Sendung vom 5.5.2014, 21.00 Uhr

Elisabeth Kulman Opernsängerin im Gespräch mit Hans-Jürgen Mende

Filmzuspieler: (Elisabeth Kulman im Musikstudio) Mende: Einen ganz großartigen und ungeheuer schnellen Gast haben wir heute bei uns im Studio, meine Damen und Herren, nämlich Elisabeth Kulman. Vielen herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind, Frau Kulman. Kulman: Ich danke für die Einladung, ich freue mich sehr. Mende: Das, was wir soeben gesehen haben, war der Nachspann zu einer CD, über die wir nachher noch zu sprechen und von der wir auch noch etwas hören werden, denn es gibt dazu ein Video mit Kinderliedern von Modest Mussorgski. Das ist eine ganz wunderbare Aufnahme. Frau Kulman, Sie eilen von Triumph zu Triumph, ich habe viele, viele Kritiken über Sie gelesen, aber ich fand keine schlechte darunter. Alle Kritiker schreiben von Ihrer fantastischen Bühnenpräsenz, von der Schönheit Ihrer Stimme. Einer schrieb sogar: " heißt ab heute Elisabeth!" Haben Sie je eine schlechte Kritik bekommen? Kulman: Man freut sich natürlich, wenn das so ist. Und ich habe ja auch lange genug daran gearbeitet, dass ich gut bin und bleibe. Das ist ein schöner Lohn für die Arbeit, die ich täglich leiste. Ja, so einen richtigen Verriss habe ich Gott sei Dank noch nicht bekommen. Mende: Sie müssen bei Ihrer Arbeit aber auch wirklich viel Einsatz zeigen. Sie haben vor kurzem "Carmen" in Hamburg gesungen. Daraus werden wir gleich einen Ausschnitt sehen. Mir ist ein Bild zugespielt worden, auf dem man Ihr Knie sehen konnte: mit einem riesengroßen Bluterguss. Gehört das zum Sängerdasein mit dazu? Kulman: Ja, zum Sängerdasein gehört das dazu und insbesondere zu "Carmen". "Carmen" ohne Blessuren, Schrunden, Wunden, Prellungen gibt es nicht, da geht es brutal zu. Und das muss auch so sein. Das muss man dann halt erleiden. Mende: Wir schauen uns mal einen kleinen Ausschnitt dieser Produktion der Staatsoper Hamburg an. Filmzuspieler: (Elisabeth Kulman in der Rolle der Carmen) Mende: Diese Aufnahme war nicht ganz professionell, d. h. wir bitten die etwas mangelnde Tonqualität zu entschuldigen, denn Frau Kulman klingt mit ihrer Stimme in Wirklichkeit weitaus größer und wärmer und voller. Frau Kulman, ist das Ihre Partie im Moment – oder überhaupt? Ist es so, dass Sie schon als kleines Mädchen gesagt haben, dass Sie eines Tages mal die "Carmen" singen möchten? Denn genau das hört man ja immer wieder von Sängerinnen. Kulman: Ach, überhaupt nicht. Begonnen habe ich nämlich als Sopranistin und da habe ich überhaupt nicht an "Carmen" gedacht. Als ich dann mein Fach gewechselt habe, also von der Pamina zur Carmen, war das witzigerweise dann doch nur ein kurzer Sprung: Ich habe mich in diesem neuen Fach gefunden und mir gedacht, dass das eine Rolle ist, in der man viele Farben zeigen kann. Das ist eigentlich das, was mich am Sänger-, am Musikerdasein interessiert: Farben zu zeigen, nicht nur Stimme zu zeigen! Mir geht es also darum, möglichst viele Farben einzubringen. Da ist die Carmen natürlich ein gefundenes Fressen und sicherlich eine Traumpartie. Ich habe sie ganz bewusst längere Zeit nicht gesungen, weil ich finde, dass diese Rolle frisch bleiben muss und es ganz gut ist, wenn man für diese Rolle einiges an Lebenserfahrung und "Männerfahrung" mitbringt. Mende: Welche Erfahrungen bringt man denn mit in eine solche Rolle? Waren Sie mal in der Situation, dass Ihnen ein Mann völlig verfallen ist, alles aufgegeben hat für Sie, womöglich sogar seine Familie verlassen hat und dann ausgeflippt ist, als sich diese Beziehung nicht so entwickelt hat, wie von ihm gedacht? Kulman: Ich bitte um Verständnis, dass ich über mein Privatleben nicht derart intim sprechen möchte. Ich möchte nur andeuten: Wenn ich nicht wüsste, wovon ich spiele, wovon ich singe, dann könnte ich diese Rolle nicht interpretieren. Wichtig für die Rolle der Carmen ist vor allem, dass man weiß, dass das eine Projektion ist: Sie wurde erdacht von Männern, sie ist also, wenn man so will, eine Männerfantasie und die Femme fatale schlechthin. In diese Figur wird wahnsinnig viel hineinprojiziert, nämlich von jedem Mann etwas anderes: Jeder Mann stellt sich die Carmen anders vor. Das beginnt beim Optischen, bedeutet aber eigentlich noch viel mehr und etwas ganz anderes. Natürlich ist die Schönheit ganz wichtig: Das ist der erste Reizpunkt für einen Mann, warum er eine Frau attraktiv findet. Aber es dann zu schaffen, die Männer in den Wahnsinn zu treiben, das ist die Aufgabe von Carmen. Und das muss funktionieren. Ich habe mir dafür durchaus einige Tipps geben lassen, denn wir Frauen denken da anders. Ich habe normalerweise ja eine sehr klare Vorstellung von einer Opernfigur und weiß genau, wie ich sie spielen will. In diesem Fall habe ich aber meine Ohren sehr weit aufgemacht und alle Männer in meiner Umgebung gefragt: "Wie würdest du wollen, dass die Carmen in dieser Situation agiert? Was würde dich in den Wahnsinn treiben?" Mende: Und was war das Ergebnis dieser Umfrage, dieser Recherche? Kulman: Das war spannend. Das, was Männer verrückt macht, ist, wenn eine Frau nicht greifbar ist: Man muss also den Jagdinstinkt des Mannes wecken. Das heißt, wenn eine Frau unerreichbar ist, wenn sie launisch ist, wenn sie nicht das