 3 kleinen Dampf- Noch in einem 1983 für die Landesnervenklinik kochkesseln die Mahlzeiten zubereitet, die in geschlos- Alzey aufgestellten Zielplan (31 wird auf die Klarheit senen Handwagen zu den einzelnen Gebäuden ge- des medizinischen und planerischen Konzepts für bracht wurden. die Anlage von 1906/08 hingewiesen. Die Symme- Die Waschküche war mit Waschmaschinen, Zentri- trieachse mit den »Folgeeinrichtungen« Wäscherei mit fugen für die Wäschetrocknung, einer Mangel für Heizwerk, Küche und Kapelle trennte die Bereiche das Bügeln und Heißluft-Trockengestellen für Woll- für Männer und Frauen. Auch die Abfolge der Stand- sachen ausgerüstet. Angeschlossen war noch ein Steri- orte für die Klinikbauten von Westen nach Osten, lisationsofen zur Desinfizierung von Betten. den Hügel hinauf, war folgerichtig: Dem Verwaltungs- Mit der Waschküche verbunden war das Maschi- bau mit den Arzt- und Untersuchungszimmern folg- nenhaus mit vier großen Dampfkesseln zur Erzeu- ten die Häuser für »leichte«, »mittlere« und »schwere« gung der notwendigen Energie für Heizung, Beleuch- Fälle, ganz außen die »Landhäuser«, heutigen Reha- tung und Warmwasserbereitung, wofür ein täglicher bilitationsstationen vergleichbar. durchschnittlicher Bedarf von 100 Zentnern Kohle Am 19. Juli 1907 erklärte die Stadtverordneten- erforderlich war. Versammlung auf eine vorausgehende Anfrage des Alle Gebäude waren durch unterirdische, begeh- Innenministeriums, dass sie für die im Bau begrif- bare Kanäle, in denen die Heizungs- und Warmwas- fene Irrenanstalt den Namen »Weidasser Hospital« serrohre verliefen, miteinander verbunden, so dass oder »St. Johann-Hospital« wünsche, in Anlehnung Reparaturen an den Rohrleitungen relativ einfach an die Namen zweier ehemaliger Klöster, die in den durchzuführen waren. benachbarten Gemarkungsteilen gestanden haben Die für Männer und Frauen getrennten Kranken- sollen. (32 bauten wurden links und rechts der Mittelachse errich- Am 15. Juni 1909 beantwortet das Innenministe- tet. Es gab auf jeder Seite 5 Gebäude: von unten nach rium eine Anfrage des Kreisamtes Alzey über die amtli- oben hintereinander in der damaligen Klassifizie- che Benennung der Großherzoglichen Landes-Irren- rung den »Wachebau« für wachbedürftige Kranke, den anstalt bei Alzey, »daß uns nach reiflicher Prüfung »Pflegebau« für pflegebedürftige oder chronische Fälle, der Frage im Einverständnis mit den Direktoren der den «Unruhigenbau« für unruhige Kranke oder körper- Landesirrenanstalt ein ausreichender Anlaß für eine lich Sieche und seitlich versetzt 2 »Landhäuser« für Abänderung der dermaligen amtlichen Bezeichnung die Aufnahme leicht erkrankter Pfleglinge oder so genannter Anstalten nicht vorzuliegen scheint«.(33 genannter »Pensionäre 3. Klasse«, die mit Feld- oder Doch schon zwei Jahre später wurde eine Namens- Gartenarbeiten beschäftigt werden konnten. änderung vollzogen. Im hessischen Regierungsblatt Die gesamte Kanalisation der Gebäude mündete Nr. 35 vom 23. Dezember 1911 wird eine Bekanntma- in ein Klärbecken am unteren, westlichen Rand des chung veröffentlicht über den Erlass eines Regulativs Geländes, von dem das geklärte Wasser in einem für die »Großherzoglichen Landes- Heil- und Pflege- von der Stadt gebauten Kanal der zugeführt wurde. anstalten« bei Alzey, Gießen, Heppenheim a.d.B. und Die Anlieferung der von der Anstalt benötigten »Philippshospital« bei Goddelau mit Bestimmungen Versorgungsgüter wie Lebensmittel, Kohlen usw. über die Aufnahme, den Aufenthalt und das Ausschei- erfolgte über eine am oberen, östlichen Rand an der den von Pfleglingen. (34 Aus der Abkürzung »HuPflA« ehemaligen Holzstraße gelegene Zufahrt. für »Heil- und Pflegeanstalt« wurde das im Alzeyer Sprachgebrauch weitverbreitete »Hoppla«. π

40 | Gründungs- und Baugeschichte

Anmerkungen Teil II – Die Gründungs- und Baugeschichte

1 Dannemann: Die Entwicklung der Fürsorge für Geistes- kranke im Grossherzogtum Hessen, S. 141 (in Johannes Bresler: Deutsche Heil- und Pflegeanstalten in Wort und Bild, Halle a. S., 1910) 2 Anm. 1 S. 144 3 Stadtarchiv Alzey 132/133: Drucksache Nr.805 des XXXI. Landtags vom 27.03.1902, S. 4/5 4 wie Anm. 3, S. 2 5 Stadtarchiv Alzey: Akten der Bürgermeisterei Alzey 133 6 wie Anm. 5 7 wie Anm. 5 8 Stadtarchiv Alzey: Akten der Bürgermeisterei Alzey, 312/313 9 H. G. Ruppel u. B. Groß: Hessische Abgeordnete 1820 – 1933, Darmstadt 1980, S. 9 10 wie Anm. 8 11 Stadtarchiv Alzey: Bauamtsakten betr. Errichtung der Landes- Heil- u. Pflegeanstalt 12 wie Anm. 5 13 wie Anm. 9, S. 85 14 wie Anm. 5 15 wie Anm. 8 16 wie Anm. 11 17 wie Anm. 9, S. 276 18 wie Anm. 11 19 wie Anm. 8 20 Heinrich Becker: Die Flurnamen der Gemarkung Alzey, Anhang Flurkarte 21 wie Anm. 11 22 wie Anm. 8 23 wie Anm. 11 24 D. Waldmann: Die Wasserversorgung der Stadt Alzey, in: 700 Jahre Stadt Alzey, 1977, S. 196 25 wie Anm. 8 26 wie Anm. 8 27 Eine Mitwirkung des Baurats Eduard Langgässer, Vater der in Alzey geborenen Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, seit 1897 Kreisbauinspektor am Kreisamt Alzey, an der Planung oder Bauleitung der Irren-Anstalt läßt sich nicht belegen. 28 A. Wagner: Die Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey u. der Hilfsverein für die Geisteskranken Hessens (1912), S. 3 29 wie Anm. 8 30 Die folgende Beschreibung der Anlage wird ausführlich dargestellt von A. Wagner: Die Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey (1912) und in einem Bericht der Alzeyer Zeitung vom 15.11.1908 31 »Zielplan 1983 für die Landesnervenklinik Alzey«, Verfasser Staatl. Universitätsbauamt Mainz 32 wie Anm. 8 33 wie Anm. 8 34 Archiv der Rheinhessen-Fachklinik Alzey

| 41 Freiwillige Feuerwehr der Landes-Heil- und Pflegeanstalt.

42 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Teil III – Innenleben Dr. Eva Heller-Karneth

Einblicke in die Heil- und Pflegeanstalt von den Genannt werden die im 19. Jahrhundert zunehmend Anfängen bis in die Zeit des Nationalsozialismus geringer werdende gesellschaftliche Toleranz gegen- über abweichendem Verhalten, die Erweiterung des Als dritte Klinik für psychisch Kranke im Großher- psychiatrischen Krankheitsbegriffs, das Auftreten neuer zogtum Hessen wurde in Ergänzung zu den beiden Krankheitsformen, eine zunehmende Verstaatlichung bestehenden älteren Einrichtungen des Philippshos- und Bürokratisierung des Irrenwesens bis hin zu pitals bei Hofheim (Goddelau) und der Heil- und dem dieses Jahrhundert kennzeichnenden starken Pflegeanstalt bei Heppenheim im ersten Jahrzehnt des Bevölkerungswachstum und den sich vollziehenden 20. Jahrhunderts die Landesirrenanstalt Alzey mit gesellschaftlichen Veränderungen infolge von Indus- einer Kapazität von 400 – 450 Betten errichtet. trialisierung und Urbanisierung. (1 Mit der Gründung reagierte der hessische Staat auf die seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich und Ein friedliches, schmuckes Dörfchen erneut um die Jahrhundertwende gestiegenen Patien- Die im Südosten der Stadt entstandene Alzeyer Anstalt tenzahlen, die zu einer Überbelegung dieser Anstal- lag – so der ehemalige Oberarzt Dr. Albert Wagner ten geführt hatten. Über die Gründe dieser Zunahme – da »wie ein friedliches, schmuckes Dörfchen mit psychisch Kranker besteht bis heute in den damit gefälligen Bauten und roten Ziegeldächern«, bei dem befassten Wissenschaften kein Konsens. Erklärungs- äußerlich nichts an eine Krankenanstalt erinnerte. (2 versuche rekurrieren dabei auf verschiedene Ursachen. Zu diesem Erscheinungsbild trug maßgeblich die

| 43 Errichtung der Anstalt im sog. Pavillonstil bei. Kenn- Bade- und Waschräume, einen Speise- und einen zeichnend für diesen war im Gegensatz zur frühe- Arbeitssaal, einen Operationsraum, Einzelzimmer und ren Zentralanstalt das Nebeneinander einzelner Kran- einen Geräteraum. Hinzu kamen Schlaf- und Wohn- kengebäude oder -pavillons. Letztere waren namens- räume für Wärter, Oberwärter bzw. Oberwärterin und gebend für die Bezeichnung »Pavillonstil« (»Pavil- Wärterinnen. Das sich jeweils anschließende, deut- lonsystem«), welcher in Deutschland 1876 erstmals lich kleinere Gebäude für »ruhige Pflegebedürftige« in Marburg und Düsseldorf-Grafenberg (3 realisiert bzw. »chronisch, in Schwachsinn übergegangene oder wurde. (4 mit Defekt geheilte Kranke« (Wagner) war für rund Das auf dem Reißbrett entworfene, nur von einem 40 Patienten ausgelegt und verfügte mit Ausnahme Drahtnetzzaun begrenzte »Dörfchen« mit einem Areal der Isolierzellen und Dauerbäder über die gleichen von knapp 100 Morgen (25 ha) beherbergte ursprüng- Räume wie die Pavillons für »Wachebedürftige«. Ähnli- lich 17 Gebäude. Je fünf Krankengebäude bildeten eine ches gilt für die beiden Gebäude für »unruhige Krankenabteilung für Männer bzw. Frauen. Diese Kranke«, die jedoch wiederum Isolierzellen mit abge- waren durch eine Mittelachse, die aus dem Verwal- rundeten Ecken, doppelten Türen und Sicherheits- tungsgebäude, der Kapelle sowie der Koch- und der fenstern mit zwei Zentimeter dicken Glasscheiben Waschküche bestand, voneinander getrennt. Auf der besaßen. Auch diese Station war für rund 40 Patien- nördlichen Seite des Anstaltsareals befanden sich am ten ausgelegt. Haupteingang zur Dautenheimer Straße hin das Wohn- Seitlich der Pavillons der Wachebedürftigen befan- gebäude des Pförtners, in der Nähe des Verwaltungs- den sich je zwei sog. Landhäuser für die »Pensionäre«, gebäudes das Wohnhaus des Direktors sowie am ande- die hier in komfortabel möblierten Einzel- oder Mehr- ren Ende der Mittelachse die anstaltseigene Leichen- bettzimmern untergebracht waren. Hohen Standard halle mit dem Sektionsraum. Die Pavillons der beiden, boten drei Bade- und Waschräume, auch standen ihnen links und rechts der Mittelachse liegenden Kranken- Tagesräume zur Verfügung.

Tagraum für Halbruhige In den Kellern der Landhäuser und der Gebäude für Wachebedürftige waren Arbeitsräume zur Ausübung verschiedener Handwerke eingerichtet. Für Außen- aufenthalte der Pfleglinge schloss sich an jedes Gebäude ein Garten an, der mit einem leichten Draht- zaun umgeben war. Zudem verfügten die Häuser über Terrassen. Das Verwaltungsgebäude, das zugleich den ersten Bau der Mittelachse bildete und den Krankenabtei- lungen vorgelagert war, beherbergte im Erdgeschoss eine Vielzahl verschieden genutzter Räume: Büros, Tagraum Empfangszimmer für die Neuaufnahmen, ein Sitzungs- zimmer, ein Ärztekasino, die Hausapotheke. Im ersten Obergeschoss befanden sich die Wohnungen des Ober- abteilungen waren auf die Erfordernisse der verschie- arztes und des Verwalters, im zweiten Obergeschoss denen Patientengruppen (Wachebedürftige, ruhige Pfle- zwei Wohnungen für (unverheiratete) Assistenzärzte. gebedürftige, Unruhige und Pensionäre (5 zugeschnit- Die zwischen den »Wachbauten« gelegene Kapelle ten und variierten in Größe, Grundriss und Ausstat- war sowohl als Simultankirche für Protestanten und tung. Die beiden 70 Meter langen, hufeisenförmigen Katholiken wie auch als Raum für kulturelle Veran- Gebäude waren für 60 – 70 »Wachebedürftige«, die staltungen konzipiert. Durch den Einbau eines Chores der ständigen Aufsicht bedurften, vorgesehen und mit evangelischer und katholischer Sakristei am einen, beinhalteten im einzelnen Schlafräume mit je 25 einer Bühne am anderen Ende des Gebäudes stand Betten, Tagräume für nichtbettlägerige Patienten, zwei sie der gewünschten vielfältigen Nutzung offen. Isolierzellen, ein großes und ein kleines Dauerbad, Wichtige Versorgungsgebäude waren die mit

44 | Innenleben

modernster Technik ausgestattete Wasch- und die Koch- Kurz vor der Eröffnung küche. Im Erdgeschoss des Kochküchengebäudes Da die Anstalt ursprünglich am 1. Oktober offiziell nahm die große und geräumige Küche breiten Raum eröffnet und dem Betrieb übergeben werden sollte, ein; aber auch für Spülküchen, Speiseausgaberäume liefen die Arbeiten zur Fertigstellung in den Sommer- für die Männer- und die Frauenabteilung, Esszim- und Herbstmonaten 1908 auf Hochtouren. Für einige mer für Beamte und Bedienstete sowie für Kühlkam- der Alzeyer Geschäftsleute und Firmen, die sich mit mern war genügend Platz vorhanden. Im doppelstö- dem Bau der Irrenanstalt ein gutes Geschäft erhofft ckigen Keller wurden Lebensmittel (Kartoffeln, Obst, hatten, ging die Rechnung auf. Denn ein großer Teil Gemüse und Getränke) gelagert. Wie in den anderen der Aufträge – von den Möbeln über Teppiche bis Gebäuden befanden sich in den Obergeschossen die hin zu Trinkgläsern und Seifenschalenhaltern (6 – die Wohn- und Schlafräume für das Personal, hier für zu Losen zusammengefasst in den örtlichen Zeitun- das Koch- und Waschküchenpersonal. gen ausgeschrieben worden waren, konnte an die Eines der wichtigsten Gebäude war das durch seine einheimischen Anbieter vergeben werden. (7 So lieferte Größe und den hohen Schornstein markant heraus- z.B. die Eisenhandlung Friedrich Curschmann 130 ragende Waschküchengebäude mit der großen Wasch- eiserne Bettstellen, Bett-Tische, Personenwaagen, Bett- küche und einer Reihe von Spezialräumen für die fahrer, Liegesessel, Arznei-, Verbandstoff- und Instru- mentenschränke etc. Den »größten Teil der Wäsche etc. Lieferungen übernahm die auf diesem Gebiet besonders leistungsfähige Firma Levi«, (8 wohinge- gen die Bettfedern und der Barchent von Simon Wein- mann kamen. Letzterer warb sogar mit seinem Auftrag für die »Irrenanstalt in Alzey« und verkaufte zeitlich begrenzt bis zum 15. November die genannten Arti- kel zu En gros-Preisen. (9 46 Wanduhren bezog man von dem einheimischen Uhrmacher Ernst Rhum- bler. Obwohl noch Ende Oktober weitere Ausschrei- bungen für »Bedarfsgegenstände und Geräte« wie Geschirr, Besteck, Putzgerät usw. (10 erfolgten, wurde die Irrenanstalt Anfang November 1908 offiziell eröff- net und die neue Einrichtung durch eine ausführli- che Berichterstattung in den Alzeyer Tageszeitungen Blick in die moderne, große und geräumige Kochküche der Anstalt der breiten Öffentlichkeit vorgestellt. (11

Das Anstaltspersonal Wäscheannahme und -ausgabe, das Sortieren, Trock- Neben der baulichen und sachlichen Infrastruktur, die nen, Plätten und Mangeln der Wäsche (Bett- und Tisch- im Herbst 1908 weitgehend vorhanden war, stellte das wäsche, Patienten- und Dienstkleidung des Personals). Personal die wichtigste Voraussetzung für die Inbe- Zudem war hier das Maschinen- und Kesselhaus mit triebnahme der Heil- und Pflegeanstalt dar. Dieses war den entsprechenden Nebenräumen wie der Schlos- nach Aufgabenbereichen differenziert und setzte sich serwerkstatt, dem Pumpraum und dem Kohlenraum aus Medizinern, Mitarbeitern der Verwaltung, der tech- integriert. nischen Betriebe und vor allem den Pflegekräften Der freundliche und angenehme Eindruck, den zusammen. Sie alle konnten nicht gleichermaßen die Anstalt von außen erweckte, wiederholte sich in aus Alzey und seiner Umgebung rekrutiert werden. den Häusern. Große Fenster sorgten für helle und Während die Verwaltungsmitarbeiter und Handwer- lichte Innenräume. Die Wände waren oberhalb des ker in der Regel, die Hilfskräfte in der Wasch- und pflegeleichten Lackanstriches im Stil der Zeit mit farbig Kochküche zum Teil aus Alzey oder einem Nachbar- abgesetzten Bordüren in Schablonenmalerei verziert. ort stammten, mussten die Ärzte, vor allem aber die Zusätzlicher Wand-, Bild- und Blumenschmuck sorg- Wärter und Wärterinnen – zumindest in den Anfangs- ten für eine wohnliche Atmosphäre in den Räumen. jahren – von außerhalb gewonnen werden. Ausgebil-

| 45 dete, mit der Versorgung psychisch Kranker vertraute Die ihm zugesprochene Kompetenz und Macht Pflegekräfte waren im Inneren Rheinhessens so gut verschafften ihm aber auch die Stellung eines abso- wie nicht vorhanden, weshalb man zunächst auf erfah- luten Herrschers über »sein Reich« – die »Burg der rene Pflegekräfte aus den rechtsrheinischen Anstal- Wahnsinnigen«, wie die Alzeyer Schriftstellerin Elisa- ten Goddelau und Heppenheim zurückgriff. Vor allem beth Langgässer die abseits der Stadt im Entstehen aber fanden hier Männer und Frauen aus der land- begriffene Anstalt bezeichnete (13 – und über die wirtschaftlich benachteiligten und zudem struktur- darin lebenden und arbeitenden Menschen, Patien- schwachen »Armutsregion« des Odenwaldes Arbeits- ten und Personal, die ihm durch ihre Anwesenheits- plätze. pflicht unterstellt waren. Die Herrschaft eines Arztes war wohl kaum an einem anderen Ort so absolut Der Direktor und das ärztliche Personal und umfassend wie in den Irrenanstalten der Jahr- Die Leitung der Anstalt oblag dem ärztlichen Direk- hundertwende, charakterisiert Christina Vanja dem- tor, der zugleich Chefarzt und administrativer Leiter entsprechend diese einzigartige Stellung. (14 war. Er vertrat die Anstalt nach außen und ihm unter- Der erste ärztliche Direktor der neuen Alzeyer stand die gesamte Verwaltung. (12 Der Anstaltsleiter Anstalt war der gerade einmal 31-jährige Dr. Karl hatte damit zwar ein vielfältiges, aber sicherlich nicht Oßwald, ein gebürtiger Büdinger, der noch die Stelle

Pflegerinnen mit dem Direktor und zwei weiteren Ärzten immer leichtes Aufgabenfeld, das neben der medizi- eines Oberarztes im Philippshospital (Goddelau) inne- nischen Arbeit in engerem Sinne auch die Regelung hatte, als er im September 1908 die ersten Anzeigen der Personalangelegenheiten, die Verwaltung sowie für Mitarbeiter in der neuen rheinhessischen Klinik die Führung der Anstalt unter betriebswirtschaftlichen schaltete. (15 Er kam am 13. Oktober 1908 nach Alzey Gesichtspunkten umfasste, zu bewältigen. und bezog mit seiner Frau Auguste und den beiden

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Kindern Anna und Ludwig das Direktorengebäude auf Das Pflegepersonal dem Anstaltsgelände. (16 Dr. Oßwald war ein großer Die zahlenmäßig größte Berufsgruppe stellte das Pfle- Befürworter der Dauerbad-Therapie und hatte bereits gepersonal dar, das ebenso wie in den anderen Heil- 1904 in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochen- und Pflegeanstalten strikt nach Geschlecht getrennt schrift zu diesem Thema publiziert. (17 Er hatte sich der Männer- bzw. der Frauenabteilung zugeordnet war wohl auch maßgeblich für die Einrichtung entspre- und – zumindest bis zur Heirat und der Gründung chender Badewannen in der Alzeyer Anstalt einge- eines eigenen Hausstandes – dort auch wohnte. Die setzt. Präsenzpflicht bzw. der Umzug in die Anstalt galt Dem Direktor standen zwei Oberärzte und zwei unabhängig vom bisherigen Wohnsitz für alle Assistenzärzte zur Seite. Deren Stellen dürften aller- Wärter/innen. Ihre offiziellen, im Einwohnermelde- dings erst nach und nach besetzt worden sein. (18 buch der Stadt registrierten Adressbezeichnungen Bereits vier Tage nach Dr. Oßwald traf der erste Ober- lauteten in chronologischer Reihenfolge: Irrenanstalt arzt, Dr. Albert Wagner, am 17. Oktober 1908 aus (1908), Dautenheimerlandstraße 314, Landesirrenan- Heppenheim mit seiner Familie in Alzey ein. Der erste stalt Dautenheimerlandstraße 314 (ab 1909), Großher- namentlich bekannte 2. Oberarzt, Dr. Eduard Mattheus zogliche Landesirrenanstalt, Dautenheimerstr. 202, aus Bad Kissingen, ließ demgegenüber relativ lange 12 – 202 (ab 1910), Dautheimerlandstraße 120 (ab 1912), – seine Ankunft datiert auf den 26.10.1910 – auf Heil- und Pflegeanstalt (1913), Landesheil- und Pflege- sich warten. anstalt (ab 1915). Die Reihe der Assistenzärzte und (wenngleich in Da jeder Ausgang und jede Abwesenheit vom der Minderzahl) -ärztinnen eröffnete Dr. Malwine Weiß Anstaltsleiter genehmigt werden musste, waren die aus Koschau, die Alzey jedoch bereits am 1. Dezem- Mitarbeiter selbst außerhalb der Dienstzeiten bei Bedarf ber desselben Jahres verließ. (19 Die Aufenthaltsdauer und im Notfall jederzeit greif- und vor allem einsetz- der Assistenzärzte und – innen variierte erheblich und bar. Über die Verfügbarkeit der Mitarbeiter infor- erstreckte sich über ein kurze Zeitspanne von nur mierten sog. Urlaubsbücher, in denen neben den einigen Monaten bis hin zu zehn Jahren. Im allge- Urlaubstagen peinlichst genau festgehalten wurde, meinen blieben sie zwischen einem und drei Jahren wann und wie lange eine Pflegekraft die Anstalt verließ in Alzey, um im Anschluss daran an eine der ande- und wieder zurückkehrte. (20 ren hessischen Heil- und Pflegeanstalten, zumeist Die Anwesenheitspflicht und die damit verbundene Goddelau, aber auch Gießen, wohl mit der Aussicht Kontrolle resultierte zu einem gewissen Teil sicher- auf eine höhere Position zu wechseln. lich auch aus der Fürsorgepflicht des Anstaltsleiters Zwischen den hessischen Anstalten bestand, vor für die oftmals noch jungen Frauen und Männer. Viele allem was die Ärzte anbelangte, ein reger und inten- Pflegekräfte hatten das Mindestalter für das Wartper- siver Austausch. Nach Dr. Oßwald, der 1911 als Grün- sonal von 19 Jahren beim Eintritt in die Anstalt dungsdirektor sowie Dr. Wagner, der 1913 als Ober- gerade erreicht, die meisten waren mit Anfang Zwan- arzt an die Gießener Heil- und Pflegeanstalt wechsel- zig auch nicht viel älter. Das Angebot einer Dienst- te, waren die drei folgenden Direktoren Dr. Ludwig unterkunft war zudem ein Zugeständnis an den Römheld (16.4.1911 – 7.9.1913 in Alzey), Dr. Hans Dietz vergleichsweise geringen Monatslohn der Pflege- (1.12.1913 – 1936 in Alzey) und Dr. Ludwig Peters kräfte. (21 Und nicht zuletzt korrespondierte die Errich- (21.7.1936 – 31.3.1967 in Alzey) vor ihrer Tätigkeit in tung von einfachen Unterkünften mit der Erwartung, Alzey in den Heil- und Pflegeanstalten bei Heppen- dass die Pflegekräfte nur zeitlich befristet (maximal heim oder Goddelau beschäftigt gewesen. Den umge- sechs Jahre) in der Anstalt arbeiten würden, um im kehrten Weg beschritt der langjährige Oberarzt Dr. Anschluss daran in die öffentliche Verwaltung oder Ludwig Adolf Amrhein (26.1.1921 – 1.7. 1932 in Alzey), in die private Wirtschaft zu wechseln. der nach seinem Weggang von Alzey zum Direktor Bei den Frauen ging man wohl davon aus, dass der Anstalt in Goddelau avancierte. sie heiraten oder ebenfalls in private Dienste treten Im Gegensatz zu Dr. Oßwald blieben die Direkto- würden. (22 Der Beschäftigung eines Wärters oder einer ren – mit Ausnahme von Dr. Römheld, der bereits Wärterin maß man somit die Bedeutung eines nur im Alter von 44 Jahren starb – bis zur Pensionie- befristeten Abschnittes im Lebenslauf bei. In Anbe- rung in Alzey. tracht der sozialen Herkunft der Pflegekräfte aus

| 47 zumeist sehr einfachen Verhältnissen betrachtete man war somit über ein, zwei oder gar drei Generationen diese Tätigkeit auch als eine Art Sprungbrett für höher hinweg oder mit mehreren Mitgliedern gleichzeitig qualifizierte Berufe. in der Pflege oder im Bereich der Wasch- bzw. Koch- Diese Einschätzung hängt sicherlich auch mit dem küche vertreten. Anzuführen wären hier Mitglieder vergleichsweise hohen körperlichen Einsatz und der der Familien Arnold, Gölz, Georgi und Dörsauer. (27 hohen psychischen Belastung im Arbeitsalltag zusam- Pflegekräfte aus Alzey und Umgebung bildeten an- men. Sie setzten Menschen mit einer stabilen Grund- fänglich eher die Ausnahme. Erst ab 1915 nahm ihre ausstattung voraus oder »ganze Menschen, … die einen Zahl zu. frischen Sinn in gesundem Körper bergen«. Nur sie Zur Ausstattung der Pflegekräfte gehörte eine »haben im Umgang mit Geisteskranken die nötige Dienstkleidung, die bei Dienstantritt von der Anstalt Ruhe, Besonnenheit und den notwendigen Frohsinn gestellt wurde und bei -austritt wieder zurückgege- … und vermögen den schwierigsten aller Pflegebe- ben werden musste. Wärterinnen erhielten anfäng- rufe auszuüben. (23 lich noch drei Kleider, sechs weiße und zwei blaue Die Pflegekräfte der ersten Stunde dürften, dem Schürzen, vier Paar Strümpfe, zwei Paar Schuhe, ein vorherigen Wohnort nach zu urteilen, bereits im Paar Schlappen, einen Umhang sowie den unerläss- Philippshospital gearbeitet haben. Möglicherweise lichen »Dornschlüssel mit Riemen. (28 Später redu- hat der erste Alzeyer Direktor Dr. Oßwald sie für einen zierte sich die Bekleidung auf drei Schürzen. Im Gegen- Anstaltswechsel gewonnen, vielleicht wurden sie aber zug erweiterte sich die Palette der Leihgaben für den auch vom Dienstherrn in die neue Anstalt versetzt. persönlichen Gebrauch, indem an die Pflegekräfte Der weitaus größere Teil des Pflegepersonals jedoch ein Essbesteck, drei Teppiche, ein Kissen, Bettwä- war vor der Ankunft in Alzey in anderen Berufen sche, ein Handtuch, eine Unterlage sowie ein Drücker (Dienst-, Hausmädchen, Dienstknecht, Tagelöhner, mit Riemen ausgegeben wurden. (29 Die »Anstalts- Mitarbeit im elterlichen Haus oder Betrieb, Hand- sachen« eines Wärters bestanden aus drei Tuchho- werksgeselle, Arbeiter etc.) tätig gewesen und trat in sen, zwei Tuchröcken, vier Drilljacken, vier Paar Alzey erstmals in die Dienste einer Heil- und Pflege- Strümpfen, zwei Paar Schnürstiefeln, zwei Mützen anstalt. Die jungen Frauen und Männer kamen über und einem Essbesteck. (30 Stellenausschreibungen in den lokalen Tageszeitun- Das Einkommen der Pflegekräfte richtete sich nach gen (24 der angrenzenden Regionen oder über Blind- ihrem Status als Hilfswärter oder Wärter sowie nach bewerbungen nach Alzey. (25 Nicht selten griff der den Dienstjahren. Die Berufsanfänger wurden zunächst Direktor bei Neueinstellungen auf zunächst abschlä- als Hilfswärter eingestellt und stiegen im Allgemei- gig beschiedene Anfragen zurück wie beispielsweise nen nach etwa einem halben Jahr zum Wärter auf. im Fall des Pflegers T. W., der zunächst abgelehnt Ein Hilfswärter verdiente in den Jahren vor dem 1. worden war, weil er mit seinen 17 Jahren das Mindest- Weltkrieg 250 Mark im Monat. Das Anfangsgehalt alter für eine Einstellung noch nicht erreicht hatte.(26 eines Wärters lag bei 450 Mark im Monat und stieg Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung bei der kontinuierlich um 50 Mark pro Monat bis zum vier- Rekrutierung von Pflegepersonal scheint insbesondere ten Jahr auf 600 Mark an. (31 Frauen wurden mit einem der persönlichen Vermittlung zugekommen zu sein. Anfangslohn von 300, der sich nach einem Jahr auf Darauf deuten vor allem die Herkunftsorte der bis 350, nach zwei Jahren schließlich auf 450 Mark zum Ende des 1. Weltkrieges eingestellten Pflegekräfte. erhöhte, (32 schlechter bezahlt. Es verwundert deshalb Auffällig viele von ihnen kamen aus den Orten Ham- nicht, dass eine resolute Aspirantin in ihrem Bewer- melbach, Waldmichelbach, König, Glattbach und Affolt- bungsschreiben ausdrücklich auf die Lohnunterschiede erbach im Odenwald sowie Gossersweiler und Silz zwischen Männern und Frauen hinwies und den in der Pfalz. Sicherlich spielte dabei aber auch – bedingt Wunsch äußerte: »Am liebsten wär’ mir, ich käme durch persönliche Kontakte zu Pflegekräften aus den dann auf (die) Männerseite, weil da der Lohn doch Heimatorten – eine gewisse Vertrautheit mit dem höher ist, denn bei Frauen. Wanns nicht gleich sein Berufsbild Pfleger/in eine Rolle. kann, vielleicht dann später. (33 Neben örtlichen Beziehungen entwickelten sich mit Mit dieser Anfrage reagierte B. M. auf den Perso- den Jahren auch familiäre Kontakte und Bindungen an nalmangel in den Männerabteilungen der Heil- und die Heil- und Pflegeanstalt in Alzey. Manche Familie Pflegeanstalten infolge der Einberufung zahlreicher

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vielmehr zwei, von diesen Vorstellungen abweichende, völlig entgegengesetzte Tendenzen ab. Entweder blie- ben die Pflegekräfte bis zu 30 und mehr Jahren und damit sehr viel länger hier oder aber sehr viel kürzer, wenn sie die Anstalt bereits nach drei bis vier Tagen oder nach nur wenigen Monaten wieder verließen. (36 Dies deutet zum einen darauf hin, dass diejenigen Männer und Frauen, die mit ihrem Eintritt in die Alzeyer Anstalt berufliches Neuland betraten und merk- ten, dass sie den Anforderungen und Bedingungen dieses Arbeitsplatzes nicht gewachsen waren, umge- hend das Arbeitsverhältnis auflösten. Sie zogen in der Regel wieder an den vorherigen Wohn- bzw. Geburtsort zurück. Mehr oder weniger freiwillig schieden die noch vor 1914 eingetretenen Pfleger als Soldaten durch ihre Einberufung zum Militär aus, weshalb die mitt- lere Dienstzeit der Pfleger mit ein bis eineinhalb Jahren deutlich unter der von Pflegerinnen mit einer durch- schnittlichen Dauer von 20 – 30 Monaten lag. (37 In den nachfolgenden beiden kriegsfreien Jahrzehnten nach dem 1. Weltkrieg drehte sich dann das Verhält- nis um. Die Pfleger wiesen deutlich längere Dienst- zeiten als die Pflegerinnen auf, die mit der Heirat den Beruf aufgaben bzw. aufgeben mussten. Noch Gruppenbild mit Pflegerinnen nach dem 2. Weltkrieg lautete ein oft zitierter Aus- spruch von Dr. Peters, dass eine Frau, die mit einem Pfleger zum Militär während des 1. Weltkriegs. In Mann das Kopfkissen geteilt habe, für den Dienst nicht Erwartung dieser Problematik war man in Alzey bereits mehr brauchbar sei. Die mehrere Jahrzehnte andau- im August 1914 entgegen der bisherigen Praxis dazu ernden Beschäftigungszeiten verweisen zum ande- übergegangen, auch verheiratete Frauen auf den ren darauf, dass sich die Pflegekräfte durchaus darauf Männerstationen einzusetzen. Eine weitere Maß- einstellten, ihr ganzes Berufsleben in der Anstalt zu nahme, dem kriegsbedingten Personalmangel auf den verbringen. Gewiss spielten dabei die hohe Arbeits- Männerstationen zu begegnen, war die Herabset- losigkeit in den Zwanzigerjahren und Anfangsdrei- zung des Mindestalters für Pflegekräfte auf 16 Jahre. (34 ßigerjahren und der Stellenwert eines sicheren Arbeits- Einen pekuniären Anreiz, der die Pflegekräfte an platzes eine Rolle. die Klinik binden sollte, bot eine Prämie von 1.000 Aber auch die zunehmende Professionalisierung Mark, die nach Ablauf einer ununterbrochenen Dienst- der Berufsausbildung zum Irrenpfleger, die allge- zeit von sechs Jahren ausbezahlt wurde. Zusammen mein nach dem 1. Weltkrieg, in Alzey mit der Einrich- mit einer zehnprozentigen Sparrate des Monatslohns, tung einer Krankenpflegeschule 1922 einsetzte, (38 trug die direkt von der Anstalt bei der Sparkasse Alzey sicherlich mit zu dieser Entwicklung bei. Mit der staat- angelegt wurde, (35 verpflichtete der Arbeitgeber die lichen Abschlussprüfung war eine Aufwertung nicht Mitarbeiter zudem, sich über Jahre hinweg ein Finanz- nur des Berufes, sondern auch des Ansehens und polster zu schaffen, das zugleich das Anfangskapital des sozialen Status eines Pflegers in der Heil- und für einen neuen Berufsstart nach dem Austritt aus Pflegeanstalt, dessen Ausbildung von der allgemei- der Anstalt bilden sollte. nen Krankenpflege nicht getrennt war, verbunden. Wie Die ursprüngliche Vorstellung einer zeitlich begrenz- aus dem in Alzey verwendeten Krankenpflegerlehr- ten Beschäftigungsdauer des Pflegepersonals wurde buch von 1910 (39 hervorgeht, kam der Ausbildung zumindest in Alzey nicht Realität. Es zeichneten sich eines Irrenpflegers bis dahin lediglich der Stellen-

| 49 wert einer Zusatzausbildung zu, die im Anhang unter Zum beruflichen Werdegang eines (Ober-)Pflegers der Überschrift »Pflege Geisteskranker« abgehandelt gehörte es, im Laufe der Jahre die verschiedenen Statio- bzw. ergänzend behandelt wurde. nen kennenzulernen und auf diesen zu arbeiten. Die Die Ausbildung erfolgte im Allgemeinen anstalts- Stationen wurden nach dem Zustand der Patienten intern, wobei die Ärzte die Schulungen, Kurse und als »L I und II« (= Landhaus), »W I und II« (= Wache- Lehrgänge vor Ort durchführten. Daneben wurden die bedürftige), »U I und II« (= Unreine, bettlägerige Aspiranten und Hilfswärter durch die tägliche Anwe- Patienten, die vollständiger Pflege bedürfen, Schwerst- senheit auf den Stationen unter der Aufsicht der Ober- behinderte und auch geistig Behinderte), »Ü« (= Über- wärter in der Art des »learning by doing« mit der gang bei Neuaufnahmen, die einer Station erst noch Arbeit vertraut gemacht. Wie lange die Ausbildung zugeteilt werden mussten) und »P I und II« (= sog. im Einzelfall dauerte, kann nicht gesagt werden. In Pflegebedürftige, d.h. geriatrische, leicht gebrechli- den Zeugnissen wird z.B. lediglich auf den etwa einjäh- che Patienten, vorwiegend Alte) bezeichnet. (45 rigen Besuch des »Unterrichts für das Krankenpfle- Die Pfleger blieben nach Bedarf zwischen mehre- gepersonal« hingewiesen. (40 ren Wochen und mehreren Monaten auf einer Station. Etwa zeitgleich mit der Einführung einer fachspe- Das Risiko, durch Patienten verletzt zu werden, zifischen Berufsausbildung, seit 1920, trat an die Stelle gehörte zum Berufsalltag der Pflegekräfte. Neben von »Wärter« und »Wärterin« die Berufsbezeichnung kleineren Blessuren wie blauen Flecken, Platz-, Schnitt- »Pfleger« bzw. »Pflegerin«. Etwas später, seit 1923, wunden oder Stauchungen erlitten sie auch größere werden in Alzey die ersten examinierten Pflegekräfte Verletzungen (Quetschungen, Blutergüsse, durch- erwähnt. (41 schnittene Sehnen an der Hand bis hin zu inneren Das Ablegen einer Prüfung war allerdings nicht Verletzungen), die bisweilen zu mehr oder minder verbindlich. Das Examen dürfte jedoch eine Voraus- langen Arbeitsausfällen führten. setzung für den beruflichen Aufstieg zum Oberwär- ter und zur Oberwärterin, die einer Station vorstan- Handwerker, technisches und Verwaltungspersonal den, gewesen sein. Mit dem Eindruck einer nach außen hin abgeschlos- Die Pflegekräfte arbeiteten in Tag- und Nachtschich- senen Eigenwelt korrespondierte die Einrichtung einer ten von je 12 Stunden, die jeweils um 6 Uhr morgens Wasch- und Kochküche, verschiedener Werkstätten und 6 Uhr abends gewechselt haben dürften. (42 (Schreinerei, Schuhmacherei, Schneiderei, Buchbin- Im Frühjahr 1919 ersetzte man mit der Einfüh- derei, Schlosserei, Sattlerei/Polsterei, Strohflechterei),(46 rung des 8-Stunden-Tages das Zwei- durch ein Drei- einer Gärtnerei und der seit den 1920er Jahren ausge- schichtsystem und reduzierte die einzelne Schicht auf nur noch 8 Stunden. (43 In der Regel versahen zwei Pflegekräfte – der vorgesetzte Ober- oder Abteilungs- pfleger und ein Pfleger oder Hilfspfleger – den Dienst auf der Station, wobei der Oberpfleger einer Station fest zugeordnet war. Die untergeordneten Pflege- kräfte wurden hingegen nach Bedarf eingesetzt und wechselten dementsprechend öfter zwischen den Statio- nen und Abteilungen. Zur Sicherstellung einer durchgehenden Nachtwa- che waren die Pflegekräfte der Nachtschicht dazu verpflichtet, alle halbe Stunde eine Stechuhr zu drücken. Verstöße, Fehlzeiten oder ein verspäteter Die Belegschaft des Maschinenhauses Dienstantritt wurden streng geahndet. Nach einer Ermahnung beim ersten Mal mussten Strafgelder in Höhe von 5 oder 10 Mark gezahlt werden. Wieder- bauten Landwirtschaft mit dem Gutshof. Diese Infra- holtes Vergehen führte zur Entlassung. Eine solche struktur sollte nicht zuletzt auch aus Gründen der erfolgte auch dann, wenn gefährliche Patienten aus Kostenersparnis eine weitgehend von anstaltsfremden der Anstalt entwichen. (44 Dienstleistungen unabhängige Selbstversorgung und

