CHRISTLICH - KRITISCH - AKTUELL

ZEITSCHRIFT FÜR DAS „Für eine bessere Zukunft“ Das Verhältnis des Heiligen Stuhls zu Europa am Beispiel der Zwischenkriegszeit INTERDISZIPLINÄRE von Verena Bull

Mit Wissen wächst Verantwortung?! GESPRÄCH Die literarische Reise der Ida Gräfin von Hahn-Hahn 1844 ins „Morgenland“ im Spiegel zeitgenössischer Orientbilder von Elisabeth K. Fischer

Dankesworte zur Verleihung des Theologischen Preises der Salzburger Hochschulwochen 2014 von Christoph Theobald / Michael Theobald

Sind die katholischen Intellektuellen in Deutschland am Ende? Beispiel: Ruhrgebiet von Hans Waldenfels / Maria-Luise Born

Wer und was Papst Franziskus prägt Das Vorbild des Peter Faber SJ von Markus Roentgen

KAVD Katholischer Akademikerverband Deutschlands

Heft 1, 69. Jahrgang, November 2014 1913 - 2014 INHALT

Editorial ...... 04

Grußworte ...... 06

„Für eine bessere Zukunft“ Das Verhältnis des Heiligen Stuhls zu Europa am Beispiel der Zwischenkriegszeit Verena Bull ...... 18

Mit Wissen wächst Verantwortung?! Die literarische Reise der Ida Gräfin von Hahn-Hahn 1844 ins „Morgenland“ im Spiegel zeitgenössischer Orientbilder Elisabeth K. Fischer...... 31

Dankesworte zur Verleihung des Theologischen Preises der Salzburger Hochschulwochen 2014: Grenzüberschreitende Gastfreundschaft als Aufgabe Europas Christoph Theobald...... 42 Vom Über-Setzen und von anderen Grenzüberschreitungen Michael Theobald...... 48

Sind die katholischen Intellektuellen in Deutschland am Ende? Beispiel: Ruhrgebiet Hans Waldenfels / Maria-Luise Born...... 53

Wer und was Papst Franziskus prägt Das Vorbild des Peter Faber SJ Markus Röntgen ...... 66

Bücher und Zeitschriften Rezension zu: Hans Waldenfels: Sein Name ist Franziskus. Der Papst der Armen ...... 70 Rezension zu: Martin Bauschke: Der Sohn Marias. im Koran ...... 73

IMPRESSUM RENOVATIO - Zeitschrift für das interdisziplinäre Gespräch Herausgeber: Katholischer Akademikerverband Deutschlands (KAVD) Präsidium: Präsident vakant Vizepräsidenten: Dr. Bernhard M. Hillen (Schriftführer; Troisdorf) und Dr.med. Kartz-Bogislav Baller (Schatzmeister; Bad Soden-Salmünster) weitere Vorstandsmitglieder: Dr. Stephan Handy (Parchim), Andreas Hölscher (Teltow), Bernd Lörch (Karlsruhe), Dr. med. Ulrich Rehlinghaus (Essen) Redaktion: Andreas Hölscher (Teltow, V.i.S.d.P.) Redaktionsbeirat: Prof. Dr. Albert Franz (Dresden), Dr. Bernhard M. Hillen (Troisdorf), Prof. Dr. Elisabeth Jünemann (Paderborn), Damian Kaiser (Marl), Dr. med. Ulrich Rehlinghaus (Essen), Prof. Dr. Peter Roggendorf (Aachen), Prof. Dr. Peter Treier (Wuppertal) Redaktionsanschrift: Katholischer Akademikerverband, Postfach 20 01 31, 45757 Marl, Hülsstr. 23, 45772 Marl, Telefon: (0 23 65) 572 90 90, Fax: (0 23 65) 572 90 91, E-Mail:[email protected], Internet: www.kavd.de Coverbilder wikimedia commons: © Thomas Wolf (www.foto.tw.de), CC-BY-SA-3.0.de; © LepoRello, CC-BY-SA-3.0.de; © Fritz Geller-Grimm, CC-BY-SA-2.5 Nachdruck und Vervielfältigung mit Genehmigung und Quellenangabe gestattet. ISSN 0340-8280

1913 - 2014 RENOVATIO 1 - 2014 3 EDITORIAL

Liebe Mitglieder des KAVD, verehrte Leserinnen und Leser der RENOVATIO, mit dieser Ausgabe der Renovatio halten Nachwuchs der Salzburger Hochschulwo- Sie nun den Abschlussband unserer Ver- chen engagiert. bandszeitschrift in Ihren Händen. Über viele Jahre war sie in der Nachfolge des Nach dem zweiten Weltkrieg lässt sich der „Katholischen Gedankens“ das Publikati- Startschuss zum Neubeginn des Verbandes onsorgan des KAVD, das – gemäß dem mit einer ersten Tagung unter dem späteren Dreiklang „christlich, kritisch, aktuell“ – Generalsekretär Dr. Paul Wolff im Akade- aus interdisziplinärer Sicht zu Themen der miker-Sekretariat in Bonn verknüpfen. Die Zeit in Kirche und Gesellschaft Stellung offizielle Neugründung erfolgte am 1. Juni bezogen hat und auch tief- und hintergrün- 1947 in Mülheim/Ruhr. Ein Haus im Ve- dig informieren wollte. nusbergweg in der Nähe zum Bonner Münster beherbergte über viele Jahre das Die bewusst gewählten Fotos auf der Titel- Generalsekretariat des KAVD. Der Verband seite dieser Ausgabe – der Abteikirche hat Höhen und Tiefen erlebt, getragen Maria Laach, des Salzburger Doms und des wurde er durch das ehrenamtliche Engage- Bonner Münsters – verweisen auf die ment vieler Mitstreiter. An einige Daten Gründung des Verbandes und erinnern an und Fakten wollten wir an dieser Stelle er- zwei weitere wichtige Wegmarken. innern.

In der Karwoche 1913 kam ein Kreis jun- Nun heißt es nicht nur Abschied zu neh- ger Akademiker aus Düsseldorf – unter men, der für den einen oder anderen auch ihnen Heinrich Brüning, Hermann Platz, mit wehmütigen Gefühlen begleitet sein Theodor Abele und Robert Schumann – zu wird. Vor allem heißt es Danke zu sagen: Pater Ildefons Herwegen nach Maria Wir danken für Ihre Zugehörigkeit zur Re- Laach. Dieses Treffen in Maria Laach wird novatio-Leserschaft, wir danken für Ihre als der Anfang des Katholischen Akademi- Treue und Ihr entgegengebrachtes Inte- kerverbandes angesehen. Am 25. Juni 1913 resse, wir danken für all die kritischen und schlossen sich die Ortsvereinigungen von lobenden Rückmeldungen, aber auch für Bonn, Köln, Düsseldorf, Duisburg, Bre- die aus innerer Überzeugung geäußerten men, Essen und Kleve zum „Verband der Bedenken und vorgebrachten Anfragen. Vereine katholischer Akademiker“ zusam- Wir danken aber auch von Verbandsseite men. für die vielen Frauen und Männer, die für Renovatio über all die Jahre gearbeitet und Der Katholische Akademikerverband viel persönliche Zeit und Energie aufge- Deutschlands gehörte 1931 zu den Grün- bracht haben. dungsmitgliedern der „Salzburger Hoch- schulwochen“. Einige Beiträge in dieser Gemäß dem Beschluss der Generalver- Ausgabe erinnern an die fruchtbare Zusam- sammlung vom Juni dieses Jahres wird der menarbeit über viele Jahrzehnte. In den KAVD zum 31. Dezember 2014 seine bun- letzten Jahren hat sich der Verband beim desweite überdiözesane Struktur und Re- Publikumspreis für den wissenschaftlichen präsentanz und damit auch diese Zeitschrift

4 RENOVATIO 1 - 2014 aufgeben. Damit wird nicht der KAV in sei- Oh Gott! ner Gänze nach 101 Jahren aufhören zu Du bist die einzige Quelle des Lebens, des existieren. Aber er passt gemäß dem Wort- Lichtes und der Wahrheit. inhalt Renovatio seine Strukturen den Er- Gib Deinen Dienern und Dienerinnen, fordernissen dieser Zeit an, indem er wegen die sich zusammengeschlossen haben, des Mitgliederschwundes und rückläufiger um in Deine Wahrheit einzudringen und Beiträge nicht mehr tragbare und haltbare für sie Zeugnis zu geben in der Welt: Belastungen abstreift. Wir setzen uns halt den Geist der Wahrheit, kleiner und bündeln die Energien! den Mut des Bekenntnisses, die Kraft der Demut Auch in Zukunft werden die örtlichen und und das Feuer Deiner Liebe! diözesanen Vereinigungen weiter bestehen und weiter ihr Wirken in ihren jeweiligen Regionen entfalten. Insofern ist der GV-Be- schluss nicht ein Ende, sondern eine Zäsur Es grüßt Sie herzlich mit der Chance zu einem Neubeginn in lo- kalen und diözesanen Strukturen, die näher an den Menschen, ihren Anliegen, Sorgen und Wünschen sind. Dr. Bernhard Hillen Der Auftrag des katholischen Akademikers Vizepräsident des KAVD und mithin der Satzungszweck des KAVD als Zusammenschluss von Männern und Frauen, „denen aufgrund ihres Wissens und ihrer Fähigkeit in Gesellschaft und Staat, Wirtschaft und Verwaltung, Wissenschaft und Kultur, in der Kirche und in der Welt eine besondere Verantwortung erwächst“ ist bleibend gültig. Die gesetzte Aufgabe, in Verpflichtung zur katholischen Glaubens- lehre „das christliche Zeugnis in Familie, Kirche und Gesellschaft zu leben, das Wis- sen um Lebens- und Glaubensfragen zu mehren, das kulturelle Erbe weiterzugeben, der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Be- wahrung der Schöpfung zu dienen“, ist nach wie vor aktuell , zwingend gefordert und ein bleibendes Vermächtnis.

Regelmäßig haben wir zu Beginn unserer Versammlungen vor Eintritt in die Tages- ordnung mit dem Gebet des KAVD begon- nen. Dieses soll nun auch an dieser zweifellos markanten Zäsur unser vorerst letztes gemeinsames WORT zum Abschied sein, der sicher auch ein Wiedersehen bei der einen oder anderen Gelegenheit nicht ausschließt:

RENOVATIO 1 - 2014 5 GRUSSWORTE

Prälat Peter B. Wells, Assesor aus dem Vatikan, am 18. Juni 2013

it Ihrem werten Schreiben vom 4. Papst Franziskus bittet Sie, ihn und seinen JuniM des Jahres haben Sie Papst Franzis- Petrusdienst mit Ihrem Gebet zu beglei- kus um ein Grußwort für eine geplante ten. Gerne schließt der Heilige Vater Festschrift zum 100-Jahr-Jubiläum des seinerseits auch das Wirken des Katho- Katholischen Akademikerverbandes lischen Akademikerverbandes Deutsch- Deutschlands (KAVD) gebeten. lands in sein Beten ein und erbittet Ihnen sowie allen Mitgliedern des KAVD Gottes Im Namen Seiner Heiligkeit danke ich reichen Segen und die Freude des Heili- Ihnen für Ihre Zeilen und Ihre freundliche gen Geistes. Anfrage, mit der Sie Ihre Verbundenheit mit dem Nachfolger Petri zum Ausdruck Mit besten Wünschen und bringen. Ich bitte allerdings um Verständ- freundlichen Grüßen nis dafür, dass aufgrund der großen Inan- spruchnahme des Heiligen Vaters mit universalkirchlichen Aufgaben und aus grundsätzlichen Überlegungen den zahl- Prälat Peter B. Wells reichen Gesuchen um Beiträge für Fest- schriften oder ähnliche Publikationen leider nicht entsprochen werden kann. Gegebenenfalls könnte der Ortsbischof oder der Zelebrant des Festgottesdienstes um einen kurzen päpstlichen Segensgruß bitten, der dann im Rahmen dieser Feier verlesen wird.

6 RENOVATIO 1 - 2014 Wikipedia © Tobias Klenze / Tobias Wikipedia © 3.0 CC-BY-SA

Erzbischof Dr. Robert Zollitzsch ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

hnen, die Sie im Katholischen Akade- Der KAVD hat sich als Gründungszweck Imikerverband zusammengeschlossen die „Förderung der religiösen, hochschul- sind, gratuliere ich herzlich zum einhun- politischen und allgemeinpolitischen Wei- dertjährigen Verbandsjubiläum! Wenn terbildung im außerschulischen und man bedenkt, welche teils dramatischen außerberuflichen Bereich“ auf die Fahnen geschichtlichen Ereignisse, Entwicklun- geschrieben, weil seine Mitglieder davon gen und Verwerfungen sich in dieser lan- überzeugt sind, dass Persönlichkeits- und gen Zeit ereignet haben, staunt man umso Allgemeinbildung nicht mit dem Schulab- mehr über das Beharrungsvermögen Ihres schluss bzw. der Berufsausbildung und Verbandes. Vieles hat der KAVD in all dass religiös-geistliche Bildung nicht mit den Jahrzehnten geleistet, worauf er stolz der Firmkatechese oder dem schulischen sein darf und wofür ihm Dank gebührt! Religionsunterricht enden darf. Diese Ma- xime entspricht zutiefst dem christlichen Freilich bietet ein solch großes Jubiläum Sendungsauftrag: Gerade die christlichen auch Anlass zur Nachdenklichkeit, denn Akademikerinnen und Akademiker haben es ist ja kein Geheimnis, dass der KAVD die Verpflichtung, die Verheißungen des zu Beginn der 1930er Jahre in die Ideolo- Evangeliums und die Förderungen der gie des Nationalsozialismus verstrickt aufgeklärten Vernunft in Einklang zu war. Es ist gut, dass sich der KAVD schon bringen und sich in diesem Einklang le- nach kurzer Zeit von dieser Verirrung dis- bensgestalterisch einzubringen. Dem tanziert hat und dass dieses Kapitel auch KAVD ist das vielfach gelungen – nicht in der vorliegenden Festschrift selbstkri- zuletzt durch seine maßgebliche Mitträ- tisch angesprochen wird. Die Fähigkeit gerschaft der „Salzburger Hochschulwo- zur kritischen Selbstreflexion und zur wa- chen“. Mit ihrem diesjährigen Leitmotiv chen Differenzierung ist es, die den heuti- „Gefährliches Wissen“ benennen die gen KAVD auszeichnet. Die Kirche Salzburger Hochschulwochen 2013 eine braucht Menschen wie Sie, die vor dem zentrale Herausforderung katholisch-aka- Hintergrund des christlichen Weltbildes demischen Engagements: Obwohl heute die „Zeichen der Zeit“ zu deuten wissen viele Forschungsinstitutionen eigene und damit auch Anderen Orientierung Ethikkommissionen unterhalten, herrscht geben. gerade in den säkularen Wissenschaften

RENOVATIO 1 - 2014 7 oft große Unsicherheit in ethischen Fra- die Reflexion und Inkulturation des Glau- gen – hier sind katholische Akademikerin- bens im freien Dialog mit allen, die nach nen und Akademiker gefordert, die der Wahrheit suchen. Wertmaßstäbe des Christentums im Rin- gen um das rechte Handeln und richtige Eine auf Glaube und Vernunft fußende moralische Urteil plausibel zu machen. Deutekompetenz, eine Weitung des geisti- gen Horizonts, ein Ordnungsrahmen der Es trifft sich gut, dass das Jubiläum des Humanität – das tut not in unserer Zeit. KAVD mit dem fünfzigjährigen Jubiläum Dafür brauchen wir den Katholischen des Zweiten Vatikanums zusammenfallt: Akademikerverband Deutschlands. Möge In der Kirchenkonstitution „Lumen gen- ihm – um mit dem Psalmist zu sprechen – tium“ wird gefordert, dass die Christen wie dem Adler die Jugend erneuert wer- „... durch ihre Kompetenz in den weltli- den (Psalm 103,5)! chen Bereichen und durch ihre innerlich von der Gnade Christi erhöhte Tätigkeit Mit freundlichen Grüßen einen gültigen Beitrag leisten [...], damit die Sendung der Kirche den besonderen Verhältnissen der heutigen Welt voller entsprechen kann“ (Vatikanum II, dogma- Dr. Robert Zollitsch tische Konstitution Lumen gentium 36). Erzbischof Diese Durchdringung weltlicher Dinge in der Gnade Christi erlangt nur der, der den ,sensus fidelium“ einerseits und die „topoi alieni“ (die fremdprophetischen Erkennt- nisorte) andererseits nicht nur achtet, son- dern mit ihnen in Austausch tritt: durch

8 RENOVATIO 1 - 2014 Joachim Kardinal Meisner

Wikipedia © Raimond Spekking / CC-BY-SA 4.0 Wikipedia © Raimond Spekking / CC-BY-SA emeritierter Erzbischof von Köln

urch Ministerialerlass vom 21. De- hier in Köln zum Verband der Vereine ka- zemberD 1938 wurde der Katholische Aka- tholischer Akademiker zusammenge- demikerverband, dessen Zentrale im schlossen. Im sich entfaltenden Erzbistum Köln ihren Sitz hatte, mit so- Verbandskatholizismus der Epoche der fortiger Wirkung aufgelöst. Unter dem 31. Weimarer Republik und unter seinem Se- Januar 1939 erhob der Kölner Oberhirte kretär, Prälat Dr. Franz Xaver Münch, durch Eingaben an den Reichsinnenminis- fand der Katholische Akademikerverband ter und den Chef der Geheimen Staatspo- weitere Verbreitung in den deutschen Di- lizei gegen diese Maßnahme, die den özesen, sodass Papst Pius XI. ihm 1928 Katholischen Akademikerverband auf das „Apostolat des Geistes“ übertragen eine Stufe mit kommunistischen Organi- konnte. Weiterhin gehörte Ihr Verband im sationen stellte, Einspruch. Eine Antwort Jahre 1931 zu den Mitbegründern der ist nicht erfolgt.“ Dieses Zitat aus dem zu- „Salzburger Hochschulwochen“ und er- sammenfassenden Bericht meines Amts- reichte 1935 die Mitgliederzahl von vorgängers, Erzbischof Karl Joseph 11.000, darunter bekannte Persönlichkei- Kardinal Schulte, vom April 1939 an den ten wie etwa Robert Schumann, Heinrich Heiligen Stuhl, der sich sowohl in den im Brüning und Professor Alois Dempf. Jahre 1949 gedruckten „Kölner Aktenstü- cken“ als auch auf der aktuellen Home- Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges page Ihres Verbandes befindet, markiert wurde schon 1947 von Monsignore Otto einen gravierenden Einschnitt in der nun Maurer in der Tradition der Katholischen 100jährigen Geschichte des Katholischen Aktion der Verband katholischer Akade- Akademikerverbandes Deutschlands. miker und Akademikerinnen in Wien ge- gründet, bevor dann 1948 in Mülheim an Wie Ihre Festschrift näher erläutert, wur- der Ruhr, damals in unserem Erzbistum, den nach dem Aachener Katholikentag im für Westdeutschland der Katholische Aka- Jahre 1912 die in den mit katholischer Be- demikerverband wiederbegründet werden völkerung anwachsenden Städten des konnte. Ihr seit 1928 erschienenes Ver- rheinisch-westfälischen Industriegebietes bandsorgan „Der katholische Gedanke“ entstandenen Ortsgruppen des Vereins wurde ab 1976 zur Zeitschrift „Renova- akademisch gebildeter Katholiken 1913 tio“, die sich im Geist des Zweiten Vati-

RENOVATIO 1 - 2014 9 kanischen Konzils (1962-1965) und aus Für Ihre segensreiche Arbeit und Ihr en- katholischer Weltsicht dem interdiszipli- gagiertes Zeugnis wünsche ich Ihnen zu naren Gespräch stellt. Ihrem Jubiläum den Segen und die Gnade Gottes. Wie wir in diesem Jahr auf dem eucharis- tischen Kongress in Köln gemeinsam ge- Ihr feiert haben, sind Glaube und christliches Engagement in der Welt unsere Antwor- ten auf die liebevolle Zuwendung Gottes in Jesus Christus zu den Menschen. Durch Joachim Kardinal Meisner Ihre Arbeit in den verschiedenen Berufs- Erzbischof von Köln feldern geben Sie die Liebe Gottes an die Menschen weiter und erfüllen so einen der vornehmsten kirchlichen Grundauf- träge. Dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen.

10 RENOVATIO 1 - 2014 Dr. Felix Genn Bischof von Münster

ehr geehrte Damen und Herren, Humanum zu gefährden drohten. Vonnö- Sverehrte Mitglieder des Katholischen ten bleiben auch weiterhin eine durch Akademikerverbandes Deutschlands! Glaube und Vernunft geschärfte Wach- samkeit und die Teilnahme am öffentli- Christen wissen sich in eine besondere chen Diskurs zu allen Veränderungen, die Verantwortung gestellt. Nicht nur deshalb, sich in den Wertorientierungen unserer weil sie zum Glauben gerufen sind, son- Gesellschaft und damit zugleich in ihren dern auch, weil sie den Gang der Welt vielfältigen Bildungsbereichen abzeich- und die Entwicklung unserer Gesellschaft nen. So gilt es etwa, auf die zahlreichen nicht sich selbst überlassen dürfen. Herausforderungen einzugehen, die sich aus den neuen Fragen der Bioethik oder Um diese Verantwortung überzeugend den gegenwärtigen Verunklärungen unse- und gestaltend wahrnehmen zu können, res Ehe- und Familienverständnisses erge- bedarf es der Aktivierung aller Kräfte, die ben. Für die entsprechenden Auseinan- der Schöpfergott uns anvertraut hat, vor dersetzungen bildet ein Gewissen, das an allem in unserer Gemeinschaft mit Chris- Vernunftseinsichten und dem Geist des tus. Vernunft und Glaube sind darum jene Evangeliums orientiert ist, die Richt- entscheidenden Befähigungen, auf die schnur. Ein katholischer Verband darf sich sich der Christ beziehen wird, wenn es darüber hinaus auf das katholische Men- gilt, dass er seiner Berufung und dem schenbild und die reichen Glaubensaus- Auftrag zur Weltgestaltung entspricht. sagen der kirchlichen Überlieferung be- ziehen. So kann alles geistige Ringen um Der KAVD hat sich im Laufe seiner se- die Klärung vieler Fragen und Anfragen gensreichen, nunmehr einhundertjährigen zu plausiblen Antworten führen und zu- Geschichte immer neu und nachdrücklich gleich unser christliches Zeugnis glaub- dafür eingesetzt, diesen Maßgaben ge- würdig machen. recht zu werden. Stets hat er mit einem wachen Interesse jene Entwicklungen un- Da sich der Katholische Akademikerver- serer Gesellschaft wahrgenommen und band unseres Landes stets in diesem Sinn begleitet, die der Förderung des Huma- eingesetzt hat, konnte er vielen katholi- nums dienen konnten, andererseits kri- schen Akademikerinnen und Akademi- tisch seine Stimme erhoben, wenn Ver- kern zur Seite stehen und ihnen dazu ver- werfungen in unserer Gesellschaft dieses helfen, bewusst und wirksam ihre Verant-

RENOVATIO 1 - 2014 11 wortung im Beruf, für unsere Gesellschaft Miteinander dem Auftrag der Kirche ge- und die Kirche wahrzunehmen. recht zu werden!

Wir Bischöfe sind Ihnen von Herzen Mit herzlichen Segenswünschen für Ihre dankbar für ihren unverzichtbaren Dienst, weitere Arbeit, für alle Mitglieder Ihres den Sie im Raum der Kirche für unsere Verbandes, aber auch für alle, die zu Gesellschaft und ebenso für die Kirche in Ihnen gehören. unserem Land leisten. Mag die verbandli- che Arbeit heute auch durch veränderte Ihr Bedingungen mitunter erschwert sein, vertrauen Sie darauf, dass der Herr der Kirche unseren Einsatz fruchtbar machen wird. Lassen Sie auch nicht darin nach, Felix Genn die Veränderungsprozesse mitzugestalten, Bischof von Münster welche die (ehemals) volkskirchliche Ge- stalt der Kirche hin zu einer neuen Weise des Kircheseins betreffen und bleiben Sie bitte nicht zuletzt uns Bischöfen gute Rat- geber, so dass es uns möglich wird, im

12 RENOVATIO 1 - 2014 Dr. Alois Kothgasser emeritierter Erzbischof von Salzburg

as 100-jährige Bestandsjubiläum des Mit dieser Zielangabe wurden die ersten KatholischenD Akademikerverbandes Hochschulwochen 1931 und 1932 erfolg- Deutschlands, das am 25. Juni dieses Jah- reich durchgeführt. Die politischen Ereig- res begangen werden konnte, ist für die nisse nach 1933 verhinderten dann für Erzdiözese Salzburg ein Anlass, dem Ver- längere Zeit eine weitere Zusammenar- band für sein großes Engagement zu dan- beit. ken und den hervorragenden Einsatz für die Abhaltung der Salzburger Hochschul- Nach dem Zweiten Weltkrieg, als es den wochen besonders zu würdigen. Bürgern der Bundesrepublik Deutschland wieder erlaubt war, ins Ausland zu reisen, Bereits vor der Gründung der Salzburger hat sich der Katholische Akademikerver- Hochschulwochen wurde auf einer band Deutschland neuerlich mit großer Herbsttagung dieses Verbandes in Salz- Entschiedenheit für die Weiterführung der burg im Jahr 1930 der feierliche Be- Salzburger Hochschulwochen eingesetzt. schluss gefasst, „dass der Verband in Die in der Zwischenzeit entstandenen Verbindung mit dem fürsterzbischöflichen Bonner Hochschulwochen wurden zu Stuhl, der theologischen Fakultät und der Gunsten von Salzburg wieder aufgege- Benediktinerkonföderation alljährlich in ben3. Salzburg Hochschulwochen als eine Uni- versitas in nuce veranstalten will“, wie Seither gehört der KAVD zu den tragen- der Berichtsband der ersten Salzburger den Säulen der Salzburger Hochschulwo- Hochschulwochen im Jahr 1931 meldet1. chen. Er mobilisiert jedes Jahr zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Be- Als Ziel dieser Hochschulwochen wurde such der Veranstaltungen. Er organisiert im Prospekt formuliert, dass sie den Teil- Treffen von Akademikern im Priesterse- nehmerinnen und Teilnehmern einen minar und fördert so den geistigen und „möglichst umfassenden und zusammen- kulturellen Meinungsaustausch zwischen hängenden Einblick in die Grundtatsa- den Besucherinnen und Besuchern. chen und Grundwahrheiten katholischen Wissens und Forschens bieten“2, wie im Es liegt daher der Erzdiözese Salzburg selben Berichtsband nachzulesen ist. sehr am Herzen, dem Verband für seine

RENOVATIO 1 - 2014 13 Anmerkungen vielfältige organisatorische, finanzielle 1 Die ersten Salzburger Hochschulwochen 1931, und vor allem geistige Unterstützung zu hrsg. v. P. Alois Mager, Salzburg 1931, 16 danken. Bis zum heutigen Tag ist die Ver- 2 P. Thomas Michels, Salzburger Hochschulwo- bundenheit der katholischen Akademiker chen 1931-61, 9 Deutschlands mit der alten Bischofsstadt 3 Hans Heinrich Kurth: Der KAVD und die Salzburg deutlich spürbar und die Hoch- Salzburger Hochschulwochen, in Christliche schulwochen sind ein Markenzeichen und Weltdeutung: Salzburger Hochschulwochen Gütesiegel für das geistige Leben in Salz- 1931- 1981, Paulus Gordan, hrsg. V. Paulus, burg. In der zeitlichen Nähe zu den Fest- Kevelaer Granz-Wien-Köln, 1981, 63 spielen liegt sicher auch ein besonderer Anziehungspunkt für kreative Menschen begründet.

Möge die seit langem bestehende hervor- ragende Zusammenarbeit des KAVD mit den Salzburger Hochschulwochen im be- sonderen und mit der alten Bischofstadt Salzburg im Allgemeinen weiter gedeihen und vielen Menschen auf der Suche nach einer glaubwürdigen Gestaltung des Le- bens aus dem christlichen Glauben Ermu- tigung, Impulse und Festigung bieten.

14 RENOVATIO 1 - 2014 Alois Glück Quelle: zdk.de Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

er Katholische Akademikerverband und Gesellschaft. Wissen und Fähigkeiten DeutschlandsD blickt mit dieser Festschrift dürfen nicht von der Bereitschaft, Verant- auf eine hundertjährige Tradition enga- wortung zu übernehmen, getrennt werden, gierten Laienapostolats zurück. Ich wenn unsere Gesellschaft zukunftsfähig möchte Ihnen auf diesem Weg meine bes- bleiben will. Der Zusammenschluss ka- ten Wünsche übermitteln und meine An- tholischer Akademikerinnen und Akade- erkennung zum Ausdruck bringen. In miker hat diese Verbindung immer betont diesen hundert Jahren einer wechselvollen und gefördert. Geschichte hat der KAVD eine wichtige Hans Heinrich Kurth hat die Ziele des Rolle in der katholischen Verbändeland- Verbandes zum achtzigsten Jubiläum klar schaft und im Laienkatholizismus in herausgestellt: „den persönlichen Glauben Deutschland und darüber hinaus gespielt. vertiefen, das christliche Zeugnis in der Katholische Akademikerinnen und Aka- Gesellschaft leben, das Wissen um Le- demiker haben sich im Verbund gemein- bens- und Glaubensfragen mehren, die sam ihrer Verantwortung gestellt, Zeugnis Dialog- und Urteilsfähigkeit fördern, das zu geben von ihrem Glauben in dieser kulturelle Erbe weitergeben, der Gerech- Welt und sie in diesem Sinne mitzugestal- tigkeit und dem Frieden dienen.“ Auch ten. Ein besonderes Augenmerk hat der wenn die verbandliche Zukunftssicherung KAVD dabei immer auf den Bereich der des KADV gegenwärtig eine große He- Bildung und der Weiterbildung gerichtet. rausforderung darstellt, bin ich davon Eine Vielzahl von Veranstaltungen der ka- überzeugt, dass diese Zielsetzungen für tholischen Erwachsenenbildung geht auf unsere Gesellschaft von entscheidender Ihre Initiativen zurück und ermöglicht Bedeutung sind. Wir brauchen Menschen, auch heute Menschen in unterschiedli- die aus ihrem Glauben heraus Verantwor- chen Regionen unseres Landes, ihr Wis- tung für die Zukunft übernehmen und sen zu erweitern und ihren Glauben zu Ziele langfristig verfolgen. Das sind die vertiefen. entscheidenden beiden Merkmale einer zukunftsfähigen Kultur, von der wir uns Der KAVD steht mit seiner Tradition für heute entfernt haben. Ein von Verantwor- eine gelebte Kultur der Verantwortung tung geprägtes Leitbild bildet die Grund- von Christinnen und Christen in Kirche lage, um in den gegenwärtigen Krisen zu

RENOVATIO 1 - 2014 15 bestehen und neue Perspektiven des Zu- junge Wissenschaftlerinnen und Wissen- sammenlebens zu entwickeln. schaftler durch ihre Publikumspreise und Es gilt, die Grundlage für eine zukunftsfä- zeichnet das Gesamtwerk eines Theologen hige Kultur als Ausdruck eines ganzheitli- aus. Ich freue mich, dass in diesem Jahr chen Denkens und Handelns zu schaffen. Bischof Karl Kardinal Lehmann diesen Die prägenden Leitbilder müssen dabei Preis erhalten hat, der in seinem Leben Geschichtsbewusstsein, Achtung der Tra- theologische Wissenschaft und bischöfli- ditionen, die Wahrung der eigenen Identi- ches Handeln trefflich zu vereinen weiß. tät, das Verantwortungsbewusstsein für Die Salzburger Hochschulwochen setzen die Aufgaben der Gegenwart und die not- damit sowohl für die Arbeit des Zentralko- wendigen Weichenstellungen für die Zu- mitees der deutschen Katholiken als auch kunft sein. Der innere Kern dieser über den katholischen Raum hinauswir- Wertewelt stellt unser christliches Men- kende bedeutsame Impulse. schenbild dar, entsprechend der Formulie- rung unseres Grundgesetzes »Die Würde Ich will diesen Beitrag nicht schließen, des Menschen ist unantastbar«. Diese ohne dem KAVD und seinen Mitgliedern grundlegenden Werte manifestieren sich im Namen des Zentralkomitees der deut- in einer gelebten Kultur der Verantwor- schen Katholiken für das Engagement tung, die den Anspruch auf Freiheit und und die vielfältigen Beiträge zum Apos- Selbstbestimmung mit der Bereitschaft zur tolat der Laien zu danken. Besonders Übernahme von Verantwortung verbindet. danke ich für Ihre Beiträge zum Gelingen Persönlichkeitsentwicklung und Bildung, der Katholikentage und das Mitwirken für die der KAVD sich seit seiner Grün- im Zentralkomitee der deutschen Katho- dung im Jahr 1913 engagiert, bilden dafür liken. Dafür ein herzliches „Vergelt’s ein entscheidendes Fundament. Gott“.

