Zusammenfassung

Ziel der vorliegenden Studie, die sich als Beitrag zur Sozial- und Herrschafts- geschichte des Dritten Reiches versteht, war es, Ideologie und Herrschaftspraxis der „Frontinstanz" des Sicherheitsdienstes (SD) zu erforschen. Es galt, dessen ver- borgenes Netzwerk freizulegen und dieses aus regionaler Perspektive heraus so- wohl innerhalb der deutschen Gesellschaft als auch im Gefüge der nationalsozia- listischen Herrschaft zu verorten. Am Beispiel des Sachsen umfassenden SD-Leitabschnitts Dresden, in dessen Personalkartei zuletzt 2746 haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter sowie V-Leute registriert waren, konnten - ergänzt durch Quellen weiterer Regionen - erstmals Umfang und Struktur des Sicherheitsdienstes innerhalb Deutschlands herausgear- beitet werden. Das so rekonstruierte SD-Netzwerk erwies sich als eine überaus vielschichtige Institution: von den auf Repräsentation ausgerichteten SD-Führern auf Ab- schnittsebene über die vom Engagement ehrenamtlicher Mitarbeiter getragenen 27 sächsischen Außenstellen in den Kreisstädten bis hinunter zu den einzelnen Be- obachterposten in den Gemeinden entfaltete sich das Panorama eines gleichsam am Reißbrett konstruierten und über das Land gelegten Rasters eines „totalen Nachrichtendienstes" (Franz Six) - das nie auch nur annähernd ausgefüllt werden konnte und lückenhaft blieb. Erstmals konnten verlässliche Aussagen über die Stärke des SD-Netzwerks gemacht werden. In Sachsen waren 465 SD-Mitarbeiter registriert, die ihrerseits 2281 V-Leute führten. Erster Befund: Obwohl die SD-Mitarbeiter das Rückgrat der Organisation bildeten, waren 87 Prozent von ihnen Ehrenamtliche, das heißt, sie leisteten die Verfolgungsarbeit nach Feierabend als ihren „politischen Ehren- dienst". Mangels Planstellen war kaum die Hälfte der Außenstellenleiter fest ange- stellt und stammte aus dem SS-Apparat. Die anderen waren örtliche Honoratioren, die neben ihrem Zivilberuf als Landgerichtsrat, Landrat, Ingenieur, Kaufmann, Industrieller, Chef des Arbeitsamtes oder Polizeipräsident als Vertreter von Heydrichs Elite in ihrer Heimatstadt fungierten und mit ihrer Persönlichkeit maß- geblich den Charakter der von ihnen geführten Außenstelle prägten. Auch gegenüber diesen ehrenamtlichen Angehörigen beanspruchte die Rassen- elite die Verfügung über das Eheleben und die Familienplanung. Wenig erfolgreich waren die Versuche, mit Hilfe des Konstrukts einer pseudogermanischen Religion der „Gottgläubigkeit" die konkreten Lebenswelten der Ehrenamtlichen umzu- formen und sie gemäß ihrer Rolle als Avantgarde von der in christlich-humanisti- scher Rückständigkeit verharrenden Gesellschaft zu isolieren. Erst die Selbstausbeutung der Ehrenamtlichen machte es möglich, praktisch zum Nulltarif einen Geheimdienst aufzubauen. Ohne sie wäre der SD im Sommer 1941, als viele der Hauptamtlichen mit den in den Rasse- und Ver- nichtungskrieg zogen, an der „inneren Front" zusammengebrochen. Da die Ehren- amtlichen mit ihren vielfältigen beruflichen Kontakten und gesellschaftlichen Bin- 448 Zusammenfassung düngen lokal fest verankert waren, bildeten sie die ideale Einbruchsteile der Herrschaft in die Gesellschaft. Ehrenamtliche Mitarbeiter gab es in dieser Form - voll eingeweiht, mit Befehlsgewalt und höchsten SS-Rängen - nur im Sicherheits- dienst, nicht in der beamtenrechtlich verfassten Gestapo. Die eingangs gemachten Stärkeangaben von 2 746 Akteuren dokumentieren den im April 1945 verkarteten Personalbestand. Wie im Rahmen der Quellenkritik - die den verschlungenen Uberlieferungsweg dieser singulären Quelle nachzeichnete - herausgearbeitet, dürfte die Höchststärke etwas höher gelegen haben. Wie hoch die Anzahl der Mitarbeiter und V-Leute auch maximal gewesen sein mag, ihnen gegenüber standen über fünf Millionen Einwohner des Landes Sachsen, für deren politische Überwachung der SD gemeinsam mit der Gestapo verantwortlich