Hessisches Kultusministerium Amt für Lehrerbildung

Schule mit Courage – Rechtsextremismus als pädagogische Herausforderung

Schule mit Courage – Rechtsextremismus als pädagogische Herausforderung

00_Titel und Inhalt.indd 1 11.10.10 21:31 Impressum:

Herausgeber: Amt für Lehrerbildung Stuttgarter Straße 18-24 60329 Frankfurt am Main Verantwortlich: Frank Sauerland, Direktor des AfL; Geert Platner, Frank Ernemann, AfL Redaktion: Geert Platner, Frank Ernemann, Prof. Dr. Klaus Moegling, Peter Schneider, Manfred Ritter, Manfred Bauer, Christof Schneller, Christine Wittmann, Claudia Fournier, Constanze Feistauer Lektorat: Rolf Engelke, AfL

Gestaltung: [email protected] Umschlag: Foto: Aaron und Dan Löwenbein 1. Aufl age: Oktober 2010 Vertrieb: Diese Publikation können Sie bestellen bei: Amt für Lehrerbildung/Publikationen Rothwestener Straße 2-14 34233 Fuldatal Telefax: +049 561 8101 139 publikationen@afl .hessen.de Best.-Nr.: 03174 ISBN 978-3-88327-586-4

Diese Druckschrift darf weder von Parteien noch von Wahlbewerberinnen oder Wahlbe- werbern oder Wahlhelferinnen oder Wahlhelfern während eines Wahlkampfs zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Landtags-, Bundestags- und Kommunal- wahlen. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informations- ständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl darf die Druckschrift nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der Landesregierung zugunsten einzel- ner politischer Gruppen verstanden werden könnte.

00_Titel und Inhalt.indd 2 26.10.10 21:45 Inhalt

Zu diesem Buch Claudia Fournier: Rechtsextremes Denken ...... V am Beispiel der Anglizismen. Entgegnung rechtsextremen Denkens anhand eines Vorwort semantisch fundierten Argumentationsaufbaus .... 83 Frank Sauerland ...... IX Geert Platner: White noise – Anleitungen für ein Schulprojekt ...... 92 Einleitung Christof Schneller: Rechtsextremismus und Geert Platner und Frank Ernemann ...... XI Recht. Mit den Menschenrechten gegen Rechtsextremismus ...... 103 Basisartikel Elzbieta Siemon: Symbole des National- Klaus Moegling: Zum Umgang mit dem sozialismus und des aktuellen Rechts- Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule...... 1 extremismus ...... 114 Arndt Kleesiek: Der Lernort Auschwitz als Unterrichtsanregungen Exkursionsziel für außerschulisches Lernen ...... 120 Christoph Rohde: Spurensuche – Realbiogra- fi sches Lernen im historisch-politischen Benjamin Haas: Chancen des politischen Unterricht ...... 22 Lernens am Beispiel Nationalsozialismus und Sascha Ruhweza: Antisemitismus. Geschichtskonstruktionen Die Autobiografi e „Destined to Witness“ von Schülerinnen und Schülern mit von Hans J. Massaquoi (1999) ...... 34 Migrationshintergrund ...... 129 Daniel Wendt: Der Konfl ikt im Nahen Osten: Anna Maria Ram: „Projekt Spurensucher“. Zeitzeugeninterviews und Reportage- Im Prisma von Antisemitismus und Ethnozen- projekt zur Jugend im Nationalsozialismus ...... 50 trismus ...... 145 Aaron und Dan Löwenbein: Das XENOS- Matthias Engelhardt: „Mit dem Rücken zur Wand“. Ein historischer Jugendroman Programm – Integration und Vielfalt ...... 162 von Klaus Kordon ( 1932/1933) ...... 60 Marco Stark: Zukunftswerkstatt: Fremden- feindlichkeit und Rechtsextremismus unter Natalie Wöll: Die ideologische Bemächtigung Jugendlichen ...... 173 der Jugend. Am Beispiel der nationalsozialis- tischen Hitlerjugend ...... 66 Anregungen Manfred Bauer: Auf Spurensuche jüdischen für die 2. Phase der Lehrerausbildung Lebens in Frankfurt – damals und heute. Karin Stahl / Gottfried Kößler: Ein Interview mit der jüdischen Schriftstellerin Perspektiven des Erinnerns. Zur Arbeit mit Stefanie Zweig ...... 74 dem Projekt „Konfrontationen“ in der Lehrer- Andreas Reul: Erinnerungen an das Kriegs- ausbildung ...... 184 ende 1945 – Befreiung oder Untergang? Zeitzeugen erinnern sich ...... 78 Zu den Autorinnen und Autoren ...... 193