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-verpflegung der Patienten und des Personals ermög- gewesen sein. Als Oberinspektor, Oberschreiber, Sekre- lichen und gewährleisten. Unter der Leitung einer tär und Büroangestellte arbeiteten sie in der Verwal- Küchenvorsteherin bzw. Weißzeugbeschließerin, die tung; als Küchenverwalterin, Weißzeugverwalterin, einer Reihe von Mitarbeiterinnen (Köchin, Weißzeug- Oberwerkmeister oder Köchin gehörten sie ebenso gehilfin, Büglerin, Küchen- und Waschküchenmäd- zum technischen Personal wie der als Werkführer chen) vorstanden, war das hauswirtschaftliche Terrain verbeamtete Polsterer, ein Korbflechter, Schlossermeis- fest in Frauenhänden, wohingegen der technische ter, Gärtner, Melkmeister oder die im Arbeitsverhält- Bereich, die Werkstätten, die Gärtnerei und die Land- nis stehenden Handwerker (Schlosser, Schreiner, wirtschaft männlichen Mitarbeitern vorbehalten blieb. Maurer, Heizer), die beiden Beiköchinnen, die zehn Gemeinsam war den Arbeitsstätten, dass sie eine Küchenmädchen, neun Waschmädchen, drei Näherin- Doppelfunktion erfüllten. So wurde in der Gärtnerei nen, die Büglerin, der Metzger und Schweinewart, und Landwirtschaft nicht nur ein Teil der Nahrungs- der Pförtner, der Pförtnergehilfe, der Tag- und Nacht- mittel (Gemüse, Obst, Getreide, Fleisch), in den Werk- wächter, der Tagelöhner, der Stadtbote, zwei Knechte, stätten wie z.B. in der Korbflechterei nicht nur die zwei Gartenarbeiter, zwei Hilfsheizer sowie ein Wege- benötigten Korbwaren oder in der Schneiderei nicht wart.(49 Diese Auflistung zeigt die berufliche Vielfalt, nur die Anstaltskleidung produziert bzw. repariert. Die die sich zumindest im technischen Bereich im Laufe Werkstätten, die Gärtnerei und Landwirtschaft, aber der Jahre entwickelt hatte und Voraussetzung für einen auch die Koch- und Waschküche waren Bestandteil geregelten Anstaltsbetrieb war. des Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten Konzepts Zentralen Stellenwert für die Versorgung der Heil- der auch in Alzey praktizierten Beschäftigungsthera- und Pflegeanstalt mit Kartoffeln, Gemüse, Obst und pie. Diese sah vor, Patienten, die unter Aufsicht und Fleisch besaß der Gutshof, der in den ursprünglichen Anleitung zu arbeiten in der Lage waren, in den Planungen gar nicht vorgesehen war. Sein Aufbau Einrichtungen der Anstalt zu beschäftigen bzw. arbei- wurde in den 1920er Jahren unter Direktor Dr. Dietz ten zu lassen. begonnen und dürfte wesentlich durch die bittere Die anfänglich nur auf ein Minimum beschränkte Erfahrung des Nahrungsmittelmangels während des und für die Inbetriebnahme der Anstalt erforderliche 1. Weltkriegs, später dann aber auch durch Wirt- Zahl an Mitarbeitern nahm kontinuierlich zu. 1912 schaftlichkeitsüberlegungen maßgeblich vorangetrie- waren bereits 72 Pflegekräfte im Dienst der Anstalt, ben worden sein. Bis 1932 war durch Zukauf und deren Personalbestand im Mai 1919 immerhin 83 Zupachtung von Land aus der anfänglichen Acker- Mitarbeiter aufwies.(47 1938 wohnten alleine in Alzey fläche von 90 Morgen ein ansehnlicher Bauernhof von 40 ha (davon 18 ha Pachtland) mit 5 Pferden und 220 Schweinen geworden.(50 Die enorme Ausweitung des Gutshofes zu einem landwirtschaftlichen Großbetrieb, in dem schließlich mehr als 60 ha Land (rund 40 ha Eigen- und rund 20 ha Pachtland) bewirtschaftet wurden, war jedoch insbesondere die Leistung seines Nachfolgers Dr. Peters, dem Undenheimer Bauernsohn, der der Land- wirtschaft leidenschaftlich verbunden war. Auf seine Initiative ging auch die Aufstockung der Tierhaltung auf 40 Stück Großvieh, 150 Schweine, 6 Pferde und 150 Hühner zurück.(51

Stammtischrunde mit dem ersten Verwaltungschef Wollrab (6. von rechts) Kulturelles Leben in der Anstalt Kulturelles Zentrum der Anstalt war das mehrfunk- rund 90 Mitarbeiter, davon 32 Pfleger und 28 Pfle- tionale Kapellchen, das einerseits Raum für die origi- gerinnen.(48 nären, d.h. kirchlichen Aufgaben bot. Mit der dem Vor dem 2. Weltkrieg dürften schätzungsweise etwa Chor gegenüberliegenden Bühne war es andererseits 140 Männer und Frauen in der Anstalt beschäftigt aber zugleich auch Ort vielfältiger kultureller Veran-

| 51 Das Theaterspielen erfreute sich offensichtlich großer Beliebtheit. Nicht nur passiv als Zuschauer, sondern auch aktiv frönte zumindest eine Gruppe von Pflegekräften diesem Hobby und übte in der Freizeit volkstümliche Theaterstücke ein, die einmal im Jahr außerhalb der Klinik in der Gastwirtschaft »12 Apostel« zur Aufführung kamen. Die »12 Apos- tel« zählten in den 20er Jahren wohl zu den Stamm- lokalen der Anstaltsmitarbeiter, die hier an Tanzaben- den bzw. an den fastnachtlichen Maskenbällen teil- nahmen. Die Feste des Jahreslaufs wurden auch in der Heil- und Pflegeanstalt begangen. Zur Fastnacht gehörte deshalb das Backen von Kreppeln ebenso wie das Maskieren der Kinder von Mitarbeitern, die in ihren Fastnachtskostümen verschiedene Stationen besuch- ten. Das herbstliche Erntedankfest wurde nicht nur mit einem Gottesdienst in der Kapelle gefeiert. Die Heil- und Pflegeanstalt beteiligte sich in den 1930er Jahren zudem mit mehreren festlich geschmückten und von zahlreichen Mitarbeiter flankierten Wagen am Festzug durch die Stadt.

Dienstanweisung für das technische Personal, 1909 Patientinnen und Patienten staltungen, die hier für die Mitarbeiter und Patienten gleichermaßen durchgeführt wurden. Je nach dem Allgemeine Daten Programm wurde die Kapelle zum Theater, zum Die Alzeyer Heil- und Pflegeanstalt war vor allem Konzertsaal oder zum Kino. Unvergessen sind noch zur Entlastung der beiden bestehenden hessischen heute manchen Angehörigen ehemaliger Mitarbeiter, Irrenanstalten bei Hofheim (Goddelau) und Heppen- die als Kinder in der Anstalt aufwuchsen, die hier heim errichtet worden. Von dort kamen deshalb auch gezeigten Stummfilme der 20er Jahre, die amerika- die ersten Patienten, sieben Männer aus dem Godde- nischen Filmimporte Mickey Mouse und Charly lauer Philippshospital, die später als ursprünglich Chaplin oder die deutschen Filmklassiker mit Martha vorgesehen am 11. Dezember 1908 mit der Bahn (54in Eggert, Willi Birgel usw. Alzey eintrafen. Mit ebenfalls sieben Frauen aus dem Das vom Roten Kreuz am 22. Dezember 1916 ini- Philippshospital wurde am Tag darauf die Frauenab- tiierte Weihnachtsfest für die hier untergebrachten teilung in Betrieb genommen. Bis zum Ende des Verwundeten mit »ergreifender Orgelmusik, lieblichen Monats Dezember 1908 waren 54 der 400 Betten Kinderstimmen … Versen von Schülerinnen der belegt, wobei neben Neuaufnahmen von Patienten aus Schwesternschule und … (einer) Textansprache von dem Einzugsgebiet der Anstalt weiterhin Verlegungen Pfarrer Metzger … sowie (einem) Schlussworte Bürger- aus den anderen Heil- und Pflegeanstalten – fünf meister Sutor(s)(52 dürfte hier ebenso abgehalten Männer und fünf Frauen aus Heppenheim am 29. worden sein wie die »musikalische Aufführung durch Dezember und sieben Männer am 31. Dezember – Wormser Musikfreunde … für die verwundeten und für rasch steigende Patientenzahlen sorgten. genesenden Kämpfer« am 16. März 1918.(53 Die noch im Januar anvisierte Planzahl von 100 Nicht zuletzt wurde die Bühne immer wieder für Patienten in Alzey war damit zwar nicht erreicht; (55 Theateraufführungen von auswärtigen Vereinen, die die Ausschöpfung der vorhandenen Kapazitäten erfolg- von der Anstaltsleitung engagiert worden waren, ten dennoch zügig. Im Dezember 1909 zählte man genutzt. 249, zum 31. Dezember 1910 bereits 387 Patienten

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und am 3. März 1911 waren erstmals 400 Betten belegt. führt (wurde) und wenn sie auch in ihrem Beneh- Dieses Ereignis war offensichtlich so bedeutsam, dass men harmlos war, doch (als) ungebessert entlassen (57 im Aufnahmebuch hinter dem Eintrag der neu aufge- wurde. nommenen Patientin mit Ausrufezeichen »400ste Etwa jeder zehnte Patient, der neu aufgenommen Kranke!« vermerkt wurde. wurde, hatte bereits einen Anstaltsaufenthalt hinter Das Einzugsgebiet der Anstalt umfasste Rheinhes- sich; wiederum ein Teil von diesen war vorher aber sen. Zumindest in Friedenszeiten kamen die Patien- auch schon zweimal und öfters in einer psychiatri- ten aus den Dörfern und Städten dieser Provinz. Das schen Anstalt gewesen. Auch bei wiederholten Einwei- Geschlechterverhältnis war im Großen und Ganzen sungen verblieb ein gutes Viertel der Patienten kürzer ausgewogen, lediglich während der beiden Weltkriege als einen Monat, knapp Zweidrittel zwischen einem verschob sich diese Geschlechterrelation infolge der und zwölf Monaten und der Rest zwischen einem Nutzung der Anstalt als Kriegslazarett für verwun- bis fünf Jahren in der Klinik. dete Soldaten. Die Patienten gehörten allen sozialen Schichten und Obgleich die Altersspanne der Patienten von 15 Berufsgruppen auf dem Land und in den Städten bis knapp 90 Jahren reichte, dominierten bei weitem an. In der Landwirtschaft (Knecht, Tagelöhner) und die Altersklassen zwischen 20 und 60 Jahren. Ihnen in der Fabrik (Arbeiter, Hilfsarbeiter) sowie in den gehörten immerhin rund drei Viertel der Patienten allgemein verbreiteten einfachen Handwerken (Schrei- an, wohingegen die unter Zwanzig- und über Sech- ner, Schneider, Sattler, Schuhmacher, Tüncher, Maurer, zigjährigen deutlich in der Minderheit waren. (56 Diese Schlosser usw.) arbeitende Männer waren in der Heil- Angaben korrelieren weitgehend mit dem durchschnitt- und Pflegeanstalt Alzey ebenso Patienten wie Land- lichen Eintrittsalter von 41,6 Jahren. Patienten, die wirte, Winzer, Handwerksmeister mit einem eigenen in der Anstalt verstarben, waren bei der Einweisung Betrieb oder Lehrer, Beamte, Kauf- und Geschäftsleute mit knapp 51 Jahren deutlich älter als diejenigen, die sowie der ein oder andere Fabrikbesitzer. Das gleiche wieder entlassen wurden. Ihr Durchschnittsalter lag gilt für die Patientinnen. Sie kamen ebenfalls aus allen bei 36 Jahren. Gesellschaftsschichten. Vor der Einweisung in die Der Aufenthalt in der Anstalt dauerte den ausge- psychiatrische Anstalt waren sie als Tagelöhnerin, wählten Stichjahren zufolge bei einem Viertel der Näherin, Landwirtin oder Lehrerin tätig, hatten eine Patienten nur einige Tage bis zu einer Woche. Etwa eigene Pension, lebten als höhere Beamtentochter, die Hälfte der Patienten blieb zwischen einem Monat Haus- oder Ehefrau im Haushalt der Eltern oder des und einem Jahr in stationärer Behandlung. Lediglich Mannes. das restliche Viertel oder knapp 25 Prozent der Patien- Ein Großteil der Patienten war verheiratet (Männer ten können als Dauerpatienten bezeichnet werden, über 50%, Frauen ca. 35%) oder verwitwet (Männer wenn man diesen Begriff für einen Aufenthalt von 10%, Frauen 11%). Weniger Männer (36%) als Frauen mehr als einem Jahr gebrauchen will. Knapp 90% (knapp 50%) waren ledig. Die Mehrzahl der verhei- der Dauerpatienten, d.h. etwas mehr als 20% aller rateten Frauen hatte zwei, drei, sehr oft sogar, mehr Patienten, blieben bis zu fünf Jahren und ein nur Kinder. kleiner Rest von rund 2 Prozent über fünf Jahre in der Anstalt. Sowohl der hohe Anteil relativ kurzer als Ankunft in der Heil- und Pflegeanstalt auch der geringe Anteil langer Aufenthalte sprechen »Kommt heute morgen mit seiner Frau hierher, hat dafür, dass die Alzeyer Anstalt in erster Linie als weiter nichts bei sich als eine Bescheinigung der Kasse, Heilanstalt fungierte und als Pflegeanstalt für unheil- dass Dr. B., Worms, die Aufnahme des Pat(ienten) in bare Dauerpatienten eine wohl eher untergeordnete die hiesige Anstalt beantragt habe & die Kasse für Rolle spielte. Altersschwache, Sieche, aber auch Kranke die Kosten aufkomme. Pat(ient) selbst sitzt mit finste- mittleren Alters mit der Diagnose »unheilbar« wurden, rem Gesicht da, reagiert auf keinerlei Frage, folgt sanft sofern sie als ungefährlich eingeschätzt wurden, in widerstrebend nach W II. (58 Wie das Beispiel zeigt, die Siechenanstalt nach Heidesheim verlegt. Ein erfolgte der Eintritt in die Heil- und Pflegeanstalt in Beispiel dafür ist die 48-jährige Patientin E. K., die den seltensten Fällen freiwillig. In der Regel kamen – so der Eintrag in ihrer Patientenakte vom 1.10.1913 die Patienten begleitet von Familienangehörigen, einem – »gestern nach der Siechenanstalt Heidesheim über- Arzt, einer Fürsorgeschwester, der Polizei etc. gegen

| 53 ihren Willen durch eine Zwangseinweisung in die »Kleidung aus Wolltuch: Kappe, Weste, Hose, 1 Hemd, Anstalt. Diese nahm im Allgemeinen ein Arzt – der 1 Paar wollene Strümpfe, 1 Paar Leibriemen sowie Haus- oder Amtsarzt – vor, der »auf Grund persön- ein Paar Pantoffeln. (63 licher Untersuchung … (ein) Zeugnis, das die Anstalts- Zumindest auf den ersten Blick beraubte die bedürftigkeit begründet(e), (59 ausstellte. Anstaltskleidung die Patienten ihrer Individualität, Die Voraussetzungen, die für eine Einweisung im machte alle gleich. Die Anstaltskleidung steht damit einzelnen erfüllt sein mussten, nannte das sog. Regu- gleichsam symbolhaft für die Ein- und Unterordnung lativ über die Annahme und Entlassung der Pfleglinge jedes einzelnen in das vorgegebene Ordnungs- der großherzoglichen Landesirrenanstalt bei Alzey vom system, das mit der Hausordnung, an die sich jede(r) 17. September 1908. (60 zu halten hatte bzw. zumindest halten sollte, umschrie- Dieses fußte auf dem ursprünglich für die Landes- ben war. »Pat(ient) fügt sich in die Hausordnung« irrenanstalt Heppenheim erlassene, zwischenzeitlich oder »Hält sich auch an die Hausordnung (64 laute- mehrmals modifizierte Regulativ vom 21. August 1865 ten demzufolge die Einträge in den Akten der Patien- und war für alle Heil- und Pflegeanstalten im Groß- ten, deren Verhalten den vorgegeben Regeln entsprach. herzogtum Hessen gleichermaßen verbindlich. Diese rigide Forderung nach der Einordnung des Das Regulativ verlangte für eine Einweisung weiter- einzelnen Patienten in die Anstaltsgemeinschaft – hier hin eine Erklärung des berufenen Vertreters (Eltern, symbolisiert durch die Anstaltskleidung – einerseits, Ehepartner, Vormund) über seine Zustimmung zur nach der Unterordnung unter die vorgegebene Haus- Aufnahme des Kranken sowie über die Aufbringung ordnung der Anstalt anderseits ist nach Erving Goff- der Verpflegungskosten. Ein Anstaltsaufenthalt über- man ein wesentliches Kennzeichen »totaler Institu- stieg jedoch zumeist die finanziellen Möglichkeiten tionen«. Ein weiteres Charakteristikum dieses Typs der Familien, weshalb diese auf die Unterstützung von Institution – für Goffman zählen hierzu u.a. durch die Fürsorge- oder die Armenkasse verwiesen auch Gefängnisse, Kasernen und Klöster – ist die waren. Im Fall der öffentlichen Unterstützung waren völlige Vereinnahmung ihrer Mitglieder, die Aufgabe die Vermögensverhältnisse offenzulegen sowie eine von Individualität, ja ein weitgehender Verlust der Reihe weiterer Formalitäten (Geburtsurkunde, Nach- persönlichen Identität. (65 weis der Staatsangehörigkeit, der Religions- und Fami- Aber dennoch blieb in Alzey – diesen Eindruck lienzugehörigkeit sowie des Unterstützungswohnsit- suggerieren zumindest die Patientenakten – immer zes) zu erfüllen. Sobald alle Angaben vollständig waren, wieder genügend Raum für einen gewissen Grad an konnte entschieden werden, in welche Pflegeklasse Individualität, für individuelle Eigenheiten, wenngleich der Patient einzustufen war. sie im Grunde der Hausordnung widersprachen. In Alzey gab es wie in den anderen hessischen Auch nach vierjähriger Anwesenheit weigerte sich Anstalten eine herausgehobene Pensionärsklasse sowie der Patient H. S. die Anstaltskleidung, die er in einem drei Pflegeklassen für die Selbstzahler und für die insgesamt recht ironisch verfassten Brief an seinen auf öffentliche Unterstützung angewiesenen Kranken. Rechtsanwalt als »Anstaltsrobe« bezeichnete, zu Die Pflegesätze differierten innerhalb der Pflegeklasse tragen. (66 eins und zwei nach der Staatsangehörigkeit (hessisch, Stattdessen fertigte er sich seine Kleidung und deutsch, ausländisch); in der dritten Pflegeklasse Schuhe aus Tuch und altem Leinen sowie seine Hüte nach Selbstzahlern, Patienten der hessischen Armen- und Strohhüte, die er »grotesk rot und blau färbt(e)«, sowie sonstiger Fürsorgekassen. (61 selbst an. Außerdem trug er in all’ den Jahren seines Die Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt bedeu- Anstaltsaufenthaltes nie Strümpfe. H. S., der stets tete für die Patienten zweifelsohne den Verlust der Verkannte, bewahrte sich mit dem nach außen demon- Freiheit; mit ihr vollzog sich, anders gewendet die Ent- strierten Eigensinn ebenso ein Stück seiner Individua- mündigung eines vorher freien Menschen. Ein äußer- lität wie es die laienhaft und volkstümlich als »Größen- es Zeichen dafür war die Abgabe der eigenen Klei- wahn« bezeichnete (Selbst)Wahrnehmung anderen dungsstücke und die Übernahme der Anstalts- Patienten erlaubte in »ihrer Welt« zu leben. Unge- kleidung, die beim Eintritt ausgehändigt, beim Austritt achtet seiner tatsächlichen Fertigkeiten hielt der Patient jedoch wieder zurückgegeben werden musste. (62 Das W. R. sich »wegen seines Mundharmonikaspiels, das Kleiderpaket für Männer beinhaltete beispielsweise er gern betreibt, für einen großen Musiker .(67

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»… losst mich doch haam« verlangte die von ihrem Charakteristisch für die Stationen der Unruhigen Mann, Sohn und Schwager eingelieferte T. B. während und Wachebedürftigen waren die Wachsäle, in denen der Aufnahmebefragung und äußerte damit den die Patienten unter der ständigen Aufsicht der Pfle- Wunsch vieler Zwangseingewiesener, die darauf dräng- gekräfte Tag und Nacht im Bett zubrachten. Ziel und ten, die Anstalt so bald wie möglich wieder verlassen Zweck dieser »Bettbehandlung« war die Beruhigung zu dürfen. Sei es, weil sie sich ihrem Selbstverständ- der Patienten, die sich durch die Bettruhe und -wärme nis nach als gesund bzw. »normal« erachteten und im Regelfall auch einstellte. die Anstalt von daher nicht als den richtigen Ort für Das gleiche Ziel der Beruhigung wurde mit der sich betrachteten. Sei es, weil sie sich und ihren Dauerbadbehandlung verfolgt. Dr. Oßwald, der erste Angehörigen die Schande, die mit einer psychiatri- Direktor der Alzeyer Anstalt, ein prominenter Vertre- schen Behandlung und einem Aufenthalt in der Heil- ter dieser Therapieform, führte diese Behandlungs- und Pflegeanstalt offensichtlich verbunden war, erspa- methode in Alzey ein. Bei der Dauerbadbehandlung ren wollten. Aus der im Haus ihrer Eltern unterge- wurden die Patienten in eine mit ca. 37 ° Celsius brachten 40jährigen A. M. B. brachte man in Anwe- warmem Wasser gefüllte Badewanne gesetzt und blie- senheit des zu Hilfe gerufenen Anstaltsarztes Dr. ben dort bei gleichbleibender Temperatur mehrere, Rumpen auch »erst nach langem Drängen … heraus, bisweilen 6 – 8, oder gar 8 – 11 Stunden. (72 In Abhän- das(s) sie fürchtet, dass man ihre Familie darum gigkeit vom Erregungszustand des Patienten wurde ansehen würde, wenn sie in die Heil- und Pflegean- das Dauerbad in Einzelfällen über mehrere Tage und stalt müsse, sie sei doch nicht irrsinnig. (68 Wochen hin verordnet, wenngleich man in Alzey A. M. B. gibt mit dieser Aussage sicherlich die in eher bestrebt war, die Patienten nur tageweise im der Bevölkerung weit verbreitete und gängige Meinung Dauerbad zu lassen. (73 bezüglich der Irrenanstalten wieder. Wie sehr sie diese Obwohl das Dauerbad die ältere Behandlungsform negative Einschätzung verinnerlicht hatte und wie stark der Isolierzelle abgelöst und weitgehend verdrängt sie die Folgen ihres Anstaltsaufenthaltes weiterhin hatte, wurde dennoch nicht gänzlich auf die Isolie- beschäftigten, zeigt ein Eintrag in ihrer Patientenakte rung verzichtet. In manchen Fällen schien sie das vom 28. Mai 1925, genau 14 Tage nach ihrer Einlie- einzig anwendbare Mittel zur Beruhigung tobender ferung. Demnach »macht(e) (sie) sich Gedanken darü- Patienten zu sein. (74 ber, dass der Anstaltsaufenthalt ihr in ihrem Anse- Bettbehandlung, Dauerbad und Isolierzelle kenn- hen schaden könne. Es soll doch kein Schandfleck zeichneten somit den Anstaltsalltag der Abteilungen auf meinen Kindern ruhen. (69 für Unruhige und Wachebedürftige. In bewusstem Insbesondere bei verheirateten Frauen mittleren Gegensatz dazu stand die Tagesgestaltung auf den Alters mit mehreren Kindern war zudem die Sorge Abteilungen der ruhigen und nur leichter erkrankten um die Kinder immer wieder einer der maßgeblichen Patienten. Hier wurde die im ausgehenden 19. Jahr- Gründe dafür, warum Patientinnen die Anstalt so rasch hundert entwickelte Beschäftigungstherapie praktiziert. wie möglich verlassen wollten. »Ich möchte als heim, Dieser zufolge sollte der Alltag für die Patienten inner- so habe ich das Gefühl, ich denke als an die Kinder«, halb der Anstalt möglichst dem Alltag außerhalb der beschreibt K. F., die 42-jährige Mutter von vier Kindern Anstalt nahekommen, um die Patienten dem Leben ihr Grundgefühl während ihres 4 1/2-monatigen außerhalb der Anstalt nicht allzusehr zu entfrem- Aufenthalts in der Anstalt. (70 den; aber auch, um sie während ihres Aufenthalts in der Anstalt sinnvoll zu beschäftigen. Zu diesem Zweck Anstaltsalltag hatte man die schon mehrfach erwähnten Werkstät- An den so genannten Übergang, d.h. die Aufnahme- ten eingerichtet, in denen insbesondere die männ- station, in der die Patienten auf ihren körperlichen lichen Patienten beschäftigt werden sollten. Im Einzel- und geistigen Gesundheitszustand hin untersucht und nen waren dies eine Schreinerei, eine Schuhmache- beurteilt wurden, schloss sich die Verlegung auf die rei, eine Schneiderei, eine Buchbinderei, eine Schlos- jeweilige Station an. Jede Station war nach A. Wagner serei, eine Sattlerei/Polsterei und eine Strohflechte- »ein kleiner Haushalt für sich, welchem die indi- rei. Die vorrangigen Betätigungsfelder der weiblichen viduellen Eigentümlichkeiten der Bewohner ein Patienten waren hingegen der Nähsaal, die Küche und besonderes Gepräge (71 gaben.« der Haushalt. Kam der Beschäftigung der Patienten

| 55 in den Werkstätten resp. im Haushalt anfänglich Arbeitsleistung hinausgingen. So heißt es z.B. über wohl noch der Status einer Therapie zu,(75 dürfte jedoch den Patienten T. W. im Oktober 1910: »Versieht seine bald auch in Alzey der Wert der Patienten als Arbeits- Arbeit im Kesselhaus regelmässig und gut. Geht ohne kräfte erkannt worden sein, mit deren Hilfe sowohl Aufsicht hin und zurück, ist stolz auf seine Leistung. Kosten eingespart als auch – insbesondere in den … Ernährungszustand ist gut, macht in seinem blauen Jahren des 1. Weltkrieges – fehlendes Personal ersetzt Schlosserkittel und in den in die Schaftenstiefel gesteck- werden konnte. Die Nutzung und der Einsatz von ten Hosen einen ganz forschen Eindruck.« Im März Patienten als Arbeitskräfte war sicherlich ein schlei- des folgenden Jahres »arbeitet(e) (er) immer noch fleis- chender Prozess, der sich in den Anstalten peu à sig im Kesselhaus, wo er die Kohlen richtig füllt(e) peu einstellte und mit der Zeit immer mehr verselb- u(nd) den Heizern zuführt(e) (und) dort als Hilfe ständigte. Seit den 1920er Jahren erfuhr die Anlei- geschätzt« (79 war. tung der Patienten zur Arbeit unter dem Etikett Die höchste soziale Anerkennung genossen indes »Arbeitstherapie« zumindest eine medizinisch-theo- die Männer und Frauen, die entweder außerhalb der retische Fundierung und Legitimation.(76 Anstalt oder im Haus und Garten des Direktors und Je nach den Voraussetzungen, die die Patienten der höheren Verwaltungsbeamten arbeiten durften. mitbrachten, und den Anforderungen, die eine Arbeit Wer den Haushalt des Direktors führte, dessen Garten stellte, wurden Männer wie Frauen im Hause, d.h. oder den des Verwalters bestellte oder den Stadtbo- auf der eigenen Station, im Außenbereich der Anstalt ten bei den täglich mehrmaligen Botengängen in die oder in den Werkstätten beschäftigt. Zu den Hausar- Stadt begleitete, dort die Brote beim Bäcker oder beiten, die mancher Patient über Jahre hinweg »flei- sonstige Waren auf den Wagen lud und diesen in die ßig verrichtet(e)«, gehörten Kartoffelschälen, Geschirr- Anstalt zurückzuziehen oder schieben half, zählte spülen, Bettenklopfen oder anstrengende Putzarbeit zur Gruppe der privilegierten Patienten. wie Aufwischen und Säubern auf W II. Eine gewisse Bevorzugung genossen auch die Patien- Für die Gartenarbeiten (z.B. Lindenblütenbrechen, ten, die als Arbeitskräfte beim Ausladen am Bahnhof Obsternte), die Arbeiten in der Ökonomie und im eingesetzt oder wie W. R. im 1. Weltkrieg, »da es auf Kuhstall oder innerhalb des Anstaltsterrains (Wege dem Lande stark an Gartenarbeitern fehlt(e) … zusam- in Stand halten etc.) wurden so genannte Kolonnen, men mit einem Mitkr(anken) … & einem Pfleger d.h. kleinere Gruppen gebildet, die von einem Pfle- nach Dautenheim geschickt (80 wurden. Sie verdank- ger beaufsichtigt wurden. In den Werkstätten, zu denen ten ihre Anerkennung und Wertschätzung vornehm- die Patienten bisweilen alleine und ohne Aufsichts- lich ihrer Arbeitsleistung und ihrem Arbeitseinsatz person gehen durften,(77 wurden unter der Anleitung zugunsten der Anstalt. Dies zumal dann, wenn wie ausgebildeter Handwerker Produkte für den Eigen- 1914 im Zuge der Mobilmachung männliche Arbeits- bedarf der Anstalt wie z.B. Körbe hergestellt. Größe- kräfte fehlten und arbeitsfähige Patienten als Ersatz- ren Anteil hatten allerdings Reparatur- und Hilfsar- bzw. Hilfsarbeiter gegen Entlohnung zur Verfügung beiten. In der Schneiderei und im Nähsaal bedeutete gestellt wurden. Insbesondere die Landwirte des der dies das Ausbessern und Flicken beschädigter Anstalts- Anstalt nächstgelegenen Ortes Dautenheim profitier- kleidung oder das Anbringen von Namensschildern ten von den Anstaltspatienten, für deren Arbeit sie der Patienten in den Kleidern, womit sich mancher der Anstalt pro Tag zunächst 1 Mark, schließlich 1,50 Patient »sehr nützlich macht(e).(78 In der Sattlerwerk- Mark zahlten. In den Monaten August bis Dezember statt wurde Roßhaar für die Matratzen gezupft, in 1914 konnte die Anstalt durch die Außenarbeit der der Schuhmacherei die Schuhe und Stiefel repariert. Patienten immerhin Einnahmen in Höhe von 552,91 In den Versorgungswerkstätten und -einrichtun- Mark erzielen. Ob die Einnahmen schließlich der gen wie der Schlosserei, im Kesselhaus oder im Kohlen- Anstalt zugute kamen oder wohltätigen Kriegszwe- hof gingen die Patienten, in der Regel Männer, den cken zugeführt wurden, wie dies Direktor Dr. Dietz technischen Mitarbeitern zur Hand. Diesen Arbeiten empfahl, bleibt allerdings offen. (81 wurde ein höherer Stellenwert zugemessen als den Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Arbeit vorgenannten Arbeiten. Patienten, die sie ausführ- der Patienten erstens dazu geeignet war, die Patien- ten, fanden mitunter vom Pflegepersonal anerken- ten mehr oder weniger sinnvoll zu beschäftigen. nende Worte, die über eine Beurteilung der reinen Darüberhinaus war und wurde sie in zunehmendem

