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Politische Dem Diktat Monatszeitschriften – der Unterhaltung zum Trotz das Salz in der Suppe der Kommunikation Wolfgang Bergsdorf

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich die Sach-, Personen- und Stilkritik ein- immer häufiger als Informations- oder schließlich auch des Rechtes, andere Me- Wissensgesellschaft beschreiben lässt. In- dien zu kritisieren. In den letzten zwei formation ist die Ressource, aus der Jahrzehnten haben die deutschen Medien Mehrwert geschöpft werden soll. Die In- einen sehr dramatischen Veränderungs- formationsgesellschaft ist mehr noch als prozess hinter sich bringen müssen. Der die Industriegesellschaft eine hoch aus- Entmonopolisierung der elektronischen differenzierte, an Komplexität gewach- Medien folgten Digitalisierung der ge- sene Gesellschaft, in der der Einzelne aus druckten Presse und Internet-Revolution. persönlicher Erfahrung nur äußerst be- Alle Veränderungen bewirkten nicht nur grenzte Einsichten in Politik, Wirtschaft eine Beschleunigung der journalistischen und Kultur gewinnen kann. Um Über- Arbeit und einen Abbau von internen sicht zu gewinnen, bedient man sich der Qualitätskontrollen, sondern auch eine Medien, deren Generalfunktion die Her- ungeheure Steigerung des Wettbewerbs- stellung von Öffentlichkeit ist. Dieses drucks und einen wachsenden Druck auf Prinzip Öffentlichkeit soll die Komple- die Politik. xität reduzieren, sie auf ein menschenver- Medien nehmen – so erscheint es aus trägliches Maß zurückschrauben. Journa- der Perspektive der Politik – die Politik zur listen erbringen der Gesellschaft die Beute, personalisieren politische Sach- Dienstleistung „Herstellung von Öffent- themen, setzen sie unter Visualisierungs- lichkeit“. Im Begriff „Öffentlichkeit“ zwang und unterwerfen alles dem Diktat steckt das Wort „offen“. „Offen ist etwas, der Unterhaltung. Dies gilt natürlich vor was nicht versperrt, also zugänglich ist. allem für das heute einflussreichste Me- Öffentlichkeit meint deshalb zunächst dium, für das Fernsehen. Unter den und zuvörderst das Fehlen von Blockie- Marktbedingungen moderner Massen- rungen in der gesellschaftlichen Kommu- kommunikation entsteht so „das große nikation, die für alle Personengruppen Palaver“ (Friedrich Neidhardt), das eher und Interessen, für alle Erfahrungen und von Verlautbarungen als durch einen Aus- Erkenntnisse, für die Themen und Prob- tausch von Argumenten, eher durch Pole- leme zugänglich sein muss.“ (Horst Pött- mik als durch Diskurs bestimmt ist. Von ker) dem Habermas’schen Ideal der Medien als Die Medien haben gegenüber der Ge- Forum des Diskurses freier Bürger, allein sellschaft eine nicht abgrenzbare, gleich- dem Gebot politischer Vernünftigkeit ver- wohl umfassende Informationspflicht pflichtet, scheint sich der allgemeine Me- und können sich dabei auf das Privileg dienzustand weit entfernt zu haben. Täg- des Artikels 5 Grundgesetz stützen. Diese lich erlebt man eine lärmende Geräusch- Informationsverpflichtung umfasst die entwicklung der Medien, die kleine und Kritik- und Kontrollfunktion der Medien, große Themen mit der ihnen eignen Flüch-