00_Titel und Inhalt.indd 3 11.10.10 21:31 Matrix zu den Unterrichtsanregungen Literaturinterpretation, Spurensuche Literaturinterpretation, graph. Ansatz, interkulturelle Bildung interkulturelle Ansatz, graph. Projektarbeit, Zeitzeugeninterviews, Zeitzeugeninterviews, Projektarbeit, Medienerziehung Stadtrundgang, von Fotos Rezeption Quelleninterpretation, und Filmen Quellen- und Zeitzeugenbefragung, Filminterpretation, Archivarbeit Filminterpretation, Quellenkritik Textanalyse, Drehen eines Films Drehen Bildinterpretation Musikverständnis Entdeckendes Gedenkstättenpädagogik, Ausstellungsprojekt Lernen, Lernspiele Interkulturelle Bildung, Interview, Film- Interview, Bildung, Interkulturelle Gedenkstättenpädagogik interpretation, Zukunftswerkstatt Didakt.-methodische Herangehensweise Didakt.-methodische ikt, ikt, Antisemitismus, NS-Verfolgung, Lokalgeschichte NS-Verfolgung, Antisemitismus, Gedenkstättenpädagogik, Ansatz, Biograph. Jugend im NS, Rassismus und Antisemitismus und Rassismus Jugend im NS, Autobio- (englisch), Literaturinterpretation Antisemitismus, Jugend im NS, Nahostkonfl Jugend im NS, Antisemitismus, Lokalgeschichte Kindheit im NS, Antisemitismus, NS-Verfolgung NS-Verfolgung Antisemitismus, Kindheit im NS, Zeitzeugengespräch Interview, Rechtsextremismus und Rassismus (aktuell) und Rassismus Rechtsextremismus (nach Boal), Forumtheater Theaterprojekt, Antisemitismus und Antizionismus, Nahostkonfl ikt Nahostkonfl Antizionismus, Antisemitismus und Konfrontationen, Bildung, Interkulturelle Nahostkonfl ikt, Geschichte des Staates Israel, Israel, Geschichte des Staates ikt, Nahostkonfl Antisemitismus und NS-Vernichtungspolitik, Antizionismus Zukunftswerkstatt Fachliche Inhalte Fachliche Geschichte, 8.-10. Klasse 8.-10. Geschichte, Englisch, 10. Klasse, Realschule Klasse, 10. Englisch, Geschichte / PoWi, versch. Klassen und versch. Geschichte / PoWi, Schulformen Geschichte, evt. Deutsch, 8. Klasse, IGS Klasse, 8. Deutsch, evt. Geschichte, Widerstand im NS, Verfolgung und rassische Polit. Zeitleiste Lesetagebuch, Textinterpretation, Realschule Klasse, 10. Geschichte, Klasse, 10. Religion, Deutsch, Geschichte, Jugend im NS Gymnasium Realschule, Realschule Klasse, 10. Geschichte, des NS Einschätzung Kriegsende 1945, Deutsch, 10.-12. Klasse, Gymnasium Klasse, 10.-12. Deutsch, Semantik und Ideologiekritik, Sprach- und schulformübergreifendes Fach- Projekt PoWi, versch. Klassen und Schulformen versch. PoWi, (Anti-)Rassismus Grund- und Menschenrechte, Realschule Klasse, 10. Geschichte / PoWi, Begriffsklärung, und Quellenkritik, (aktuell) Denken Text- und rechtsextremes Rassismus und Text- Symbolinterpretation, Textkritik, Oberstufe Gymn. Sek II, Geschichte, Antisemitismus NS-Vernichtungslager, IGS Klasse, 9. PoWi, PoWi, FOS PoWi, Fach- und schulformübergreifendes und schulformübergreifendes Fach- Projekt Fach, Klasse, Schulform Klasse, Fach, e Massaquoi e sches Lernen sches Rohde / Spurensuche – / Spurensuche Rohde realbiografi Ruhweza / Ruhweza Autobiografi Ram / Zeitzeugeninterviews / Zeitzeugeninterviews Ram Jugend im NS Engelhardt / Engelhardt Kordon Jugendroman / Wöll Hitlerjugend Bauer / in Frankfurt Leben Jüd. / Kriegsende – Reul / Untergang? Befreiung Fournier / Fournier Anglizismen / Platner White noise Schneller / und Recht Rechtsextremismus Siemon / Rechtsextremismus d. Symbole Kleesiek / Exkursion Auschwitz, Lernort Antisemitismus Haas / NS und Jugendlicher migrant. Wendt / Naher Osten und Wendt Jugend- Antisemitismus von lichen Stark / Stark Zukunftswerkstatt Autor/In, Beitrag Autor/In,