Ein solches Kulturverständnis ist offen für geistige Auseinandersetzungen mit An- dersdenkenden, für die Werte der Men- schen fremder kultureller Prägung, für die Tatsache, dass wir in einer pluralistischen und globalisierten Welt leben. Als Mitini- tiatoren der Salzburger Hochschulwochen hat der KAVD ein besonderes Diskussi- onsforum geschaffen, in dem der Diskurs zwischen Theologie, anderen Wissen- schaften und Künsten einen durch Konti- nuität geprägten universitären Ort findet. Jedes Jahr stellen sich hier Wissenschaft- lerinnen und Wissenschaftler dem inter- disziplinaren Austausch zu einer aktuellen Fragestellung, wie in diesem Jahr unter dem Titel „Gefährliches Wissen“ zu den Problemlagen global vernetzter Informati- onsgesellschaften. Darüber hinaus fördert die Salzburger Hochschulwoche gezielt

16 RENOVATIO 1 - 2014 Univ.-Prof. Dr. Gregor Maria Hoff

Quelle: Salzburger-Hochschulwochen.at Obmann der Salzburger Hochschulwochen

n der Schwelle zu einer neuen Epo- Sommeruniversität dem KAVD tiefen cheA ist der KAVD gegründet worden, am Dank für sein großes Engagement zu Übergang des imperialen Zeitalters in ein sagen. Es zeigt sich bis heute vielfältig – demokratisches Europa. Dieser Weg prominent in der Gestaltung und Durch- führte durch zwei Weltkriege, und in führung des Publikumspreises der SHW ihrem Schlagschatten veränderte sich für den wissenschaftlichen Nachwuchs. nicht nur die deutsche Gesellschaft, son- dern die katholische Kirche. Die ver- Der Blick auf die Jugend, die nachrückt, meintlichen Sicherheiten der „societas legt auch den Wunsch für den KAVD perfecta“ lösten sich politisch wie kultu- nahe: dass er auch im zweiten Jahrhundert rell auf und hinterließen nicht zuletzt in- seines Bestehens die zukunftsoffene Vita- tellektuelle Herausforderungen. Der lität des christlichen Glaubens und der ka- KAVD musste sich ihnen schon aus pro- tholischen Kirche bezeugen, aber auch fessionellen Gründen als Akademikerver- selbst erfahren möge. An der Schwelle zu band stellen – und tut dies bis heute. Die den elementarsten Krisen Europas ge- Umbrüche der Kirche hat er kritisch be- gründet, hat der KAVD Erfahrung auch in gleitet und in seinen vielfältigen Wir- kirchlicher Krisenbewältigung gemacht. kungsfeldern Orientierungsgebote zu Inspirationen sind von ihm ausgegangen – setzen verstanden. und auch das wird bleiben.

Es ist von daher kein Zufall, dass der So darf ich im Namen der Salzburger KAVD den Salzburger Hochschulwochen Hochschulwochen dem Katholischen von ihren Anfängen an konstitutiv ver- Akademikerverband Deutschlands ganz bunden war. Christliche Deutungsarbeit in herzlich gratulieren. Ich weiß mich ihm den Zeichen der Zeit führen diese beiden nicht nur institutionell, sondern auch bedeutenden Institutionen eines intellek- durch viele seiner Mitglieder tief verbun- tuell auseinandersetzungsfähigen Katholi- den – und verpflichtet. zismus bis heute zusammen. Maßgeblich geprägt von den Vertretern des KAVD in Präsidium und Direktorium, haben die SHW als älteste und größte europäische

RENOVATIO 1 - 2014 17 „Für eine bessere Zukunft“ Das Verhältnis des Heiligen Stuhls zu Europa am Beispiel der Zwischenkriegszeit

Verena Bull

MMag. Verena Bull ist Doktorandin am DFG-Graduiertenkolleg „Die christlichen Kirchen vor der Herausforderung Europa“ an der Universität Mainz.

Brückenbauer Europas fungiert und einen wesentlichen Beitrag am Zusammenbruch des Kommunismus geleistet habe.1 Umgekehrt hat Europa aber auch für den Vatikan nach wie vor eine zentrale Be- deutung. In einem Interview mit „Radio Vatikan“ am 17. Jan. 2014 äußerte Kardi- nalstaatssekretär Pietro Parolin auf die Frage nach dem Verhältnis Papst Franzis- kus’ zu Europa:

„Selbstverständlich liegt Papst Franziskus als Hirte der Weltkirche die ganze Welt am Herzen. […] Ich möchte aber etwas zu Europa sagen: Europa ist ein Bereich, der meiner Meinung nach Aufmerksamkeit ver- dient. Besonders gilt das für die Schaffung Verena Bull und Erzbischof Dr. Franz Lackner eines ,Haus Europa‘. Das scheint mir sehr wichtig und etwas, wozu die Kirche einen Beitrag leisten kann: damit dieses Haus auch Werte hat und nicht nur ein rein poli- it April dieses Jahres sind zwei Päps- tisches oder rein wirtschaftliches Konstrukt Mte, Johannes XXIII. und Johannes Paul II. ist. Damit wichtige Werte geteilt werden, heiliggesprochen worden. Für die Stadt die ja auch ein wenig den Geist des euro- Rom, aber vor allem auch für die Medien päischen Grundgedankens inspiriert ha- stellte dies ein Großereignis dar, über das ben.“2 international berichtet wurde. Nicht selten wurde in diesem Zusammenhang die Rolle Zudem ist der Staat [der] Vatikanstadt des Papstes als Vermittler zwischen ver- auch geografisch Teil Europas und steht als schiedenen Staaten und Kulturen gewür- Völkerrechtssubjekt mit der Europäischen digt. So ließ der deutsche Altkanzler und Union durch bilaterale Verträge in Verbin- Katholik Helmut Kohl verlauten, dass Jo- dung. Darüber hinaus ist er Mitglied der hannes Paul II., den er 1977 als Krakauer Währungsunion. Im diplomatischen Be- Kardinal in Mainz kennengelernt hatte, als reich genießen die Vertreter des Heiligen

18 RENOVATIO 1 - 2014 Stuhls, die Apostolischen Nuntien, vielfach pabegriff hin zu untersuchen sowie b) die einen Ehrenvorrang.3 Nicht wenige Päpste Politik auf verschiedenen Ebenen zu be- waren vor ihrem Pontifikat selbst als Nun- trachten. Letzteres umfasst sowohl die of- tien in verschiedenen Ländern tätig oder fiziellen politischen und diplomatischen besaßen eine diplomatische Ausbildung. Aktivitäten als auch beispielsweise den Wenn also von Europa die Rede ist, Umgang mit internationalen Organisatio- dann betrifft dies mehr oder weniger direkt nen, die sich mit unterschiedlichsten An- auch die Kirche. Vor diesem Hintergrund liegen an den Heiligen Stuhl wandten: ist das Verhältnis der Päpste zu Europa eine Inwiefern wurde diesen geantwortet und nähere Betrachtung wert. Dabei ist die Zeit welche wurden unterstützt? In diesem Rah- zwischen den beiden Weltkriegen, in der men werde ich einen besonderen Fokus auf sich Europa neu strukturierte, von beson- die internationalen Nichtregierungsorgani- derem Interesse, denn die Grenzen des heu- sationen legen, nachdem diese bislang in tigen Europa gehen im Wesentlichen auf der Forschung kaum berücksichtigt wur- die von 1918 zurück, als es durch den Zer- den. fall der alten Großmächte zu einer Neuord- nung der Staaten kam und neue Nationen Gelehrter, Sportler, Friedenspapst. wie Estland, Lettland, Litauen oder Polen Von Achille Ratti zu Pius XI. entstanden.4 Mit etlichen schloss der Hei- lige Stuhl daraufhin Konkordate, d. h. bila- Fragt man nach den Europavorstellungen terale, völkerrechtlich bindende Verträge, Papst Pius’ XI., so stellt sich zugleich auch in denen das Verhältnis zwischen Staat und die Frage nach seiner Person, seinem Kirche geregelt wird. Ferner stellte sich Leben und seinem Werdegang. Wer war gerade damals die Frage, ob „der Vatikan Achille Ratti? Aus welchen Verhältnissen nicht als Anwalt der Menschenwürde die stammte er? Und inwiefern prägte seine moralische Pflicht [hatte], durch eine Frie- Herkunft seinen Werdegang, seine Ideen densinitiative dem sinnlosen Morden in und Gedanken oder vielleicht sogar seine den Schützengräben und dem Giftgaskrieg Sicht auf Europa? ein Ende zu machen“5 und eine besondere Als Pius XI. starb, war der Tenor der Verantwortung für den Frieden in Europa Nachrufe ein äußerst positiver. Die „Papst- trug. Wer sich mit „Kirche und Europa“ be- bilder“, die in den Medien der damaligen schäftigt, kommt dementsprechend um die Zeit sowie in den verschiedensten Biogra- Zwischenkriegszeit und damit das Pontifi- fien gezeichnet wurden, sind sehr vielfältig kat Pius’ XI. (1922-1939), welches sich und fast allesamt positiv. Man hatte Pius beinahe zur Gänze mit der Zeit zwischen XI. als Friedenspapst, Wissenschaftler und den Weltkriegen deckt, nicht herum. In der Bergsteiger – er hatte als Erster die 4634 Folge soll daher das Verhältnis Pius’ XI. zu Meter hohe Dufourspitze des Monte-Rosa- Europa näher analysiert werden. Massivs bestiegen6 – geschätzt. Man trau- Doch woran kann man dieses eigentlich erte um den Pontifex, den man bereits zu festmachen? Lässt sich so etwas wie ein Lebzeiten als bedeutenden Papst eingeord- Europadenken oder gar Europabild nach- net hatte, und viele Zeitgenossen vermute- zeichnen? Und wenn ja, auf welche Weise? ten eine starke Rezeption durch die Am sinnvollsten erscheint es, dazu a) ei- Nachwelt.7 So äußerte sich der damalige nerseits die offiziellen Dokumente, d.h. En- Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri über zykliken, Predigten und Ansprachen, etc., diesen, dass er „zweifellos als einer der auf einen expliziten oder impliziten Euro- größten Päpste der Katholischen Kirche in

RENOVATIO 1 - 2014 19 die Geschichte eingehen“8 würde und der Ebenso unterscheidet ihn von seinem unter Pius XI. zum Kardinal kreierte Jean Vorgänger – wie auch seinem Nachfolger –, Verdier, Erzbischof von Paris und päpstli- dass er keine diplomatische Ausbildung ab- cher Legat, verkündete nach dem Tod des solviert hatte. Nach dem Besuch von Papstes in einer Radioansprache: Grundschule und Gymnasium in Monza und Mailand wurde er bereits im Alter von „Ich habe soeben den Papst zu seiner letz- 22 Jahren im Lombardischen Kolleg in ten Ruhestätte geleitet, den großen Papst, Rom aufgenommen und studierte an der den alle Welt beweint […] Was uns in un- Gregoriana, der Sapienza und der Thomas- serer Trauer tröstet, ist die einzigartige An- Akademie, wo er mit 25 Jahren im Kano- teilnahme der ganzen Menschheit. Man nischen Recht, in Theologie und Philoso- pries in ihm das weise Oberhaupt der Kir- phie promovierte. 1882 folgte er dem Ruf che, das sich zu allen Zeitfragen äußerten, nach Mailand, wo er als Professor für den unerschrockenen Wächter christlicher Theologie und sechs Jahre später auch im Kultur, den genialen Kämpfer, der gegen Doktorenkollegium der Ambrosiana tätig die Mächtigen des Tages aufzustehen war. Hier betätigte er sich als Historiker wusste, um die Verfolgten und Unglückli- und Paläograf und verfasste wissenschaft- chen zu verteidigen, den mutigen Greis, der liche Publikationen, sodass er 1907 zum bis zu letzten Stunde, noch an der Schwelle Leiter der Bibliothek ernannt wurde. In die- des Todes, gearbeitet hat, den großen ser Position kam es zu einem Austausch Freund des Friedens, der in heroischer mit Gelehrten aus aller Welt. Gleichzeitig Hingabe Gott sein Leben anbot, um die engagierte er sich in der Studierendenseel- Schrecken des Krieges von uns fernzuhal- sorge und aufgrund seiner Deutschkennt- ten, schließlich einen Vater und einen Hei- nisse auch als Seelsorger der dort an- ligen, der der ganzen Menschheit zur Ehre sässigen Deutschen. 1912 wurde er von gereichte.“9 Pius X. nach Rom berufen und zunächst zum Propräfekten, anschließend zum Leiter Anders als sein Vorgänger, Benedikt der Vatikanischen Bibliothek ernannt. Für XV., stammte Pius XI. aus der gehobenen den Historiker Ratti dürfte diese Zeit von Mittelschicht: Er wurde am 31. Mai 1857 besonderer Bedeutung gewesen sein. Doch als fünftes Kind von Teresa Ratti, geb. schon am 25. April 1918 ernannte ihn Be- Galli, und Francesco Ratti, der eine Sei- nedikt XV. vor allem aufgrund seiner denfabrik leitete, in Desio bei Monza Sprachkenntnisse und internationalen Kon- (Lombardei) geboren und am 1. Juni auf takte und trotz fehlender diplomatischer Er- den Namen Ambrogio Damiano Achille ge- fahrung, zum Apostolischen Visitator für tauft. Die Großeltern waren Landwirte ge- Polen und die angrenzenden Gebiete.12 Die wesen, die aufgrund des industriellen Jahre in Polen bildeten einen starken Kon- Aufschwungs in den städtischen Bereich trast zur bisherigen Tätigkeit. „Aus dem gezogen waren.10 Dies dürfte nach Ansicht Frieden seiner weltberühmten Bibliothek einiger Autoren Achille Ratti stark geprägt gerissen, geriet er in einen wahren Hexen- und sich auf sein späteres Pontifikat ausge- kessel, in dem leidenschaftliche und schier wirkt haben – etwa in der Unterstützung in- unlösbare Konflikte brodelten.“13, schreibt ternationaler Organisationen oder seiner der Biograf MATHIEU-ROSAY. Denn der Aufgeschlossenheit gegenüber neuer Tech- Staat Polen war nach mehr als einem Jahr- nik.11 hundert der Teilung zwischen Russland, Preußen und Österreich und der eben erst

20 RENOVATIO 1 - 2014 auf Initiative der Mittelmächte erfolgten Deutschland, welche in der bekannten En- Neugründung ein politisch schwieriges zyklika „“ themati- Terrain.14 Das Land war gezeichnet von siert wird. Dementsprechend ist auch der den Zerstörungen im Zuge des Ersten Welt- Europabezug, der Stellenwert, den Europa kriegs, von Hunger, Krankheiten und Roh- in den Dokumenten einnimmt, unter- stoffmangel, es stand politisch insbesonde- schiedlich stark ausgeprägt. re zwischen den Mächten Russland und Untersucht man die offiziellen Doku- Deutschland. Aufgabe Rattis war es, die mente auf den Begriff „Europa“ hin, so fällt Lage zu analysieren und die Kirche Polens auf, dass dieser verhältnismäßige selten wieder zu beleben. Was die „angrenzenden vorkommt. Allein in den Enzykliken taucht Gebiete“ betraf, so waren damit das Balti- er explizit nur 10 Mal auf. Die Kontexte, in kum, Russland, aber auch „alle ehemals denen er verwendet wird, sind unterschied- den Romanows unterworfenen Gebiete“ lich: So wird „Europa“ etwa in der Enzy- gemeint.15 Bei diesen untereinander ver- klika „Rerum Ecclesiae“ den Missionsge- feindeten Ländern war es unmöglich, poli- bieten gegenübergestellt. Zumeist steht tikfrei zu agieren und so ist es nicht „Europa“ jedoch im Zusammenhang mit verwunderlich, dass die Mission letztlich den Gräueln und der Last des Ersten Welt- scheiterte: 1921 wurde in Polen jede politi- kriegs. sche Propaganda des Klerus untersagt und Wesentlich häufiger als „Europa“ sind die polnischen Behörden forderten die Ab- hingegen die Begriffe „Welt“ (mundus, berufung des Nuntius.16 mondo, monde, ...) und daraus gebildete Achille Ratti wurde daraufhin zurück Begriffszusammensetzungen wie „Weltkir- nach Italien beordert und am 8. September che“, vor allem aber implizite Hinweise, 1921 als Erzbischof von Mailand inthroni- die anhand von Schlüsselbegriffen wie dem siert. Nur wenige Monate später, nach dem des „Friedens“ (pax, pace, peace) bezie- Tod Benedikts XV. am 22. Januar 1922, hungsweise „Weltfriedens“ (pax mundi, wählte das Konklave vom 6. Februar 1922 pace mondiale) festgemacht werden kön- Achille Ratti zum Papst.17 nen. Daraus konnte man freilich schließen, dass die vatikanische Politik bereits damals Europa in den offiziellen Dokumenten nicht nur europäisch-international sondern, ganz im Sinne des Missionsgedankens, in- Während des 17-jährigen Pontifikates Pius’ terkontinental-global ausgerichtet war. So XI. entstanden insgesamt 178 offizielle Do- handelt die Enzyklika „Acerba Animi“ von kumente, d.h. Allokutionen, Apostolische der Verfolgung der Kirche in Mexiko. Den- Schreiben, Breven, Briefe und Schreiben, noch ist anzunehmen, dass dort, wo Pius Enzykliken, Motu Proprio, Predigten sowie von der „Welt“ spricht, primär Europa im Radiobotschaften, wobei Apostolische Blickfeld steht. Denn gerade hier finden Schreiben und Briefe den größten Teil des sich die Brennpunkte und Krisen der da- Korpus darstellen. Inhalte und Anlass der maligen Zeit, gerade hier zeichnet sich ein Verlautbarungen variieren – die Themen neuer „Weltkrieg“ ab. Auch die Tatsache, reichen von der Eröffnung der Vatikani- dass die auf Deutsch verfasste Enzyklika schen Pinakothek, der Ernennung des Hei- „Mit brennender Sorge“ die Situation in ligen Aloysius von Gonzaga zum Patron Deutschland reflektiert, entspricht ganz der katholischen Jugend oder der Unter- dieser Vermutung. zeichnung der Lateranverträge bis hin zur sich immer weiter zuspitzenden Lage in

RENOVATIO 1 - 2014 21 Die Politik Pius’ XI. wahrgenommen wurde, als dies wohl heute der Fall ist. Betrachtet man die (Europa-)Politik Pius’ Im Hinblick auf die Europapolitik Pius’ XI., so sind in erster Linie die unter ihm ge- XI. kann auch das Verhältnis des Heiligen schlossenen Konkordate zu nennen. Kon- Stuhles zu internationalen Organisationen kret handelt es sich um Verträge mit den der Zwischenkriegszeit in den Blick ge- Ländern Lettland (1922), Bayern (1924), nommen werden: Welche internationalen Polen (1925), Litauen (1927), Rumänien Nichtregierungsorganisationen wandten (1927/29), Italien (1929), Preußen (1929), sich mit Anfragen an den Heiligen Stuhl Baden (1932), Österreich (1933), Deutsch- (bzw. den Papst oder den Kardinalstaatsse- land (1933), sowie Jugoslawien (1935). kretär)? Inwiefern wurde diesen geantwor- Dadurch wurde versucht, die Eigenstän- tet und welche wurden unterstützt? digkeit und Freiheit der katholischen Kir- In der von politischer Unsicherheit, Ar- che in diesen Ländern abzusichern. beitslosigkeit, Hunger und Armut gepräg- Andererseits belegt dies aber auch, dass ten Zwischenkriegszeit wandten sich sich der Heilige Stuhl mit diesen auseinan- zahlreiche Privatpersonen, Vereine und (in- dersetzte und sie als Teile Europas wahr- ternationale) Organisationen an den Heili- nahm. Darüber hinaus wurden zahlreiche gen Stuhl oder auch direkt an den Papst, andere Abkommen mit mittel- und osteu- um sich die Bestätigung und (finanzielle) ropäischen Staaten geschlossen.18 Auffällig Unterstützung ihrer Projekte und Vorhaben ist hierbei, dass es sich ausschließlich um zu sichern, den Heiligen Vater in seiner europäische Staaten handelt und kein ein- Funktion als diplomatische Instanz für die ziges Konkordat während der sogenannten Idee des Friedens in Europa zu gewinnen „Konkordatsära“ mit außereuropäischen oder ihn um Intervention zwischen den Nationen geschlossen wurde. Dieser Fokus Staaten zu bitten. „Für eine bessere Zu- lässt sich jedoch nicht mit der besonderen kunft“, so schrieb Martha Kaspar, eine Kin- Notwendigkeit, die nur in Europa bestan- dergärtnerin aus Zürich, im September den hätte, begründen, zumal die Kirche bei- 1923, möge sich der Heilige Vater einset- spielsweise auch in Mexiko stark unter zen.21 Diese Schreiben sind – mit all ihren Verfolgung litt. Rechtschreibfehlern und Anhängen – bis Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass heute in den Vatikanischen Archiven auf- im Pontifikat Pius’ XI. ein ungewöhnlicher bewahrt und bisweilen in thematisch sor- Schwerpunkt auf Russland lag: Trotz her- tierten Akten unter bezeichnenden Titeln ber Rückschläge19 wurde um jeden Preis wie „Pace mondiale“ zusammengefasst. versucht, die Kontakte nicht abreißen zu Wie stark die Existenz mancher Organisa- lassen und durch die Russlandmission, aber tionen aufgrund der wirtschaftlichen Lage auch über ein angedachtes Konkordat, wel- bedroht, wie unsicher ihr Fortbestand war, ches letztlich nie umgesetzt wurde, den zeigt das Beispiel der kipa, einer bis heute Fortbestand der dortigen Kirche zu si- bestehenden katholischen Presseagentur, chern.20 Aus diesen Bemühungen sowie der die 1917 durch den Schweizer Journalisten immer wiederkehrenden Erwähnung Russ- Ferdinand Rüegg ins Leben gerufen wurde lands in den offiziellen Dokumenten im und ab 1921 eine Zeitschrift mit dem Titel Zusammenhang der europäischen Lage „Ecclesiastica“ herausgab.22 Obwohl die lässt sich folgern, dass Russland von Pius Organisation nicht nur seitens der Schwei- XI. als Teil Europas oder zumindest we- zer Bischöfe gelobt sondern auch im Vati- sentlich stärker als zu Europa gehörig kan Anklang findet – Pius XI. erteilt der

22 RENOVATIO 1 - 2014 kipa im Januar 1930 seinen Segen –23, steht tius ab, ob ein Brief überhaupt das Staats- sie im Herbst 1930 am Rande des Ruins: sekretariat erreichte. Der Münchener und Einen Mitarbeiter hat Rüegg bereits verlo- spätere Berliner Nuntius Kardinal Eugenio ren, einen anderen kann er nur mit Mühe Pacelli bot dies manchmal von sich aus an halten, seine Frau ist „unter der Arbeitslast oder ermutigte die um Unterstützung Su- zusammengebrochen“ und die Sorge, wie chenden, sich direkt an den Hl. Stuhl zu er seine acht Kinder weiterhin ernähren wenden. Dementsprechend ergibt sich ein kann, ist groß. „Was ich mit der Mitarbei- Bild, das nicht frei von Verzerrung ist, denn terschaft anfangen und wie ich sie entschä- die Anzahl der überlieferten Quellen muss digen soll, ist mir noch ein Rätsel.“, nicht automatisch die Anzahl der (katholi- berichtet Rüegg.24 Auch die katholischen schen) Organisationen in einem bestimm- Bibliotheken Münchens wenden sich 1923 ten Land oder die Lage des dortigen an den Papst, weil sie nicht mehr in der Katholizismus widerspiegeln. So wissen Lage sind, Holz und Kohle für Heizungs- wir, dass in den Niederlanden der Zwi- zwecke anzukaufen.25 schenkriegszeit ein sehr reger und aktiver Beim Studium der Quellen in den Vati- Katholizismus herrschte, was sich zwar kanischen Archiven (ASV und A.E.S.) wird mittels der Tagespresse und vereinzelter schnell deutlich, dass sich die Korrespon- Akten im A.E.S., nicht aber anhand der hol- denzen sehr stark in ihrem Umfang unter- ländischen Nuntiaturakten selbst belegen scheiden. Während einige Vereine und lässt. Hinzu kommt, dass nicht zu allen Bewegungen nur ein oder wenige Male um Briefen Antwortschreiben bzw. die Ent- Approbation und/oder Unterstützung baten, würfe dazu erhalten sind, was jedoch nicht füllen die Schreiben anderer ganze Ordner, bedeutet, dass es solche nicht gegeben wenige sind sogar unter eigenständigen Po- hätte. Denn obwohl auf so manchen Bitt- sitionen aufbewahrt. In den meisten Fällen brief die Antwort aus dem Vatikan fehlt, sind sie jedoch nach Nuntiaturen und Län- folgt darauf ein Dankesschreiben, aus dem dern geordnet, wobei auffällt, dass das Aus- ein Hinweis auf (finanzielle) Unterstützung maß der Akten ebenfalls sehr verschieden hervorgeht. So wird beispielsweise in der ist. Während beispielsweise die Münchener Korrespondenz zwischen dem Untersekre- und Berliner Nuntiaturakten äußerst viel tär des Staatssekretariats, Kardinal Giu- und gut sortiertes Quellenmaterial beinhal- seppe Pizzardo, und der Vorsitzenden der ten und in Indices z.T. bis auf Faszikel oder „Unione delle Leghe Cattoliche Femmi- sogar Blatt der Inhalt verzeichnet ist, sind nili“ (U.I.d.L.C.F.), Flore[ntine] Steen- die holländischen und belgischen kaum er- berghe-Engeringh, immer wieder auf schlossen. Die Indices sind, wenn vorhan- Briefe Bezug genommen, die nicht in den den, dürftig und ungenau, in den Akten Vatikanischen Archiven überliefert sind. selbst sind die Blätter lose und nicht num- Nachdem gerade die kleineren Organisa- meriert. Auch der Zustand der Quellen tionen oftmals nicht mehr existieren und selbst variiert stark, etliche dürften durch kein Rechtsnachfolger vorhanden ist, ist Transport (z.B. von München nach Berlin) auch eine Sichtung der Gegenüberlieferung und schlechte Lagerungsbedingungen ge- nicht immer möglich. litten haben und weisen etwa Feuchtig- Dies schränkt die Zahl der möglichen keitsschäden auf. Viele Briefe wurden nicht zu analysierenden Organisationen stark ein. direkt an Rom gerichtet, sondern über die Zu den besser überlieferten gehören das In- Nuntiaturen weitergeleitet und nicht selten ternationale Rote Kreuz (IKRK)26, „Pax hing es vom Interesse des jeweiligen Nun- Romana“, die „Unione delle Leghe Catto-

RENOVATIO 1 - 2014 23 liche Femminili“ (U.I.d.L.C.F.) sowie die miteinander vernetzen sollte, um den Aus- Bestrebungen rund um die Gründung einer tausch von Kontakten, Ideen und Ressour- internationalen katholischen Liga (Lega cen zu ermöglichen sowie angesichts der Cattolica Internazionale). Dabei kristalli- katastrophalen Kriegserfahrung einen Bei- sierten sich insbesondere die Korrespon- trag zum Frieden in Europa zu leisten. denzen der beiden letztgenannten Bewe- Gleichzeitig sollte diese Liga auch ein Ge- gungen als interessant heraus. Bei der gengewicht zu bestehenden politischen und U.I.d.L.C.F. handelte es sich um eine inter- ideologischen Strukturen bilden. Wie die nationale Organisation, die sich im Geist Namensgebung vermuten lässt, dachte man der Katholischen Aktion verstand und ver- dabei wohl insbesondere an den Sozialis- suchte, katholische Frauenvereine europa- mus sowie den gerade entstehenden Völ- und weltweit miteinander zu vernetzen. Die kerbund. Auf einem vom 1. Juni 1920 Idee zur Gründung einer internationalen stammenden, vom katholischen Priester katholischen Liga (Lega Cattolica Interna- , der zu dieser Zeit in zionale oder Confederazione Cattolica In- Graz lebte und den „Weltfriedensbund vom ternazionale) war während des Ersten Weissen Kreuz“ sowie die von ihm ge- Weltkriegs entstanden. Um die Ideengeber gründete Organisation „Internacio Kato- herum bildeten sich in der Folge mehrere lika“ (IKA) leitete, verfassten Flugblatt mit Organisationen mit ähnlichen oder sogar dem Titel „Die katholische Internationale, gleichen Zielen, darunter das „Internatio- ihre Notwendigkeit und ihre Ziele“ heißt nale Bureau der katholischen Organisatio- es: nen“ („Ufficio Internazionale delle Orga- nizzazioni Cattoliche“) sowie die „Interna- „Zwei Fragen stehen zurzeit im Vorder- cio Katolika“ (I.K.A.),27 die einen Dach- grund: Ist der Zusammenschluss der Ka- verband katholischer Organisationen bilden tholiken aller Länder in einem Weltfriedens- sollten, der später teilweise in die Katholi- bund notwendig, wo wir ja schon einen sche Aktion überging bzw. sich durch die Weltfriedensbund haben, unsere katholi- unterschiedlichen Vorstellungen der Grün- sche Kirche? Und welche Ziele soll so ein der, die sich immer mehr voneinander ent- Weltfriedensbund haben? […] Die Kirche fernten, auflöste. Erwähnenswert ist zu- kann als offizielle Organisation nicht alles dem, dass die Paneuropa-Bewegung um autoritär allein durchführen, sie braucht Richard Nikolaus Graf von Coudenhove- freie Hilfsorganisationen, sie braucht die Kalergi in den Vatikanischen Akten keine Ergänzung der ordentlichen Seelsorge bedeutende Rolle spielt – sei es, weil diese durch alle möglichen Mittel und Organisa- keine Korrespondenz mit dem Heiligen tionen freier Mitarbeit von Geistlichen und Stuhl führte, diese sich in den entsprechen- Laien. […] Gerade bezüglich der Frie- den Archiven nicht erhalten hat, oder weil densbewegung ist eine solche Organisation man der Bewegung dort zu wenig Beach- nötiger denn irgendwo. Ist es nicht gera- tung schenkte. dezu beschämend, dass wir Katholiken be- züglich der urchristlichen Friedensge- Eine katholische Internationale danken in allen Ländern bisher durchaus Bereits gegen Ende des Ersten Weltkrieges im Hintertreffen gestanden haben? Wollte kam die Idee auf, eine „Katholische Inter- ich aus persönlicher Erfahrung sprechen, nationale“ zu bilden, welche Katholiken ich wüsste gar kein Ende.“28 sowie katholische Organisationen und Ver- einigungen in Europa aber auch weltweit