war. Das daraus errechnete Verhältnis zwischen SD-Netz und Bevölkerung von 1 zu 1 769 ist weniger als reale Überwachungsquote, sondern lediglich als Orientierung zu verstehen. Auch wenn die weltpolitischen und regimetypischen Rahmenbedingungen ande- re waren, im quantitativen Vergleich zum in Sachsen nachfolgenden - wenngleich genauso wenig perfekten - IM-Apparat der Staatssicherheit der DDR mutet das SD-Netz unterentwickelt an. Mitte der 50er Jahre hatte das IM-Netz das V-Mann- Netz hinter sich gelassen und erreichte in den 80er Jahren im DDR-Bezirk Leipzig eine theoretische Überwachungsquote von 1 zu 117. Angesichts solcher Vergleichs- zahlen kann von einer flächendeckenden Überwachung durch die V-Leute nicht die Rede sein - was auch nie die Intention der Eliteorganisation war. Der sollte nicht ohne seine Schwesterorganisation, die Gesta- po, betrachtet werden. Diese führte zwar nur wenige Agenten, die aber über fatale Durchschlagskraft verfügten, da sie, anders als die V-Leute, im Innern oppositio- neller Gruppen agierten. Mit lediglich 496 Beamten (1941) war die Gestapo auch in Sachsen unterbesetzt und überfordert, so dass die dortigen 465 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter des SD bereits eine wesentliche Ergänzung des regio- nalen Terrorapparats darstellten. Bei Großaktionen, etwa bei Hausdurchsuchungen gegen jüdische Organisationen oder in der Nacht vom 9. November 1938, griff die Gestapo auf diesen Pool von SD-Mitarbeitern zurück. Im regionalen Zusammenspiel von und SD kam Letzterem funktionell die Rolle zu, den schmalen Apparat der Gestapo zu unterfüttern. Langfristig bildete sich folgende Arbeitsteilung heraus: Die großstädtische Gesta- po war lediglich in Dresden, Leipzig, Chemnitz und Zwickau präsent, während der kleinstädtische Sicherheitsdienst in 484 Städten und Gemeinden Sachsens vor Ort war. Selbst bevölkerungsreiche und industrialisierte Kreisstädte wie Annaberg, Meißen oder Oelsnitz blieben das ganze Dritte Reich über ohne einen einzigen stationären Gestapobeamten, hatten aber mit jeweils über 40 Mitarbeitern und V-Leuten eine arbeitsfähige SD-Außenstelle. Die V-Leute bildeten eine systematische Ergänzung zu den spontanen Denun- zianten und den gesteuerten Gestapoagenten, insbesondere da sie in ganz anderen gesellschaftlichen Schichten operierten. Gerade mit seinem Elitegedanken, seiner exponiert vor sich hergetragenen Ideologie, der Suggestion, die Reformkräfte des Nationalsozialismus zu sammeln, und dem falschen Versprechen, Zugang zum Ohr des Führers vermitteln zu können, konnte der Sicherheitsdienst Menschen an Zusammenfassung 449 sich binden, die ansonsten jede Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften als einen unter ihrem Niveau stehenden Spitzeldienst kategorisch abgelehnt hätten. Das Netzwerk zeigte in Sachsen zwei örtliche Verdichtungen. Zum einen - wie zu erwarten war - im Raum Zwickau, seit den frühen 20er Jahren Hochburg der Hitler-Anhänger im Freistaat, zum anderen ausgerechnet in der für ihre opponie- renden Katholiken und Sorben bekannten Region Bautzen und der Lausitz. Das zur Befeuerung seiner freien Mitarbeiter auf einen gewissen Grad an politischer Leidenschaftlichkeit angewiesene Netzwerk gedieh dort gleichermaßen gut, wo die Gesellschaft entweder stärker fanatisiert oder aber deutlich fragmentiert war, so dass politische Konflikte offen zutage traten. Die Empörung gleichgeschalteter „Volksgenossen" zu kanalisieren, die sich ansonsten in spontanen Denunziationen Luft verschafften, war Anliegen der Außenstellenleiter. Das Verhältnis zur Gestapo war vielschichtig. Gerade weil sie der Gestapo insti- tutionell unterlegen war, gebärdete sich die totalitäre Elite ihr gegenüber besonders aggressiv. Jeder SD-Angehörige, selbst fernab von den Zentren der Macht in Leipzig oder Zwickau, verstand sich als verlängerter Arm des Führerwillens. Aus dieser Motivation heraus versuchten sie, der