00_Titel und Inhalt.indd 4 11.10.10 21:31 Zu diesem Buch

Dr. phil. hc. Ralph Giordano

Die Frage kam nach einer Lesung: Ob ich die Bilanz Kommunal- und Landtagsebene, siehe Mecklenburg von über sechzig Jahren Geschichte der Bundesre- und Sachsen, in das parlamentarische System inte- publik in die Nußschale eines Satzes fassen könnte? griert hat. Das sind alarmierende Zeichen, und ich Meine Antwort: „Hitler, und was der Name symboli- hoffe, daß dieser Status quo nicht nur einen Mann siert, ist zwar militärisch geschlagen, aber geistig, mit meiner Biographie bestürzt und fragen läßt, wie oder besser ungeistig, ist er immer noch nicht be- es dazu kam und was dagegen getan werden muß. siegt.“ Vor allem sollten wir uns nicht davon täuschen las- sen, daß die Parteien und Organisationen, die die Spätgeburten des braunen Ungeistes repräsentie- ren, bei Wahlen nur selten über Mikroziffern hinaus- kommen – ihre Ideen sind viel weiter verbreitet. Das wird gerade durch die jüngsten Ergebnisse deut- scher Forschungen bestätigt, die den Antisemitismus als ein „Phänomen der Mitte“ geortet und überzeu- gend belegt haben. Bevorzugtes Ziel: Israel. Natür- lich ist nicht jede Kritik am Judenstaat Antisemitis- mus, sind seine schärfsten Kritiker doch Israelis sel- ber. Wohl aber verbirgt sich oft genug blanker Judenhaß dahinter.

Wer mir bei meiner Befreiung am 4. Mai 1945 durch die 8. Britische Armee vorausgesagt hätte, daß über sechzig Jahre nach dem Untergang Hitlerdeutsch- lands eine hartnäckige Kontinuität seiner Ideologien zu verzeichnen ist, den hätte ich für verrückt erklärt. Aber es gibt sie.

Nur – wie ist es dazu gekommen, was ist schiefgelau- Um sogleich anzufügen: Was nicht bedeutet, daß fen, daß wir uns mit diesem „Phänomen“ herum- dieser Ungeist die demokratische Republik, den de- schlagen und es höchst ernstnehmen müssen? Diese mokratischen Verfassungsstaat aushebeln könnte. Frage zu beantworten, heißt, Hand an den Geburts- Aber die Schmerzgrenze wird nicht erst da über- fehler der Bundesrepublik Deutschland zu legen. schritten, wo diese Gefahr bestünde, sondern sie ist es schon weit früher. Nämlich da, wo der jüngste Ver- Ich habe ihn die „Zweite Schuld“ genannt. fassungsschutzbericht von über 20.000 rechtsextrem motivierten Anschlägen mit Tausenden von Gewalt- Nun setzt jede zweite Schuld ja eine erste voraus – taten berichtet, während sich gleichzeitig die zeitge- hier ist gemeint die der Deutschen unter Hitler, oder nössische Variante des Nationalsozialismus (so nen- doch ihrer Mehrheit. Die zweite Schuld: ihre Verdrän- ne ich die NPD und ihr politisches Ambiente) auf gung und Verleugnung nach 1945/49. Und das nicht

V Vorwort

bloß moralisch oder rhetorisch, sondern tief institu- sagen konnten, sie hätten von nichts gewußt, weil sie iert durch den „Großen Frieden mit den Tätern“, Stig- nachweisbar mit ihren Stiefeln, Knüppeln und Pisto- ma der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. len gemordet hatten. Sie standen völlig zu Recht vor den Schranken bundesdeutscher Schwurgerichte, Wir leben in einem Land, wo dem größten ge- diese „Kleinen“. Aber da sie die Hauptmasse der An- schichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und geklagten waren, stellte sich immer dringlicher die Abermillionen Opfern, die wohl bemerkt hinter den Frage: deutschen Fronten umgebracht worden sind wie In- sekten, das größte Wiedereingliederungswerk für Wo sind eigentlich die „Großen“, ihre Vorgesetzten, Täter folgte, das es je gegeben. Bis auf zählbare Aus- die den Todesmühlen das Menschenmehl zugelie- nahmen, sind sie nicht nur straffrei davongekommen, fert hatten? Wo die Planer, die Bauherren der Todes- sondern konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fabriken, die Schreibtischtäter, die Köpfe der Mord- fortsetzen. Nur ein Beispiel: 32.000 aktenkundige po- zentrale Reichssicherheitshauptamt, die doch nicht litische Todesurteile (bei weit höherer Dunkelziffer) alle wie ihr Chef Selbsttötung be- Kopf ab, Kopf ab, Kopf ab … Aber keiner dieser gangen hatten? Wo die Wehrwirtschaftsführer, vor Blutrichter und -ankläger ist je von der nie ns-gesäu- allem aber die hohen und befl issenen Militärs, ohne berten bundesdeutschen Justiz rechtskräftig verur- die nichts, aber auch gar nichts gegangen wäre? teilt worden, kein einziger. Und die Leute, die unter dem Dach der Mordzentrale Reichssicherheitshaupt- Das intellektuelle, planerische, das leitende Element amt (RSHA) das Sagen hatten, die Herren des Holo- der Vernichtung, ihr bürokratischer Motor, sie er- caust und Weichensteller der Vernichtungsmaschine- scheinen in der quantitativ gewiß höchst eindrucks- rie, sie sind überhaupt nie vor Gericht gestellt wor- vollen Leistung der NS-Prozesse so gut wie gar nicht. den. Wenn aber doch, gelegentlich und wie aus Verse- hen, dann zeigte sich, wie hilfl os die ganz auf die An diesem Punkt begegne ich immer wieder dem sadistische KZ-Bestie als exemplarischen Tätertypus Einwurf: „Aber die NS-Prozesse vor bundesdeut- zurechtgestutzte Rechtsprechung der Bundesrepu- schen Schwurgerichten, wie der große Auschwitz- blik Deutschland ihrer Aufgabe gegenüberstand: Prozeß in Frankfurt am Main, oder das Düsseldorfer Justitia, blind – ein Kernstück der „zweiten Schuld“. Maidanek-Verfahren. Was ist denn damit?“ Postum verschlägt es einem die Sprache, wie sanft Ja – was? diese Republik mit den Mördern umgegangen ist.