24 RENOVATIO 1 - 2014 Eine der ersten greifbaren Quellen der Be- Beschluss (Koninklijk Besluit (KB) Nr. 43) wegung ist ein Bericht des spanischen zum Ritter des „Orde van de Nederlandse Nuntius Francesco Ragonesi an Kardinal- Leeuw“ ausgezeichnet. staatssekretär Pietro Gasparri vom 23. Au- In den Vatikanischen Archiven findet gust 1919. Darin schreibt der Nuntius, dass sich in der Akte „Progetti di Internazionale sich unter der Leitung des Marchese di Co- Cattolica – Congressi per la Pace – IKA“ millas und des Duc de la Mothe29 einige eine vermutlich aus dem Jahr 1922 stam- Personen in Madrid getroffen und über die mende, maschinengeschriebene Notiz, dass Gründung einer Katholischen Liga nach- ein gewisser Monsieur Steger in einer Pri- gedacht hätten, die auch beim Völkerbund vataudienz am 1. März 1921 von Papst Be- vertreten und dem Heiligen Stuhl unter- nedikt XV. empfangen wurde und für sein stellt sein sollte. Während des Krieges sei Projekt 25.000 Lire zugesprochen bekam: eine solche Organisation nicht möglich ge- wesen, nun habe sich die Lage jedoch ver- „Dans une audience privée, accordée le 1 ändert und man möchte um Autorisierung Mars 1921 à M. Steger, le Saint Père, en Se durch den Heiligen Stuhl ansuchen. Dem réservant l’examen d’un projet pour la Brief sind mehrere Anhänge beigefügt, création d’une fédération des oeuvres ca- nämlich zwei Rundschreiben, die vermut- tholiques du monde entier, a porté Son at- lich zu Bewerbungszwecken an verschie- tention bienveillante sur le Règlement de dene Organisationen geschickt wurden, l’Office Central dernièrement approuvé sowie ein Brief eines gewissen Alfons Ste- par les délégués de plusieurs Nations réu- ger an den Markgrafen de Comillas. Der nis à cet effet à Paris. Name Stegers taucht in diesen frühen Do- Sa Sainteté, désireuse de contribuer de kumenten der Bewegung unter den Grün- quelque façon, aux dépenses occasionnées dern und Ideengebern immer wieder auf. par l’organisation de l’Office Central sus- Über ihn lässt sich nur mit Mühe außerhalb mentionné, a daigné assigner une offrande der Vatikanischen Archive etwas finden. de vingt-cinq mille (25.000) lires.“32 Der Niederländer Dr. Alfons M.A.A. Ste- ger (* 9.7.1874 Den Haag – † 31.8.1953 Seitdem tritt Steger in den Akten als Ein- Heemstede), der sich selbst in der Korres- zelperson auf, von den anderen Initiatoren pondenz mit dem Vatikan auch als Alp- der Katholischen Internationale ist keine hons, Alphonse oder Alfonso Steger Rede mehr. In den darauffolgenden Jahren bezeichnete, war Chemiker und von 1912– wird Steger auch vom neuen Pontifex, Pius 1944 Professor für Chemotechnik mit XI., in mehreren Privataudienzen empfan- Schwerpunkt auf Ölen und Fetten an der gen und erhält Geld für sein Projekt, ein Polytechnischen Hogeschool Delft (heute: „Internationales Bureau der katholischen Delft University of Technology) sowie Mit- Organisationen“ in Rom zu gründen, wel- glied des Senats (Erste Kammer) des Nie- ches durch die Vermittlung von Kontakten derländischen Parlaments.30 In seinem Le- zum besseren gegenseitigen Kennenlernen benslauf, der im „Chemisch Weekblad“ und in weiterer Konsequenz zum Frieden von 1937 veröffentlicht ist, deutet lediglich in Europa beitragen soll. Bereits am 23. die Publikationslücke im entsprechenden Februar 1922 und somit gleich zu Beginn Zeitraum von 1918 bis 1927 auf seine des Pontifikates bekommt Steger von Pius kirchliche Tätigkeit hin.31 Am 15. Dezem- XI. dafür 15.000 Lire zugesprochen.33 Das ber 1934 wurde er aufgrund seiner wissen- Büro wird auch tatsächlich gegründet und schaftlichen Verdienste per königlichem gibt 1924 ein Handbuch mit Adressen und

RENOVATIO 1 - 2014 25 Beschreibungen der Vereinigungen heraus, wohl man ihm nichts vorwerfen kann, ist das in mehreren Sprachen, in jedem Fall Metzger dem Grazer Klerus aufgrund sei- aber auf Deutsch, Englisch und Franzö- ner „Extravaganzen“ – Metzger trägt als sisch, erscheint.34 Bei dieser einen Publika- Geistlicher keine Kopfbedeckung – und tion scheint es jedoch geblieben zu sein und seines Enthusiasmus suspekt. Nachdem der nach 1924 gibt es in den Vatikanischen Ar- Bischof einige Erkundigungen eingeholt chiven keine Eintragungen mehr. Die hat, erteilt er Metzger schließlich sogar Pre- Gründe dafür sind unklar, möglicherweise digtverbot, woraufhin sich seine bisherigen widerfuhr der Organisation ein ähnliches Unterstützer zurückziehen und sich auch Schicksal wie vielen anderen Vereinen und im Vatikan Zweifel an dessen Integrität Ligen der Zwischenkriegszeit, die aus fi- breit machen.37 nanziellen, organisatorischen oder ideellen Gründen wieder aufgegeben werden muss- Die „Unione delle Leghe Cattoliche ten. Dem Lebenslauf Stegers ist jedenfalls Femminili“ zu entnehmen, dass er sich spätestens ab Eine weitere internationale Organisation, 1927 wieder der Forschung zugewandt hat. die von Pius XI. unterstützt wurde, war die Zusammen mit dem „Internationalen Frauenorganisation „Unione delle Leghe Bureau“ Stegers tritt noch eine weitere Or- Cattoliche Femminili“, kurz U.I.d.L.C.F., ganisation in den Akten auf, die auf die die seit 1952 den Titel „World Union of Ca- gleiche Idee, nämlich eine katholische In- tholic Women’s Organisations“ (WUCWO) ternationale sowie ein Netzwerk katholi- trägt und bis heute besteht.38 Sie wurde im scher Organisationen zu bilden, zurück- Jahre 1910 von der Vicomtesse de Vélard, greift: Die vom deutschen Diözesanpries- der Vorsitzenden der „Ligue Patriotique des ter Max Josef Metzger, welcher in Graz Femmes Françaises“ ins Leben gerufen mit tätig war und bereits das „Weisse Kreuz“ dem Ziel, alle katholischen Frauenver- leitete, etwa im selben Zeitraum gegrün- bände weltweit miteinander zu vereinen. dete „Internacio Katolika“ (I.K.A.). Da ihr Bei einem ersten Treffen, das in Brüssel Anliegen, einen Beitrag zur Völkerversöh- stattfand, waren Vereine aus Belgien, Bra- nung und -verständigung zu leisten,35 sich silien, Deutschland, Frankreich, Großbri- mit dem des „Internationalen Bureaus“ tannien, Lothringen, Österreich, Portugal, deckt, verwundert es kaum, dass beide mit- der Schweiz, Spanien und Uruguay anwe- einander verwechselt und in den Vatikani- send. Nachdem die Arbeit durch den Ers- schen Archiven unter „I.K.A.“ in denselben ten Weltkrieg unterbrochen worden war, Akten eingeordnet wurden. Wie Steger wurde die Tätigkeit 1921 mit einem Tref- wurde auch Metzger zunächst in Privatau- fen in Krakau wieder aufgenommen.39 dienzen empfangen und von höchster Stelle Die Korrespondenz zwischen der unterstützt. Doch auch dies endet Mitte der U.I.d.L.C.F. und dem Heiligen Stuhl setzt 1920er-Jahre, allerdings wohl aus anderen in den 1920er Jahren ein und findet in den Gründen als dies beim Unternehmen Ste- 1930er-Jahren ihren Höhepunkt.40 1922 gers der Fall gewesen war: Trotz einer re- wird die Niederländerin Flore[ntine] Steen- lativ großen Anhängerschaft Metzgers und berghe-Engeringh auf Vorschlag Pius’ XI. dem Wohlwollen nicht nur von vatikani- zur Vorsitzenden gewählt.41 Woher die Ver- scher Seite, sondern auch von mehreren Bi- bindung rührt, konnte bislang nicht ausfin- schöfen und Wissenschaftern,36 hegte der dig gemacht werden. Tatsache ist jedoch, Grazer Ortsbischof, Leopold Schuster, die- dass es in der Folge zu einem regen Aus- sem gegenüber ein großes Misstrauen. Ob- tausch kommt. Steenberghe-Engeringh und

26 RENOVATIO 1 - 2014 die von ihr aufgebaute Vorsitzende der Ju- zumindest nicht nur, weil Berater ihm dies gendbewegung der U.I.d.L.C.F., die Bel- empfohlen und nahe gelegt hätten. gierin Christine de Hemptinne, berichten in Bemerkenswert ist, dass Pius XI. vor Briefen regelmäßig, manchmal fast täglich allem solche Organisationen direkt unter- von ihrer Tätigkeit. Für den Vatikan bildete stützte, die versuchten, zum Frieden in die Organisation damit Auge und Ohr in Europa beizutragen – zumeist durch die der Katholischen Aktion, die damals noch Vernetzung von Vereinigungen und deren keine feste Einrichtung, sondern eher eine Mitgliedern. Man kann dies durchaus als lose Bewegung war.42 Von einer Audienz Hinweis darauf verstehen, welchen Stel- der U.I.d.L.C.F. am 4. April 1934 ist in den lenwert der Frieden in Europa in seinem Akten sogar eine Mitschrift der Papstrede Denken einnahm. erhalten, in der er die Bewegung nicht nur Ebenso wichtig scheint Pius XI. wäh- lobt, sondern auch deren Veröffentlichun- rend seines Pontifikates auch die Herstel- gen und Pressemeldungen erwähnt. Eines lung eines Gleichgewichts von Kirche und der betreffenden Dokumente, das die Hal- Staat sowie zwischen den Staaten unterei- tung der Organisation zum Radio darstellt, nander zu sein. Dies drückt sich in erster sendet de Hemptinne wenig später auf An- Linie in den zahlreichen Konkordaten aus, frage des Staatssekretariats zu.43 Dies be- die unter ihm ausverhandelt und abge- legt, dass Pius XI. die Organisation nicht schlossen wurden. Auf diese Weise ver- nur tatsächlich kannte, sondern sich sogar suchte er, ein kooperatives Verhältnis her- mit deren Inhalten auseinandergesetzt zustellen oder zumindest den Frieden zu hatte. wahren, wobei er sich durchaus der Fragi- lität dieses Friedens bewusst war. Dieser Schlussfolgerungen Einigungs- und Friedensgedanke steht in einer Linie mit den Europabewegungen der An dieser Stelle mag man die Frage stellen, Zwischenkriegszeit, sowie der Grundidee welche Aussagekraft die Untersuchung der der Europäischen Union, für die ihr 2012 päpstlichen Unterstützung internationaler der Friedensnobelpreis verliehen wurde.45 Organisationen im Hinblick auf das Euro- Pius XI. stellt sich damit aber auch in die padenken des Papstes besitzt. Denn: Wur- Tradition seines Vorgängers, des „Frie- den die betreffenden Vereine tatsächlich denspapstes“ Benedikt XV. von diesem selbst ausgewählt, oder war Freilich handelt es sich beim europäi- nicht bereits durch andere Instanzen eine schen Denken Pius’ XI. weniger um ein Auswahl getroffen worden? Dem ist zu ent- fest durchdachtes, geschlossenes Konzept, gegnen, dass Pius XI. für seinen relativ au- als vielmehr um eine mehr oder weniger toritären Führungsstil bekannt war. Viele vage Idee, die sich vor allem anhand im- seiner Entscheidungen traf er alleine und pliziter Äußerungen und konkreter politi- umging auch in nicht unwichtigen politi- scher wie diplomatischer Aktivitäten re- schen Fragen bis dahin zuständige Institu- konstruieren lässt. Europa ist demzufolge tionen. Nur selten folgte er, einmal zu einer deckungsgleich mit dem gleichnamigen Überzeugung gelangt, einem anderslauten- Kontinent, wobei Russland trotz seiner der den Rat.44 Wenn Pius XI. daher eine Orga- römisch-katholischen Kirche gegenüber nisation unterstützte oder in einer Privat- teilweise feindlichen Politik als diesem zu- audienz empfing, so ist davon auszugehen, gehörig wahrgenommen wird. dass er dies aus eigenständiger Überlegung und freiem Entschluss tat, und nicht oder

RENOVATIO 1 - 2014 27 In der Zwischenkriegszeit nimmt Eu- Hitler, Stalin. Seine Weltrundschreiben gegen ropa für die Kirche einen zentralen Stel- Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunis- lenwert ein, denn Krieg und Frieden beein- mus, Eichstätt 1987, 13-14; LAMA Friedrich Rit- flussen auch das Schicksal der dort ter von, Papst Pius XI. Sein Leben und Wirken lebenden Katholikinnen und Katholiken, dargeboten zu seinem goldenen Priesterjubi- des Vatikan und des Papstes und somit ge- läum, Augsburg 1929, 4-17; MATHIEU-ROSAY, wissermaßen auch die Kirche selbst. Um- Jean, Die Päpste im 20. Jahrhundert, Darmstadt gekehrt ist das Interesse Europas am 2005, 69-72; SCHMIDLIN, Josef, Papsttum und Papsttum ebenfalls groß: In diplomatischen Päpste im XX. Jahrhundert. Pius XI. (1922- Gesprächen wird der Heilige Stuhl selbst- 1939), (Papstgeschichte der neuesten Zeit, Bd. verständlich miteinbezogen und zahlreiche 4), München 1939, 5-35. Politiker, Privatpersonen und (internatio- 7 Tatsächlich wurde Pius XI. im Vergleich zu nale) Organisationen wenden sich an den seinem aus der Retrospektive nicht unumstritte- Papst als Vermittlerinstanz oder um seine nen Nachfolger Pius XII. (1939-1958), zu dem Anerkennung zu finden. zahlreiche Forschungen betrieben und viele (po- Des Weiteren lässt sich feststellen, dass pulär-)wissenschaftliche Publikationen verfasst die Europapolitik Pius’ XI. maßgeblich das wurden, jedoch eher spärlich behandelt. weitere Verhältnis der Kirche zu Europa 8 CONFALONIERI, Carlo, Pius XI. aus der Nähe geprägt und einen Grundstein zukünftiger gesehen, Aschaffenburg 1958, 7. diplomatischer Beziehungen gelegt hat. So 9 Jean Kardinal Verdier am 14. Februar 1939, zi- besitzen die unter ihm getroffenen Kon- tiert nach: SOLZBACHER, Wilhelm, Pius XI. als kordatsvereinbarungen bis heute Gültig- Verteidiger der menschlichen Persönlichkeit. keit. Die Kirche und die Götzen unserer Zeit, Luzern 1939, 12. 10 Vgl. FITZEK 1987, 13-14; LAMA 1929, 4-17; Anmerkungen MATHIEU-ROSAY 2005, 69-72; SCHMIDLIN 1939, 1 Vgl. , der Familie Ratti, die ursprünglich dem einfa- (27. Apr. 2014). chen Adel angehörte, läßt sich bis in das 14. 2 http://de.radiovaticana.va/news/2014/01/17/ Jahrhundert verfolgen.“, LAMA 1929, 5)“, wird parolin_über_papst_franziskus,_menschli- jedoch bereits von Schmidlin als haltlos ver- che_diplomatie_und_ europa/ted-764909>, (27. worfen: „Andererseits ist der genealogische Zu- Apr. 2014). sammenhang mit dem späten mittelalterlichen 3 ROSSI, Fabrizio, Der Vatikan. Politik und Or- Adelsgeschlecht der in Staatsdiensten und Waf- ganisation, München 2004, 24. fenhandwerk bewährten Ratti von Cherasco 4 Vgl. WOLLSTEIN, Günter, Ein deutsches Jahr- gleichwie mit denen von Valle Stroma völlig un- hundert 1848-1945. Hoffnung und Hybris. Auf- erwiesen und historisch unwahrscheinlich.“ sätze und Vorträge, (Historische Mitteilungen (SCHMIDLIN 1939, 6.) Und in Fußnote 7 findet im Auftrage der Ranke-Gesellschaft, Bd. 78), sich der Zusatz: „Wie Lama ohne geschichtli- Stuttgart 2010, 234-263. che Belege behauptet.“ (SCHMIDLIN 1939, 6.) 5 WOLF, Hubert, Papst und Teufel. Die Archive 11 Der zeitgenössische Theologe und Papsthis- des Vatikan und das Dritte Reich, München toriker Joseph SCHMIDLIN schreibt dazu: „Es 2008, 48. dürfte auch nicht von untergeordneter Bedeu- 6 Vgl. FITZEK, Alfons, Pius XI. und Mussolini, tung sein, daß er weder dem Hochadel wie sein

28 RENOVATIO 1 - 2014 unmittelbarer Vorgänger Benedikt XV. noch der 1939, (Spreti-Studien, Bd. 2), München 2010, untersten Bevölkerungsschicht wie der ewig 285-298. Die bis heute geltenden Verträge fin- arme Pius X., sondern dem gewerblichen Mit- den sich auf der Internetseite des Heiligen telstand einer aufstrebenden Industriegegend Stuhls (, 29. Apr. 2014) junktur unserer Tage verflochten wurde.“ 19 Man denke hierbei vor allem an den Misser- (SCHMIDLIN 1939, 5-6.) Was das Interesse für folg der Russlandmission unter der Leitung des neue Technik betrifft, so ist etwa darauf zu ver- Jesuiten Michel d’Herbigny. weisen, dass unter Pius XI. Radio Vatikan ge- 20 Vgl. STEHLE, Hansjakob, Geheimdiplomatie gründet und erstmals Automobile im Vatikan im Vatikan. Die Päpste und die Kommunisten, eingesetzt wurden. Zürich 1993, 32. 12 Vgl. FITZEK 1987, 13-14; LAMA 1929, 4-17; 21 A.E.S., Stati Ecclesiastici IV, Pos. 338 P.O., MATHIEU-ROSAY 2005, 69-72; SCHMIDLIN 1939, Fasc. 220. 5-35. 22 Vgl. A.E.S., Svizzera IV, Pos. 198 P.O., Fasc. 13 MATHIEU-ROSAY 2005, 71. 6. Siehe auch , (24. Apr. Hitler und Stalin. Studien zur polnischen Au- 2014). ßenpolitik in der Zwischenkriegszeit, Berlin 23 Vgl. A.E.S., Svizzera IV, Pos. 198 P.O., Fasc. 2012; sowie MOROZZO DELLA ROCCA, Roberto, 6, 69. Achille Ratti und Polen 1918-1921, in: ZEDLER, 24 A.E.S., Svizzera IV, Pos. 198 P.O., Fasc. 6, Jörg (Hg.), Der Heilige Stuhl in den internatio- 69. nalen Beziehungen 1870-1939, (Spreti-Studien, 25 Maschingeschriebener Brief (dt.) der katholi- Bd. 2), München 2010, 249-284. schen Bibliotheken Münchens, unterzeichnet 15 MOROZZO DELLA ROCCA 2010, 252. von Adalbert Schulz, an den Heiligen Vater vom 16 Vgl. BORODZIEJ, Włodzimierz, Geschichte Po- 12. Okt. 1923; Ort: München – ASV, Arch. lens im 20. Jahrhundert, (Europäische Ge- Nunz. Monaco 357, 23r. schichte im 20. Jahrhundert), München 2010, 26 Die Korrespondenz nimmt jedoch nach Ende 97-124; KORNAT 2012, 13-29; 67-81; WILK, des Ersten Weltkriegs stark ab und beschränkt Stanisław, Die Warschauer Nuntiatur in den Jah- sich ab Mitte der 1920er-Jahre hauptsächlich auf ren 1919 bis 1939, in: WOLF, Hubert (Hg.), Eu- die Übersendung von Einladungen zu Sitzun- genio Pacelli als Nuntius in Deutschland. gen, Zeitungsartikel und Drucke. Forschungsperspektiven und Ansätze zu einem 27 Die I.K.A. („Internacio Katolika“) wird in den internationalen Vergleich, (Veröffentlichungen Quellen unter verschiedenen Namen und Ab- der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: kürzungen angeführt, auch ihre Gründer und Forschungen, Bd. 121), Paderborn/Mün- Mitglieder verwendeten offenbar keine einheit- chen/Wien/Zürich 2012, 197-212. liche Bezeichnung. Neben „Internacio Katolika“ 17 Vgl. FITZEK 1987, 13-14; LAMA 1929, 4-17; („Katholische Internationale“, I.K.A.) und MATHIEU-ROSAY 2005, 69-72; SCHMIDLIN 1939, „Confederazione Cattolica Internazionale“ 5-35; SCHWAIGER, Georg, Papsttum und Päpste („confoederatio catholica internationalis“; im 20. Jahrhundert. Von Leo XIII. zu Johannes C.C.I.) wird sie auch als „Internationale Katho- Paul II., München 1999, 193-208. lische Aktion“, „Opus Catholicum Internatio- 18 Vgl. SAMERSKI, Stefan, Kirchenrecht und Di- nale“ oder als „Internationale Katholische Liga“ plomatie. Die Konkordatsära in der Zwischen- bezeichnet. In der Biografie einer ihrer Mitbe- kriegszeit, in: ZEDLER, Jörg (Hg.), Der Heilige gründer heißt es: „Es ‚haben nicht nur die Stuhl in den internationalen Beziehungen 1870– IKUE, sondern IKUE und der Katholische Welt-

RENOVATIO 1 - 2014 29 friedensbund vom Weißen Kreuz zusammen die 36 Vgl. A.E.S., Stati Ecclesiastici IV, 1443 P.O., Ika gegründet‘, schrieb Kaspar Mayr. Da die Fasc. 588, 16r-20v. Geschäftssprache der neuen Bewegung Espe- 37 Vgl. ASV, Arch. Nunz. Vienna 845, 772r- ranto war, lautete ihr voller Name ‚Internacio 774v. Katolika‘. Bald gesellten sich auf dem Briefpa- 38 Siehe dazu , (29. pier Untertitel dazu, zunächst ‚The Catholic In- Apr. 2014). ternational‘, ‚L’Internationale Catholique, Die 39 Vgl. , (29. Apr. 2014). ter ‚International Catholic League, Internatio- 40 Vgl. A.E.S., Stati Ecclesiastici IV, 437 P.O., nale Katholische Liga, Ligue Internationale Fasc. 391-396. Catholique‘. Nach der Trennung von Metzger 41 Vgl. A.E.S., Stati Ecclesiastici IV, 437 P.O., stand an der Spitze die lateinische Bezeichnung Fasc. 395, 62r. ‚Foederatio Catholica Internationalis‘.“ (MAYR 42 Vgl. POLLARD, John, Pius XI’s Promotion of 2003, 55). the Italian Model of in the 28 ASV, Arch. Nunz. Berlino 73, 25r. World-Wide Church, Journal of Ecclesiastical 29 Dabei handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit History 63/4 (2012), 758-784, insbesondere nach um John Valentine Hussey-Walsh, Duc de 766-767. la Mothe-Houdancourt (1862–1937). Vgl. Wal- 43 ASV, Arch. Nunz. Belgio 198. In dem zitier- ford’s County Families of the ten Schreiben wird die Bedeutung christlicher or Royal Manual of the titled and untitled Aris- Radiosendungen thematisiert. Nur wenige Jahre tocracy of England, Wales, Scotland and Ire- zuvor war Radio Vatikan gegründet worden land, London 1919, 49. Ausg., 1909, 821. (1931). (, 27. März 45 Siehe dazu , (29. Apr. 2014). 30 Die Informationen stammen aus dem Archiv der TU Delft (TU Delft Library – Document Management & Archive; Korrespondenz mit Leo Woudstra, November 2013) sowie der „Kanselarij der Nederlandse Orden“ (Korres- pondenz mit Marieke van Oss-de Groot, April 2014). 31 Vgl. Van Loon, J., Prof. Dr. A.M.A.A. Steger (1912-1937), Chemisch Weekblad 34 (1937), 429-431. 32 A.E.S., Stati Ecclestiastici IV, 293 P.O., fasc. 19, 3r. 33 Vgl. A.E.S., Stati Ecclestiastici IV, 293 P.O., fasc. 19, 4r-6r. 34 Die deutschsprachige Version erschien 1924 in Wien: MONTI, Giuseppe (Hg.), Internationales Handbuch der katholischen Organisationen, Wien 1924. 35 Vgl. dazu z. B. A.E.S., Stati Ecclesiastici IV, 293 P.O., Fasc. 19, 23r; sowie ASV, Arch. Nunz. Berlino b. 73.

30 RENOVATIO 1 - 2014 Mit Wissen wächst Verantwortung Die literarische Reise der Ida Gräfin von Hahn-Hahn 1844 ins „Morgenland“ im Spiegel zeitgenössischer Orientbilder

Elisabeth K. Fischer

Elisabeth K. Fischer hat das Bachelor-Studium der Geschichte und Germanistik an der Uni- versität Potsdam und dem University College in Dublin abgeschlossen und ist seit 2012 im Master-Studium Geschichte der Frühen Neuzeit an der Freien Universität Berlin.

zu unternehmen, dar. Zeugnis dieser Reise ist ein im Jahr darauf veröffentlichter und in Briefform gehaltener Reisebericht. In diesen ORIENTALISCHEN BRIEFEN nimmt sie den Leser damals wie heute mit in den Ori- ent und an dieser Reise möchte ich Sie teil- haben lassen.2 Die aus konservativem, mecklenburgi- schem Adel entstammende Hahn-Hahn gilt, neben Fanny Lewald, Ida Pfeiffer und Lady Montagu als eine der wenigen rei- senden und zugleich schreibenden Frauen des 19. Jahrhunderts.3 1805 als Ida Marie Gräfin von Hahn geboren, geht sie im Alter von 21 Jahren eine Vernunftehe mit ihrem Cousin Graf Friedrich Hahn ein, die nach Elisabeth K. Fischer und Erzbischof nur dreijähriger Dauer geschieden wird. Fi- Dr. Alois Kothgasser, Salzburg nanziell gut situiert, unternimmt sie meh- rere Reisen. Ihre längste Reise führt sie 1843/44 von Dresden über Wien, nach Einleitung Konstantinopel, Smyrna, Rhodos, Zypern, „Allein ich kann nun einmal nicht anders Beirut, Damaskus, Jerusalem und Kairo.4 als streben und immer streben, und daher Durch den im Zuge des Kolonialismus ent- geht mir der Drang zur Erkenntnis über stehenden Austauschs von Waren und Kul- das, was ich bereits erkannt habe. Bald nun turgütern, sowie durch viele Reiseberichte, werde ich wissen, wie der Orient sich im erreichen ferne Länder immer größere Teile Auge einer Tochter des Occidents abspie- der europäischen Bevölkerung. Es herrscht gelt.“1 im 19. Jahrhunderts ein großes Interesse Mit diesen hehren Worten legt Ida Gräfin am so exotisch anmutenden Orient.5 Be- von Hahn-Hahn 1843 in einem Brief an sonders fremd mutet die orientalische Frau ihre Mutter ihre Intention, eine Orientreise an, die als femme fatale des Ostens stilisiert

RENOVATIO 1 - 2014 31 wird, sowie der Harem, der als sinnlich- 1. Der Orient als eine Erfindung – sündiger Ort die Phantasien anregt.6 Als Europäische Vorstellungen vom Kind ihrer Zeit ist auch Ida Hahn-Hahn „Morgenland“ im 19. Jahrhundert nicht frei von diesen Vorstellungen und wird diese mit auf ihre Reise genommen Der Begriff Orient erscheint uns heute ana- haben. chronistisch und ungenau. Berücksichtigt Doch welche Vorurteile hat sie bei Antritt er doch weder historische, noch geographi- ihrer Reise im Kopf? Wie haben sich diese sche oder kulturelle Eigenheiten. Streng verändert und welche dieser Ansichten fin- eurozentrisch zu lesen, schließt er Teile den sich in ihrem Reisebericht wieder? Asiens (Indien), den Mittleren und Nahen Denn unter Bezugnahme auf das Thema Osten, Nordafrika und den Mittelmeerraum der Hochschulwoche muss die Frage nach ein.7 Der Begriff impliziert eine gewisse der Verantwortung im Umgang mit Wissen Homogenität der Region, die weder kultu- in den Raum gestellt werden. Ihre Erfah- rell noch sprachlich zu halten ist. Gemein- rung und ihre visuellen Eindrücke um den sam aber haben diese Gebiete ihre – aus Orient unterscheiden Ida Hahn-Hahn von europäischer Sicht – deutliche Andersar- anderen Europäern. tigkeit. Edward Said, brachte es in seinem Wäre eine mögliche Schlussfolgerung, dass wegweisenden Werk ORIENTALISMUS auf sie eine Verantwortung gegenüber der ori- den Punkt: „Orientalismus ist ein westli- entalischen Gesellschaft hat, deren Zeugin cher Stil der Herrschaft, Umstrukturierung sie wurde? Oder hat sie die Aufgabe ihren und des Autoritätsbesitzes über den Ori- Teil zu leisten, um in der europäischen Ge- ent.“8 Er kritisierte wie kaum ein anderer sellschaft Vorurteile aufzubrechen, um so die ausschließlich von europäischen Maß- etwas zur Kommunikation zwischen Ori- stäben geprägte Analyse und Beurteilung ent und Okzident – gerade in Zeiten des orientalischer Gesellschaften. Kolonialismus – beizutragen? Und lässt Dieser Rahmen erlaubt nicht, sich dezidiert sich auch von Verantwortung gegenüber mit der Terminologie Orient auseinander ihren Geschlechtsgenossinnen sprechen, in zusetzen.9 Dennoch möchte ich, da es sich deren Namen sie die europäisch-männliche um einen zeitgenössischen Begriff handelt, Vorstellung der wollüstigen Orientalin und diesen beibehalten. Zudem halte ich mich ihrem betont tugendhaft europäischen an die von Ida Hahn-Hahn verwendeten Äquivalent ein wenig aufbrechen könnte? Begriffe wie Orientalin und Morgenland, Ob sich im Falle Hahn-Hahns von Verant- ohne dass diese im Vortrag jedes Mal als wortung sprechen lässt, wie weit sie dieser Zitat gekennzeichnet werden. nachkommt und wie sich das in ihrem Rei- Doch mit welchen konkreten Attributen ist sebericht niederschlägt, soll im Folgenden dieser Orient besetzt? Im Jahre 1704 wird erörtert werden. die Märchensammlung von 1001 Nacht Zu Beginn möchte ich die zeitgenössischen erstmals in Frankreich, wenige Jahre spä- Vorstellungen der Europäer vom Orient ter in Deutschland, veröffentlicht und er- aufzeigen, dann die Reise Hahn-Hahns hin- lebt eine breite Rezeption.10 Allerdings sind sichtlich der aufgeworfenen Fragen be- diese knappen und zudem noch literarisch leuchten und anschließend erfolgt eine stilisierten Darstellungen des Orients we- gattungskritische Untersuchung des Reise- nig geeignet, um ein differenziertes Bild berichts um am Ende die Frage nach einer der dortigen Gesellschaft aufzuzeigen. Verantwortung im Umgang mit Wissen für In einer mehrdeutigen Weise werden die diesen Fall zu beantworten. Orientbilder der Europäer im Hinblick auf