Gestapo ihren Kurs in der Religions- und Judenpolitik aufzudrängen. Die älteren Beamten der Gestapo wussten um ihre weltanschaulichen Defizite und folgten nicht selten den immer einen Schritt radi- kaleren Vorschlägen der jungen SD-Angehörigen. Am Beispiel Leipzigs ließen sich noch einmal die Thesen Dierkers und Wildts über die Religions- und Judenpolitik verifizieren: Erst auf Drängen des Leipziger SD, der den örtlichen Polizeipräsidenten durch Meldungen in die Landeshaupt- stadt unter Druck gesetzt hatte, forcierte dieser die Überwachung der katholischen Gemeinden wie der jüdischen Vereine in der Messestadt, beides Randgruppen, in denen der ansonsten durch und durch nationalsozialistische Polizeipräsident beim besten Willen keine Gefahr für Staat und Volk ausmachen konnte, die aber für den SD die fünfte Kolonne des „Weltjudentums" und Roms darstellten. Um die Aus- wanderung der Juden zu forcieren, versuchten die SD-Abschnitte den Verfol- gungsdruck weiter zu erhöhen. Die Opfer dieser Politik, etwa Kurt Sabatzky, Leipziger Vorstand des jüdischen „Centraivereins", erfuhren nie, dass hinter den Schikanen und Hausdurchsuchungen der Gestapo, denen sie ausgesetzt wurden, der Sicherheitsdienst stand. Hochgerechnet bestätigt die Zahl für Sachsen mit seinen 2 746 Akteuren erst- mals die bisher einzige Aussage zum Umfang des V-Mann-Netzes des Amtes III. Dessen Chef hatte in Nürnberg ausgesagt, er hätte im Reich 3 000 Mitarbeiter und 30000 V-Leute zur Verfügung gehabt. Für die nationalsozialisti- sche Herrschaft war dieses Netz damit quantitativ von geringer Relevanz, gerade gegenüber dem Heer der potenziellen Denunzianten in Deutschland, über deren Anzahl niemand eine Schätzung wagen würde. Ungeachtet aller umlaufenden Gerüchte über die Omnipotenz des SD galt: Für den angepassten „Volksgenossen" war - anders als in der späten DDR - die Chance, im Alltag auf einen V-Mann zu treffen, nicht sehr hoch, ganz zu schweigen von der verschwindend geringen An- zahl der Gestapoagenten. Indem nun mit dem legendenumwobenen „braunen Netz" einer der letzten weißen Flecken in der unübersichtlichen Topografie des NS-Terrors ausgefüllt 450 Zusammenfassung wurde, kann ein weiteres Mal unterstrichen werden: Das Dritte Reich war ein Ge- waltregime, aber kein Überwachungsstaat. Damit hat sich die forschungsleitende Frage nach der Relevanz des Sicherheits- dienstes aber nicht erledigt. Wenn die Theoretiker der „inneren Sicherheit" von ihrem anvisierten „totalen Nachrichtendienst" sprachen, dann trachteten sie keines- falls danach - bildlich gesprochen -, hinter jeden Deutschen einen V-Mann zu stellen. Das sei, so Heydrich anlässlich seiner Qualitätsoffensive 1941, eine „falsch verstandene totale Fülle". Entscheidend für die Bedeutung des SD im Gefüge der regionalen Herrschaft ist deshalb weniger der Umfang als die Qualität seines Netz- werks. Hier muss eine Zusammenfassung Schwieriges leisten, denn es gilt, die vielfach widersprüchlichen und deshalb nach einer gehörigen Interpretationsleistung ver- langenden Befunde zur Zusammensetzung des Netzes zusammenzuführen. Wo immer man auch schaut, ob im Zentrum oder an der Peripherie, das Netz war alles andere als eine homogene Ordensgemeinschaft und ließ nur vereinzelt das welt- anschauliche Leitbild vom „arischen Sicherheitsdienst germanischer Nation" (Himmler) durchschimmern. Um die Fülle der differenzierenden Befunde auf einen Nenner zu bringen, bedarf es deshalb wiederum des Rückgriffs auf einen größeren Interpretationsrahmen. Der Sicherheitsdienst war die totalitäre Eliteorganisation des Nationalsozia- lismus, ein gefährliches Amalgam aus Weltanschauungselite und Geheimdienst. Das der Studie erkenntnisleitend zugrunde gelegte Konzept Hannah Arendts er- weist sich als tauglich für die historische Forschung. Das Spannungsverhältnis zwischen Ideologie und Praxis lässt sich auf den komplexen Charakter des SD als totalitäre Eliteorganisation