tut, was der Mann erwartet, dann bleibt einfach die Spannung erhalten und der Mann wird sie immerzu jagen und jagen und jagen. Aber er wird sie nie bekommen. Das ist wie beim Hund, dem ständig eine Wurst vorgehalten wird, die er aber niemals erwischen kann. Carmen muss einfach immer genau das Gegenteil von dem machen, was man eigentlich erwartet. Das ist ein ganz wichtiges Geheimnis. Ich glaube, ich habe jetzt leider irrsinnig viel verraten. Mende: Macht Carmen das bewusst oder weiß sie selbst gar nicht, was sie ist? Sie ist ja eigentlich eine Außenseiterin: Sie gehört weder so richtig zu den Schmugglern, noch gehört Sie zu ihren Kameradinnen in der Zigarettenfabrik. Kulman: Man muss bedenken, dass das ein Überlebenskampf ist. Carmen hat einfach ganz genau gelernt, was sie tun muss, um zu überleben, um das zu erreichen, was ihr das Überleben ermöglicht. Hierzu setzt sie eben ihre Schönheit ein und das unterscheidet sie auch von allen anderen Frauen in diesem Stück: Sie ist einfach die Schönste und die Tollste und sie weiß genau, was sie machen muss. Das kann man ja auch bei schönen Frauen heutzutage noch genauso beobachten: Sie wissen einfach, wo's lang geht. Sie sind einfach erfolgreicher, weil sie wissen, welche Taste sie bei den Männern drücken müssen und wie sie die Dinge bekommen, die sie wollen. Das hat Carmen ganz klar gelernt: Sie weiß genau, welche Taste sie drücken muss, um das zu erreichen, was sie will. Und wenn sie den einen Mann nicht mehr interessant findet oder braucht, dann ist der nächste sofort zur Stelle: Es gibt ja genug Männer. Mende: Mögen Sie denn die Carmen? Wären Sie mit ihre befreundet, wenn es sie gäbe? Kulman: Ich glaube, sie ist keine besonders sympathische Person. Wenn man es negativ sieht, dann ist sie sehr egoistisch und egozentrisch, wenn man es positiv sieht, dann ist sie eine Person, die weiß, was sie will und was sie vor allem braucht, um gut leben zu können, um in einer schlechten, in einer schrecklichen Welt ein halbwegs würdiges Leben führen zu können. Mende: Was mich in diesem Stück immer enttäuscht, ist, dass sie sich dann diesem Blödmann, nämlich dem Escamillo an den Hals wirft. Kulman: Ja, aber das ist nur ein Zeitvertreib für sie, das ist nicht die große Liebe für sie: Das ist einfach ein toller Hecht, er hat Erfolge im Sport, ist ein toller Typ, hat Muskeln. Aber das ist alles nur eine oberflächliche Attraktion, und wenn er ihr nicht mehr gefällt, dann kommt halt der Nächste. Mende: Aber im Zweikampf mit Don José stürzt er und ist dabei nicht der große Held und der große Sieger. Aber was mich interessieren würde: Haben Sie auch das Gefühl, dass sich das Publikum bei "Carmen" aufspaltet? Da gibt es die Frauen, die sagen: "Ja, die Carmen! Das ist eine Frau! Sie verwirklicht sich selbst und lässt sich nicht fremdbestimmen!" Und es gibt andererseits die Männer, die sagen: "Dieser Don José, dieser arme Kerl! Was macht sie nur mit ihm! Ich kann verstehen, wenn er dann ausflippt!" Der Mord am Ende ist natürlich keine akzeptable Lösung, um die Ordnung wieder herzustellen. Das wollen wir mal ganz klar festhalten. Kulman: Danke schön. Mende: Aber können Sie ihn irgendwie verstehen? Denn die Carmen zertrümmert ja seine komplette bürgerliche Existenz, die er sich aufgebaut hat. Kulman: Sie verabscheut dieses kleingeistige Denken, dieses Sich-Absichern- Wollen. Sie verabscheut auch diese Micaëla, die ihn nach Hause führt und ihm ein braves Leben mit 50-jähriger Ehe verheißt. Das findet sie alles wahnsinnig langweilig, damit kann sie nichts anfangen. Ich glaube, das ist auch der Punkt, an dem sie sich abwendet von ihm, weil sie seiner überdrüssig ist. Das ist einfach ein Lebenskonzept, d. h. das hat mit der Frage des Schwerpunkts zu tun, den man im Leben setzt. Ich finde, dass "Carmen" keine Märchengeschichte ist, sondern das ist eigentlich aus dem Leben gegriffen, denn das ist eine Geschichte zwischen zwei Personen, die bis heute überall und jeden Tag stattfindet. Man kann auch jeden Tag in der Zeitung von einem Eifersuchtsmord irgendwo lesen. Das ist eine Geschichte, die jeden Tag passiert. Und Carmen provoziert einfach so lange, bis sie das Letzte aus ihm herauskitzelt. Und dabei geht sie halt zufälligerweise drauf. Das zeigt auch, wie viel ihr das Leben bedeutet: Das Leben ist für sie nur ein Funke, der auch sofort wieder erlöschen kann. Das ist eine sehr fatalistische und knallharte Sicht aufs Leben und sie selbst ist schon ziemlich hart im Nehmen. Ob das nun für jeden Zuschauer wirklich attraktiv oder nachvollziehbar ist, ist die Frage, aber auf jeden Fall ist das ein Faszinosum: Carmen ist eine der erfolgreichsten Opern weltweit, wenn nicht sogar die erfolgreichste überhaupt. Mende: Sie gehört ja auch zu den sogenannten ABC-Opern: Wenn der Intendant das Theater voll haben will, dann lässt er "Aida", "Bohème" oder "Carmen" inszenieren. Mögen Sie denn den Don José? Und stellt man sich diese Frage überhaupt als Sängerin? Würden Sie im gegenüber anders handeln als die Carmen? Kulman: Ich hoffe doch, ja. Wir leben hier eben doch in einer zivilisierten Gesellschaft. Aber ich habe mir natürlich auch überlegt, was man in so einer Situation tun würde. Bei uns heute würde man miteinander reden, man würde vielleicht