32 RENOVATIO 1 - 2014 die orientalische Frau besonders gut deut- Orientreisende gibt es im 19. Jahrhundert lich. Das Bild der erotischen und exotisch- viele. Doch Ida Hahn-Hahn hat als Frau ein schön imaginierten Orientalin fasziniert Alleinstellungsmerkmal, denn sie hat eine und gefällt fraglos. Gleichzeitig wird im der seltenen Möglichkeiten den Harem 18. und 19. Jahrhundert dieses Bild, dem Rifát Paschas in Konstantinopel zu besich- der Frau aus dem eigenen Kulturkreis kon- tigen.15 Ihr Bericht stellt somit ein wichti- trastierend gegenübergestellt. Alle diese ges Zeugnis dar, wie ein solcher Harem Weiblichkeitskonzeptionen sind patriar- ausgesehen haben mag. Natürlich unter der chisch aufgebaut und auch prägend für das Einschränkung, dass ein kurzer Besuch nie Eigenbild der europäischen Frau. Die Ori- die tatsächliche Lebenswelt der Bewohne- entalin wird in der europäischen Darstel- rinnen aufzeigen kann. lung in erster Linie auf ihre Körperlichkeit reduziert. Die geistigen Fähigkeiten finden 2.2. Die Adressaten und deren Beein- keine genauere Beschreibung. Bauchtanz, flussung durch das Mittel der Kon- Erotik, Polygamie, Schleier, Wollust, Ge- struktion/Dekonstruktion walttätigkeit, Unterwürfigkeit und Intrigen Ida Hahn-Hahn scheint gut ausgeprägte sind Schlagworte, die besonders an den Kenntnisse ihrer Leser gehabt zu haben. Harem gekoppelt sind, welcher per se eine Zwar widmet sie die Briefe nahestehenden Einrichtung darstellt, die die europäische Menschen, doch schreibt sie so auch immer Phantasie anregt.11 auf einzelne Gruppen ihrer Leserschaft Sie sehen die europäischen Vorstellungen zu:16 des Orients gehen häufig sehr an den ge- Das ist zum einen ihre Mutter, der sie einen sellschaftlichen Realitäten dieser Länder Großteil ihrer Briefe widmet. Charakteris- vorbei. Überlegenheits- und Machtansprü- tisch ist, dass sie in diesen Briefen die Rei- che kennzeichnen die Sicht auf die Fremde sewege; Orte und die beobachteten Men- im 19. Jahrhundert, sodass auch ein unvor- schen beschreibt. Sie bleibt dabei auf einer eingenommener Reisender sich nur schwer deskriptiv-narrativen Ebene. von diesen Stereotypen lösen kann.12 Zum anderen schreibt sie an ihre Schwester der sie tiefergehende Gedanken mitteilt. 2. Der Reisebericht Diese Briefe befassen sich mit dem „kran- ken Mann am Bosporus”, also mit der po- 2.1. Gattungsgeschichte litischen Lage des Osmanischen Reichs im Reiseberichte erfreuen sich im 19. Jahr- 19. Jahrhundert, sowie der Schleierkultur hundert großer Beliebtheit und folgen ihren des Orients, ihren Reiseintentionen und eigenen Regeln hinsichtlich Aufbau und ihre Gedanken über Frauen. Stilistik. Die übliche Gestaltungsform ist Weitere Briefe widmet sie ihrem Bruder. die Briefform.13 Durch ihre Reiseberichte Dieser steht für die männliche Leserschaft, avanciert Ida Hahn-Hahn zu einer der meist denn in diesen Briefen beschreibt sie ex- gelesenen Autorinnen ihrer Zeit in plizit den Harem, einen Sklavinnen-Markt, Deutschland.14 Gerade in ihrem Fall ist zu sowie ein Frauenbad, welches sie in Kon- berücksichtigen, dass jeder vermeintlich stantinopel sehen konnte.17 Hier arbeitet sie authentische Reisebericht immer unter dem sehr stark mit dem Mittel der Konstruktion, Aspekt der literarischen Nachbearbeitung bzw. Dekonstruktion, um die männliche zu sehen und nicht jene direkte Eindrück- Vorstellung der schönen Orientalin zu des- lichkeit widerspiegelt, wie es vielleicht vor illusionieren.18 Ort geführte Tagebücher können Doch was ist mit diesem stilistischen

RENOVATIO 1 - 2014 33 Mittel gemeint? Das bedeutet, sie greift 3. Die Orientreise der Ida Gräfin gängige Vorstellungen des Orients auf, um zu Hahn-Hahn sie anschließend durch die von ihr ge- machten Erfahrungen zu dekonstruieren. 3.1. Die Reisebedingungen Die Vorgehensweise ist dabei immer Es ist in diesem knappen Vortrag nicht gleich. Zuerst greift sie ein Traumbild auf, möglich die Reiseroute en detail nachzu- welches optisch oft entrückt ist. Als Bei- verfolgen. Daher möchte ich mit Ihnen spiel wäre hier das Panorama Konstantino- diese als Ganzes unter verschiedenen As- pels zu nennen. Auf diese eindringliche pekten betrachten, die sie meiner Gliede- Metapher einer bunten Theaterkulisse folgt rung entnehmen können. Ein Augenmerk eine optisch nähere Betrach- tung der Stadt liegt dabei auf den eingangs formulierten mit ihrem Dreck und schmutzigen Gas- Fragen, inwieweit sich Hahn-Hahn von sen.19 Thematisch steckt sie mit diesem Vorurteilen lösen kann, wie sie ihren Hori- Verfahren die Städte, Landschaften, Ge- zont erweitert hat und wie sich das in ihrer bäude und Monumente, die Sitten und Ge- literarischen Aufarbeitung äußert. bräuche der Menschen und deren Widmen wir uns zuerst der pragmatischen Aussehen, sowie politische und religiöse Frage nach den logistischen Umständen Betrachtungen ab. Also nahezu alle Berei- ihrer Reise. che, die Erfahrungen in der Fremde berüh- Zum einen muss die finanzielle Situation ren können.20 der Gräfin berücksichtigt werden. Zwar Worin liegt der Vorteil eines solchen Ver- verzichtet sie bewusst auf Luxus, doch er- fahrens? Dadurch gelingt ihr eine Ein- hält sie durch eine Vielzahl von Empfeh- drücklichkeit, um gewonnene Bilder auf- lungsschreiben Zugang zu europäischen zugreifen und gleichzeitig zu dekonstruie- Vertretern in den jeweiligen Ländern.21 ren. Doch ist das Entzaubern von Phanta- Somit behält sie sich einen elitären Blick sien ihrer Leser eine ihrer Hauptintentio- auf das Land und begegnet niederen Ge- nen, oder kommt darin nicht auch eine ge- sellschaftsschichten nur aus der Ferne. wisse Enttäuschung, die eigenen Bilder Zum anderen kommt hinzu, dass sie nie zerstört zu sehen, zum Ausdruck? Da wir länger als einige Tage an einem Ort ver- hierüber keine persönlichen Aufzeichnun- bringt. So wird es ihr unmöglich, tiefer in gen haben, lassen sich keine Aussagen tref- den Alltag und die Lebenssituation der fen, denen nicht der Verdacht der Spe- Menschen einzudringen.22 kulation anhaftet. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass das Des Weiteren kann die Bedeutung der zielgerichtet eingesetzte Mittel der Kon- sprachlichen Barrieren nicht gering genug struktion, bzw. Dekonstruktion ein Be- veranschlagt werden. Da sie nur hin und wusstsein für die Widersprüchlichkeit der wieder einige Wörter aufschnappt, ist sie gemachten Erfahrungen mit den europäi- auf Übersetzer angewiesen, was sie als sehr schen Vorstellungen ausdrückt und sie mühsam empfindet, weswegen die Gesprä- dieses zu beeinflussen bezweckt. Ein che oft nur von kurzer Dauer sind. Um so kenntnisreicher Umgang mit ihrem Wissen wahrscheinlicher ist es, dass ihre Eindrü- kann also Zwischenfazit festgehalten wer- cke besonders von visuellen Reizen geprägt den. Doch widmen wir uns nun der Reise. sind. Die sprachlichen Barrieren machen sie unempfindlich gegenüber Gesprächs- fetzen in ihrer Umgebung und so konzen- triert sie sich auf das Erfassen der Fremde

34 RENOVATIO 1 - 2014 durch genaue Beobachtungen. Dadurch er- Rückbesinnung der europäischen Kultur gibt sich ein größerer Interpretationsrah- auf den Orient, als deren Geburtsstädte sie men der Geschehnisse. In ihrem Reisebe- ihn betrachtet. Dabei hat aus ihrer Sicht die richt liegt der Fokus eindeutig auf visuell europäische, die orientalische Gesellschaft erfahrbaren Dingen, was sicher dem eben mittlerweile überholt. Der Orient – welcher geschilderten Umstand geschuldet ist. ja per se europäisch imaginiert wird – dient Mit diesem Rahmen im Hinterkopf möchte somit als Projektionsfläche, damit Europa ich nun ihre Projektionen gängiger euro- sich auf alte Werte zurückbesinnen könne.26 päischer Vorurteile auf den Orient und ihre Der Aspekt der Projektionsfläche ist ein Gründe dafür darlegen. zentrales Element in ihrem Reisebericht, insbesondere in Bezug auf das Frauenbild. 3.2. Der Orient als Projektionsfläche Wie die Forschung hinreichend herausge- Es zieht sich wie ein roter Faden durch arbeitet hat, geht es ihr schlicht nicht ihren Bericht, dass sie immer von dem Ori- darum, eine kulturanthropologische Be- entalen im Singular spricht. Dadurch pau- schreibung fremder Länder zu geben, so- schalisiert und klassifiziert sie die Men- dass andere Kulturen, wie durch einen schen. Deutlich wird das beispielswei- Spiegel, immer vom vorangingen Element se an der Beschreibung der scheinbaren der Reflektion der eigenen Kultur abge- Bewegungslosigkeit der Orientalen. Sie schirmt werden.27 schreibt, ihr sei „diese Regungslosigkeit Diese gänzlich andersartige Intention ist ganz unsäglich zuwider, sobald sie nicht der Grund, warum den Autorinnen von Rei- aus einer Herrschaft der Intelligenz über seliteratur in der Forschung lange der Vor- den Körper entspringt.“23 Sie unterstellt den wurf der Befangenheit und Emotionalität Menschen aus reiner instinktiver Trägheit gemacht worden ist.28 Dass diese Reisebe- und nicht aus einer vermeintlichen Kon- richte mit einem männlichen Maßstab ge- trolle des Körpers heraus, sich auszuruhen. prüft wurden und der Mehrwert ihrer Ein weiteres Beispiel: Ein Mann reitet auf Berichte für andere Fragestellungen – bei- einem Esel, lässt sich bedienen und raucht, spielsweise der nach Selbst- und Fremd- während seine Frau neben ihm hergehen wahrnehmung von Frauen im 19. Jahr- muss und die gemachten Besorgungen hundert – außer Acht gelassen worden ist, trägt.24 Rückhaltlos akzeptiert sie diese hat sich erst in den letzten Jahren geän- Beobachtung als orientalische Sitte im hie- dert.29 rarchischen Umgang von Mann und Frau. Es lässt sich festhalten, dass Hahn-Hahn Dem gegenüber zeigt sie sich in religiösen nur oberflächlich orientalische Sitten wahr- Fragen sehr tolerant. „Kniet nicht der Ka- nimmt und kaum ein Bedürfnis zeigt, diese tholik wie der Mohammedaner? Liest nicht Gesellschaften zu verstehen. Grund ist, der Protestant wie der Hebräer? Ist nicht dass sie diese in erster Linie als Spiegel die Kniebeugung wie Gebet- und Gesangs- nimmt, um den eigenen Kulturkreis zu kri- buch Ausdruck der nämlichen Andacht, tisieren. Gleichzeitig drückt ihre Reiselust dem nämlichen Gott zugewendet?“25 eine grundsätzliche Neugier aus.

Doch ist diese religiöse Toleranz in erster 3.3. Formen der Beschreibung orienta- Linie im Kontext einer kritischen Selbstre- lischer Frauen flektion der eigenen Kultur zu sehen. Diese Das eben vorgestellte Element der Projek- kritisiert sie heftig. Am Vorabend der Re- tion wird in ihren Beschreibungen orienta- volution von 1848 drängt sie auf eine lischer Frau noch deutlicher. Da sie diesen

RENOVATIO 1 - 2014 35 einen Großteil ihrer Beschreibungen wid- Beschreibung einer orientalischen Frau ist met, verdienen sie eine genauere Betrach- eine der wenigen im Werk. Doch schon tung. kommt das Mittel der Dekonstruktion zum Von den Frauen zeichnet sie ein durchge- Tragen und sie schränkt ihr Urteil wieder hend negatives Bild. Sie beschreibt sie ein. In der nächsten Passage beschreibt sie „leblos und plump“.30 Ihr Schönheitsideal weitere, anwesende Frauen am Hof des ist klar auf eine stehende Europäerin aus- Scheichs. Sie gibt an, dass „bei der Mehr- gerichtet, die sich durch die entsprechen- zahl der Ausdruck ihrer animalischen Be- den Bewegungen, anders als eine Orien- stimmung etwas zu sehr vorherrscht“.39 Sie talin, in Szene zu setzen weiß.31 Derb wir- stört sich an der hart klingenden Sprache. ken die verwendeten Adjektive wie „vege- Offenkundig wird hier wieder der abfällige tieren“, „monströs“ und „watscheln“ mit eurozentrische Blick.40 denen sie die Frauen kennzeichnet.32 Mit Unterschiede setzt sie allerdings bezüglich harschen Worten kritisiert sie scheinbare verschiedener Regionen. Besonders die Geschwätzigkeit.33 Ägypterinnen haben in Kairo ihren Gefal- Auch zur Verhüllungspflicht der islami- len gefunden. Aber an ihnen konstruiert sie schen Frau äußert sie sich: „Was die Frauen einen Blick in die Vergangenheit, wie das für ihre Toilette getan hatten, wurde man folgende Zitat zeigt: „[…] es ist der Typus nicht gewahr. Unerbittlich verhüllte der den wir an ägyptischen Bildwerken finden, weiße Schleier jede Schönheit der Gestalt und den die Vermischung mit arabischem und des Anzugs“.34 Die Beschreibung einer Blut nicht aufgehoben hat.“41 Es geht ihr Türkin, deren Kopf zwar lobenswert ver- nicht um die Frauen an sich, sondern um schleiert ist, ruft aufgrund ihrer kurzen das, was sie aus der ägyptischen Hochkul- Rocklänge bei Ida Hahn-Hahn Kritik her- tur an ihnen noch zu erkennen glaubt. Ida vor.35 Sie interpretiert die Kleidung nicht Hahn-Hahn begegnet auf ihrer Reise aber als Ausdruck eines andersartigen Religi- nicht nur Türken oder Arabern – diesen Be- onsverständnisses. Ihr Urteil bleibt ober- griffen handhabt sie ohnehin recht frei – flächlich und hinterfragt den Sinn dieser sondern auch Juden, Armeniern, Beduinen fremden Sitte nicht. und Afro-Afrikanern. Obwohl ihr Details Die Liste negativer Beschreibungen von der jeweiligen Kleidungsstücke der Afro- Frauen ließe sich beliebig fortführen. Es Afrikanerinnen durchaus gefallen, findet soll aber nur noch wenige weitere Beispiele sie sie „schlecht gewählt“.42 Sie wirft den genannt werden. Als sie den Konsul in Da- Damen Gefallsucht vor, denn „die schnei- maskus besucht, wünscht dessen Frau, die densten Farben sind die beliebtesten“43. Gräfin besser kennenzulernen. Auch hier Auch die Figuren der Frauen findet sie geizt Ida Hahn-Hahn nicht mit Beschrei- „nicht graziös“, sondern „steif und unbe- bungen über die „Weiberschar“, wie sie holfen“.44 Sie geht so weit, ihnen jedes „lärmten, lachten, schrien um mich „menschliche Kolorit“45 abzusprechen. herum“.36 Sie erklärt sich dieses Verhalten Die Beduinen, die sie auf dem Weg nach damit, dass der „Harem eben stupid und Gaza beobachtet, stilisiert sie als ein ro- roh macht“.37 Nachdem ihr durchwegs im mantisch-freiheitsliebendes Volk, welches gesamten Orient keine schöne Frau begeg- sich eine ganz eigene Individualität be- net ist, trifft Ida Hahn-Hahn die des wahrt hat. Sie zeichnet eine „große Sitten- Scheichs Abdallah. „Die Frau ist die hüb- reinheit“,46 bei der ein streng patriarcha- scheste Araberin, die ich bis jetzt gesehen lisches Prinzip gilt. habe“.38 Diese halbherzig-positive optische Wie sind solche Aussagen zu bewerten?

36 RENOVATIO 1 - 2014 Der Gedanke ist verlockend, Ida Hahn- Ich möchte Ida Hahn-Hahn nicht als frühe Hahn als Rassistin abzustempeln, was in Feministin der 1840-er Jahre zeigen. Es der Forschung mehr oder weniger subtil, wäre verfehlt, sie anstelle einer Rassistin auch lange getan worden ist. Doch urteilt nun zu einer emanzipierten Frau in den Ge- ein Historiker nicht mit den Maßstäben sei- schichtsbüchern zu erklären. Vielmehr geht ner eigenen Zeit, sondern versucht die je- es darum aufzuzeigen, wie vielschichtig weiligen Epochen und Mentalitäten aus sich augenscheinlich eindeutige Sachver- sich heraus zu verstehen, ohne dabei zu re- halte präsentieren und wie sehr das Urteil lativieren. Im Falle Ida Hahn-Hahns be- des Historikers von seiner eigenen Zeit wegt man sich in einer Zeit, in der unser geprägt ist bzw., wie gründlich diese Viel- heutiges Verständnis von Rassismus noch schichtigkeit herausgearbeitet werden keinen Gehalt hatte. muss. Es konnte deutlich gemacht werden, Die Gründe ihres Handels liegen tiefer und wie wichtig es ist, Subtexte, Intentionen unter Berücksichtigung dieser muss ein Ur- und Hintergründe zu berücksichtigen – und teil erfolgen. Die Suche und Beschreibung selbst dann ist eine Person noch nicht in des Fremden ist immer geprägt vom Ver- ihrer Gänze erfasst. hältnis des Reisenden zu seinem Heimat- land. Denn – und darüber ist sich die 4. Liegt im Wissen Verantwortung? – Forschung größtenteils einig – liegt ihre In- Ein Fazit tention der Reise nicht nur im Wissenser- Ich komme zum Schluss. Es konnte gezeigt werb über fremde Länder, sondern auch in werden, dass Ida Hahn-Hahn ihre Leser- der Suche nach einem alternativen Frauen- schaft durch ihren Reisebericht durchaus bild.47 Dieses Streben geschieht zum Teil bewusst beeinflusst hat. Besonders am Bild unterbewusst. Es gilt zu bedenken, dass ihr der Frau gelingt es ihr, gängige Vorurteile nicht nur das Stigma der Geschiedenen an- zu dekonstruieren. haftet, sondern auch die Tatsache, dass sie Dabei ist ihre primäre Intention nicht die als Frau nahezu alleine auf Reisen geht und Völkerverständigung. Vielmehr dient die diese Erfahrungen noch publiziert. Das Darstellung des Orients zur Abgrenzung lässt sie in den Augen der Gesellschaft und Kritik an der eigenen Kultur. Durch skandalös erscheinen.48 Daher klingt in Projektionen von Geschlechterbildern auf ihrem Reisebericht auch immer die Sinn- die orientalische Gesellschaft versucht sie suche nach einem anders konnotierten für sich die Frage nach alter- nativen Frau- Frauenbild durch. Diese impliziert gleich- enbildern und damit Lebensentwürfen zu zeitig die Abgrenzung der europäischen beantworten. Dieses Bedürfnis nach Pro- Norm einer idealen Frau. Daher ist ihre ge- jektion ist nur im Hinblick auf ihre Situa- zielte Negativ-Darstellung der Orientalin tion als geschiedene und gebildete Frau zu ein Angriff auf die starren und von Män- verstehen. nern generierten (Körper-)Ideale der Euro- päerin zu sehen.49 Wie sie sich dieses In Bezug auf die anfangs formulierte Frage, Frauenbild im Detail vorstellt, kann hier wieweit sie ihrer Verantwortung von Wis- nicht ausgeführt werden.50 Eine grobe Vor- sen gerecht wird, muss klar gemacht wer- stellung können Sie sich nach diesem Vor- den, auf wen diese Verantwortung zielt. trag aber sicher von ihr machen. Ihre negative Zeichnung der Orientalin Unabhängig, gebildet, strebend und litera- führt zu einer Überhöhung der Europäerin risch aktiv, müssen als Schlagworte an die- – in dieser Hinsicht wird eine Befangenheit ser Stelle reichen. in ihrer eigenen Lebenswelt deutlich. Am

RENOVATIO 1 - 2014 37 Ende übt sie mit ihrem Reisebericht Kritik 5. Bibliographische Angaben aber sowohl an der europäischen, wie auch der orientalischen Gesellschaft und ihrer Quelle: Reduktion der Frauen auf ihre Körperlich- Hahn-Hahn, Ida Gräfin von: Orientalische keit. Briefe, 3. Bde., Berlin 1844. Kritisch zu sehen ist allerdings das Mittel, Hahn-Hahn, Ida von: Orientalische Briefe. mit dem sie das tut. Sie verwendet die ori- Hg. von Gabriele Habinger. Wien 1991. entalische Gesellschaft um ihrer eigenen Welt gewissermaßen einen Spiegel vorzu- Sekundärliteratur: halten. Dabei werden gängige Vorurteile Brisson, Ulrike: Ida Hahn-Hahns Orient- aufgegriffen und manifestiert. Zwar de- bild zwischen Vorstellung und Wirklich- konstruiert sie so manche, schafft aus ihrer keit, in: Wege in die Moderne. Reiselite- eigenen Unvollkommenheit heraus, jedoch ratur von Schriftstellerinnen und Schrift- neue. Es zeigt sich somit ein differenziertes stellern des Vormärz. Hg. von Christina Bild von Verantwortung. Ujma. Bielefeld 2009, 243-254. Auf den ersten Blick scheint die Wir- Diethe, Carol: Towards Emancipation. Ger- kungskraft eines Reiseberichts nicht allzu man Women Writers of the Nineteenth groß zu sein. Doch darf ein solcher Bericht Century. New York/Oxford 1998. in einer Zeit mit weniger Medien als heute Felden, Tamara: Frauen Reisen. Zur litera- nicht unterschätzt werden. Denn auch heute rischen Repräsentation weiblicher Ge- hat die destruktive Kraft von Vorurteilen schlechterrollenerfahrung im 19. Jahrhun- nichts von ihrer Gefährlichkeit verloren. dert. New York [u.a.] 1993. Scheinbar unabhängige Zeitungsartikel und Frederiksen, Elke P.: Der Blick in die Fernsehberichte können auch nur Moment- Ferne. Zur Reiseliteratur von Frauen, in: aufnahmen widergeben. Die Frage, wie mit Frauen Literatur Geschichte. Schreibende dem Wissen über andere Länder umgegan- Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. gen werden soll, hat auch heute nichts von Hg. von Hiltrud Gnüg u. Renate Möhr- seiner Aktualität verloren. So sehr unsere mann. Stuttgart 1985, 104-122. Welt durch Digitalisierung und Technisie- Hilmes, Carola : „…und sind wir doch für rung zusammenwächst, so groß erscheinen das Reisen gemacht“. Frauen schreiben uns doch die Gräben zwischen den Kultu- über ihre Reisen. Ein Rückblick ins 19. ren. Schnell kommt es zu Pauschalisierun- Jahrhundert, in: Der Deutschunterricht Heft gen und Verurteilungen, die sich bis zum 4 (2002), 37-46. Hass zwischen Kulturen, zwischen Le- Jenzer, Viviane: „ Bald nun werde ich wis- bensweisen, die mit Ost und West tituliert sen, wie der Orient sich im Auge einer werden, ausweiten können. Die Frage nach Tochter des Occidents abspiegelt“. Die der Notwendigkeit eines verantwortungs- Wahrnehmung des Fremden in vier Orient- vollen Umgangs mit Wissen kann genauso reiseberichten aus der Mitte des 19. Jahr- mit ja zu beantworten, wie auch der falsche hunderts, in: Schweizerisches Archiv für Umgang mit Wissen über andere Länder Volkskunde, Heft 100 (2004), 1-26. heute genauso gefährlich werden kann, wie Mangold, Sabine: Anmerkungen zur deut- vor 150 Jahren. schen Orientalistik im frühen 19. Jahrhun- dert und ihrem Orientbild, in: Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770-1850. Hg. von Charis Goer u. Mi-

38 RENOVATIO 1 - 2014 chael Hofmann, München 2008, 223-242. schungsüberblick zur Frauenreiseliteratur mit Oberembt, Gert: Ida Gräfin Hahn-Hahn. einem Fokus auf Ida Hahn-Hahn bietet Ulrike Weltschmerz und Ultramontanismus. Stu- Stamm an. Vgl. Stamm, Der Orient der Frauen, dien zum Unterhaltungsroman im 19. 2010, 50f. Eine Einordnung reisender Frauen in Jahrhundert. Bonn 1980. die Frauenforschung, mit dem Schwerpunkt auf O’Brien, Traci S.: Enlightened Reactions. der Verkettung von Gender und Orientalismus Emancipation, Gender, and Race in Ger- siehe Ueckmann, Frauen und Orientalismus, man Woman’s Writing. Oxford/Bern [u.a.] 2001, 27f. Weitere Literatur, auf die sich die bei- 2011. den Autorinnen zum Teil rekurrieren, findet sich Ohnesorg, Stefanie: Mit Kompaß, Kutsche im Literaturverzeichnis. und Kamel. (Rück-)Einbindung der Frau in 3 Vgl. Jenzer, „Bald nun werde ich wissen, wie die Geschichte des Reisens und der Reise- der Orient sich im Auge einer Tochter …“, literatur. St. Ingbert 1996. (Saarländische 2004, 5. Schriftenreihe zur Frauenforschung, Bd. 2) 4 Vgl. Diethe, Towards Emancipation, 1998, Polaschegg, Andrea: Die Regeln der Ima- 108f, sowie Habinger, Einleitung, 1991, 710. gination. Faszinationsgeschichte des deut- 5 Zu den grundsätzlichen Strategien von Wahr- schen Orientalismus zwischen 1770 und nehmung, Darstellung und Abgrenzungen des 1850, in: Der Deutschen Morgenland. Bil- Orients vgl. Stamm, Der Orient der Frauen, der des Orients in der deutschen Literatur 2010, 191f. und Kultur von 1770-1850. Hg. von Charis 6 Zum Topos des Harems in der europäischen Goer u. Michael Hofmann, München 2008, Wahrnehmung siehe. Jenzer, „Bald nun werde 13-36. ich wissen, wie der Orient sich im Auge einer Stamm, Ulrike: Der Orient der Frauen. Rei- Tochter…“, 2004, 2, sowie Stamm, Der Orient seberichte deutschsprachiger Autorinnen der Frauen, 2010, 239. im frühen 19. Jahrhundert. Köln/Wei- 7 Vgl. Ueckmann, Frauen und Orientalismus, mar/Wien 2010. (Literatur – Kultur – Ge- 2001, 67. schlecht. Studien zur Literatur- und 8 Said, Orientalismus, 1981, 8. Saids Begriff Kulturgeschichte, Bd. 57) „Orientalismus“ ist zu einem hoch emotionalen Ueckmann, Natascha: Frauen und Orienta- Schlagwort geworden, das einer knappen Defi- lismus. Reisetexte französischsprachiger nition bedarf. „Dabei bezeichnet er drei mitei- Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts. nander verbundene Problembereiche: 1. alle Stuttgart/Weimar 2001. Akte der Bezugnahme auf den Orient, das heißt Walther, Wiebke: Tausendundeine Nacht. seine Thematisierung und Darstellung ebenso Eine Einführung. München/Zürich 1987. wie seine motivische oder metaphorische Ak- tualisierung, 2. die Sinneffekte dieser Bezugs- Anmerkungen nahmen […], 3. Die Übernahme orientalischer 1 Brief an ihre Mutter, Wien, 22. August 1843, Elemente – also von Stilen, Modi oder Gütern Bd. 1, 56. Hier und im folgenden zitiert nach: […].“ Polaschegg, Die Regeln der Imagination, Hahn-Hahn, Ida Gräfin von: Orientalische 2008, 15. Zur Theoriediskussion im Anschluss Briefe, 3. Bde., Berlin 1844. an Saids Theorie siehe Stamm, Der Orient der 2 Es ist der Konzeption des Vortrags geschuldet, Frauen, 2010, 24f. dass nur unzureichend die verschiedenen Zu- 9 Eine Übersicht über die Entwicklung der deut- sammenhänge zwischen Orientalismus, Reise- schen Orientalistik bietet Sabine Mangold, in: literatur und Gender dargestellt werden können Mangold, Anmerkungen zur deutschen Orienta- und Verweise genügen müssen. Hervorheben listik, 2008. möchte ich zwei Werke: Einen aktuellen For- 10 Bei den Märchen von Tausendundeiner Nacht