Ich habe über Jahrzehnte hin vielen dieser Prozesse Als typisches, als Musterbeispiel dafür, aber auch für beigewohnt, als Berichterstatter der „Allgemeinen die Gegenkraft, darf ich bei dieser Gelegenheit ein- jüdischen Wochenzeitung“, Beobachter des „Zentral- mal das Bundeskriminalamt (BKA) anführen. Es stei- rats der Juden in Deutschland“ sowie als Buch- und gen einem die Haare zu Berge, wer alles aus dem Fernsehautor. Die Ära begann 1958 mit der Einrich- Höllenschlund des NS-Polizeiapparats dort nach tung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwal- dem Kriege zu Rang und Namen gekommen ist. Re- tungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Ge- ferats- und Abteilungsleiter des RSHA; Angehörige waltverbrechen“ in Ludwigsburg gegen die Angehö- der sogenannten „Einsatzgruppen“, deren mobile rigen des „Einsatzkommandos Tilsit“, eine Lawine, Mordkommandos Hunderttausende von Juden um- die sich über die Jahrzehnte fortsetzte, mit Ausläu- gebracht und als bürokratischen „Vorgang“ akribisch fern bis in die Gegenwart des Jahres 2010 (siehe abgebucht hatten. Der Chef für alle polizeilichen John Demjanjuk, den Schrecken des Vernichtungsla- Fahndungen im Großdeutschen Reich und den be- gers Sobibor). Tausende von Ermittlungen, Hunderte setzten Gebieten Europas gar, der Mann, der in die- Verfahren – eine gewaltige justizielle Leistung, unbe- ser Funktion für die „Liquidierung“ Tausender und nommen. Abertausende Aufgegriffener verantwortlich war – er wurde der Cheffahnder des BKA und glitt 1964 un- Nur war sehr bald klar, wer hier den Hauptangeklag- behelligt in den Ruhestand ... tentypus stellte, nämlich die untersten Glieder in der Kette des industriellen Serien-, Massen- und Völker- Ein öffentliches Bewußtsein für diesen Skandal per- mords, die kleinen Angestellten des Verwaltungs- soneller Kontinuität bis in die Spitze des Amtes hat es massakers, die Tötungsarbeiter selbst, die nicht mehr nicht gegeben. Festgeprägte Strukturen, rassistische

VI Vorwort

Theorien, autokratischer Führungsstil, sie setzten große Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai sich fort und bestimmten die Kodices der bundes- 1985 im Deutschen Bundestag („Die Ursachen der deutschen Polizei, eingeschlossen das BKA. So geis- Vertreibung liegen nicht am Ende des Krieges, son- terten denn auch dort noch lange kriminalpolitische dern an seinem Anfang“); das Wunder der unblu- Konzepte aus der NS-Zeit herum, wie etwa die „Vor- tigen Wiedervereinigung beider deutscher Staaten beugehaft“, die Sinti und Roma auch weiterhin als 1989; und die zwei Dekaden seither, in denen die „Landfahrer“ diskreditierte. Furcht vor einem nationalistischen Gesamtdeutsch- land buchstäblich in alle Winde zerstob. Das BKA – ein Protobeispiel für die nahezu kollektive Exkulpierung der NS-Täter von der Gründungsphase Entwarnung kann dennoch nicht gegeben werden. der Bundesrepublik an bis tief hinein in die Nach- Es hält sich zäh Gestrigkeit, Anachronistisches, in kriegsära. Und eine Antwort auf die Frage, in wel- bleibender Feindschaft zur demokratischen Repu- chem Schoß die Hydra nationalsozialistischer Ideolo- blik. Die, wie alles Kostbare, gefährdet ist, und keine gien bis in den Rechtsextremismus und Antisemitis- bis in alle Ewigkeit garantierte Selbstverständlich- mus unserer Tage konserviert werden konnte keit.

