Frankfurter Allgemeine Zeitung · 5. März 2011 · Nr. 54 Bilder und Zeiten Z3

Von Anastasia Triantafillaki , der alten Hauptstadt des Osmani- und Daniel Grinsted schen Reiches. Für die Flüchtlinge, die es über die Grenze ier entscheiden sich Schicksale. Ob nach Griechenland schaffen, heißt die nächs- Menschen leben, sterben oder in te Station . Es ist das größte der vier H einem ausweglosen Zwischenzustand Auffanglager und liegt fünfzehn Kilometer gefangen bleiben. Für zahlreiche Flüchtlinge südlich des Dreiländerecks Bulgarien, Grie- aus Afrika und Asien ist die Grenze zwischen chenland und Türkei. Während die Lager in Griechenland und der Türkei das Hindernis, den Orten Tychero, Feres und Soufli behelfs- das es zu überwinden gilt. Das sie von der mäßig in Polizeistationen eingerichtet sind, Chance auf eine bessere Zukunft trennt. Für gilt das EU-finanzierte Fylakio als Vorzeige- diesen Traum setzen sie ihr Leben aufs Spiel, objekt. Von Nea führt eine Landstraße nehmen jahrelange Odysseen auf sich und dorthin, vorbei an verschlafenen Dörfern und zahlen Menschenschmugglern ein Vermögen. großflächigen Kasernen, auf deren Gelände Doch anstelle eines Lebens in Frieden und Panzer und Kettentraktoren stehen. Verein- Sicherheit erwartet die meisten ein Albtraum. zelt liegen Matratzen am Straßenrand. Wir befinden uns in Thrakien, im äußers- Zwischen den Ortschaften Neochori und ten Nordosten von Griechenland. Von der Willkommen den legal Einreisenden: der Grenzübergang in Der bildet das größte Hindernis für illegale Einwanderer. Valtos begegnet uns eine Gruppe von Flücht- holprigen Europastraße nahe der Stadt Soufli lingen, die kurz zuvor aus dem Auffanglager ist die Türkei nur hundert Meter entfernt. Da- in Fylakio entlassen wurden: eine junge Frau zwischen liegen Eisenbahnschienen und ein aus Eritrea und vier afghanische Männer, die Fluss, der auf dieser Seite Evros heißt und auf sich zu Fuß und per Bus von ihrer Heimat bis der anderen Meriç. Aus Bulgarien kommend, an die griechisch-türkische Grenze durchge- schlängelt er sich vorbei an der türkischen schlagen haben. Im Schutz der Nacht hatten An Europas Hintertür sie die Brücke zwischen Edirne und Karaagaç Großstadt Edirne, bis er zweihundert Kilome- ter weiter südlich bei ins Ägäi- überquert. Die türkischen Grenzpolizisten sche Meer mündet. Felder mit Baumwolle, Dort, wo die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland verläuft, würden gerade schlafen, haben ihnen die Weizen und Zuckerrüben erstrecken sich hin- ist das Haupteinfallstor für illegale Immigranten in die EU. Schleuser gesagt. Drei Tage lang wurden sie in ter den dicht bewachsenen, sumpfigen Ufern. Fylakio festgehalten, sie berichten von kata- Der Evros trennt nicht nur zwei Staaten Doch wer interessiert sich für das Drama, das sich hier abspielt? strophalen Verhältnissen. Wie für die meisten voneinander, sondern auch die Festung Euro- Flüchtlinge stellt das hochverschuldete Grie- pa vom Rest der Welt. Allein im vergangenen chenland auch für sie nur ein Transitland dar wärmten sich am Holzofen, der zwischen den ki, fünf Autostunden entfernt. Die Menschen versuchen, so nah wie möglich an die Grenze Jahr überquerten mehr als 47 000 Menschen – ihre Ziele sind Großbritannien und Norwe- Tischen steht. Es ist nicht zuletzt die Erinne- leben vom