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tigkeit behandeln, in der Regel kontrovers, Querelen und Wadenbeißerei. (Friedrich oft genug schrill, üblicherweise ohne Neidhardt) Nachhaltigkeit, auch im Blick auf Skan- Die Organisation des „Gesprächs der dale, vermeintliche oder tatsächliche. Gesellschaft mit sich selbst“ haben in Deutschland siebzig öffentlich-rechtliche Die „Vierte Gewalt“ und private, in- und ausländische Fern- Dies erinnert an die beiläufige Bemerkung sehprogramme übernommen, 150 öffent- des französischen Amerika-Beobachters lich-rechtliche Hörfunk-Programme, 381 Alexis de Tocqueville, der vor 130 Jahren Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage notierte: „Ich gestehe, für die Presse- von 27 Millionen Exemplaren, 27 Wo- freiheit keineswegs die uneingeschränkte chenzeitungen mit einer Gesamtauflage und unwillkürliche Liebe zu empfinden, von zwei Millionen. Hinzu kommen 828 die man für Dinge hegt, die unbestreitbar Publikumszeitschriften mit einer Ge- gut sind. Ich schätze sie weit mehr in Er- samtauflage von 125 Millionen und 1084 wägung der Übel, die sie verhindert als Fachzeitschriften unterschiedlichster Art wegen des Guten, das sie leistet.“ Mit Übel mit einer Gesamtauflage von 16,7 Millio- meinte er vor allem Konformismus, Kon- nen. Medien werden unterschiedlich ge- sonanz und Kumulation der Medien- nutzt. Der durchschnittliche Fernsehkon- inhalte, die die totalitären Systeme des sum ist in den letzten dreißig Jahren von zwanzigsten Jahrhunderts zur Perfektion 113 auf 185 Minuten gewachsen, gleich- entwickelt haben. Das ist unser Problem zeitig ist die Dauer der durchschnitt- nicht. Die Medien fungieren heute zwei- lichen Zeitungslektüre von 35 auf 29 Mi- felsfrei nicht mehr als Mägde der Politik. nuten gesunken. Sie haben sich von staatlicher Bevormun- Für den öffentlichen Diskurs über Poli- dung so gründlich emanzipiert und sind tik eignen sich die Medien in unterschied- mittlerweile selbst zu einem so bedeut- licher Weise. Fernsehen und Hörfunk sind samen Faktor der Politik geworden, dass in erster Linie Unterhaltungsmedien, de- von den Medien zunehmend als „Vierte nen sich der Konsument passiv aussetzt. Gewalt“ oder von der „Mediodemokra- Dies bedeutet keineswegs ihre politische tie“ gesprochen wird. Irrelevanz, aber ihre prägende Bedeutung Medien favorisieren Aktualität. Nach- für die politische Meinungsbildung ist mit richten definieren sich durch ihren Neu- der Programmexplosion infolge der Ein- igkeitswert. Im Konkurrenzkampf der führung privater Rundfunkveranstalter Medien steigert sich die Jagd nach Neu- seit1984 abgesenkt worden, ihre politische em. Und oft wird bereits Bekanntem ein Thematisierungskraft geschwächt. Dem- neues Kleid übergezogen, indem ein wei- gegenüber erfordert die Auseinanderset- terer Politiker dazu Stellung nimmt und zung mit dem gedruckten Wort in Zei- eine neue Nuancierung findet. So kommt tungen, Zeitschriften und Büchern eine es auf der politischen Agenda zu hekti- aktive Rolle des Rezipienten. Fernsehen ist schen Themenkonjunkturen und in der ein emotionales Medium, das von den Bil- politischen Praxis zu einer drastischen dern lebt, die Texte haben nachgeordnete Verschärfung des Tempos – angetrieben Bedeutung und verblassen schnell im Ge- von Wahlterminen. Der Planungs- und dächtnis des Rezipienten. Zeitungen hin- Beratungshorizont von Politik verkürzt gegen, vor allem Wochenzeitungen als sich dramatisch, Politik droht sich immer Zweitzeitungen, liefern vertiefende und stärker in Rhetorik zu erschöpfen, der nachhaltige Informationen und Argu- Wettbewerb von Politikern und Parteien mentationen und setzen auf rationale gerät in das semantische Umfeld von Kommunikation über komplexe Sachver-