Erst in den 70er Jahren mauserte sich das BKA lang- Für mich ist sie die einzige Staats- und Gesellschafts- sam, sehr langsam zu einer modernen Behörde. form, in der ich mich sicher fühlen kann. Und so suche Aber es sollten noch einmal mehr als zwanzig Jahre ich denn nach Bundesgenossinnen und Bundesge- dauern, bis einer den Mut hatte, den Abgrund der nossen. personellen und organisa-torischen Verknüpfungen des BKA zu den Vorgängerinstitutionen aus der Nazi- Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle zu erklären: zeit bis in die letzten Winkel rest- und tabulos auszu- Mich hat das Friedberger Treffen (s. Seite XII) sehr er- leuchen, Jörg Ziercke, Präsident des BKA und Orga- mutigt – seine Reaktionen auf meine Warnung vor nisator einer dreiteiligen Kolloquienreihe. der rechten Gefahr, seine Bereitschaft, zuzuhören, seine Ernsthaftigkeit. Dafür danke ich allen Initiatoren Es ist wahr, daß eine schwere Hypothek zu überwin- und Verantwortlichen, darunter dem demokratischen den ist, aber ebenso wahr, daß es eine starke Gegen- Kärner Geert Platner (Amt für Lehrerbildung, Studi- kraft gibt. enseminar-GHRF-Kassel), der die Brücke geschlagen hat. Ich bin sehr beeindruckt von dem großen Enga- Hat sich inzwischen doch vieles getan. gement, mit dem die hessischen Lehrkräfte, die Aus- bilder der Studienseminare, Vertretungen der Uni- Noch nie war das öffentliche Bewußtsein für das The- versitäten und auch die Vertretung der Schülerschaft ma „Nationalsozialismus und seine Folgen“ so weit in Person der hessischen Landesschulsprecherin an geöffnet wie heute – ein langer, langer Weg. Vom diesem gemeinsamen Werk gearbeitet haben. braunen Epilog der 50er Jahre über die Zeitenwen- de der ,,68er“; zehn Jahre später die Fernsehserie Meine Bitte – auch weiterhin beteiligt zu bleiben. „Holocaust“, die ein anonymes Massenschicksal indi- vidualisierte, personifi zierte und ihre Wirkung tat; die Ralph Giordano

VII

Vorwort

Frank Sauerland

„Ein Amt als Herausgeber einer Broschüre gegen Unser Freund und Mitstreiter Ralph Giordano fragt zu Rechtsextremismus? Haben die nicht Wichtigeres zu Recht, was denn nicht stimme in der Bundesrepublik tun?“ So oder ähnlich könnte die Frage eines Bürgers Deutsch land, wenn man dort 18000 rechtsextrem lauten, der sich Sorgen um die effi ziente und zielge- motivierte Anschläge zu verzeichnen habe und sich richtete Verwendung seiner Steuern macht. zudem eine Partei wie die NPD, die Giordano als „zeitgenössische Variante des Nationalsozialismus“ Das Amt für Lehrerbildung (AfL) hat in der Tat Wich- bezeichnet, über die Landtage im parlamentarischen tiges zu tun: Als großes, dem Hessischen Kultusmini- System einniste, das sie als Bühne für Geschichtsklit- sterium direkt unterstelltes Landesamt haben wir im terung und Rattenfängerparolen nutzt. letzten Jahr mehr als 2000 Staatsprüfungen organi- siert und mehr als 5000 Lehrkräfte im Vorbereitungs- Vorrangige Zielgruppe derjenigen, die fremden- dienst auf die vielfältigen Anforderungen in ihrem feindliche und menschenverachtende rechtsextreme künftigen Beruf vorbereitet. Wir arbeiten mit den Haltungen und Parolen verbreiten, sind Jugendliche Universitäten und Hochschulen zusammen an einer und Heranwachsende. Hier verspricht man sich Zu- Lehrerbildung aus einem Guss, wir qualifi zieren lauf vor allem bei der Gruppe benachteiligter Schü- Quereinsteigerinnen und –einsteiger für den Lehrer- ler. Während sich in den Führungszirkeln der Rechts- beruf, wir führen Fort- und Weiterbildungsmaß- extremen auch Menschen mit Hochschulabschluss nahmen für Lehrkräfte durch und qualifi zieren künf- fi nden, sind Schüler mit einer negativen Bildungskar- tige Führungskräfte im Bildungsbereich - die Liste riere, insbesondere Jungen mit einem bestimmten lässt sich lange fortsetzen. Männlichkeitsbild, offensichtlich besonders anfällig für die markigen Parolen der Rechtsextremen. Dem- Und dennoch – oder gerade deshalb: Unser Engage- entsprechend setzen diese auf Kanäle, die einen gu- ment im Bereich der politischen Bildung, wie es sich ten Zugang zu diesen Jugendlichen versprechen: Zu u. a. in der vorliegenden Broschüre gegen Rechtsex- nennen ist hier z. B. die Verbreitung und Verteilung tremismus manifestiert, steht dem Amt für Lehrerbil- rechtsextremer Musik und Mode. Hierfür werden Ju- dung nicht nur gut an, aus meiner Sicht handelt es gendliche oft persönlich angesprochen und bekom- sich hier um eine notwendige und unverzichtbare men Prospekte oder CDs in die Hand gedrückt, es Kernaufgabe, der sich nicht nur das AfL selbstver- werden aber zunehmend auch die vielfältigen Mög- ständlich stellen muss. Staatliche Institutionen kön- lichkeiten genutzt, die das Internet bietet. Es werden nen eben nicht im Sinne des althergebrachten preu- Schriften verbreitet, in denen der Holocaust geleug- ßischen Beamtentums exekutierend verwalten. Sie net und die Geschichte in anderer Weise gefälscht sind vielmehr in einem demokratischen Rechtsstaat wird. Auch praktizierte Männlichkeitsrituale in ein- dazu aufgerufen und verpfl ichtet, aktiv und initiativ schlägigen Organisationen sollen männliche Ju- daran mitzuwirken, dass dessen Funktionieren nach- gendliche ansprechen. haltig gewährleistet ist und extremistischen Ten- denzen kein Raum gegeben wird. Gilt dies generell Es liegt auf der Hand: Zur Wahrung und Entwicklung für alle staatlichen Institutionen, so kann für den Bil- unseres demokratischen Verfassungsstaats bedarf es dungsbereich nur konstatiert werden, dass wir dort einer gemeinsamen Anstrengung aller, die in unserer in besonderer Weise tätig werden müssen. Gesellschaft Verantwortung tragen. Dabei sind jün-