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Maße ein probates Mittel, billige Arbeitskräfte für auch für das Alzeyer Blättchen«. Der oben schon die Anstalt zu rekrutieren. Weiterhin war sie durch erwähnte Patient H. S. lernte – so die Einschätzung die Simulation eines Arbeitsplatzes, an dem mitun- vermutlich des Oberpflegers – »in der denkbar unsin- ter regelmäßig von 1/2 2 bis 9 Uhr gearbeitet wurde,(82 nigsten Weise Lateinisch, indem er aus der Überset- ein erzieherisches Übungsfeld für eine Wiederein- zung eines kirchlichen Werkes sich einzelne Worte gliederung der Patienten nach der Entlassung aus merkt«. der Anstalt. Und nicht zuletzt diente die Arbeit auch Beide, E. K. und H. S., schrieben wie viele andere als Sanktionsmittel, indem Wohlverhalten mit ange- Patienten auch, zahlreiche Briefe an ihre Angehöri- nehmeren Arbeiten belohnt, Missverhalten mit ihrem gen, Freunde und Bekannte in der Hoffnung, dass Entzug oder mit der Anordnung unangenehmerer diese ihnen antworteten, sie besuchten oder verschie- Arbeiten bestraft wurde. denste Wünsche (z.B. Tabak zum Rauchen) erfüllten. Den Patienten der ersten Klasse und den Pensio- Die Briefe enthalten sehr oft auch Beschwerden und nären, die grundsätzlich von der Arbeit befreit waren, Vorwürfe. Eher selten erreichten sie ihre Adressaten. stand ein vielfältiges Beschäftigungsangebot zur Verfü- In der Regel fielen sie der Zensur anheim – wurden gung. Zum Zeitvertreib, aber auch zur körperlichen vom Direktor gelesen und in der Patientenakte abge- Betätigung und geistigen Anregung dienten Sport- legt. einrichtungen (Kegelbahn, seit 1937 ein Schwimm- »Schreibt immer noch ihre Zettelchen und Briefe, in bad), die Möglichkeit zum Billard- und Klavierspiel letzter Zeit namentlich an ihren hier … wohnenden sowie eine Patientenbücherei mit einem reichen Lektü- Bruder, den sie gar zu gern einmal besuchen möchte. reangebot, die zudem auch die Tageszeitung sowie Man hat die Karten auch abgesandt, die Angehöri- illustrierte Hefte und Zeitschriften bereit hielt. Um gen kümmern sich aber nicht um die Pat(ientin). (85 die Tage zu füllen, wurden Spaziergänge »die Patien- Die bittere Erfahrung, als Patient einer Heil- und tin geht Sonntags gerne auf den Spaziergang mit«,(83 Pflegeanstalt selbst von den nächsten Verwandten abge- Tagesausflüge, Unterhaltungsprogramme (regelmä- schoben und vergessen worden zu sein, gehörte ebenso ßige Konzerte, Zirkusbesuche, Zauberkünstlervor- zum Anstaltsalltag wie die Beobachtung, dass eine stellungen, Kinovorführungen, Theaterspiele), die auch Reihe von Patienten sehr wohl regelmäßigen Besuch den Patienten der Pflegeklassen und dem Personal von ihren Angehörigen erhielt. Ob, wie und in welcher offenstanden, organisiert. Intensität der Kontakt zwischen Angehörigen und Wer nicht arbeitete, im Bett liegen blieb oder ander- Anstaltspatienten beibehalten und gepflegt wurde, hing weitig beschäftigt war, hielt sich tagsüber im Tagraum von einem ganzen Bündel von Faktoren ab (Wohn- oder im eigenen Zimmer auf und verbrachte den ort, Entfernung zur Alzeyer Anstalt, Zivilstand, Einge- Tag mit Bastelarbeiten, Stricken, Häkeln, Lesen oder bundensein in eine Familie, Dauer des Anstaltsauf- Schreiben. Den Zeitvertreib von E. K., einer umgäng- enthalts, Einstellung der Angehörigen zur Heil- und lichen »harmlosen …, durchaus selbständigen« Patien- Pflegeanstalt, um nur einige zu nennen), weshalb sich tin, die »in ihrem Einzelzimmer eine Art otium cum insgesamt ein sehr diffuses Bild zwischen den beiden dignitate« genoss, belegen ausführlich die Einträge skizzierten Polen ergibt. in ihrer Patientenakte: »Verträglich zur Umgebung Durch den täglichen Umgang und das tägliche hat (sie) ihren Nachttisch mit allerlei Tand geschmückt, Zusammensein waren die Pflegekräfte die wichtigsten so z.B. mit zwei aus alten Lappen zusammengeflick- Kontaktpersonen der Patienten. Über die Zeit hinweg ten und konstruierten Schäfchen, die aus einer Art entwickelten sich bisweilen engere Beziehungen, die Krippe herausschauen, die aus Ansichtskarten zu- trotz des Verbotes für Pflegekräfte, Geschenke von sammengenäht ist. Hat ihr Zimmerchen für sich, in Patienten anzunehmen, durch kleine Aufmerksamkei- dem sich gern ruhigere Pat(ienten) ein Stelldichein ten und Geschenke dokumentiert wurden. (86 geben, weil es daselbst stiller ist, als im anderen Saal«.(84 Der Pflegeschlüssel lag vor dem 1. Weltkrieg bei E. K., die »sich fleissig mit Stricken beschäftigt(e), dem in den hessischen Anstalten üblichen Verhält- »des Morgens und Mittags … eine Stund im Garten nis von 6 Patienten zu einem Pfleger. Weitere Daten auf und ab (ging)«, ließ »sich gern vom Personal kleine liegen erst wieder für 1936 vor. Zu diesem Zeitpunkt Häkelarbeiten geben«, las aber auch »gern in Gebet- war eine Pflegekraft für nur noch durchschnittlich büchern und katholischen Kalendern, interessierte sich 4,1 Patienten zuständig. Damit rangierte die Alzeyer

| 57 Anstalt nicht nur unter den hessischen Anstalten an nahmen die Patienten im ersten Jahrzehnt des Beste- erster Stelle, sondern nahm auch innerhalb Deutsch- hens der Alzeyer Heil- und Pflegeanstalt kontinuier- lands einen der vorderen Plätze ein. (87 lich zu. Mehr als 400 Patienten zählte die Anstalt bereits 1912. Gleichwohl stieg die Zahl der Patienten Ernährung noch immer an, um im Dezember 1916 mit 522 Patien- Über die Ernährung der Patienten gibt es nur sehr ten einen Dezembergipfel zu erreichen. Dieser wurde wenige Informationen. Fragmenten zerschnittener und allerdings im April des darauf folgenden Jahres 1917 in Zweitverwendung auf der Rückseite beschriebener mit 595 Patienten noch einmal deutlich überschrit- Speisepläne aus den 1930er Jahren zufolge war man ten. beim Mittagessen für die gehobenen Pflegeklassen Der Patientenzuwachs vor dem Ersten Weltkrieg (»Form 1 – 3«) täglich um ein Menü aus drei Gängen entsprach der in Deutschland seit dem ausgehenden Suppe, Fleischgericht mit Beilagen und Nachtisch 19. Jahrhundert allgemein zu beobachtenden Zunahme bemüht. In den Formen 4 und 5 wurde bisweilen psychiatrischer Patienten in Heil- und Pflegeanstal- auf den Nachtisch verzichtet, das Fleischgericht des ten, die zu Beginn des Jahrhunderts auch zum Bau Hauptgangs war einfacher: Schweinefleisch anstelle der Alzeyer Anstalt geführt hatte. Sie setzte sich im von gerolltem Schweinebraten, Kalbsbeiessen anstelle neuen Jahrhundert – und so auch in Alzey – fort, der Kalbskeule. Suppen (Grünkern-, Nudel-, Reis- oder wobei die Gründe dafür, wie eingangs erwähnt, viel- Bohnensuppe) und Beilagen (verschiedene Gemüse fältig waren. und Kartoffeln) waren unabhängig von der Pflege- Demgegenüber waren die erheblich gestiegenen klasse zumeist für alle Patienten identisch. Belegzahlen seit 1915 die unmittelbare Folge und Zum Frühstück gab es Kaffee, Malzkaffee oder Auswirkung des Kriegsgeschehens, das vor den Heil- Milch. Patienten, die »aufgepäppelt« werden sollten, und Pflegeanstalten nicht Halt machte und sich auch wurde leichte Kost wie z.B. zwei Löffel Kartoffelbrei in Alzey in verschiedener Hinsicht bemerkbar machen mit 2/7 Ei, Rührei mit zwei Löffeln Reisbrei oder ein sollte. So wurde hier ebenso wie in anderen Heil- Teller Weinsuppe gereicht. Alkoholhaltige Speisen und und Pflegeanstalten ein Kriegslazarett für verwun- Getränke – insbesondere Bier, dessen Verbrauch ein dete Soldaten eingerichtet. Die Vorbereitungen dafür Achtfaches des Mineralwasserverbrauchs betrug,(88 setzten unmittelbar nach der Mobilmachung am 1. wurden vor allem als Therapeutikum zur Beruhi- August ein. Unter dem 12. August 1914 vermerkt Hans gung und Ruhigstellung der Patienten eingesetzt. (89 Bumann, Autor des Alzeyer Kriegstagebuches: »Man Die Verabreichung von Alkohol war jedoch aufgrund erwartet in den nächsten Tagen auch für die hießi- seines Suchtpotentials nicht unumstritten. Sicherlich gen Lazarette (Casino, Kreiskrankenhaus) die ersten war man im Weinanbaugebiet Rheinhessen diesbe- Verwundeten. … Die Heil- und Pflegeanstalt hat zwei züglich etwas großzügiger, zumal auch in den Patien- Bauten zur Aufnahme von Kriegern bereitgestellt tenakten das »übliche rheinhessische Quantum« Alko- und erbittet zur inneren Ausstattung von der hießi- hol als noch tolerabel angesehen wurde. Eine Aus- gen Einwohnerschaft die erforderlichen 200 Bettstel- nahme bildeten regelrechte Alkoholiker, wie z.B. der len nebst den einzelnen Teilen der Betten. Es ist erfreu- »in einem unvorstellbar verwahrlosten Zustand (aufge- lich zu beobachten, in welch vielfältiger Weise man nommene) … vollkommen verlauste« Patient J. sich schon jetzt um die gute Unterbringung und die W. K., der erklärte, »das seien keine Läuse, sondern beste Verpflegung der zu erwartenden Verwundeten Rebläuse, die in Gau-Algesheim in den Wirtschaften bemüht. – Den noch verbleibenden Aerzten hießiger auf den Tischen herumliefen. (90 Stadt und der Heilanstalt steht jetzt eine anstrengende Tätigkeit in Aussicht.« (91 Patientenzahlen und Belegung der Anstalt Dieser Aufgabe stellte sich der damalige Direktor Die Belegung der Alzeyer Anstalt, die für 400 – 450 Dr. Dietz unverzüglich. Aus einem Gefühl patrioti- Patienten geplant war, ist durch die »Tagebücher der scher Verpflichtung heraus hatte er bereits am 8. Patientenbewegung«, in denen die Aufnahmen und August 1914 einen Brief an die Redaktion der Psychi- Entlassungen der Patienten vom ersten Tag an fest- atrisch-Neurologischen Wochenschrift mit »Anregun- gehalten wurden, sehr gut dokumentiert. Nach den gen für Kriegszeiten« geschickt. Unter Punkt 1 teilte Belegzahlen zum 31. Dezember eines jeden Jahres er – Bezug nehmend auf die Alzeyer Anstalt – mit,

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dass »auch im Friedensfall voll belegte Anstalten … Pfleglinge«, die kriegsbedingt aus der elsässischen in der jetzigen Not durch Ausnutzen der seitherigen Heil- und Pflegeanstalt nach Alzey verlegt wurden. Aufenthaltssäle und Korridore Platz schaffen (können), Zusammen mit den verwundeten Soldaten, den Kriegs- um eventuell ganze Bauten als Lazarette zur Verfü- gefangenen sowie den anstaltseigenen Patienten beleg- gung zu stellen, eine Anstalt von 500 Kranken z.B. ten sie 595 Betten, die – im Hinblick auf die oben 2 Bauten für je 100 M(enschen). Ausnutzung des zitierten Zeilen Dr. Dietzens – unter Ausnutzung

Personalnot infolge Einziehung von Pflegern zum Militär während des 1. Weltkrieges

gesamten Anstaltsbetriebes, Küche usw. momentane aller nur bestehenden räumlichen Möglichkeiten aufge- Hilfe. Die so ersparten enormen Mittel werden für stellt gewesen sein dürften. andere Zwecke frei. Mitteilung an die Behörden.« (92 Erst fünf Monate später, am 31. Juli 1917, redu- Im November 1914 wurde »das in der Heil- und zierte sich die hohe Belegdichte mit der Entlassung Pflegeanstalt errichtete Vereinslazarett (des Roten Kreu- von 46 Rufacher Patienten wieder. Weitere Entlas- zes, E. H.-K.) zum erstenmale belegt« (93 Neben deut- tungen brachten die Entlassungen von 10 bzw. 21 russi- schen Soldaten trafen seit Mitte des Jahres 1915 russi- schen Kriegsgefangenen im August und November sche Kriegsgefangene ein. Einen weiteren Patienten- sowie die Verlegung der restlichen 47 elsässischen zuwachs brachten am 10. März 1917 100 »Rufacher Patienten im September.

| 59 Bis zum Kriegsende reduzierte sich die Zahl zwar gedeckt, wenn im Wachstum durch ungünstige Witte- wieder auf rund 400 Patienten. Die Sterblichkeit in rung keine Hindernisse eintreten. (96 der Anstalt blieb trotz rückläufiger Patientenzahlen im Dessen ungeachtet wurde dennoch auch in Alzey Jahr 1918 aber unverändert hoch. Die Sterberate bereits im November 1914 die Nahrungsmittelredu- erreichte mit einem Wert von 16,52 Prozent jetzt sogar zierung Realität. Anstelle der früher zwei Fleischgänge ihren Höhepunkt. Sie lag damit dreimal so hoch wie »in der ersten Form« (wohl 1. Pflegeklasse) wurde in Friedenszeiten, in denen durchschnittlich 5 von 100 mittags nur noch ein Fleischgang gereicht. Außer- Menschen im Jahr starben. (94 dem wurde jede Ration, mit Ausnahme des Brotes, Hauptursache für die erhebliche Zunahme der Ster- um ein Zehntel gekürzt. Jeder Patient erhielt durch- befälle war der Nahrungsmittelmangel, der sich im schnittlich nur noch 117,2 Gramm Fleisch und 38 Lauf des Krieges zu einem immer größeren Problem Gramm Wurst am Tag. (97 ausweitete und insbesondere Menschen in geschlos- Zur Entlastung der Anstalt und zur Verminderung senen Anstalten traf, die sich keine zusätzlichen der Zahl der Esser begann man ab Juni 1916 Patien- Nahrungsmittel organisieren konnten. ten zu entlassen und in die sog. Familienpflege zu Bereits kurz nach Kriegsbeginn hatte sich Dr. Dietz überführen. Hierbei wurden in der Regel chronisch zwar schon mit Überlegungen zur Rationierung von Kranke, die außerhalb der Anstalt versorgt werden Lebensmitteln beschäftigt und diesbezügliche Anre- konnten, in die Obhut von Privatpersonen und Fami- gungen für andere Anstalten in einem Brief an die lien gegeben, die gegen ein Entgelt die Pflege und Redaktion der Psychiatrisch-Neurologischen Wochen- Versorgung der Patienten übernahmen. (98 schrift weitergegeben. Zu den empfohlenen Maßnah- Obgleich in anderen Anstalten auch Männer in men gehörten unter anderem, die nach seiner Einschät- die Familienpflege entlassen wurden, beschränkte man zung »wohl überall äusserst reichlich bemessene Kost diese in Alzey auf Frauen. Während des Krieges waren … bei Kranken und Personal … auf 3/4« zu reduzie- zwischen fünf bis elf Patientinnen pro Monat in Alzey, ren, »I. und II. Kost« wegfallen zu lassen, Butter durch Dautenhein, Undenheim, Oppenheim zur Familien- frische Marmelade zu ersetzen, Brot nur sparsam zu pflege untergebracht. Da einzelne Patientinnen bereits verbrauchen, es in kleinen Stücken anzubieten und nach kurzer Zeit wieder in die Anstalt zurückkehr- nur dem, der mehr Hunger hat, weitere Stükke zu ten, war die Gesamtzahl von Patientinnen in Fami- geben. (95 lienpflege insgesamt höher. Am intensivsten wurde Trotzdem war man im Grunde davon überzeugt, die Familienpflege von Oktober 1917 bis November dass durch die Selbstversorgung eine ausreichende 1918 betrieben. Nach Kriegsende lief die Familien- Ernährung in der Alzeyer Anstalt gesichert wäre. Das pflege nach und nach aus, für die Jahre nach 1920 klingt zumindest in einem Schreiben von Dr. Dietz verzeichnen die Tagebücher jeweils nur noch eine an, in dem er auf eine Empfehlung des Großherzog- Person in Familienpflege. lichen Ministeriums des Inneren vom 12. August Durch die Mangelernährung erlitten die Menschen 1914 Wurzelgemüse (Weißrüben, Karotten, Salate und in der Anstalt erhebliche Gewichtsverluste, magerten Spinat) zur Vergrößerung des Wintervorrates anzu- ab, viele starben. So war der 1,70 Meter große Patient, pflanzen, hin, äußerst optimistisch antwortete: »In der mit dem stattlichen Gewicht von 83 kg in die Gemäßheit der vorstehenden Verfügung berichten wir, Anstalt eingeliefert worden war und im Oktober 1917 daß das sämtliche für Gartenbau geeignete Gelände nur mehr 75,7 kg wog, ebenso wenig ein Einzelfall angepflanzt ist und wir im Sinne dieser Verfügung wie Männer und Frauen, die bei einer Größe von bereits Anordnungen getroffen haben. Die Frühkar- 1,58 m oder 1,64 m ein Gewicht von nur 47 kg bzw. toffel von 9 Morgen Gelände werden in den näch- 49 kg aufwiesen. Obduktionsberichte verstorbener sten Tagen sämmtlich eingeerntet und wird dieses Patienten belegen wiederholt (»sehr stark abgemagerte Gelände neu bepflanzt wie nachstehend: 1 Morgen mit Leiche«), dass im Verlauf des Krieges der Hunger in Kopfsalat, 2 (Morgen mit) Karotten, 2 (Morgen mit) der Alzeyer Anstalt Einzug hielt. Die zusammenfas- Weißrüben und 4 Morgen (mit) Spinat. Wir ernten sende Bewertung des Hungersterbens in psychiatri- voraussichtlich ca. 2.500 Zentner Kartoffel, das ist schen Anstalten während des Krieges von Wagner- mehr wie die Hälfte unseres Bedarfs, auch ist unser Jauregg trifft sicherlich auch für Alzey zu: »Es war Bedarf an Gemüse jeder Art mehr wie vollständig der Nahrungsmittelmangel, der Hunger, dem die

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Geisteskranken offenbar noch weniger als die übrige in der Provinzial-Pflegeanstalt Heidesheim in Betracht Bevölkerung widerstehen konnten, und der teils indi- zu ziehen, da in dieser Anstalt der tägliche Pflege- rekt, auf dem Umwege über die Tuberkulose, teils geldsatz noch nicht die Hälfte desjenigen in den direkt durch Marasmus (= allgemeiner geistig-körper- Landes-Heil- und Pflegeanstalten beträgt. Um nun- licher Kräfteverfall, E.H.-K.) zum Tode führte. (99 mehr zu der erforderlich werdenden Sparmaßnahme Dass gleichwohl die Sterblichkeit in Alzey im Ver- die notwendigen Unterlagen zu erhalten, wollen Sie gleich zu anderen Heil- und Pflegeanstalten zum einen uns diejenigen Geisteskranke Ihrer Gemeinde mittei- relativ niedrig war und zum anderen erst relativ spät len, die nach Ihren Feststellungen für Außen- oder einsetzte, dürfte zum größten Teil auf den hier doch Familienpflege oder die Unterbringung in Heidesheim recht hohen Grad der Selbstversorgung zurückzu- geeignet sind. Die erforderlichen Feststellungen führen sein. (100 Eine Besserung der Gesundheits- können vielleicht durch Angehörige oder Verwandte und Ernährungsverhältnisse trat erst wieder Anfang angestellt werden. Dieselben sind über den Eindruck der 1920er Jahre ein. zu befragen, den sie bei dem letzten Besuche des In den 1920er Jahren nahm die Zahl der Patien- Geisteskranken gewonnen haben. Wo aber der Verdacht ten von 1922 bis 1925 jährlich um ca. 10%, ab 1926 nahe liegt, daß die Angehörigen sich weigern, den um rund 5% zu und erreichte mit 647 Patienten Kranken wieder in ihrem Haushalt aufzunehmen, 1930 schließlich einen Höhepunkt. Dies bedeutete obwohl derselbe nach ärztlichem Gutachten dort unter- eine Steigerung auf 184%. Eine solche blieb keines- gebracht werden könnte, dann wollen Sie uns eben- wegs nur auf Alzey oder die hessischen Anstalten falls Mitteilung machen, damit wir die entsprechen- beschränkt. (101 Sie entsprach vielmehr der allgemein den Schritte unternehmen können. Gleichzeitig ersu- festzustellenden Zunahme psychisch Kranker in chen wir Ermittlungen dahin anzustellen, ob Fami- Deutschland, die zwischen 1923 und 1929 bei 60% lien in Ihrer Gemeinde vorhanden sind, die even- lag. (102 Verantwortlich waren dafür in erster Linie tuell zur Aufnahme eines nicht gemeingefährlichen die vorübergehende gesamtwirtschaftliche Konsolidie- Geisteskranken geeignet und gegen ein Entgelt bereit rung zum einen, die die Anstaltspflege wieder finan- wären. Mit Rücksicht darauf, daß die Gemeinde zur zierbar machte, wohlfahrtsstaatliche gesetzliche Maß- Hälfte sich an den entstehenden Kosten beteiligen nahmen zum anderen. Insbesondere die Reichsver- muß, und somit an der billigeren Unterbringung der ordnung über die Fürsorgepflicht von 1924, welche in Frage kommenden Personen interessiert ist, empfeh- die Familien entlastete, indem sie die Kostenüber- len wir genaue Feststellungen in dieser Hinsicht, damit nahme für Anstaltsaufenthalte auf die Gemeinden für die Folge alle weitere Belastung Ihrer Gemeinde, übertrug, leistete der Verbringung von psychisch Kran- die eine Erhöhung der Umlagen zur Folge hat, vermie- ken in Anstalten Vorschub. Mit der Zeit überforder- den werden kann. In den Fällen, in denen es möglich ten jedoch die steigenden Patientenzahlen in den teuren ist, muß unbedingt eine Unterbringung in Außen- psychiatrischen Einrichtungen vor allem die Städte und Familienpflege oder aber in der Provinzial-Pfle- und Gemeinden. Die Bezirksfürsorgestelle des Kreis- geanstalt Heidesheim erreicht werden … « (103 amtes Alzey drängte deshalb in einem Schreiben an Komprimiert stellt dieses Schreiben der Bezirks- die Bürgermeisterei Alzey unter Verweis auf die hohe fürsorgestelle des Kreises die Maßnahmen vor, mittels Belastung der öffentlichen Kassen darauf, die Fürsor- derer man die Kosten für psychisch Kranke einzudäm- gekosten für Geisteskranke zu senken: men suchte. Ein erster Ansatz dazu war die Verle- »Der Kreisausschuß des Kreises Alzey hat bei der gung und Unterbringung von Pflegefällen, d.h. von Beratung des Voranschlags der Bezirksfürsorgestelle als unheilbar eingestuften Patienten, die keiner medi- pro 1928 die außerordentlich hohe Anzahl von Geistes- zinischen Betreuung bedurften, in das kostengünsti- kranken, die auf öffentliche Kosten in Heil- und Pfle- gere Pflegeheim nach Heidesheim oder aber in die geanstalten untergebracht sind, beanstandet. Es sollen Pflegeheime Nieder-Ramstadt bzw. Bad Kreuznach. in dieser Hinsicht Schritte wegen Einsparung von Im Zuge der Sparmaßnahmen griff man aber auch 10.000 RM unternommen werden. Dies kann u.E. auf die schon einmal während des 1. Weltkrieges nur dadurch geschehen, daß Geisteskranke, deren praktizierte, danach allerdings wieder aufgegebene Zustand es erlaubt, in Außen- und Familienpflege Familienpflege zurück. Beide Maßnahmen spielten untergebracht werden. Auch wäre die Unterbringung in Alzey jedoch eine eher untergeordnete Rolle. Statt-

| 61 dessen bevorzugte man hier die dritte der genannten Nicht zuletzt aufgrund der in Deutschland besonders Varianten, die sog. Außenfürsorge schwierigen volkswirtschaftlichen Lage infolge der Das noch junge, ursprünglich reformpsychiatrische Weltwirtschaftskrise erhielten ökonomische Überle- Konzept der Außenfürsorge sah, um Hospitalisierungs- gungen bei der Versorgung psychisch Kranker einen tendenzen durch (zu) lange Anstaltsaufenthalte ent- immer größeren Stellenwert. Diese zunehmende gegenzuwirken, eine möglichst frühzeitige Entlassung Rechenhaftigkeit in Bezug auf psychisch Kranke – und Rückführung der Patienten in ihre Familien vor. besonders eindringlich wurde sie bereits 1920 von Für die Übernahme der Pflege und Versorgung erhiel- dem Juristen Karl Binding und dem Psychiater Alfred ten die Familien als Vergütung einen Teil des Pflege- Hoche in ihrer Schrift über »Die Freigabe der Vernich- satzes. 1929 betrug dieses z.B. 2 RM/Tag oder 50 tung lebensunwerten Lebens (105 demonstriert, die nicht RM/Monat. Den Rest des Pflegegeldes von 3,30 RM zuletzt unter dem Eindruck des 1. Weltkriegs den beanspruchte die Anstalt für die ärztliche Betreuung »Lebenswert« Geisteskranker, speziell »unheilbarer« des Patienten. Zu diesem Zweck hatte die Landes- Blödsinniger, in Verbindung mit ökonomisch-utilita- heil- und Pflegeanstalt Alzey z.B. gemeinsam mit ristischen Argumenten brachten – bildete geradezu der Stadt und dem Kreis Mainz eine Außenfürsorge- einen idealen Katalysator, der die unheilvolle Legie- stelle eingerichtet, wo Ärzte der Klinik ihre Sprech- rung von wirtschaftlichen Sachzwängen und euge- stunden abhielten. (104 Mit der Zunahme der Patien- nisch-rassehygienischen Vorstellungen und Lösungs- tenzahlen stieg auch der Anteil der in die Außenfür- konzepten beförderte. Ab 1933 wurde, unter dem sorge gegebenen Patienten von zwei im Jahr 1926 Vorzeichen der nationalsozialistischen Politik, auch auf über 70 Patienten im Juni 1929 auffallend. Offen- die Alzeyer Heil- und Pflegeanstalt auf das neue »hohe sichtlich fungierte die Außenpflege dabei mehr und Zuchtziel einer erbgesunden, begabten, hochwerti- mehr als Ventil, um den gestiegenen Kostendruck zu gen Rasse« verpflichtet. Dieser Aufgabe sollten die mindern. Auch in den folgenden Jahren setzte sich Psychiater zukünftig »dienstbar sein«, wie es in einem diese Entwicklung fort. Befanden sich 1930 78 Alzeyer 1934 von dem damaligen ärztlichen Direktor der Patienten in Außenpflege, so stieg deren Zahl bis 1932 Alzeyer Anstalt, Dr. Peters, verfassten protokollari- sogar auf 115 an und dies obgleich die Gesamtpatien- schen Bericht über eine vertrauliche Besprechung tenzahl mittlerweile wieder etwas gesunken war. psychiatrischer Praktiker heißt. (106 π

62 | Innenleben

1 Hierzu s. Blasius, Dirk: »Einfache Seelenstörung« Anmerkungen Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800 – 1945, Frankfurt/M. 1994, hier insb. das Kapitel »Psychiatrie Teil III – Innenleben im deutschen Kaiserreich«; Shorter, Edward: Geschichte der Psychiatrie, Berlin 1999; Faulstich, Heinz: Von der Irrenfürsorge zur »Euthana- sie« Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg i. Br. 1993, S. 21ff., 34 ff.; Vanja, Christina: »eitel Lust und Freude herrscht wirk- lich nicht darin« – Die Landes- Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster 1897 – 1921. In: Dies. (Hg.): Heilanstalt – Sanatorium – Kliniken. 100 Jahre Krankenhaus Weil- münster 1897 – 1997, Kassel 1997, S. 15 – 60, hier S. 15; Vanja, Christina: Leben und Arbeiten in einer Heil- und Pflegeanstalt Ende des 19. Jahrhunderts. In: Landes- wohlfahrtsverband Hessen (Hg.): Psychiatrie in Heppenheim. Streifzüge durch die Geschichte eines hessischen Krankenhauses 1866 – 1992 (= Historische Schriftenreihe des Landswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien, Bd. 2), Kassel 1992, S. 42 – 62, hier S. 45 f.; Vanja, Christina u.a. (Hg.): Wissen und Irren. Psychia- triegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Eichberg (= Historische Schriftenreihe des Landeswohl- fahrtsverbandes Hessen. Quellen und Schriften, Bd. 6), Kassel 1999 Auf die vorstehenden Arbeiten wird im Folgenden, z.T. auch ohne Einzelnachweis, Bezug genommen. 2 Wagner, A(lbert): Die Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey und der Hilfsverein für die Geisteskranken Hessens, o.O. (Leipzig), o.J. 3 Faulstich, H.: (wie Anm. 1), S. 37 4 Die folgenden Ausführungen basieren auf den Beschrei- bungen der Alzeyer Anstalt in dem Artikel zur Eröff- nung der Anstalt in der Alzeyer Zeitung vom 15.11.1908; Dannemann: Die Entwicklung der Fürsorge für Geistes- kranke im Großherzogtum Hessen. In: Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild, bearb. v. Johannes Besler, Halle/S. 1910, S. 141 – 152; Wagner, A.: (wie Anm. 2); Peters, Ludwig: Errichtung und Entwicklung der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey bis zur Landesnervenklinik, Ms o.J. (Anfang 1960er Jahre) (Chronik Rheinhesen-Fachklinik (RFK) Ordner I/51) 5 Alzeyer Beobachter vom 17.3.1908 6 Alzeyer Beobachter vom 2.9.1908 7 Alzeyer Beobachter vom 7.10.1908 8 Ebenda 9 Alzeyer Zeitung vom 4.10.1908 10 Nach dem Alzeyer Beobachter vom 27. und 29.10.1908 11 So im Alzeyer Beobachter vom 30.9. und 19.11.1908 sowie in der Alzeyer Zeitung vom 15.11.1908 12 Wagner, A.: (wie Anm. 2) 13 Langgässer, Elisabeth: Proserpina, Hamburg 1949, S. 11 14 Vanja, Chr.: (wie Anm. 1: Weilmünster), S. 30 15 Alzeyer Beobachter vom 22.9.1908 16 Anmeldebuch der Stadt Alzey vom 8.9.1908 – 7.11.1912 (Einwohnermeldamt Alzey) 17 Ueber Dauerbadeinrichtungen grösseren Stils. In: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Nr. 19 und 20 (1904)

| 63 18 Darauf deuten die auch im folgenden verwendeten stellung sowie die genannten Maßnahmen verweist Quellen: die Anmeldebücher der Stadt Alzey vom (Archiv RFK). Zur Problematik mangelnder Pflegekräfte 8.9.1908 – 7.11.1912 und vom 9.11.1912 – 17.9.1918 in den Heil- und Pflegeanstalten, s. auch Faulstich, (Einwohnermeldeamt Alzey) sowie das Personalbuch Heinz: Der Eichberg im Ersten Weltkrieg. In: Vanja, der Landes- Heil- und Pflegeanstalt. Personalabteilung Christina, u.a. (Hg.): Wissen und Irren. Psychiatriege- von 1908 (vom Beginn) bis 1949 (Archiv RFK) hin. schichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Die Gegenüberstellung beider Quellen hat ergeben, Eichberg (= Historische Schriftenreihe des Landeswohl- dass zumindest für die ersten Jahre bis Mai 1918 fahrtsverbandes Hessen, Quellen und Studien, Bd. 6), das Personalbuch der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Kassel 1999, S. 129 – 141, hier S. 130 Lücken aufweist. 35 S. z.B. Personalakte H. M., 1911; s. hierzu auch 20 Anmeldebuch der Stadt Alzey vom 8.9.1908 – 7.11.1912 Möllenhoff, H.: (wie Anm. 22), S. 129 – 132 21 Die Aussage Angehöriger eines ehemaligen Pflegers 36 Auf der Grundlage einer Auswertung der Beschäfti- korrespondieren mit den in Personalakten erhaltenen gungsdauer der Pflegekräfte, die in den Jahren 1908, Urlaubsbüchern (Bsp. A. Z.). Ausführlich zu den 1909, 1913, 1923 und 1933 eingestellt wurden (Personal- Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals, s. Vanja, Chr.: buch wie Anm. 18) (wie Anm. 1: Weilmünster), S. 34 – 37 37 Um eine bessere Annäherung an die tatsächlichen 21 In zahlreichen Personalakten ist eine kostenlose mittleren Werte zu erreichen, wurde hier der Median, Unterkunft festgehalten. nicht der Mittel- bzw. Durchschnittswert zugrunde- 22 Darauf verweist § 5 der Dienstverträge, in dem es gelegt. heißt: »Nach tadelloser Dienstzeit erhält der Wärter bei 38 Allgemein s. Vanja, Chr.: (wie Anm. 1: Weilmünster), Verlassen der Anstalt ein Zeugnis zum Zweck seines S. 35; zu Alzey s. Peters, L.: (wie Anm. 4), S. 4 besseren Fortkommens, insbesondere zur Erlangung 39 wie Anm. 23, S. 334 – 347 von Stellen im Staats-, Kommunal- oder Privatdienst« 40 Personalakte E. L., 1935 (Arbeitsvertrag H. W. vom 16.4.1918). In den Arbeitsver- 41 Nach dem Personalbuch (wie Anm. 18) trägen der Wärterinnen lautet diese Passage: »Nach 42 Darauf deuten die Zeitstreifen der Stechuhren in den tadelloser Dienstzeit erhält die Wärterin bei Verlassen Personalakten hin. der Anstalt ein Zeugnis zum Zweck ihres besseren 43 In einem Antwortschreiben vom 3.4.1919 auf eine Fortkommens, insbesondere zur Erlangung von Stellen Bewerbung verweist Dr. Dietz ausdrücklich darauf, daß im Privatdienst« (Arbeitsvertrag H. M. vom 30.4.1911). »seit kurzem … der 8 Stunden-Arbeitstag hier einge- S. hierzu auch Möllenhoff, Hannelore: Zur Geschichte führt« ist (Personalakte A. W.) des Pflegepersonals. In: Landeswohlfahrtsverband 44 Nach den Personalakten V. W., M. W. Hessen (Hg.): Psychiatrie in Heppenheim. Streifzüge 45 Eintritt der Pflegerinnen (Archiv RFK). Für die Auflö- durch die Geschichte eines hessischen Krankenhauses sung danke ich Herrn Dr. W. Gather. 1866 – 1992 (= Historische Schriftenreihe des Lands- 46 Wagner, A: (wie Anm. 2); Peters, L.: (wie Anm. 4), S. 2 wohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien, 47 Zahlenangaben für 1912 nach dem Adressbuch der Bd. 2), Kassel 1992, S. 127 – 139, hier S. 132 Kranken-, Pflege-und Wohlfahrtsanstalten Deutschlands, 23 Wagner, A.: (wie Anm. 2). In Übereinstimmung hierzu Leipzig 1912, S. 15; für 1919 nach einer Summenangabe s. das in der Alzeyer Anstalt benutzte Krankenpflege- auf eine Anfrage des Kreisdirektors Alzey nach den in Lehrbuch, hg. v. d. Medizinalabteilung des Königlich der Anstalt beschäftigten Beamten und Angestellten Preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- (Archiv RFK) und Medizinalangelegenheiten, 2. Aufl., Berlin 1910, 48 Einwohnerbuch für den Kreis Alzey und Kreis Bingen S. 339 f. und Land, Ausgabe 1938, o.O. 1938 24 W. Z. aus Frankenthal nahm in seiner Bewerbung 49 Zitiert nach einen Haushaltsentwurf für das Jahr 1944, »Bezug auf Ihr Gesuch in der Frankenthaler Zeitung« der auf die Vorkriegsjahre Bezug nimmt (Personalakte W. Z., Bewerbungsschreiben vom (Chronik RFK Ordner I/43) 16.2.1919). Bestätigt wurde dies auch in Gesprächen 50 Niekammer´s Landwirtschaftliche Güter-Adressbücher mit Angehörigen ehemaliger Pflegekräfte. Bd. XXII: Freistaat Hessen, Leipzig 1932, S. 144 25 Am 3.11.1908 schrieb K. M. eine Blindbewerbung 51 Nach einer Kurzbeschreibung der Landes- Heil- und folgenden Inhalts: »Ich möchte bitten, bei Ihnen Pflegeanstalt Alzey aus dem Jahr 1943 anzufragen, ob eine Stelle frei ist, indessen ich mich (Chronik RFK Ordner I/44) entschlossen, wenns möglich dieselbe anzunehmen. Ich 52 Bumann, Hans: Kriegstagebuch der Stadt Alzey, o.J., möchte sie bitten, doch so gut zu sein und sobald wie S. 222 es möglich sein kann Nachricht darüber zu geben. 53 Programm (Chronik RFK Ordner I/20) Mein Alter zählt 18 Jahre. Mit Zeugnissen bin ich auch 54 In der Patientenakte des mit dem Transport angekom- bereit.« (Personalakte K. M.) menen T. W. heißt es unterm 12.12.1908 26 Personalakte T. W. 55 Diese Zahl wurde in einem Artikel über die Belegungs- 27 Nach dem Personalbuch (wie Anm. 18) planung der Heil- und Pflegeanstalt im Alzeyer 28 Personalakten K. M., 1918 und E. M., 1919 Beobachter vom 6.1.1908 genannt. 29 Personalakte A. M., 1928 56 Diese und die folgenden Daten beruhen auf der 30 Personalakte H. V., 1921 Grundlage der Patientenakten von entlassenen und 31 Personalakte Ph. W., 1912 verstorbenen Männern und Frauen der Jahre 1912, 1917 32 Personalakte H. M., 1911 und 1925. Diese Zusammensetzung der Altersklassen 33 Personalakte B. M., 1917 entspricht dem Befund preußischer Anstalten aus dem 34 Dies geht aus der Antwort des damaligen Direktors Dr. Jahr 1905, s. hierzu Blasius, D.: (wie Anm. 1), S. 75 Dietz auf die telegraphische Anfrage aus dem Philipps- 57 Patientenakte E. K. hospital bei Goddelau vom 2.8.1914 »welche massnah- 58 Patientenakte M. B., Eintrag vom 2.12.1925 men haben sie getroffen, um die nötige anzahl pfleger 59 Auszug aus dem Regulativ vom 9. Dezember 1911. In: trotz landsturmaufruf behalten zu können« hervor, in Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt für das Jahr dem Dr. Dietz zunächst auf die Unabkömmlichkeits- 1911, S. 568 (auch abgedruckt in Wagner, A.: (w. Anm. 2)