zurückführen. Auf der einen Seite war Heydrichs SD als innere Elite von Himmlers SS ein auserlesener Orden, dessen Angehörige die Rassenideologie verkörperten. Andererseits zeigt sich auch hier das Wesen totali- tärer Regime, dass deren weltanschauliche Eliteorganisation - berufen, die ideolo- gische Fiktion Realität werden zu lassen - sich die Form eines Geheimdienstes gab. Gleichwohl ist das Konzept totalitärer Eliteorganisationen wie die gesamte Totalitarismustheorie für die komplexe Herrschaftsrealität des Dritten Reiches nur von begrenzter Reichweite. Während es die egozentrische Mentalität und die Bin- nenorganisation als „verschworene Gemeinschaft" sowie die führerunmittelbare Stellung des SD innerhalb der NS-Bewegung profund zu deuten weiß, wird das Konzept der polykratischen Struktur des Dritten Reiches nicht gerecht, in der die Eliteorganisation trotz ihrer Verkörperung des „Willens" des Führers - befasst mit dessen persönlichstem Anliegen, der „Lösung der Judenfrage" - in ständiger Kon- kurrenz zu anderen Institutionen stand. Letztlich haben strukturelle Bedingungen wie der Konkurrenzdruck von Seiten der Gestapo und der NSDAP oder die chro- nische Unterfinanzierung der Elite, die sich schlecht in eine Totalitarismustheorie einreihen lassen, das Radikalitätsdenken und das Sendungsbewusstsein der SD- Angehörigen eher noch befördert. Auch um die in der SD-Forschung herrschende Begriffsverwirrung zu beenden, wurde ein neues Koordinatensystem entwickelt. Weil sich der spannungsvolle Doppelcharakter des SD in jedem seiner Angehörigen fortsetzte, bestimmen Status Zusammenfassung 451 und Funktion sowohl weltanschauliche Radikalitätsstufe als auch die nachrichten- dienstliche Aufgabe jedes Akteurs. Im SD folgte die Form der Ideologie. Weil der Geheimdienst politisches Vorbild sein sollte, konzipierte den Dienst als Gegenentwurf zum polizeistaatlichen Spitzel- und Denunziantenwesen als einen - im Sinne national- sozialistischer Moral - „sauberen Nachrichtendienst". Das entsprechende Instru- ment des ehrbaren „Vertrauensmannes" war der Gegentypus zu seinen beiden zwar nützlichen, aber ungeliebten Brüdern, dem bezahlten oder gepressten Agen- ten und dem von Rachsucht und Egoismus getriebenen Denunzianten. Um die besondere Gefährlichkeit dieser verbrecherischen Organisation zu er- kennen, ist es entscheidend, das Selbstbild der Täter zu verstehen. Die Verfolgung wurde im Geiste der Sachlichkeit und mit der Behauptung von Objektivität und Wissenschaftlichkeit organisiert. Entsprechend ging das nach den „Grundsätzen planmäßiger totaler Erörterung" (Six) entwickelte Verfahren der Auswahl, Anwer- bung, Verpflichtung, Gratifikation, Kontrolle und Sanktion der V-Leute in seiner Formalisierung weit über die Führung der Agenten durch die Gestapo hinaus. Der V-Mann zeigte mehr funktionelle Parallelen mit den „inoffiziellen Mitarbeitern" der späteren Staatssicherheit als mit der zeitgenössischen Gestapo, in der die über- kommenen Gewaltmethoden des Polizeistaates bis hin zur nackten Folter noch einmal ungehemmt ausgelebt wurden. Das V-Mann-Wesen stellte mit dem Grad seiner Bürokratisierung, die gelegent- lich seltsame Blüten trieb, alles in Deutschland bisher Dagewesene in den Schatten und wies geschichtlich in die Zukunft. Ungeachtet seiner rückwärtsgewandten Utopie lassen sich dem Sicherheitsdienst Modernisierungsleistungen des Über- wachungsstaates zuschreiben. Was der promovierte Ökonom, Judenmörder und an moderner Soziologie interessierte Otto Ohlendorf verstanden hatte und was er als Amtschef III umzu- setzen gewillt war, war die Erkenntnis, dass sich eine moderne Industriegesell- schaft des 20.Jahrhunderts nicht als Kommandodiktatur führen ließ - zumindest nicht, wenn diese Gesellschaft zu wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Höchst- leistungen im „totalen Krieg" geführt werden musste. Der in dem Paradigma des „sauberen" Nachrichtendienstes