befreundet bleiben, man würde sich sicherlich nicht an die Gurgel gehen. Mende: Ich würde jetzt gerne zu einem anderen Thema kommen: Man nennt sie die Jeanne d'Arc der Künstler, die "Johanna von Orleans", die für die Künstler kämpft. Denn Sie haben im Sommer 2013 etwas losgetreten, als Alexander Pereira, der Chef der Salzburger Festspiele, in den Verträgen mit den Künstlern bestimmte Bedingungen geändert hat. Es gab kein Probengeld mehr und er hat eine Disposition durchgesetzt, die etwas sehr unglücklich gewesen ist: vier -Vorstellungen an fünf Tagen. Das heißt, ein Sänger hat bei so einer Disposition überhaupt keine Möglichkeit mehr, sich auszuruhen. Dagegen haben Sie sich gewehrt und damit eine Lawine losgetreten. Ist Ihnen denn damals klar gewesen, was Sie da in Bewegung setzen? Kulman: Das ist mir durchaus klar gewesen, aber ich habe die negativen Konsequenzen dabei nicht bedacht. Die positiven Konsequenzen hingegen habe ich mir erhofft. Ich habe mir erhofft, dass dieses Thema in die Öffentlichkeit kommt und diskutiert wird. Das ist gelungen: Dieses Thema ist da! Mende: Das Thema lautet: Wie sind die Arbeitsbedingungen für Künstler heute? Kulman: Für Künstler im Allgemeinen und in meinem Fall speziell für die Künstler, die an der Oper arbeiten. Hier gibt es, wie zutage getreten ist, sehr viel Diskussionsbedarf. Es wurde bis dahin hinter vorgehaltener Hand immer wieder über diese Themen gesprochen: Jeder im Opern-Business kennt diese Probleme. Jetzt sind diese Probleme öffentlich und jetzt ist der Druck da, dass man Lösungen finden muss. Das war der Hintergedanke, den ich hatte. Diese ganze Sache war nicht leicht, aber ich bin froh, dass das gelungen ist. Das Ganze geht natürlich weit über die Opernwelt hinaus, wie durch die Facebook-Seite zutage getreten ist, die vor über einem Jahr gegründet worden ist. Es kam dabei nämlich ans Licht der Öffentlichkeit, dass die gesamte Künstlerwelt in wirklich prekären Verhältnissen agieren muss. Das ist natürlich noch ein viel, viel größerer Bereich, bei dem es einen unglaublich großen Handlungsbedarf gibt. Aus dieser ganzen Sache ist jedenfalls unserer Initiative "art but fair" entstanden, die nun Schritt für Schritt versucht, hier voranzukommen. Mende: Dieser Name ist ja gewagt: "Kunst, aber fair". Denn das heißt, dass es im künstlerischen Bereich für Künstler oft unfaire Arbeitsbedingungen gibt. Kulman: So ist es. Das alles ist ein sehr komplexes Thema und ich weiß gar nicht, wo ich zu erzählen anfangen soll. Die Arbeitsbedingungen sind oft ungerecht. Wir Künstler arbeiten aus Leidenschaft, und alles, was man gerne macht, macht man oft auch gratis. Hier aber beginnt die Schwierigkeit. Es kommt noch dazu, dass viele Menschen als Hobby künstlerisch tätig sind: Sie zählen freilich zu den Amateuren. Wir hingegen sind Profis. Mit dieser Unterscheidung hängt ebenfalls ein Problem zusammen, weil man das eine eben als Hobby gratis macht, während das andere ein Beruf ist, der honoriert gehört. In den letzten Jahrzehnten hat sich hier etwas in eine komplett falsche Richtung entwickelt, sodass wir uns heute in dieser Misere befinden, die nun zutage getreten ist. Dieses Problem ist vor allem durch diese Facebook- Seite, die nun schon über 16000 "Likes" hat, so sehr offensichtlich geworden. Jeden Tag trudeln dort neue Beispiele sehr, sehr prekärer Arbeitsverhältnisse ein, die einen schaudern lassen. Dieses Thema ist aber jetzt da und die Politik und viele Menschen sind nun einfach aufgefordert, das anzupacken. Mende: Diese Facebook-Seite hat ja einen sehr merkwürdigen Namen: "Die traurigsten und unverschämtesten Künstlergagen und Auditionserlebnisse". Das heißt, da geht es u. a. um Erlebnisse beim Vorsingen, beim Vortanzen, beim Vorsprechen. Ich habe mir das alles relativ lange und genau angeschaut und mir viele Fallbeispiele durchgelesen, bei denen sich Künstler beschweren über unglückliche bzw. unfaire Arbeitsbedingungen. Ich bin dabei darauf gekommen, dass das alles ein Mischmasch ist. Denn da sind Profis darunter wie Sie, die sagen: Es gibt an den Theatern lange Probenzeiten, die Proben werden z. T. nicht mehr bezahlt. Wenn man krank wird, hat man zwar die ganzen Kosten am Hals, aber keine Einnahmen mehr. Und dann gibt es Leute, die eher aus dem Hobby-Bereich kommen und sagen: "Ich habe da so einen Kurs gemacht als Schauspielerin und jetzt bekomme ich für einen Abend nur 100 Euro Gage!" Sie wollen ja ernsthaften Künstlern helfen und wollen, dass deren Probleme von der Gesellschaft wahrgenommen werden, dass sie entsprechend honoriert werden. Ist dann diese Vermischung auf dieser Facebook-Seite nicht gerade eine Gefahr Sie und Ihr Interessen? Kulman: Ja, das habe ich ja vorhin versucht anzusprechen. Ich denke, wir können nur etwas verändern, wenn wir das Problem in der Öffentlichkeit bewusst machen. Wir müssen erst einmal für uns definieren, wer ein Profi und wer ein Hobbymusiker ist ... Mende: Was ist Kunst? Wer ist ein Künstler? Das sind die Fragen. Kulman: Ja, genau, so ist es, denn das sind ja alles hoch philosophische Themen, die die ganze Sache enorm erschweren. Deswegen ist das Thema unglaublich komplex und auch sicherlich nicht an einem Tag zu lösen, vermutlich auch nicht in einem Jahr – und vielleicht werde ich das