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halte. Wer sich am politischen Diskurs be- dition. Schon 1665 wurde in das teiligen will, kann die Printmedien nicht Journal de Savants gegründet, das damit außer Acht lassen. den Anspruch erheben kann, erste Zeit- schrift der Welt zu sein. Übrigens er- Informationswert reichte dieses Journal ein sehr hohes Für die politische Monatszeitschrift gilt Alter. Die bisher letzte Ausgabe – nach dies in ganz besonderer Weise. Ihre Ge- einer Phase unregelmäßigen Erscheinens samtzahl ist begrenzt, das Gleiche gilt für – wurde im Mai 2000 veröffentlicht und ihre Gesamtauflage, die 100 000 Exem- enthielt ein Editorial von Bernhard Henri plare nicht überschreitet. Aber für die ver- Levy gegen die in Frankreich sich aus- tiefte Information, für eine möglichst ra- breitenden antiamerikanischen Ressenti- tionale Auseinandersetzung über Politik ments. Angeregt durch dieses Pariser sind sie unverzichtbar. Denn sie bieten Vorbild, entstand in Deutschland in den Texte zum politischen Diskurs an, die letzten drei Jahrhunderten eine reichhal- deutlich ausführlicher sind als die Kom- tige und sich immer wieder verändernde mentare der aktuellen Presse, aber den- Zeitschriftenlandschaft, deren Studium noch kürzer als Monografien. Die politi- noch aufschlussreicher als das der Tages- schen Monatszeitschriften sind das Me- presse Einblick in die Leitgedanken, zen- dium der hochkarätigen Multiplikatoren. tralen Fragestellungen und geistigen Pro- Ihr Publikum ist jener winzige Anteil der file einer Epoche geben kann. Bevölkerung, der sich für Politik interes- Für die Geschichte der politischen siert und für Politik engagiert. Quantita- Zeitschriften Deutschlands hatten Wil- tiv ist ihr Einfluss nicht zu messen, qua- mont Haacke und Günter Pötter ihr Stan- litativ nicht zu überschätzen. Heinrich dardwerk vorgelegt. In ihm werden der Scholler rechnet deshalb die politische Stand der Zeitschriftenforschung aufge- Zeitschrift zur „elitären Presse“. Deut- arbeitet, die Geschichte der politischen licher und intensiver als andere Medien Zeitschriften anhand von zahlreichen Bei- richten sich ihre Argumente jenseits der spielen erörtert sowie führende Kommu- Tagesaktualität auf Entwicklungen und nikatoren der letzten dreihundert Jahre Zusammenhänge. Es sind die politischen vorgestellt. Das Werk bietet eine zuver- Zeitschriften, die die wichtige publizisti- lässige, mittlerweile aktualisierungsbe- sche Funktion erfüllen, den Ansturm der dürftige Grundlage für jede Beschäfti- Informationsflut dadurch zu bewältigen, gung mit dem Medium „Politische Zeit- indem sie das Belangvolle vom Belang- schrift“, ohne das ein rationaler Diskurs losen unterscheiden. Das wichtigste For- über Politik nicht gedacht werden kann. mat der politischen Zeitschrift ist deshalb der Essay. Im Vergleich zum kürzeren Rekordauflagen Zeitungsartikel und zur umfangreichen Die unmittelbare Nachkriegszeit ist die Monografie bietet der Essay die Chance, Gründungsphase und Hoch-Zeit der po- einen Gegenstand auf einigen Drucksei- litischen Monatszeitschrift. Der natio- ten ohne systematische Gliederung argu- nalsozialistische Totalitarismus, der von mentativ und assoziativ auszuleuchten. ihm entfesselte Weltkrieg und die totale Er leistet dies idealerweise in einem Niederlage Deutschlands haben bei den Sprachstil, der vom Jargon ebenso weit Überlebenden im zerstörten Deutschland entfernt ist wie von der wissenschaft- einen ungeheuren Neuorientierungsbe- lichen Fachsprache. darf entstehen lassen, den die lizenzierte Politische Zeitschriften haben in Presse nicht zu erfüllen vermochte. Ver- Deutschland eine lange und reiche Tra- tiefte Informationen und ausführlichere