liegende Wider- spruch, dass die ideologische Disposition der eigenen Informanten deren Arbeit am politischen Gegner nachhaltig einschränken musste, wurde nie aufgelöst. Im Einsatz gegen den organisierten Widerstand scheiterte der SD an seinen eigenen Prinzipien. Der Funktionstrennungserlass vom l.Juli 1937, mit dem er zu Guns- ten der Gestapo auf die operative Bearbeitung des organisierten Gegners verzich- tete, ist vielfach zu Unrecht als Niederlage des SD interpretiert worden. Das Gegenteil war der Fall, denn damit weitete der SD seinen Verfügungsanspruch noch aus: Die Avantgarde sah ihre Berufung längst nicht mehr darin, den Resten des organisierten Widerstands hinterherzujagen, sondern wollte die Verwirk- lichung ihrer Utopie einer besseren, das hieß rassereinen und homogenen Gesell- schaft in Angriff nehmen. Der ab 1938 ausgebaute Lebensgebietsnachrichtendienst - bei dessen Einschät- zung die Forschung Ohlendorfs verharmlosender Apologetik zu weit folgte - war der Versuch, mit einem planmäßig aufgebauten Netzwerk zu einer Beobachtung 452 Zusammenfassung aller gesellschaftlichen Bereiche vorzustoßen. Die neue Richtung war alles andere als unpolitisch, denn sie fußte auf dem totalitären Denkmuster eines entgrenzten Gegnerbegriffs. Statt sich auf den konkreten Antagonisten, ob Jude, Pfarrer oder Freimaurer, kurz auf den „Gegner an sich" zu beschränken, galt es, die im Verbor- genen zersetzend wirkenden „Volksfeinde" quer durch alle gesellschaftlichen Be- reiche zu „erkennen" und zu registrieren - die Verfolgung selbst wurde von der Gestapo besorgt. Am Beispiel des „Lebensgebiets" Musik wurde aufgezeigt, dass auch die Berichterstattung auf einem vermeintlich unpolitischen Sektor zielgerich- tet gegen dessen „innere Verjudung" und christlichen Traditionsbestände gerichtet war. Die mit dem Lebensgebietsnachrichtendienst verknüpfte Aufgabe eines Baro- meters für die schwankende Stimmung der Bevölkerung wurde nach dem Schei- tern der Blitzkriegshoffnung 1941 zur wichtigsten nachrichtendienstlichen Funk- tion. Mit der Erstellung der „Meldungen aus dem Reich" betrieben das Amt III „Deutsche Lebensgebiete" und seine SD-Abschnitte eine rudimentäre Demosko- pie. Hintergrund war weniger Ohlendorfs Apologetik, mit seinen V-Leuten die Funktion der öffentlichen Meinung substituieren zu wollen, um „Auswüchse" des Nationalsozialismus zu korrigieren, als die Angst vor einem zweiten November 1918. Im Amt III war man sich seit 1941 im Klaren, dass eine effektivere Mei- nungsforschung dem Gebot der Repräsentativität folgen musste, weshalb die Ab- schnitte ermahnt wurden, ihr Netzwerk habe als „Teilausschnitt alle Kennzeichen der Gesamtheit aufzuweisen". Das V-Leute-Netz aber war nie jener repräsentative Teilausschnitt der deutschen Bevölkerung, welcher den Demoskopen in der Amtsgruppe III Α vorschwebte. Funktionelle Notwendigkeiten standen, wie Jahre zuvor beim Gegnernachrich- tendienst, wieder einmal politischen Ambitionen im Wege. Real stand das säch- sische Netzwerk sozial weit höher als die Bevölkerung. Weder in Bezug auf das Generationengefüge noch auf die Berufsstruktur bildete es die Kriegsgesellschaft ab, die es zu durchdringen trachtete. Gefangen in männerbündischen Ordensfan- tasien vergaßen die SD-Soziologen sogar das wichtigste soziale Kriterium: das Ge- schlecht. Obwohl erkannt worden war, dass es die Frauen waren, die im Bomben- krieg die Stimmung an der „inneren Front" prägten, blieb deren Beteiligung im Netzwerk minimal. Wo Frauen, meist jüngere und gut ausgebildete aus der BDM- Generation, Sachbearbeiterposten eingezogener SD-Männer übernahmen, wurde deren Existenz verschämt verborgen. Noch essenzieller für die Zusammensetzung des Netzes war: Obwohl der Ein- fluss der Fanatiker immer mehr zurückging, umspannte das Netz zu jedem Zeit- punkt ausschließlich jenen Teil der Gesellschaft, der entweder aus Uberzeugung positiv zum Nationalsozialismus