in meiner Lebenszeit gar nicht mehr erleben. Aber ich versuche, hier einfach meinen Beitrag zu leisten, und ich habe ihn womöglich schon geleistet, indem ich auf dieses eine Thema den Finger gelegt habe. Mende: Sie stehen jetzt jedenfalls aufseiten der professionellen Opernsänger: Das ist sozusagen Ihre Sparte. Kulman: Das ist halt der Bereich, in den ich mich am meisten einbringen kann. Ich bin so ein bisschen das Aushängeschild geworden. Mende: Hat es Ihnen denn gefallen, dass Sie als "Jeanne d'Arc" bezeichnet worden sind? Kulman: Na ja, das war ein bisschen zugespitzt und hatte mit der Situation zu tun, als ich eben diese Interna der Salzburger Festspiele veröffentlicht habe und man meinen Mut irgendwie benennen wollte. Dieser Spitzname kam von meiner Sängerkollegin , die gesagt hat: "Ja, du bist unsere Jeanne d'Arc, du hast dich das getraut!" Nun ist mir dieser Spitzname geblieben und ich bin im Team einfach weiterhin die "Jeanne". Aber das heißt jetzt nicht, dass ich all diese Themen alleine lösen könnte. Ich versuche halt, mein Gesicht in die Öffentlichkeit zu halten, um Werbung zu machen, um Menschen dazu zu bringen, mitzumachen und sagen: "Ja, das ist eine tolle Sache. Wir unterstützen euch!" Ich kann auch nur jedem empfehlen, auf unsere Website zu schauen: Dort kann man sehen, in welcher Form man selbst beitragen kann in dieser Auseinandersetzung. Man kann Mitglied werden, man kann Supporter werden, man kann uns aber auch Zeit schenken. Denn wir machen das ja alle nebenbei. Ich habe ja einen Beruf, der mich völlig ausfüllt, und ich versuche daher meine Freizeit, soweit es geht, für diese Initiative zu verwenden, weil ich davon überzeugt bin, dass es wichtig ist, dass man da dran bleibt, dass man die Probleme nicht nur anklagt, sondern auch versucht, sie zu lösen. Mende: Bleiben wir daher bei den Opernsängern und gehen nicht zu den Straßenkünstlern usw. Denn es ist ja unwahrscheinlich, wer sich da bei dieser Aktion alles zusammengefunden hat: z. B. Leute, die Wände anmalen usw. Das sind alles tolle Sachen, aber ich denke, wir müssen uns hier doch auf die Oper konzentrieren. Ich habe das noch einmal nachrecherchiert und herausgefunden, dass es tatsächlich so ist, wie Sie das anprangern. Ein Sänger, der sieben, acht Jahre lang Gesang studiert hat und ein Diplom in der Tasche hat und dann zu den ganz wenigen Prozent von Sängern gehört, die nach einem Ausbildungsabschluss tatsächlich in ein Engagement kommen, bekommt einen Anfängervertrag mit einem Gehalt, das zwischen 1650 und 1800 Euro liegt. Das heißt, so jemandem bleiben nach Abzug der Steuer, der Krankenkasse usw. vielleicht gerade mal 1000 Euro übrig – und damit höchstens ein kleines Zimmerchen mit einer Schlafcouch oder so. Auf der anderen Seite wird aber doch sehr viel Geld in die Kunst und in die Kultur investiert – und das wird ja von uns allen doch sehr begrüßt. Warum kommt dann so wenig Geld dort "unten" an, also bei den Künstlern selbst, die das machen und produzieren, was doch eigentlich Sinn der ganzen Übung ist? Kulman: Ja, das würde ich auch gerne wissen. Mende: Wo bleibt also all das viele Geld hängen? Kulman: Offensichtlich ist das Geld falsch verteilt. Wo es hängen bleibt, kann ich Ihnen nicht beantworten. Was wir uns aber alle wünschen würden und was sicherlich der richtige Weg wäre, ist Transparenz. Man sollte also endlich mal die Zahlen auf den Tisch legen! In Wien im Burgtheater gibt es soeben einen riesengroßen Skandal ums Geld: Da weiß auch niemand, wo und wie das Geld über irgendwelche privaten Konten hin und her geflossen ist und wer es am Ende bekommen hat. Das ist alles ziemlich undurchschaubar. Ich denke, es wäre wirklich an der Zeit Transparenz zu schaffen, denn vorher kann man kein Urteil fällen. Man kann nicht einfach jemanden beschuldigen, wenn man gar nicht weiß, ob er überhaupt schuld ist. Mende: Gibt es denn auch einen Appell an die Künstler selbst? Denn ich habe auf dieser Facebook-Seite eben auch den Beitrag von jemandem gelesen, der geschrieben hat: "Ich bin doch extra Künstler geworden, um mich mit wirtschaftlichen Sachen nicht auseinandersetzen zu müssen. Und jetzt muss ich rechnen und sparen und das Geld zusammenhalten!" Wenn man sich alte Künstlerbiografien anschaut, dann stellt man fest, dass dieses Problem ja uralt ist. Beethoven z. B. hatte seine regelmäßigsten Einnahmen nicht über Kompositionen und Konzerte, sondern als Klavierlehrer. War also das Künstlerdasein nicht immer ein Dasein, in dem man versuchen musste, sich quasi mit vielen verschiedenen Beinen aufzustellen? Für die meisten Künstler war die wirtschaftliche Situation eigentlich immer prekär. Kulman: Na ja, Mozart z. B. hat unglaublich viel verdient, aber er hat das Geld zum Fenster hinausgeworfen, weil er mit Geld einfach nicht umgehen konnte. Für mich persönlich gilt das ja genauso: Ich interessiere mich nicht für Geld, wirklich nicht. Ich habe jetzt Leute gefunden, die das für mich hoffentlich vertrauenswürdig machen, die also meine Finanzen betreuen, denn das ist in der Tat nicht das, was mich als Künstlerin interessiert. Das Geld ist für mich wirklich nur ein notwendiges Übel und ich verstehe alle, die ihre Verträge nicht lesen, nicht verstehen wollen, sich mit Geld nicht beschäftigen