RENOVATIO 1 - 2014 39 handelt es sich um eine Sammlung arabischer patriarchal-kulturell und politisch-kolonisierten Handschriften, deren ältestes Exemplar aus dem Vorstellungen der Frauen. Die intim und per- 15. Jahrhundert stammt. Dabei gab es nie eine sönlich anmutende Erzählperspektive, mit der einheitlich verbreitete Ausprägung der Märchen. sie sich an ihre Leser richtet, etabliert eine Erst durch die Übersetzung und Aufbereitung scheinbare Authentizität, die die Wirkmächtig- der Sammlung für europäische Leser durch den keit der Dekonstruktionen verstärkt. Indem sie Orientalisten Antoine Galland entstand der Ein- die Frauen einzeln beschreibt, gibt sie ihnen druck von Kohärenz und Einheitlichkeit. Zwi- eine eigene Subjektivität, die sie von den euro- schen 1704 und 1717 erschienen insgesamt päisch-männlichen Lustvorstellungen befreit zwölf Bände in Frankreich, 1882 die erste voll- und ihnen eine den geschlechtlichen Objektsta- ständige Übersetzung von Tausendundeine tus löst. Die rassistischen Schilderungen müs- Nacht im Deutschen. Vgl. Walther, Tausend- sen vor diesem Hintergrund beurteilt werden. undeine Nacht, S. 1987, 7, sowie Stamm, Der 19 Ein Beispiel soll an dieser Stelle genügen: Orient der Frauen, 2010, 191. Brief an ihre Mutter, Konstantinopel, 8. Sep- 11 Der Harem eignet sich besonders gut zur Ima- tember 1843, Bd. 1, 129-139. Siehe auch Bris- gination von Geschlechterbildern, da ihn der son, Ida Hahn-Hahns Orientbild, 2009, 247. Nimbus des nicht-öffentlichen Raums umgibt. 20 Ida Hahn-Hahn entzaubert von allen Orient- Durch die ständige Rezeption dieses Stereotyps reisenden wohl am stärksten. Jedoch ist die In- in der europäischen Wahrnehmung konstituie- tention der Desillusionierung auch bei anderen ren sich dieser immer wieder neu. Mehr zum reisenden Frauen vorhanden. Vgl. Stamm, Der „Topos der sinnlichen Orientalin“ vgl. Stamm, Orient der Frauen, 2010, 195. Der Orient der Frauen, 2010, 239f. 21 Vgl. Brief an ihre Mutter, Wien, 22. August 12 Zur grundsätzlichen Konzeption des „be- 1843, Bd. 1, 54. kannten“ Orients, der Bildung von Stereotypen 22 Vgl. Ohnesorg, Mit Kompaß, Kutsche und und Urteilsinstanzen sowie Strategien und Rhe- Kamel, 1996, 257. torikern der Abgrenzung vgl. Stamm, Der Ori- 23 Brief an ihre Mutter, Konstantinopel, 7. Sep- ent der Frauen, 2010, 191f. tember 1843, Bd. 1, 117f. 13 Eine formale Definition der Reiseliteratur ist 24 Vgl. Brief an ihre Mutter, Jerusalem, 2. No- aufgrund der Vielfalt der Gestaltung nicht mög- vember 1843, Bd. 2, 172. lich. Allerdings steht Ida Hahn-Hahn mit der 25 Brief an ihre Mutter, Konstantinopel, 7. Sep- Briefform in der Tradition anderer reisender tember 1843, Bd. 1, 121. Frauen, wie beispielsweise Lady Montagu, auf 26 Vgl. Frederiksen, Der Blick in die Ferne, die sie sich explizit bezieht. Vgl. Frederiksen, 1985, 110. Der Blick in die Ferne, 1985, 117 und Jenzer, 27 Vgl. Polaschegg, Die Regeln der Imagination, „Bald nun werde ich wissen, wie der Orient sich 2008, 23. und Frederiksen, Der Blick in die im Auge einer Tochter…“, 2004, 7. Ferne, 1985, 118. 14 Vgl. Oberembt, Ida Gräfin Hahn-Hahn, 1980, 28 Vgl. Frederiksen, Der Blick in die Ferne, I. 1985, 107. 15 Vgl. Brief an ihren Bruder, Konstantinopel, 29 Vgl. O’Brien, Enlightened Reactions, 2011, 22, September 1843, Bd. 1, 260f. 91f. 16 Vgl. Frederiksen, Der Blick in die Ferne, 30 Brief an ihre Mutter, Konstantinopel, 8. Sep- 1985, 117f. tember 1843, Bd. 1, 137. 17 Vgl. O’Brien, Enlightened Reactions, 2011, 31 Vgl. Felden, Frauen Reisen, 1993, 84. 136. 32 Alle Zitate siehe Brief an ihre Mutter, Kon- 18 Vgl. Felden, Frauen Reisen, 1993, 93. Laut stantinopel, 8. September 1843, Bd. 1, 137f. Felden zerstört sie durch ihre Beschreibung die 33 Vgl. Brief an ihre Mutter, Jerusalem, 2. No-

40 RENOVATIO 1 - 2014 vember 1843, Bd. 2, 172. 115; Hilmes, 2004, 43 und Stamm, Der Orient 34 Brief an ihre Schwester, Kloster auf dem Kar- der Frauen, 2010, 262. mel, 25. Oktober 1843, Bd. 2, 111. 48 Zu der Frage, in welchem Umfang Ida Hahn- 35 Vgl. Brief an ihre Mutter, Konstantinopel, 7. Hahn mit ihrer Reise einen Normenbruch be- September 1843, Bd. 1, 122. ging und welche neuen Identitätsentwürfen sie 36 Brief an die Mutter, Damaskus, 16. Oktober dadurch gleichzeitig formulierte, siehe Stamm, 1843, Bd. 2, 73. Der Orient der Frauen, 2010, 109, sowie Frede- 37 Brief an die Mutter, Damaskus, 16. Oktober riksen, Der Blick in die Ferne, 1985, 108. 1843, Bd. 2, 73. Werden Haremsberichte bür- 49 Vgl. O’Brien, Enlightened Reactions, 2011, gerlicher und adliger Besucher verglichen, fal- 95 len die Beurteilungen der Adligen deutlich 50 Zum Verhältnis von Orientalismus und Femi- weniger negativ aus. Ein Grund mag sein, dass nismus bei Hahn-Hahn siehe Stamm, Der Orient die Bürgerlichen den ungeheuren Luxus, einen der Frauen, 2010, 267f. fehlenden Arbeitsethos und das polygamistische Beziehungsmodell strenger beurteilen. In die- sem Sinne stellt Hahn-Hahns extrem negative Darstellung der Haremsbewohnerinnen ein Son- derfall dar. Zur Begründung siehe Stamm, Der Orient der Frauen, 2010, 291 und 294. 38 Brief an ihre Schwester, Jerusalem, 11. No- vember 1843, Bd. 2., 280. 39 Brief an die Schwester, Jerusalem, 11. No- vember 1843, Bd. 2, 280. 40 Die Mehrzahl der nach 1830 reisenden Frauen fällt ein negatives Urteil über die „Schönheit der Orientalin“. Dabei erheben sie den Anspruch ein Urteil über ein männerdominiertes Feld zu er- heben und die eigene Geschlechtswahrnehmung neu zu positionieren. In dieser Hinsicht steht Hahn-Hahn somit in einer Linie mit anderen rei- senden Frauen dieser Zeit. Vgl. Stamm, Der Orient der Frauen, 2010, 261. 41 Brief an ihre Mutter, Kairo, 11. Dezember 1843, Bd. 3, 70. 42 Brief an ihre Mutter, Damaskus, 15. Oktober 1843, Bd. 2, 49. 43 Brief an ihre Mutter, Damaskus, 15. Oktober 1843, Bd. 2, 49. 44 Brief an ihre Mutter, Damaskus, 15. Oktober 1843, Bd. 2, 50. 45 Brief an ihre Mutter, Damaskus, 15. Oktober 1843, Bd. 2, 50. 46 Brief an ihre Schwester, Jerusalem, 11. No- vember 1843, Bd. 2, 273. 47 Vgl. O’Brien, Enlightened Reactions, 2011, 123f; Frederiksen, Der Blick in die Ferne, 1985,

RENOVATIO 1 - 2014 41 Grenzüberschreitende Gastfreundschaft als Aufgabe Europas Dankesworte zur Verleihung des Theologischen Preises der Salzburger Hochschulwochen 2014

Christoph Theobald

Prof. Dr. P. Christoph Theobald SJ lehrt Katholische Theologie im Fachbereich Funda- mentaltheologie und Dogmatik am Centre Sèvres in Paris.

ehr geehrter Herr Erzbischof Dr. Franz dieser Woche – könnte dann heißen: in un- SLackner, verehrte Äbtissinnen und Äbte, serer europäischen Staatengemeinschaft sehr geehrter Herr Rektor, Prof. Schmidin- das bedrohte Humanum verwirklichen, das ger, lieber Herr Kollege Hoff samt allen auch über die Schranken Europas hinweg Mitgliedern des Kuratoriums, sehr verehr- – gerade im Prozess der technischen, öko- ter lieber Josef Wohlmuth, liebe Kollegin- nomischen und finanziellen Globalisierung nen und Kollegen, liebe Studentinnen und und Entgrenzung – auf dem Spiel steht, Studenten, sehr geehrte Damen und Her- nämlich ein neues Verhältnis zu unseren ren! Grenzen zu finden; zu dem, was die Men- schen zunächst einmal notwendigerweise Der Titel der diesjährigen Salzburger voneinander trennt und zu Fremden macht. Hochschulwoche erinnert uns an einen ent- Gestatten Sie es mir deshalb, verehrte scheidenden Aspekt des europäischen Pro- Anwesende, meiner großen Freude und jektes: Wir brauchen ein neues Verhältnis Dankbarkeit über den so unerwarteten Preis zu unseren Grenzen. Grenzen muss es der Salzburger Hochschulwochen Aus- geben, nicht nur zwischen Intimität und Öf- druck zu verleihen, indem ich kurz auf ein fentlichkeit, sondern auch zwischen unse- persönliches Datum zurückgreife: als rer Leiblichkeit mit all ihren konkreten, Grenzgänger zwischen der deutschen und auch kulturellen Bedingungen, und der des der französischen Kultur und Kirche hätte Anderen und der vielen Anderen als der ich nie den inneren und beruflichen Kon- elementarsten aller unserer Grenzen. Sonst flikt, der fast unweigerlich aus Zweispra- kann menschliches Leben nicht entstehen chigkeit entsteht, überwinden und fruchtbar und wir weder existieren noch unsere hu- machen können, wenn ich nicht im Nach- mane Identität entfalten. Schon Immanuel barland wahre Gastfreundschaft erfahren Kant unterschied deshalb zwischen Gren- und gerade dadurch eine neue Sensibilität zen und Schranken. Wir stehen in der Tat für andere zu überwindende Schranken ge- in einem äußerst anstrengenden Lernpro- wonnen hätte. Das glückliche Zusammen- zess, der heute ganz neue Ausmaße an- fallen dieser Preisverleihung, an meinen nimmt: Wir müssen lernen, Schranken zu Bruder Michael und an mich, mit der euro- überwinden, um die wahren Grenzen unse- päischen Thematik dieser Woche und dem res Menschseins erfahren und denken zu außerordentlichen Genius der Stadt Salz- können. „Entgrenzungen“ – so der Titel burg, der auf die Brüder Theobald bis zu

42 RENOVATIO 1 - 2014 unserem fünfundzwanzigsten Lebensjahr Auch wenn sie gestern wie heute immer größten erzieherischen Einfluss ausgeübt wieder von der Erfahrung her nahegelegt hat, veranlassen mich deshalb dazu, ein wird, kann diese Schlussfolgerung und vor wenig mit Ihnen über das Paradox grenz- allem die „Notwendigkeit“ einer Äquiva- überschreitender „Gastfreundschaft“ nach- lenz von Fremd- und Feindsein bestritten zudenken. werden. Der Fremde ist nicht notwendiger- 1. Gastfreundschaft darf nicht ideali- weise ein Feind; er braucht nicht von vorne siert werden; dies sei vorangestellt. Sie herein mit Misstrauen behandelt zu wer- existiert nie ohne das tragische Gegenbild den. Jacques Derrida, der 2004 verstorbene verweigerter Gastlichkeit; was ja auch – jüdische Philosoph algerischer Herkunft, gefährlich aktualitätsnah – in der Themen- stützt sich in seiner Seminarschrift Von der stellung dieser Woche durch die sehr ernste Gastfreundschaft – De l’hospitalité – zwar symbolische Gegenüberstellung von Lam- auf die „ebenso wertvollen wie problema- pedusa und Athen angedeutet ist. Der jüdi- tischen“ Analysen von Emile Benveniste, sche Linguist und Anthropologe Emile diagnostiziert aber genau dort, wo Gast- Benveniste hat deshalb in seinen epoche- freundschaft die – wie wir nun formulieren machenden Studien zum Vokabular der in- – „mögliche“ Äquivalenz von Fremdsein doeuropäischen Institutionen auf die para- und Feindschaft überwindet, eine Antino- doxe Ambivalenz der sprachlichen Wurzeln mie: „Es gäbe da eine Antinomie“, so be- des Wortes „Gastfreundschaft“ aufmerk- merkt er vorsichtig, „eine unauflösbare, sam gemacht: „Die Begriffe ‚Feind’, nicht dialektisierbare Antinomie zwischen ‚Fremder’ und ‚Gast’, die für uns drei ver- dem Gesetz der Gastfreundschaft, dem un- schiedene semantische und juridische bedingten Gesetz der uneingeschränkten Wirklichkeiten bezeichnen“, so schreibt er Gasfreundschaft (dem Ankömmling sein 1969, „bieten in den alten indoeuropäi- ganzes Zuhause und sein Selbst zu geben, schen Sprachen enge Verknüpfungen. Die ihm sein Eigenes, unser Eigenes zu geben, Beziehungen zwischen lat. hostis ‚Feind’ ohne ihn nach seinem Namen zu fragen, und hospes ‚Gast’ (franz. hôte) liegt auf der ohne eine Gegenleistung oder die Erfüllung Hand; dem lat. hostis ‚Feind“ antwortet, auch nur der geringsten Bedingung zu ver- andererseits, das gotische gasts ‚Gast’. langen) auf der einen und den Gesetzen der Griechisch ξένος bezeichnet den ‚Fremden’ Gastfreundschaft auf der anderen Seite, und das Verbum ξεινίζω ein gastfreundli- jenen stets bedingten und konditionalen ches Verhalten“. Benveniste schließt da- Rechten und Pflichten, wie die griechisch- raus: „Diesen Befund kann man nur lateinische, ja jüdisch-christliche Tradition, verstehen, wenn man davon ausgeht, dass wie alles Recht und alle Rechtsphilosophie der Fremde notwendigerweise ein Feind – bis Kant und insbesondere Hegel sie über und korrelativ dazu, der Feind notwendi- die Familie, die bürgerliche Gesellschaft gerweise ein Fremder ist. Weil der außer- und den Staat definieren“ (Von der Gast- halb Geborene immer a priori ein Feind ist, freundschaft [1997], Passagenverlag, 2001, braucht es notwendigerweise ein gegensei- 60f.). tiges Engagement, um zwischen ihm und Auf den ersten Blick hin scheint dem Ego eine Beziehung der Gastfreund- Jacques Derrida nur zu beobachten, dass schaft aufzunehmen, die innerhalb der Ge- das seit der Antike in vielen Gesellschaften meinschaft nicht denkbar wäre“ (Le vocabu- als eisernes Gesetz geltende Ideal uneinge- laire des institutions indo-européennes, tome schränkter Gastfreundschaft immer sehr 1, Editions de Minuit, 1969, 361). realistisch durch präzise Regeln, zum Bei-

RENOVATIO 1 - 2014 43 spiel auf Zeit begrenzt und so vor Miss- sungen, die der lukanische Jesus den sieb- brauch geschützt wird. Der Philosoph zig Jüngern mit auf den Weg gibt, wenn er spricht jedoch von einer „Antinomie“, ihnen sowohl Gastfreundschaft wie auch einem letztlich tragischen Widerspruch – so Abweisung in dieser oder jener Stadt ver- muss man wohl sagen –, der aus dem un- spricht: „Sodom wird es an jenem Tag er- versöhnlichen Gegensatz zweier gegenläu- träglicher gehen, als jener Stadt“ (Lk figer Gesetze entsteht: dem unvordenk- 10,12). Bei aller realistischen Einschätzung lichen Gesetz der Gastfreundschaft, das dieser negativen Facette der Wirklichkeit immer wieder von neuem an gemeinsames wagt es die jüdisch-christliche Tradition je- Menschsein erinnert, und den konkreten, doch, an die bedingungslose, sozusagen realistischen, oft realpolitischen Notwen- kostenlose und gnadenhafte Gastfreund- digkeiten, Grenzen zu überwachen, be- schaft der verheißenen messianischen Zei- stimmten Vorschriften zu unterwerfen und ten zu glauben: „Wenn ihr in ein Haus sie eventuell zu schließen. kommt, so sagt als erstes: Friede diesem So sehr dieser Hinweis auf menschliche Haus! Und wenn dort ein Mann des Frie- Tragik dem zu entsprechen scheint, was dens wohnt, wird der Friede, den ihr ihm wieder einmal vor Lampedusa geschah, so wünscht, auf ihm ruhen; andernfalls wird müssen wir doch – wie bereits bei unserer er zu euch zurückkehren“ (Lk 10, 5-6; vgl. Begegnung mit den Studien von Emile auch Mt 10, 7-15). Benveniste – auch an dieser Stelle, wo nun In der Antike war Gastlichkeit nicht nur das jüdisch-christliche Erbe Europas aus- in der hellenistischen Gesellschaft, sondern drücklich ins Spiel gebracht und das Ver- auch zwischen Juden aus der Diaspora und hältnis zu unseren Grenzen und deren in Jerusalem und dann zwischen den ent- Überschreitung in der „Gastfreundschaft“ stehenden christlichen Gemeinden Gang bedacht wird, einen anderen Weg einschla- und Gebe. Man könnte diesen „Brauch“ als gen. eine letztlich interessenbezogene und allein 2. Die jüdisch-christliche Bibel kennt zwischen Anhängern der gleichen religiö- natürlich die von Jacques Derrida pointierte sen oder sozialen Schicht existierende Pra- unauflösliche Spannung zwischen absolu- xis verstehen und deshalb für bedeutungslos ter Bedingungslosigkeit von Gastfreund- halten. Es scheint jedoch so, dass er in den schaft und den vielen Riten, Gebräuchen christlichen Gruppen - aber nicht nur in und Gesetzen, die ja nun doch das konkrete ihnen – auch soziale oder politische und re- Verhalten der Gastgeber und Gäste bestim- ligiöse Grenzen überschritt und in seiner men und mehr oder weniger hohe Barrie- Bedingungslosigkeit sozusagen als messia- ren aufrichten; sie hat auch einen sehr nisches Friedenszeichen galt. Nicht als ausgeprägten Sinn für die tragische Ver- „Gesetz“ wurde solche bedingungslose kehrung von Gastlichkeit in Verweigerung. Gastfreundschaft erfahren, wie dies Man erinnere sich nur an das, was sich, Jacques Derrida allgemein annimmt, son- nach dem verheißungsvollen Gastmahl der dern als niemals geschuldete „Gabe“ und drei unter dem Baum von Mamre von „Gnade“. Abraham und Sara bewirteten Fremden, Drei Aspekte scheinen dann von beson- nicht unweit von dort in Sodom abspielt, ders aktueller Bedeutung. Zunächst der wo Lot seine Gäste allein so vor der anrü- Überraschungseffekt, der mit jeder neuen ckenden Menge schützen kann, dass er ihr Empfangssituation verbunden ist. Unbe- seine beiden Töchter überlässt (Gen 19,1- dingte Gastfreundschaft setzt voraus, dass 29 und Ri 19,22-30); oder auch an die Wei- hier nichts im Voraus kalkuliert werden

44 RENOVATIO 1 - 2014 kann, noch vorauszusehen ist, wer denn da Mut zum ersten Schritt. Nur wenn man den aufgenommen wird. Sie impliziert Ge- aus innerster Überzeugung und ohne lan- schichtlichkeit und produziert sie sogar, ges Überlegen tut, wird bedingungslose denn Ungeahntes kann aus ihrer positiven Gastfreundschaft möglich, nur so wird die Kraft erwachsen; man denke nur an die un- von Jacques Derrida als Antinomie ver- zähligen, nach dem zweiten Weltkrieg ent- standene Spannung zwischen absoluter Be- standenen, grenzüberschreitenden Partner- dingungslosigkeit des Empfangs und schaften zwischen Städten und Dörfern in unseren konkreten Schranken hic et nunc und jenseits Europas: „Vergesst die Gast- lösbar. freundschaft nicht!“, heißt es im Hebräer- Allerdings muss dann der jesuanisch- brief (13,2); „denn durch sie haben einige, christologische Hintergrund von Gast- ohne dass sie es wussten, Engel (ἀγγέλους) freundschaft, der hier plötzlich aufscheint, beherbergt“. ganz ernst genommen werden. Damit Bedingungslose Gastlichkeit lebt so- kommt nun wesentlich christliches ins Ge- dann von der immer möglichen Umkehrung spräch. Die Anwesenheit des Judas beim der Beziehung zwischen Gast und Gastge- Gastmahl, das Jesus am Abend vor seinem ber: der Gast wird plötzlich selbst zum Tod den Zwölfen gab, aktiviert nicht nur Gastgeber, der dem, der ihn beherbergt, die negative Folie von Gastfreundschaft, zum unvorhergesehen Geschenk und zur sondern zeigt auch mit aller Deutlichkeit, Verheißung unerwarteter Fruchtbarkeit dass die schlimmste Gewalt unter Men- wird. Die soeben erwähnte Szene in schen nicht die ist, die von außen kommt, Mamre, aber auch eine Reihe lukanischer sondern solche, die im Raum von Intimität Mahlepisoden sind eine lebendige Illustra- entsteht, bei dem, „der mit mir die Hand in tion dieser nicht kalkulierbaren Umkeh- den Teller taucht“, wie es in den vier Evan- rung; und mehrere Sprachen, wie zum gelien in Anlehnung an Psalm 41 zu lesen Beispiel die französische haben nur ein ist. Ein neues Verhältnis zum Tod ist in die- Wort – „hôte“, um sowohl den Gastgeber ser absolut bedingungslosen Gastlichkeit wie auch den Gast zu bezeichnen. Die hier Jesu am Werk: selbst dem Verräter, der ihn aufscheinende Symmetrie der Beziehungen dem Verderben überliefert, gilt seine Hin- als „Ziel“ von Gastfreundschaft birgt ein gabe. Erweist sich hier Gastfreundschaft ganzes Programm in sich, das heute auch nicht als stärker denn der Tod? Setzt sie – in politische und wirtschaftspolitische Di- ihrer Bedingungslosigkeit – nicht bereits mensionen aufweist, zum Beispiel im Glauben an Gnade und „Auferstehung“ vo- immer wieder von Asymmetrie bedrohten raus? Verhältnis zwischen Europa und dem erst Gerade an diesem Punkt, wo anschei- seit einem halben Jahrhundert entkoloni- nend Menschen-Mögliches überschritten sierten Afrika. wird, kann man Gastfreundschaft auch in Schließlich integriert und heilt neutes- biblisch-theologischer Terminologie als tamentliche Gastfreundschaft Gewalt. Ob „Heiligkeit“ verstehen oder besser umge- es ein Feind oder ein Freund ist, ob es Dä- kehrt den messianischen Titel Jesu „der monen oder Engel sind, die aufgenommen Heilige Gottes“ (Joh 6,69) in den Raum werden wollen, dass kann man niemand grenzüberschreitender Gastlichkeit über- voraussagen und verlangt vom Gastgeber, setzen. Den christlichen Kirchen ist damit dass er sich zunächst einmal, auf Gedeih ein umfassender, universaler Maßstab und Verderb, in die je neue Empfangssitua- sozusagen „heiliger“ Gastfreundschaft vor- tion einbeziehen lässt. Entscheidend ist der geben: Nur die ihnen immer wieder

RENOVATIO 1 - 2014 45 von neuem angebotene unbedingte gott- wahren Menschseins. menschliche Gastlichkeit Christi lässt sie An Stelle einer oftmals nostalgischen ihre geschichtlichen Verschuldungen durch Reflexion auf die verschiedenen Kompo- tragische Abgrenzungen anerkennen und nenten europäischer Kultur – unser grie- den Mut dazu aufbringen, unsere sponta- chisches, lateinisches, christliches, neu- nen Gleichsetzungen von Fremd-, Gleich- zeitliches Erbe, usw. -, sollte man, mit Hilfe gültig- und Feindsein durch konkrete der Figur der „Gastfreundschaft“ und deren Begegnungen zu überwinden. Gegenfigur der „Abschottung“, über das in 3. Verehrte zuhörende, anscheinend Europa angesammelte Gewaltpotential kri- haben uns diese letzten Gedanken vom tisch nachdenken. Dies ist ein erster Ge- Projekt Europa entfernt. Mehrere Konse- danke. Auf der negativen Seite steht die quenzen ergeben sich jedoch aus unserem eigenartige Symmetrie, ja der innere Bezug Versuch, unseren Kontinent von der Utopie zwischen unserem kolonialen Verhalten grenzüberschreitender Gastfreundschaft und unseren brutalen innereuropäischen her zu verstehen und deren kritisches Po- Grenzkonflikten; man denke da an 1914/ tential in unsere fast ausschließlich ökono- 1918 und seine Folgen. Solche heute, hun- misch bestimmten Interessens- und dert Jahre nach Beginn des Krieges, im Machtgefüge einzubringen. Wie dies im Kontext europäischer Integration und post- Einzelnen zu geschehen hat, kann hier kolonialer Entgrenzung und Globalisierung nicht gezeigt werden, soll aber wenigstens anstehende Gedächtnisarbeit führt positiv kurz angedeutet werden. dazu, die bereits 1962 von Romano Guar- Zunächst hilft uns diese Utopie, auf den dini bei der Verleihung des „Praemium Begriff des christlichen Abendlandes oder Erasmianum“ in Brüssel gestellte Frage eines christlichen Europas zu verzichten nach der spezifischen Aufgabe Europas neu und realistisch das „Christliche“ im immer aufzuwerfen. „So glaube ich“, sagte er da- mehr entchristlichen Europa zu denken. mals, „die am wenigsten sensationelle, aber „Gastfreundschaft“ ist ja, wie wir mit am tiefsten ins Wesentliche führende Auf- Emile Benveniste und Jacques Derrida an- gabe, die Europa zugewiesen ist, sei die deuteten, ein sehr verschiedene Gesell- Kritik an der Macht. […] Es gibt zwei Wei- schaften und religiöse Traditionen um- sen, wie dem Menschen gegenüber Macht greifendes, ethisch-spirituelles Phänomen, geübt werden kann. Die eine ist die der innerhalb dessen sich spezifisch christli- Herrschaft. […] Es gibt aber noch eine an- ches Gut ohne Vereinnahmung des Ande- dere Form […], nämlich die des Dienstes. ren und der Anderen artikulieren lässt. Damit ist nicht die Unterordnung des Sowohl der Bezug auf die Heiligkeit Schwächeren gemeint; dieser Dienst ist im Christi wie auch deren anthropologische Gegenteil Sache der Stärke, die sich für das Übersetzung in bedingungslose Gast- Leben verantwortlich fühlt“ (Europa – freundschaft führen dazu, diese Utopie als Wirklichkeit und Aufgabe, Katholische dynamisch-kritische, individuell-kollektive Akademie in Bayern, München, 1988, 26- Lebensquelle zu verstehen. 28). Mit diesem Verzicht sind meiner Mei- Solches gilt natürlich auch heute noch. nung nach noch zwei weitere Gedanken Allerdings scheint mir bedingungslose verbunden, die sowohl die nunmehr zu be- Gastfreundschaft hier noch einen anderen denkende spezifische Aufgabe Europas be- Aspekt in die bereits von Guardini gesuchte treffen wie auch sein bereits zu Beginn spirituell-kulturelle Mission Europas ein- angesprochenes Verhältnis zu den Grenzen zubringen. Weniger aszetisch zentriert als

46 RENOVATIO 1 - 2014 der kritische Ruf zum Dienst, baut diese vollzogene aber letztlich hoffnungslose Utopie auf Überraschung - auch in drama- Eingrenzung uneingeschränkter Gastlich- tischen Situationen -, auf konkrete Begeg- keit durch neue technische und administra- nung und unvorhersehbare Fruchtbarkeit – tive Barrieren -, sondern Personen, die wie das soeben bereits andeutetet wurde -; deren gelungene Überwindung durch gast- ja, auf eine gewisse Freude, die auch damit freundliches Verhalten und den Mut zu verbunden ist, dass plötzlich die echten einer neuen, das Asylrecht begleitenden Grenzen unseres Menschseins aufscheinen Afrika-Politik glaubwürdig darstellen. Sol- können. che Öffnung von Schranken immer wieder Dies ist der zweite Gedanke, der mit der anzumahnen und konkret zu exemplifizie- Gastlichkeit verbunden ist. Unser leibliches ren wäre die spezifische Mission der Chris- Begrenztsein ist nämlich, in seiner histo- ten und Kirchen in Europa. Wir haben in risch-kulturellen Verwurzelung, nicht pri- unserer Geschichte einige große Gestalten, mär auf Selbstschutz und Selbstver- die diese Aufgabe symbolisieren. Eine bis teidigung angelegt, sondern harrt auf Be- heute sowohl Juden, Muslime, Christen reicherung von außen, durch den Fremden und Agnostiker überzeugende Figur wie und sein Menschsein. Europa hat dies auf die des Poverello von Assisi, der unbedingt seinen kulturellen Höhepunkten, zum Bei- gastfreundliche Heilige, ist eine schöne und spiel hier in Salzburg, immer wieder von lebendige Inkarnation dieser spezifisch eu- neuem bewiesen. Nur wenn wir dies, in der ropäischen, menschliche Grenzen bejahen- Haltung der Gastfreundschaft, beglückend den Entgrenzung. erfahren, gnadenhaft befreit von der Last Mit dieser Evokation des heiligen Fran- der ganzen Welt, die „der unglückselige ziskus darf ich, bei unserem kulturell-geist- Atlas“ Heinrich Heines tragen zu müssen lichen „Wettlauf“, den der Apostel Paulus meint, können wir uns auch mit Mut und ja mit den olympischen Spielen vergleicht Energie den dramatischen Erfahrungen von (1 Kor 9, 24), die Staffel an meinen Bruder Gewalt und verweigerter Gastlichkeit stel- Michael weitergeben. len und eventuell unser Eigenes, ja unser Selbst in der Nachfolge Jesu aufs Spiel Ich danke Ihnen ganz herzlich für ihr auf- setzten. merksames Zuhören! 4. Liebe Hörerinnen und Hörer! Auf das tragische Drama vor Lampedusa gibt es na- türlich „technische“ und „ökonomische“ Reaktionen und Empfehlungen der Brüsse- ler-Kommission. Die großen europäischen Emotionen, wie sie sich bislang darauf zeigten, konnten sich jedoch nicht kristalli- sieren und zu einem identitätsbildenden Ganzen zusammenfügen. Sie führten auch nicht zu einer grundsätzlichen Revision un- serer Afrika-Politik. Europa fehlt sozusa- gen der Leib! Dazu brauchen wir aber unbedingt Bilder und vor allem glaubwür- dige Personen, die nicht als erstes die tra- gische Antinomie von Gastfreundschaft erfahrbar machen - die mit guten Gründen

RENOVATIO 1 - 2014 47 Vom Über-Setzen und von anderen Grenzüberschreitungen Dankesworte zur Verleihung des Theologischen Preises der Salzburger Hochschulwochen 2014

Michael Theobald

Prof. Dr. Michael Theobald lehrt Neues Testament an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen.