Spargelanbau oder arbeiten beim heranzukommen. Aus der Eisenbahnstrecke, diese Grenze – neunzig Prozent aller Flüchtlin- gen, wo sie auf Arbeit hoffen. Doch zunächst rung an das eigene Schicksal, das die Bewoh- Militär. Traktoren, Pick-ups und Armeefahr- die bis in die siebziger Jahre von hier in die ge, die in die EU kamen. Viele schaffen es gar wartet auf sie ein viereinhalbstündiger Fuß- ner Mitleid mit den Migranten haben lässt: zeuge prägen das Straßenbild. Auf den hölzer- Türkei führte, ist ein staubiger Feldweg gewor- nicht, sie ertrinken in den gefährlichen Strö- marsch bis zum Bahnhof von . Von Auch Nea Vyssa wurde vor nicht einmal neun- nen Strommasten nisten Störche, streunende den. Es herrscht vollständige Stille, nur unter- mungen des Evros oder erfrieren in den dort wollen sie mit dem Zug ins knapp tau- feuchtkalten Winternächten. An einem kur- zig Jahren von Flüchtlingen gegründet. Hunde laufen kläffend den Autos hinterher. brochen von einem Jeep mit Soldaten, die zu send Kilometer entfernte Athen. zen Abschnitt zwischen Nea Vyssa und Kasta- Das Dorfleben geht derweil seinen gewohn- Die meisten der Bewohner seien gegen den ge- den Wachtürmen unterwegs sind und uns Das im Mai 2007 eröffnete Lager befindet nies wird die Grenze nicht vom Fluss gebildet, ten Gang: Ein kaputter Wasserhahn sorgt an planten Zaun, so die Besitzerin des Kaffeehau- misstrauisch mustern. Etwa zweitausend Me- sich hinter einer Hügelkette, direkt an einem sondern verläuft über Land. Um die Migra- diesem Abend für Gesprächsstoff unter den ses, er bringe sowieso nichts. Die einzigen Pro- ter sind es noch bis zu der Stelle, wo der Zaun Bewässerungskanal. Am Horizont sind im tionsströme einzudämmen, soll hier in den Rentnern, im Fernsehen läuft eine Sendung fiteure seien die Menschenschmuggler: je hö- errichtet werden soll. Von einer Anhöhe aus Dunst die Berge Bulgariens zu erkennen. Das nächsten Wochen ein gesicherter Sperrzaun über den Eurovision Song Contest. Die Gäste her die Zäune, desto größer die Profite. Und hat man einen weiten Blick über das Sperrge- Gelände ist etwas größer als ein Fußballplatz errichtet werden. trinken Tee und griechischen Kaffee, spielen desto mehr Banden, die sich am Leid der biet. Näher heran dürfen nur Militärs und Bau- und wirkt wie eine Haftanstalt: doppelter Sta- Von der alten Seidenstadt Soufli fahren wir Karten oder Tavli. Touristen verirren sich nur Flüchtlinge bereichern wollen. ern, die hier ihre Felder bestellen. Zehn Kilo- cheldrahtzaun, vergitterte Fenster, Wachtür- auf einer einsamen Landstraße Richtung Wes- selten in diese Gegend – der nächste interna- Wir nehmen den umgekehrten Weg, gehen meter Richtung Norden erheben sich die Mina- me mit Scheinwerfern, ramponierte Basket- ten, hinauf ins Rhodopen-Gebirge. Nach zwan- tionale Flughafen des Landes ist in Thessaloni- zu Fuß von Nea Vyssa Richtung Norden und rette der prachtvollen Selimiye-Moschee von ballkörbe. Außerdem drei Lastwagen mit den zig Kilometern taucht die weiße Moschee von unregistrierten Habseligkeiten der Migranten Sidiro auf, ihr Minarett glänzt in der Sonne. sowie ein Zelt und ein Containergebäude von Der Imam des Dorfes begrüßt uns auf Grie- Frontex. Unmittelbar daneben hat sich eine chisch und ruft dann durch die Lautsprecher grünliche Kloake gebildet, die bei diesen Tem- zum