stand oder als Beamter oder Unternehmer seine Zukunft mit dem Überleben des Regimes verknüpft hatte. Fast 90 Prozent waren Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen. Es lag auf der Hand, dass der Gegensatz zwischen egalitärer Meinungsforschung und Elitenbildung innerhalb einer gemeinsamen Institution nicht zu überbrücken war. Es war die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Nebeneinander verschie- dener Entwicklungsstadien, welche das Netzwerk prägten. Weil sich die Rekrutie- rungsmuster im Zuge des Funktionswandels zum Lebensgebietsnachrichtendienst Zusammenfassung 453 deutlich verschoben, so dass von 1937 an vor allem beruflich qualifizierte Spitzen- kräfte angesprochen wurden, die bisherigen Männer des Gegnernachrichten- dienstes - robuste Charaktere mit eher schlichter Bildung - aber nicht entpflichtet wurden, war 1945 ein denkbar breites Spektrum vertreten: Fanatiker neben Oppor- tunisten, abgehalfterte Veteranen der „Kampfzeit" neben erfolgreichen sozialen Aufsteigern, aggressive NSDAP-Ortsgruppenleiter neben zurückhaltend konser- vativen Beamten, ehrgeizige junge Männer aus dem Milieu mittlerer Angestellter neben mensurgezeichneten Akademikern, Jungjuristen und völkisch orientierten Germanisten, Hitler-Anhänger der frühen 20er Jahre neben den als „Konjunktur- ritter" misstrauisch betrachteten „Märzgefallenen" des Frühjahrs 1933. Anfangs Tummelplatz radikaler Elemente zweifelhafter Reputation, wandelte sich der Sicherheitsdienst 1937/38 in ein Sammelbecken NS-naher Funktionseliten und sozialer Aufsteiger, die ihre Karriere in den Bereichen Wirtschaft, Kultur und Bildung entweder bereits erfolgreich mit der Bindung an das NS-Regime ver- knüpft hatten oder sich genau dieses unter der Patronage des SD erhofften. Die „blutmäßige" Weltanschauung wurde zuletzt wenig dogmatisch gehand- habt. Der nicht auflösbare Widerspruch zwischen Rassendogma und Machtan- spruch wurde im Zweifelsfall - wenn der SD den Mann unbedingt gewinnen wollte - zugunsten des Kandidaten entschieden. Der Rassenwahn gewann nie die Oberhand über den Willen, sich aus dem Potenzial der bürgerlichen Gesellschaft zu bedie- nen. Die Maßstäbe, die stattdessen angelegt wurden, unterschieden sich gar nicht so stark von den Kriterien bürgerlicher Elitenrekrutierung wie Bildung, Intelli- genz, Ehrgeiz und sicheres Bewegen auf gesellschaftlichem Parkett. Die gewaltbereiten Veteranen, die noch eingetreten waren, um ihrem Antisemi- tismus und ihrem Antikommunismus, der im „roten Sachsen" ein Hauptmotiv für die Mitarbeit im SD war, freien Lauf zu lassen, brachten ihre Gewalterfahrungen aus der „Kampfzeit" und der Zeit der „Machtergreifung" ein und fielen durch ihren Hang zu alkoholgetränkten Exzessen auf, so dass es nicht nur die nüchternen Akademiker waren, die Mentalität und Korpsgeist prägten. In der Person des lang- jährigen Leiters der Außenstelle Dresden-Stadt, Hans Clemens, verdichtete sich diese Janusköpfigkeit der SD-Angehörigen als vergeistigte Gegnerforscher und außernormative Eingreiftruppe. Anders als in der Berliner Zentrale wurde mit dem Gegner vor Ort nicht nur geistig gerungen. Clemens setzte das, was er für den „Führerwillen" hielt, gegenüber seinem prominentesten Opfer, dem jüdischen Professor Victor Klemperer, auch mit der Faust durch. Da sich diese Studie in die „neue Täterforschung" einreiht, orientierte sie sich bei der Einordnung von Tätern wie Hans Clemens am Generationenkonzept. Das von Ulrich Herbert und Michael Wildt propagierte Konzept stellte dabei ein weiteres Mal sein Potenzial unter Beweis. Zwar war das Netz der V-Leute in Sachsen generationell überaus heterogen und im Schnitt auch von gesetzterem Alter, dafür stachen sowohl an neuralgischen Stellen als auch in Seitensträngen des Netzes Vertreter der „Generation der Sachlichkeit" hervor, jene Alterskohorte, die im RSHA dominierte und es zur jüngsten Führungsgruppe der neueren