ehr geehrter Herr Erzbischof Dr. Franz Heiligen Schrift, der sich über die bibli- Lackner,S verehrte Äbtissinnen und Äbte, schen Texte wie über alte Partituren beugt, sehr geehrter Herr Rektor Prof. Schmidin- um sie wieder und wieder zu analysieren ger, sehr geehrter Herr Kollege Hoff samt und ins Heute zu übersetzen, kommt sie vor allen Mitgliedern des Kuratoriums, darun- wie ein Wunder der Leichtigkeit, ein Hör- ter vor allem Marlis Gielen, meine ge- oder Sprachenwunder, wie er es nur vom schätzte neutestamentliche Kollegin in lukanischen Pfingstfest her kennt. Salzburg, sehr verehrter lieber Herr Wohl- Verehrte Anwesende! Ich gestehe, dass muth, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mich über die Verleihung des theologi- liebe Studentinnen und Studenten, sehr ge- schen Preises der Salzburger Hochschul- ehrte Damen und Herren! wochen an meinen Bruder und mich in dieser Stadt grenzüberschreitender Kultur „Von Herzen – Möge es wieder zu Her- und Musik, die uns so viel bedeutet, außer- zen gehen!“ Dieses Motto setzte Ludwig ordentlich freue; sie ist eine große Ehre, die van Beethoven über seine Missa Solemnis, mich auch ein wenig beschämt. Gestatten und im Libretto der vorletzten Oper Wolf- Sie mir, meiner Dankbarkeit Ausdruck zu gang Amadeus Mozarts heißt es: „Wie verleihen, indem ich zum Thema der Hoch- stark ist nicht dein Zauberton, / weil, holde schulwochen, den Stab meines Bruders Flöte, durch dein Spielen selbst wilde Tiere aufgreifend, aus bibeltheologischer Per- Freude fühlen …“. Es ist die Musik, die spektive ein paar Gedanken anfüge. Gren- Feindbilder überwindet, Grenzen über- zen sind notwendig, auch die Grenzen schreitet, weil ihre Sprache, kommt sie von unserer eigenen Sprache, die wir von Kind- Herzen, allen Orts verstanden wird und zu heit an bewohnen, in der uns zu äußern un- Herzen geht. Sie bedarf keiner Überset- sere spezifische Individualität ausmacht. zung, sie will gehört werden, dann ereignet Aber die Sprache des Anderen zu verste- sich Verstehen jenseits der Worte. Men- hen, von der einen zur anderen Sprachinsel schen, die sich fremd sind, finden durch sie überzusetzen und dadurch gastfreund- für einen glücklichen Moment zusammen. schaftliche Begegnung über die Grenzen Sie erfordert wohl die Anspannung aller hinweg zu ermöglichen, ist Kennzeichen Kräfte der Musiker, aber wenn sie erklingt, nicht nur eines gelingenden europäischen ist sie wie eine Verheißung, ein Geschenk Projekts. Es ist auch im Licht des Pfingst- in zerrinnender Zeit. Dem Exegeten der wunders ein Wesensmerkmal des Gottes-

48 RENOVATIO 1 - 2014 volks. Gehen wir also wenige Stationen der dentums, der in Jerusalem anbeten will, ist Apostelgeschichte mit, die das veranschau- der erste Afrikaner aus dem Gebiet des heu- lichen. tigen , der sich taufen lässt. Wenn In der Pfingstperikope, Apg 2, heißt es Philippus ihm die Jesaja-Rolle erschließt, bekanntlich: „Sie entsetzten sich alle und die der sozial hoch stehende Beamte wohl staunten und sagten: Seht, sind das nicht in ihrer griechischen Übersetzung zu lesen alles Galiläer, die da reden? Und wie hören vermag, veranschaulicht dies in exempla- wir sie, ein jeder in unserer eigenen Spra- rischer Weise, dass es der menschlichen che, in der wir geboren sind:Parther, Meder Begegnung bedarf, des Gesprächs, damit und Elamiter und die Bewohner von Me- der alte Text in der Gegenwart der Men- sopotamien und von Judäa und Kappado- schen auch ankommt. Ihre Begegnung be- zien, Pontus und Asien und Phrygien und schließt Lukas mit der wunderbaren Notiz: Pamphylien, Ägypten und den Gegenden Der Äthiopier „ging fröhlich seines Weges“ von Libyen gegen Kyrene hin und die hier (Apg 8,39), was doch heißt: Er geht seinen weilenden Römer, sowohl Juden als Prose- eigenständigen Glaubensweg (vgl. Apg lyten,Kreter und Araber – wie hören wir sie 9,2; 19,9.23; 22,4 etc.), der ihn nach Afrika von den Großtaten Gottes in unseren Spra- zurückführen sollte, und er geht ihn fröhli- chen reden? Sie entsetzten sich alle und chen Herzens. Und dies nach der Darstel- waren ratlos und sagten einer zum anderen: lung des Lukas, noch bevor Paulus den Was mag dies wohl sein?“ (Apg 2,7-12). Schritt nach Europa tut, wie ihn die be- Ja, auch wir fragen uns: Was mag dies rühmte Episode von seinem Traumgesicht wohl sein? Wer sind diese Menschen, die inszeniert, in dem ein Makedonier, der sein Lukas hier in Jerusalem zum Fest versam- Land und sein Volk repräsentiert, ihm bit- melt sieht? Es sind alles Juden aus der tend zuruft: „Komm herüber nach Make- weltweiten Diaspora, weshalb das Sprach- donien und hilf uns!“ (Apg 16,9). oder Hörwunder auch jüdisches Erbe auf- Lassen Sie mich hier kurz innehalten. greift: Die Erzählung von Gottes Großtaten Wenn Paulus bangen Herzens per Schiff sollte nicht nur in Hebräisch, sondern auch von Troas nach Samothrake über-setzt, – so die nicht zu überschätzende Leistung dann findet er am anderen Ufer zwar auch des hellenistischen Diasporajudentums – in wieder griechisch denkende und spre- Griechisch, der damaligen Weltsprache, ge- chende Menschen vor, aber für uns heute hört werden können. Die Pfingstperikope mag sein Schritt nach Europa tiefere sym- hebt das ins Grundsätzliche. In allen Spra- bolische Bedeutung annehmen. Er könnte chen der Welt verstanden zu werden, bei für ein anderes grundsätzliches Wagnis ste- den Menschen in ihrer je eigenen Mutter- hen, das der Über-setzung aus der einen in sprache anzukommen, ist nichts Sekundä- die andere Kultur und Sprache, ein Wagnis, res, das auch noch zum Wort Gottes denn es schließt Veränderung und Trans- hinzukäme, sondern bezeichnet nach jü- formation ein, neue kreative Sinnschöp- disch-christlichem Verständnis sein Wesen: fung. Für dieses Wagnis steht das Neue es ist ein Wort für jeden, an jedem Ort und Testament selbst ein. Es hat die Worte Jesu für jede Zeit. nicht archiviert, nicht nur getreu aus dem „Verstehst du auch, was du liest?“ fragt Aramäischen ins Griechische übersetzt, Philippus in Apg 8 den Äthiopier auf der sondern sie aufgrund neuer Glaubenserfah- „Straße, die von Jerusalem nach Gaza rungen vielfältig variiert, ja sogar Worte in hinabführt“, einst miteinander verbundene seinem Namen neu geschaffen, in der Städte. Der Äthiopier, ein Freund des Ju- Überzeugung, dass so der gegenwärtig ge-

RENOVATIO 1 - 2014 49 glaubte Herr in nicht vorherzusehenden Si- soll sich vom Mann nicht scheiden“ – „der tuationen selbst aktuell zur Sprache Mann soll die Frau nicht entlassen“ (1Kor kommt. Einer der eindrücklichsten Belege 7,10f.). In einem anderen Wort, dessen dafür sind die tiefgreifenden Unterschiede mutmaßliche Urgestalt sich aus den ver- zwischen den Evangelien: Der johannei- schiedenen neutestamentlichen Fassungen sche Christus spricht ganz anders als der nur hypothetisch rekonstruieren lässt, iden- synoptische, was Friedrich Schleiermacher tifiziert Jesus in prophetischer Provokation mit der großen Differenz zwischen dem So- gegen die gängige vom Mann diktierte kratesbild des Xenophon und dem des Pla- Scheidungspraxis, was im jüdischen Um- ton verglich. Das vierte Evangelium beruft feld landläufig nicht zusammengehört: sich für seine Besonderheit auf den „Para- Scheidung bzw. Entlassung und Ehebruch, kleten“, den „Beistand“ des Geistes, der an gegen den der Dekalog sich richtet: „Jeder, Jesu Worte erinnert und sie erst in der Er- der seine Frau entlässt, der begeht Ehe- innerung zu verstehen gibt. So entstehen – bruch!“ Im Zwölfprophetenbuch heißt es entsprechend den unterschiedlichen ekkle- bei Mal 2,14: „JHWH ist Zeuge zwischen sialen Orten – auch unterschiedliche Erin- dir und der Frau deiner Jugend, die du be- nerungsgestalten, eine johanneische und trogen hast, wo sie doch deine Gefährtin drei synoptische, eine Pluralität, in der sich und die Frau deines Bundes ist“. Gottes das frühchristliche Netzwerk der Ekklesien Bund mit seinem Volk erheischt nicht nur spiegelt. Uns macht das Johannesevange- Treue zu ihm, sondern auch Treue unterei- lium Mut, im Vertrauen auf den Parakleten, nander, auch und gerade in der Ehe. Um der in die Wahrheit führt, Jesus auch heute diese Treue geht es auch Jesus, die er als neu zur Sprache kommen zu lassen – im Gewissensnorm einschärft, ohne sich damit Wissen um die Würde jeder, also auch un- auch schon auf das Feld der Halacha, der serer Zeit. konkreten gesetzlichen Normen, zu bege- Johannes ermutigt uns also zu einer der- ben, was er auch nicht beim Sabbatgebot artigen „Übersetzung“, aber diese fordert tut: „Der Sabbat ist für den Menschen da, auch Mut von uns wie von der Ekklesia nicht der Mensch für den Sabbat“. Wie die- insgesamt, damals wie heute. Das möchte sem im wahrsten Sinne des Wortes huma- ich kurz an einem Beispiel von hoher Ak- nen Grundsatz in der konkreten Ge- tualität erläutern, der Frage, welche Rolle setzgebung zu entsprechen sei, interessierte Jesus für den Umgang der Kirche mit wie- Jesus nicht. Er war eschatologischer Pro- derverheirateten Geschiedenen in ihrer phet, kein Schrift- oder Rechtsgelehrter. Mitte spielen sollte (vgl. M. Theobald, Jesu Umso bedeutungsvoller ist aber dann die Wort von der Ehescheidung. Gesetz oder Art und Weise, wie die Theologen des Evangelium? in: ders., Jesus, Kirche und Neuen Testaments mit der Gewissensnorm das Heil der Anderen [SBAB 56], Stuttgart Jesu umgehen, wenn sie, konfrontiert mit 2013, 37-58). Wahrscheinlich gibt Mk 10,9 den menschlichen Grenzen und dem ein Wort Jesu wieder, wenn nicht wörtlich, menschlichen Scheitern, sein Wort in ihre so doch intentional. Dafür spricht, dass sein Situation „übersetzen“. Paulus war der Kern auch bei Paulus belegt ist. Es lautet: erste, soweit wir wissen, der sich genötigt „Was Gott verbunden hat, das soll der sah, für einen konkreten Fall pastorale Mensch nicht scheiden“ – nicht: „darf“, Hilfe zu geben. Dabei hält er fest, dass Jesu wie die Einheitsübersetzung – und nur sie – Wort für alle verheirateten Christen ver- den Satz, ihn ins Juridische wendend, wie- bindlich ist. Doch was tun, wenn in Korinth dergibt. Bei Paulus klingt er so: „die Frau eine verheiratete Frau zur christlichen Ge-

50 RENOVATIO 1 - 2014 meinde konvertiert, ihr Mann diesen Schritt zieht, es sei denn, ein Neuanfang aus dem aber nicht billigt und sich von ihr scheiden Geist der Versöhnung heraus ist möglich will? Die Antwort des Paulus, die er in ei- (vgl. Mt 18,21f. etc.). Die matthäische Ge- gener Verantwortung erteilt, lautet: „Er (der meinde rechnet also realistisch mit dem nicht-gläubige Partner) soll sich scheiden. Scheitern der Menschen, mit der oft apore- Der Bruder oder die Schwester (also der tischen Spannung von Anspruch und Wirk- christliche Partner) ist in solchen Fällen lichkeit. Sie setzt damit Impulse, die in den nicht sklavisch gebunden“ (1Kor 7,15), Kirchen des Ostens, die sich auf Mt 5,32 was wohl heißt: er ist frei für eine Wieder- berufen, schon auf dem Konzil zu Nizaea, heirat. Jacob Kremer, der große und aus tie- Canon VIII, zu eigenen Lösungen führten fer kirchlicher Empathie wirkende Wiener (vgl. zuletzt H.-R. Seeliger, Vom Konzil er- Neutestamentler, merkte hierzu an, dass laubt. Nicaea und die Wiederverheiratung Paulus Jesu Gebot gerade „nicht als starres Geschiedener, in: ThQ 192 [2012] 305- Gesetz aufgefasst hat, das überhaupt keine 312). Gerade die plurale Mehrfach-Über- Ausnahmen kennt“ (Der erste Brief an die lieferung des Jesus-Worts mit seinen Korinther [RNT], Regensburg 1997, 143). unterschiedlichen neutestamentlichen Adap- Wenn das kanonische Recht 1Kor 7,15 al- tionen verpflichtet zu ökumenischem Res- lerdings zu einem Sonderfall und Ausnah- pekt vor den Wegen der anderen Kirchen megesetz für religionsverschiedene Ehen, wie zur kritischen Relativierung der je ei- zum sog. „Privilegium Paulinum“ stilisiert, genen Tradition. Dass der „Katechismus verkennt es die hermeneutische Relevanz der Katholischen Kirche“ von 1993 Mt des paulinischen Bescheids: Paulus ver- 5,32 und 19,9 mit Schweigen übergeht, ist sucht Eheprobleme seiner Gemeinde im auf diesem Hintergrund nur ungut zu nen- Sinne des „Herrenworts“ in Freiheit zu nen. lösen. Das hat exemplarische Bedeutung Gewiss kann bei dieser und weiteren im Blick auch auf andere Probleme, von Fragen auf dem Feld von Ehe und Familie denen er noch nichts ahnen konnte, die aber allein die von Papst Franziskus mit großem ebenfalls einer pastoralen Lösung harren. Freimut angekündigte römische Bischofs- Paulus ist – das sei hinzugefügt – im synode weiterführen, wobei sich alle einig verantwortungsvollen Umgang mit dem sind: In einer Zeit, da Scheidung und Wie- Wort Jesu kein Einzelfall. Matthäus – und derheirat gang und gäbe sind, vermag ge- er ist hier Sprecher seiner syrischen Ekkle- lebte Treue in der Ehe heute ein starkes sia – „übersetzt“ es gleichfalls in die eige- Zeichen der Nachfolge Jesu zu sein. Sein nen Koordinaten, „schreibt“ es „weiter“ Wort ist Evangelium, nicht Gesetz – Zu- und fügt die berühmte Ausnahmeklausel spruch, nicht Verdammung. Wenn wir als ein: „Jeder, der seine Frau entlässt – abge- gerechtfertigte Sünder, denen ein Neuan- sehen vom Fall (oder: außer bei) Unzucht fang geschenkt wird, zur Eucharistie gela- –, der liefert sie dem Ehebruch aus“ (Mt den sind, dann wäre dieses Geschenk 5,32 par. 19,9). Die Forschung ist sich versöhnender Gastfreundschaft ohne leib- schon längst darin einig, dass hier keine il- haftiges, gemeinsames Essen und Trinken legitimen Verwandtschaftsbezüge als Nich- schlicht gegen die Intention Jesu. Freilich tigkeitsgrund für eine Ehe namhaft ist der Ballast groß, den wir als Kirche von gemacht werden, sondern Ehebruch, durch unserer Tradition her mit uns herumschlep- den die Ehe in der Auslegung von Dtn pen. Wolfgang Trilling, Neutestamentler 24,1-4 bereits zerstört ist, was den rechtli- und Oratorianer in Leipzig zu DDR-Zeiten, chen Vollzug der Scheidung nach sich schrieb 1984 zur undifferenzierten Einstu-

RENOVATIO 1 - 2014 51 fung des Ehescheidungslogions als „ius di- an Leib und Seele gesunden, finden sie vinum“ bei Abblendung seiner pluralen zum Glauben oder nicht – dies ist vielleicht neutestamentlichen Adaptionen: Dies der deutlichste Erweis dafür, dass trotz aller „scheint, wenn ich recht sehe, die stärkste kirchlichen Schiffbrüche und in allen Blockade für eine tiefgehende Reform zu schmerzhaften Transformationsprozessen, sein […]“ (Ehe und Ehescheidung im in denen wir derzeit stehen, am Ende die Neuen Testament: ThGl 74 [1984] 390-406: Weitergabe des jesuanischen Erbes an die 405f.). Jesus jedenfalls wusste nichts von nächste Generation doch gelingt. einem ontologisierten Ehebund. Sehr verehrte Damen und Herren! Ich Vielleicht wird es uns wie dem schiff- möchte nicht schließen, ohne dass wir brüchigen Paulus vor Malta gehen, um beide, Christoph und ich, unserem lieben noch einmal auf die Apostelgeschichte zu- Laudator, Herrn Kollegen Wohlmuth, für rückzulenken (Apg 27,39-28,10): Aus dem seine so sympathischen und freundschaft- Wrack gerettet, ans Ufer der fremden Insel lichen Worte danken. Er hat das Brüderpaar gespült, nennen er und seine Gefährten mit seinen verschiedenen, aber doch pola- nichts mehr ihr Eigen. Vom „Ersten der ren Brennpunkten perspektiv- und facet- Insel“ mit Namen Publius für drei Tage tenreich gezeichnet, uns damit aber auch gastfreundlich aufgenommen, heilt Paulus wieder überholend auf ein Bild hin, dem dessen Vater und viele Kranke der Insel – wir noch nicht entsprechen, dem wir aber so wie Jesus im Lukasevangelium. „Und – das versprechen wir – mit all unseren sie erwiesen uns große Ehren und gaben Kräften nacheifern wollen. Von Herzen ein uns bei der Abfahrt alles mit, was wir vergelt’s Gott, lieber, sehr verehrter Herr brauchten“ (Apg 28,10), notiert Lukas. Ob Wohlmuth! jemand zum Glauben kam, sagt er nicht. Uneigennützig das Handeln nach dem Ihnen allen danke ich für Ihr geduldi- Evangelium ausrichten, auf dass Menschen ges, aufmerksames Zuhören.

52 RENOVATIO 1 - 2014 Sind die katholischen Intellektuellen in Deutschland am Ende? Beispiel: Ruhrgebiet

Hans Waldenfels / Maria-Luise Born

Prof. DDr. Hans Waldenfels SJ ist Geistlicher Assistent und Stellv. Vorsitzender der KAVD-OV Essen und Umgebung.

Maria-Luise Born ist Schriftführerin der KAVD-OV Essen und Umgebung und Vertreterin im Diözesanrat Essen.

ein – sie sind nicht am Ende! Wir einigung Essen und Umgebung. Sie alle Nleben in Zeiten des Umbruchs. Deshalb sind der Meinung, dass es im akademi- haben gerade jetzt die Intellektuellen in der schen Bereich am öffentlichen Bekenntnis Kirche den Auftrag, sich zu Wort zu mel- zur katholischen Kirche fehlt. den und ihre Meinung kund zu tun, und dies zumal seit dem Papstwechsel im Jahr Unser Ortsverband in Essen wird sich in 2013 mit dem neuen Papst aus Argentinien. Zukunft KAR (Katholischer Akademiker- Dies ist Anlass genug, die kirchliche Situa- verband-Ruhr) nennen. Wir wollen uns ein- tion und ihren Auftrag überall vor Ort zu mischen, wir schämen uns nicht und überdenken und zu überprüfen. wenden uns nicht von der Kirche ab, wir wollen katholisch sein. Wir sind stolz auf Sie lesen die letzte Nummer der RENO- unsere christliche Vergangenheit vor Ort VATIO des Katholischen Akademikerver- und im ganzen Abendland. Wir ziehen uns bands Deutschland, weil sich der Dach- nicht zurück! Wir werden aktiv! verband zum Jahreswechsel auflöst. Eine weitere wichtige kirchliche Stimme wird in Gerade wir im Ruhrgebiet fühlen uns be- Zukunft fehlen. Da stellt sich für jeden von sonders verpflichtet, auch im Gedenken an uns die Frage: Sind wir am Ende? die Gründung des Bistums Essen, kurz vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Ende oder Anfang? Jahre 1958. Mit der Gründung des Bistums wurde ein deutliches Ja zu einer aufstre- Wir im Ruhrgebiet sagen „Nein“, wir fan- benden Metropollandschaft Ruhr und zum gen neu an mit einer Gruppe Interessierter Einsatz des Katholischen in dieser Land- in Essen, die weitermachen und sich neu schaft gesetzt. Kardinal Franz Hengsbach, aufstellen will. Es sind die Herausgeberin der erste Bischof von Essen (1910-1991), einer regionalen Quartalszeitschrift, eine war bestrebt, im Sinne eines wahren „Pon- leitende Mitarbeiterin beim Weltkulturerbe tifex“ Vertreter der verschiedenen gesell- Zollverein, zwei Hochschullehrer, Vertre- schaftlichen Gruppierungen aus Wirtschaft, ter an den Hochschulen tätiger Korporatio- Industrie und Gewerkschaften an einen nen, Mitglieder der alten KAVD-Ortsver- Tisch zu rufen. Die Gründung des Initia-

RENOVATIO 1 - 2014 53 tivkreises Ruhr verbindet sich bleibend mit Denken wir an den langjährigen Präsiden- seinem Namen. Die Menschen im Ruhrge- ten der Görres-Gesellschaft, Professor Paul biet gaben ihm den Namen „Ruhrbischof“, Mikat (1924-2011), den Vater der „Mikätz- weil er sich mit ihnen identifizierte, zu den chen“, einer Initiative kirchlich interessier- Menschen ging; davon zeugen viele Bei- ter Christen im Weiterbildungsbereich. spiele: Grubenfahrten, Betriebsbesuche, Diese starke in Gesellschaft und Kirche der Karfreitagskreuzweg auf der Halde Ha- mitgestaltende Persönlichkeit, wünschte niel an der Stadtgrenze zwischen Bottrop sich für das Ruhrgebiet eine klassische und Oberhausen. Es ist gut, dass es noch Universität, mit beiden theologischen Fa- Zeitzeugen gibt, wie Weihbischof Franz kultäten, wissend, dass das Ruhrgebiet Grave, den langjährigen Koordinator des lange von der Bildungspolitik vernachläs- Initiativkreises Dr. Jürgen Gramke und den sigt worden war. Die Kirche sollte sich früheren Bischofssekretär Domkapitular nicht zurückziehen, schon gar nicht aus den Martin Pischel. Sie kennen die Vergangen- Universitäten, wie es zurzeit in Bochum heit und sehen positiv in die Zukunft, trotz geschieht. Rückzüge sind leicht, es genügt der starken Fluktuation an der Ruhr und oft nur eine Entscheidung, besser wäre ein trotz der vielen Menschen, die die jüngste Aufbau, auch wenn er mühsam ist. Zu oft Vergangenheit schon vergessen haben und ist ein Rückzug unwiederbringlich. nicht mehr kennen. Dies gilt nicht nur für den universitären Be- Das gilt auch für manche Priester, die sich reich, sondern auch für die Medienwelt. nur an einen Kardinal Hengsbach erinnern, Die Aufgabe des Bistumsblatts Ruhr-Wort, der oft streng war, so dass im Rückblick das bundesweit Anerkennung gefunden hat, noch manche Wunde bei ihnen offen ist. hat in unserer medienorientierten Zeit ein Doch macht dies die gesellschaftliche Wir- Vakuum hinterlassen, das die statt dessen kung des Kardinals nicht ambivalent, verbreitete Postwurfsendung des Bistums, zumal in der damaligen Zeit kirchliche Au- die es gratis gibt, nicht füllen kann. Es feh- toritäten, auch andere Bischöfe, durchaus len der bistumsgesteuerten Nachfolgepu- fordernd und streng mit ihren Klerikern blikation ein Markenzeichen, das zur umgegangen sind und deshalb manchmal Identifikation führt, jeglicher Informati- gefürchtet waren. Klagen ist nicht ange- onswert und vor allem die einladende Auf- sagt, lieber schaue man auf den jetzigen forderung an die Katholiken, sich hinter die Papst und höre man seine stellenweise Sache Jesu zu stellen, um die es der Kirche harte Kritik am Klerus. Priester sollten sich geht. Es zeugt von der nach wie vor vor- selbst fragen, was sie heute im Sinne einer handenen Substanz und Stärke des regio- überzeugenden Glaubensverbreitung im öf- nalen Katholizismus, dass es kurzfristig zu fentlich-gesellschaftlichen Raum leisten1. einer freien Laien-Initiative gekommen und Es wird höchste Zeit, dass jene die in der in Gelsenkirchen ein Neues Ruhr-Wort ent- Kirche das Sagen haben, endlich begreifen, standen ist. Die Wochenzeitung ist ein dass eine introvertierte, sich selbst pfle- Hoffnungszeichen. Man kann nur wün- gende Kirche – Papst Franziskus spricht schen, dass die Initiative Bestand hat. Für von einer „selbstreferentiellen, auf sich selbst den Augenblick bringt sie jedenfalls das, bezogenen Kirche“ – keine Zukunft hat. was viele seit Aufgabe des alten Ruhr-Wort vermissen.

54 RENOVATIO 1 - 2014 Kritische Rückfragen Ähnlich kritisch äußert sich Ulrich Ruh, der scheidende Chefredakteur der Herder Wenn der Glaube an Jesus Christus und der Korrespondenz: Ruf in seine Nachfolge uns etwas für unser Leben in der Welt von heute bedeutet und „Es ist ein Kernproblem des deutschen Ka- mehr ist als die Weiterführung überholter tholizismus, dass er zunehmend an intel- Traditionen und Bräuche, kann sich die ka- lektueller Auszehrung leidet. Symptome tholische Akademikerschaft nicht von dafür sind mit Händen zu greifen. In kirch- ihrem Auftrag verabschieden. Es muss lichen Verlautbarungen werden oft Sach- nachdenklich stimmen, wenn Christ in der probleme mit einem Wust an pastoralen Gegenwart am 6. Oktober 2013 eine Nach- Floskeln zugedeckt. Theologische Veröf- richt mit der Überschrift „Von der Scham fentlichungen zelebrieren nicht selten eine der Intellektuellen, katholisch zu sein“ verstiegene gedankliche und sprachliche brachte, in der es hieß: „Es gibt immer we- Akrobatik ohne Rücksicht auf ihr mögli- niger katholische Intellektuelle. Und kaum ches Publikum. Es finden sich in kirchli- eine Geistesgröße will noch mit dem We- chen Diskursen die immer gleichen sensmerkmal ‚katholisch‘ in Verbindung Standardformeln zur Charakterisierung gebracht werden.“ heutiger Gesellschaft und Kultur, die bele- gen, dass man nicht zu genauerem Hinse- Und voller Ironie beschreibt Christiane hen und Analysieren bereit ist. Man Florin das Verhältnis von deutschem Epis- rezipiert kulturelles und spirituelles Mate- kopat und den katholischen Laien in rial, bügelt aber dabei nicht selten dessen Deutschland: Widersprüchlichkeit und Widerständigkeit glatt.“ (Herder Korrespondenz, Mai 2014, „Die deutsche Bischofsbranche geriert sich 219) wie ein altes Ehepaar und streitet lustvoll- boshaft über den Kommunionempfang für Nicht die Überalterung der Mitglieder ist wiederverheiratete Geschiedene. Dass sie der wahre Grund für die Auflösung von mit Frühlingsgefühlen nichts anzufangen Verbänden. Es geht vielmehr um eine ver- weiß, ist normal. Aber dass auch die Basis breitete innere Aushöhlung, bei älteren keine Schmetterlinge hervorzaubert, über- Mitgliedern auch um Enttäuschung, Ermü- rascht, jetzt, da sie einen Traummann zum dung und Frust („Bei Älteren dominiert bei Papst hat. Die deutschen Laien hüllen sich aller Loyalität oft genug die schiere Frus- in biedere Schlafgewänder. Sie säuseln in tration“, Ulrich Ruh). Es fehlt an Ausstrah- Synoden und Diözesanversammlungen lung, Überzeugungsstärke und dem Willen weder verliebt noch verrückt, sondern so zur Zukunftsgestaltung. Viele haben das abgeklärt wie nach einer mühsam durchge- Gefühl, dass der Verbandskatholizismus in haltenen Paartherapie. Sie sagen müde seinen Repräsentationen, etwa dem Zen- Sätze über das ‚Zusammenwirken von tralkomitee deutscher Katholiken (ZdK) Frauen und Männern‘, da werden Ent- sich weder beim Kirchenvolk noch in der scheidungs-, Kommunikations- und Seel- Welt von heute bewegt, sondern sich viel- sorgekulturen gefördert. Da wird so lange fach selbst zelebriert. Katholische Intellek- ‚mitgestaltet‘, bis der Leser sich in den Pas- tuelle mischen sich seit langem nicht mehr siv-Modus verabschiedet.“ (Christ und wirklich in den gesellschaftlichen Diskurs Welt – DIE ZEIT Nr. 21/2014) ein, auch wenn „Dialog“ ein Lieblingswort kirchlicher Kommunikation ist. Schließlich

RENOVATIO 1 - 2014 55 kommt es darauf an, worüber man einen sprich: die „Kirchensteuer“ – zahlt. Tat- „Dialog“ führt und mit wem. Dass die in sächlich ist die Kirche im öffentlichen der Gesellschaft virulenten Fragen zur Rechtsstatus eine Körperschaft öffentlichen Sprache kommen, wird wesentlich Auf- Rechts. Viele Menschen fragen sich, was gabe der Laien bleiben und unter diesen vor sie eigentlich davon haben, Vereinsmitglied allem Aufgabe derer, die sich reflektiert der Kirche zu sein, ob man sich diesen Bei- und nachdenklich über diese Welt und ihre trag nicht genauso gut sparen könnte2. Zukunft Gedanken machen, der Intellektu- ellen. Vereine können für ein Mitglied lebensprä- gend und identitätsbestimmend sein, aber Ausgebremste päpstliche Anstöße auch teilzeitbestimmend und am Ende mar- ginal. Inzwischen betrachtet aber eine Christiane Florin hat ja Recht: Wir haben wachsende Zahl von (Noch-)Mitgliedern zwar einen „Traummann zum Papst“, und die Kirche mehr mit den Augen des Au- alle Welt schwärmt von ihm, aber die deut- ßenstehenden als von innen; das heißt, der schen Intellektuellen, auch viele Katholi- Grad der Identifizierung nimmt deutlich ab. ken, tun sich, wenn sie offen reden, mit ihm Das geht soweit, dass für viele Menschen, schwer. Kürzlich schrieb ein guter Freund: selbst Getaufte, die Kirche und das Chris- „Warum ausgerechnet die Intellektuellen tentum zu einer „Fremdreligion“ werden3. Papst Benedikt ständig kritisiert haben und „Fußball – das ist mein Leben“ singt auch von der Verkündigung ‚des Neuen‘ begeis- nicht unbedingt jeder, der einmal zu einem tert sind, erschließt sich mir nicht. Dennoch Fußballspiel ins Stadion geht und es dort bin ich mit Dir voller Hoffnung.“ toll findet. Wir müssen also deutlicher zur Kenntnis nehmen, dass die Kirche auch Rationalität und Emotionalität sind auch von Kirchenmitgliedern immer weniger bei Intellektuellen nicht dasselbe. Gerade aus einer Binnen- und immer mehr aus weil es Intellektuellen aber wesentlich um einer Außenperspektive betrachtet wird. Rationalität geht, reicht es nicht aus, für den einen zu schwärmen und den anderen Soziologisch steht die Kirchlichkeit seit zu verachten. Man muss sich fragen, längerem auf dem Prüfstand. Insidern sind warum „der Neue“ bei so vielen Menschen die Studien zu den Sinus-Milieus und den in aller Welt „ankommt“ und umgekehrt religiösen und kirchlichen Orientierungen trotzdem so viele bei uns nach wie vor in Deutschland bekannt, die eine differen- missmutig sind, wenn die Rede auf die Kir- ziertere Sicht der Einstellung zur Kirche che kommt. Irgendwie wirken die päpstli- zulassen4. Doch sind diese Erkenntnisse in chen Anstöße bei uns wie ausgebremst. der kirchlichen Verkündigung weithin noch nicht angekommen. Das aber macht es ver- Vermutlich liegt es an Folgendem: Die Kir- ständlich, dass man sich für den lateiname- che ist eine gesellschaftliche Größe, die rikanischen Papst begeistern kann, ohne man mit „weltlichen“ Augen, also gleich- dass in der Kirche und bei ihren Gläubigen sam von außen, und als Mitglied, von viel geschieht. innen, betrachten kann. Für den durch- schnittlichen deutschen Katholiken, – Zum Kirchenbild von Papst Franziskus gleichgültig, ob Akademiker oder nicht, – ist die Kirche zunächst ein großer Verein, Wenn der Papst von der Kirche spricht, für den man seinen Mitgliedsbeitrag – meint er nicht den Verein Kirche. Vielmehr