64 | Innenleben

60 Veröffentlicht im Großherzoglich Hessischen 90 Patientenakte J. W. K. Regierungsblatt für das Jahr 1908, S. 272 91 Bumann, H.: (wie Anm. 52), S. 25 61 S. diesbezüglich z.B. Bekanntmachung die Pflege der in 92 Brief Dr. Dietz an die Redaktion der Psychiatrisch- den Landesirrenanstalten betreffend vom 20. März Neurologischen Wochenschrift vom 8. August 1914 1909. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt (Archiv RFK) für das Jahr 1909, S. 56 f. 93 Bumann, H.: (wie Anm. 52), S. 63 62 Auf die Rückgabe der Anstaltskleidung legte man wohl 94 Vergleichszahlen in Faulstich, H.: (wie Anm. 87), Kap. nicht nur im 2. Weltkrieg großen Wert. So wurde der Die Zahl der Hungertoten im Ersten Weltkrieg, entwichene Patient V. E. in einem Schreiben aufgefor- S. 55 – 68. Diesen zufolge lag die Sterberate der Alzeyer dert, »die Kleidung und Schuhe unserer Anstalt, die Sie Anstalt deutlich unterhalb der zahlreicher anderer bei Ihrer Entweichung anhatten, umgehend hierher zu psychiatrischer Einrichtungen. schicken. Ihre Sachen lasse ich Ihnen dann sogleich 95 Brief und Entwurf des Briefs (wie Anm. 92) zusenden.« (Patientenakte V. E., Schreiben vom 96 Schreiben Dr. Dietz an das Großherzogliche Ministe- 24.5.1943) rium des Innern vom 17. August 1914 (Archiv RFK) 63 Patientenakte W. Sch., 1946 97 Antwortschreiben Dr. Dietz an das Großherzogliche 64 Patientenakten W. Sch., Eintrag vom 29.5.1931; V. E., Ministerium des Innern bzgl. einer Anfrage Eintrag vom 26.1.1934 (Betr.: Energiesparmaßnahmen) vom 17.11.1914 65 S. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation (Archiv RFK) psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, 98 Zur Familienpflege, s. Blasius, D.: (wie Anm. 1), (1. Aufl. 1961), Frankfurt 1973 S. 104 ff. 66 Brief vom 4.2.1922, Patientenakte H. S. 99 Zit. nach Faulstich, H.: (wie Anm. 87), S. 61 67 Patientenakte W. R., Eintrag vom 12.12.1908 100 Sterberaten für Alzey, Heppenheim und die deutsch- 68 Patientenakte A. M. B., Eintrag vom 4.5.1925 österreichischen Anstalten in den Jahren 1913 – 1922 69 Ebenda, Eintrag vom 28.5.1925 (in Prozent) 70 Patientenakte K. F., Eintrag vom 4.2.1925 71 Wagner, A.: (wie Anm. 2) Jahr Anstalten 72 Zeitangaben aus den Patientenakten H. S., M. Sch., Alzey Heppenheim Deutsch-österr. F. H., M. M. G. 1913 5,30 8,99 - 73 So Oberarzt Dr. A. Wagner (wie Anm. 2) 1914 6,23 9,50 - 74 Zu den Behandlungsformen und ihrer Anwendung in 1915 5,19 7,00 12,91 anderen Heil- und Pflegeanstalten, s. auch Vanja, Chr.: 1916 6,53 13,00 14,90 (wie Anm. 1: Weilmünster), S. 40 ff.; Hamann, Matthias 1917 16,19 21,00 26,69 und Herwig Groß: Der Eichberg in der Zeit der 1918 16,52 10,00 25,83 Weimarer Republik. In: Vanja, Chr. (wie Anm. 1: 1919 7,17 16,25 - Eberbach und Eichberg), S. 142 – 163, hier S. 147 ff. 1920 8,68 - - 75 Diesen Eindruck erweckt zumindest die im Grundton 1921 5,13 -- von der Anwendung der Beschäftigungstherapie 1922 5,05 -- überzeugend und sehr positiv gehaltene Darstellung Dr. Wagners (wie Anm. 2) Quellen: Alzey: Tagebücher der Patientenbewegung 76 S. Blasius, D.: (wie Anm. 1), S. 137 f. (Archiv RFK); Heppenheim: Winter, Bettina: Die Heil- 77 Personalakte M. W., 1934 und Pflegeanstalt Heppenheim von 1914 – 1915 – Von 78 Patientenakte J. L., 1911 der Krise in die Katastrophe. 79 Patientenakte T. W., Einträge vom 10.10.1910 und In: Landeswohlfahrtsverband (Hg.): Psychiatrie in 25.3.1911 Heppenheim. Streifzüge durch die Geschichte eines 80 Patientenakte W. R., Eintrag vom 15.10.1914 hessischen Krankenhauses 1866 – 1992 (= Historische 81 Verzeichnis der während der Mobilmachung zur Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Einbringung der Ernte an Landwirte zur Verfügung Quellen und Studien, Bd. 2), S. 63 – 96, hier S. 64; gestellten Pfleglinge (Archiv RFK); Brief Dr. Dietz an die Faulstich, H.: (wie Anm. 87), S. 61 Redaktion der Psychologisch-Neurologischen Wochen- 101 S. »Mitteilungen«. In: Neurologisch-Psychiatrische schrift vom 8.8.1914. In einer ganzen Liste von Wochenschrift, Nr. 1 (1925), S. 7 »Anregungen für die Kriegszeit« heißt es unter Punkt 5: 102 S. Hamann, M. u. Groß, H.: (wie Anm. 74), S. 146. »Organisation von Gruppen von Kranken, die allein 103 Schreiben der Bezirksfürsorgestelle des Kreises Alzey oder unter Aufsicht als Erntearbeiter zur Verfügung vom 2. August 1928 an die Bürgermeisterei Alzey gestellt werden, ev. gegen Entgelt für eine Kasse zu (Stadtarchiv Alzey, Nr. 308) wohltätigen Kriegszwecken.« (Archiv RFK). 104 Brüchert-Schunk, Hedwig: Städtische Sozialpolitik vom 82 Patientenakte W. Sch., Eintrag vom 22.12.1934 wilhelminischen Reich bis zur Weltwirtschaftskrise. Eine 83 Patientenakte E. K., Eintrag vom 24.5.1910 sozial- und kommunalhistorische Untersuchung am 84 Ebenda, Eintrag vom 5.6.1912 Beispiel der Stadt Mainz 1890 – 1930 (= Geschichtliche 85 Ebenda, Eintrag vom 1.8.1913 Landeskunde, Bd. 41), Stuttgart 1994, S. 340 86 S. hierzu die Patientenakte F. H. 105 Erschienen Leipzig 1920 87 Vergleichszahlen nach Faulstich, Heinz: Hungersterben 106 Zit. nach dem Protokoll vom 6. Juni 1934 (Landeswohl- in der Psychiatrie 1914 – 1949, Freiburg i. Br. 1998, fahrts-Archiv, Best. 18 Philippshospital) S. 129 – 133 88 Nach der Ausschreibung der Anstalt für den Zeitraum vom 1. April bis zum 30. September 1909. In: Alzeyer Zeitung vom 14.2.1909 89 S. Linde, Otfried K. (Hg.): Pharmakopsychiatrie im Wandel der Zeit – Erlebnisse und Ergebnisse, Klingen- münster 1988, S. 29 ff.

| 65 Die Bewohner der Sprauberg-Siedlung in der Volkszählung des Jahres 1938

66 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Teil IV – Die Alzeyer Landes- Heil- und Pflegeanstalt in der Zeit des Nationalsozialismus

Renate Rosenau Mitarbeit: Gunda John, Hedi Klee

Neue Aufgaben für die Heil- und Pflegeanstalten Mit dem »Führerprinzip« wurde ein Führungsstil einge- führt, nach dem Entscheidungen des Führers und Wie alle Lebensbereiche wurden die Heil- und Pflege- der anderen Führungsebenen bedingungslos zu befol- anstalten in das totalitäre System der nationalsozialis- gen waren. tischen Gewaltherrschaft integriert. Ihr Auftrag, psy- Die ersten rassenhygienischen Aufgaben erreich- chisch und geistig Kranke zu heilen und zu pflegen, ten die Heil- und Pflegeanstalten knapp ein halbes Jahr unterlag mit dem rassenpolitischen Programm des nach der Machtübernahme mit dem Gesetz zur Verhü- Dritten Reiches nicht nur einer großen Arbeitsvermeh- tung erbkranken Nachwuchses (GzVeN).(4 Neu war die rung, sondern erhielt im Rahmen der Gesundheits- Begutachtung der Patienten nach den Merkmalen und der Bevölkerungspolitik eine neue Ausrichtung. »erbgesund« oder »erbkrank« im Sinne des GzVeN Zum Wohle der Volksgemeinschaft dienten medizi- und die Mitwirkung eines leitenden Anstaltsarztes nische Diagnosen, Befunderhebungen, Begutachtun- als Beisitzer in den nach diesem Gesetz errichteten gen nun auch dem Zweck, Erbgesunde von Erbkran- Erbgesundheitsgerichten.(5 ken, Erbtüchtige von Erbuntüchtigen, Arbeitsfähige 1934 folgte die arbeitsintensive »erbbiologische Erfas- von Arbeitsunfähigen zu differenzieren. Damit wurden sung« in Sippentafeln und erbbiologischen Karteien. die Heil- und Pflegeanstalten schließlich für nationalso- Hierbei wurden nicht nur Erbkranke erfasst, sondern zialistische Auslese und Ausmerze instrumentalisiert. körperliche, geistige, psychische und soziale Auffäl- Auch für die Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey ligkeiten aller Art für einzelne Prüflinge und ihre begannen diese Veränderungen unmittelbar nach der Verwandten über bis zu sechs Generationen. Die Machtübernahme. Das Gesetz zur Wiederherstellung Verwaltung der Heil- und Pflegeanstalten war bei dieser des Berufsbeamtentums(1 machte aus der Belegschaft umfangreichen Informationssammlung, für die Orts- die Gefolgschaft. Nicht nur Nichtarier, sondern alle, und Kirchengemeinden Auskünfte zu geben hatten, »die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht federführend. Die personenbezogenen Daten wurden die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhalt- von den Gesundheitsämtern und den rassenpolitischen los für den nationalen Staat eintreten«,(2 wurden in Ämtern verwaltet und genutzt. Die Anstaltsleitung den Ruhestand versetzt bzw. entlassen. Einige Mitar- hatte bereits im Herbst 1934 in Zusammenarbeit mit beiter mussten sich eine Versetzung »gefallen lassen«.(3 der Universität Gießen mit der Erstellung von Sipp-

| 67 schaftstafeln begonnen, als diese noch im Erprobungs- Erforschen und Gedenken stadium und die Heil- und Pflegeanstalten reichs- In den Jahren 1994 bis 2000 erforschte eine Arbeits- weit noch nicht beauftragt waren. Das spricht dafür, gruppe aus Bürgerinnen und Bürgern der Stadt, Mitar- dass die Anstaltsleitung diese neuen Aufgaben der beiterinnen und Mitarbeitern der Rheinhessen-Fach- Rassenhygiene nicht nur billigte, sondern aktiv mit klinik Alzey unter Leitung des Museums der Stadt erprobte. Alzey Abschnitte dieser Geschichte seit ihrer Grün- In den Jahren 1937 und 1938 begannen Patienten- dung 1908 und präsentierte sie in der Ausstellung sammeltransporte. Zur Durchsetzung des Führerprin- »Ein friedliches, schmuckes Dörfchen«?(8 im Museum zips und aus wirtschaftlichen Gründen mussten private der Stadt Alzey und in einem Begleitband gleichen Anstalten ihre Patienten an staatliche Anstalten abge- Titels. Seit der Ausstellung setzt die kleine »Arbeits- ben. Das führte an der LHPA Alzey zur Überbele- gruppe Psychiatrie im Nationalsozialismus in Alzey« gung und in der Folge zu einer starken Erhöhung in Zusammenarbeit mit der Rheinhessen-Fachklinik der Sterberate. und dem Museum der Stadt Alzey(9 die Aufklärung Die letztmögliche Steigerung kam ab Herbst 1939, der Schicksale der Patienten der LHPA Alzey und als die Heil- und Pflegeanstalten stapelweise Melde- inzwischen auch rheinhessischer Patienten anderer bögen erhielten, in denen sie zunächst Angaben für Anstalten fort. Sie ist Gründungsmitglied der Landes- alle unheilbar Kranken einzutragen hatten, später auch arbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungs- für die Arbeitsunfähigen. Aufgrund dieser Meldebö- initiativen Rheinland-Pfalz (2001) bei der Landeszen- gen traf ein ärztliches Gutachtergremium die Entschei- trale für politische Bildung. dung »lebenswert« und lebensunwert«. Dafür war Dieser Beitrag aktualisiert die bisher berichteten Er- eine Tarnorganisation, die »Reichsarbeitsgemeinschaft kenntnisse über die Landes- Heil- und Pflegeanstalt Heil- und Pflegeanstalten« in der Tiergartenstraße 4 Alzey (LHPA) in der Epoche des Dritten Reiches bis in Berlin eingerichtet worden, die »T4-Zentrale«, die zur Normalisierung nach 1945. Ihre äußeren Merk- der Kanzlei des Führers direkt unterstellt war. Die male damals: staatliche Anstalt des Landes Hessen, geheimen Vernichtungsaktionen für Geisteskranke, zuständig für Rheinhessen, »abgebende Heimatan- verschleiert als »Gnadentod«, hatte der Führer und stalt«. Reichskanzler im Frühjahr 1939 für die »Kindereu- Aus der Erkenntnis, dass zwar nicht in Alzey, aber thanasie«(6 und mit seinem »Gnadentoderlass«(7 im mit über 500 Alzeyer Kranken Schreckliches gesche- Herbst 1939 für Erwachsene genehmigt. Sie dienten hen ist, errichtete die Rheinhessen Fachklinik Alzey nicht nur dem Zweck, sich der »Volksschädlinge« neben der Klinikkapelle ein Mahnmal mit den Namen zu entledigen, sondern auch, um kriegsbedingten der bis zur Einweihung 2005 bekannten Todesopfer. Raumbedarf zu decken: für Reservelazarette, die Unter- Jährlich am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer bringung Ausgebombter, Krankenstationen für Fremd- des Nationalsozialismus, erinnern die Rheinhessen- arbeiter und Entbindungsstationen für Ostarbeiter- Fachklinik, die Stadt Alzey, der Landkreis Alzey-Worms, innen. der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener und die Die Umsetzung der nationalsozialistischen Rassen- Arbeitsgruppe Psychiatrie im Nationalsozialismus in politik entwickelte sich in den einzelnen Anstalten Alzey in einem Gedenkgottesdienst und mit einer nicht gleichmäßig und einheitlich. Die Variations- Kranzniederlegung an die Opfer. Angehörige besu- breite reichte von überzeugter Beteiligung bis zu schüt- chen das Mahnmal als einen Ort des Erinnerns. zender Bewahrung. Der Grad der Beteiligung einer Die Rheinhessen-Fachklinik Alzey hat außerdem Heil- und Pflegeanstalt hing von ihrer zugeteilten die Ausstellungstafeln vom Museum übernommen Rolle in den Vernichtungsaktionen ab: als »nur abge- und präsentiert sie in ihren Räumen im Jubiläums- bende« Heimatanstalt, als Zwischenanstalt, als Samme- jahr in aktualisierter und neu gestalteter Fassung. lanstalt, als Tötungsanstalt. Mitgeprägt wurde ihre Die Ausstellung wird auch bisher schon u.a. von jeweilige Beteiligung von ihrer Zugehörigkeit zu staat- Schulklassen aus dem Alzeyer Land und von Gymna- lichen, bis 1938 auch zu privaten Trägern und von siastinnen und Gymnasiasten für Facharbeiten genutzt. der Verflechtung ihrer Leitung und Gefolgschaft mit Die Arbeitsgruppe recherchiert Anfragen von Ange- der NSDAP und ihren Organisationen. Diese Unter- hörigen und berät und betreut sie bei ihrer Suche nach schiede erlauben keine generelle Aussage. Aufklärung des Schicksals von Familienmitgliedern.

68 | 1933 – 1945

Mahnmahl auf dem Klinikgelände der Rheinhessen-Fachklinik Alzey.

1933 bis 1939: haben, ist also eine übertriebene Personenhygiene und Erfassen, begutachten, unschädlich machen Fürsorge für das Einzelindividuum ohne Rücksicht auf die Erkenntnisse der Vererbungslehre, der Lebens- »Bei der überaus starken Belastung unseres Volkes auslese und der Rassenhygiene. Diese Art moderner mit Steuern, Sozialabgaben und Zinsen dürfen wir »Humanität« und sozialer Fürsorge für das kranke, uns der Erkenntnis nicht verschließen, dass der Staat schwache und minderwertige Individuum muss sich an einen Umbau der gesamten Gesetzgebung und für das Volk im Großen gesehen als größte Grau- eine Verminderung der Lasten für Minderwertige samkeit auswirken und schließlich zu seinem Unter- und Asoziale heranzugehen haben wird. Wie sehr gang führen. die Ausgaben für Minderwertige, Asoziale, Kranke, Um das drohende Unheil abzuwenden, ist eine Schwachsinnige, Geisteskranke, Krüppel und Verbre- Umstellung des gesamten öffentlichen Gesundheits- cher heute das Maß dessen überschreiten, was wir wesens, des Denkens der Ärzteschaft und eine Wand- unserer schwer um ihre Existenz ringenden Bevölke- lung der Aufgaben unter dem Gesichtspunkt der rung zumuten dürfen, ersehen wir aus den Kosten, Rassenhygiene, der Bevölkerungs- und Rassenpolitik die heute vom Reich, von den Ländern und den vonnöten. ... Kommunen zu ihrer Versorgung aufgebracht werden Zur Erhöhung der Zahl erbgesunder Nachkom- müssen. Dafür einige Beispiele: Es kostet der Geistes- men haben wir zunächst die Pflicht, die Ausgaben kranke etwa 4 RM den Tag, der Verbrecher 3,50 RM, für Asoziale, Minderwertige und hoffnungslos Erb- der Krüppel und Taubstumme 5 bis 6 RM den Tag, kranke herabzusetzen und die Fortpflanzung der während der ungelernte Arbeiter nur etwa 2,51 RM, schwer erblich belasteten Personen zu verhindern.«(10 der Angestellte 3,60 RM, der Beamte etwa 4 RM den Mit dieser Argumentation beschrieb Reichsinnen- Tag zur Verfügung hat. .... Was wir bisher ausgebaut minister Dr. Wilhelm Frick auf der ersten Sitzung

| 69 des Sachverständigenbeirates für Bevölkerungs- und Beschluss der nichtöffentlichen Sitzung des Erbge- Rassenpolitik am 28. Juni 1933 die folgenreiche ideo- sundheitsgerichts beim Amtsgericht Worms vom logische Kehrtwende nach der Machtergreifung. Zwei 21.04.1938: Wochen später trat das »Gesetz zu Verhüttung erbkran- »Die Hausangestellte M, geb. am... zu ..., kath., ken Nachwuchses« (GzVeN)(11 in Kraft: Verhütung ledig, wohnhaft in ..., zur Zeit in der Landes-Heil- durch Unfruchtbarmachung. und Pflegeanstalt Alzey, vertreten durch ihren Pfle- Die Unfruchtbarmachung war als Mittel der Rassen- ger ..., ist erbkrank im Sinne des § 1 Abs. 2 Zif. 2 hygiene von Fachkreisen in Wissenschaft und Verwal- des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuch- tung schon jahrelang gefordert worden. Den ersten ses vom 14.7.1933 und ist deshalb unfruchtbar zu Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes hatte der Preu- machen. ßische Landesgesundheitsrat im Juli 1932 vorgelegt, Gründe: Der Amtsarzt von Alzey hat am 25.11.1937 die Unfruchtbarmachung aber von der Einwilligung die Unfruchtbarmachung wegen Schizophrenie bean- der betroffenen Person abhängig gemacht.(12 Das tragt. Dem Antrag ist ein Gutachten eines Assistenz- »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« arztes der Heil- und Pflegeanstalt Alzey beigegeben, erlaubte die Unfruchtbarmachung gegen den Willen das die Krankheit bestätigt. des Betroffenen und regelte Zwangsmaßnahmen.(13 Bei ihrer richterlichen Vernehmung war M. mit ihrer Diesem blieb nur die Möglichkeit einer Beschwerde Unfruchtbarmachung nicht einverstanden. .... mit aufschiebender Wirkung beim Erbgesundheits- Die Schizophrenie ist eine Erbkrankheit im Sinne obergericht innerhalb einer »Notfrist von einem des § 1 Abs. 2 Zif. 2 des Gesetzes. Nach den Erfah- Monat«.(14 rungen der ärztlichen Wissenschaft ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass Nachkommen Das GzVeN bestimmte in § 1: des 38-jährigen Mädchens an schweren körperlichen (1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff oder geistigen Erbschäden leiden werden. Ihre Un- unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn fruchtbarmachung ist sonach in ihrem eigenen Inter- nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft esse, im Interesse ihrer etwaigen Nachkommenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass sowie im Interesse des Volksganzen nach §1 des Geset- seine Nachkommen an schweren körperlichen oder zes geboten. ...«(15 geistigen Erbschäden leiden werden. Die Tagebücher(16 der LHPA Alzey vermerken die (2) Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an Entlassung von Patienten für die »U.M.«, die Unfrucht- einer der folgenden Krankheiten leidet: barmachung, und sie geben auch an, in welches 1. angeborenem Schwachsinn, Krankenhaus sie überwiesen wurden: in das Städti- 2. Schizophrenie, sche Krankenhaus Mainz (heute Universitätsklinik), 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, die Hessische Hebammenlehranstalt in Mainz (Hafen- 4. erblicher Fallsucht, straße 6) sowie in das Städtische Krankenhaus Worms. 5. erblichem Veitstanz (Huntington’sche Chorea), Von den 329 Patienten kamen 125 in die Anstalt 6. erblicher Blindheit, zurück, 5 wurden in andere Anstalten, 101 nach Hause, 7. erblicher Taubheit, die restlichen ca. 98 in Familienpflege oder Außen- 8. schwerer erblicher körperlicher Missbildung. fürsorge entlassen. (3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer Man muss davon ausgehen, dass die meisten an schwerem Alkoholismus leidet. Zwangssterilisationen waren. In nur einer einzigen Die LHPA Alzey begutachtete Langzeitpatienten Patientenakte ist Unfruchtbarmachung »auf eigenen sowie Personen, die zur Begutachtung aufgenom- Wunsch«(18 dokumentiert. Bei vielen Patienten lautete men wurden. Für die Alzeyer Anstalt war das Erbge- die Diagnose Schizophrenie, damals als Erbkrank- sundheitsgericht beim Amtsgericht in Worms zustän- heit eingestuft, sowie »angeborener Schwachsinn«. dig, das sich aus dem Amtsgerichtsdirektor, einem In den Gerichtsakten finden sich Begründungen Anstaltsarzt als beamteter Arzt und einem niederge- wie Epilepsie, manisch depressives Irresein, Hebe- lassenen Arzt zusammensetzte und in nichtöffent- phrenie und Trunksucht. In einem Fall reichte schon lichen Sitzungen wie in dem folgenden Beispiel der Verdacht auf Schizophrenie zusammen mit einem entschied: Selbstmordversuch.(19

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Das Verfahren wurde wie folgt geregelt:

Anzeige nach § 3 GzVeN an Kreisarzt Angehörige von Heil- und Pflegeberufen Antrag auf Unfruchtbarmachung Betroffener oder Vormund, Pfleger, Eltern, Amts- arzt/Gesundheitsamt, Leiter von Heil-, Pflege-, Straf-, Kranken- und Fürsorgeanstalten Ärztliche Bescheinigung Heil- und Pflegeanstalt Gutachten mit kreisärztlicher Heil- und Pflegeanstalt; die Betroffenen wurden Bescheinigung gemäß § 4 GzVeN aufgefordert, vorab eine Bescheinigung zu unter- zeichnen, dass sie auf Beschwerde beim Erbge- sundheitsobergericht verzichten. Amtsgericht – Erbgesundheitsgericht – Beschluss Erbgesundheitsgericht an Amtsgerichten in standardisierter Formulierung: »Nach dem Ergebnis der Ermittlungen steht Amtsrichter, einwandfrei fest, dass ... A. an ... leidet und daher niedergelassener Arzt, erbkrank im Sinne des § 1 Abs. ... des Gesetzes Anstaltsarzt (beamteter Arzt) zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ist. Da nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft Persönliche Anhörung des Betroffenen mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, als Kann-Bestimmung, aber nicht die Regel. dass die Nachkommen des A. an schweren geisti- gen und körperlichen Erbschäden leiden werden, so ist die Unfruchtbarmachung in deren und dem Interesse des Volksganzen nach § 1 des Gesetzes geboten.« Beschwerdemöglichkeit, Notfrist vier Wochen Erbgesundheitsobergericht Danach Stattgebung oder Rechtskrafterklärung Krankenhaus ggfs. Polizei und Einweisung in das zuständige Krankenhaus, bei Weigerung Zwangseinlieferung durch die Polizei

Die oben dargestellten Zahlen beziehen sich auf die akte auf: häufigere kleine Strafsachen 1918 bis 1939, Patienten, die in der LHPA Alzey begutachtet wurden. Tagelöhner, Trunksucht, 13 Kinder, starker Onanist«. Darüber hinaus sind Erbgesundheitsakten des Gesund- Begründungen in anderen Gerichtsbeschlüssen lauten heitsamtes Alzey für über 900 Personen erhalten, aber »Alkoholiker«, »Apoplexie«, »Hirnarteriosklerose«, noch nicht ausgewertet.(20 Daher ist auch noch nicht auch unter damaliger Einschätzung keineswegs Erb- bekannt, ob es personelle Überschneidungen gibt. krankheiten. In einem Fall wurde die Unfruchtbar- Neben den psychischen Erkrankungen, die als »Erb- machung vom Erbgesundheitsgericht abgelehnt, weil krankheiten im Sinne des Gesetzes« galten, führten es sich nicht um eine Erbkrankheit im Sinne des Geset- auch andere rassenhygienische Begründungen zur zes, sondern um exogene Imbezillität nach schwerer Unfruchtbarmachung. Ein Patient wurde »zum Wohl Hirnhautentzündung im Kindesalter handelte. des Volksganzen« sterilisiert, obwohl seine Frau bereits Bei einigen Patienten wurde auf die Durchfüh- sterilisiert war, weil ihm »ein ehelicher Fehltritt zuzu- rung des Gerichtsbeschlusses wegen einer »mit der trauen« ist. In der Begründung zählt seine Gerichts- Sterilisation verbundenen Lebensgefahr« verzichtet.

| 71 Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey 1934 bis 1941: Unfruchtbarmachungen(17 auf Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Worms Jahr Unfruchtbarmachungen Unfruchtbarmachungen Verbleib nach in Unfruchtbarmachung insg. davon davon andere Familien- nach Männer Frauen Mainz Worms Alzey Anstalt pflege Hause 1934 68 37 31 64 4 9 1935 62 35 27 53 2 28 2 nicht 3 1936 73 40 33 47 12 35 2 gezählt 33 1937 63 38 25 53 9 25 1 37 1938 43 27 16 40 1 14 28 1939 18 10 8 16 2 13 1940 1 1 1 1 1941 1 1 1 Insges. 329 189 140 274 31 125 5 (98?) 101

Bei zwei Männern und sechs Frauen wurde zwar die über 300.000 Menschen aufgrund von Beschlüssen Feststellung »erbkrank im Sinne des Gesetzes« getrof- der Erbgesundheitsgerichte sterilisiert worden. Aus fen, auf die Unfruchtbarmachung vor ihrer Entlas- unseren Alzeyer Forschungsergebnissen geht hervor, sung wurde jedoch aufgrund ihres Alters verzichtet. dass viele der Zwangssterilisierten die folgenden NS- Eine Patientin floh aus dem Stadtkrankenhaus Mainz Aktionen gegen geistig und psychisch Kranke über- und ertränkte sich im Rhein. Bei einer Frau konnte lebten. Ihre organischen und seelischen Verletzun- die Unfruchtbarmachung in der Hebammenlehran- gen trugen sie mit sich, zumal dieses Thema tabui- stalt Mainz wegen ihres lautstarken Widerstands 1935 siert war. Sie wurden nicht als NS-Opfer anerkannt nicht durchgeführt werden. Sie kam nach Alzey zurück, und erhielten folglich auch keine Wiedergutmachung wurde drei Jahre später doch noch sterilisiert. Eine oder Entschädigung. Es dauerte bis 1980 und 1988, andere verhinderte »gewalttätig« ihre Unfruchtbarma- bis der Bundestag die Zwangssterilisation als natio- chung. Beide gehören zu den Opfern der T4-Aktion nalsozialistisches Unrecht anerkannte und Entschä- in Hadamar. digungen gezahlt wurden: Einmalzahlungen von 5.000 Die Alzeyer Aktenlage ergibt, dass es bei den Diagno- DM, in besonderen Fällen auch laufende monatliche sen Schizophrenie und angeborener Schwachsinn zu Leistungen in Höhe von 100 DM und seit 1998 120 keiner Entlassung kam, bevor die Verhinderung der DM.(21 Das Gesetz zur Verhütung erbranken Nach- Fortpflanzung nicht sichergestellt war. wuchses vom 14. Juli 1934 ist bis heute nicht für Nach Schätzungen sind zwischen 1934 und 1945 nichtig erklärt worden.

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Sippschaftstafel, Entwurf Dr. H. W. Kranz, Text nach Dr. Astel, Vordruck seit 1934 in Hessen.

Die erbbiologische Bestandsaufnahme des Volkes: Unterlagen zeigen, wie die Heil- und Pflegeanstalten Datenbank für rassenhygienische Bevölkerungspolitik in Hessen früh und auf Reichsebene später in eine Kooperation von Universität, Standesvertretungen, In der Rheinhessen-Fachklinik Alzey ist aus den Jahren Staat und Anstalten einbezogen wurden, um Merk- 1934 bis 1939 ein Bündel Dokumente der »Erb- malskriterien für Auslese und Ausmerze zu bestim- biologischen Bestandsaufnahme des Volkes« überlie- men, Erfassungsverfahren zu erproben und als fert: 39 Sippschaftstafeln auf großformatigen Bögen umfangreiche Erbdatenbank für politisches Handeln zur fächerförmigen Aufzeichnung von Stammbäumen bereit zu stellen. Die Unterlagen belegen auch, wie über drei Generationen mit dem Aufdruck »Entwurf in kurzer Zeit – von 1933 bis 1935 – die Akzeptanz von Dr. H. W. Kranz, Text nach Dr. Astel«, und 624 menschenrechtlicher Grenzüberschreitungen wuchs. Sippentafeln, das sind Hefte mit Deckblatt und Einle- Nur zwei bis drei Generationen sollte nach Auffas- gebögen für tabellarische Darstellung der Familien- sung nationalsozialistischer Rassenideologen der angehörigen. Prozess der Unschädlichmachung der Minderwerti- Trotz der ungünstigen Quellenlage(22 belegen diese gen und der Aufbau einer erbgesunden, tüchtigen, Dokumente die Entwicklung der Bevölkerungspolitik alle anderen überragenden Volksgemeinschaft dauern. nach rassenhygienischen Grundsätzen. Die Alzeyer Bei den beiden auf der Sippschaftstafel als Auto-

| 73 ren genannten Astel und Kranz handelt es sich um ordinierte Einzelinitiativen mit der Aufzeichnung von die aktiven Rassenforscher und Rassenhygieniker Dr. körperlichen, geistigen und charakterlichen Merkma- Karl Astel(23 (1898 – 1945) in Jena und Dr. Heinrich len von Personen und ihrer Angehörigen begonnen, Wilhelm Kranz(24 (1897 – 1945) in Gießen. In frühen um deren »Erbqualitäten« für ihre Zwecke zu doku- Karrieren häuften beide in ihrer Person leitende Funk- mentieren: Zu den Akteuren zählten Gesundheits- tionen an der Universität, in Standesorganisationen, führer, Anstaltsdezernenten, Lehrerorganisationen und in Medizinalverwaltungen und der Partei. Beide leite- Familien-, Sippen- und Rassenforscher. ten Institute zur Rassenforschung, die in die medi- Diese Einzelinitiativen wurden im Juli 1934 durch zinischen Fakultäten von Jena bzw. Gießen einge- Reichsgesetz vereinheitlicht,(26 die erbbiologische Erfas- gliedert wurden: Astel das Institut für menschliche sung den Gesundheitsämtern übertragen, die einen Erbforschung und Rassenpolitik in Jena, Kranz das allgemein verbindlichen Katalog ärztlicher Aufgaben, Institut für Erb- und Rassenpflege der Universität ärztlicher Mitwirkung und vertrauensärztlicher Tätig- Gießen. Beide arbeiteten an Erfassungsverfahren. Es keit erhielten. Als neue ärztliche Aufgaben einge- ist wohl dem Einfluss von Kranz zuzuschreiben, dass führt wurden Erb- und Rassenpflege einschließlich

Vordruck des Anschreibens der Anstalt an die Gemeindeverwaltungen. das Land Hessen – und damit die LHPA Alzey – schon der Eheberatung und die gesundheitliche Volksbe- 1934 außer den Gesundheitsämtern auch die Heil- lehrung. Am 21. Mai 1935 gab das Reichs- und Preu- und Pflegeanstalten mit der erbbiologischen Bestands- ßische Ministerium des Innern »Grundsätze für die aufnahme(25 beauftragte und sie zur Weiterleitung Errichtung und Tätigkeit der Beratung für Erb- und der ausgefüllten Sippschaftstafeln an Kranz veranlas- Rassenpflege(27 mit 15 Anlagen mit Vordrucken und ste, ein halbes Jahr vor dem Beginn einer Erpro- Anleitungen heraus, die sich an die Länderregierun- bungsphase durch das Reichsgesundheitsamt und zwei gen, die Polizeipräsidenten und die Gesundheitsäm- Jahre vor der Einbeziehung der Heil- und Pflegean- ter richteten. Die Anlagen 2 bis 7 waren für die erbbio- stalten durch das Reich. logische Erfassung vorgesehen: Vordrucke der Sippen- An der LHPA Alzey wurde die erste Sippschafts- tafel mit Anleitung zum Ausfüllen sowie einer doppel- tafel im November 1934 angelegt. Das älteste über- seitigen erbbiologische Karteikarte mit Erläuterun- lieferte Formschreiben, mit dem die LHPA Alzey gen und Kurzanleitungen.(28 Die bis dahin in Hessen eine Gemeindeverwaltung um Datenerhebung für benutzten Sippschaftstafeln über drei Generationen einen Patienten und seine Angehörigen ersuchte, wurden durch die neuen Sippentafeln ersetzt. Das stammt vom 31. Januar 1935. Deckblatt trug eine kleine Übersichtstafel für eine Während im Januar 1934 die Unfruchtbarmachun- Stammbaumskizze über sechs Generationen, auf gen nach GzVeN einsetzten, hatten zahlreiche unko- doppelseitigen Einlagebögen konnten beliebig viele

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Übersichtstafel auf dem Vorderblatt einer Sippentafel. Erbgänge wurden durch Symbole sichtbar. Personenzeichen: Quadrate für Männer, Kreise für Frauen. Kennzeichnung der Leiden durch Ausfüllen der Personenzeichen: schwarz für Schwachsinn, blau für Geisteskrankheit, grün für erbliche Taubstummheit und Erbblindheit, rot für Kriminalität. Für erbliche Fallsucht blau mit Schrägstrich von links oben nach rechts unten, Selbstmord durch ein schräges Doppelkreuz. In dieser Sippe häuft sich u.a. erbliche Blindheit. In die Tabellen der Einlagebögen waren einzutragen: Geburts- und Vornamen, Verwandtschaftsgrad, Geburtsort- und Datum, Religion bei Geburt, Eheschließung, Wohnort, Beruf, Sterbeort und -datum, sowie: Körperbautyp nach Kretschmer, vorwiegender Rasseanteil, frühere und jetzige körperliche und seelische Erkrankungen, Charaktereigenschaften, auffällige Begabungen.