deutschen Geschichte machte. Die kollektiven Biografien sächsischer Jungakademiker im SD zeigten: Nicht Gauleiter Mutschmanns kleinbürgerlich-proletarische Massenbewegung NSDAP, 454 Zusammenfassung sondern das elitäre völkische Milieu des Freistaats war der Raum der politischen Sozialisation der späteren Weltanschauungselite. Voll „Kulturekel" gegen die bür- gerliche Lebenswelt schlossen sich diese jungen Männer und Studenten rechtsradi- kalen Geheimbünden und Wehrverbänden wie der „Organisation Consul", der „Wiking-Jugend", dem „Werwolf" oder dem elitären „Bund Oberland" an. Ge- rade Letzterer bildete in der Kollektivbiografie vieler sächsischer SD-Führer einen Knotenpunkt. Die Akademisierung der SD-Abschnitte ging langsamer voran als im SD-Haupt- amt und erreichte erst nach 1940 ihren höchsten Stand. Eine Ausnahme bildeten ausgerechnet die Judenreferate, die ab August 1938 sowohl in Leipzig als auch in Dresden von völkischen Jungakademikern geführt wurden. In der Person des parallel an der Universität Leipzig über den jüdischen Exodus promovierenden Historikers und Soziologen Walter Hirche zeigte sich die inhaltliche Nähe - in diesem Fall sogar die Ubereinstimmung - von universitärer Forschung und sicher- heitsdienstlicher Verfolgungspraxis. Erst das Hineinholen von Studenten und Ab- solventen aller Fachrichtungen beendete eine auf regionaler Ebene bis weit in die Mitte der 30er Jahre hineinreichende Phase des inhaltlichen Dilettantismus. Biografisch unterscheidet sich Sachsens Führungsgruppe nur unwesentlich von Wildts „Generation des Unbedingten" im RSHA. Ihre Täterkarrieren verliefen aber anders. Leipziger Universitätsabsolventen bekamen ihr erstes SD-Komman- do in ihrem Heimatland, von wo aus sie im Krieg in die Kerngruppe des Holocaust vorstießen. Als erfahrene Praktiker rückten nur die wenigsten Sachsen ins RSHA auf, sondern wurden als regionale Exekutoren der Vernichtungspolitik wiederholt in den Osten befehligt. Was sich abzeichnet, sind die Konturen einer bisher nicht hinreichend umrissenen Gruppe von universell einsetzbaren Frontkämpfern, die auf Geheiß Himmlers und Heydrichs an den wechselnden Fronten des Welt- anschauungskrieges zum Einsatz kamen. Ihre Verantwortung für den Holocaust in Polen, Jugoslawien, Russland, der Ukraine und im Baltikum ragt in ihrer histo- rischen Tragweite weit über ihre Taten in Sachsen hinaus. Ihr ständiger Wechsel zwischen Heimatfront und Kommandoeinsatz mit tausendfachem Tötungsauftrag wirkte zurück auf die Brutalisierung ihrer Handelns in Sachsen. Neu ist der Befund, dass auch die ehrenamtlichen Mitarbeiter in dieses Rota- tionssystem eingebunden waren. Höhere Beamte aus den sächsischen Landrats- ämtern, die bereits in Deutschland konspirativ gearbeitet hatten, boten sich damit für einen Einsatz als Gebietskommissar in Weißrussland oder der Ukraine an. Mit ihrer Doppelqualifikation als Verwaltungsexperten und Teil der Weltanschauungs- elite verkörperten diese jungen Verwaltungsjuristen den neuen Typus der „kämp- fenden Verwaltung". Genau an dieser Stelle, der Inkorporierung von Funktionseliten, ist die tiefere Bedeutung des SD für die regionale Herrschaft zu suchen. Angesichts des be- kannten Misstrauens Himmlers gegenüber der Beamtenschaft war es kaum zu er- warten gewesen, dass 16,1 Prozent der Mitarbeiter im sächsischen Zweig seines Geheimdienstes zur höheren Beamtenschaft zählten. Nach der Durchsicht der SD- Kartei steht eine Neubewertung der Verwaltungseliten der staatlichen Unterstufe an, denn Sachsens Amtshauptmannschaften/Landratsämter präsentieren sich nun als Hort des Sicherheitsdienstes. Neun amtierende Landräte waren SD-Mitarbeiter, Zusammenfassung 455 zwei weitere zumindest V-Leute. Die Landräte von Marienberg, Döbeln, Borna und Zwickau gehörten zu den höchstrangigen SD-Führern in Sachsen überhaupt. Als Geheimdienstler waren sie anders als die „Ehrenführer" der Allgemeinen-SS keine repräsentativen