56 RENOVATIO 1 - 2014 spricht er biblisch-theologisch. Unter den von „Volk“ muss man vor Augen haben, Kirchenbildern ist ihm offensichtlich das wenn man die konkreten Anstöße verstehen Bild vom Volk Gottes am liebsten. Dieses und umsetzen will, die das Verständnis von Bild hat einen doppelten Anknüpfungs- Kirche bei Papst Franziskus bestimmen. punkt: Drei Impulse ● Zweites Vatikanisches Konzil Drei Impulse können gerade für die deut- Zwar ist Franziskus der erste Papst, der das sche bzw. europäische Szene hilfreich sein. Zweite Vatikanische Konzil nicht mehr als Wir entnehmen sie dem Interview, das Teilnehmer miterlebt hat; dennoch lebt er Franziskus Ende August 2013 mit dem ita- ganz aus diesem Konzil. Er ist ein Mann lienischen Jesuiten Antonio Spadaro ge- des Konzils und identifiziert sich voll und führt hat; sie sind aber auch im Apos- ganz mit der Kirche, die für ihn das von tolischen Schreiben Evangelii gaudium Gott gerufene Volk ist, dem er sich zuge- vom 24. November 2013 zu finden7 hörig fühlt. In diesem Sinne ist er selbst Kirche, Teil der Kirche, Glied der Kirche. ● „Man muss ganz unten anfangen.“ (48) Für ihn besteht die Kirche aus „lebendigen Steinen“ (1 Petr 2,5) aus Menschen, die mit Die Kirche beginnt mit den Menschen, die dem „lebendigen Stein“ Christus verbun- zu ihr gehören, nicht mit der hierarchischen den sind (1 Petr 2,3) und mit ihm „ein hei- Ordnung. Die Menschen der Kirche bilden liges Geschlecht, ein Volk bilden (1 Per ein Volk und das umso mehr, wenn das 2,9). „Volk“ (griech. laos) aber ist im 2. Ka- Volk sich als „Volk Gottes“ versteht, das pitel der Kirchenkonstitution Lumen gen- heißt: als das von Gott berufene Volk. tium zu einem Schlüsselbegriff geworden. Der Satz „Die Kirche baut sich von unten auf“ hat wesentlich mit der Identität zu tun, ● Lateinamerika-Argentinien die der Mensch für sich sucht, weil er wis- sen will, wohin er gehört. Das wird bei den Allerdings ist „Volk“ für Franziskus nicht Strukturüberlegungen in Deutschland und nur biblisch, sondern auch von seiner la- anderen Ländern Europas allerdings offen- teinamerikanischen, argentinischen Volks- sichtlich anders gesehen. Lautet nicht zugehörigkeit her zu verstehen5. Latein- zumeist die Ausgangsfrage: Wie viel (kle- amerika und seine argentinische Heimat rikales) Leitungspersonal werden wir in schenkten ihm die Sensibilität für die Viel- Zukunft noch haben? Entsprechend wird falt von Sprachen und Denkformen in der die Zahl der Großpfarreien bestimmt und Welt. Diese verbindet sich bei ihm mit werden Gottesdienstzeiten u.ä. festgelegt. einem starken Gefühl für menschliche Be- Es ist ein trostloses Bild in unseren Städ- grenztheiten. Gerade dieses Gefühl für Be- ten, wenn man am Sonntagmorgen – den grenztheiten aber müssen wir in Europa Werktag kann man ohnehin vergessen – an erst neu entwickeln. Viel zu lange haben geschlossenen Kirchtüren vorbeifährt. wir – auch in der Kirche – anderen Völ- Dabei geht es den Städten trotz des redu- kern, Kulturen und Religionen gegenüber zierten Angebots immer noch viel besser ein starkes Überlegenheitsgefühl entwi- als den Dörfern. Verschlossene Kirchen ckelt. Dies gilt es in unseren Tagen aufzu- aber sind keine Einladung zur Identifizie- arbeiten6. rung. Die deutschen Kirchenleitungen den- Den doppelten Ansatz eines Verständnisses ken hier nicht wie der Papst; sie denken

RENOVATIO 1 - 2014 57 viel zu sehr von Oben nach Unten, nicht schen Jesus von Nazareth ein menschliches von Unten nach Oben. Das wird auch beim Angesicht. Er ist ein Gott, der in zärtlicher zweiten Anstoß oft übersehen: Liebe und Zuwendung für uns Menschen berührbar geworden ist, er wünscht von ● „Das Volk ist das Subjekt.“(43) uns, dass wir uns entsprechend verhalten, unser Leben tätig gestalten und füreinander Frage: Fühlen wir uns in der Kirche wirk- da sind. Es geht schließlich um das „Volk lich als Subjekt, das aufgrund der Geister- Gottes“. Die damit gegebene Christusbin- fülltheit aktiv wird und sich einsetzt, wo dung und Christusförmigkeit geht vielen Menschen in Not sind, der Hilfe, Heilung Mitgliedern des Vereins Kirche ab. Sie und Zuwendung bedürfen? Werden wir ini- wünschen sich zwar mehr „Demokratie“ in tiativ in der Kirche und wenn ja, wie zeigt der Kirche, doch den bleibenden Ausgangs- sich das? Fühlen sich die meisten Mitglie- und Zielpunkt, also das A und O des Gan- der der Kirche nicht nach wie vor eher als zen, bekommen sie nicht zu Gesicht; es „Objekte“, als passive Empfänger statt als nimmt folglich auch keine Gestalt in ihnen aktive Täter? Aus der früheren Beobach- an. tung formuliert: Haben wir nicht bezahlt, so dass wir in unserer Gesellschaftsord- Die Bischöfe und Christen vor Ort sollten nung Anspruch auf eine Gegenleistung sich endlich an das erinnern, was der eme- haben, also etwas bekommen sollten, an- ritierte Papst Benedikt XVI. schon als jun- statt noch zusätzlich tätig sein zu müssen? ger Professor klarsichtig formuliert hat8: Der Gedanke, dass wir alle Subjekt sind, also aktives, tätiges, gestaltendes und hel- „Aus der Krise von heute wird auch dieses fendes Subjekt, jeder nach seinen Fähig- Mal eine Kirche morgen hervorgehen, die keiten, ist in unseren Gemeinden längst viel verloren hat. Sie wird klein werden, nicht verbreitet. Wir sind in der Kirche ge- weithin ganz von vorne anfangen müssen. wohnt, geführt zu werden, und dass man Sie wird viele der Bauten nicht mehr füllen uns sagt, wie wir leben sollen. Im konkre- können, die in der Hochkonjunktur ge- ten Fall ärgert das zwar, weil das, was „von schaffen wurden. Sie wird mit der Zahl der denen da oben“ gesagt, gepredigt und vor- Anhänger viele ihrer Privilegien in der Ge- geschrieben wird, oft lebensfremd wirkt sellschaft verlieren. Sie wird sich sehr viel und ist. Doch der durchschnittliche Katho- stärker gegenüber bisher als Freiwillig- lik hat seine Vorstellungen von Kirche, wie keitsgemeinschaft darstellen, die nur durch es immer war und vielleicht auch sein Entscheidung zugänglich wird. Sie wird als sollte. Nur dass ich persönlich als aktiv tä- kleine Gemeinschaft sehr viel stärker die tiges Subjekt gefragt bin, kommt den meis- Initiative ihrer einzelnen Glieder beanspru- ten nicht in den Sinn. Deshalb sind sie chen. Sie wird auch gewiss neue Formen enttäuscht und wenden sich ab. des Amtes kennen und bewährte Christen, Der Papst denkt anders. Ein Denken in den die im Beruf stehen, zu Priestern weihen. Kategorien der Tauschgesellschaft – „Wir In vielen kleineren Gemeinden bzw. in zu- haben bezahlt und dürfen dafür etwas er- sammengehörigen sozialen Gruppen wird warten“ – ist ihm im Hinblick auf sein Ver- die normale Seelsorge auf diese Weise er- ständnis von Kirche völlig fremd. Für ihn füllt werden.“ ist Gott im Spiel. Dieser Gott aber thront nicht in unnahbarer Ferne von der konkre- ten Menschenwelt, sondern hat im Men-

58 RENOVATIO 1 - 2014 Ist es nicht an der Zeit, dass endlich aus der meine Übereinstimmung in Sachen des klaren Erkenntnis Konsequenzen gezogen Glaubens und der Sitten äußert.“ werden? Ist es nicht an der Zeit, dass die Getauften die Initiative ergreifen und das Zum Vergleich lautet der vollständige Text tun, wozu sie in der Kraft des Geistes befä- bei Papst Franziskus: higt sind? Wo melden sich hier die katholi- schen Intellektuellen zu Wort? In der „Das Volk ist das Subjekt. Und die Kirche Öffentlichkeit, bei den Bischöfen, schließ- ist das Volk Gottes auf dem Weg der Ge- lich, wenn diese nicht hören, beim heutigen schichte – mit seinen Freuden und Leiden. Papst? Fühlen mit der Kirche bedeutet für mich, Die Provokation wird noch heftiger, wenn in dieser Kirche zu sein. Und das Ganze der wir einen dritten Satz hinzufügen, den Gläubigen ist unfehlbar im Glauben. Es Papst Franziskus wiederholt ausspricht: zeigt diese Unfehlbarkeit im Glauben durch den übernatürlichen Glaubenssinn ● „Das Ganze der Gläubigen ist des ganzen Volkes Gottes auf dem Weg. So unfehlbar im Glauben.“ (43)9 verstehe ich heute das Sentire cum ecclesia [= Fühlen mit der Kirche – HW], von dem Das muss vielen fremd vorkommen, ob- der heilige Ignatius spricht. Wenn der Dia- wohl der Inhalt des Satzes keineswegs log der Gläubigen mit dem Bischof und neu, sondern urkatholisch ist. In gewissem dem Papst auf diesem Weg geht und loyal Sinne relativiert er die seit dem Ersten Va- ist, dann hat er den Beistand des Heiligen tikanischen Konzil im Übermaße betonte Geistes. Es ist also kein Fühlen, das sich päpstliche Unfehlbarkeit und Macht, die auf die Theologen bezieht.“ (43) isoliert sehr zur Erstarrung und Entmündi- gung des Kirchenvolkes beigetragen hat. Hier ist nicht ausführlicher auf die Lehre So wie der Papst den Satz formuliert, wird einzugehen10. Nur so viel sei gesagt: Of- aber die päpstliche Vollmacht in den Ge- fensichtlich geht es dem Papst wesentlich samtrahmen kirchlicher Unfehlbarkeit zu- um die Autorität des Volkes, nicht zuletzt rückgebunden. der Armen, Leidenden und Unterdrückten. Diese aber äußert sich nicht zunächst in Der im kirchlichen Grundverständnis weit- Worten, sondern in Taten; fachsprachlich hin verdrängte und vergessene Sachverhalt ausgedrückt: weniger in der Orthodoxie als ist in der Kirchenkonstitution Lumen gen- in der Orthopraxie. Entsprechend heißt es tium Nr. 12 deutlich in Erinnerung gerufen in Evangelii gaudium Nr. 119 zu „unfehl- worden: bar im Glauben“:

„Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die „Das bedeutet, dass [das Volk], wenn es Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 glaubt, sich nicht irrt, auch wenn es keine Joh 2,20 und 27), kann im Glauben nicht Worte findet, um seinen Glauben auszu- fehlgehen (lat. in credendo falli nequit) und drücken. Der Geist leitet es in der Wahrheit diese ihre besondere Eigenschaft macht sie und führt es zum Heil.“ mittels des übernatürlichen Glaubenssinns (lat. mediante supernaturali sensu fidei) Unter dem Stichwort „Volksfrömmigkeit“ des ganzen Volkes immer dann kund, wenn war es ein wichtiges Thema auf der V. Ge- sie ‚von den Bischöfen bis zu den letzten neralversammlung der Bischöfe von La- gläubigen Laien‘ [Augustinus] ihre allge- teinamerika und der Karibik im brasilia-

RENOVATIO 1 - 2014 59 nischen Aparecida im Jahr 2007. Im Rück- folge Jesu, für viele ist die Kirche ein mehr blick auf Aparecida beschreibt Papst Fran- oder weniger nützlicher Verein. Zu Recht ziskus in Evangelii gaudium Nr. 125, wie fordert der Papst in Evangelii gaudium, Nr. sich im Volk - gleichsam am Wort vorbei - 102 ausdrücklich im Hinblick auf die Laien Glaube, Hoffnung und Liebe äußern kön- Bildung und Evangelisierung: „Die Bil- nen: dung der Laien und die Evangelisierung der - Glaube: „Ich denke an den festen Glau- beruflichen und intellektuellen Klassen ben jener Mütter am Krankenbett des stellen eine bedeutende pastorale Heraus- Sohnes, die sich an einen Rosenkranz forderung dar.“ klammern, auch wenn sie die Sätze des Credo nicht zusammenbringen.“ Man kann es mit dem Schriftwort ausdrü- - Hoffnung: Ich denke „an den enormen cken: „Wovon das Herz voll ist, davon Gehalt an Hoffnung, der sich mit einer spricht der Mund.“ (Mt 12,34) Hört man Kerze verbreitet, die in einer bescheidenen Papst Franziskus zu, liegt ihm nichts so Wohnung angezündet wird, um Maria um sehr am Herzen als die Vermittlung der je- Hilfe zu bitten.“ suanischen Botschaft. In der Sprache der - Liebe: Ich denke „an jene von tiefer Kirche gesagt: Es geht ihm um „Evangeli- Liebe erfüllten Blicke auf den gekreuzig- sierung“, um das praktische Bekenntnis zu ten Christus.“ (eigene Textanordnung) Jesus. „Evangelisierung“ ist das heutige Wort für „Mission“, Sendung und Auftrag. Die im Blick auf die Kirche als Gottesvolk Das aber ist keine Angelegenheit der gegebenen Impulse des Papstes sind keine Selbstbespiegelung, sondern erfordert, dass soziologischen Erörterungen, sondern we- wir das Innere der Kirchenräume hinter uns sentlich spirituelle Anstöße, die für alle Ge- lassen und hinausgehen in die verschiede- tauften gelten. Sie erfordern folglich auch nen Bereiche der Welt. keine besonderen Studien und keine be- sonderen Bevollmächtigungen. Sie erfor- In der Neufassung der örtlichen Satzung dern wohl ein tiefes Kirche-sein im Sinne der Katholischen Akademikerschaft Ruhr radikaler Verbundenheit mit dem Mensch haben wir formuliert, dass es uns geht um: gewordenen Gott und Offenheit für seine bleibende Geistführung. Sie erfordern – im a) „die Förderung katholischer Bildung und modernen Jargon gesagt – Sinn für Spiri- die Verbreitung katholischen Denkens, vor tualität, mehr als theoretischen theologi- allem der katholischen Gesellschaftslehre schen Disput. Nicht über die Kirche zu in der katholischen Akademikerschaft und reden ist angesagt, sondern Kirche zu sein. deren verantwortlicher Einsatz in Kirche und Gesellschaft, zumal im Bereich der Bekenntnis und Auftrag Schulen, Hochschulen und Bildungsein- richtungen, Sind die katholischen Intellektuellen am b) die Förderung der Zusammenarbeit mit Ende? Das ist nicht der Fall! Wohl ließ sich gleichgesinnten katholischen Gemein- am zwiespältigen Umgang mit der Person schaften im eigenen Land und Umfeld des lateinamerikanischen Papstes zeigen, sowie auf internationaler Ebene, aber auch dass in Deutschland ein zwiespältiges Ver- die Förderung der ökumenischen Koopera- ständnis von Kirche verbreitet ist. Nur ein tion mit der Evangelischen Akademiker- kleiner Teil der Gläubigen identifiziert sich schaft, noch existentiell mit dem Ruf zur Nach- c) die Förderung des offenen Gesprächs

60 RENOVATIO 1 - 2014 und der Zusammenarbeit mit anderen reli- entdeckt und entwickelt werden. Das Ruhr- giösen Gemeinschaften und mit allen sinn- gebiet besitzt inzwischen eine Vielzahl von suchenden gesellschaftlichen Gruppierun- Universitäten, Hochschulen und For- gen im Sinne des Zweiten Vatikanischen schungsstätten, Kunstakademien, Musik- Konzils.“ schulen, Theatern und Museen. Die ka- tholische Kirche selbst ist nach wie vor ein Der Text enthält ein deutliches Bekenntnis starker Bildungsträger, doch erweist sie zum Zweiten Vatikanischen Konzil, be- sich im Bereich der Institutionen – und das kennt sich zum katholischen Denken und stellenweise im Gegensatz zur evangeli- betont die Ausrichtung auf das gesell- schen Kirche – zunehmend als kontaktarm; schaftlich-öffentliche Leben, wie es sich vielerorts ist sie einfach nicht mehr präsent. vor allem in den verschiedenen Bildungs- Gerade weil aber die klerikal gesteuerten einrichtungen entfaltet. Er betont die Ko- Leitungsgremien personell wie finanziell operation mit gleichgesinnten Gruppie- überfordert sind, müsste im Sinne der rungen und das im Wissen um ökumeni- päpstlichen Impulse dem freien Spiel der sche Verpflichtungen. Schließlich lassen Kräfte im einfachen Kirchenvolk entschie- sich Bekenntnis und Auftrag heute nur den mehr Raum gegeben werden. dann offen und ehrlich verwirklichen, wenn wir uns der Vielzahl und Vielgesich- An den Hochschulen gibt es nach wie vor tigkeit der Menschen und der menschlichen Studentenverbindungen u.ä., die sich aber Gruppierungen stellen, die wie wir auf der in einer Zeit pluralen Kräftemessens und Suche und dem Weg zu menschlicher Er- Ringens nicht nur persönlichen Interessen füllung sind. widmen dürften, sondern sich in viel stär- kerem Maße ihres kirchlichen Öffentlich- Gerade in dieser grundsätzlichen Offenheit keitsauftrags stellen müssten. Zu Recht hat wollen wir die Impulse des heutigen Paps- sich der Kartellverband katholischer deut- tes aufgreifen, der eine dezentrierte Kirche scher Studentenvereine (KV) jüngst in will, die sich nicht um sich selbst dreht und seiner Verbandszeitschrift Akademische mit sich selbst beschäftigt, sondern sich Monatsblätter (AM) Juli/2014 protestie- öffnet und vor allem für die vielen Leiden- rend zu Wort gemeldet. Die LandesAsten- den und Suchenden in der Welt da ist11. Das Konferenz Niedersachsen (LAK) hatte auf erfordert einen hohen Grad an Sensibilität ihrer Sitzung am 13. Mai 2014 den ASTA für die Orte, an denen Menschen leben. Für der Universität Göttingen aus diesem Gre- Intellektuelle an der Ruhr haben wir zu- mium mit der Begründung ausgeschlossen, nächst folgende Bereiche ins Auge gefasst, dass die Mitgliedschaft von zwei Referen- die dann weder einen Anspruch auf Voll- ten in Studentenverbindungen „eine Un- ständigkeit noch eine abschließende Be- vereinbarkeit mit der Präambel der LAK“ schreibung der Bereiche beinhalten: darstellen würde. Dabei ging es u.a. um ein Mitglied des KV. ● Hochschullandschaft Solche Ereignisse gehören aber in die öf- Wer von der Kraft des Geistes überzeugt fentliche Presse und müssten ähnlich deut- ist, sollte vor allem da präsent sein, wo lich diskutiert werden wie das Verbot eines geistige Auseinandersetzungen stattfinden, Kopftuchs für eine muslimische Kranken- geistige Inspirationen wachsen, gesell- schwester in einem katholischen Kranken- schaftsprägende und -bestimmende Dinge haus oder die unglückliche Aufforderung

RENOVATIO 1 - 2014 61 des Europapolitikers Martin Schulz, die es vermutlich gar nicht gegeben hat, wird Kreuze und andere religiöse Symbole aus Misstrauen gesät und Gift gestreut, wobei der Öffentlichkeit zu verbannen. Kirchenverantwortliche – wegen der Ge- heimhaltungsbestimmungen – nur ohn- ● Medienlandschaft mächtig dementieren oder schweigen können; schweigen aber gilt nach dem alten Damit ist ein zweites Feld angesprochen, lateinischen Wort zumeist als Zustimmung. aus dem sich die katholische Kirche viel zu stark zurückzieht. Wir erinnern uns: Es be- Gerade hier sind erneut die katholischen In- gann mit Publik, 1968 von der katholischen tellektuellen gefordert. Sie tragen Mitver- Kirche gegründet und nach drei Jahren antwortung für den öffentlichen Raum und 1971 aufgegeben, – es lebt fort in Publik- bleiben auch mitverantwortlich, dass die Forum, das sich mit eigenen Mitteln trägt. katholische Kirche in der Öffentlichkeit Der Rheinische Merkur wurde nach wech- eine verständliche und wahrhaftige Stimme selvoller Geschichte eine Zeitlang von ka- hat. Dabei geht es ja, auch wenn es in der tholischen Bistümern und der Deutschen Kirche brennen mag, keineswegs primär Bischofskonferenz subventioniert und um kircheninterne Fragen wie die beiden 2010 als eigenständige Zeitung eingestellt; erwähnten, die für Außenstehende ohnehin seit Ende 2010 erscheint er unter dem Titel nur bedingt von Interesse sind. Wohl trägt Christ und Welt als Beilage zur Wochen- der Umgang auch mit solchen innerkirchli- zeitung Die Zeit. chen Fragen zur Glaubwürdigkeit oder Un- glaubwürdigkeit der Kirche bei. Bedeut- Angesichts der starken Umbrüche auf dem samer sind jedoch die Fragen, die die Men- Markt medialer Kommunikation stellt sich schen, unabhängig von ihren Zugehörig- die Frage, wie sich die Kirche im Bereich keiten, wirklich bewegen und die nach der Medien präsent hält und sachgerecht in einer Antwort verlangen. der Öffentlichkeit positioniert. Denn es geht ja nicht nur um die Vermittlung kor- ● Ökumenischer Auftrag rekter Daten und Informationen, sondern auch um die Meinungsbildung. Hier aber Wir betonen zwar nachdrücklich den ka- sind Leerräume entstanden. Es ist nur an tholischen Auftrag, weil wir uns aus der ka- zwei Beispiele zu erinnern: Nach der Auf- tholischen Identität heraus aufgerufen deckung der desaströsen Missbrauchsfälle wissen. Allerdings leben wir in einem in der Kirche unseres Landes und vieler an- Land, dessen Geschichte von der Reforma- derer westlicher Länder war der Kirche die tion geprägt ist, die bis heute Trennungen Meinungsbildung über das Versagen des und Spaltungen, letztlich tiefsitzende Wun- Bistums Limburg und seines Bischofs den hinterlassen hat, die bis heute nicht Franz-Peter Tebartz-van-Elst beim Bau des wirklich heilen. Dabei verstehen viele neuen Bischofshauses der Kirche weithin Nachfahren, die in diesen Tagen an die Er- entglitten. Ähnliches droht der Kirche bei eignisse vor 500 Jahren, also an das Refor- der Berichterstattung über die jüngeren Bi- mationsjubiläum, erinnert werden, über- schofsernennungen in Freiburg und Köln. haupt nicht mehr, worum es bei all dem Da innerkirchlich vieles immer noch im Streit einmal ging, und das gilt für beide Zeichen der Geheimhaltung abläuft, pro- Seiten. duziert die Presse ihre eigenen Geschich- ten, werden Kandidatenlisten verbreitet, die

62 RENOVATIO 1 - 2014 Längst gibt es in vielen Bereichen gesell- kerschaft stark. Es ist sinnvoll, diese Situa- schaftlichen Lebens wechselseitige Hilfen. tion wahrzunehmen, die möglichen Kon- Man wechselt sich ab bei Gottesdiensten in takte erneut zu knüpfen, die Möglichkeiten Krankenhäusern und Altersheimen, in Ge- der Kooperation auszuloten und gemein- fängnissen, beim Militär bis hin zu den sam in den heute geforderten interreligiö- Hochschulen. Man diskutiert über das Ver- sen und interkulturellen Disput und den ständnis von Ehe und Familie, über den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs ein- Umgang mit Lebensanfang und Lebens- zutreten. ende, über medizinische und technische Möglichkeiten und ihre moralische Er- Das wollen wir für die katholische Akade- laubtheit, über das Arbeitsrecht, den Um- mikerschaft an der Ruhr. Es könnte so auf gang mit Migranten, über Fragen der eigene Weise auch in anderen Teilen des Ökologie und Ökonomie u.v.m. Es gibt ge- Landes weitergehen. Christen sind überall meinsame gesellschaftspolitische Erklä- im Land und auf der Welt aufgerufen, Zeu- rungen, zumal die Diskussion in vielen gen der Botschaft Christi zu sein. Das Bereichen zu gleichen und ähnlichen Er- geschieht im alltäglichen Leben, beim In- gebnissen führen und Unterscheidungen tellektuellen auch im Wort. nicht mehr unbedingt konfessionell-religiös bedingt sind. Gerade den Intellektuellen muss immer wieder ihre Verantwortung zu Bewusstsein Hier stellt sich auf lokal-regionaler Ebene kommen. Sie folgt letztlich daraus, dass der die Frage, ob nicht gerade im akademi- Mensch ein nachdenkendes Wesen ist, das schen Raum vorhandene Strukturen und „re-flektiert“, das heißt: die Welt und sich Ressourcen im Sinne von Synergien viel selbst in den Blick nimmt. Das heißt: Die stärker gemeinsam genutzt werden könn- Intellektuellen müssen sich ihrer Verant- ten. Warum können in einer religiös-welt- wortung stellen und Verantwortung tragen. anschaulich immer bunteren Gesellschaft Katholiken und Protestanten als die noch Der Theologe sieht sich an den 1 Petrus- bestehenden christlichen Großkirchen nicht brief 3,15 verwiesen, wo es heißt: „Seid stärker zueinander finden, die Einheit leben stets bereit, jedem Rede und Antwort zu und vollziehen, wo immer es möglich ist? stehen, der auch nach dem Grund eurer In einer wachsenden Zahl von Großstädten Hoffnung fragt.“ Er kommt mit seiner Ver- gehören inzwischen mehr als 30 Prozent antwortung von Gott und steht mit seiner der Bevölkerung nicht mehr den beiden Verantwortung letztlich vor Gott. Kirchen an, und diese Zahl wächst. Ange- sichts dieser Entwicklungen sind auch aus Die Botschaft, die wir als Katholiken aus dieser Perspektive das bewusste Bekennt- der Mitte unserer Kirche heute lauter ver- nis und die Besinnung auf den Auftrag, den nehmen können als lange zuvor, lautet: der gemeinsame Herr den Christen gege- Hinausgehen ben hat, dringend erforderlich, und das Türen öffnen umso mehr, als der interreligiöse Dialog Dasein für die Anderen angesagt ist. Soll er an uns vorbei geführt Wissen, dass Gott selbst das Menschsein werden12? gewählt hat.

An der Ruhr waren einmal sowohl die ka- tholische wie die evangelische Akademi-

RENOVATIO 1 - 2014 63 Anmerkungen amorphe Gruppe, eine Masse, unfähig für kol- lektive Aktionen. Im Gegensatz dazu wird Volk 1 Vgl. dazu ausführlicher Hans Waldenfels, Sein (pueblo) im argentinischen Kontext verstanden Name ist Franziskus. Der Papst der Armen. Pa- als Ordnungseinheit. Eine organische Gemein- derborn 2014. schaft, fähig zu kollektiven Gefühlen und Ak- 2 Die Austrittszahlen belegen den Trend: Sie tionen, die einen Lebensstil teilt und – was das sind nach den jüngsten Veröffentlichungen von wichtigste ist – die eine gemeinsam Geschichte 118.335 Austritten im Jahr 2012 auf 178.805 im und ein gemeinsames Geschick teilt.“ Jahr 2013 gestiegen. 6 Dazu Thomas Schreijäck/Knut Wenzel (Hg.), 3 Vgl. Gregor M. Hoff/Hans Waldenfels (Hg.), Kontextualität und Universalität. Die Vielfalt Die ethnologische Konstruktion des Christen- der Glaubenskontexte und der Universalitätsan- tums. Fremdperspektiven auf eine bekannte Re- spruch des Evangeliums. 25 Jahre „Theologie ligion. Stuttgart 2008; darin mein Beitrag: interkulturell“. Stuttgart 2012; darin Hans Wal- Unterwegs zu einer Ethnologie des Christen- denfels, Das europäische Christentum - im Kon- tums (149-166), in dem ich zu erläutern suche, text globaler Interreligiosität, 111-128; ders., wie die Kirche bzw. das Christentum immer Möglichkeiten und Grenzen des Pluralismus in mehr Menschen „fremd“ wird. der Theologie – Eine katholische Position, in 4 Vgl. MDG-Milieuhandbuch 2013. Religiöse Mariano Delgado/Volker Leppin/David Neu- und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Mi- hold (Hg.), Schwierige Toleranz. Der Ursprung lieus. Im Auftrag der MDG-Medien-Dienstleis- mit Andersdenkenden und Andersgläubigen in tung GmbH. Heidelberg-München 2013. der Christentumsgeschichte. Fribourg – Stutt- 5 Vgl. Jorge Mario Bergoglio Papst Franziskus, gart 2012, 339-356; ders., Von der Sprachnot in Die wahre Macht ist der Dienst. Freiburg 2014, der Kirche, in Richard Heinzmann (Hg.), Kir- 121-150; dazu auch Einrique C. Bianchi in che – Idee und Wirklichkeit. Für eine Erneue- Magdalena M. Holztrattner, Innovation Armut. rung aus dem Ursprung. Freiburg 2014, Wohin führt Papst Franziskus die Kirche? Inns- 206-228. bruck 2013. 55 „Auch das Wort Volk wird hier 7 Vgl. Antonio Spadaro SJ, Das Interview mit mit einem besonderen Geschmack ausgespro- Papst Franziskus. Freiburg 2013; Seitenzahlen chen. Für viele ArgentinierInnen war es sehr im Text. suggestiv, dass der Papst in seinen ersten Wor- 8 Joseph Ratzinger, Glaube und Zukunft. Mün- ten auf dem Balkon dieses Wort gleich dreimal chen 1970, 122f. (= Gesammelte Schriften 8/2, benutzte. Um über Personen im Kollektiv zu 1167); dazu Hans Waldenfels, Löscht den Geist sprechen, bietet die spanische Sprache zwei nicht aus! Gegen die Geistvergessenheit in Kir- Wörter an, die in Argentinien mit substantiellem chen und Gesellschaft. Paderborn 2008, 17-29. Unterschied konnotiert sind: pueblo und gente. 9 Ich habe den Satz mindestens dreimal gefun- Beide werden ins Englisch mit people übersetzt, den. Er findet sich in der Nachschrift eines Vor- wobei der spanische Gehalt, der uns hier inte- trags vor der Vollversammlung der Päpstlichen ressiert, verloren geht. Zum Beispiel titulierte Kommission für Lateinamerika in Rom im Ja- die Zeitschrift Time im Juli dieses Jahres [2013 nuar 2005; vgl. sein Buch: Die wahre Macht (A. – HW] mit ‚The people‘s Pope‘, was eine mehr- 5), 360f.; im Spadaro-Interview (A. 7), 42f.; in deutige Übersetzung anbietet. Man könnte es Evangelii gaudium; vgl.; Papst Franziskus, Die übersetzen mit ‚der Papst der Leute‘ (el papa de Freude des Evangeliums. Das Apostolische la gente) oder mit ‚der Papst des Volkes‘ (el Schreiben Evangelii gaudium über die Verkün- papa del pueblo), zwei Ausdrücke, die in Ar- digung des Evangeliums in der Welkt von heute. gentinien zwei verschiedene Bedeutungen tra- Freiburg 2013, Nr. 119; dazu Hans Waldenfels, gen. Leute (gente) verwendet man für eine Sein Name (A. 1), 75-78. 122-124.