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Deliberation waren gefragt. Sie wurden forderte, die Einigung Europas zu ver- von den Monatszeitschriften geleistet. wirklichen. 1949 erschien das letzte Heft. Wie Pilze auf einem nassen Waldbo- 1946 erschien in Heidelberg die erste den schossen Zeitschriftenneugründun- Ausgabe der Zeitschrift Die Neue Ordnung gen aus der Erde. Die Rekordauflagenhö- – Zeitschrift für Religion, Kultur, Gesell- hen zeigten den Wissensdurst der Bevöl- schaft. Herausgeber war Laurentius Sie- kerung. Noch 1945 erscheint die erste mer OP, Chefredakteur Eberhard Welty Ausgabe der Monatszeitschrift Wand- OP. Diese Zeitschrift setzte sich zum lung, dessen Herausgeber Dolf Sternber- Ziel, die sozialethischen Ideen des Wal- ger war. Als Redakteure waren angege- berberger Kreises für die neue Ordnung ben: Karl Jaspers, Marie Luise Kaschnitz im Nachkriegsdeutschland zu populari- und Alfred Weber. Sie erreichte eine Auf- sieren. Schon während der NS-Diktatur lagenhöhe von bald 35 000, die nach der war das Dominikaner-Kloster Walber- Währungsreform auf 14 000 zusammen- berg (zwischen und Köln gelegen) schmolz. Das letzte Heft erschien im April ein Kristallisationsort für Dissidenten 1949. Noch erfolgreicher war die Halb- und Regimegegner für intensive Diskus- monatsschrift Die Gegenwart. Sie wurde in sionen über die Grundsätze der Neuord- Freiburg ebenfalls noch 1945 gegründet. nung. Unmittelbar nach Kriegsende fan- Ihr Herausgeber war Robert Haerdter. Sie den dort Gespräche und Verhandlungen erreichte 200 000 Exemplare, im ersten zur Gründung der rheinischen CDU statt. Halbjahr 1946 waren es mehr als 220 000. Die Kölner Leitsätze der CDU von 1946 Damit erreichte die Gegenwart damals und deren Ahlener-Programm von 1947 mehr Leser als heute alle politischen Kul- bezogen ihre Impulse aus Kloster Wal- turzeitschriften zusammen. Nach der berberg. In sechs Jahrzehnten hat von Währungsreform schrumpfte die Auf- allen politischen Zeitschriften der unmit- lage dramatisch. Die Zeitschrift, deren telbaren Nachkriegszeit als einzige die Herausgeber in den fünfziger Jahren Neue Ordnung überlebt und sich als Dis- Friedrich Sieburg und Dolf Sternberger kussionsforum für die katholische Sozial- wurden, konnte sich bis 1958 halten. lehre etabliert. Nach Welty übernahm 1946 gründeten Eugen Kogon und Wal- Edgar Nawroth OP die Redaktionslei- ter Dirks die Frankfurter Hefte. Die bei- tung, ihm folgte Basilius Streithofen OP. den Publizisten kamen aus dem aktiven Seit elf Jahren leitet Wolfgang Ockenfels Widerstand gegen Hitler und setzten sich OP die Redaktion. Im Februar feierte die für einen christlichen Sozialismus ein. In Zeitschrift ihren sechzigsten Geburtstag. den ersten Jahren erreichte die Zeitschrift 1947 gründete Hans Paeschke die Mo- 100 000 Abonnenten, darunter übrigens natszeitschrift Merkurin Baden-Baden mit auch den späteren Bundeskanzler Helmut Unterstützung der französischen Besat- Kohl. Im gleichen Jahr erschien in Mün- zungsbehörden. Die Auflage schwankte chen der Ruf als Nachfolgeorgan einer um die 30 000 Exemplare, abhängig von gleichnamigen amerikanischen Kriegsge- der jeweiligen Papierzuteilung. Sie war fangenenzeitung. Als Herausgeber fun- dem europäischen Denken verpflichtet. gierten die Schriftsteller Alfred Andersch, Nach der Währungsunion sank die Auf- Hans-Werner Richter, später der geistige lage auf 4000 bis 6000 Exemplare und hat Vater der Gruppe 47, und Walter von sich bis heute in dieser Größenordnung Cube. Als Untertitel wählte Alfred An- gehalten. Zu ihren Autoren zählten Gott- dersch Unabhängige Blätter der jungen Ge- fried Benn, Thomas Mann, Theodor Ador- neration, um sein Programm zu verdeut- no, Martin Heidegger, André Gilde, T. S. lichen, das die europäische Jugend auf- Eliot, Hannah Arendt, Margret Bovary