Sippenmitglieder tabellarisch dargestellt werden. Diese Die Karteikarten fragten ab: Beruf, Blutsverwandt- Form war schreibmaschinengeeignet. Das Reichsinnen- schaft der Eltern, Schulart und Schulleistungen, ministerium übernahm dies von Astel und Kranz Heiratsalter, Kinderzahl, Unfruchtbarmachung, An- weiterentwickelte Erfassungsverfahren für die Gesund- staltsaufenthalte, psychische und körperliche Krank- heitsämter. heitsbefunde einschließlich Missbildungen, Vorkom- Die Originale der Sippschaftstafeln und danach men von Schwachsinn, Geisteskrankheit, Psychopa- der Sippentafeln übermittelte die LHPA Alzey für thie, Kriminalität, Selbstmord, sonstige Besonderhei- Forschungszwecke dem Kranz’schen Institut für Erb- ten in der Familie sowie längere finanzielle Belas- und Rassenpflege in Gießen, u.a. für ein Forschungs- tung der Sozialfürsorge. programm zur Erblichkeit von Asozialität.(29 Reichsweit waren die Heil- und Pflegeanstalten noch Die in den Sippentafeln dokumentierten Ergebnisse nicht beteiligt. 1935 beauftragte das Reichsgesund- wurden außerdem in doppelseitige Erbkarteikarten heitsamt(30 die Heil- und Pflegeanstalten mit einer übertragen. erprobenden Erfassung besonders erbbelasteter Sippen. Eine Zweitschrift erhielt das für den Geburtsort Mit der »Anleitung zur erbbiologischen Bestands- des Kranken zuständige Gesundheitsamt, eine Dritt- aufnahme in den Heil- und Pflegeanstalten« vom 8. schrift das Reichsgesundheitsamt für den Aufbau eines Februar 1936 regelte der Reichs- und Preußische Minis- zentralen Erbarchivs. ter des Innern das Verfahren reichsweit und arbeits-

| 75 Einlagebogen einer Sippentafel

teilig: den Heil- und Pflegeanstalten oblag die Daten- der/die Kranke oder Familienangehörige der öffent- erfassung sowie die Datennutzung für Gutachten, den lichen Fürsorge längere Zeit zur Last wegen a) wirt- Gesundheitsämtern die Datennutzung für Erb- und schaftlicher, b) gesundheitlicher Hilfsbedürftigkeit, c) Rassenpflege, Eheberatung und Volksbelehrung. asozialen Verhaltens, d) Verwahrlosung?«(31 Die seit 1934 für die Gesundheitsämter angeord- Anfangs ließ die LHPA Alzey die Sippschaftsta- neten Erfassungskriterien für die erbbiologische feln von Gemeindeverwaltungen oder Angehörigen Bestandsaufnahme gingen grundsätzlich über die in ausfüllen. Die handschriftliche Reinfassung erstell- § 1 des GzVeN genannten Indikationen – Erbkrank- ten Ärzte selbst. Mit der Einführung der tabellarischen heiten nach damaligem Kenntnisstand und Alkoho- Sippentafeln wurde diese Arbeit einem Kanzleigehil- lismus – hinaus. Erstens begutachteten sie nicht mehr fen übertragen, der 1937 zum Angestellten aufstieg. nur Einzelpersonen, sondern »besonders belastete Auch die ab 1934 erstellten Sippschaftstafeln wurden Sippen«, um auch die Personen zu erfassen, die in die neue tabellarische Form übertragen. Überlie- selbst nicht sichtbar erbkrank bzw. sozial auffällig fert sind 624 Sippentafeln für 713 Probanden mit waren, wohl aber Träger von Erbkrankheiten sein konn- 17.000 Familienangehörigen. ten. Zweitens lag die Annahme der Erblichkeit von Die LHPA Alzey legte die Sippentafeln oft längere Asozialität im Trend, der sich auch die Institute von Zeit nach der Entlassung der Patienten an, in eini- Astel und Kranz widmeten. Um Erbprognosen stel- gen Fällen sogar für längst Verstorbene. Das bedeu- len zu können, sollte der Nachweis von Erblichkeit tet, dass zumindest ein Teil der Probanden nicht erneut über Erbgänge, d.h. über die dokumentierte Häufung begutachtet wurde, schon gar nicht die mit aufge- von gesundheitlichen, charakterlichen und sozialen führten über 17.000 Sippenangehörigen, sondern dass Merkmalen in den Sippen erbracht werden. In einer die Sippentafeln überwiegend auf dem Verwaltungs- Umkehr sozialstaatlicher Grundsätze wurde die Belas- weg erstellt wurden. Gemeindeverwaltungen hatten tung der Sozialsysteme durch den Kranken erfragt: eine Flut von Anfragen zu bearbeiten und Daten einzu- In den Sippentafeln mit Angaben zu selbstverschul- tragen, die sie nicht aus den Akten entnehmen konn- deter Armut, und die Erbkarteien fragten: »Fielen ten, sondern selbst erst recherchieren mussten. Damit

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Sippen- Geburts- Beispiele für Begutachtungen der LHPA Unfruchtbar- mit erfasste tafel Nr. jahrgang Alzey 1934/35: medizinische Angaben machung Angehörige mischen sich mit sozialen Bewertungen für den Probanden und Sippenangehörige 74 1869 selbst unehelich geboren, angeborener 30 Schwachsinn, Trunksucht, 17 Kinder mit Ehefrau, verschiedene Male Blutschande an eigenen Töchtern, § 51, entmündigt 161 1897 manisch-depressives Irresein; »Bruder der 43 Mutter Kreisgeometer, sehr intelligent, unangenehm strebsam« 106 1895–1905 5 Brüder, davon 4 Brüder geistig abnorm, für alle 40 1 Bruder geistig umnachtet; Vater beantragt schizophren 102 1906 Schizophrenie, Ortsbauernführer 1936 44 119 1900 Proband und neun weitere Verwandte an 90 Veitstanz/Huntington’sche Chorea erkrankt 328 1878 Vater »hat im Separatistenstreit eine 23 unrühmliche Rolle gespielt«

waren sie überfordert. Das erklärt auch, warum die und Roma sowie Mischlinge wurden gesetzlich aus- hier erhaltenen Sippentafeln für die meisten erfas- gegrenzt und mit Strafen bedroht. Die Gemeinschafts- sten Personen kaum mehr als die amtlichen Anga- angehörigen sollten nach ihrem Erbwert unterteilt und ben enthalten und nur in wenigen Fällen »erbge- dementsprechend gefördert werden. sundheitlich wichtige Merkmale« wie Geisteskrank- heiten, Kriminalität oder Trunksucht eingetragen sind. Neue Richtlinien für die Beurteilung der Erbgesund- Bei den »Charaktereigenschaften« und den »auffal- heit sahen eine Unterteilung der deutschblütigen Bevöl- lenden Begabungen« fehlen positive Merkmale fast kerung nach ihrem Erbwert bzw. Belastungsgrad in ganz, nur wenige enthalten Hinweise auf gute Leis- folgende vier Gruppen vor:(35 tungen in Schule und Beruf. Auffallend ist eine Sippen- 1. Die asozialen Personen, auszuschließen von allen tafel mit 426 erfassten Sippenangehörigen, häufig sind Fördermaßnahmen; 20 bis 60 miterfasste Personen. 2. die »tragbaren Familien!« mit gehäuftem Auftre- Die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 ten von Erbkrankheiten oder deutlich unternor- und kurz darauf das Ehegesundheitsgesetz vom 18. maler Leistungsfähigkeit. Keine Förderungen, Oktober 1935(32 legitimierten die erbbiologischen Ehe- aber Erleichterungen; hindernisse, die der Reichsminister der Finanzen in 3. die Durchschnittsbevölkerung mit Zugang zu Richtlinien zum Gesetz über Förderung der Eheschlie- allen Fördermaßnahmen; ßungen erläutert(33 hatte: Von einer Eheschließung 4. Die erbbiologisch besonders Hochwertigen mit ist danach abzuraten, »wenn einer der Ehebewerber Zugang zu besonderer Förderung. nichtarischer Abstammung ist oder an vererblichen Leiden oder Gebrechen, die seine Verheiratung als nicht Die Datenhäufungen der erbbiologischen Bestands- im Interesse der Volksgemeinschaft liegend erschei- aufnahmen lieferten die für rassenhygienische Maß- nen lassen, oder an Infektionskrankheiten oder an nahmen notwendigen Informationen. Den Gesund- sonstigen, das Leben bedrohende Krankheiten leidet«.(34 heitsämtern und anderen Ämtern dienten sie zur Fest- Die als Gemeinschaftsfremde geltenden Juden, Sinti stellung von Ehetauglichkeit, Erbhoffähigkeit, Tauglich-

| 77 Vorderseite einer Erbkarteikarte. Auf der Rückseite waren die Großeltern, Eltern, deren Geschwister, Kinder und Ehegatten einzutragen.

keit/Würdigkeit für Gewährung von Ehestandsdarle- und Partei. Die Arbeit der Anstalten hatte Anteil an hen, Unterstützung kinderreicher Familien, Erzie- zentralen Zielen des Drittes Reiches, so auch die LHPA hungsbeihilfe, Ehrenpatenschaften, Mutterkreuz, Vater- Alzey. schaftsgutachten, Einbürgerung und Ausbürgerung, Als mit Kriegsbeginn ein Teil des Personals zum für die Zulassung der Kinder zu besonderen Bildungs- Militär einrückte, wurde die erbbiologische Bestands- einrichtungen (Napola, Adolf-Hitler-Schulen), d.h. aufnahme eingestellt. Da lag aber eine große Daten- für soziale Sicherung und sozialen Aufstieg in Staat menge für weitere Selektionsmaßnahmen bereit.

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Das Beispiel einer rheinhessischen Familie, für die 1934 und 1936 zwei Sippentafeln(36 angelegt wurden, zeigt, dass die erbbiologische Bestandsaufnahme für die bald folgende radikale Ausmerze mitbenutzt wurde. Der Vater und zwei Söhne fielen der »Euthanasie« zum Opfer. Die Angaben in Klammern sind Zitate aus den beiden Spalten »Frühere und jetzige körperliche Erkrankungen« und »Charaktereigen- schaften, Auffallende Begabungen«. Das Beispiel dieser Familie steht für viele andere.

· Vater, Jahrgang 1899, landwirtschaftlicher Arbei- · Vier lebende Kinder: (»sämtliche Kinder geistig ter; (»angeborener Schwachsinn, Fallsucht, fast beschränkt und schwer zu behandeln«); ganze Sippe Eigensinn«): Ehe geschieden. 1934 · Tochter, Jahrgang 1927, (»schwachsinnig, wird bei durch Beschluss des Erbgesundheitsgerichts den Eltern der Mutter erzogen«); Tod in der Worms zwangssterilisiert, Betreuung durch LHPA Heppenheim am 19.07.1939, Außenfürsorge; vor 1940 stationär in der LHPA · Tochter, Jahrgang 1928, (»schwachsinnig, in Alzey, am 25.02.1941 im Sammeltransport in die Familienpflege«), überlebt.(43 Zwischenanstalt Weilmünster verlegt;(37 von dort · Sohn, Jahrgang 1930, (»schwachsinnig! Musste wieder im Sammeltransport am 18.03.1941 in die wegen Bösartigkeit aus Familienpflege in Fürsor- Tötungsanstalt Hadamar.(38 Vergasung am geerziehung getan werden«). Heilerziehungsan- Ankunftstag(39 stalt Kalmenhof/Idstein. Vergasung in Hadamar · Bruder des Vaters, Jahrgang 1895, Landwirt, (»geistig am 13.5.1941.(44 minderwertig«); zwangssterilisiert, zur T4-Zentrale · Sohn, Jahrgang 1933, in Familienpflege,(45 Tod in gemeldet,(40 hat aber überlebt.(41 der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof/Idstein am · Mutter: Jahrgang 1897, (»angeborener Schwach- 8.12.1942(46, möglicherweise durch Aushungern, sinn, vernachlässigte Haushalt und Kinder in Tabletten oder Injektion in der dort 1941 einge- schwerster Weise«), geschieden, Dienstmagd. Hat richteten Kinderfachabteilung herbeigeführt.(49 überlebt.(42 · Drei Kinder, geboren 1929, 1932 uns 1934, wenige Monate nach der Geburt verstorben.

Nationalsozialistische Sparpolitik nur irgend möglich, dagegen müssen wir uns der gesunden Menschen, insbesondere unserer Jugend, Sparzwänge hatten in den Jahren der Weimarer Repu- weit mehr annehmen, als dies in den Zeiten des vergan- blik Diskussionen über Kosten und Finanzierung der genen Liberalismus geschehen ist.«(48 sozialen Aufgaben ausgelöst. Der totalitäre Machtap- parat der Nationalsozialisten nutzte alle möglichen Heil- und Pflegeanstalten wurden propagandistisch Kanäle, um das »gesunde Volksempfinden« in seine genutzt, wie die folgenden Beispiele zeigen: ideologische Richtung zu lenken. Mit der steigenden - »Zur Verbreitung und Vertiefung rassepolitischen Staatsverschuldung erhöhte sich der wirtschaftliche Denkens« wurde auf Initiative des rassepolitischen Druck auf die Heil- und Pflegeanstalten. Amtes für den Gau Rheinpfalz und mit Genehmi- »Was dient dem deutschen Volke? Alles das, was gung des bayerischen Innenministers in der Anstalt ihm die Möglichkeit gibt, als ein Volk gesunder star- Klingenmünster eine »Demonstrationsstätte für Erb- ker Menschen die Zukunft für unabsehbare Genera- und Geisteskrankheiten« eingerichtet und in das rasse- tionen sicherzustellen. Hieraus allein haben wir den politische Schulungskonzept der Nazis, zunächst in Schluss zu ziehen, dass die Aufwendungen für der Gauführerschule Anweiler, eingebunden.(49 Die Erbkranke, Asoziale so niedrig zu halten sind wie HPA Klingenmünster öffnete ihre Tore außerdem

| 79 für SA-, SS-, HJ- und BDM-Einheiten und für andere nassauischen Nachbarprovinz mit zweijähriger Verzö- Gruppen.(50 gerung, nachdem der Gauleiter Sprenger und der - In einer Beilage in der Fachzeitschrift für Nahrungs- Anstaltsdezernent des Bezirksverbandes Nassau Fritz mittelarbeiter war 1935 zu lesen: »Im Jahr 1927 gab Bernotat zunehmend Einfluss gewannen.(53 (54 es in Deutschland 126.000 Geisteskranke, die in So wurde es möglich, dass nicht nur benachbarte geschlossenen Heilstätten untergebracht werden private Anstalten in Preußen wie die Kreuznacher mussten. Der Aufwand hierfür betrug 97 Millionen Diakonie (Rheinprovinz), das Valentinushaus katho- Mark. Die Idioten-Fürsorge betrug im gleichen Jahr lischer Ordensschwestern in Kiedrich und die Heiler- 186 Millionen Mark. – Im Jahre 1925/26 wurde eine ziehungsanstalt Kalmenhof/Idstein, eine Gründung Reichs-Gebrechlichenzählung vorgenommen. Danach Frankfurter Bürger (Provinz Hessen-Nassau), sondern gab es ungefähr 33.000 Blinde und 45.000 Taube. auch die im Volksstaat Hessen liegenden Nieder- Bei sehr vorsichtiger Schätzung kann man ohne weite- Ramstädter Heime der Inneren Mission ihre Patien- res mindestens die Hälfte dieser Kranken als erb- ten abgeben mussten. krank ansehen. – Wie hoch sind nun die Kosten für Diese Strategie blieb nicht unwidersprochen. Andere die achtjährige Schulausbildung dieser Erbkranken? Provinzen sahen bessere Sparmethoden darin, durch Bei sehr genauen Ermittlungen stellt sich die Schul- Verbesserung der Therapien eine frühere Entlassung ausbildung für einen Blinden auf etwa 26.000 RM, der Patienten oder ihre Übergabe an karitative Einrich- einen Tauben auf etwa 20.000 RM, während die zeit- tungen zu erreichen.(55 lich gleiche Schulausbildung für einen Gesunden Dazu Faulstich: rund 1.000 RM beträgt. ... Diesem Tatbestand konnte »Nach den neuen rassehygienischen Prioritäten und die nationalsozialistische Reichsregierung nicht gleich- den stereotypen, propagandistischen Behauptungen gültig gegenüber stehen.«(51 über die »ungeheuren Fürsorgelasten« war dies auch nicht anders zu erwarten. Neu ist allerdings die Das Sparkonzept der benachbarten preußischen Erkenntnis, dass die geforderten Sparmaßnahmen Provinz Hessen-Nassau, das sich als Modell verstand, in den einzelnen Regionen unterschiedlich intensiv sah eine Verwahrung der in wenigen Anstalten konzen- ausgeführt wurden und zu verschiedenen Zeitpunk- trierten Patienten mit geringstem Aufwand vor. ten einsetzten. Darin kommen zweifellos Einflüsse Sparmaßnahmen waren hier die Ausschaltung der regionaler Machthaber und auch die unterschiedli- privaten Anstalten, Konzentration der Patienten in che Durchdringung der Verwaltungsebenen von der öffentlichen Anstalten, in denen »die massive Über- neuen Ideologie zum Ausdruck, wie es in ähnlicher belegung zum wirtschaftlich erstrebenswerten Normal- Weise bei der Durchsetzung des Zwangssterilisations- fall« erklärt wurde:(52 gesetzes zu beobachten war.«(56 ∏ Senkung der Personalkosten durch Erhöhung des Die LHPA Alzey spürte diese Entwicklung zwei- Arzt-Patienten-Schlüssels von 1 zu 125 auf mindes- fach. Durch die Senkung der Pflegesätze wurde der tens 1 zu 300, Finanzrahmen enger. Die Konzentration der Patien- ∏ Senkung des Pflegeschlüssel (Pflegekraft-Patient) ten in staatlichen Anstalten führte zu Überbelegung. von 1 zu 4,5 auf 1 zu 10, ∏ Senkung der Verpflegungskosten durch einfachere Senkung der Pflegesätze Ernährung sowie durch Reduzierung der medizi- Die Einnahmen der Alzeyer Anstalt kamen zum weit- nischen Versorgung, dies insbesondere bei den aus größten Teil aus den Pflegesätzen, zu einem klei- Patienten, die als unheilbar galten. nen Teil aus Erlösen der eigenen Betriebe der Land- wirtschaft und der Viehhaltung. Aus den Pflegesät- Als Heil- und Pflegeanstalt des Landes Hessen unter- zen musste die Anstalt nicht nur die gesamte Versor- stand Alzey nicht der benachbarten hessen-nassau- gung der Patienten finanzieren, sondern darüber schen Psychiatriepolitik. Deren Einfluss wirkte jedoch hinaus auch Personalkosten und Betriebskosten. Die über die Parteigliederung: die preußische Provinz Pflegesätze unterlagen in Abhängigkeit von der Wirt- Hessen-Nassau und das Land Hessen bildeten den schaftslage schon in der Weimarer Republik starken NS-Gau Hessen-Nassau mit Zentrale in Frankfurt Schwankungen. Sie unterschieden sich nach Pflege- am Main. Hessen folgte dem Vorbild der hessen- klassen, Staatsangehörigkeit ( oder Nichthesse!),

80 | 1933 – 1945

Heereszugehörigkeit, Rentnern und Invaliden, Selbst- war die Konzentration von Psychiatriepatienten in zahlern. Niedrigere Pflegesätze galten für Langzeit- öffentlichen Anstalten. Damit sollte der weltanschau- patienten, darunter diejenigen, die schon als Kinder liche Einfluss privater Einrichtungen verringert und erkrankt und selbst kein Mitglied einer Sozialversiche- – entsprechend dem Führerprinzip – ein direkter rung waren, für Rentner und auch für einen Teil der Einfluss auf die Anstalten gesichert werden. Selbstzahler wie z.B. für Landwirte. Zwischen dem 10. Mai 1938 und dem 31. März 1939 Faulstich berichtet, dass die hessische Regierung wurden 40 Männer und 75 Frauen, von den Nieder- auf Drängen der NSDAP wiederholt eine Ermäßigung Ramstädter Heimen, den Diakonieanstalten Bad Kreuz- der Pflegesätze durchgeführt habe. In zahlreichen nach, dem Valentinushaus Kiedrich und dem Kalmen- Alzeyer Patientenakten liegen Schreiben von Kosten- hof/Idstein nach Alzey verlegt,(61 ausnahmslos Patien- trägern mit der Bitte um Prüfung, ob eine Verlegung ten aus Rheinhessen, darunter auch Jugendliche. in eine andere billigere Anstalt möglich sei. Die Pfle- gesätze waren in Heil- und Pflegeanstalten im Verhält- Sterben in der Anstalt nis höher als in Pflegeanstalten. Sie betrugen in Hessen Die Aufnahmen aus privaten Anstalten führten zur 1939 für Kranke der Pflegeklasse III 3,50 RM und Überbelegung, die im April 1939 mit 798 Patienten für Invalide und Rentner in Pflegeheimen zum glei- auf 600 Planbetten ihren Höhepunkt erreichte und chen Zeitpunkt 1,80 RM. Aufgrund von Wirtschaft- damit um 30 Prozent über dem Soll lag. Parallel zu lichkeitsprüfungen wurden Pflegegelder weiter abge- Sparmaßnahmen und Überbelegung stieg die Ster- senkt. 1944 betrugen sie noch in Kl. III 3,20 RM, für berate. Gemeindepfleglinge waren sie bei 1,80 RM geblie- Die Sterberate ist ein Indikator für die Güte der ben.(57 Das Pflegegeld für jüdische Patienten wurde Pflege. Nach Fred Rist haben die Variablen »Zugänge« seit dem 1. Juli 1939 nicht mehr von den öffentlichen und »Verköstigungssatz« signifikanten Einfluss auf Kostenträgern übernommen, zuständig wurde die die Entwicklung der Sterblichkeit in einer Einrich- Israelitische Religionsgemeinschaft bzw. die Reichs- tung.(62 Dagegen ergab sich in den Studien von Rist vereinigung der Juden in Deutschland.(58 und Faulstich weder aus dem Arzt-Patienten-Schlüs- sel noch aus dem Pfleger-Patienten-Schlüssel ein signi- Sparmaßnahmen bei Verköstigungssätzen fikanter Zusammenhang mit der Sterblichkeit. Entscheidend für die Ernährung der Patienten ist In der Alzeyer Anstalt pendelte die Belegung vom der Verköstigungssatz, d.h. der Anteil am Pflegesatz, Beginn der 30er Jahre bis 1937 um die Planbetten- der für die Ernährung der Patienten ausgegeben wird. zahl von 600, lag teils knapp darunter, teils knapp Die Ausgaben der Anstalten im Reichsgebiet waren darüber. In dieser Zeit lag die Sterberate(63 der Alzeyer sehr unterschiedlich, sie schwanken 1936 zwischen Anstalt zwischen 3 und 4 Prozent und damit unter 69 Pfennig in Württemberg und 40,7 Pfennig in dem Durchschnitt der Anstalten des Volksstaates Gütersloh.(59 Für einen Teil der Anstalten ist geziel- Hessen.(64 In den Jahren der extremen Überbelegung ter Nahrungsentzug durch allmähliche Verringerung 1938, 1939 und 1940 erreichte die Sterberate der der Rationen, das Hungersterben, belegt.(60 In Alzey Alzeyer Anstalt den Durchschnitt des Volksstaats sind Daten über die üblichen Pflegesätze, nicht jedoch Hessen. Erst wieder im Jahr 1941, als bis auf eine über die Verköstigungssätze auffindbar. Alle Patien- kleine Zahl Arbeitsfähiger keine Psychiatriepatienten ten, von denen Gewichtsbögen aus der NS-Zeit erhal- mehr in Alzey waren, sank die Sterberate auf 3,4 ten sind, waren deutlich untergewichtig. Die wenig- Prozent. sten verzeichneten ein Körpergewicht von 60 kg, viele Auffällig sind die 62 von 120 Todesfällen aufgrund unter 50 kg. Diese Gewichtsbögen sowie die verein- von Erkrankungen der Atmungsorgane und zusätz- zelt in den Patientenakten überlieferten Speisepläne lich weitere 11 Fälle von Tuberkulose. Aus den Kran- und Essbögen erlauben keine generelle Aussage, ob kenakten(65 geht hervor, dass viele der verstorbenen der niedrige Ernährungszustand dieser Alzeyer Patien- Patienten alt waren und nach nur wenigen Wochen ten bewusst herbeigeführt worden ist. oder Monaten in der Anstalt starben. 35 der 49 im Jahr 1939 Verstorbenen waren über 60 Jahre alt. Die Konzentration und Überbelegung Gründe für diese auffälligen Häufungen lassen sich Ein Mittel der Sparpolitik und zugleich der Kontrolle aus den Akten nicht rekonstruieren.

| 81 Obere Linie: Anstalten des Volksstaats Hessen (Goddelau, Heppenheim, Gießen, Alzey), nach Faulstich. Untere Linie: Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey. Eigene Berechnungen.

Überdosierung von Medikamentengaben wirkt staat Hessen 3.000 Menschen Opfer von Überbele- tödlich auf geschwächte, unterernährte Körper. Sie gung, Unterversorgung und Mangelversorgung gewor- sind für andere Anstalten als Todesursache belegt.(66 den sein. Dass Alzey an dieser Entwicklung beteiligt In den Alzeyer Akten sind aus der NS-Zeit Behand- war, bestätigt die Gleichzeitigkeit von Überbelegung lungen mit Dauerbad, oft über viele Stunden und Tage, und erhöhter Sterberate in den Jahren 1938, 1939 mit Chlorallösung und Scopolaminlösung, mit Medi- und 1940. Ärzte und Pfleger hatten bei vermutlich kamenten wie Dilaudid, Paraldehyd, Insulin, Luminal, gleichem oder aufgrund der Einberufungen zur Wehr- Trional, Veronal, mit Opium und Morphium doku- macht zahlenmäßig geringerem oder geringer quali- mentiert. Einige Patienten kamen zur Malaria-Fieber- fiziertem Personalbestand mehr Patienten zu versor- Kur an die Psychiatrische Klinik Heidelberg. Diese gen. Hinzu kamen die Strapazen der Sammeltrans- Befunde und erhaltenen Daten müssten einer fach- porte, bei denen zwei Drittel aller Patienten, auch lichen Prüfung unterzogen werden, bevor eine Aussage Alte und Schwache, mehrfach packen, reisen und über den Zusammenhang von Behandlung in Alzey sich an veränderte und meist noch bedrängtere Bedin- und NS-Politik möglich wäre. gungen anpassen musste. Sammeltransporte gehörten zwischen 1938 und 1941 Pflegerische und ärztliche Versorgung zum Alltag. Nach den Aufnahmen aus den privaten Untersuchungen in anderen Anstalten kamen zu dem Anstalten brachte der Krieg neue Unruhe in das Schluss, dass dort der Tod von Patienten durch medi- linksrheinische Alzey. Zunächst wurden weitere 40 zinische Vernachlässigung und Unterversorgung Männer des Landes- Alters- und Pflegeheimes Hei- bewusst herbeigeführt oder billigend in Kauf genom- desheim am 1. und 2. September 1939 in offenen Last- men wurde.(67 Für 1937 berichtet Faulstich, dass die wagen nach Alzey transportiert.(69 Ihre Angehörigen Anstalten im Volksstaat Hessen, zu dem Alzey gehörte, erhielten bereits Ende August vor dem angeblichen bei der Pfleger-Patientenrelation mit 1 zu 4,4 an zweit- Überfall Polens auf Deutschland die Mitteilung, dass bester und bei der Arzt-Patientenrelation mit 1 zu Heidesheim zu Lazarettzwecken geräumt werden 117 reichsweit an viertbester Stelle lagen. Das Schluss- musste.(70 licht bildete 1937 bei beiden Werten der benachbarte Ein halbes Jahr später wurde auch die LHPA Alzey preußische Bezirk Hessen-Wiesbaden mit 1 zu 9,8 kriegsbedingt geräumt. Für Alzey ergab der Frankreich- bzw. 1 zu 197.(68 feldzug 1940 den Anlass bzw. den zeitlichen Zusam- In den folgenden Jahren sollen allein im Volks- menhang mit der Räumung der Anstalt. In nur 17

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Verstorbene Frauen Verstorbene Männer Summe 1939 1940 1939 1940 39/40 Zahl der Fälle 26 32 23 39*) 120 Erkrankungen der Atmungsorgane 19 9 12 22 62 Darmerkrankungen, Typhus, Durchfall - 422 8 Marasmus, Altersschwäche, senile Demenz -7 2 2 11 Tuberkulose 16 1 3 11 Plötzlicher Herztod 10 1 6 8 Hirnblutung 13-4 Nierenerkrankungen -0 3 1 4 Gehirnentzündungen -1 - 2 3 Fieber -1 - 0 1 Allgemeine Sepsis -1 - 0 1 Leberzirrhose -0 - 1 1 Hirntumor -1 - 0 1 Lues -1 - 0 1 Dekubitus -1 - 0 1 Verbrühung im Dauerbad 1- - - 1 Selbstmord 1- - - 1 Andere Todesursachen 2- 1 - 3

*) davon acht zwischen Mai und September 1940 während der Verlegung in Gießen verstorben

Tagen wurden mit 14 Transporten 546 Patienten in Verlegungsgeschichte für eine Reihe von Patienten die Anstalten Heppenheim, Goddelau, Jugenheim und nachverfolgen. Die nach Heppenheim verlegten 75 Gießen verteilt. Von September 1940 bis Januar 1941 Patienten wurden in andere Anstalten, z.B. nach kamen 390 zurück. Für acht ist ihr Tod in Gießen Gießen und Goddelau, weiter verlegt, nachdem dort bezeugt. für sie Meldebögen erstellt worden waren. Auch Heides- Aus der Patientendatei 1933 – 1945, die die Arbeits- heim wurde kriegsbedingt geräumt. gruppe NS-Psychiatrie in Alzey aus Dokumenten von Die nach Alzey Zurückgekehrten konnten nur noch acht Archiven zusammengestellt hat, lässt sich die wenige Wochen in Alzey bleiben.

Anstalten von Alzey nach Alzey zurück Differenz Gießen 160 153 7 Jugenheim/Rhh. 22 20 2 Heppenheim 75 0 75 Philippshospital Goddelau 289 217 72 Insgesamt 546 390 156

| 83 Patienten-Sammeltransporte nach Alzey und von Alzey 1935 – 1941

1935 – 1939: Konzentration der Patienten in öffentlichen Anstalten und Sparmaßnahmen

von Anstalt … k nach Alzey am von Alzey k nach Anstalt Nieder-Ramstadt 23 Patienten k 30.10.1935 Nieder-Ramstadt 31 Patienten k 10.05.1938 Nieder-Ramstadt 22 Patienten k 16.05.1938 Nieder-Ramstadt 3 Patienten k 30.05.1938 Kalmenhof/Idstein 25 Patienten k 31.01.1939 Diakonie Bad Kreuznach 6 Patienten k 30.03.1939 Diakonie Bad Kreuznach 28 Patienten k 31.03.1939

1939/1940 Kriegsbeginn Frankreichfeldzug: Die Alzeyer Patienten müssen vorübergehend für ein Kriegslazarett Platz machen

von Anstalt … k nach Alzey am von Alzey k nach Anstalt Heidesheim 23 Patienten k 01.09.1939 Heidesheim 17 Patienten k 02.09.1939 11.05.1940 50 Patienten k Heppenheim 11.05.1940 27 Patienten k Goddelau 12.05.1940 25 Patienten k Heppenheim 12.05.1940 57 Patienten k Goddelau 13.05.1940 36 Patienten k Goddelau 15.05.1940 65 Patienten k Gießen 16.05.1940 35 Patienten k Gießen 16.05.1940 22 Patienten k Jugenheim/Rhh. 16.05.1940 35 Patienten k Goddelau 17.05.1940 19 Patienten k Goddelau 21.05.1940 65 Patienten k Goddelau 22.05.1940 25 Patienten k Goddelau 23.05.1940 25 Patienten k Goddelau 28.05.1940 60 Patienten k Gießen

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von Anstalt … k nach Alzey am von Alzey k nach Anstalt Gießen 25 Patienten k 16.09.1940 Gießen 50 Patienten k 17.09.1940 Gießen 52 Patienten k 18.09.1940 Gießen 26 Patienten k 19.09.1940 07.10.1940 12 Patienten k Heidesheim Goddelau 65 Patienten k 11.10.1940 Jugenheim/Rhh. 20 Patienten k 01.11.1940 Goddelau 29 Patienten k 05.11.1940 Goddelau 42 Patienten k 06.11.1940 Goddelau 28 Patienten k 08.11.1940 Goddelau 29 Patienten k 09.11.1940 Goddelau 24 Patienten k 15.01.1941

Opfer der NS-»Euthanasie«: die T4-Aktion 1939 – 1941 »Verlegungen« zum Patientenmord

von Anstalt … k nach Alzey am von Alzey k nach Anstalt 31.01.1941 2 jüd. Patienten k Sammelanstalt Sondertransport Heppenheim – Hadamar 04.02.41 25.02.1941 60 Patienten k Weilmünster 11.03.1941 33 Patienten k Weilmünster 04.04.1941 57 Patienten k Weilmünster Heidesheim 10 Patienten k 02.05.1941/ 15.04.1941 17.04.1941 58 Patienten k Weilmünster 22.04.1941 47 Patienten k Weilmünster 29.04.1941 32 Patienten k Goddelau 09.05.1941 10 Patienten k Scheuern 10.05.1941 30 Patienten k Goddelau 20.05.1941 31 Patienten k Goddelau 24.05.1941 30 Patienten k Goddelau 05.08.1941 7 Patienten k Goddelau

| 85 Verlegen, bis sich die Spur verliert fähige, soweit sie den durch den Krieg entstandenen Tötung lebensunwerten Lebens 1939 bis 1945 Personalmangel mit auffangen konnten. So wurden dringend benötigte Gebäude und Personal für Laza- Im Frühjahr 1939 führte die beabsichtige Beseiti- rette und Spezialkrankenhäuser frei. gung der Minderwertigen zur Einrichtung von zwei Tarnorganisationen: die »Reicharbeitsgemeinschaft Vier Organisationen arbeiteten unter der Kanzlei Heil- und Pflegeanstalten« für die Massenvernichtung, des Führers mit verschiedenen Tarnanschriften: bezeichnet als »T4-Aktion« nach ihrer Anschrift Tier- 1. die »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflege- gartenstraße 4, Berlin, und eigens für die vorgesehene anstalten« (RAG), die die Patienten begutachtete Tötung von behinderten Kindern der »Reichsausschuss und über die Tötung entschied, zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anla- 2. die »Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege«, genbedingten schweren Leiden«. Beide waren direkt zuständig für Personal, Tötung und Vermögens- der Kanzlei des Führers der NSDAP(71 unterstellt, angelegenheiten, beider Arbeit war als geheime Reichssache streng 3. die »Gemeinnützige Krankentransport G.m.b.H.« vertraulich, ihre Verfahren ähnlich. Einbezogen war (GEKRAT), die die Sammeltransporte in Bussen jeweils eine kleine Zahl von zur Tötung »positiv einge- mit blickdichten Fenstern durchführte, und stellter« Ärzte. 4. die »Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflege- anstalten«, für die Finanzierung einschließlich T4-Großaktion 1939 – 1941 der Abrechnung der Pflegegelder zuständig. Der Führer und Reichskanzler hatte den Reichsleiter Bouhler und seinen persönlichen Arzt Dr. med. Brandt Im Reichsgebiet und im angeschlossenen Öster- beauftragt, » ... die Befugnisse namentlich zu bestim- reich wurden sechs Heil- und Pflegeanstalten zu mender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschli- Tötungsanstalten mit Gaskammern und Krematorien chem Ermessen unheilbar Kranke bei kritischster Beur- umgebaut. Die Tötungen begannen im Januar 1940 teilung ihres Krankenzustandes der Gnadentod gewährt und endeten durch Anordnung Hitlers am 24. August werden kann.« 1941. Nach einem in der Tötungsanstalt Hartheim Diese Beauftragung auf privatem Briefpapier Hitlers aufgefundenen Heft, der »Hartheimer Statistik(72«, wurde auf den 1. September 1939, den Beginn des erreichte die Zahl der Getöteten bis August 1941 die 2. Weltkrieges, rückdatiert. Schon an diesem Zeitpunkt vorausgeschätzte Höhe. wird erkennbar, dass die Motive weniger von mensch- Bei Beginn der Aktion war ein geschlossener Kreis licher Barmherzigkeit als von wirtschaftlichen und von Anstaltsärzten, Medizinalbeamten und Juristen militärischen Interessen bestimmt waren. Nicht nur über die »T4-Aktion« informiert worden. Dabei konn- die unheilbar Kranken, sondern alle »Ballastexisten- ten sie in den Entwurf eines »Euthanasie«-Gesetzes zen«, die Kosten verursachten, wurden schließlich zur im Umlaufverfahren kurz Einblick nehmen.(73 Bespro- Tötung frei gegeben, verschont blieben nur Arbeits- chen wurde auch, dass die Tätigkeit in der Aktion nicht

Abb. 1: Die »Hartheimer Statistik«: Tötungsanstalt von bis Opfer

Grafeneck/Württemberg Januar 1940 Dezember 1940 9.839 Brandenburg/Havel Februar 1940 Oktober 1940 9.772 Hartheim bei Linz/Donau Mai 1940 August 1941 18.269 Sonnenstein/Pirna (Sachsen) Juni 1940 August 1941 13.720 Bernburg an der Saale November 1940 August 1941 8.601 Hadamar bei Limburg Januar 1941 August 1941 10.072

Getötete insgesamt 70.273

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unter das Strafgesetzbuch fiel. Damit wurde der Eindruck der Rechtmäßigkeit erzeugt.(74 Auch die Selektion der Patienten erfolgte getarnt unter dem Begriff »Planwirtschaftliche Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten«. Dahinter verbargen sich Meldebögen, die die Anstalten für alle Psychiatriepa- tienten ausfüllen mussten, die schon über fünf Jahre stationär untergebracht waren, unter bestimmten Krankheiten litten und zugleich nicht arbeitsfähig waren, die Straftaten begangen hatten oder nicht Deut- sche waren. Die Fragen der Meldebögen wurden mehr- fach präzisiert und erweitert, beispielsweise um Kriegs- teilnahme. Am Wichtigsten war die Präzisierung der Arbeitsfähigkeit. Der Wert der Arbeitsleistung, ver- glichen mit der Durchschnittsleistung Gesunder, war nach Möglichkeit in Prozent anzugeben. Bei Anstalten, die die Meldung verweigerten, wie bei den Diakonieanstalten Bad Kreuznach, bearbei- tete eine angereiste Kommission die Meldebögen. Die LHPA Alzey erhielt die Meldebögen, als die Patienten wegen des Frankreichfeldzuges auf andere Anstalten verteilt waren. Daher mussten die Gastan- stalten die Meldebögen für die Alzeyer Patienten ausfül- len. Alzey erhielt nur 177 Meldebögen für die nicht verlegten Patienten, dagegen Heppenheim 655, Godde- lau 1249 und Gießen 642.(75 In Alzey sind keine ausgefüllten Meldebögen über- Einziger überlieferter in der LHPA Alzey ausgefüllter Meldebogen. liefert. Im Archiv des Philippshospitals befinden sich 272 Meldebögen von Alzeyer Patienten sowie 127 Kranke, 120 Männer und 135 Frauen, von Januar bis Meldebögen von Patienten aus Rheinhessen, die nicht April 1941 direkt dorthin verlegt.(76 Sie verließen in der LHPA Alzey waren. Diese Meldebögen wurden Weilmünster fast in den gleichen Gruppen, in denen in Heppenheim und im Philippshospital Goddelau sie angekommen waren, zwischen dem 18. März und zwischen 1940 und 1943 ausgefüllt. Nur ein einziger dem 19. Juni. Für 80 von ihnen lagern die Patienten- Meldebogen wurde in Alzey ausgefüllt, jedoch erst akten im Bundesarchiv Berlin.(77 Sie tragen letzte Verle- in Goddelau unterschrieben. gungsvermerke wie: »Untätig. In eine andere Anstalt In der Berliner T4-Zentrale wurden die Meldebö- verlegt.« gen auf Gutachter verteilt, die in der Regel aufgrund »Arbeitet nur ganz wenig. Laut Verfügung in eine der Aktenlage die Entscheidung über Leben oder Tod andere Anstalt verlegt.« trafen. Die für die »Euthanasie« vorgesehenen Patien- ten wurden in Listen erfasst und über das Reichsin- Hadamar – Mordanstalt der T4-Aktion nenministerium und die Innenministerien der Länder Zeugen im Hadamar-Prozess beschrieben die letzten den Anstalten zugestellt. Die GEKRAT holte die Patien- Stunden der Opfer:(78 »Nachdem aus den Zwischen- ten busweise ab und brachte sie zunächst übergangs- anstalten die Stammpatienten abtransportiert worden weise in eine Zwischenanstalt, von wo sie nach eini- waren, dienten sie ab April 1941 als Wartestationen gen Tagen oder Wochen »in eine andere Anstalt verlegt« für die Opfer. Die Gekrat-Busse, meist zwei oder wurden. Diese Ortsangabe war die Tarnformel für drei, fuhren morgens in Hadamar ab, an der Spitze die Tötungsanstalt. Die meisten Alzeyer Patienten der Transportleiter in einem PKW mit der Namens- kamen in die Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster liste der Abzuholenden. Die »grauen Busse« mit den bei Gießen. In fünf Sammeltransporten wurden 255 verhängten Fenstern hatten etwa 30 Sitzplätze, aber

| 87 Alzeyer Opfer: Ludwig K., geb. 25.03.1922, Alzey

Der Tod wird perfekt verwaltet: Schriftwechsel mit den Eltern

Seine Schwester berichtet im Herbst 2000: Ludwig K. hatte eine leichte geistige Behinderung nach seiner Zangengeburt. Er war aber in der Lage, zu lernen. Etwa 1933 habe man den Eltern erklärt, der Sohn müsse in die Anstalt, dürfe nicht zu Hause bleiben. Er war dann längere Zeit in Nieder-Ramstadt, wurde auch dort auch konfirmiert. Er habe alle Sprüche und Lieder auswendig gelernt, seine Familie gekannt. »Gnadentoderlass« Er war dann später wieder in Alzey. Sie hätten ihn sonntags besucht und dabei auch die Angehörigen keine Liegen für bettlägerige Kranke. Zwei Pflegerin- anderer Patienten kennen gelernt. Während der nen oder Pfleger waren einem Bus zugeteilt. ... Nach Räumung der Anstalt Alzey wegen des Frankreich- einer mehrstündigen Fahrt ohne Stopp fuhren die feldzuges kam er zunächst nach Heppenheim, von Busse hinter den Neubau der Anstalt in die Holzga- dort zu einer Außenstelle der Anstalt Gießen in Lich, rage. Durch einen Schleusengang führte das Begleit- wo ihn seine Schwester besuchen durfte. Er berich- personal die Opfer über einen Vorflur in den Warte- tete ihr von dem Sammeltransport von Alzey in einem und Auskleideraum im Erdgeschoß des rechten Bus mit geschwärzten Fenstern. Sie hätten nicht sehen Flügels. Dort wurden die Kranken entkleidet und können, wo sie hingebracht wurden. Er sagte, sie bekä- dem Tötungsarzt vorgeführt.«(79 men ein Heftpflaster mit Namen auf den Rücken Die Zeugen beschrieben weiter, dass die Patienten und sie wüssten, was das bedeuten würde. Er habe zu dokumentarischen Zwecken gemessen, gewogen Angst, umgebracht zu werden. Aber Ludwig kam am und ihre Diagnosen überprüft wurden. Dies dauerte 18. September 1940 nach Alzey zurück. Als im Februar nur wenige Minuten. Danach wurden sie in die als 1941 die Gerüchte über die Tötung der Patienten wieder Duschraum getarnte Gaskammer geführt. Über Brau- aufflammten, entschlossen sich seine Eltern, ihn nach seköpfe trat das tödliche Kohlenmonoxid aus, das zum Hause zu holen. Als sie ihn am 25. Februar abholen Ersticken führte. Die Toten wurden in der ersten Zeit wollten, erfuhren sie, dass ihr Sohn am gleichen Tag auf dem dortigen Friedhof bestattet, später im Krema- »verlegt« worden war. Folgende Schriftstücke doku- torium verbrannt. Die Angehörigen erhielten ein mentieren den Weg des 19-jährigen in die Vernich- Schreiben, von den Angestellten des Standesamtes tung und die vergeblichen Versuche des Vaters, ihn als »Trostbrief« bezeichnet, in denen Todesursache zu retten. und Todestag gefälscht waren, aber mit Sterbeurkunde in doppelter Ausfertigung. Nach öffentlichen Protesten wurde das »Euthana- sie«-Programm am 24. August 1941 von Hitler gestoppt.(80