64 RENOVATIO 1 - 2014 10 Vgl. ausführlicher zur Sache Hans Walden- chen Unfehlbarkeit geht. Kasper argumentiert fels, Kontextuelle Fundamentaltheologie,. Pa- nicht, wie Papst Franziskus es tut, vom Volk her. derborn 4 2005, 512-519. Es fällt auf, dass die 11 Vgl. dazu ausführlicher Hans Waldenfels, Sein von Papst Franziskus zitierte Stelle Lumen gen- Name (A. 1), 53-64. 78-87. tium Nr. 12 praktisch kaum benutzt wird, um 12 An der Universität Hamburg gibt es inzwi- dem Gedanken der Unfehlbarkeit einen umfas- schen eine Akademie der Weltreligionen, die senden kirchlichen Rahmen zu geben. Walter Anfang Februar 2014 mit einer öffentlichen Kasper schreibt in seinem Werk: Katholische Auftaktveranstaltung des internationalen For- Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung. Frei- schungsprojektes „Religion und Dialog in mo- burg 2011, 374: „Kirche ist nur dann Kirche dernen Gesellschaften“ an die Öffentlichkeit Jesu Christi, wenn sie am Bekenntnis zu Jesus getreten ist. Das Projekt wird vom Bundesmi- Christus festhält, wenn sie also nicht aus der of- nisterium für Bildung und Forschung unter- fenbaren Wahrheit herausfällt, sondern dieser stützt. Vgl. Wolfram Weiße/Katajun Amirpur, treu bleibt. So kann es zwar in der Kirche Irr- Anna Körs & Dörthe Vieregge (Hg.), Religion tum und Sünde geben, aber als Ganzer ist sie und Dialog in modernen Gesellschaften Doku- nicht nur indefectibilis [= unzerstörbar – HW], mentation der öffentlichen Auftaktveranstaltung sondern in einer analogen, das heißt abgeleiteter eines internationalen Forschungsprojektes. Weise aufgrund von Gottes Verheißung auch in- Münster – New York 2014. Zu den Kontaktper- fallibilis [= unfehlbar – HW]. – Diese Unfehl- sonen werden aus dem Ruhrgebiet genannt Prof. barkeit gilt der Kirche als Ganzer.“ Die Aussage Alexander Kenneth-Nagel (Universität Bo- macht Kasper, wo es vor allem um das Ver- chum) und Prof. Thorsten Knauth (Universität ständnis, aber auch die Begrenzung der päpstli- Duisburg-Essen, Projektleitung: Rhein-Ruhr).

KAVD-Regenschirm - RESTEXEMPLARE -

Blauer Schirm mit aufgedrucktem Logo/Schriftzug und praktischer Umhängetasche.

Zu bestellen bis zum 31. Dezember 2014 über den KAVD: 9,90 € inkl. Postfach 20 01 31, 45757 Marl, Versandkosten Tel: (0 23 65) 572 90 90, Fax: (0 23 65) 572 90 91, [email protected] www.kavd.de

RENOVATIO 1 - 2014 65 Wer und was Papst Franziskus prägt Das Vorbild des Peter Faber SJ

Markus Roentgen

Dipl. Theol. Markus Roentgen, Exerzitienbegleiter und Geistlicher Begleiter ist seelsorglicher Ansprechpartner für Akademiker/innen im Erzbistum Köln.

apst Franziskus hat in seinem Interview gerade in Deutschland erst entdeckt als tief mitP Antonio Spadaro SJ auf sein Vorbild, verstehender Denker des Mystischen, in den Jesuiten Peter Faber SJ hin gewiesen1. der Spannung von unbedingter Konkretion Er hat den seligen Pater Faber (1506-1546) im Gottvollzug (in allen Dingen) und der Ende 2013 heilig gesprochen (dieser war Abtragung aller Konkretion im Gottoffenen von Papst Pius IX am 5. September 1872 einer radikalen Ekstase ins Weiße der Un- selig gesprochen worden). nennbarkeit und Unsagbarkeit des Göttli- chen. Was nimmt er von ihm wahr, warum ist dieser Mann aus der ersten Gefährtenschaft Papst Franziskus nennt Peter Faber ein Le- des Heiligen Ignatius von Loyola (er teilte bensvorbild eines reformierten Priesters, mit Ignatius von Loyola und Franz Xaver „für den innere Erfahrung, dogmatische in der Pariser Zeit an der Sorbonne das Formulierung und Strukturreform eng und Zimmer und hatte wesentlichen Einfluss unlösbar miteinander verbunden sind.“3 auch auf das kontemplative Leben des Or- Weiter heißt es dort: „Der Dialog mit allen, densgründers), so wesentlich für die Spiri- auch mit den Fernstehenden und Gegnern, tualität Bergoglios/Papst Franziskus? die schlichte Frömmigkeit, vielleicht eine gewisse Naivität, die unmittelbare Verfüg- Peter Faber, eigentlich Pierre Favre, kommt barkeit, seine aufmerksame innere Unter- aus Savoyen. Er war der erste Jesuit auf scheidung, die Tatsache, dass er ein Mann deutschem Boden. Zudem hat er in Köln großer und starker Entscheidungen und zu- die erste Jesuitenniederlassung in Deutsch- gleich fähig war, so sanftmütig, so sanft- land 1544 gegründet und vielfach in mütig zu sein ... .“4 Worms, Köln, Bonn, Regensburg, Speyer, Mainz und Aschaffenburg gewirkt als In ihm verbinden sich der aus der Tradition Theologe, Berater und Exerzitienbegleiter.2 der Kartause kommende schweigende As- Von ihm überliefert ist im Grunde ein pekt der Exerzitienspiritualität mit der Buch, sein MEMORIALE, also ein Tage- Suche Gottes mitten in und auf den Straßen buch. des Lebens: Jesus ist die Straße: „Ich bin der WEG, die WAHRHEIT und das Papst Franziskus weist auf seinen Mitbru- LEBEN“ (Joh 14,6). der Michel de Certeau SJ (1925-1986) hin, dem er entscheidende Impulse zum Verste- Ignatius hat betont, Peter Faber verstünde hen des Peter Faber verdankt. Certeau wird es besonders gut, seine Exerzitien zu geben.5

66 RENOVATIO 1 - 2014 Faber lernte vor allem auf die inneren Be- reagiert und daraufhin agiert – voll Freude, wegungen im Menschen zu achten, gerade voll Trauer und Bestürzung (wie beim Be- im Blick auf anstehende Entscheidungen. such auf Lampedusa, angesichts der euro- „Daraus erwuchs in Faber der Sinn für eine päischen Mauer vor den übers Meer ‚bewusste Einordnung in die heilsgeschicht- Einlass Suchenden, Flüchtlinge aus Afrika, liche Dynamik des Abstieges Christi in die die vor der Küste ertranken). Welt.‘“6 Zu Faber heißt es: „Er war gefühlvoll, emp- Sein geistliches Tagebuch, das Papst Fran- fänglich für alle Vorgänge, himmelhoch ziskus so wesentlich ist7, zeigt Faber „als jauchzend und zu Tode betrübt, offen für ‚einen, der mehr und mehr hineingenom- die Welt, die er geliebt, an der er gelitten men ist ins Geheimnis Christi, vermittelnd hat, geschaffen für eine Unruhe ohne Ende, zwischen Anfang und Ende, anwesend im die allein Gott zu stillen vermochte, die ihm einen und im anderen, gegeben und ver- aber selber zu schaffen machte. ‚Ich war all heißen in jeder noch so geringfügigen meinen Wünschen ausgeliefert‘, sagte er Wirklichkeit dieser Welt. Das Göttliche von seiner Jugendzeit.“9 „Im Gefühl dau- Menschsein (humanitas divina) ist in allem ernder Unsicherheit empfing und wusste wirklich, wenngleich verborgen, unendlich Faber die Gabe des Friedens zu empfan- und angemessen an die begrenzten Mög- gen.“10 lichkeiten aller Beteiligten zugegen. Sie ist Prüfstein für zielgerechtes Handeln: Nichts Ein innen zerrissener Mensch, der Peter ist göttlich, was nicht auch wirklich ist. Die Faber, der nur Gott suchte (und wohl der Gegenwart – das, was Faber zuerst als eine beste Theologe unter den ersten Gefährten Art Milieu begriff – ist die Verbindung von des Ignatius, der Hirtenjunge aus Savoyen, Anfang und Ende; etwas anderes gibt es der mit Leidenschaft als Mensch der Re- nicht. Den Ort, den diese grenzenlose Ge- naissance in Paris studierte) – und so, da ringfügigkeit (humilitas infinita) im Leben sieht Franziskus tief, ein Heiliger, ein des Apostels einnimmt, offenbart die Kon- Apostel für unsere Zeit. zentration auf die Gegenwart: der Leib Christi, das Leben der Kirche, die kleinen Certeau schreibt: „Ein waches Gespür für Erledigungen des täglichen Dienstes, Arme die Welt machte Faber zu aller Freund, zu und Kinder, alles, was Faber an diese Welt einem sehr menschlichen, ja brüderlichen bindet, lässt ihn auch das unergründliche Apostel, der mit einer aus Gottes Geist und unsichtbare Tätigsein wahrnehmen, stammenden Ausstrahlung zu gewinnen das sich im Sichtbaren und Besonderen in vermochte. Sich selbst verstand er als trös- der täglichen Zuverlässigkeit zeigt.‘“8 Cer- tenden Diener Christi. Doch Furchtsam- teau weist auf den intimen Dialog Fabers keit, Unentschlossenheit, Skrupel wurden, in dessen Memoriale hin, das er nur in den weil er sie angenommen hatte, zum Werk- letzten Jahren seines Lebens (1542-1546) zeug einer Stärke, die aus Gott hervorging, geführt hat. und einer tief gründenden Autorität für die Menschen. Die anhaltenden und schmerz- Das gesamte Spektrum der Emotionen war lichen Anstrengungen, die seine Schwä- Faber tief inwendig und weltda. Auch hier chen forderten, um sich vom Leiden an lässt sich der Einfluss auf Papst Franziskus ihnen zu lösen, hatten in ihm die Gabe der vernehmen, der so sprechend aus dem Her- Unterscheidung geschärft, und er verstand zen auf die unterschiedlichsten Ereignisse es, in anderen ihre Gnadengaben zu entde-

RENOVATIO 1 - 2014 67 cken, wachzurufen und zu stärken.“11 keit und Liebe hingerissen oder es plagt ihn Ein Mensch hin zu den Rändern, (hin und der Geist der Verzagtheit (spiritus penu- her zwischen kontemplativem Leben und riae), der Angst, der Trockenheit.“14 sich hin gebender Aktion), dem wesentlich war, BEI SICH EINKEHREN zu können12; Was ist je daran gut, was schadet, was will mit Gott bleiben und hinausgehen auf die Gott durch diese Bewegungen von uns? Weidegründe; sie als göttliche Fluren ach- Die Erfahrung, das Umgehen damit wird es ten, dort alltagstreu arbeiten! lehren.

WELT UND INNENLEBEN Für Faber wie für Papst Franziskus gilt, aus DOPPELSTREBEN der Mitte der Spiritualität des Ignatius von Loyola, im Raum des Verlangens, welcher Da gibt es stete Wechsel, Rückfälle, tiefe das Fundament der Geistlichen Übungen, Krisen – ja, JA! der Exerzitien sind15, in jedem Moment des Lebens im Kreuzpunkt der beiden Achsen Darin die ganz konkreten Geister der An- vital zu sein – der einen Achse, von oben regungen in der Gottsuche wahren und un- bis unten, darbietend den Abstieg Gottes terscheiden lernen, das ist der starke Impuls bis ins Innerste der Existenz, und der ande- des Faber für Bergoglio/Papst Franziskus. ren Achse, von links bis rechts, in der die Erfahrung der Zeit und des Zeitlichen die In seinem Apostolischen Schreiben „Evan- Universalität des je Nächsten ausdrückt. gelii Gaudium“ hat der Papst sich in die- Verhalten, das sich unmittelbar ans göttli- sem Zusammenhang ausdrücklich auf Peter che Handeln, entsprechend, rückbindet (re- Faber bezogen (Nr. 171), wo er an ihm her- ligio). vor hebt, wie aus dem Genannten die So wird Gott immer gefunden, um ihn Befähigung zur Geistlichen Begleitung er- immer noch mehr zu suchen! wachsen kann, als besonders wesentlichen Unabschließbar. Grund von Seelsorge und Pastoral: „Mehr JE GOTT OFFEN – denn je brauchen wir Männer und Frauen, die aus ihrer Erfahrung als Begleiter die Vorgehensweise kennen, die sich durch Anmerkungen Klugheit auszeichnet sowie durch die Fä- 1 Vgl. Antonio Spadaro, Das Interview mit Papst higkeit zum Verstehen, durch die Kunst des Franziskus: Wartens sowie durch die Fügsamkeit dem http://www.stimmen-derzeit.de/zeitschrift/on- Geist gegenüber (…) die Kunst des Zuhö- line_exklusiv/details_html?k_beitrag=3906412 rens (…), die mehr ist als Hören. (…) der 2 Vgl. hierzu Petrus Faber, Memoriale, übersetzt selige Petrus Faber (Anm. Markus Roent- und eingeleitet v. Peter Henrici. Trier/Einsiedeln gen: Zur Zeit der Veröffentlichung von 1989, 30f. „Evangelii Gaudium“ war die Heiligspre- 3 Vgl., Antonio Spadaro, Das Interview mit chung noch nicht erfolgt) sagte: ‚Die Zeit Papst Franziskus, a.a.O., 8. ist der Bote Gottes‘.“13 4 Ebd. 5 Vgl. Ernst Eugen Niermann, Pierre Favre In Faber lebt beides verbunden (wie in vie- 1506-1546. Priester der Gesellschaft Jesu und len Menschen unserer Zeit) – „entweder ist die Anfänge der katholischen Reform in er vom Geist des Überströmens (spiritus Deutschland; darin das Vorwort von Andreas abundantiae) zu ausufernder Großherzig- Falkner SJ und darin die Übersetzung des Arti-

68 RENOVATIO 1 - 2014 kels „Bienheureux Pierre Favre“ von Michel de Certeau SJ; hg. v. Andreas Falkner. Mannheim 2008, 7. 6 Ebd., 41. 7 Vgl. Petrus Faber, Memoriale, a.a.O. 8 Andreas Falkner zitiert hier Michel de Certeau, „Bienheureux Pierre Favre“: Ernst Eugen Nier- mann, Pierre Favre, a.a.O., 8. 9 Michel de Certeau, a.a.O., 11. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Vgl. ebd. 13 Papst Franziskus, Apostolisches Lehrschrei- ben EVANGELII GAUDIUM, Nr. 171. Rom 2013. www.vatican.va/holy_fahther/francesco/apost_ exhortations/documents/papa-francesco. 14 Ebd., 12. 15 Vgl. dazu: Markus Roentgen, Im Raum des Verlangens: Ders., Gott-Du. Münster 2009, 12f.

RENOVATIO 1 - 2014 69 BÜCHER UND ZEITSCHRIFTEN

Intellektueller mit Herzensfrömmigkeit, ein Hans Waldenfels Gesellschaftskritiker aus dem Geist zärtli- Sein Name ist Franziskus. cher Liebe, ein Kirchenreformer aus der Der Papst der Armen. Wurzelbezogenheit zum Kern des Evange- liums hin, den er, wie der Namensgeber Verlag Ferdinand seines Papstnamen „Franziskus“, Franz Schöningh, Paderborn von Assisi, direkt, mystisch, konkret bis 1. Auflage 2014 159 Seiten ins Alltägliche entscheidenden und unter- ISBN 978-3506766397 scheidenden Tuns ernst nimmt, ohne der Bemäntelung, auch ohne der pseudo-wis- senschaftlichen Dekonstruktion des Evan- geliums bis ins Nichterkennbare einer bloßen theologischen Textur-, auch ohne den vielen kirchenamtlichen Überformun- gen und Verdrehungen im Machtapparat der Kurie mit ihren bisweilen dubios obs- Hans Waldenfels Hinführung zu Papst kuren Schattenmännern die fahle Hand zu Franziskus, erschienen ein Jahr nach An- reichen. tritt des Pontifikats am 13. März 2013 ist ein großer Wurf! Waldenfels zeigt kenntnisreich, faktenge- sättigt, quellenkundig bis ins Detail, wie Nachdem in vielen veröffentlichten Publi- Bergoglio aus dem Kern der besten Rezep- kationen auffällige Akzente des neuen tion des II. Vatikanischen Konzils zu ver- Papstes hervor gehoben wurden, mitunter stehen ist. Neben der jesuitisch-ignatia- auch zu sehr auf die medienwirksamen Af- nischen Schulung (13-26), neben den fran- fekte hin betont, liegt nunmehr eine gründ- ziskanischen Impulsen (91-113), taucht ein liche und grundlegende Studie vor, die Mann im Bischofsamt des Bischofs von zeigt, aus welchem existentiellen Hinter- Rom auf, der endlich in Gestalt, Handlung, grund, aus welchen substantiellen Quellen Lebensstil und Rede inkarniert, was etwa sich die eindrucksvollen Gesten, Handlun- die epochale Intervention von Kardinal gen, Reden, Veröffentlichungen und Ent- Lercaro während des Konzils von 1962 und scheide des Papstes aus Argentinien der sog. „Katakombenpakt“ vom 16. No- speisen. Jorge Mario Bergoglio ist alles an- vember 1965 (zum Ende des Konzils) als dere als ein nur volksnaher, den Armen zu- primär für die Kirche in der Welt von heute gewandter seelsorgender Hirte der Kirche. als ihre Not wendende Reform in Selbstre- form (und Selbstbekehrung) zunächst von Bergoglio ist ein substantieller Denker, ein den bestellten Häuptern der Kirche in der Meister der Unterscheidung der Geister (als Nachfolge Jesu Christi der Kirche erwar- profunder Schüler seines Ordensvaters tete (s. Anhänge 141-148): Einfache Le- Ignatius von Loyola), ein Kenner der geist- bensstile, Bekehrung zur Armut im Leben lichen Traditionstradierung der Kirche, ein mit den Armen, Aufgabe von Pfründen, Ti-

70 RENOVATIO 1 - 2014 teln, das Ablassen von dem Gepränge des „die des Mysteriums der Sünde, die des ganzen klerikalen „Karnevals“, den Bergo- Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der glio in seiner ersten Amtshandlung als Ignoranz, die der fehlenden religiösen Pra- Papst Franziskus bereits abstreifte. Verzicht xis, die des Denkens, die jeglichen Elends“ auf die Eitelkeiten und den Buhei im Kle- – vgl. ebd.) aus der Treue zur Mitte des rus, Verzicht auf Ehrentitel, opulenten Le- Evangeliums Jesu Christi. Keine um sich bensstil, teure Häuser und Wohnungen, kreisende Kirche, sondern mit Jesus, dem schicke Autos, prunkende Gewänder. We- „magister interior“ heraus gehen zu den sentlicher aber: Nach ganz unten gehen und Menschen und Dingen, hinein in die wun- das Leben der Armen nicht nur sehen und den Orte von Schöpfung, Gesellschaften, verstehen lernen, sondern kennen, teilen, Völkern, die nach Hoffnung, Trost, Leben lindern und daraus das prophetische, das und zärtlichem Lieben schreien und dazu kritische, das visionäre Wort sagen und die- der gelebten Gerechtigkeit in Barmherzig- sem mit dem Leben Geltung geben: Das keit bedürfen. Das Volk Gottes (Lumen Leben Jesu mit dem eigenen Leben – Gentium 12) darf nichts und niemanden leben! ausschließen im Lieben und Erbarmen („Evangelii Gaudium 23“). Die Armut lie- Waldenfels arbeitet dies anhand der veröf- ben, wenn sie, frei gewählt, frei macht, sie fentlichten Publikationen des Papstes he- bekämpfen, wo sie knechtet, etwa den tö- raus, seinen Büchern und Interviews, den tenden Gestus entfesselter menschenver- Reden und Verlautbarungen des ersten Jah- achtender kapitalistischer Weltwirtschafts- res, den Büchern aus seiner Zeit als Bischof doktrin. Die Armen immer lieben als Erst- von Buenos Aires, der tiefer gehenden Exe- adressaten der frohen Botschaft Jesu (vgl. gese der vielen zeichenhaften Handlungen 103ff). Keine Angst haben, hier Klartext zu von Papst Franziskus, die alles andere als sprechen – auch wenn die „Umdeutemeis- spontan, die vielmehr sehr gründlich vor- ter“ der Botschaften des Papstes in man- bereitet und so auch medienkompetent ge- chen Teilen der Kirchenspitze sich längst staltet wurden, damit die öffentliche Welt zur Relativierung seines bisherigen Ponti- Kunde erhält von der Leben ermöglichen- fikates aufgeschwungen haben und es er- den Gestalt, vom Trost und von der Freude staunlich ist, wie selektiv der „Gehorsam“ des Evangeliums (vgl. 27-36; 53-70; 71- zum Papst gegenwärtig gerade in den kir- 114). chenrestaurativen Kreisen fröhliche Ur- stände feiert, da, wo ansonsten, wenn ein Hier wird offenkundig, dass die größere Papst passt, rigide der Gehorsam zum Pe- Liebe zur Kirche ihre basale Kritik als trusamt stets eingefordert wird. Selbstkritik enthalten muss, so, wie Kardi- nal Bergoglio sie schon in seiner Vorkon- Schließlich mündet Waldenfels Buch in klaverede überdeutlich zusammen gebracht einer ersten grundlegenden Erläuterung hat. Dieses Programm wird von Waldenfels zum päpstlichen Lehrschreiben „Evangelii noch einmal in Gänze dokumentiert (29f). Gaudium“ (115-140), worin die Essenz des Die Daseinsfreude und der Trost des Evan- bis dahin aus den vorhandenen Quellen Zu- geliums benötigen kühne Redefreiheit und sammengefügten und Bedachten mündet. nicht das Schüren der Angst vor episkopa- Hier wird erstaunlich deutlich, dass es len Engführern in ihren selbstreferentiellen einen (scheinbar wie verborgenen) Vorgän- Programmen. Ein Herausgehen an alle ger im Amt gibt, dem Papst Franziskus in Grenzen der menschlichen Existenz (an größter Nähe verbunden ist – besonders

RENOVATIO 1 - 2014 71 dessen Enzyklika „Evangelii nuntiandi“ von 1975: Die große Anknüpfungsperson, die Jorge Mario Bergoglio/Papst Franzis- kus nachhaltig akzentuiert zitiert ist: Papst Paul VI! Dessen Betonung der notwendi- gen Inkulturation des Evangeliums aus jeder Kultur, Sprache und Weltgegend, des- sen Vorrang des gelebten Zeugnisses des Evangeliums (TESTIMONIUM VITAE) vor dem Zeugnis des Wortes und des Kul- tes, dessen Insistenz auf Evangelisierung primär als Selbstevangelisierung vor allen missionarischen Programmen, schließlich dessen kühne Sicht auf notwendige Dezen- tralisierung um des besseren Ganzen wil- len – (in Würdigung der folgenden Pon- tifikate) findet nun in Papst Franziskus mu- tige Weiterentwicklung. Das Zukunftwei- sende des Konzils, auch das Zukunfts- Offene, das wir noch nicht wissen, das im MEHR, im „Magis“ Gottes verborgen schon lebt, wird im „Papst der Armen“, in seiner Mystik der offenen Sinne (vgl. 38ff) visionär und alltagstreu ansichtig. Walden- fels Buch ist dazu wesentliche Lesehilfe!

Markus Roentgen

72 RENOVATIO 1 - 2014 Martin Bauschke stentum an Bedeutung gewann. In einzel- Der Sohn Marias nen Exkursen verweist Bauschke der Voll- Jesus im Koran ständigkeit halber teils auch auf gewagte Thesen und Christianisierungstendenzen, Darmstadt: Lambert u.a. etwa jene des Autors Luxenberg, dass Schneider 2013. 224 S. die 27. Nacht des Ramadan, also die Her- ISBN 978-3-650-25190-9 abkunft des Korans, eine reine Umdeutung der Weihnachtsgeschichte sei (Sure 97). Bauschke relativiert solche Ansätze jedoch mit der Absicht, die Eigenständigkeit des Korans zu betonen. In weiteren Kapiteln widmet sich der Autor Jesus und seiner Botschaft, insbesondere seinen Gleichnis- sen, bzw. der kanonischen Adaptierung jü- disch-christlicher Traditionen, sowie den Martin Bauschke, der schon 2001 das Buch innerchristlichen Schismen um die Natur „Jesus im Koran“ herausgebracht hatte, Christi, und letztlich den daraus entstehen- begab sich mit diesem neuen Band, das wie den verschiedenen Formen der frühen christ- eine Neuauflage seines ersten Werks klingt, lichen Kirche. Ein wesentlicher Punkt, die noch tiefer in die islamischen Vorstellun- Frage der Trinitätslehre kommt im Islam gen eines ihrer Propheten, ohne dabei die nicht vor, denn aus islamischer Sicht ist Einflüsse und Anschauungen der heterodo- Gott nicht gezeugt noch hat er gezeugt. xen christlichen Strömungen außer Acht zu Somit stellen sich gewisse dogmatische lassen. Fragen nicht, mit denen die Kirchen bis heute zu kämpfen haben. Umso interessan- Vergleiche, die vor allem anschaulich über ter ist der Blick auf Unterschiede der frü- Exkurse und Anhänge gebracht werden, hen Christen untereinander (Judenchristen, sowie Unterschiede, etwa die der Patrili- Heidenchristen, gnostizierende Christen) nearität im Neuen Testament, wohingegen und der muslimischen Gelehrten, etwa hin- der Koran Jesu Abstammung auf seine sichtlich der Kreuzigung und deren Ausle- Mutter verweist, mit der absolut gebrauch- gungen. ten Bezeichnung „Sohn Marias“ (daher der Titel), runden das Bild dieser beiden mo- Besonderes Augenmerk wird im Buch ent- notheistischen Religionen ab und bringen sprechend dem Kreuzigungsvers ge- sie dem Leser in jeder Hinsicht näher. Die schenkt, der doch ein völlig anderes Ende Beobachtungen und Beschreibungen der verrät: „…haben ihn nicht getötet, sondern Strukturen der Heiligen Schrift vermitteln es kam ihnen nur so vor“. Bauschke geht dem Leser, dass der Koran etwaige christ- dabei auf verschiedene Deutungs- und liche Ambivalenzen mit einseitigen Ein- Übersetzungsmöglichkeiten ein. deutigkeiten zu vermeiden versucht. So finden sich Anbindung und doch Wider- In weiteren Exkursen wird auch versucht sprüche des Korans gegenüber der (vor zu (er)klären, wie Entrückungen und Ver- allem früh-)christlichen Tradition, etwa die klärungen Jesu sowie Endzeitvorstellungen Betonung der Jungfräulichkeit Marias im (Jüngster Tag), worin Jesus eine wichtige Koran, die im Neuen Testament kaum eine Rolle spielen werde, im Koran interpretiert Rolle spielte, bis diese im spätantiken Chris- werden. Letztendlich schließt sich der

RENOVATIO 1 - 2014 73 Kreis, in Botschaft und im Gottes-Dienst därliteratur und letztlich einem Koranstel- Jesu: Laut Koran sind seine Worte am Tag lenregister. des Jüngsten Gerichts dieselben wie seine allerersten Worte als Kind auf dem Arm Insgesamt ein hervorragendes Buch, das seiner Mutter: „Dienet Gott, meinem Herrn Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi- und Eurem Herrn!“ Die messianologische schen christlicher und islamischer religi- Skizze des Korans ist dabei weniger ereig- onswissenschaftlich und hermeneutisch nis- oder handlungsorientiert als vielmehr fundiert belegt, und die Basis für einen kon- auf Jesu Person oder seine Worte fokus- struktiven Dialog stellt. Martin Bauschke siert. Eine Aufzählung und Darstellung der ist evangelischer Theologe, Religionswis- älteren Propheten monotheistischer Reli- senschaftler und Leiter des Berliner Büros gionen als „Ur-Muslime“, zu denen letzt- der Stiftung Weltethos. Seine Werke sind lich Jesus gehört, vervollständigen die interdisziplinär und historisch-kritisch aus- Weltsicht des Lesers. gerichtet: Jesus im Koran (Böhlau, Köln 2001) und Jesus – Stein des Anstoßes. Die So versucht Bauschke in seinem Werk mit Christologie des Korans und die deutsch- Vorurteilen aufzuräumen, was das westli- sprachige Theologie (Böhlau, Köln 2000). che Bild der muslimischen Vorstellung Jesu Rezension aus: bbs 2.2014 betrifft. Ein frappanter Unterschied besteht Sicht, dass für Letztere Jesus zum einem noch nicht auferstanden ist, und zum ande- Rainer Feldbacher ren nicht Gottes Sohn ist. Und doch kommt im Koran der irdische Jesus entsprechend den synoptischen Evangelien im Neuen Testament sehr nahe, unter anderem der urchristlichen Spruchquelle Q sowie den Thomas-Evangelien. Am Ende geht Bausch- ke in einem kurzen Exkurs auf andere Re- ligionsgründer ein, die alle ihre eigene Ver- göttlichung zu vermeiden suchten, aber aus Gründen der Staatsraison letztendlich dazu erhoben wurden. Im Anhang zeigt ein ehe- mals zu Studienzwecken verwendeter Fra- gebogen dem Leser auf, wie viel dieser vor der Lektüre des Buchs über Jesus im Koran wusste, während Übersichtstabellen Texte verschiedener Evangelien mit jenen des Koran vergleichen, weiter offenbaren chris- tologische Dogmenbildungen, Erklärungen und Charakter zu Propheten und Gesand- ten, und letztendlich erneut das Jesusbild Verständnis und Missverständnis christli- cher Sicht über den Koran. Ein Literatur- verzeichnis folgt, unterteilt in Literatur zu Koran, historischen Quellentexten, Sekun-

74 RENOVATIO 1 - 2014 1913 - 2014 KAVD - Eigenverlag Postfach 20 01 31 45757 Marl

Hinweis aus der KAVD Geschäftsstelle Ab Januar 2015 werden für die Dauer von mindestens fünf Jahren alle der KAVD Ge- schäftsstelle vorliegenden Ausgaben der Zeitschrift RENOVATIO (letztes vorliegendes Heft ist Heft 1, Jahrgang 32, März 1976) als kostenloser Download auf der KAVD-Home- page zur Verfügung gestellt.