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und Ernst Jünger. Hans Schwab Felisch Wochenschrift an wie an die von Rudolf übernahm in den siebziger Jahren die Her- Hilferding in der Weimarer Republik ver- ausgeberschaft, gefolgt von Karl-Heinz antwortliche Monatszeitschrift Die Neue Bohrer und Kurt Scheel, die heute dafür Gesellschaft. Die Neue Gesellschaft verstand sorgen, dass der Merkur die Balance hält sich „als theoretisches Organ der SPD“ zwischen einem anspruchsvollen politi- und wurde zunächst von Willi Eichler, schen und kulturellen Essayismus. Getra- Erich Potthoff, Fritz Bauer und Otto Stam- gen wird die Monatszeitschrift seit Jahr- mer herausgegeben. Später traten Otto zehnten von der Ernst-H.-Klett-Stiftung Brenner, , Waldemar von Knoe- Merkur in Stuttgart. ringen und Carlo Schmid dem Herausge- In Ostberlin gab Alfred Kantorowicz berkreis bei. Seit 1972 geben die SPD-Po- 1947 die Zeitschrift Ost und West heraus; litiker die Zeitschrift „für die Friedrich- sie trug den Untertitel „Beiträge zu kultu- Ebert-Stiftung“ heraus. Chefredakteure rellen und politischen Fragen der Zeit“. waren Leo Bauer, Ulrich Lohmar, Herbert Kantorowicz gelang es, prominente Au- Wehner und Peter Glotz, der Mitte der toren aus Ost und West zu gewinnen wie achtziger Jahre eine Fusion mit den vom Wolf Weyrauch, , Theo- Aus bedrohten Frankfurter Heften zu Stan- dor Dreiser, Virginia Woolf und Boris de brachte. Heute wird die Monatszeit- Pasternak. Er erreichte die stolze Auflage schrift für die Friedrich-Ebert-Stiftung von 100 000 Exemplaren. Nach der Wäh- herausgegeben von Holger Börner, Klaus rungsreform schmolz die Auflage auf Harpprecht, Carola Stern und Hans- 7500 Exemplare. Die letzte Ausgabe er- Jochen Vogel. Langjähriger Chefredak- schien im Februar 1949. teur war der Erfurter Universitäts-Grün- In Westberlin startete 1948 der Monat, dungsrektor Peter Glotz, sein Nachfolger zunächst mit amerikanischen Geldern fi- wurde Thomas Meyer, verantwortlicher nanziert. Als Herausgeber und Chefre- Redakteur ist Norbert Seitz. dakteur fungierte Melvin J. Lasky, er war Anfang der vierziger Jahre Literaturre- Politisch Stellung beziehen dakteur von The New Leader (New York) Als im Juni 1956 die Politische Meinung mit und später 1944 bis 1945 US-Kriegsbe- ihrem ersten Heft erschien, fand sich am richterstatter in Deutschland. Zur Redak- Schluss der Hinweis, die neue Zeitschrift tion gehörte von Anfang an Hellmut Jaes- wolle „alle brennenden Probleme der Zeit rich, Literat und brillanter Übersetzer. ansprechen und sie über die Polemik und 1960 trat an Laskys Stelle der Schweizer schneller Beantwortung des Tages hinaus Publizist Fritz René Allemann, der später zu grundsätzlicher Analyse und Stellung- von dem Lyriker Peter Härtling abgelöst nahme heben“. Politisch denken heißt wurde. Letzter Herausgeber war Klaus Stellung nehmen, heißt einen Standpunkt Harpprecht. Aufgrund von Geldmangel haben. wurde die Zeitschrift 1971 eingestellt. Das Impressum des ersten Heftes zeigte Eine Wiederbelebung des Titels als Vier- keine Gründer, keine Herausgeber, nur teljahresschrift gelang 1978. An die frü- Karl Willy Beer (1909 bis 1979) als verant- here Resonanz vermochte der neue Monat wortlichen Redakteur an. Karl Willy Beer nicht anzuknüpfen. hatte in und Wien studiert, erwarb 1954 erschien in Bielefeld die Neue Ge- einen philosophischen Doktortitel und ge- sellschaft. Sie knüpfte mit ihrem Titel hörte zu Paul Scheffers bemerkenswerter ebenso an die von Heinrich und Lily Mannschaft im Berliner Tageblatt. Nach Braun in der Kaiserzeit herausgegebene dem Krieg war er Kommentator beim Die neue Gesellschaft, sozialdemokratische NWDR und bei der Hamburger Wochen-