Aushängeschilder, sondern hatten Funktionen bis hin zum Außenstellenleiter inne. Ähnlich, wenngleich nicht im selben Umfang wie in der inneren Verwaltung, wurden gezielt Verantwortliche des staatlichen Gesundheitswesens angesprochen: die Leiter der „rasssepflegerisch" tätigen Kreis-Gesundheitsämter sowie die um die Dezimierung des ihnen anvertrauten Patientenstamms bemühten Arzte der landeseigenen psychiatrischen Heilanstalten. Zusammen mit den involvierten Richtern und Rechtsanwälten, mit den im Zusammenhang mit dem Einsatz der „Fremdarbeiter" mehr als ein Dutzend geworbenen Chefs sächsischer Arbeits- ämter sowie mit den verdeckt für den SD arbeitenden Beamten der Sicherheits- und ergab sich das Bild eines Netzwerks, das Entscheidungs- träger aus allen Sektoren des vom SD beanspruchten Felds der - auch rassisch definierten - inneren Sicherheit abdeckte. Die Strategie dazu war einfach: Der SD versuchte nicht, die bestehenden Eliten zu ersetzen, sondern nahm diese in sich auf. Die jeweilige politische Vergangenheit spielte keine Rolle mehr. Angehörige staatlicher und privatwirtschaftlicher Funk- tionseliten wurden selbst Teil der Weltanschauungselite und führten deren poli- tische und nachrichtendienstliche Arbeit als Experten in eigener Sache, so dass die Grenzlinie zwischen Herrschaft und Beherrschten nicht mehr zu erkennen ist. Er- gebnis dieser Personalpolitik - für die es im RSHA in diesem Umfang kein Äqui- valent gab - war das regionale Führerkorps des SD, die „Elite im Verborgenen", wo der Elite- und Ordensgedanke seine letzte Steigerung erfuhr. Seinem weitgesteckten Ziel kam der SD im Polizeiapparat am nächsten, weil hier die Kaderpolitik gleich 1933 in Angriff genommen wurde. Selbst ohne Exekutive war der SD auf die staatlichen Ordnungskräfte angewiesen. Die unabhängig von den unzulänglich umgesetzten Staatsschutzkorpsplanungen insgeheim in den Polizeipräsidien Sachsens dem SD verpflichteten Beamten stellten mit knapp fünf Prozent zwar nur eine verschwindende Minderheit, unter ihnen waren aber drei der sechs großstädtischen Polizeipräsidenten Sachsens. Das System sozialer Kontrolle und politischer Verfolgung zeichnete sich im Dritten Reich durch einen hohen Grad an Arbeitsteilung und institutioneller Ver- flechtung aus. Genannt seien hier nur die ebenfalls vom SD infiltrierten Finanz- ämter und Reichsbankfilialen, zuständig für die Ausplünderung der deutschen Juden. Es war kein Zufall, dass etwa die SD-Außenstelle Großenhain ausgerechnet im örtlichen Finanzamt untergebracht war. Weil der öffentliche Dienst seinen Teil leistete und der Gestapo zuarbeitete, ist deren in der Forschung ausgiebig disku- tierte Personalstärke letztlich zweitrangig. In diesem ineinandergreifenden Institutionengefüge der Herrschaft blieb ausge- rechnet der nicht-staatliche Sicherheitsdienst ohne offizielle Funktion. Was er statt- dessen besorgte, war die Zusammenfassung der beteiligten Funktionsträger, die er an die Weltanschauung anband. Als Träger der politischen Ziellinie war der SD die Triebfeder, die im Behördenkonglomerat des NS-Staates von innen heraus eine radikalisierende Dynamik entfaltete. 456 Zusammenfassung

Vorstellungen, der regionale Sicherheitsdienst habe die Gesellschaft aushorchen und überwachen wollen, verkürzen dessen Mission auf seine nachrichtendienst- liche Seite. Seine weitergehende politische Zielsetzung einer gesellschaftlichen Durchdringung entsprang seinem Charakter als totalitäre Eliteorganisation. Wel- chen historischen Stellenwert dies hat, darauf weist Zygmunt Baumann in seiner Deutung einer destruktiven Moderne hin: „Wenn die Träger des gesellschaftlichen Zukunftsentwurfes in die Schaltzentralen staatlich-bürokratischer Macht vordrin- gen und befreit sind von den Fesseln konkurrierender sozio-ökonomischer und kultureller Kräfte, haben wir die Ingredienzen des Genozids vor uns."1

1 Z. Baumann, Dialektik der Ordnung, S. 129.