Gebet. Seine Stimme verhallt in den Ber- peraturen zugefroren ist. Es herrscht ange- gen, die den Ort wie ein grüner Tellerrand um- spannte Wartestimmung. Die meisten Flücht- schließen. Zwölf Kilometer weiter beginnt be- linge schliefen noch, erklärt uns ein grie- chischer Grenzpolizist, der mit sieben weite- reits Bulgarien. In Sichtweite der Moschee, ren Beamten Wache hält. „Der geplante Zaun auf einem Hügel tausend Meter außerhalb, be- ist keine Lösung“, sagt er, „doch schaden wird findet sich ein eingezäuntes Areal mit einem er auch nicht.“ Wie Deutschland wohl ange- großen Tor. Hier werden die Flüchtlinge begra- sichts solch eines Migrationsdrucks reagieren ben, die tot aus den Fluten des Evros gezogen würde, möchte er von uns wissen. werden. Seit zehn Jahren bestattet der Mufti Der Zutritt zum Lager ist für Journalisten von Didymoticho, Mehmet Şerif Damatoglu, streng verboten. Als Insassen uns bemerken, die Unbekannten hier nach islamischem Ritu- winken sie durch die Gitterstäbe, an denen al, in Leinentüchern, mit dem Gesicht nach T-Shirts und Schuhe hängen. Einer hält ein Mekka. 150 Menschen liegen hier inzwischen. Pappschild heraus, mit einer griechischen Die Gräber sind schlichte Erdhaufen, in lan- Handynummer. Knapp sechshundert Men- ger Reihe aufgeschüttet. Ihr Ziel Europa ha- schen werden derzeit in Fylakio festgehalten, ben diese Menschen nicht lebend erreicht. zuweilen waren es noch mehr. Die maximale Gut sechzig Kilometer entfernt, Richtung Aufnahmekapazität liegt bei zweihundert. Nordosten, befindet sich Orestiada. Wie ein Das hellgelbe Gebäude mit dem rotem Zie- langgezogenes Schachbrett liegt die nördlichs- geldach, in dem manche Insassen bis zu sechs te und jüngste Stadt Griechenlands zwischen Monate verbringen müssen, hat eine Grund- Mais- und Kartoffelfeldern. Die Geschichte fläche von 1500 Quadratmetern inklusive Ver- von Orestiada ist eng mit Flüchtlingsbewegun- waltungsräumen. Hofgang ist aus Sicherheits- gen verknüpft. Die meisten Einwohner sind gründen nicht gestattet. Laut Augenzeugenbe- Nachkommen von neunhundert christlichen richten von Pro Asyl und Ärzte ohne Grenzen Familien, die nach dem Griechisch-Türki- herrscht im Lager nackte Verzweiflung. Acht- schen Krieg im Sommer 1923 ihre Heimat ver- zig Menschen sind pausenlos in einer Zelle zu- lassen mussten: Karaagaç, einen Vorort der sammengepfercht – Männer, Frauen und Kin- seit jeher heiß umkämpften Stadt Edirne, die der. Viele der Minderjährigen sind ohne Be- von den Griechen bis heute Adrianoupoli ge- gleitung und sich selbst überlassen. Ein Groß- nannt wird. Im Friedensvertrag von Lausanne teil muss im Sitzen oder auf dem Boden schla- war der Türkei ein Landstrich südwestlich von fen, über den manchmal das Abwasser aus den Edirne als eine Art Brückenkopf zugestanden Toiletten läuft. Die Heizung funktioniert nur worden, damit die Grenze zum Königreich selten, warmes Wasser gibt es nicht. Da für die Griechenland nicht unmittelbar am Stadtrand Minderjährigen erst Plätze in Kinderheimen verlief. Das hatte einen wirtschaftlichen Vor- gefunden werden müssen, sind diese gezwun- teil: Karaagaç und sein prächtiger Bahnhof, gen, am längsten im Lager zu bleiben. an dem der Orientexpress hielt, lagen nun auf Über ihre Rechte werden die Immigranten türkischem Staatsgebiet. Durch den Exodus