wollen und auch nicht mit dem Markt, also mit dem eigenen Marktwert. Es ist z. B. ganz wichtig, dass ich weiß, wie viel ich wert bin. Aber das interessiert mich nicht, dafür habe ich einen Agenten. Das war immer mein Gedanke. Aber auch ich werde jetzt gezwungen, mir über diese Dinge Gedanken zu machen. Das widerstrebt mir aber total und ich wehre mich auch mit Händen und Füßen dagegen, weil ich mich eigentlich nur auf meine Partituren, auf meine Kunst, auf meine künstlerischen Ideen konzentrieren will. Das andere interessiert mich nicht. Mende: Aber Ihnen ist schon klar, dass es das nicht gibt? Denn auch Beethoven hat seine eigenen Verhandlungen geführt. Es gehört einfach zum Künstlerdasein mit dazu, einen Gegenwert für die eigene Kunst auszuhandeln. Kulman: Ja, schon, aber ich denke schon, dass es da von verschiedener Seite eine Mithilfe braucht. Es gibt Leute, die kaufmännisch sehr gut sind und die uns Künstlern helfen sollen. Warum soll es weiterhin so sein, wie es über Jahrhunderte hinweg gewesen ist, dass Komponisten Hungerleider sind? Ich glaube, Sänger haben im Gegensatz zu den Komponisten immer gut verdient, wenn man an die großen Kastratensänger usw. denkt. Auch zeitgenössische Komponisten können heute überhaupt nicht von ihrer Kunst leben. Das ist undenkbar und deshalb müssen sie Klavierunterricht oder Kompositionsunterricht usw. geben oder einem Brotberuf nachgehen. Aber heißt das, dass es immer so sein muss? Es könnte doch sein, dass wir es erreichen, dass die Kunst vom Publikum so sehr wertgeschätzt wird, dass wir dem Publikum so gut klar machen können, was etwas wert ist – dazu müssen wir natürlich wissen, was wir selbst wert sind –, dass sich das ändert. Es geht also um ein Wertebewusstsein und darum, dieses Bewusstsein überhaupt erst einmal zu schaffen. Ich träume von einer Welt, in der Kunst genau so viel Wert hat wie ein Handwerk. Mende: Kennen Sie diese Geschichte von der kleinen Maus Frederick? Kulman: Nein. Mende: Diese kleine Maus sammelt keine Nüsse für den Winter, sondern sie liegt scheinbar nur untätig herum. Die anderen Mäuse sagen zu ihr: "Hey, du musst auch Nüsse sammeln." "Nein, ich sammle was anderes, ich sammle Sonnenstrahlen, Farben und Wörter." Im Winter ist die Stimmung natürlich trüb und alle frieren, denn das Wetter ist kalt und scheußlich. Frederick profitiert nun von seiner Sammlung, weil er jetzt den anderen Mäusen erzählen kann, wie schön der Sommer ist, welche Farben es im Sommer geben wird usw. Da erkennen die anderen Mäuse, da erkennt die Gesellschaft plötzlich den Wert der Kunst. Das ist eine wunderschöne Geschichte, die Sie unbedingt mal lesen sollten. Kulman: Ja, das klingt wunderbar. Mende: Sie haben nun dieses Siegel "art but fair" entwickelt: Wie viele Theater haben da bis jetzt mitgemacht? Kulman: Eines in Österreich, nämlich das Schauspielhaus Salzburg, und das Theater an der Rott wird das erste deutsche Theater sein. Ich wünsche mir natürlich, dass da noch viel, viel mehr Theaterbetriebe dazukommen. Dieses Siegel ist als selbstverpflichtendes Gütesiegel gedacht, denn wir haben natürlich nicht die Möglichkeiten, das zu kontrollieren. Das heißt, das Theater oder der Künstler, der dieses Siegel übernimmt, verpflichtet sich selbst zu bestimmten Dingen. Wir versuchen hier halt einfach mit Nachweisen zu arbeiten: Jährlich sollte bei uns ein Bericht eintreffen, in dem aufgelistet wird, in welcher Form man diese goldenen Regeln, wie wir sie definiert haben, umgesetzt hat. Wenn dieser jährliche Bericht nicht eintrifft oder einfach ein Jahr lang Funkstille herrscht, dann wird dieses Gütesiegel auf "orange" gesetzt, und wenn dann immer noch nichts kommt, dann wird es auf "rot" gesetzt, d. h. es erlischt. Aber das ist natürlich nicht das Ziel, denn das Ziel ist, dass es immer auf "grün" bleibt, dass sich also alle Theater in Zukunft an diese Regeln halten – die sich aber noch im Definitionsprozess befinden. Mende: Damit der Gesellschaft der Mäuse klar wird, wie wichtig die Kunst ist. Kulman: Ich glaube, das funktioniert wirklich vor allem über die Aufklärung des Publikums. Das Publikum ist nämlich ein großer Verbündeter von uns Künstlern: Das Publikum kann uns hier helfen. Vielleicht ist dieses Gütesiegel irgendwann einmal wie meinetwegen ein Bio-Siegel so sehr ins Bewusstsein des Publikums gedrungen, dass die Menschen sagen: "Ich gehe nur noch in dieses Theater, denn da weiß ich, dass das Geld, das ich zahle, bei den Künstlern ankommt und nicht irgendwo sonst." Mende: Hat Ihnen dieser Aufstand, den Sie entfacht haben, geschadet oder eher genutzt? Kulman: Das kann man jetzt vielleicht noch gar nicht sagen. Ich habe mir jedenfalls viel Respekt eingehandelt, was mich freut, denn diese Sache ist wichtig. Ich wurde also nicht unter den Teppich gekehrt. Mein Ruf, mein Name, meine Qualität als Sängerin haben hoffentlich dazu beigetragen, dass man mich nicht einfach links liegen lassen konnte. Ob es mir geschadet hat? Im Moment spüre ich das nicht, denn alle sind extrem freundlich zu mir. Mende: Man wird sehen, wie das für Sie an der Mailänder Scala wird, wenn Sie dort singen. Denn Herr Pereira wird demnächst ja Chef der Scala. Jetzt wollen wir Sie aber auch mal richtig singen hören, und zwar von einer wunderschönen