IX Vorwort

gere gesellschaftliche Entwicklungen, die man mitun- als sie im schulischen Alltag das vorleben müssen, ter bedauern, aber kurz- und mittelfristig mit Sicher- was sie ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln. heit nicht ändern kann, bei der Verteilung der Aufga- Sie müssen die erforderlichen Kompetenzen und ben zu berücksichtigen: Hierzu zählen beispielsweise Haltungen selbst erworben und verinnerlicht haben, die sich wandelnde Familienstruktur, die mit einem also Eigenverantwortung, Wertschätzung und Selbst- geänderten Rollenverhalten in den Familien und in bestimmung vorleben. Und sie müssen zeigen, dass anderen sozialen Beziehungen einhergeht, die kultu- es in unseren Schulen null Toleranz gegenüber extre- relle und ethnische Vielfalt sowie eine veränderte Al- mistischem Gedankengut gibt. tersstruktur in der Bevölkerung, gegenläufi ge Ent- wicklungen bei der Besiedlung ländlicher und städ- Hier schließt sich der Kreis, ich beantworte meine hy- tischer Regionen, ein sich rasant veränderndes Medi- pothetische Eingangsfrage mit einer Gegenfrage: enkonsum- und Kommunikationsverhalten insbeson- Was wäre wichtiger? dere bei Jugendlichen, Nachwuchsprobleme bei den politischen Parteien und vieles mehr. Ich freue mich außerordentlich, dass das AfL in enger Kooperation mit vielen Partnern aus allen Ebenen Aus diesen hier nur schlaglichtartig benannten Phä- dazu beitragen kann, vorhandene vorbildliche Initiati- nomenen ergibt sich zwingend die besondere Ver- ven – beispielsweise das entsprechende Projekt im antwortung, die Schulen und ihren Unterstützungssys- Wetteraukreis im Rahmen des Bundesprogramms temen in zunehmendem Maße zukommt. Gerade die Xenos – zu unterstützen. Die vorliegende Publikation Lehrkräfte sind diejenigen, die im täglichen unmittel- ist das Ergebnis der intensiven Arbeit einer 50-köp- baren Kontakt mit ihren Schülerinnen und Schülern fi gen Arbeitsgruppe aus Lehrkräften, Lehrkräften im frühzeitig pädagogisch reagieren können, wenn de- Vorbereitungsdienst, Ausbilderinnen und Ausbildern ren Stimmungen und Haltungen eine Tendenz zu der Studienseminare, Lehramtsstudierenden und Menschenfeindlichkeit, Intoleranz und Demokratie- Schülervertretern. Herr Prof. Dr. Moegling übernahm feindlichkeit erkennen lassen. Dabei geht es nicht nur dankenswerter Weise die wissenschaftliche Beglei- darum, mittels direkter Intervention auf negative Ent- tung. Es war uns wichtig, dass die zur Verfügung ge- wicklungen zu reagieren – also sozusagen den Kran stellten Materialien für den Unterricht vielfältig ein- zu holen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefal- setzbar sind, denn nur so können wir den Anspruch len ist. Es kommt vielmehr darauf an, auf dem Funda- erfüllen, dass tatsächlich bei den Lehrkräften, Schüle- ment eines breiten und hochwertigen Bildungsange- rinnen und Schülern in den Schulen ankommt, was bots auch gezielt Unterricht durchzuführen, in dem die Arbeitsgruppe seit Anfang 2009 erarbeitet hat. den Jugendlichen das erforderliche Wissen vermit- telt wird, das für den Erwerb einer durch Toleranz und Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre, vor Zivilcourage geprägten Haltung notwendig ist. Natür- allem aber viel Freude und Erfolg bei der Erprobung lich bieten sich dazu der Geschichtsunterricht und der Materialien in der Arbeit mit den Jugendlichen. das Fach Politik und Wirtschaft besonders an, Aktivi- Für das AfL füge ich an, dass wir uns auch künftig ak- täten an den Schulen dürfen sich aber nicht auf die- tiv im Sinne eines lebendigen Gemeinwesens einmi- sen Bereich beschränken. Entscheidend wird sein, schen werden, in dem Menschenfeindlichkeit, Intole- dass die Schülerinnen und Schülern im System Schu- ranz und extremistisches Gedankengut engagiert le selbst erfahren, was sie später prägen soll. bekämpft werden. Mein Dank gilt allen Beteiligten!