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25.02.41 Brief des Direktors der Heil und Pflege- Dem Schreiben liegt ein Umdruck bei: anstalt Alzey (i.V. Medizinalrat Dr. Der Oberpräsident (Verw. des Bez. Verb. Schlotmann) an die Eltern: »Infolge Nassau) in Wiesbaden hat angeordnet, Luftschutzmaßnahmen ist in den hessi- dass aus Gründen der Reichsverteidi- schen Anstalten Platz zu schaffen für gung während der Dauer des Krieges etwa notwendig werdende Verlegungen die Besuchertage in den Anstalten auf- von Kranken aus städtischen Kranken- gehoben sind, mithin Besuche vorerst häusern. Durch diese Maßnahme ist die nicht mehr angenommen werden Verlegung ihres Sohnes Ludwig nach der können. .... Mit gleichem Datum schickt Anstalt Weilmünster/Oberlahnkreis not- die Anstalt Weilmünster eine Postkarte wendig geworden und am 25.02.1941 an den Vater: »Ihr Sohn ist heute auf erfolgt.« Anordnung in eine uns unbekannte An- 25.02.41 Brief des Direktors der Landes-Heilan- stalt verlegt worden. Von dort auch wer- stalt Weilmünster Dr. Schneider an die den sie Nachricht erhalten.« Der Direk- Eltern: »Der Kranke Ludwig K. ist am tor. 25.02.41 unserer Anstalt zugeführt 29. 03.41 Nachdem die Frist von 14 Tagen ohne worden. Die Verlegung erfolgte auf Nachricht verstrichen war, schreibt der Grund einer Anordnung des zuständigen Vater an die Gekrat: »Nach Mitteilung Herrn Reichsverteidigungsministers.« der Landes-Heilanstalt Weilmünster ist 18.03.41 Brief des Anstaltsdirektors der Landes- mein Sohn Ludwig in eine andere An- Heilanstalt Weilmünster Dr. Schneider stalt verbracht worden und sie sollen in an den Vater: »Aufgrund eines Erlasses der Lage sein, mir über den gegenwärti- des zuständigen Herrn Reichsverteidi- gen Aufenthalt meines Sohnes und seine gungskommissars wurde Ludwig K. am jetzige Anschrift Auskunft geben zu 18.03.41 durch die Gemeinnützige können ...« Kranken-Transport-G.m.b.H. Berlin in 31. 03.41 Schreiben der Landes-Heil- und Pflege- eine andere Anstalt verlegt, deren Name anstalt Hadamar an den Vater. Anlage: und Anschrift mir nicht bekannt ist. Sterbeurkunde in doppelter Ausfertigung Die aufnehmende Anstalt wird ihnen vom dort eigens eingerichteten Standes- eine entsprechende Mitteilung zugehen amt Hadamar-Mönchberg. lassen. Ich bitte Sie, bis zum Eingang 04.4.1941 Antwort der Gemeinnützige Kranken- dieser Mitteilung von weiteren Anfragen Transport-G.m.b.H. Berlin, Abt. IIe Gr., abzusehen. Sollten Sie jedoch innerhalb Z.-Nr. 118982, an den Vater: »Auf ihre 14 Tagen von der aufnehmenden Anstalt Zuschrift teile ich Ihnen mit, dass die keine Mitteilung erhalten haben, so em- Feststellungen nach den hier vorhande- pfehle ich Ihnen, sich bei der Gemein- nen Unterlagen ergaben, dass der nützigen Kranken-Transport-G.m.b.H. Kranke Ludwig K. in die Landes-Heil- unter Angabe der genauen Personalien und Pflegeanstalt Hadamar (Lim- und des Tages der Verlegung aus Weil- burg/Lahn) verlegt worden ist. ...« münster zu erkundigen. ....«

| 89 Nur wer spricht, dem passiert etwas Die Planmäßigkeit auch der Tötungen nach 1941 Kurz nach der Todesnachricht war Ludwig K.s Mutter ist für die Anstalten Hadamar und Eichberg 1946/47 beim Einkaufen. Auf eine Bemerkung der Bäckers- in Prozessen(83 beim Landgericht Frankfurt nachge- frau über die Verlegung habe die Mutter gesagt: »Die wiesen sowie für Hadamar(84 und andere Anstalten haben ihn umgebracht.« Wenige Tage später haben in Publikationen dargestellt worden. die Eltern durch einen Hinweis einer Verwandten Die Anzahl der in Hadamar ermordeten Alzeyer erfahren, dass sie »auf der schwarzen Liste« stün- Patienten kann aus den Akten nicht ermittelt werden. den, weil die Bemerkung der Mutter »nach Mainz« Dazu Heinz Boberach über die Ermordungen nach gemeldet worden sei, und sie gewarnt, öffentlich darü- dem Ende der T4-Aktion 1941: ber zu sprechen. Sie hätten sich aber mit den Ange- »Für den Zeitraum August 1941 bis Kriegsende hörigen anderer Patienten verständigt, etwa so: »Es konnte die Zahl der in Hadamar vorsätzlich ermor- ist passiert, was wir befürchtet haben«. deten Kranken nicht exakt bestimmt werden, weil in den Sterbebüchern auch für sie wahrheitswidrig Krank- 1941 bis 1945: heiten als Todesursache angegeben wurden. Beur- zweite, dezentrale Phase der »Euthanasie« kundet wurden die Todesfälle nicht durch einen Arzt, Der»Euthanasie«-Stopp im August 1941 bewahrte eine sondern durch den Verwaltungsangestellten Thomas Menge Patienten, die noch in den Zwischenanstalten oder den Pfleger Philipp Blum. Das Landgericht Frank- waren, vor ihrem Transport nach Hadamar, was erneut furt sah sich nicht in der Lage anzugeben, wie viele zu erheblicher Überbelegung und zum Anstieg der der in dieser Zeit beurkundeten 4.159 Todesfälle auf Sterberate führte. Die Ermordung der Psychiatriepa- natürliche Ursachen, auch infolge Vernachlässigung tienten hörte nicht auf, sie wurde in anderen getarn- durch Ernährung, zurück zu führen waren, hielt aber ten Formen fortgesetzt, nicht nur in Anstalten der mindestens 900 Morde durch Gift, u.a. Morphium T4-Aktion, sondern dezentral auch in anderen Anstal- oder Skopolamin-Injektionen, Überdosen von Vero- ten. Dabei ist die Unterscheidung schwierig, ob Patien- nal- oder (bei Kindern) Luminaltabletten für erwie- ten eines natürlichen Todes gestorben sind, ob man sen.«(85 ihren Tod billigend in Kauf genommen oder aktiv Im Archiv der Gedenkstätte Hadamar sind aus dieser nachgeholfen hat. Bei Sterberaten, die ein Vielfaches Zeit Akten von 32 Alzeyer Patienten erhalten, von der durchschnittlichen Sterberate von 3 bis 5 Prozent denen die meisten im Mai bzw. November 1944 von ausmachen, wie zum Beispiel im Philippshospital der Heilanstalt Eichberg nach Hadamar kamen. In Goddelau zwischen 1942 und 1945, wird man trotz einem Aktenvermerk wird als Verlegungsgrund ange- des hohen Durchschnittsalters der Patienten(81 und geben: »16.11.44 Räumung der Heilanstalt Eichberg der Mangelwirtschaft zumindest in die zweite Möglich- für Lazarettzwecke«. keit annehmen müssen. Von den 15 ehemaligen Alzeyer Patienten, die am 17. Mai 1944 aufgenommen wurden, starb die erste nach sechs, die letzte nach 30 Tagen. Die Überle- Faulstich gibt dazu für das Philippshospital(82 an: bensdauer dieser 32 Opfer lag zwischen zwei und 42 (Tabelle gekürzt) Tagen. Bis auf drei starben alle nachts oder am frühen Morgen. Nach Aktenvermerken erfolgte die Beurkun- Jahr Ges.-Patienten- Sterbe- Sterbe- NS- dung des Todes durch den Pfleger Blum, nicht etwa zahl fälle rate Opfer durch einen Arzt. Die Benachrichtigung der Ange- 1939 1.741 87 5,0 19 hörigen nahm der Verwaltungsangestellte Thomas vor. 1940 2.065 177 8,6 96 Wie auch in der Gasmord-Phase waren die Todes- 1941 2.603 153 5,9 52 ursachen ebenso gefälscht wie das Sterbedatum und 1942 2.334 423 18,1 332 in vielen Fällen auch der Sterbeort. Oft lagen zwischen 1943 2.714 405 14,9 299 dem tatsächlichen bis zum in der Sterbeurkunde doku- 1944 3.308 903 27,3 774 mentierten Tod mehrere Tage, manchmal auch 1945 3.099 925 30,0 804 Wochen. Damit wurde zweierlei erreicht: die Benach- richtigung über den Tod erfolgte aus Tarnungsgrün- den von einer anderen Tötungsanstalt, z.B. nicht von

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Hadamar, sondern von Bernburg. Für die hinzu gefälschten Tage konnten Pflegegelder abgerechnet und damit die Aktion mitfinanziert werden. Auch wenn »in Alzey nichts passiert« sein sollte: Es gab Patienten und Angehörige, die wussten, welches Schicksal ihnen bevorstand. Das belegen die folgen- Abschiedsbrief einer Alzeyer Patientin an ihre den Briefe: Tochter Aus einem rheinhessischen Familienarchiv, 1942 Brief eines Vaters vom 2. Juli 1941 an den Direktor der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey: An mein Mädchen Margareta In stillen Stunden oft klang leis’ ein Ton »Sehr geehrter Herr Medizinalrat! Wie Glockenklang Ich habe in Erfahrung gebracht, dass die dortige Und trug Dein liebes Bild mir vor die Seele, Anstalt verkauft worden ist. Aus diesem Grunde Und leis’ und bang erlaube ich mir die Anfrage, ob in absehbarer Zeit Schlug mir das Herz in süßem Dein’ Gedenken. mit der Entlassung meines Sohnes zu rechnen ist, oder ob die z. Zt. noch im Hause befindlichen Ich liebe Dich, mein Kind: Insassen einer evtl. Verlegung anheim fallen? Da Als Du mich besuchst, wie freute ich mich ich letzteres aus gewissen Gründen nicht zulasse, Und doch in Deinen Augen bitte ich höfl. um Ihren gütigen Bescheid, auch Sah ich Tränen glänzen. darüber, ob Sie einer solchen Verlegung nicht Und diese Tränen galten uns allein, hemmend entgegen treten können, damit ich für Meine Seele schrie auf, meinen Sohn geeignete Maßnahmen treffen kann. Ich konnte nicht helfen, Für Ihre Mühewaltung im Voraus bestens dankend Sie fielen in meine Herzensnot hinein. Zeichnet mit Heil Hitler! ... « Solange Du bei mir warst wußt’ ich zu bezähmen Dr. Schlotmann(86 beantwortet diesen Brief am 7. Der wilden Wünsche ungezähmtes Heer. Juli 1941: Nun fall’ ich wehrlos ihrer Wut zum Opfer, »Unsere Anstalt ist bisher nicht verkauft worden. Denn ihren Hunger stillt mir keine Hoffnung Auch eine Verlegung der hier verbliebenen Kran- mehr. ken ist noch nicht in Aussicht genommen. Ich Ich bin so allein und mein Kind ist so fern stelle Ihnen jedoch anheim, Ihren Sohn wieder Und ich habe mein Mädchen so lieb. nach Hause zu nehmen bzw. in eine andere Anstalt zu verlegen, wenn Ihnen dieses wünschens- Der Menschen Grausamkeit wert erscheint. Heil Hitler! J.V. Medizinalrat.« Hat mir dieses Los aufgebürdet, Zu diesem Zeitpunkt waren bereits fast alle Patien- Ich trage so schwer. ten »verlegt« und nur etwa 140 Arbeitsfähige in Alzey Zitternd habe ich den Weg gefunden geblieben. Nach dem 24. Mai 1941 gab es keine Der vom Glauben nichts mehr weiß. größeren Sammeltransporte von Alzey oder nach Alzey Bin bereit zu gehen durch die dunkle Pforte mehr. Den Weg ins Schattenreich. Weine nicht, trifft Dich die Stunde In den folgenden Jahren wurden einzelne Patien- Daß ich unter Lebenden nicht mehr bin. ten aufgenommen, die meisten aber nach Mainz, Denke, sie hat Frieden gefunden Goddelau und Heidesheim verwiesen. 1943 kamen Und ist erlöst von allem Leid. neun, im Jahr 1944 zehn Patienten von Goddelau nach Alzey zurück. Erst nach dem Zusammenbruch des Deine Mama. Dritten Reiches konnte die Anstalt zu ihrer eigent- lichen Aufgabe zurück finden.

| 91 Umwidmungen der LHPA Alzey 1941 bis 1945 die nach den Vorstellungen des Landes Hessen mit 1.400 auf Goddelau und auf Gießen verteilt werden Der Abzug der Patienten führte zu Einnahmeverlus- sollen. Für Alzey wird die Verwendung als Adolf-Hitler- ten und zwang zu neuer Nutzungsplanung. Die unver- Schule vorgeschlagen.(87 Diese Planung wurde aufge- zichtbaren anstaltseigenen Betriebe einschließlich geben. Ein Alzeyer erinnert sich, dass er als Junge der Landwirtschaft wurden durch etwa 140 arbeitsfä- für den Besuch dieser Eliteschule vorgeschlagen war hige Patienten aufrechterhalten, daher die Anstalt nicht und eingekleidet werden sollte. Krankenstationen und ganz für die Psychiatrie geschlossen. Zwischen 1941 Reservelazarett bestimmten für vier Jahre das Anstalts- und 1945 wurden noch einzelne Patienten aufge- leben. nommen. Anstaltsgelände, Gebäude und das noch nicht einge- Krankenstation für ausländische Arbeiter zogene Personal wurden für zivile und militärische Im April 1941, als die Belegzahl bereits deutlich unter Nutzung aufgeteilt. Der personell reduzierten Anstalts- die Zahl der Planbetten gesunken war, ist im Tage- leitung unterstand neben dem Restbestand der Psychi- buch erstmals die Aufnahme von vier Personen mit atriepatienten ab April 1941 eine Krankenstation für dem Zusatz »Pole!« vermerkt. In den ersten zehn Fremdarbeiter und ab 1943 eine Entbindungsstation Monaten wurden etwa 100 ausländische Arbeiter aufge- nommen, ab April 1942 stieg die Zahl sprunghaft an. Schon im Jahr 1942 waren 364 von 382 Aufnahmen ausländische Arbeiter aus den besetz- ten Gebieten: aus Polen, Russland, der Ukraine, aus Litauen, den Nieder- landen, Italien, Frank- reich. Personal und Einrichtung der Anstalt mussten demnach von Psychiatrie auf allge- Vordruck des Anschreibens der Anstalt an die Gemeindeverwaltungen. meine Krankenpflege umgestellt werden. Darü- für Ostarbeiterinnen. Ein großer Teil wurde als Reserve- ber liegen fast keine Unterlagen vor. In dem Sonder- lazarett der Wehrmacht für Hirn-, Nerven- und Rücken- Haushaltsplan für 1944(88 findet sich im Stellenplan marksverletzte genutzt. folgender Vermerk: Bei der T4-Zentrale in Berlin begann ein kleiner »Die Zahl des Pflegepersonals wird nach dem wirk- Planungsstab mit der Ausarbeitung von Nutzungs- lichen Krankenstand von mindestens 1 : 7 bestimmt. plänen für reichsweit alle Regionen und Anstalten. Bei 130 Kranken müssten daher 10 männliche und Vom 11. bis 17. Februar 1942 bereiste er Hessen, er- 9 weibliche und für die angegliederte Krankensta- fasste den Bestand der einzelnen Anstalten nach tion für ausländische Arbeiter und die Entbindungs- Bettenzahl, gegenwärtiger Nutzung, dem künftigen abteilung für Ostarbeiterinnen 3 männliche und 1 weib- niedrigeren (Nachkriegs-)Bettenbedarf und schlug liche Pflegeperson, insgesamt demnach 13 männ- gemeinsam mit dem Land Hessen Nutzungsände- liche und 10 weibliche Pflegepersonen vorgesehen wer- rungen vor. den. Infolge der Einberufungen zur Wehrmacht sind Für die LHPA Alzey wurde eine Bettenzahl von jedoch insgesamt 43 Pfleger (davon 34 bei der Wehr- höchstens 800, normal 600, für das Reservelazarett macht) sowie 15 Pflegerinnen (davon 5 beim DRK) von 160 angegeben. Die Krankenstation für Fremd- vorgesehen.« arbeiter ist nicht erwähnt. Für Hessen wird ein künf- Einberufen wurden u.k. (unabkömmlich) gestellte tiger (Nachkriegs-)Bettenbedarf von 2.200 ermittelt, Wehrpflichtige der Jahrgänge 1884 und jünger, insge-

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samt 30 Personen zwischen den Jahrgängen 1884 auch als Allgemeinkrankenhaus eine überregionale und 1904 – also zwischen 40 und 60 Jahren alt,(89 Funktion für diesen Personenkreis zugeordnet war. davon sechs Pfleger, zwei Oberpfleger, alle anderen Akten haben wir dazu bisher nicht gefunden. waren Betriebspersonal wie Melker, Gärtner, - Über das Schicksal der meisten Mütter und Kinder ger, Werkführer, Schlosser, Schreiner, Schneidermeis- ist nur das bekannt, was aus den Tagebüchern über ter, Sekretäre. Dass die Zahl des Pflegepersonals höher Aufnahme, Verweildauer und Entlassung zu entneh- als der vorgesehene Schlüssel war, liegt vermutlich men ist. Als Fremdarbeiterinnen waren sie in Deutsch- an dem angegliederten Lazarett. Dennoch geht aus land zur Zwangsarbeit. Über die Väter, die Umstände dem gleichen Haushaltsplan hervor, dass die Plan- ihrer Schwangerschaft und ihr Leben nach ihrer Entlas- zahl von 33 Pflegern und 15 Pflegerinnen, 8 Hand- sung gibt es bisher kaum Informationen aus unse- werkern und 38 sonstigen Bediensteten 1943 auch rer Umgebung. Aus den Tagebüchern geht hervor, erreicht und für 1944 auch vorgesehen war. dass die meisten Schwangeren mehrere Wochen vor Für die Krankenstation der ausländischen Arbei- der Niederkunft aufgenommen wurden und dass sie ter und die Entbindungsabteilung für Ostarbeiterin- auch mindestens 12 bis 14 Tage danach in der Anstalt nen wurde die Einstellung von drei Ostarbeitern und blieben, manchmal auch länger. Gegen Ende des zwei Ostarbeiterinnen gefordert. Krieges nahm die Verweildauer allerdings ab. Mütter Von früheren Mitarbeitern wurde berichtet, dass und Kinder wurden in der Regel gemeinsam entlas- es sich bei den Pflegern nicht nur um ausgebildete sen. Drei Kinder verstorbener Mütter blieben länger, Fachkräfte, sondern auch um Pflegehilfskräfte handelte, ein Kind sogar fast anderthalb Jahre bis zum August die das eingezogene Personal ersetzen mussten. 1945. Für ein Kind ist vermerkt, dass es vom Hilde- gardishaus Bingen aufgenommen wurde. Wohin die Entbindungsabteilung für Ostarbeiterinnen beiden anderen Kinder entlassen wurden, ist nicht Im April 1943 wurde erstmals eine schwangere aus- aufgezeichnet. Dokumentiert sind nur einzelne ländische Frau aufgenommen. Damals wurde eine Schwangerschaftsunterbrechungen. Die Sterberate bei Entbindungsabteilung eingerichtet. Müttern und Kindern war gering. Aus den Tagebüchern der Anstalt ergibt sich aus Ob und wie sich die menschenverachtende NS-Poli- den dokumentierten Aufnahmen und Entlassungen tik auf die Fremdarbeiterinnen, die in der Alzeyer bis zum 17. März 1945 (an diesem Tag enden die Anstalt entbunden haben, und ihre Kinder ausge- Eintragungen im Tagebuchband 9) folgendes Bild: wirkt hat, kann aus den vorliegenden Quellen nicht geklärt werden.

Ausweichkrankenhaus Geburten 357 Als Ausweichkrankenhaus hatte die Anstalt schon Totgeburten 1 während des Frankreichfeldzuges 1940 fungiert, als Abortus 1 das Kreiskrankenhaus vorübergehend Lazarett war. Schwangerschaftsunterbrechungen 14 Dies geht aus mehreren Patientenakten des Jahre 1940 Verstorbene Mütter 5 hervor. Die Anstalt muss daher nach 1940 auch für Verstorbene Kinder 9 die Aufgaben eines Allgemeinkrankenhauses und einer Entbindungsstation ausgerüstet worden sein. Nach der Bombardierung des Kreiskrankenhauses Alzey zur Jahreswende 1944/45 kamen in der Anstalt auch deutsche Kinder zur Welt, das erste im Januar, Die Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeiter kamen das letzte im September, insgesamt 90, darunter zwei aus einem großen Einzugsbereich, so aus Wetzlar, Zwillingspärchen. Aufgenommen waren 95 »deutsche Würzburg und aus dem Saargebiet. Diese Tatsache Wöchnerinnen«, deren Patientenakten noch erhalten lässt in Zusammenhang mit der hohen Anzahl der sind. Vermerkt sind 7 Fehl- und Totgeburten, eine Aufnahmen von Fremdarbeiterinnen und Fremdarbei- Mutter und sechs Kinder starben. Ab September 1945 tern und der hohen Geburtenzahl den Schluss zu, wurden diese Patienten wieder in das Kreiskranken- dass der Anstalt sowohl als Entbindungsstation als haus verlegt.

| 93 Reservelazarett 1940 bis 1946/47 Opfer und Opfergruppen der Nationalsozia- Während die Patienten der beiden Stationen für Zwangs- listischen Psychiatrie in Alzey und Rheinhessen arbeiter in den Tagebüchern verzeichnet und damit Anstaltspatienten sind, gibt es keine Eintragungen Um das Schicksal der Alzeyer Patienten unter der über die Verwundeten im Reservelazarett, weil diese nationalsozialistischen Gewaltherrschaft herauszufin- der Wehrmacht unterstanden. Akten sind dazu bisher den, hatte die Arbeitsgruppe Psychiatrie im National- nicht gefunden worden.(90 Über diesen großen Perso- sozialismus in Alzey(92 im Jahre 1994 begonnen, in nenkreis sind auch keine Patientenakten überliefert. Archiven nach Informationen zu suchen und zusam- Eine Statistik des Jahres 1943(91 enthält folgende Anga- men zu stellen. Ausgangspunkt waren die vollstän- ben: »Normalbelegung: 800 Betten, Höchstbelegung dig erhaltenen Tagebücher der Klinik mit den Patien- 1.450 Betten, jetzt 1.530. tenbewegungen, aus denen Namen, Aufnahme- und 1.120 sind vom Reservelazarett Alzey belegt, in der Entlassungsdatum und teilweise auch der Grund der Anstalt befinden sich am 31.03.1943: 142 deutsche Entlassung entnommen werden konnten. Daraus ent- Geisteskranke.« stand bis 2004 ein Verzeichnis von 453 Alzeyer Patien- ten, die nachweislich unter der NS-»Euthanasie« ihr Besatzungszeit Leben einbüßten. Sie sind auf dem Mahnmal der Wie aus dem »Erinnerungsbericht des Oberingenieurs Rheinhessen-Fachklinik Alzey namentlich genannt.(93 Meyer« hervorgeht, war das Reservelazarett der deut- Seitdem führte die Auswertung von Dokumenten schen Wehrmacht kurz vor der Besetzung nach Osten in mehreren Archiven zu neuen Erkenntnissen. Noch über den Rhein evakuiert worden, und mit ihm war sind diese Quellen nicht ausgeschöpft. Die auf Seite ein Teil des Personals abgehauen. In der Anstalt beför- 94 folgende Statistik vom März 2008, ist daher ein derte sich der Russe Alex zum Direktor und herrschte Tagesergebnis, das sich mit weiteren Recherchen verän- mit einem Team bis zu seinem erzwungenen Abgang dern wird. mit Pistole und Flasche. Nacheinander zogen drei ame- In den Archiven fanden wir zahlreiche Kranke aus rikanische und mehrere französische Lazaretts ein. Ab Rheinhessen, die nicht in der LHPA Alzey, sondern August nahm die Aufnahme »deutscher Geisteskran- in benachbarten Anstalten behandelt und gepflegt ker« zu, Entbindungsstation und Krankenstation für wurden. Nach der fast vollständigen Schließung und Zwangsarbeiter wurden geschlossen. Umwidmung der LHPA Alzey für Psychiatriepatien- Unter welchen Bedingungen die LHPA ihren Betrieb ten im Jahr 1941 kamen sie nach Mainz, Heides- wieder aufbauen musste, ergibt sich aus dem Vergleich heim oder Goddelau. Ein anderer Grund für die Auf- des von der Planungsgruppe im Februar 1942 beschrie- nahme in anderen Anstalten lag im fachlichen Profil benen tadellosen Zustandes mit dem Bericht des Ober- der einzelnen Anstalten. Um einen Überblick über ingenieurs Meyer. In den ersten Monaten war der aus die Auswirkungen in Rheinhessen zu gewinnen, haben dem Feld zurückgekehrte Direktor Dr. Ludwig Peters wir daher die Alzeyer Patienten erfasst, getrennt davon der einzige Arzt. aber auch die übrigen Rheinhessen. Das Reservelazarett der deutschen Wehrmacht für Die Kranken, die in der LHPA Alzey zwischen 1936 Hirn-, Nerven- und Rückenmarksgeschädigte kehrte und 1945 während oder kurz vor den Aktionen star- im Winter 1945/46 zurück. Im Frühjahr 1946 wurde ben, sind hier nicht mitgezählt, auch die nicht, die Dr. Erwin Rehwald, ein Psychiater, der während des in den Jahren der Überbelegung und der gestiege- Krieges in einer Hirnforschungsgruppe unter Prof. Wil- nen Sterberate ihr Leben ließen. helm Tönnis in einem Luftwaffenlazarett gearbeitet hat- Die hier erfassten »Euthanasie«-Opfer starben nicht te, mit der Umwandlung in ein Landeskrankenhaus in Alzey, aber hier waren sie in einer umfangreichen beauftragt. Datenbank erbbiologisch erfasst worden und von hier Bis zu dessen Umzug nach Meisenheim im Jahr wurden sie in die Massenvernichtung entlassen. Der 1955 teilten sich zwei Fach-Landeskrankenhäuser Leitung war ihr geheim zu haltendes Schicksal dienst- Gelände, Gebäude und Einrichtungen. Wie berichtet lich bekannt, auch sicherlich Teilen des Personals, und wird, konnte sich das Pflegepersonal zwischen den gerüchteweise den übrigen Mitarbeitern, Kranken und beiden Einrichtungen entscheiden. ihren Angehörigen.

94 | 1933 – 1945

Opfer der NS-»Euthanasie« 1940 bis 1945

Patienten der LHPA Alzey und rheinhessische Patienten in benachbarten Anstalten

NS-AKTIONEN PATIENTEN ERLÄUTERUNG

der aus Rheinhessen in LHPA Alzey benachbarten Anstalten

1940 – 1941 366 107 T4-Aktion: Gasmord Fast alle in der Tötungsanstalt Hadamar, einzelne in den Tötungsanstalten Todesopfer Brandenburg, Grafeneck, Hartheim und der NS-»Euthanasie«, sog. Pirna-Sonnenstein T4-Aktion, erste Phase des 13 13 Tod auf dem Weg nach Hadamar Krankenmordes in Zwischenanstalten 379 *120 Opfer der T4-Aktion insgesamt, darunter 14 Kinder und Jugendliche 1941 – 1945 60 17 Tod in Hadamar in dezentraler Phase 1941 – 1945 116 105 Todesfälle Alzeyer Patienten 1941 bis 1945 Todesopfer der zweiten, in den Tötungsanstalten Hadamar Eichberg, dezentralen Phase des Philippshospital Goddelau; für andere Krankenmordes Anstalten noch nicht ermittelt*) 176 *122 Opfer der 2. dezentralen Phase insgesamt, darunter 49 Kinder und Jugendliche »Euthanasie«-Opfer 556 243 799 erfasste Todesopfer aus Rheinhessen, 1940 – 1945 insgesamt darunter 63 Kinder und Jugendliche 2 Selbstmorde als Flucht vor Unfruchtbar- Patienten der LPHA Alzey, nur für ehemals machung bzw. Furcht vor Deportation Opfer anderer rassen- Alzeyer Patienten politischer Maßnahmen 3 ermittelt KZ Mauthausen, KZ Dachau, Juden-Osttransport (Izbica) 5 insgesamt Überlebende 189 nur für ehemals Stichtag: 8. Mai 1945 ehemals Alzeyer Patienten Alzeyer Patienten in »Euthanasie«-beteiligten ermittelt Anstalten

noch ungeklärte 315 271 ehemals Stand: Februar 2008/APNA Patientenschicksale; Alzeyer Patienten vermutlich darunter in anderen nur wenige Todesopfer Anstalten

* siehe dazu die einschränkenden Bemerkungen im vorigen Kapitel.

| 95 Nach jetzigem Kenntnisstand haben fast 200 Alzeyer Kanzlei des Führers der NSDAP(94 unterstellt, beider Patienten die Verlegungen, den Hunger und die schwie- Arbeit war als geheime Reichssache streng vertrau- rigen Zustände in den anderen Anstalten überlebt, lich, einbezogen war auch hier eine kleine Zahl von zumindest bis zum Stichtag am 8. Mai 1945. zur Tötung »positiv eingestellter« Ärzte, sie verfolg- Das Schicksal von etwa 300 Kranken konnte noch ten das gleiche Ziel und arbeiteten nach ähnlichen nicht ermittelt werden, darunter Personen, für die Methoden. Meldebögen zur T4-Zentrale nach Berlin geschickt Im Jahr 1939 waren Hebammen, Ärzte und andere wurden bzw. deren Namen in Transportlisten der T4- mit Geburtshilfe Befasste durch streng geheimen Aktion stehen, für die es aber bisher keinen Nach- Reichserlass verpflichtet worden, die Neugeborenen weis über ihr weiteres Schicksal gibt. zu melden,(95 bei denen Verdacht auf ein schweres Für drei besondere Patientengruppen: Kinder, angeborenes Leiden bestand: Idiotie und Mongolismus Menschen jüdischer Abstammung und Zwangsarbei- (besonders in Verbindung mit Blindheit und Taub- ter folgen eigene Anmerkungen. heit), Microcephalie, Hydrocephalus schweren bzw. Die Patienten stammten aus fast allen rheinhessi- fortschreitenden Grades, bei Missbildungen jeder Art, schen Gemeinden, die meisten aus Mainz (156 Alzeyer besonders bei Fehlen von Gliedmaßen, schweren Spalt- Patienten, weitere 150 aus anderen Anstalten), 103 bildungen des Kopfes und der Wirbelsäule, sowie bei aus Worms, 30 aus Bingen, 26 aus Alzey, 20 aus Ingel- Lähmungen. heim, 11 aus Osthofen, 10 aus Bodenheim, 9 aus Auch diese Meldung erfolgte auf Meldebogen- Gau-Odernheim, 5 aus , jeweils 4 aus Als- Vordrucken. Sie ging an die Gesundheitsämter und heim, , Gensingen, , Nieder- von dort nach Berlin zum Reichsausschuss, bei dem Flörsheim, aus den anderen Gemeinden jeweils ein Gutachter die Kinder für die Aufnahme in Kinderfach- bis drei Opfer. In mehreren Fällen wurden aus einer abteilungen selektierten und den Gesundheitsämtern Familie mehrere Angehörige getötet: zurückmeldeten. Von diesen wurde erwartet, dass sie Von der Familie K. aus einem rheinhessischen Ort die Eltern von der Notwendigkeit der Aufnahme ihres wurden der Vater und sein 11-jähriger Sohn 1941 in Kindes in eine der neu und modern ausgestatteten Hadamar vergast, ein 9-jähriger Sohn starb in der Kinderfachabteilungen überzeugten, auch wenn die Kinderfachabteilung des Kalmenhofs, eine 12-jährige Therapie nicht risikolos sei. Tochter in der Anstalt Heppenheim an einer an- steckenden Krankheit während der Zeit der Überbe- Nach unserem derzeitigen Ermittlungstand starben legung. Die Aktionen überlebt haben die Mutter, eine folgende rheinhessische Kinder in der »Euthanasie«: Tochter und ein Bruder des Vaters. - in Kinderfachabteilungen 51 Kinder zwischen 3 1/2 Monaten und 17 Jahren, davon 50 auf dem Eich- Kinder-»Euthanasie« berg und 1 auf dem Kalmenhof, darunter ein Mädchen Für Minderjährige aus Rheinhessen war die LHPA aus Mainz, Halbjüdin und Fürsorgezögling,(96 Tod Alzey nicht zuständig. Sie wurden in die Heime der durch Vergiftung oder Erschöpfung nach medizini- Diakonischen Anstalten Bad Kreuznach, der Nieder- schen Versuchen, z.B. Elektroschocks. Die Gehirne Ramstädter Inneren Mission, der Heilerziehungs- und von Kindern wurden der Forschung zur Verfügung Pflegeanstalt Scheuern bei Nassau und in der Privat- gestellt. Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein aufge- - in Hadamar 11 Kinder zwischen 6 und 15 Jahren, nommen. 1938 mussten Bad Kreuznach und Nieder- alle 1941 durch Vergasung. Diese Kinder und Jugend- Ramstadt ihre Patienten abgeben, dabei kamen auch lichen stammten aus , Alzey, Bingen, Gau-Alges- einige Jugendliche nach Alzey. heim, Gau-Odernheim, Mainz, Monzernheim, Nieder- Im Jahr 1941 richtete der »Reichsausschuss zur Flörsheim, , und Worms. wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagen- bedingten schweren Leiden« reichsweit etwa 30 Kinder- Fremdarbeiter und Ostarbeiterinnen fachabteilungen ein, darunter an der Landesheilan- Psychisch kranke Fremdarbeiter und Ostarbeiterinnen stalt Eichberg/Rheingau und am Kalmenhof, die auch wurden in ihre Heimatländer zurück gebracht. Das für Rheinhessen zuständig waren. Wie bei der Massen- änderte sich 1944. Das Reichsinnenministerium ord- tötung der »Euthanasie«-Aktion waren sie direkt der nete ausgewählten Anstalten Gebiete für die Aufnahme