Aufnahme, wie ich finde. Sie haben nämlich Kinderlieder von Mussorgski aufgenommen und die CD, von der wir jetzt ein Stück hören werden, heißt "Kinderstube". Das Ganze ist eine Benefiz-CD gewesen zugunsten der "St. Anna Kinderkrebsforschung". Wir sehen und hören nun einen Ausschnitt eines Liedes von dieser CD. Filmzuspieler: ("Vor dem Schlafengehen" von der CD "Kinderstube") Mende: Das war also ein Lied von dieser CD. Sie machen überhaupt sehr ungewöhnliche CDs, die alle ein wenig anders ausschauen als normalerweise. Sie haben z. B. auch eine CD mit Liedern von gemacht. Kulman: Ja, und zwar in sechs Sprachen. Liszt ist der einzige Komponist, der tatsächlich in sechs Sprachen komponiert hat. Es sind alle sechs verschiedenen Sprachen auf dieser CD vertreten: Wir haben dabei eine sehr schöne Auswahl gestaltet. Liszt ist nämlich ein hoch interessanter Komponist und wir wollten ihm eben auch als Liedkomponist die Ehre erweisen. Mende: Ihr Klavierbegleiter hatte es sicherlich nicht ganz einfach, denn Liszt war ja selbst in erster Linie ein sehr virtuoser Pianist: Ihr Begleiter musste da ganz schön arbeiten. Sie haben inzwischen die Haare kurz, wie ich feststelle: Hatte das irgendeinen äußeren Anlass? Oder waren Sie es einfach leid, immer so viel Zeit für die Pflege Ihrer langen Haare aufwenden und sich mit Haarspliss usw. herumärgern zu müssen? Kulman: Das war ein spontaner Entschluss, d. h. ich habe davor nie daran gedacht, mir meine Haare zu schneiden. Meine langen Haare waren ja in gewisser Weise mein Markenzeichen: Ich hatte sie teilweise so lang, dass sie bis zum Po hinunter reichten. Ich saß jedenfalls eines Tages beim Friseur und schaute mich im Spiegel an und dachte mir: "Ich mache mal was Verrücktes!" Und dann ließ ich mir die Haare abschneiden. So war das. Mende: Die kurzen Haare stehen Ihnen jedenfalls sehr gut, kann ich nur sagen. Kulman: Vielen Dank. Mende: Sie kommen aus der Nähe von Wien und sind in einer Familie aufgewachsen, in der es keine professionellen Musiker gegeben hat. Wo kommt das bei Ihnen dann her? Kulman: Wir waren immer schon eine sehr musikalische Familie, d. h. Musik und hier vor allem das Singen war täglich präsent. Meine Mutter hat mit uns Kindern wahnsinnig viel gesungen. Wenn sie uns gerufen hat, hat sie unsere Namen gesungen oder gepfiffen. Mende: Ach, wie ging das? Kulman: Sie hat einfach meinen Namen gesungen: "E-li-sa-beth!" Wie sie das mit dem Pfeifen gemacht hat, daran kann ich mich gar nicht mehr genau erinnern. Das Singen war also allgegenwärtig bei uns zu Hause und war einfach ein natürliches Ausdrucksmittel. So war es auch für mich immer das Selbstverständlichste, zu singen. Ich habe lange nicht daran gedacht, das als Beruf zu machen, weil ich dafür keine Vorbilder hatte: Es gab einfach keine Sängerin, die ich gekannt hätte und über die ich auf den Gedanken gekommen wäre, dass das ein Beruf ist, den man erlernen kann. Ich habe immer gedacht, das Singen gehört sowieso zum Leben mit dazu. Später, als ich vom Land in die große Stadt Wien gekommen bin, habe ich gemerkt, was es da alles für Möglichkeiten gibt. Mende: Sie haben ja auch in Chören gesungen und ich denke, dabei werden Sie die Musik zum ersten Mal in dieser ganzen Fülle und Größe erlebt haben. Wann kam denn dieser Moment, in dem Sie gedacht haben, dass Sängerin doch eigentlich ein schöner Beruf für Sie sein könnte? Denn eigentlich ist das ja eine merkwürdige Angelegenheit: Dass das Singen, das ja doch eine natürliche Äußerung des Menschen ist, zum Beruf wird, ist eigentlich merkwürdig. Das ist genauso, als würde man meinetwegen Berufslacher werden. Kulman: Es war wirklich so, wie Sie das gesagt haben: Für mich gab es nie den Gedanken, das als Beruf zu machen. Ich habe in den Chören gesungen, weil mir das Spaß gemacht hat. Dann habe ich aber so viel in den Chören gesungen, dass ich gemerkt habe: Es wäre nicht schlecht, wenn ich wüsste, was ich da genau mache, damit ich mir nicht wehtue. Das heißt, ich brauchte technische Unterstützung und nahm daher Gesangsunterricht. Dabei haben mir dann aber alle gesagt: "Du hast eine besondere Stimme! Mach doch mehr damit!" Also habe ich die Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule in Wien gemacht und bestanden. Aber selbst da hatte ich lediglich das Ziel, diese Ausbildung zu machen, damit ich mir selbst beim Singen nicht wehtue, damit ich dieses Pensum mit all den Chören, in denen ich mit voller Leidenschaft gesungen habe, durchhalten kann. Im Laufe des Studiums bin ich dann natürlich auch an die Oper herangeführt worden, mit der ich bis dahin überhaupt keine Berührungspunkte hatte. Ich habe aber bald Feuer gefangen und Oper hat mir großen Spaß gemacht. Irgendwann nach sechs Jahren Studium hatte ich dann ein Diplom in der Hand, auf dem stand: "Elisabeth Kulman, diplomierte Opernsängerin." Da habe ich mir dann gedacht: "Oh, was ist das jetzt? Ist das jetzt wirklich mein Beruf?" Ich habe mir wirklich nie Gedanken darüber gemacht, wie ich mein Leben finanzieren kann. Ich habe mir stattdessen immer nur gedacht: "Wie kann ich mein Leben so gestalten, dass ich ein schönes Leben habe?" Ja, wirklich! Ich habe nie in diesen Karrierekategorien gedacht, sondern mir immer nur gesagt: "Verhungern werde ich schon