Es versteht sich von selbst, dass den Lehrerinnen und Frank Sauerland Lehrern dabei insofern eine Schlüsselrolle zukommt, Amtsleiter AfL

X Einleitung

Geert Platner und Frank Ernemann

Am 11. November 2007 erreichte das Amt für Leh- „Sehr geehrter Herr Dr. Giordano, rerbildung ein Brief von Ralph Giordano, ein interna- tional renommierter Autor und seit langem enga- vielen Dank für Ihr Schreiben, das wir mit au- gierter Gegner rechtsextremistischer Bestrebungen: ßerordentlichem Interesse gelesen haben. Für das AfL, das die Lehrerbildung hessenweit koordiniert „Sehr geehrter Herr Direktor Sauerland, und steuert, ist es von besonderer Bedeutung, mit externen Experten in möglichst engem Kontakt zu am 10.9.2007 habe ich die Schirmherrschaft für stehen. Dies gehört zu unserem Selbstverständ- ein geplantes Buchprojekt übernommen, das nis, um eine qualitativ hochwertige und innerhalb übertragbare pädagogische Konzepte und Unter- Europas wettbewerbsfähige Lehreraus- und -wei- richtsvorschläge zur Auseinandersetzung mit dem terbildung zu garantieren. Insofern möchten wir Rechtsextremismus sammeln und präsentieren sehr gern mit Ihnen zusammenarbeiten. Gemein- wird. sam könnten wir uns im nächsten Schritt überle- Die Publikation wird betreut von Geert Platner gen, welche Seminargruppen für das Vorhaben als aus dem hessischen Ahnatal, mit dem ich als besonders geeignet erscheinen. Danach werden Überlebender des Holocaust seit 1982 zur Aufklä- wir den Kontakt zwischen Ihnen und den Semi- rung über jene zwölf Jahre zusammenarbeite. naren herstellen.“ Die 4. Aufl age seines Buches „Schule im 3. Reich – Erziehung zum Tod“ wurde jüngst von Damit war der Weg frei für ein Rundschreiben, das den Goethe-Instituten weltweit 45o mal angefor- Dr. Giordano in der Folge an alle hessischen Studien- dert. (…) seminare richtete: Auch das Hessische Kultusministerium hat sei- nerzeit dieses Buch fl ächendeckend für die Schu- „Sehr geehrte Damen und Herren, len angeschafft und die Ministerin sandte in die- sem Frühjahr eine besondere Würdigung für die in letzter Zeit gibt es eine bedrohliche Zunah- 25jährige Projektarbeit. Dies nur als kurze Stich- me vielfältiger Aktivitäten der NPD und anderer worte zu dem seriösen und erfolgreichen Hinter- rechtsextremer Gruppierungen im Jugend- und grund der geplanten Publikation. Schulbereich. Dabei ist die Musik die Einstiegs- Ich bitte Sie, sehr geehrter Herr Sauerland, droge in eine dumpfdeutsche Welt: Der Hassrock ganz herzlich, eine Nachfrage bei den hessischen von Bands wie ‚Volkszorn‘ oder ‚Blitzkrieg‘ ist für Studienseminaren zu gestatten, ob geeignete Un- Neonazis das ideale Lockmittel, um Jugendliche terrichtseinheiten vorliegen oder durchgeführt zu ködern. Laut Verfassungsschutzbericht hat sich wurden. Ich bin über die projektorientierte, sehr die Anzahl der Skinhead-Bands in den letzten Jah- innovative Arbeit Ihres Amtes informiert worden ren fast verdoppelt; die NPD verteilt in großer und glaube daher, dass wir wertvolle Anregungen, Stückzahl CDs wie z.B. ‚Lieder aus dem Unter- Vorschläge und Konzepte erhalten könnten.“ grund‘ auf deutschen Schulhöfen. Angesichts dieser Lage sind pädagogische Ini- Die Antwort von Direktor Frank Sauerland ließ nicht tiativen unabdingbar; in Zusammenarbeit mit lange auf sich warten: dem Amt für Lehrerbildung werde ich eine Publi-