96 | 1933 – 1945

von geisteskranken Ostarbeitern zu, der Landesanstalt - Tatjana Switschowa, Zwangsarbeiterin in Worms, war Eichberg das Land Hessen und die preußischen Provin- 20 Jahre alt, als sie im Januar 1943 in der Entbin- zen Kurhessen und Nassau.(97 Die Einweisung erfolgte dungsstation für Ostarbeiterinnen in Alzey ihre Toch- in Zusammenarbeit mit der Arbeitsverwaltung. Sie ter Pauline zur Welt brachte. Sie wurde in Hadamar wurden in Hadamar ermordet. am 19.1.1945 mit Lungentuberkulose eingeliefert, Seit dem Herbst 1944 nahm die Landesanstalt Eich- ihr Todestag für den 24.02.1945 beurkundet. Das berg auch somatisch kranke Fremdarbeiter auf.(98 Schicksal ihrer zweijährigen Tochter ist nicht bekannt. Dabei handelte es sich meist um Menschen mit ansteckenden Krankheiten, häufig Tuberkulose. Unter Jüdische Patienten in der Anstalt Alzey den 476 Fremdarbeitern, die im Herbst 1944 in Hada- Für die LHPA Alzey gibt es keine Erkenntnisse, dass mar umkamen, waren sechs, die vorher in der 1941 Patienten jüdischer Abstammung, solange sie hier eingerichteten Kranken- und der 1943 eingerichteten waren, anders behandelt wurden als deutschblütige. Entbindungsstation in der LHPA Alzey behandelt Für die Jahre 1933 bis 1941 konnten wir 15 Patienten worden waren.(99 jüdischer Abstammung in Dokumenten der LHPA Die Zwangsarbeiter wurden am Ankunftstag ermor- Alzey finden, deren Religion als »mosaisch« oder det. Dazu der Oberpfleger Heinrich Ruoff in seiner »israelitisch« bezeichnet war. Vier sind zwischen 1935 Zeugenaussage beim Nürnberger Ärzteprozess: und 1939 in der LHPA Alzey gestorben. Eine Frau, »Sobald die Russen und Polen in die Heilanstalt kamen, Jahrgang 1877, Witwe, befand sich bald nach der gaben Willig und ich ihnen die Einspritzung. ... alle Emigration ihrer Kinder seit 1936 in Anstaltspflege. diese Leute starben nach zwei oder vier Stunden.«(100 Sie starb 1938 an Pneumonie. Die zweite Jüdin, gebo- »Eine Rücksichtnahme auf eventuelle Angehörige, ren 1865, lebte seit Jahren in Pflegeanstalten, seit die noch informiert werden mussten, erschien gerade 1931 in Alzey. Sie starb im Jahr 1940 an Entkräftung, bei den Ausländern überflüssig, ja im Einzelfall wurden ebenso wie ein älterer Mann. Eine Frau, seit über 30 sogar gesunde Familienangehörige von Tuberkulose- Jahren in Anstaltspflege, starb nach einem Fenster- kranken, insbesondere deren Kinder, mit nach Hada- sturz. mar eingewiesen und dort ermordet. ... Anders als Von den weiteren elf Patienten starben neun 1940 bei den Psychiatriepatienten in Hadamar von 1942 und 1941 in der »Euthanasie« in Brandenburg und bis 1945 wurde bei den somatisch kranken Zwangs- Hadamar, ein älterer Mann im KZ Dachau und ein arbeitern das Todesdatum gefälscht; teilweise lagen Mann, Jahrgang 1911, geriet 1942 in einen der fünf sogar Monate zwischen dem Mordtag und dem ange- Osttransporte der Jüdischen Heil- und Pflegeanstalt blichen Sterbetag.«(101 Bendorf-Sayn, von zwei Patienten ist das Schicksal - Die 17-jährige Russin Marie, Ostarbeiterin in Boden- unbekannt. heim, hatte am 27. Mai 1944 in Alzey ihren Sohn Das erste Opfer wurde Martha H. aus Mölsheim Anatoljo geboren. Als Tuberkulosekranke wurde sie eher zufällig. Bei der kriegsbedingten Räumung der am 25. Oktober 1944 in Hadamar aufgenommen, LHPA Alzey im Mai 1940 war sie vorübergehend nach vermutlich mit ihrem Sohn. Ihr Todestag wurde für Gießen ausquartiert. Dort geriet sie vor ihrem Rück- den 21.12.1944 beurkundet. transport nach Alzey in eine Verlegung von geistes- - Der 34-jährige Russe Feodor, in einer Landwirtschaft kranken »Volljuden deutscher und polnischer Staats- in Dautenheim beschäftigt, wurde in der Alzeyer angehörigkeit sowie staatenloser Juden«, die der Reichs- Krankenstation vom 21. Juni bis zum 22. Juli behan- minister des Innern in einem Schnellbrief vom 30. delt und am 16. August 1944 in Hadamar aufgenom- August 1940 für den 1. Oktober für die Provinz Hessen- men. Beurkundet wurde sein Sterbetag für den 5. Nassau angeordnet hatte. »Der noch immer beste- Oktober, seine Todesursache »Blinddarmentzündung«. hende Zustand, dass Juden mit Deutschen in Heil- - Der 21-jährige Russe Nikolai, Zwangsarbeiter in Alzey, und Pflegeanstalten gemeinsam untergebracht sind, wurde vom 18. Februar bis zum 9. März und wieder kann nicht weiter hingenommen werden, da er zu vom 22. Juli bis zum 16. August in der Kranken- Beschwerden des Pflegepersonals und von Angehö- station behandelt, und noch am Entlassungstag in rigen der Kranken Anlass gegeben hat.«(102 Zwischen Hadamar aufgenommen. Todestag und Todesursache: dem 25. und dem 30. September wurden die jüdischen 1.1.1945, Lungentuberkulose. Patienten aus der Provinz Hessen-Nassau in der LHPA

| 97 Gießen gesammelt und nach heutiger Kenntnislage Anstalten geduldet wurden. Auf Verfügung des Reichs- am 1. Oktober in die Tötungsanstalt Brandenburg ge- ministers des Innern vom 10.12.1940 wurden die jüdi- bracht und am gleichen Tag getötet. schen Patienten aus dem gesamten Deutschen Reich Für Hessen und angrenzende südliche pfälzische in die Heil- und Pflegeanstalt der Reichsvereinigung und badische Regionen wurde LHPA Heppenheim der Juden in Deutschland Bendorf-Sayn(103 (bis 1940 Sammelanstalt. Bis zum 1. Februar 1941 war Anreise, private Jacoby’sche Anstalt) überführt, die auf 170 am 4. Februar ging der Transport angeblich in den Patienten ausgelegt war, aber schließlich 1942 über Osten, tatsächlich aber nach Hadamar. Darunter waren 500 Patienten in Baracken vom olympischen Spiel- Pauline B. aus und Ernst J. aus Ostho- feld Berlin und in angemieteten Häusern in Sayn fen, die am 30. Januar von Alzey gebracht wurden, beherbergte. Sie gerieten nicht mehr in die im August sowie weitere jüdische ehemals Alzeyer Kranke, die 1941 gestoppte T4-Aktion, sondern wurden den Ost- aus Goddelau und Heidesheim anreisten: Rosa N. transporten zur »Endlösung der Jugendfrage« zuge- aus Mainz, Hugo M. und Dr. Ella W. aus Alzey, Johanna teilt. Alle Patienten, Pfleger und Ärzte wurden bis H. aus Ober-Olm und Bruno B., der Bruder von Pauline auf drei zwischen März und November 1942 in ver- B. aus Schornsheim. plombten Güterzügen zur Vernichtung in den Osten Bei seiner ersten Aufnahme in die Anstalt im verschleppt.(104 Manfred G. aus Mainz am 30. April. November 1933 wurde die Religionszugehörigkeit des Die ersten vier Transporte gingen vermutlich nach Patienten Manfred G. aus Mainz, Jahrgang 1911, vor Izbica, der letzte am 11. November mit Zwischenstation seiner Erkrankung Metzgerlehrling, als »israelitisch« im Jüdischen Krankenhaus Berlin nach Theresien- eingetragen. In dem Schriftwechsel um seine Fürsor- stadt. gepflicht mit der Zentralwohlfahrtsstelle der Israeli- Einer jüdischen Pflegerin gelang unterwegs die tischen Religionsgemeinde Mainz wurde er zunächst Flucht. In Sayn zurück blieben ein Arzt, eine Pflege- als »Deutscher«, später als »Jude« und »Reichsange- rin und ein Pfleger mit ihren Familien. Sie sollten höriger« bezeichnet. Er wurde im Oktober 1934 am vorübergehend andere unabkömmliche Juden, z.B. Ende seines ersten Anstaltsaufenthalts nach verwor- den Leiter einer Gasanstalt, medizinisch versorgen, fenem Einspruch gegen das Urteil des Erbgesundheits- weil nach damaliger Auffassung arischen Ärzten die gerichts unfruchtbar gemacht und dann entlassen. Versorgung von Juden nicht zuzumuten war. Die Drei weitere Aufnahmen sind aktenkundig, zuletzt Anstalt wurde Ende 1942 aufgelöst, als Reservekranken- seine Verlegung in das Pflegeheim Jugenheim/Rhh. haus für Koblenzer Einrichtungen benutzt nach dem Er teilte das Schicksal der jüdischen Psychiatriepatien- Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht wieder ten, die nach 1938 immer weniger in nichtjüdischen eröffnet. π

Anmerkungen Teil IV – 1933 – 1945

Neue Aufgaben 8 »Ein friedliches, schmuckes Dörfchen«? Aus der 1 Vom 7. April 1933. RGBl. I, S. 175 – 177 Geschichte der Rheinhessen-Fachklinik Alzey. Begleit- 2 A.a.O., § 4 band zur Ausstellung im Museum der Stadt Alzey. 3 a.a.O., § 5 Herausgeber: Museum der Stadt Alzey. 2000. 4 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 9 Elfriede John, Renate Rosenau: Die Landes- Heil- und (GzVeN. Vom 14. Juli 1933). RGBl. I, S. 529 – 531 Pflegeanstalt Alzey 1933 – 1945. In: Psychiatrie im 5 Für Alzey das Erbgesundheitsgericht beim Amtsgericht Dritten Reich, Schwerpunkt Hessen. Band 2 der Worms und das Erbgesundheitsobergericht in Darm- Berichte des Arbeitskreises zur Erforschung der stadt. nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangs- 6 Die LHPA Alzey nahm keine Kinder und Jugendliche sterilisation. Ulm 2002. unter 16 Jahren auf. Diese wurden bis 1938 in den Anstalten der Diakonie Bad Kreuznach und den Nieder- Erfassen, begutachten, unschädlich machen Ramstädter Heimen der Inneren Mission gepflegt, nach 10 Ansprache des Herrn Reichsministers des Innern auf 1940 auch in den Kinderfachabteilungen der Anstalten der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirates für Eichberg/Rheingau und Kalmenhof in Idstein/Taunus. Bevölkerungs- und Rassenpolitik am 28. Juni 1933, 7 Nationalsozialistische »Euthanasie«: Hitlers »Gnaden- Anlage zur Niederschrift über die erste Sitzung des toderlass« rückdatiert auf den 1. September 1939, und Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rasse- weitere geheime Vernichtungsaktionen für Psychiatriepa- fragen am 28. Juni 1933, Seite 7 f. (Blatt 63 f.). Bundes- tienten, siehe folgende Kapitel. archiv, Bestand R 43 II, Sign. 720a.

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11 RGBl I, 1933 , S. 529 – 531 des erbbiologischen Bestandes der gesamten Bevölke- 12 Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes des Preußischen rung. Vom 19.08.1934, zitiert nach Oehler-Klein, a.a.O., Landesgesundheitsrates. Zitiert nach: Thomas Beddies, S. 27 Kristina Hübener: Dokumente zur Psychiatrie im 26 Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens. Nationalsozialismus. Schriftenreihe zur Medizinge- Vom 3. Juli 1934. RGBl. I, S. 531 schichte des Landes Brandenburg. Band 6. Berlin- 27 Bundesarchiv, R 43 II, Signatur 720 a, Blatt 33f. Brandenburg 2003, S. 91 28 Die folgenden Anlagen 8 bis 15 waren Muster für 13 § 12 GzVeN: »(1) Hat das Gericht die Unfruchtbarma- Bescheinigungen des Gesundheitsamtes für Ehestands- chung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen darlehensbewerber sowie Empfehlungen für oder gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, Eheschließungen für Gesunde, Unfruchtbare und sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt hat. Der Erbkranke. beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die erforder- 29 Sigrid Oehler-Klein: Das Institut für Erb- und Rassen- lichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere pflege der Universität Gießen. In: Gießener Universi- Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung tätsblätter 2005, S. 32 unmittelbaren Zwanges zulässig.« 30 Reichs- und Preuß. Minister des Innern, Erlass vom 21. 14 GzVeN. § 9 Mai 1935 15 Akte des Erbgesundheitsgerichts in der Patientenakte 31 Frage Nr. 26 der Erbkarteikarte M. M., Bundesarchiv Berlin, Archivsignatur: R 179/8265. 32 Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen 16 Rheinhessen-Fachklinik Alzey, Tagebücher Nr. 5 Volkes (Ehegesundheitsgesetz). Vom 18. Oktober 1935. (01.11.1928 – 31.03.1934), Nr. 6 (01.04.1934– 31.01.39), RGBl. I, S. 1246. Gesetz zum Schutz des deutschen Nr. 6 (01.02.39– 28.02.41). Blutes und der deutschen Ehre (Blutschutzgesetz) und 17 Tagebücher, tägliche Aufzeichnungen über Patientenbe- Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935. wegungen mit den Spalten Aufnahme, Entlassung; 33 Vom 5. Juli 1933. Reichsanzeiger Nr. 199/1933. Beurlaubung, Tod, Entweichung. 34 Zitiert nach: Grundsätze für die Errichtung und 18 Patientenakte, Band 315. Tätigkeit der Beratungsstellen für Erb- und Rassen- 19 Patientenakte, Band 308. pflege. Herausgegeben vom Reichs- und Preußischen 20 Landesarchiv Speyer, Bestand H 51 Landkreis Alzey. Ministerium des Innern, Berlin 1935. Bundesarchiv 21 Rolf Surmann: Was ist typisches NS-Unrecht? Die Bestand R 43 II, Sign. 720a, Blatt 34. verweigerte Entschädigung für Zwangssterilisierte und 35 Neue Richtlinien des Reichsinnenministers für die »Euthanasie«-Geschädigte. In: Margret Hamm (Hrsg.): Beurteilung der Erbgesundheit. Heft 32, kommentiert Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und von Dr. Linden. In: Deutsches Ärzteblatt, Heft 32. »Euthanasie«. Publikation des Bundes der »Euthana- Zitiert nach: Bundesarchiv, Bestand R 96 I, Nr. 14. sie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten. Frankfurt 36 Sippentafeln 118 (36 Angehörige) und 104 (56 Angehö- am Main 2005. rige), etwa zur Hälfte identisch. 37 Sippentafel 104, und Tagebuch der Anstalt über Die erbbiologische Bestandsaufnahme des Volkes: Patientenbewegungen, beide im Archiv der RFK. 22 Aktenverluste durch Krieg (Hess. Staatsarchiv Darm- 38 »Weilmünster-Listen«: Verlegungsvermerke im Tagebuch stadt) und absichtliche Vernichtung (z.B. LHPA Alzey) der Anstalt Weilmünster. Archiv des Landeswohlfahrts- 23 Karl Astel: Während seines Studiums Aktivist der verbandes Hessen in Kassel. Kampfzeit, NSDAP-Mitglied 1930. 1932 Ämter in NS- 39 Gedenkbuch der Gedenkstätte Hadamar, Landeswohl- Organisationen: Leitung der »Erbgesundheitlichen fahrtsverband Hessen. Beratungsstelle« im Rasse- und Siedlungshauptamt der 40 Meldebogen vom 20.05.1942 im Archiv des Landes- SS (RuSHA), gleichzeitig Leiter des Rassehygieneamtes wohlfahrtsverbandes Hessen im Philippshospital der Reichsführerschule der SA in München. Wechsel Riedstadt. nach Thüringen: 1933 Präsident des Thüringischen 41 Auskunft der Verbandsgemeinde . Landesamtes für Rassewesen in Weimar, 1934 Ernen- 42 Auskunft der Verbandsgemeinde Alzey-Land. nung zum ordentlichen Professor an der Medizinischen 43 Auskunft der Verbandsgemeinde Westhofen. Fakultät Jena mit eigenem Institut (ab 1935 Institut für 44 Gedenkbuch der Gedenkstätte Hadamar, Landeswohl- menschliche Erbforschung und Rassenpolitik«. 1936 fahrtsverband Hessen. Leiter des Gesundheits- und Wohlfahrtswesens 45 Sippentafel 104 der LHPA Alzey, Archiv der RFK. Thüringen berufen.1939 Rektor der Universität Jena. 46 Auskunft der Verbandsgemeinde Westhofen. Mitherausgeber von »Volk und Rasse«. 1940 Abgeord- 47 Von den rund 720 Sterbefällen des Kalmenhofs waren neter im Thüringischen Staatsrat. Erschoss sich am 3. 450 Kinder und Jugendliche. In: Heinz Faulstich: April 1945 in seinem Dienstzimmer. Quelle: Wikipedia. Hungersterben in der Psychiatrie 1914 – 1949. Freiburg 24 Heinrich Wilhelm Kranz, (1897 – 1945): 1934/35 Lehrauf- 1998, Seite 554. trag für Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik an der Universität Gießen, Beauftragter des Aufklärungsamtes Nationalsozialistische Sparpolitik für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege der NSDAP, 48 Landesverwaltungsrat Fritz Bernotat, Wiesbaden, ab Gau Hessen, später Gauamtsleiter des Rassenpoliti- 1937 verantwortlich für die nassauschen Anstalten schen Amtes der NSDAP Hessen-Nassau, Leiter der Eichberg, Hadamar, Herborn und Weilmünster, in Abteilung für Erbgesundheit und Rassenpflege der einem Referat über »Sparmaßnahmen in den Heil- und Hessischen Ärztekammer, Bezirksstelle Gießen, Mitglied Pflegeanstalten« im September 1937 in München, zitiert des Hess. Ehrengerichts und des Hess. Erbgesundheits- nach Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie obergerichts in Darmstadt. Amtsleiter der KVD Gießen, 1914 bis 1949. Freiburg 1998, S. 117 Vorsitzender der Hess. Ärztekammer, Bezirksstelle 59 Scherer/Linde/Paul: Die Heil- und Pflegeanstalt Gießen. 1939 Rektor der Universität Gießen, Nachfolger Kingenmünster 1933 – 1945. 1998. S. 22 von Verschuer am Klinikum Frankfurt, 1945 Rektor der 50 a.a.O., S. 25 Frankfurter Universität. Tod auf der Flucht April 1945. 51 Aus: Arbeit und Weltanschauung. Blätter zum national- 25 Verfügung des Hess. Staatsministers über Aufnahme sozialistischen Denken und Handeln. Beilage zu: Der

| 99 deutsche Nahrungsmittelarbeiter. Folge 14 vom 18. 81 Sabine Trosse: Planvoll und in bürokratischer Ordnung. September 1935, 105 – 111, zitiert nach Leben und Sterben im Philippshospital während des Kaiser/Nowak/Schwarz, a.a.O., S. 158. Nationalsozialismus. in: Haltestation Philippshospital, 52 Faulstich, S. 117 Marburg 2004, S. 265 f. 53 Faulstich, S. 154 82 Heinz Faulstich, S. 380 54 Peter Sandner: Die Landesanstalt Hadamar 1933 – 1945 83 Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Hadamar- als Einrichtung des Bezirksverbandes Nassau (Wiesba- Prozess, Bestand 461 Nr. 32061 und Eichbergprozess, den). in: Hadamar: Heilstätte - Tötungsanstalt – Bestand 461 Nr. 32442. Therapiezentrum. Hg. von Uta George, Georg Lilien- 84 Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische thal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christina Vanja. Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten. Begleitband Marburg 2006. S. 140 f. zur Ausstellung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen 55 Faulstich, S. 120, S. 128 (Hrsg.): Historische Schriftenreihe, Kataloge Band 1. 56 Faulstich, S. 236 85 Justiz und NS-Verbrechen Nr. 011, S. 144. 57 Ordentlicher Haushalt, Sonder-Haushaltsplan für 1944. 86 Dr. med. Werner Schlotmann, Jahrgang 1907, seit 1933 Nr. 43 des Aktenbandes Chronik I der RFK Alzey. als Medizinalrat an der Landes-Heil- und Pflegeanstalt 58 RGBl. I Nr. 118 vom 07.07.1939 und Patientenakte H., Alzey. Nach Angaben des Bundesarchivs Berlin, Kartei Johanna der Reichsärztekammer, Mitglied der NSDAP und der 59 Faulstich, S. 136 SA. Dr. Schlotmann wurde nach der Pensionierung von 60 Ernst Klee, »Euthanasie« im NS-Staat, S. 88 Dr. Peters am 1.4.1967 Direktor der Klinik bis zu seiner 61 Aufnahmen im Tagebuch Nr. 6, Mai 1938 und Januar Pensionierung am 30.9.1970. 1939 62 Faulstich, S. 139 Umwidmungen der LHPA Alzey 1941 bis 1945 63 Sterberate: Prozentsatz der Verstorbenen zur Gesamt- 87 Bundesarchiv Bestand R 96 I Nr. 15 zahl der in einem Jahr behandelten Patienten (Aufnah- 88 Ordentlicher Haushalt, Kapitel 15, A. Sonder-Haushalts- mebestand Ende des Vorjahres plus Zugänge), plan der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey. In: Faulstich S. 139 u. 752. Chronik der LNK I, Nr. 43 64 Eigene Ermittlungen, siehe Tabelle, und Faulstich S. 155. 89 Chronik der LNK I, Akte Nr. 41 65 Patientenakten Alzey, Jahrgänge 1939, 1940 verstorbene 90 Recherchen im Militärarchiv Freiburg Männer, verstorbene Frauen, im Landesarchiv Speyer. und im Bundesarchiv Berlin. 66 Klee, a.a.O., S. 89 91 LNK-Chronik Band I, Nr. 44 67 Faulstich, S. 132 f. 68 Faulstich, S. 135 Opfer und Opfergruppen der nationalsozialistischen 69 Tagebuch Nr. 7, September 1939 Psychiatrie in Alzey und Rheinhessen 70 Patientenakte R., Band 318 92 Arbeitsgruppe NS-Psychiatrie in Alzey (Renate Rosenau, Gunda John, Hedi Klee) in Zusammenarbeit mit der Patienten-Sammeltransporte (keine Anmerkungen) Rheinhessen-Fachklinik Alzey (Dr. Wolfgang Gather, Karl Horn) und dem Museum der Stadt Alzey (Dr. Rainer Verlegen, bis sich die Spur verliert. Die Tötung lebens- Karneth und Dr. Eva Heller-Karneth). unwerten Lebens 1939 bis 1945 93 Aufgrund des Landesdatenschutzgesetzes Rheinland- 71 Die Kanzlei des Führers der NSDAP (KdF), Parteiorga- Pfalz nur mit dem ersten Buchstaben des Familien- nisation der NSDAP, Berlin, Leitung Philipp Bouhler, namens. Foto siehe Seite 67 nicht zu verwechseln mit Reichskanzlei, Präsidialkanzlei 94 Siehe Kapitel 6, S. 84 und anderen Parteikanzleien. 95 Runderlass des Reichsministers des Innern, IV b 72 Hartheim-Statistik. In: Faulstich S. 262; Wert des 3088/39-1079. Vom 18. August 1939. Lebens. Begleitpublikation zur Ausstellung des Landes 96 Jüdische Mischlinge in Fürsorgeerziehung wurden in Öberösterreich in Schloss Hartheim. Linz 2003, S. 124 Hadamar konzentriert und ermordet. Nach Zeugen- 73 Das Gesetz wurde nicht verabschiedet. aussagen waren sie gesund. Hadamarprozess, HHStA 74 »Nicht in den Bereich des Strafrechts gehört die Wiesbaden Bestand 461/32061, Akten 1 und 2, p. 145 Sterbehilfe, denn die Volksgemeinschaft ist nicht so Jüdische Mischlinge erbarmungslos, dem unheilbar Kranken und dem 97 Peter Sandner: Verwaltung des Krankenmordes. Gießen Sterbenden sein leben und seine Qual gegen dessen 2003, S. 684 Willen aufzuzwingen.« In. Die nationalsozialistischen 98 Sandner, a.a.O., S. 685 Leitsätze für ein neues deutsches Strafrecht, herausge- 99 Vergleich der Ostarbeiter-Liste aus dem Nürnberger geben von Reichsleiter Dr. Hans Frank. Bundesarchiv Ärzteprozess, Dokument 3/02272, mit der von der Bestand R 96I-2, Blatt 128103. Arbeitsgruppe NS-Psychiatrie erstellten Liste der 75 Bundesarchiv Bestand R 96 I Nr. 6, Übersicht über die Fremdarbeiter und Ostarbeiterinnen der LHPA Alzey. Versendung der Meldebögen an die psychiatrischen 100 Nürnberger Ärzteprozess, Dokument No. NO-731, Anstalten im Deutschen Reich. 02292. 76 Siehe dazu: Hedi Klee: Von »nicht zu beschäftigen« bis 101 Sander, Verwaltung des Krankenmordes, S. 686. »arbeitet fleißig«. In: Haltestation Philippshospital. Ein 102 Der Reichsminister des Innern, Schnellbrief an den psychiatrisches Zentrum - Kontinuität und Wandel. Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau, Kassel, 1535 – 1904 – 2004. Hg. Von Irmtraud Sahmland, Betr. Verlegung geisteskranker Juden vom 30. August Sabine Trosse, Christine Vanja, Hartmut Berger, Kurt 1940. Zitiert in: Euthanasie in Hadamar. Die nationalso- Ernst. Marburg 2004. S. 225 f. zialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten. 77 Bundesarchiv, Bestand R 179 Kanzlei des Führers Kassel 1991. 78 Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische 103 Ortsteil von Bendorf/Rhein bei . Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten. Begleitband 104 Dietrich Schabow. Zur Geschichte der Juden in Bendorf. zur Ausstellung des Landeswohlfahrtsverbandes Hrsg. Hedwig-Dransfeld-Haus e.V., Bendorf/Rhein. Hessen. Eigenverlag 1991, S. 98 1979. 79 A.a.O., S. 96 80 a.a.O., S. 35

100 | 1933 – 1945

Der Ingenieur und Physiker Georg Meyer wurde unmittelbar nach Kriegsende von der amerikanischen Mili- tär-Regierung vorübergehend zum Direktor der zum damaligen Zeitpunkt zusammengelegten Kliniken, der Heil- und Pflegeanstalt Alzey und des Kreiskrankenhauses Alzey, ernannt. Im Oktober 1945 verfasste er einen persönlichen Erinnerungsbericht über diese Zeit – ein Dokument, das bis heute erhalten ist und einen Einblick in die Lebensumstände und die Schwierigkeiten zum Erhalt eines funktionsfähigen Krankenhaus- betriebes im Jahre 1945 vermittelt.

Auszüge aus dem Erinnerungsbericht über die vorübergehende Tätigkeit als Direktor der Heil- und Pflegeanstalt und des Kreiskrankenhauses Alzey von Georg Meyer

Als einer von vielen, die am 27. Februar 1945 in Männern und 30 bis 35 Frauen und Mädchen – alles Mainz ihr Heim und den Platz ihres Berufes verlo- Russen – eine brutale Herrschaft ausübte. Der Alex ren hatten, fand ich Anfang März bei Freunden in war zusammen mit zwei russischen Kollegen als Hilfs- Alzey Aufnahme und Unterkunft. Das Kreiskranken- arbeiter beim deutschen Lazarett tätig gewesen, welches haus war im Januar 1945 auf das Gelände der Heil- Mitte März von Alzey abrückte. Mit der Behauptung, und Pflegeanstalt verlegt worden. Aus der Beauftra- er wäre zum Direktor ernannt worden, spielte er sich gung und aus anderen Quellen war ersichtlich, dass dem gesamten Personal und den Ärzten gegenüber dort ganz schlimme Zustände herrschen mussten, und als solcher auf und unterstützte dieses Aufspielen nicht ich hatte das Bewusstsein: Schon wieder wie schon selten durch Drohung mit dem Revolver. so manches Mal in Deinem Leben stellt Dich das Einige nützliche Arbeiten ließ er durch seine Leute Schicksal vor die Aufgabe, in Ordnung zu bringen, machen, dazu hatte er sich gewisse Schlüsselstellun- was verfahren ist, zu helfen wo Not am Mann ist. gen ausgesucht, und er verstand es, damit nach außen Die Aufgabe hatte Reiz an sich schon. Daneben stand hin den Eindruck zu erzeugen, dass von ihm die Funk- die selbstverständliche Pflicht, in diesen schweren tion des Betriebes absolut abhinge. Aber die wesent- Stunden sich für seine Mitmenschen einzusetzen, liche Tätigkeit bestand doch im Stehlen von Bestän- wo und wie es auch sei, so eigenartig es im übrigen den der Anstalt an Wäsche, Stoffen, Decken, Schu- auch berühren musste, als Ingenieur und Physiker hen, Nahrungsmitteln usw, immer mit dem Revolver plötzlich Chef einer Krankenanstalt, als Mann der im Hintergrund. Nach und nach vergrößerte sich freien Industrie plötzlich Chef eines Beamtenkör- das Konsortium auf die oben genannte Zahl und pers zu sein. jeder neu hinzukommende wurde neu ausstaffiert. Am Vormittag des 16. April 1945 wurde ich vom Die zur Anstalt gehörigen Schneider- und Schuh- amerikanischen Kommandanten den beiden Direkto- macherwerkstätten mussten ausschließlich für diese ren, Dr. Schlapp von der Heil- und Pflegeanstalt und Leute arbeiten. Dr. Becker von Kreiskrankenhaus, als ihr Vorgesetz- Auf dem umliegenden Lande wurde auch an Lebens- ter vorgestellt, am Nachmittag begann ich meinen mitteln und Wein in großem Umfange »requiriert«, Dienst. und damit wurden dann Gelage gefeiert, die Tag und Die Zustände, die ich dort vorfand, rechtfertigten Nacht nicht aufhörten, und zu denen Lärm, Tanz, in der Tat eine von der Regel abweichende Maßnahme. Betrunkenheit die kennzeichnenden Stichworte sind. Zum Direktor der Anstalt hatte sich ein Russe namens In die Räume, die diese Leute bewohnten, traute sich Alexander Roskoschny – genannt Alex – aufgeschwun- vom legitimen Anstaltspersonal niemand hinein, kaum gen, der mit seinem Stabe bestehend aus etwa 8 auf die zugehörigen Korridore. Alex stellte mir zwei-

| 101 mal im Abstand von zwei Tagen seine Frau vor, es mussten farbige Abzeichen getragen werden. Für die war aber das zweite Mal eine andere. Anstaltsbesucher ließ ich besondere Merkzettel Gestohlen wurde nicht nur zum Eigenbedarf, drucken, ich musste einen Pförtnerdienst wieder sondern vieles wurde in großen Bündeln aus dem einrichten, einen Geländeaufseher einstellen usw. Anstaltsgelände herausgebracht, vielleicht verkauft, Aber die gegenwirkenden Kräfte waren sehr groß. vielleicht gegen Wein getauscht oder dergleichen. Die Amerikaner hatten reichlich und gut zu essen und Das legitime Personal war in kaum vorstellbarer Weise zu rauchen, und vieles, was dort in den Abfall wanderte, eingeschüchtert und handlungsunfähig. Kein Wunder, wurde von unseren Kranken und von der Bevölkerung dass mein Erscheinen anfangs ebenfalls mit dem gern noch verwertet. Auch waren die einzelnen Solda- Misstrauen begrüßt wurde: auf welche Weise wird ten freigiebig, so dass es nicht nur die Abfälle waren, der uns nun noch weiter ausplündern? die anlockten. Umgekehrt waren die Amerikaner wie ... Nach vielen Schwierigkeiten bei der amerikani- versessen auf Wein, obgleich sie ihn gar nicht vertru- schen Kommandantur setzte ich endlich durch, dass gen, sondern meist nach einem Glas schon betrun- die gesamte Russengesellschaft zwangsweise abtrans- ken waren. So hatte sich ein Tauschhandel ent- portiert wurde. Schwierig deshalb, weil die Amerika- wickelt, der unterbunden werden musste, denn die ner Hemmungen hatten, ihren Verbündeten das anzu- Lazarettleitung wollte jeglichen Wein von den Solda- tun. Mir stellten sie immer wieder vor, wie weitge- ten fernhalten. hend sie mich persönlich verantwortlich machen ... Vor meinem Eintritt hatte auf Befehl der Komman- würden, wenn irgend etwas versagen sollte, denn ein dantur 50% des Anstaltspersonals zwecks Entlastung großes amerikanisches Lazarett war auf dem Grund- der Finanzen und zwecks Verminderung des Perso- stück einquartiert. Ich nahm das auf mich. Der Abtrans- nenverkehrs auf dem Gelände entlassen werden port erfolgte am 20. April. müssen, am 31.3.45 waren die Entlassungsschreiben ... Die Amerikaner hatten scharfe Anordnung, sich ausgefertigt, gingen aber erst etwas später heraus. Um gegen die deutsche Bevölkerung aufs nachhaltigste geordnete Verhältnisse zu schaffen, d.h. um die noch getrennt zu halten, und ich hatte in Erfüllung dessen vorhandenen Werte nach Möglichkeit vor weiterer die Aufgabe, den Verkehr auf dem Anstaltsgelände Entwertung zu bewahren, und um den Anforderun- so zu regeln, dass kein Deutscher ins amerikanische gen, die das amerikanische Lazarett stellte, gerecht und kein Amerikaner ins deutsche Gebiet kommen zu werden, war es nötig, einiges von dem entlasse- durfte, ausgenommen zu rein dienstlichen Verrich- nen Personal nach und nach wieder einzustellen. tungen. Dieses durchzuführen war außerordentlich ... Schon die Versorgung mit Heizungsdampf, Warm- schwer, und ich musste mir gestehen, dass es wohl wasser, elektrischem Licht und Wäschereinigung in ausreichend, aber mit der gewünschten Ausschließ- dem verlangten Umfang erzwang einen gewissen lichkeit überhaupt nicht gelungen ist. Ich ließ einen Bestand an Personal. Dann kam aber noch erschwe- Trennungszaun bauen, ließ farbige Wegmarkierungen rend hinzu, dass die vorhandenen Einrichtungen von anbringen, von den verkehrsberechtigten Personen den amerikanischen Soldaten vielfach mit einer für

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uns einfach unvorstellbaren Unvernunft gehandhabt Jedes neu einziehende Lazarett hat immer sofort und dadurch zerstört wurden; und so ein Bedarf an verschließbare Räume verlangt. Noch nicht ein Mann Reparaturen entstand, wie er sonst vielleicht zu einer oder ein Offizier hat je auch nur einen Schlüssel zurück Stadt von 40.000 Einwohnern im richtigen Verhält- geliefert, wenn er abzog. Und kein neu Ankommen- nis stehen würde. Wasserhähne, Wasserabflüsse, Bade- der kann begreifen, dass die Anstalt keine Schlüssel einrichtungen, Dampfheizungsventile, Telefonappa- hat. Es geht weit in die Hunderte, was an Schlüsseln rate, Abortanlagen, Türschlösser mussten wie am hier hat angefertigt werden müssen. laufenden Band repariert werden. Steckdosen, Tele- ... Ganz groß ist auch der Schaden durch Diebstähle. fone, Beleuchtungskörper mussten immer wieder neu Diese haben sich keineswegs darauf beschränkt, dass installiert werden. sich die einzelnen Mannschaften in ihrem persön- Geradezu unheimlich war der Energiebedarf der lichen Gepäck mitnehmen, was ihnen gefiel. Die amerikanischen Lazarette. Und dieser traf nun hier ganzen Truppenabteilungen haben Diebstähle Im ausgerechnet zusammen mit einem Areal, welches Großen durchgeführt. Vieles wurde auch durch die in dieser Hinsicht so dürftig bestellt war wie man es Kommandanturen offiziell requiriert. sich nur denken kann. Beim Bau der Anstalt gab es ... Als die Amerikaner mein Wirken in der Anstalt kein Elektrizitätsnetz in erreichbarer Nähe, man musste verfolgten, habe ich stets ihre uneingeschränkte Zu- den Strom aus Kohle über Dampfkessel, Dampfma- stimmung gefunden, und zwar – was hier die Haupt- schine und elektrischem Generator selbst erzeugen, sache ist – auch da, wo ich mich zu Gunsten deut- und unglücklicher Weise verfiel man damals auf Gleich- scher Interessen gegen die amerikanischen einset- strom und dazu auch noch auf 110 Volt Gebrauchs- zen musste. spannung. So kam es, dass man, als später der An- Ich fand Verständnis für meine Sorgen und konnte schluss an ein großes Festnetz, das natürlich Dreh- umso leichter auch Verständnis für deren Schwierig- strom führte, möglich wurde, diesen erst umformen keiten aufbringen. Ich sah ja auch, dass man sich musste, um die Energie überhaupt im Lichtnetz der bemühte, alle Ansprüche in vernünftigen Grenzen Anstalt verwertbar zu machen. Und nun war es das zu halten. Das wirkte sich dahin aus, dass man mich dritte Unglück, dass man unter den verfügbaren mit der Beschaffung von Material unterstützte durch Umformertypen den Quecksilberdampf-Gleichrich- Zurverfügungstellen von Wagen; dass man mir Reise- ter wählte. Die Dampfmaschinen und Generatoren bewilligungen ausstellte, ohne jede Rückfrage oder blieben als Reserve jederzeit sofort einsatzfähig. sonstige Schwierigkeit; auch erhielt ich Ausweise, Man muss sich vergegenwärtigen, dass von März mit amerikanischen Militärwagen zu fahren usw. Bei bis Anfang Juli amerikanische Lazarette nacheinan- meinen Vorsprachen auf der Kommandantur brauchte der auf dem Anstaltsgrundstück einquartiert waren, ich nie im Vorraum zu warten, für mich stand man und danach kamen die französischen Lazarette, von stets sofort zur Verfügung. So entwickelte sich eine denen nun auch schon das dritte hier ist. Jedes rich- Zusammenarbeit, die man fast mit »freundschaftlich« tet sich anders ein. bezeichnen könnte. π

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Teil V – Konzeptionen zur zeitgemäßen Versorgung psychisch Kranker im Jahr des 100-jährigen Bestehens der Rheinhessen-Fachklinik Alzey, vormals Landesnervenklinik

Dr. med. Wolfgang Guth

Die Versorgung psychisch Kranker und hier vor allem in die Tötungsanstalt Hadamar verbracht. Zu deren der chronisch Kranken war und ist ein Prüfstein, an Gedenken wurde mit Unterstützung des Vereins für dem sich die Humanität und Kultur einer Gesellschaft Gemeindenahe Psychiatrie 2005 ein Mahnmal im messen lassen muss. Klinikgelände errichtet. Im Hinblick auf diese Vorgabe war unsere Gesell- Auch in der Nachkriegszeit bis in die 60er, 70er schaft in weiten Strecken eher inhuman. Ganz extrem Jahre hinein hat sich unsere Gesellschaft, was die gilt dies für die Gräuel des Naziregimes gegenüber Betreuung psychisch Kranker angeht, nicht gerade psychisch Kranken, die so unfassbar sind, so unvor- hervorgetan. Es bestand eine duale Versorgung auf stellbar, aber dennoch Realität waren. der einen Seite ambulant durch den niedergelasse- Ende Oktober 1939 hatte Hitler nach zunächst nur nen Nervenarzt, auf der anderen Seite stationär durch mündlich erteilter Tötungsbefugnis in einem priva- psychiatrische Großkliniken, die zum Auffangbecken ten Brief seinen »Gnadentod-Erlass« verfasst und auf wurden für alle Menschen, die mit der Gesellschaft den 1.9.1939 zurück datiert. Es begann die so genannte nicht mehr zurecht kamen oder umgekehrt. Die T4-Aktion, an deren Ende ca. 70.000 chronisch Universitätskliniken unterwarfen sich keiner Versor- psychisch Kranke in zentralen Tötungsanstalten ermor- gungspflicht, behandelten ausgewählte Patienten unter det worden waren. Etwa weitere 200.000 hat man in Hinweis auf die Forschung. Die psychiatrischen Groß- den Kliniken schlicht verhungern lassen. Auch von kliniken waren überfüllt, die räumlichen Verhältnisse Alzey aus wurden in der damaligen Zeit ca. 450 Kranke katastrophal, die Personalausstattung gemessen an

| 105 dem, was auch schon zu diesem Zeitpunkt hätte reichen von Depression wegen nicht verarbeiteter fami- gemacht werden müssen, geradezu ein Hohn. Viele liärer, beruflicher oder sonstiger Konflikte über Störun- heute noch resultierende Vorurteile haben hier für gen des Hirnstoffwechsels, die zu schizophrenen die damalige Zeit durchaus ihre realistische Wurzel. oder bipolaren Psychosen führen, über alle möglichen Die hier nur kurz geschilderten katastrophalen Arten von Suchten, vom Heroin bis zum Alkohol, über Zustände führten zu einer Untersuchungskommis- psychische Störungen aufgrund bekannter organischer sion des Deutschen Bundestages, die 1975 die so Erkrankungen wie Entzündungen, Tumoren usw. bis genannte Psychiatrie-Enquete veröffentlichte, welche hin zu den besonderen Problemen der älteren Gene- die »Jahrtausendwende« in der deutschen Psychia- ration, Verwirrtheitszuständen und psychischen Störun- trie darstellt. Zum ersten Mal tauchen Begriffe wie gen aufgrund altersbedingter verminderter Blutzufuhr Gleichheit zwischen psychischen und somatischen zum Gehirn, verringerter Herzleistung oder einfach Erkrankungen, Begriffe wie Gemeindenähe und Reha- Abbau von Hirnzellen (Stichwort: Alzheimer Demenz). bilitation auf. Ab Mitte 1999 komplettierte sich das Angebot der Die flächendeckende Umsetzung dieser in der Rheinhessen-Fachklinik durch eine Abteilung für Psychiatrie-Enquete geforderten Veränderungen ließ Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, lange auf sich warten. seit 2003 ist die Abteilung für Kinderneurologie in die Rheinhessen-Fachklinik eingegliedert. Durch den Zitat aus einer Informationsschrift des Landesamtes Ausbau der neurologischen Abteilung incl. Stroke Unit für Jugend und Soziales Rheinland-Pfalz aus dem Jahr und Frührehabilitation werden darüber hinaus alle 1977 zur Landesnervenklinik Alzey: neurologischen Krankheiten behandelt. »Zur Sicherung einer ausreichenden Versorgung Das Spektrum ist äußerst weit, ein paar Zahlen der Bevölkerung in den 3 großen psychiatrischen Klini- hierzu: Jeder 3. Bundesbürger macht in seinem Leben ken im Lande, Landesnervenklinik Andernach, Landes- eine psychiatrisch behandlungsbedürftige Krise durch, nervenklinik Alzey, Pfälzische Landesnervenklinik ist jeder 10. wird psychiatrisch behandelt. Innerhalb eines diesen Kliniken jeweils ein Pflichtaufnahmegebiet Jahres sind 6 – 8 Millionen Bundesbürger psychia- zugeordnet. Die Pflichtaufnahmegebiete entsprachen trisch behandlungsbedürftig; es ist also in keinem ursprünglich den Grenzen der drei Fürsorgeverbände. Fall die Rede von irgendeiner Randgruppe, die irgend- Sie sind jedoch 1968 neu festgelegt worden. Das Pflicht- wo hinter Mauern ein »irres« Leben führt. Die psy- aufnahmegebiet der Landesnervenklinik Alzey umfasst chisch Kranken sind mitten unter uns, unter unse- eine Wohnbevölkerung von rund 840.000 Einwoh- ren Freunden, Bekannten und Angehörigen. nern«. Die WHO stellt in ihrem World-Report 2001 fest, Von Gemeindenähe konnte also keine Rede sein. dass die Depression mit annähernd 12% die weltweit Die schleppende Umsetzung der Enquete-Forderun- führende Ursache für durch Behinderung beeinträch- gen führte aber auch dazu, dass eine ganze Genera- tigte Lebensjahre darstellt. Unter den 10 wichtigsten tion sozialpsychiatrisch orientierter Psychiater sich Erkrankungen befinden sich außerdem Alkoholerkran- dieser Umsetzung annahm und je nach Bundesland kungen, Schizophrenien und bipolare Erkrankungen. mehr oder weniger mit Hilfe der zuständigen Politi- Berechnungen der Weltbank und der Harvard Univer- ker verwirklichte. Einen weiteren Fortschritt in der sität ergeben, dass im Jahr 2050 5 psychische Störun- Entwicklung brachten dann die Ergebnisse der Exper- gen unter den 10 wichtigsten Erkrankungen rangie- tenkommission von 1988, die die Basis auch unse- ren. Dies spiegelt sich natürlich auch in den Daten res gemeindepsychiatrischen Konzeptes darstellen. der Bundesrepublik Deutschland wider.