nicht. Es wird immer irgendwo ein Stück Brot für mich geben." Ich hatte z. B. als Studentin mal für zwei Jahre keine Krankenversicherung, weil ich dafür kein Geld hatte. Ich habe nämlich lediglich von dem bisschen Geld aus dem Chorsingen mein Dasein gefristet. Das hat mir gereicht, denn ich war sehr genügsam. Das ist mir bis heute geblieben: Geld bedeutet mir nichts. Ich wollte einfach immer nur ein Leben führen, das mich erfüllt. Und genau das mache ich heute. Heute bekomme ich halt Geld dafür. Mit diesem Geld hat man selbstverständlich mehr Möglichkeiten, das ist klar. Aber es stellt sich dann eben auch sofort die Frage: Was mache ich mit meinem Geld? Die Antwort darauf wäre jetzt wirklich ein ganz anderes Kapitel. Mende: Sie haben ja interessanterweise als Sopran angefangen, waren an der Wiener Volksoper, haben die Pamina gesungen usw., also ganz klassische Sopranpartien. Aber dann haben Sie plötzlich auf Mezzosopran umgesattelt? Warum? Weil auf einmal die Höhe fehlte? Wie war das? Haben Sie einfach gespürt, dass Sie eigentlich doch in einer Lage singen sollten, die eine Stufe tiefer ist? Kulman: Mit ungefähr 30 Jahren ... Mende: Das heißt, da waren Sie bereits als Sängerin arriviert. Kulman: Ja, ich befand mich da bereits in der Karriere, d. h. das war nicht im Studium, sondern später. Im Studium wäre der Fachwechsel viel leichter möglich gewesen, denn da kommt so etwas sehr häufig vor: Man ist ein junger Mensch und weiß noch nicht so genau, wohin man von der Stimmlage her eigentlich gehört. Ich jedoch war schon am Beginn meiner Karriere, was die Sache sehr erschwert hat, weil ich mich nämlich bereits etabliert hatte, weil ich gut war in meinem Fach und mir zumindest in Österreich und auch schon ein bisschen in Deutschland einen Ruf aufgebaut hatte. Aber dann habe ich, ganz offen gesagt, eines Tages gemerkt, dass ich das hohe C verloren habe. Plötzlich ging das nicht mehr. Warum? Das kann ich nicht sagen. Es ist einfach so, dass sich der Körper weiterentwickelt. Und irgendwann setzt sich einfach die Natur durch. Und meine Natur ist sicherlich im Mezzofach: Wie man auch an meiner Sprechstimme hören kann, liege ich relativ tief. Ich habe eine Zeitlang Sopran singen können und ich bin sehr, sehr dankbar für diese Zeit und sehr, sehr glücklich darüber, weil ich dabei all diese wunderschönen Hauptrollen singen durfte, während ich mich heute meistens mit den Nebenrollen begnügen muss. Aber die Natur hat sich halt einfach durchgesetzt. Mende: Sie mussten dann noch einmal ganz unten anfangen? Kulman: Ja, da musste ich wirklich bei null anfangen und auch verbunden mit den größten Hindernissen, weil ich ja, wie gesagt, bereits etabliert war und viele Menschen einfach nicht verstanden, was los ist mit mir: "Was hat sie denn für ein Problem? Die singt doch eh gut!" Ich habe mir natürlich auf der Bühne niemals anmerken lassen, dass ich Probleme habe. Ich ging nur dann auf die Bühne, wenn ich gewusst habe, dass ich das auch schaffe. Wenn ich gewusst habe, dass ich es nicht schaffe, dann bin ich an diesem Abend nicht auf die Bühne gegangen und habe lieber etwas abgesagt. Diese Absagen hat man nicht verstanden und hat man mir auch lange Zeit nicht verziehen. Ich habe dadurch jedenfalls viele interessante Erfahrungen gemacht, weil ich da gemerkt habe, wer mich sofort fallen lässt und wer mich unterstützt. Diejenigen Leute, die zu mir standen, sind auch die, mit denen ich heute noch arbeite. Es war sehr interessant zu sehen, wer mir wohlgesonnen ist und wer nicht. Mende: haben Sie, glaube ich, schon als Chorsängerin erlebt. Kulman: Genau. Mende: Das ist jemand, der bis heute sehr viel mit Ihnen arbeitet. Kulman: Ich bin sehr, sehr glücklich über diese Zusammenarbeit, weil er mir irgendwie aus dem Herzen spricht. Vielleicht bin ich aber auch seines Geistes Kind: Ich habe damals alle seine Bücher verschlungen und im Arnold Schoenberg Chor fast alle Projekte mit ihm gesungen. Seine Ideen finde ich toll und seinen immer frischen Geist: Er ist eine große Inspiration für mich. So möchte ich als Künstlerin auch durchs Leben gehen: Immer wach bleiben und immer etwas Neues entdecken wollen! Mende: Sie haben vorhin gesagt, dass Ihnen gar nicht so bewusst gewesen ist, welchen Beruf Sie ergreifen könnten. Es gab im Jahr 2011 für Sie leider die Situation, dass Sie von einem Kollegen unabsichtlich auf den Kehlkopf geschlagen wurden. Danach war Ihre Stimme komplett weg und es ging gar nichts mehr: kein Sprechen, und erst recht kein Singen. Es war nicht klar, ob Sie jemals wieder werden singen können, aber Sie haben es nach vielen Monaten wieder geschafft zu singen, Ihre Stimme wieder aufzubauen. Es ist also gut gegangen. Aber was wäre denn eine Alternative gewesen? Ist Ihnen dieser Gedanke nicht gekommen? Kulman: Dieser Gedanke ist mir sehr wohl gekommen, aber mir ist keine Alternative eingefallen. Wenn es wirklich so hätte sein sollen, dass ich nicht mehr singen kann, dann hätte ich vielleicht mehr Zeit gehabt für "art but fair" und könnte meinen Mund vielleicht noch weiter aufreißen in dieser Sache und sie vorantreiben. Ich weiß es nicht. Ich hatte in der Tat Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, aber in diesen Monaten ist mir keine Alternative eingefallen. Mende: Waren Sie denn auch richtig verzweifelt, haben Sie geweint und an die Wände getrommelt? Kulman: Nein, merkwürdigerweise nicht. Erstens war ja noch nicht klar, was passieren wird: Das Ende war offen und deswegen war die Hoffnung einfach die ganze Zeit über vorhanden. Da diese Hoffnung da war, fiel mir zweitens nicht ein, meine Energie für Verzweiflung zu verschwenden. Meine Energie habe ich lieber für meine Regeneration verwendet, als sie in negative Gedanken zu stecken. Mende: Sie haben, und das finde ich faszinierend, so ein Urvertrauen. Wo kommt das her? Kulman: Ha, das wenn ich so genau wüsste ... Mende: Sie sagen ja selbst immer: "Das wird schon werden! Das wird schon gut gehen, da wird sich schon was finden." Kulman: Ich denke, das ist eine Schlüsselfrage im Leben eines jeden Menschen. Ich denke, die Menschen mit Urvertrauen – woher das auch immer kommen mag – haben ein einfacheres Leben, so schwer einen das Schicksal auch treffen mag. Denn letztlich werden ja jedem Menschen Steine in den Weg gelegt und ich bin auch nicht der einzige Mensch auf der Welt, der einen schweren Unfall hatte oder der einen Fachwechsel zu bewältigen hatte usw. Jeder hat seine kleinen und großen Probleme. Aber dieses Urvertrauen hilft. Woher es bei mir kommt? Vielleicht hat das etwas mit meiner katholischen Erziehung zu tun. Jedenfalls ist dieses Vertrauen ganz tief eingepflanzt in mich, vielleicht wurde ich schon damit geboren. Ich betrachte das jedenfalls als Geschenk und als große Kraftquelle, die ich natürlich auch zu nähren versuche. Mende: Sitzen Sie immer so ruhig da und schauen, was das Leben so bringt? Oder sind Sie jemand, der alles genau plant? Kulman: Nein, ich plane nichts. Mende: Ich habe neulich folgenden schönen Satz gelesen: Wenn man Gott zum Lachen bringen möchte, dann muss man anfangen zu planen. Kulman: Aha! Ist es mein Ziel, Gott zum Lachen zu bringen? Nein, ich glaube nicht, ich will eher, dass ich selbst lache. Nein, im Ernst: Ich mag alleine schon das Wort "planen" nicht besonders, weil meiner Meinung nach das Ziel schlicht darin besteht, etwas gelingen zu lassen. Das Gelingen kann man aber nicht planen, man kann es höchstens vorbereiten und das Bestmögliche dafür tun. Aber das ist noch keine Garantie, dass etwas auch wirklich gelingt. Wenn also etwas gelingt, dann ist das auch ein Geschenk von oben. Das ist das wahre Ziel und vielleicht auch die wahre Erfüllung, das Glück, wenn man so will. Aber das kann man nicht erzwingen. Pläne können helfen, aber sie sind nicht das Ziel. Mende: Was halten Sie denn von Wünschen? Welche Wünsche haben Sie denn noch? Ihre Karriere läuft fantastisch, da kann man sich eigentlich gar nicht viel mehr wünschen. Oder gibt es Partien, die Sie noch gerne singen würden? Die Dalila könnte ich mir vorstellen. Wäre die Amneris auch mal was für Sie? Sie singen ja zurzeit viel Wagner, also die Fricka und die Brangäne. Gibt es denn Wünsche, wenn es schon keine Pläne gibt? Kulman: In künstlerischer Hinsicht gibt es sicherlich noch ein paar Rollen, die ich singen möchte. Aber was ich mir wirklich wünsche, ist eine Neukomposition für mich, also eine Rolle, die mir auf den Leib geschrieben ist. Mende: Was wäre das für eine Rolle? Welche Rolle würden Sie gerne in einer für Sie geschriebenen Oper spielen? Was wäre das für eine Frau? Kulman: Sie müsste facettenreich sein, sie müsste schillernd sein, sie müsste eigentlich vom grauen Mäuschen bis zur Femme fatale alles beinhalten. Ich liebe es, eine ganze Palette zu zeigen. Was mich aber immer fasziniert, sind schillernde Farben, also nicht nur eine Farbe, sondern wirklich die gesamte Regenbogenpalette. Und das in einer Partie drinnen zu haben, das fände ich einfach faszinierend. Ich bin eben so lebenshungrig, dass ich, wie ich glaube, schon relativ viele Lebenserfahrungen gemacht habe und so möglichst viele Schattierungen von diesen Farben erfüllen könnte. Mende: Gibt es einen Komponisten, der für Sie schreiben sollte? Haben Sie schon einen ausgesucht? Kulman: Nein ... Mende: Die sitzen jetzt bestimmt alle vor dem Fernseher und sehen unsere Sendung. Kulman: ... der hat sich bis jetzt leider noch nicht gefunden. Mende: Vielleicht melden sie sich ja jetzt bei Ihnen. Wir sind leider am Ende unserer Sendung angelangt, aber eine Frage hätte ich noch in Bezug auf Ihren Namen. In ihrem Namen Kulman "fehlt" für meine Begriffe ein "h" und ein zweites "n". Wo kommt dieser Name her? Denn er klingt irgendwie gar nicht nach Deutschland oder Österreich. Kulman: Es gibt den Namen "Kuhlmann": Dieser kommt aus Deutschland. Mein Name jedoch kommt nicht aus Deutschland, sondern aus Irland. Er stammt vom Mönch Colmán, der im 9. Jahrhundert durch das heutige Österreich gewandert ist und dort auch umgekommen ist. Deshalb gibt es da bis heute einige St. Kolomans und auch die Familiennamen Kalman, Kulman, Kolman usw. Das sind also alles Varianten des Namens von diesem Mönch. Mende: Und wie wir gehört haben, hat die Arbeit dieses Mönches auch bei Ihnen sozusagen Wurzeln geschlagen. Ich danke Ihnen ganz herzlich fürs Kommen, alles Gute für Ihre Zukunft. Kulman: Danke schön. Mende: Ihnen, meine Damen und Herren, natürlich auch ein herzliches Dankeschön für Ihr Interesse an dieser Sendung.

© Bayerischer Rundfunk