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zeitung Die Zeit und leitete sechs Jahre Georg Kiesinger, Franz Meyers, Franz Jo- lang als Chefredakteur die Berliner Zei- sef Strauß, Henry Kissinger und Konrad tung Der Tag. Adenauer selbst, der sich nach seinem Rücktritt 1963 dreimal in dieser Zeit- Hintergründe reflektieren schrift zu Wort meldete. Durch das hundertste Heft erfuhren die Hatten in der ersten Dekade der Politi- Leser, dass Otto Lenz und Erich Peter schen Meinung Autoren aus dem eher kon- Neumann die Gründung der neuen Zeit- servativen Lager der Unionsparteien do- schrift betrieben hatten und sich der miniert, so änderte sich dies vor allem seit Unterstützung Konrad Adenauers versi- den siebziger Jahren gründlich. Nachdem chern konnten. Otto Lenz (1903 bis 1957) Otto Lenz 1957 gestorben war, wurde mit war Jurist und wurde im Zusammenhang der hundertsten Ausgabe Erich Peter Neu- mit dem 20. Juli zu Zuchthaus verurteilt. mann als Herausgeber verantwortlich. 1945 gehörte er zu den Gründern der 1968 übernahm die Konrad-Adenauer- CDU in Berlin und wurde 1951 von Stiftung vorübergehend die Zeitschrift, zum Staatssekretär im bis vom Jahr 1970 an ihr geschäftsführen- Bundeskanzleramt berufen. Seine beson- der Vorsitzender Bruno Heck, Bundes- deren Interessen galten den Medien und minister für Familie und Jugend von 1962 ihren Möglichkeiten, die parlamentari- bis 1968, für diese Aufgabe persönlich ver- sche Demokratie populär zu machen. antwortlich zeichnete. Nach dessen Tod 1953 wurde er in den Deutschen Bundes- 1989 folgte ihm sein Nachfolger als Vor- tag gewählt. Erich Peter Neumann (1912 sitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, bis 1973) war Mitbegründer und Mitinha- Bernhard Vogel, Thüringer Ministerprä- ber des Institutes für Demoskopie Allens- sident von 1992 bis 2003, zuvor Minister- bach, war bis zum Kriegsende Journalist präsident in Rheinland-Pfalz von 1976 bis und begründete mit seiner Frau Elisabeth 1988. Noelle die Demoskopie in Deutschland. Von Karl Willy Beer übernahm 1979 Lu- Er überzeugte Konrad Adenauer schon dolf Herrmann (1936 bis 1986) die Chef- sehr bald nach dessen Amtsantritt von redaktion der Zeitschrift. Herrmann stu- den Erkenntnisgewinnen demoskopi- dierte in Bonn und arbeitete als freier Jour- scher Umfragen. Er war 1961 bis 1965 Mit- nalist. Von 1968 bis 1971 war er als Bera- glied des Deutschen Bundestages. Der ter von Bruno Heck tätig. 1972 trat er als erste Bundeskanzler der Bundesrepublik politischer Ressortleiter in die Wochen- Deutschland und Vorsitzende der CDU zeitung Deutsche Zeitung/Christ und Welt Deutschlands, Konrad Adenauer, war an- ein. Ab 1973 übernahm er die Chefredak- gesichts des Erfolges der sozialdemokra- tion und stellte journalistisch die Weichen tisch ausgerichteten Zeitschrift Die Neue für die 1979/80 vollzogene Fusion mit Gesellschaft zu der Überzeugung gelangt, dem Rheinischen Merkur. 1980 übernahm dass auch die CDU eines theoretischen er in der Nachfolge von Johannes Gross Organs bedurfte, um die geistigen Vo- die Chefredaktion des Wirtschaftsmaga- raussetzungen und die Hintergründe der zins Capital. Nach dem Tod von Ludolf eigenen Programmatik zu reflektieren Herrmann übernahm Peter Hopen (1922 und die aktuellen Fragen der Politik aus bis 1998) die Chefredaktion der Politischen der Perspektive des christlichen Men- Meinung. Er hatte den Journalismus von schenbildes auszuleuchten. der Pike auf gelernt und kam 1950 als Kor- Zu den prominenten Autoren des ers- respondent mehrerer Zeitungen in die ten Jahrzehntes der Politischen Meinung junge Bundeshauptstadt Bonn. Das neu gehörten Hans Joachim Merkatz, Kurt gegründete Zweite Deutsche Fernsehen ge-