nicht informiert. Einen Asylantrag zu stellen aber wurde aus der weltoffenen, lebendigen ist so gut wie unmöglich. Und selbst wenn es Stadt ein Vierhundert-Seelen-Dorf. Und dort gelingt: In den Behörden der Hauptstadt ha- verlaufen jene zwölfeinhalb Kilometer Gren- ben sich inzwischen 46 000 unbearbeitete An- ze, die nicht vom Evros gebildet werden. träge angesammelt. Wieder in Freiheit, wer- Täglich nutzen hier bis zu 350 Flüchtlinge den die Flüchtlinge ein Papier in Händen hal- die Möglichkeit, trockenen Fußes in die Euro- ten, das sie auffordert, Griechenland binnen päische Union zu gelangen. „Pérasma“ nen- dreißig Tagen zu verlassen. Aber wohin sollen nen die Bewohner der Region dieses Nadel- sie gehen? Sie können weder vor noch zurück. öhr, zu Deutsch: Durchgang. Alle zwei Kilome- Viele erwartet stattdessen ein Leben auf den ter stehen Wachtürme auf beiden Seiten. Straßen von Athen, wo sie Opfer von Zwangs- Manchmal liegen zwischen griechischen und prostitution, Ausbeutung und rechtsradikalen türkischen Posten nur hundert Meter. Seitdem Schlägertrupps werden. Was sagt es über Euro- es nahezu unmöglich geworden ist, über Spa- pa aus, wenn es solch eine humanitäre Kata- nien, Italien oder die Ägäis in die EU zu kom- strophe auf seinem Gebiet toleriert? men, haben Schleuserbanden im vergangenen In Fylakio liegt die Temperatur knapp un- Jahr verstärkt diese Landroute ins Visier ge- terhalb des Gefrierpunkts, doch hier auf dem nommen. Der Rest des Kontinents kriegt von flachen Land fühlt es sich noch viel kälter an. dieser Entwicklung wenig mit: Die Problema- Im Hof warten zehn junge Männer schon seit tik ist aufgrund der geographischen Position – mehr als einer Stunde auf ihre Entlassung. Sie das Gebiet liegt näher an Bagdad als an Brüs- kommen aus Afghanistan, Bangladesch, Mau- sel – auch im Bewusstsein vieler Europäer retanien, dem Sudan. Die wenigsten tragen So- bloß eine Randerscheinung. cken, viele haben ihre Pullover um die nack- Gegenwärtig ist die EU-Grenzschutzagen- ten Füße gewickelt. Das Schiebetor steht of- tur Frontex mit 173 Polizisten und elf Dolmet- fen, ein Frontex-Mitarbeiter möchte mit sei- schern hier im Einsatz. Koordiniert wird die nem Wagen aufs Gelände. In der Mitte der „Operation Poseidon Land“ aus einer Zentra- Einfahrt steht ein Leitkegel. Der zuständige le im ersten Stock der Polizeidirektion von Grenzpolizist telefoniert im nahen Wach- Orestiada, wo die Agenten mit Laptops um zu- häuschen mit seinem Kollegen. Der Mann im sammengerückte Tische sitzen. Viereinhalb Auto wartet. Einer der Flüchtlinge geht ein Kilometer südlich der Stelle, wo der neue paar Schritte vor und nimmt den Leitkegel zur Sperrzaun errichtet werden soll, liegt das Kaf- Seite, so dass der Grenzbeamte hineinfahren feehaus des Dorfes Nea Vyssa. Die Bewohner kann. Dieser bedankt sich mit einer Geste, der haben sich an den Anblick der Flüchtlinge Flüchtling erwidert die Handbewegung. An- längst gewöhnt. Jeden Tag sehe man sie, schließend stellt er den Kegel wieder an sei- meint die Inhaberin, vor allem junge Männer. nen Platz. Für einen kurzen Augenblick war In den Wintermonaten kämen sie herein und Im Aufnahmelager von Fylakio leben derzeit mehr als dreimal so viele Menschen wie vorgesehen. Auf den Hof dürfen sie nicht. Fotos Grinsted der junge Mann kein Flüchtling mehr.