Die Betroffenen Ein paar genauere Daten zur Volkskrankheit Depres- Die Krankheiten, die wir unter dem Sammelbegriff sion seien noch genannt: des psychisch Krankseins subsumieren, sind so ver- Nach entsprechenden Untersuchungen leiden etwa schieden, dass man sie eigentlich gar nicht zusammen- 4 Millionen Bundesbürger, manche Schätzungen gehen fassen kann. Über 5800 Menschen kommen im Jahr sogar bis zu 15 Millionen, derzeit an Depressionen zur Aufnahme in das psychiatrisch-neurologische und – das ist das Entscheidende – nur etwa 10% davon Zentrum hier in Alzey. Die psychischen Störungen werden richtig behandelt. Dies hat dazu geführt, dass

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in Nürnberg in Zusammenarbeit mit der Universität 1. Die Phase der Differenzierung, München ein Kompetenznetz Depression entstan- 2. die Phase der inneren Sektorisierung, den ist mit der Zielsetzung einer breiten Informa- 3. die Phase der Verkleinerung auf ein tion über die Depression und vor allen Dingen deren vernünftig regional orientiertes Maß. Behandlungsmöglichkeit. Es geht darum, insbeson- dere aufzuzeigen, dass die mit Vorurteilen und Schwel- Nach diesem Schema vollzog sich auch die Entwick- lenängsten behaftete psychische Störung Depression lung der RFK Alzey in den letzten Jahren. Dazu in der Regel gut zu behandeln und eben bei entspre- zunächst einige Zahlen: chender Behandlung viel menschliches Leid und letz- tendlich auch volkwirtschaftlicher Schaden zu vermei- 1977 hatte die Klinik etwa 830 Betten in der Erwach- den ist. Von der Rheinhessen-Fachklinik ausgehend senenpsychiatrie, 60 Betten in der Neurologie wurde diese Idee aus Nürnberg übernommen und das sowie 60 Betten in der Kinder- und Jugend- für Rheinland-Pfalz erste Kompetenznetz Depression psychiatrie. im Kreis Alzey-Worms gegründet. Neben vielen Infor- 1983 waren es 760 Betten in der Erwachsenenpsy- mationsveranstaltungen wurde in diesem Kompetenz- chiatrie, die Kinder- und Jugendpsychiatrie war netz ein Informationsblatt erarbeitet, welches mehr- zwischenzeitlich stillgelegt. fach aufgelegt und an alle Einrichtungen des Kreises 2007 waren durchschnittlich etwa 244 Betten in den wie Krankenhäuser, Arztpraxen, Apotheken, Schu- Stationen der Erwachsenenpsychiatrie belegt. len, Behörden etc. verteilt wurde. Dazu kommen etwa 100 Heimplätze noch auf Im Rahmen dieses Kompetenznetzes existiert auch dem Klinikgelände. Des Weiteren waren 40 ein Krisentelefon für Betroffene und Angehörige, Betten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, besetzt durch Mitarbeiter des Sozialdienstes der Klinik. 71 Betten in der Neurologie und Neurologischen Früh-Rehabilitation und 15 in der Kinderneu- Derzeitige Situation rologie durchschnittlich belegt. Im Repertoire Die Entwicklung einer zeitgemäßen psychiatrischen enthalten ist selbstverständlich die forensische Versorgung ist bundesweit, spätestens seit den Exper- Abteilung mit 66 belegten Betten. tenkommissionsempfehlungen von 1988, geprägt durch folgende Schlagworte: Die Verringerung der psychiatrischen Patientenzahl 1. Verlagerung der stationären Therapie von einem auf dem Gebiet der Rheinhessen-Fachklinik ist entstan- Großkrankenhaus auf regionale Versorgungsklini- den durch die Einrichtung von gemeindenahen Abtei- ken lungen, hier vorwiegend Idar-Oberstein und Simmern, 2. Aufbau teilstationärer und ambulanter Versorgungs- sowie die Übernahme der Versorgungspflicht für die angebote als Alternative zur stationären Versorgung Stadt Mainz durch die Uni-Klinik Mainz. Darüber 3. Enthospitalisierungsangebote für Langzeitpatienten hinaus ist zu erwähnen die Einrichtung von außer- und Übergang ins Betreute Wohnen und kleinere klinischen Betreuungsformen wie Betreutes Wohnen, Heimeinrichtungen Tagesstätten und Tageskliniken im Rahmen der Umset- 4. Regionale Pflichtversorgung aller beteiligten Insti- zung der Sozialpsychiatrie. Das Einzugszugsgebiet hat tutionen sich von 840.000 Einwohnern 1976 auf ca. 450.000 5. Schaffung von kommunalen Verbünden und Umset- in 2007 verringert. Als Kompensation wurden in der zung des persönlichen Budgets für alle chronisch Klinik weiterhin neue Angebote errichtet wie z.B. psychisch Kranken Kinder- und Jugendpsychiatrie, Neurologische Früh- rehabilitation, Stroke Unit sowie Kinderneurologie. Die hier nur grob formulierten Schlagworte bilden Die Zahl der Aufnahmen verdreifachte sich etwa, die Grundlage der Entwicklungsplanung aus Sicht dementsprechend verringerte sich die Dauer der der Rheinhessen-Fachklinik für die von ihr versorg- Behandlung im Zeitraum von 1983 bis 2007 von 61 ten Gebiete. Grundsätzlich vollzieht sich vor allem in auf durchschnittlich 22 Tage, die Personalausstat- sozialpsychiatrisch ausgerichteten Großkliniken in den tung stieg von 420 Vollkräften 1983 auf 613 Voll- letzten Jahren ein Wandel, der sich mit 3 Phasen kräfte in 2007, eben auch aufgrund der neuen Ange- beschreiben lässt: bote. Durch die Budgetierung und die nicht den realen

| 107 Kosten entsprechende Finanzierung ist die Personal- wurde im Akutbehandlungsbereich Allgemeinpsychi- situation auch heute noch durchaus nicht optimal, atrie das Aufnahmegebiet in 2 Subsektoren unter- dennoch werden immer mehr Patienten in immer teilt, diesen Subsektoren jeweils eine geschlossene und kürzeren Zeiten behandelt. eine offene Aufnahmestation zugeordnet. In diesen Zahlen dokumentiert sich deutlich die Im Langzeitbereich, jetzt Heimbereich der Klinik Entwicklung von der Anstalt zur Fachklinik. Der Über- – historisch gesehen ein Sammelbecken für alle psychi- gang der früheren Landesnervenklinik in die Träger- atrischen Pflegefälle, lange Zeit vernachlässigt, mit schaft des Landeskrankenhauses – Anstalt des öffent- hohem Verwahrcharakter infolge mangelnder perso- lichen Rechtes – hat in dieser Entwicklung, vor allem neller Ausstattung und unzumutbaren baulichen Gege- was den Aufbau teilstationärer Einrichtungen in Träger- benheiten – begannen wir bereits 1985 mit der Enthos- schaft der Klinik angeht, einen erheblichen Fort- pitalisierung von Langzeitpatienten und dem Aufbau schritt gebracht. von Betreutem Wohnen. Nachdem wir gesehen hatten, Als der Verfasser die ärztliche Leitung der Klinik dass vor allem im Anschluss an die Psychiatrie-Enquete in Alzey 1984 übernahm befand sie sich gerade im 1975 aus den psychiatrischen Großkliniken Langzeit- Beginn der Phase der Differenzierung. Diese Diffe- bereiche geschlossen in Großheime verlegt wurden renzierung weiterzuführen, erschien das zunächst – der erste große Fehler nach der Enquete –, wollten Wichtigste zur Verbesserung der Qualität der Versor- wir Patienten nur noch dann in Heime verlegen, wenn gung. Die Klinik wurde damals in 6 nach diagnosti- ein Versuch des Betreuten Wohnens vorher geschei- schen und therapeutischen Kriterien definierte Abtei- tert war. lungen gegliedert, nämlich der Akutabteilung, der mittelfristigen Abteilung, der gerontopsychiatrischen Abteilung, der forensischen Abteilung, der neurolo- gischen Abteilung sowie der Langzeitabteilung, jetzt Heimbereich. Analog zur schrittweise erreichten Verbesserung im personellen Bereich erfolgte ein diffe- renzierteres therapeutisches Angebot. Entsprechend den sukzessiv erfolgten baulichen Veränderungen konnten die meisten Stationen, auch die geschlosse- nen Stationen, gemischtgeschlechtlich belegt und immer mehr Stationen offen geführt werden. Auch die beiden Kernstationen im Akutbereich, seit Anbe- ginn geschlossen, wurden nun in zunehmendem Maße geöffnet geführt. Haus Soonwald, Psychiatrische und heilpädagogische Heime Alzey Neben der Akutversorgung entstanden Spezialsta- tionen im gerontopsychiatrischen Bereich sowie zur Behandlung der von Chronifizierung bedrohten jünge- Über eine entsprechende Trainingsstation – schon ren schizophrenen Patienten und zur Behandlung von außerhalb der Klinik – wurden nun Patienten soweit Alkoholkranken mit schweren organischen Schädi- geschult, dass sie in angemieteten Wohnungen in gungen. Im weiteren Verlauf kam es zur Einrich- der Stadt wohnen konnten, von Mitarbeitern der Klinik tung einer Spezialstation für Patienten mit Doppel- weiter betreut im Rahmen der so genannten teilsta- diagnose (Psychose und Sucht). Entsprechend der tionären Pflege. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Veränderung der Patientenzusammensetzung kamen 1984 gegründete Hilfsverein der Klinik, der unter ande- im Akutbehandlungsbereich in immer größerem rem teilweise die Rolle der Zwischenvermieter für Umfang psychotherapeutische Verfahren zum Einsatz. die Wohnungen übernahm. 2007 wurden etwa 70 Die psychotherapeutische Qualifikation wird z.B. für Patienten in 40 Wohnungen betreut. Dazu kommen die Assistenzärzte und Psychologen der Klinik als seit 1999 Außenwohngruppen in Bad Kreuznach, selbstverständlich angesehen. Oppenheim und Bingen mit je 6 Wohn- und 12 Mitten in dieser Differenzierungsphase begann Tagesstättenplätzen. Eine identische Einrichtung ist in bereits die Phase der inneren Sektorisierung: zunächst Bad Sobernheim geplant.

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Weitere Umsetzung der gemeindepsychiatrischen Die früheren Großkrankenhäuser entwickeln sich Versorgung zu Behandlungszentren mit verschiedenen Fachrich- tungen u.a. eben auch regional versorgenden psychi- Wie oben schon erwähnt, nehmen wir für unsere atrischen Abteilungen. Oder wie es im Psychiatrieplan Planungen die Expertenkommissionsempfehlungen Rheinland-Pfalz von 2001 heißt: »Die Krankenhäu- von 1988 und des PsychKG Rheinland-Pfalz als Basis und versuchen, diese den regionalen Gegebenheiten angepasst in einem vernünftigen Maße umzusetzen.

Fangen wir mit den stationären Behandlungen an: Hier soll die ausschließliche Zentralisierung der statio- nären Behandlungen in psychiatrischen Großklini- ken einer gemeindenahen Behandlung in kleineren Einheiten weichen. In Übereinstimmung mit dem Psychiatrieplan des Landes Rheinland-Pfalz wurde das bisherige Einzugsgebiet der Rheinhessen-Fachklinik Alzey in 5 Versorgungsgebiete unterteilt:

1. Für die Stadt Mainz ist seit 1998 mit Pflichtversor- gungsauftrag die psychiatrische Universitätsklinik Haus Vorholz, Spezialstation Psychose und Sucht zuständig. 2. Der Kreis Birkenfeld wird durch die 1994 bereits errichtete psychiatrische Abteilung am Kranken- ser sind durch die Beschränkung auf die regionale haus Idar-Oberstein mit Aufnahmepflicht versorgt. psychiatrische Versorgungsverantwortung zu einer 3. Der Kreis Bad Kreuznach soll nach den neusten fachlich und wirtschaftlich vertretbaren Größe zu Empfehlungen des Krankenhausplanungsausschus- verkleinern.« Damit löst sich auch der mancherorts ses in 3 Versorgungsgebiete aufgeteilt werden und fast ideologisch ausgetragene unnütze Disput auf, was entsprechend durch die Klinik in Alzey sowie die denn nun besser wäre, das differenzierte Fachkran- Abteilungen in Simmern und Idar-Oberstein versorgt kenhaus oder die sektorisierte Fachabteilung. Der werden. Versorgungsauftrag ist schlicht der gleiche. Die psychi- 4. Der Rhein-Hunsrück-Kreis wird versorgt durch eine atrischen Abteilungen an den früheren Großkran- Abteilung am Krankenhaus in Simmern. kenhäusern und die psychiatrischen Abteilungen an 5. Die Klinik in Alzey bleibt dann zuständig für die den kommunalen Krankenhäusern sind in ihrem Kreise Mainz-Bingen, Alzey-Worms und die Stadt Versorgungsauftrag identisch. Worms sowie den östlichen Teil des Kreises Bad Kreuznach. Damit verringert sich die Zahl der Kommen wir zur teilstationären Versorgung und damit Einwohner des Pflichtaufnahmegebietes von als erstes zur Tagesklinik: 840.000 Einwohnern 1977 auf etwa 450.000. Laut Expertenkommission ist die Tagesklinik in ihrem Indikationsbereich als Alternative und als Ergän- Diese Aufteilung beinhaltet aus unserer Sicht noch zung zur vollstationären Krankenhausbehandlung zu die Möglichkeit, in allen 5 Standorten eine patienten- bezeichnen. Die Krankenhausbehandlung psychisch orientierte Differenzierung zu erhalten, erfüllt auf Kranker sollte daher in Tageskliniken erfolgen, wann der anderen Seite aber auch in vollem Maße die Forde- immer dafür die Voraussetzungen gegeben sind. Die rung der Regionalisierung und Gemeindenähe. Es Tagesklinik ist eine Behandlungseinrichtung ohne muss aber ganz deutlich gefordert werden, dass die Betten, in der die Patienten an 5 Tagen in der Woche psychiatrischen Abteilungen in der Region ihre Voll- 8 Stunden am Tag behandelt werden. Am Abend versorgungspflicht auch wahrnehmen, d.h. für alle und an den Wochenenden sind die Patienten zu Hause psychisch Kranken, auch die Schwerstgestörten ihrer oder in ihren Wohngemeinschaften. Sie verfügt über Region, zuständig sind. ca. 20 Plätze.

| 109 Gebäude der Tagesklinik Alzey Gruppengespräch in der Tagesklinik Alzey

Die Tagesklinik ist gedacht für psychisch kranke Wohnen die parallele Entwicklung von tagesstruktu- Patienten, die abends und am Wochenende allein oder rierenden Maßnahmen: sprich Tagesstätten. im Kreise ihrer Familien leben können und wollen, Unter Tagesstätten sind Einrichtungen zu verste- sie steht zwischen vollstationärer und ambulanter hen, die bei wochentäglicher Öffnungszeit einer Behandlung. Die Tagesklinik macht es möglich, eine Gruppe von schwer psychisch Kranken und Behin- seelische Erkrankung oder Krise zu behandeln ohne derten längerfristige beschäftigungs- und arbeitsthera- den Patienten aus seinem gewohnten häuslichen Milieu peutische Programme anbieten. Im Unterschied zur herauszureißen. Zweite Indikation: Nach einem länge- Tagesklinik gibt es hier keine Behandlung im eigent- ren Krankenhausaufenthalt oder nach Schaffung einer lichen Sinne, sondern eine den Defiziten der Behin- Wohngemeinschaft fühlen sich die Patienten oft dem derten angemessene lockere Tagesstrukturierung. Alltag noch in keinster Weise gewachsen. Hier über- Seit 1996 betreibt der Hilfsverein in Alzey eine Tages- nimmt die Tagesklinik Vermittlerfunktion und vor stätte »die Oase« mit 24 Plätzen. Eine weitere Tages- allem Übungsfeld für das Wiedererlernen und stätte befindet sich in Mainz. Ausbauen vorhandener Fähigkeiten. In Bad Kreuznach existiert seit Januar 1999 eine Derzeit bestehen Tageskliniken der Rheinhessen- Außenwohngruppe der Rheinhessen-Fachklinik Alzey Fachklinik in der Stadt Alzey sowie in der Koopera- mit angeschlossener Tagesstätte für 12 Patienten; glei- tion RFK/Rotes Kreuz in Bad Kreuznach und Worms. che Angebote sind in Trägerschaft der Rheinhessen- Des Weiteren existieren Tageskliniken in Mainz, Idar- Fachklinik in Bingen und Oppenheim eingerichtet Oberstein und Simmern, so dass an allen stationä- worden. ren Versorgungsorten auch schon tagesklinische Allen Konzeptionen gemeinsam ist neben der Dring- Betreuung möglich ist. lichkeit der Realisierung die Tatsache, dass hier Ergeb- nisse der Bundeskommission zur Personalbemessung 2. Das »Betreute Wohnen«, die Betreuungsform für im komplementären Bereich einfließen. chronisch Kranke, die bisher in den Langzeitbereichen Im Unterschied zur klassischen institutions- und der Kliniken oder – und das ist nicht wesentlich besser damit angebotszentrierten Sichtweite richtet sich der – in Großheimen untergebracht sind. Es hat sich von der Kommission gewählte Ansatz (analog PsychPV) gezeigt, dass die meisten chronisch psychisch Kran- am Hilfsbedarf des betroffenen Menschen aus. Bei ken in Wohnungen außerhalb von Institutionen leben der Feststellung der notwendigen Hilfen wird die für können mit einer relativ lockeren Betreuung. die psychische Erkrankung charakteristische Dynamik Die Enthospitalisation ist in der Rheinhessen-Fach- des Krankheitsverlaufs berücksichtigt. klinik Alzey weit fortgeschritten und hat dazu geführt, Es wird also der Personalbedarf von der Institu- dass im direkten Umfeld der Klinik in der Stadt tion losgelöst durch Beschreibung der krankheitsbe- Alzey ca. 40 betreute Wohnungen aufgebaut worden dingten Defizite kombiniert mit den nötigen Hilfs- sind für ca. 70 ehemalige Patienten. formen und dem daraus resultierenden Betreuungs- Von eminenter Bedeutung ist für das Betreute bedarf festgelegt.

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Neues Angebot ab 2007: Ambulante psychiatrische Pflege Psychiatrische Institutsambulanz (PIA)

Zur Umsetzung dieser patientenorientierten Hilfe- die Klinik ab dem Jahr 2007 als erste Einrichtung in ziele wurden in den Kreisen die sog. Hilfeplankonfe- Rheinland Pfalz zusammen mit der Rhein-Mosel-Fach- renzen eingerichtet. Im Prinzip ein sehr zu begrüßen- klinik in Andernach einen ambulanten Pflegedienst des Vorgehen, da alle am weiteren Procedere eines für Patientinnen und Patienten auf, die von nieder- Patienten beteiligten Institutionen im optimalen Fall gelassenen Fach- und Allgemeinärzten nach einem an einem Tisch sitzen und gemeinsam die für den stationären Krankenhausaufenthalt psychiatrisch be- Patienten relevante Lösung finden. Hier wurde das handelt werden. Die Besuche von ausschließlich Fach- trägerübergreifende »persönliche Budget« geschaffen, krankenpflegepersonal erfolgen anfangs in hoher durch welches sich im optimalen Falle der Betrof- Frequenz und beginnen schon während dem statio- fene trägerübergreifend auf ihn individuell zutreffende nären Aufenthalt mit einer Kontaktaufnahme und Hilfeleistungen »einkaufen« kann. Diese im Prinzip Entlassungsplanung. Ziel der ambulanten psychiatri- sensationelle Vorgehensweise zur Betreuung chronisch schen Pflege, die rund um die Uhr erreichbar ist, ist psychisch Kranker bedarf allerdings ein erhebliches die Stabilisierung im häuslichen Umfeld in enger Maß an Kreativität, Flexibilität und Engagement der Abstimmung mit dem behandelnden Arzt im ambu- beteiligten Kostenträger. lanten Bereich. Als weiteren Baustein des ambulanten Dienstes Nach Tagesklinik und »Betreutem Wohnen« müssen zu erwähnen ist der Sozialpsychiatrische Dienst. Dieser 3. die ambulanten Dienste erwähnt werden. Dienst soll nach den Empfehlungen der Expertenkom- Es handelt sich hierbei um die an eine stationäre mission generell so organisiert und funktional ausge- Einrichtung angegliederte Institutsambulanz, den staltet sein, dass er in der Lage ist, chronisch psychisch niedergelassenen Nervenärzten anfangs etwas ein Dorn Kranken und Behinderten die erforderliche beratende, im Auge, da hier schon eine Konkurrenz vermutet vorsorgende, nachgehende und intervenierende Hilfe werden kann im Aufgabengebiet der ambulanten zu gewähren. Zu der Zielgruppe gehören in der Regel Versorgung. Nimmt man jedoch die Definition der Personen, die sich aus Hilflosigkeit oder anderen Grün- Institutsambulanz ernst, so relativiert sich diese den einer möglichen Behandlung entziehen oder diese Konkurrenz, soll doch die Institutsambulanz vorwie- nur unzureichend wahrnehmen. Auch aus dieser Defi- gend aufsuchenden Charakter haben, also Hausbe- nition ist schon eine gewisse Überschneidung zur suche machen bei Patienten, die von sich aus nicht Institutsambulanz zu sehen. Auch wird hierbei klar, den niedergelassenen Arzt aufsuchen, also chroni- was im Grund selbstverständlich ist, aber oft auch schen Patienten. Seit 1.4.1997 existiert eine ausschließ- aus ideologischen Gründen nicht so gesehen wird: Die lich aufsuchende Institutsambulanz an der Rhein- einzelnen Bausteine können nicht schematisch neben- hessen-Fachklinik Alzey, die sich als nicht mehr wegzu- einander aufgebaut werden, sondern wachsen aus denkende Einrichtung in der ambulanten Betreuung schon bestehenden Einrichtungen und müssen den psychisch Kranker bewährt hat. besonderen Eigenheiten einer Region angepasst wer- Mit der ambulanten psychiatrischen Pflege baute den. Die Sozialpsychiatrischen Dienste existieren zu

| 111 Blick in ein Seminar der Beruflichen Integrationsmaßnahme (BIMA)

einem großen Teil bereits an den Gesundheitsämtern, nur im Bereich der Krankenkassenfinanzierung wobei man sich durchaus vorstellen kann, dass auch abspielt, eine denkbare Sektorüberschreitung der Berei- freie Träger Sozialpsychiatrische Dienste unterhalten. che Krankenkassen, Rentenversicherung und BSHG, Ein ambulanter Psychosozialer Dienst, jetzt Inte- der sicherlich genauso sinnvoll wäre, ist nicht im grationsfachdienst für psychisch Behinderte im norma- Ansatz angedacht. Einer der Hauptanreize, dass sich len Arbeitsleben existiert in Trägerschaft des Hilfs- zur Zeit jede Einrichtung mit Integrierter Versor- vereins der Klinik und hat sich bisher sehr bewährt. gung befasst, liegt in der Budgetkürzung von 1%, Die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen welche für die, die eine integrierte Form anbieten, Nervenärzten und Allgemeinärzten gestaltet sich in eben über eine Anschubfinanzierung zumindest teil- unserem Versorgungsgebiet recht positiv, u.a. damit weise wieder zurückfließt. Eine gewisse Skepsis was zusammenhängend, dass im Rahmen der Öffentlich- die Umsetzung angeht erscheint angebracht, nichts- keitsarbeit regelmäßige Kontakte bestehen und ein destotrotz liegt in der Entwicklung der integrierten Teil der niedergelassenen Ärzte an unserer Klinik Versorgungsangebote schon eine große Chance, vor ihre psychotherapeutische Weiterbildung bzw. allem in der Überschreitung der Sektorgrenzen statio- Bausteine dazu absolviert hat. när, teilstationär, ambulant. Dies kann aber letztend- An dieser Stelle seien einige wenige Punkte über lich nur unter Einbindung der niedergelassenen Ärzte die Integrierte Versorgung dargestellt, die es ja auch und ambulanten Dienste geschehen, und hier liegt im psychiatrischen Fachgebiet geben soll. Grundlage den bisherigen Erfahrungen nach ein Problem in ist der § 140 a des SGB V, in dem die Integrierte der Frage der Finanzierung über ein gemeinsames Versorgung beschrieben ist. Erwartet wird von diesem Budget bei vollkommen verschiedenen Abrechnungs- Modell, wie sehr oft, ein bisschen die Quadratur des modalitäten, ein anderes in der Zustimmung der Kran- Kreises, nämlich Qualitätsverbesserung und Kosten- kenkassen. einsparung. Die Zielsetzung des Modells liegt u.a. in In Alzey haben wir bisher vergeblich versucht, der Überschreitung der Sektorabgrenzungen statio- eine Integrierte Versorgung für Demenzkranke aufzu- när, teilstationär und ambulant, daraus resultierend bauen in Kooperation mit Klinik, Beratungs- und Koor- einem fließenderen Übergang in diesen Bereichen dinationsstellen, Altenheimen und niedergelassenen und dabei letztendlich natürlich einer Verstärkung der Ärzten mit dem Hintergrund, über ein gemeinsa- Tendenz ambulant vor stationär. Wobei sich das alles mes Vorgehen aller Beteiligten einen möglichst langen

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Teamgespräch, Berufliche Integrationsmaßnahme(BIMA)

Verbleib demenzkranker Alterspatienten in ihrer Es ist die erste BIMA in Rheinland-Pfalz, die in Träger- gewohnten Umgebung zu erreichen. schaft einer Klinik fungiert. Damit komplettiert sich Der Integrierten Versorgung im Krankenkassen- das Angebot der Klinik vom stationären über den finanzierten Bereich entspricht in etwa dem sog. teilstationären und ambulanten bis hin zum rehabi- kommunalen Verbund im BSHG-finanzierten Bereich, litativen Bereich. auch hier sollen sich Anbieter von z.B. Betreuten Ganz wichtig bei all diesen beschriebenen Dingen Wohnungen, Tagesstätten, ambulanten Wiederein- ist die Einbindung der Betroffenen selbst und der gliederungshilfen zusammen tun und ein umfassen- Angehörigen. Es handelt sich um den sog. Trialog, des Versorgungsangebot gemeinsam entwickeln. Die Profis, Betroffene und Angehörige müssen möglichst Einrichtung eines kommunalen Verbundes ist im Kreis gemeinsam Ziele und Strategien entwickeln. Das ist Alzey-Worms sowie in Mainz-Bingen bereits umge- für manche Profis nicht leicht, da es durchaus Schwie- setzt. rigkeiten mit der Entscheidungsfreiheit mancher Von hoher Bedeutung sind im Weiteren Maßnah- Betroffenen geben kann, das ist aber auch für manche men zur beruflichen Wiedereingliederung bzw. Be- Betroffene nicht leicht, da sie Schwierigkeiten haben schäftigung auf dem zweiten Arbeitsmarkt für vor mit dem realistischen Erkennen und Einordnen ihrer allem chronisch psychisch Kranke, ein bei der derzei- Störungen, und das ist für die Angehörigen manch- tigen grundsätzlich schlechten Arbeitsmarktlage durch- mal nicht leicht, da sie sowohl mit den Betroffenen aus großes Problem. Dennoch gibt es mittlerweile als auch mit den Profis zurecht kommen müssen. spezielle Werkstätten für psychisch Behinderte. Für Dieser Trialog wird in zunehmenden Maße geführt, uns in der Zusammenarbeit sehr bedeutend sind das dies zeigt auch schon die Tatsache, dass in allen Psy- Werkhaus Zoar, Reha-Einrichtungen wie das Wichern- chiatriebeiräten der Kreise und auch im Landespsy- institut in sowie vom Arbeitsamt und chiatriebeirat die Betroffenen- und Angehörigenver- von den Rentenversicherungen getragene berufsinte- bände jeweils vertreten sind. grierende Maßnahmen für psychisch Kranke in unse- Abschließend kann festgestellt werden, dass die rem Einzugsgebiet in Kreuznach und Mainz. In der sozialpsychiatrischen Forderungen der Psychiatrie- Rheinhessen-Fachklinik wurde eine berufsintegrie- Enquete und besonders der Expertenkommissions- rende Maßnahme (BIMA) in Trägerschaft der Klinik empfehlungen im Einzugsgebiet der Rheinhessen- aufgebaut, die von den Kostenträgern anerkannt ist. Fachklinik weitestgehend umgesetzt sind. π

| 113 Eingangsbereich der Rheinhessen-Fachklinik Alzey heute

114 | 100 Jahre Rheinhessen-Fachklinik Alzey

Pressestimmen 1997 – 2007 Rheinhessen-Fachklinik Alzey

LNK: Neuer Name – und weiter? sches Dienstleistungsunternehmen« arbeitet, um sich im Wettbewerbsdruck im Gesundheitswesen besser »Rheinhessen-Fachklinik Alzey – Zentrum für behaupten zu können. Dennoch sollen in der Rhein- Psychiatrie und Neurologie«, heißt seit 1. Januar hessen-Fachklinik die Angebote im psychiatrischen dieses Jahres, was bisher die Landesnervenklinik und neurologischen Behandlungsfeld weiter im glei- (LNK) war. chen Umfang wie bisher bestehen. Und die Ausge- staltung im gemeindenahen Prozess soll fortgesetzt werden. »Die Versorgung der Bevölkerung steht im Zusammen mit der Rhein-Mosel-Fachklinik Ander- Vordergrund«, versichert Finke. Dennoch »müssen nach und der Neurologischen Klinik Meisenheim arbei- die Erlöse die Kosten decken«. Das sei das Ziel – »ohne tet sie nach dem Rechtsformwechsel zur Anstalt des die qualitativen Versorgungsleistungen zu verringern«. öffentlichen Rechts (AöR) unter dem Dach des Landes- Kostendeckend hat die LNK nicht gearbeitet. 5,3 Mil- krankenhauses mit Dienstsitz in Andernach. Über lionen Mark Altlasten muss die AöR allein von der weitere mögliche Veränderungen sprachen wir mit LNK Alzey übernehmen. Zu Einsparungen führen sol- dem neuen Geschäftsführer Norbert Finke. len nun u.a. Kooperationen zwischen den Kliniken: Neu ist zunächst einmal der Name der früheren so beliefert die Krankenhausapotheke der Alzeyer be- LNK. Der soll den Bezug zur Versorgungsregion ver- reits die Meisenheimer Klinik. deutlichen und die Verbindung zwischen ambulan- Aber viele Mitarbeiter befürchten, dass weitere Um- ter und gemeindenaher Versorgung psychisch Kran- strukturierungen zum Stellenabbau führen könnten. ker unterstreichen. Denn Ziel der 1995 in Rhein- So wird ihm Rahmen der Psychiatriereform langsam land-Pfalz eingeleiteten Psychiatriereform ist, dass der Langzeitbereich umstrukturiert: 1995 standen 185 die Patienten ein normalisiertes Leben außerhalb der Betten im Plan, 1996 nur noch 110. Finke sagt, dass Klinik leben können, ebenso in der Gemeinde. Unter- er Wert legt auf Offenheit und Mitarbeiterinforma- stützend wirken in Alzey dabei bereits die betreuten tion. Daraus erhofft er sich Vertrauen in die Ge- Wohngemeinschaften, die Tagesstätte »Oase« und schäftsführung. Und er will, dass jeder einzelne Mit- die Tagesklinik Stadtweingut. Zu dieser Hilfe vor Ort arbeiter ein Kostenbewusstsein entwickelt, dass Kosten- gehört auch die Institutsambulanz, die Norbert Finke transparenz geschaffen wird. Denn das trage dazu bei, für unsere Region beantragt hat. Dabei werden chro- die Kostenentwicklung in den Griff zu bekommen. nisch psychisch Kranke nach dem stationären Aufent- In den nächsten Wochen will er sich seine »Zielset- halt von Klinikärzten betreut. zungen schaffen«, sich orientieren, eine Geschäftsord- Neu ist auch, dass das Landeskrankenhaus nach nung erlassen für die Direktorien, die weiter vor Ort dem Rechtsformwechsel zur AöR unternehmerische verantwortlich bleiben, aber an die Weisungen des Eigenverantwortung gewonnen hat und nun als – so Geschäftsführers gebunden sind. | Alzeyer Wochen- Finke – »soziales, wirtschaftlich geführtes, medizini- blatt, 3. Januar 1997 π

| 115 Komfortabel und angenehm

Renoviertes Haus Alsenztal wurde der Rheinhessen-Fachklinik Alzey übergeben

war trotz guter Pflege »verwohnt« und »abgenutzt«. Angesichts der häufig oft längeren Verweildauer der hier untergebrachten geriatrischen Patienten, d.h. ältere Menschen, die physisch und psychisch behandlungs- bedürftig sind, war eine Überarbeitung schon lange nötig. Weil viele Patienten aufgrund ihrer langen Be- handlung hier regelrecht »wohnen«, ist es besonders wichtig, dass sie sich hier möglichst wohl fühlen. Daher befinden sich in den Zimmern nun nicht mehr sechs, sondern nur noch ein bis vier Betten. Saniert wurden auch die sanitären Einrichtungen und die anderen Räumlichkeiten, die damit komfortabler und angeneh- mer geworden sind. Durch diese zeitgemäße Gestaltung der Räume erfährt die Behandl