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wann ihn Anfang der sechziger Jahre als Eng mit der Arbeit der Redaktion ver- kenntnisreichen und angesehenen Kor- bunden ist der wissenschaftliche Beirat respondenten für die politische Berichter- der Politischen Meinung. Er besteht aus stattung aus Bonn. 1984 wurde er Leiter hochkarätigen Wissenschaftlern und Pub- des ZDF-Hauptstadtbüros. Länger als ein lizisten und trägt durch Beiträge und Kri- Jahrzehnt leitete er den Presseclub in tik immer wieder zur inhaltlichen Opti- Bonn. Als Chefredakteur der Politischen mierung der Zeitschrift bei. Zurzeit gehö- Meinung gelang Peter Hopen das, was ren dem Beirat an: Helmut Berschin, Karl seine Vorgänger nur erträumt hatten: Aus Dietrich Bracher, Otto Depenheuer, Klaus der Zweimonatszeitschrift wurde ein mo- Dicke, Manfred Funke, Hanna-Barbara natlich erscheinendes Periodikum. Zu- Gerl-Falkovitz, Ulrich von Hehl, Klaus dem brachte er es mit finanzieller Hilfe des Hildebrand, Wolfgang Jäger, Helmuth Auswärtigen Amtes zu Stande, dass einige Kiesel, Ursula Lehr, Hermann Lübbe, Elke Jahre lang eine englische Ausgabe der Po- Mack, Ursula Männle, Hans Maier, Odo litischen Meinung unter dem Titel German Marquard, Hans-Joachim Meyer, Paul Mi- Comments international verbreitet werden kat, Hugo Müller-Vogg, Elisabeth Noelle- konnte. Neumann, Hartmut Schiedermair, Beate Unter den Chefredakteuren Ludolf Schneider, Hans-Peter Schwarz, Klaus Herrmann, Peter Hopen und dem Verfas- Stern, Willi Steul, Johannes Thomas, Nor- ser verbreiterten sich das Spektrum der bert Walter, Michael Wolffsohn, Michael Themen ebenso wie die politische Band- Zöller. Der Beirat trifft sich einmal im Jahr breite der Autoren. Die Politische Meinung zu einer ausführlichen Tagung, um selbst- ist heute offen für alle Themen und Auto- kritisch Bilanz zu ziehen, Themenschwer- ren, ohne ihre Verwurzelung eines christ- punkte für die kommenden Ausgaben zu lichen Menschenbildes zu verleugnen. Sie erörtern und Hinweise auf potenzielle Au- hat mittlerweile ihre Spalten auch für toren und Einzelthemen zu geben. Es ist Autoren aus konkurrierenden Denkschu- diesen Anstrengungen geschuldet, dass len geöffnet und unter der Spitzmarke die Zeitschrift in den letzten Jahren nicht „kontrovers“ die Diskussion über die nur ihre Leserschaft hat verjüngen können Grenzen der Union hinausgetragen. Da- – vor allem Studierende greifen immer bei kann sich die Zeitschrift auf eine kleine, häufiger nach Recherchen im Internet auf fast ausschließlich ehrenamtlich tätige Re- Die Politische Meinung zurück. Auch die daktion stützen, der Rita Anna Tüpper- Autoren sind jünger und weiblicher ge- Fotiadis, Michael Borchard, Stephan Eisel, worden, was der Resonanz in der Öffent- Klaus Gotto und Marianne Kneuer ange- lichkeit zugute kam. Mit 5700 Exemplaren hören, unterstützt durch den Geschäfts- erreicht Die Politische Meinung als ein- führer Walter Bajohr. In dem ersten Jahr- flussreichstes Forum bürgerlicher Politik zehnt hatten der langjährige Chefredak- rund 20 000 Multiplikatoren, die sich am teur des Rheinischen Merkur, Anton Böhm öffentlichen Gespräch über Politik und (1905 bis 1998), und später auch der Kultur in Deutschland beteiligen. Ins- Schriftsteller und frühere Präsident des gesamt beträgt die Auflage politischer Goethe-Institutes, Werner Ross (1912 bis Monatszeitschriften in Deutschland zirka 2002), der Redaktion angehört. Werner 200 000 Exemplare. Sie werden vor allem Ross gestaltete den Kulturteil der Politi- von Politikern, Journalisten, Pädagogen schen Meinung in den Jahren 1978 bis 1992. und Wissenschaftlern gelesen, die als Ihm ist es zu verdanken, dass die Zeit- Multiplikatoren das Gespräch der Gesell- schrift mit der Öffnung für kulturelle The- schaft mit sich selbst mitbestimmen wol- men neue Leser hinzugewinnen konnte. len.

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