Kapitel 3 (1957-1963) Aufstieg – Das „Wunderkind aus Düsseldorf“ im Parlament

Kampf dem Atomtod und die Rettung der Freiheit

Der Erfolg der Unionsparteien bei den Bundestagswahlen am 15. September 1957 ist bis in die Gegenwart unerreicht. Mit der absoluten Mehrheit der Stimmen können sie allen vorherigen Zweifeln zuvor zum Trotz die kommenden vier Jahre weiter regieren.1 Bei einer Wahlbeteiligung von 87 Prozent erhalten sie 55 Prozent der Mandate, die Ära Adenauer erreicht ihren Zenit.2 Im Dritten Deutschen sind nun 277 Abgeordnete von CDU und CSU vertreten, einer von ihnen ist der 33-jährige . Auch wenn er sich in seinen Memoiren an Unkenrufe aus der „Bonner Parteizentrale“ erinnert, bestimmt würde er mit einer saftigen Niederlage für die Umstände seiner Aufstellung ab- gestraft: Sein Einzug in den Deutschen Bundestag ist im Prinzip schon vor dem Urnengang gesichert.3 In Ostwestfalen wird schwarz gewählt, 68,2 Prozent erhält der noch unbekannte Neuling bei seiner ersten Wahl und fährt damit das zweitbeste Ergebnis ein, das er jemals im Wahlkreis 104 erringen wird.4 Sein SPD-Wahlkreisgegner Ulrich Lohmar kann nur 0,5 Prozentpunkte hinzu- gewinnen, der FDP-Kandidat verliert 1,6 Prozentpunkte.5 Nach den Monaten der beruflichen Ungewissheit bedeutet die Wahl neben dem Erfolg an sich auch ein Stück Befreiung: Endlich unabhängig, endlich eigenständig und end- lich mit einem eigenen Mandat in der Verantwortung. Für Tochter Claudia und Ehefrau Kriemhild ändert sich hingegen erst ein- mal nichts. Bonn ist Bundeshauptstadt, Familie Barzel kann weiter zentral in der Poppelsdorfer Allee 46 wohnen, lediglich der Weg zur Arbeit ist nun ein

1 CDU und CSU erreichen 50,2 Prozent der abgegebenen Stimmen, die SPD 31,8 Prozent, die FDP 7,7 Prozent. Die Deutsche Partei kann bis zur Auflösung der Koalition 1960 noch weitere 17 Abgeordnete entsenden, die sie trotz Verfehlens der Fünf-Prozent-Hürde durch die Grund- mandatsklausel erhält. 2 Vgl. Schwarz: Adenauer II, S. 346. 3 Vgl. Barzel: Gewagtes Leben, S. 131. 4 Nur bei der Bundestagswahl 1965 erreicht er mit 70,3 Prozent höhere Werte. Am schlechtesten schneidet er ausgerechnet in dem Jahr ab, als er selbst Spitzenkandidat der Unionsparteien ist: 1972 erringt er nur einen Stimmenanteil von 63,9 Prozent. 5 Vgl. UiD, 38 (1957), S. 3.

© Verlag Ferdinand Schöningh, 2019 | doi:10.30965/9783657702619_005 118 I: Aufschwungsjahre kürzerer. Im Deutschen Bundestag ist Barzel einer von vielen – 71 Neulinge sind unter den 277 CDU/CSU-Abgeordneten, ein gutes Drittel der Gesamt- fraktion.6 Darunter finden sich neben Barzel weitere Talente, die in den kommenden Jahren auf sich aufmerksam machen sollen, darunter , , Freiherr von und zu Guttenberg, oder ,7 als Nachzügler später auch noch .8 Der Fraktionsvorsitzende hält in seinem Tagebuch fest: „Gute Kräfte, aber auch viel, viel Durchschnitt“.9 Der Altersdurchschnitt der Fraktion liegt nach der Wahl bei knapp 53 Jahren, Stoltenberg ist mit 29 der Jüngste – dicht gefolgt von Barzel.10 Zu dessen großer Freude ist außerdem noch sein alter Kölner Weggefährte Hans Katzer unter den Frischgewählten. Über die kommenden Jahre werden das Verhältnis und die gegenseitige Unter- stützung anhalten und auch schwere Tage überstehen.11 Die ersten Tage verbringt Barzel mit den üblichen Orientierungsproblemen aller Parlamentsneulinge – durch die jahrelange Tätigkeit im politischem Um- feld ist er bisher davon ausgegangen, „den ganzen Betrieb schon zu kennen“, was sich allerdings als Trugschluss herausstellt.12 Zwar verläuft er sich im Unter- schied zu anderen Neulingen nicht in der doch recht überschaubaren Bundes- hauptstadt. Dennoch muss er sich wie jeder andere erst einen Überblick über den Parlamentsbetrieb mit Ausschuss-, Sitzungs-, Plenums-, Wahlkreis- und sonstigen Terminen verschaffen. Die Arbeitsbedingungen der Bundestags- abgeordneten sind auch acht Jahre nach Gründung der Bundesrepublik relativ rustikal. Sofern sie nicht höhere Ämter bekleiden oder sich über die Jahre sonstige Vorrechte erarbeitet haben, müssen die einfachen Abgeordneten auf Komfort verzichten. Angesichts akuten Raummangels ist es keine Selten- heit, dass sich zwei, manchmal sogar drei Abgeordnete ein gemeinsames Büro teilen. Da es pro Raum nur einen Anschluss gibt, kommt es bei wichtigen Telefonaten regelmäßig zu Staus. Vervielfältigungsgeräte sind noch Mangel- ware, ihre Leistungskraft überschaubar. Schwerer wiegt für die Abgeordnete, dass die Unionsfraktion insgesamt über gerade einmal 40 Schreibkräfte ver- fügt, eigene Assistenzen hat lediglich der Vorsitzende.13 Im Notfall muss auf den allgemeinen Schreibdienst des Bundestages zurückgegriffen werden, hier

6 Vgl. CDU/CSU-Fraktion, 1957-1961, S. XIV. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. UiD, 40 (1957), S. 7. 9 Krone, Tagebücher I, 24.9.1957, S. 267. 10 Vgl. CDU/CSU-Fraktion, 1957-1961, S. XIV. 11 Vgl. Barzel: Gewagtes Leben, S. 132. 12 Ebd., S. 134; so auch Schlieben, Politische Karrieren, S. 119. 13 Vgl. CDU/CSU-Fraktion 1957-1961, S. XLI.