XI Einleitung

kation betreuen, die sich dieser Aufgabe stellen ‚Schluss mit falscher Toleranz. Beim ersten Auftau- wird. chen dieses Gedankenguts muss sofort reagiert Ich betreute seinerzeit bereits ein Projekt des und widersprochen werden.’“ Kasseler Studienseminars (GHRF) zum Thema ‚Skinheadmusik‘, das von der Staatsschutzabtei- Ralph Giordano forderte in seiner Rede mehr zivilge- lung der Polizei und dem Bundestagspräsidenten sellschaftliches Engagement im Alltag – und nicht besonders ausgezeichnet wurde. Diese sehr gut nur in „Sonntagsreden“: übertragbare Projektbeschreibung ist ein wich- tiger Baustein unserer geplanten Veröffentlichung. „Wieso konnte sich die zeitgenössische Varian- Wir gehen davon aus, dass es auch in Ihrem te des Nationalsozialismus in Form der NPD über Seminarbereich und den Ausbildungsschulen Un- die Landtage in das parlamentarische System ein- terrichtskonzepte und Projektvorschläge gibt, die nisten? Schluss mit der falschen Toleranz und der sich mit dem Rechtsextremismus auseinanderset- öffentlichen Feigheit, wenn es darum geht, Zivil- zen. Bitte stellen Sie uns Ihre Ausarbeitungen oder courage zu zeigen. Es ist ihr Mangel, der die Ge- Entwürfe für unsere Handreichungen zur Verfü- walttäter stark macht. Ihr Defi zit lässt sie auftrump- gung. […]“ fen, während unser Schweigen die intellektuellen Urheber zu einer klandestinen Neuschreibung der Auf der Basis dieser Initiative des bekannten Autors Nationalgeschichte ermutigt. In welcher Gestalt entstand ein Netzwerk von interessierten Pädago- sich auch immer die Gestrigkeit an die Öffentlich- ginnen und Pädagogen aus hessischen Seminaren, keit wagt, sofort reagieren, ob auf der Straße, am Schulen und Universitäten. Mit der ehemaligen hes- Arbeitsplatz, in der Publizistik oder gar in der Fa- sischen Schülervertreterin Fiona Merfert war auch milie: nichts hinnehmen und sogleich erwidern.“ die Perspektive der Zielgruppe, der Schülerinnen und Schüler, vertreten. Die Arbeitsgruppe vergrö- Die große Teilnehmerzahl der „Friedberger Tagung“ ßerte sich von sechs Personen bei der ersten Sitzung war durch eine Erweiterung des pädagogischen im September 2008 auf über 50 Teilnehmer des Netzwerks entstanden, zu dem inzwischen auch El- fünften Treffens in Friedberg im September 2009. tern gehörten, deren Kinder von rechter Gewalt be- Die dort durchgeführte Pressekonferenz mit Dr. troffen waren. Ausbilder und Referendare, Studenten Giordano, dem hessischen Justizminister Jörg-Uwe und Professoren, Journalisten und Regisseure ver- Hahn und Frank Sauerland fand gute Resonanz in stärkten das Kommunikationsnetz, das sich 2010 verschiedenen Zeitungen. noch weiter ausdehnte.

So schrieb die „Wetterauer Zeitung“: Das Netzwerk konnte sich auch über die Grenzen Deutschlands hinaus erweitern: Der Schweizer Autor „‚Die Angriffe auf das demokratisch verfasste und Regisseur Ralph Etter half bei der Aktualisierung Gemeinwesen müssen frühzeitig und im Ansatz des Filmprojekts „White Noise“ und gab auch wich- bekämpft werden’, sagte der Justizminister. Alle tige Hinweise zur Darstellung des Projekts in diesem müssten dazu beitragen, dass menschenfeind- Buch. Etter lehrt im Fach Film/Video an der Kunstschu- liche und intolerante Haltungen in den heimischen le in Olten, arbeitete für die „Akademie der Künste“ in Schulen nicht Fuß fassten, erläuterte AfL-Leiter Berlin und ist bekannt durch seine Installationen, Sauerland. Deshalb sei er froh, dass man Giorda- Kunstprojekte und grafi schen Publikationen. Von sei- no für die Mitarbeit gewinnen konnte. Der renom- nen zahlreichen Filmen sei hier nur „Wackelkontakt“ mierte Autor befasse sich in seinen Schriften in- erwähnt, der weltweit auf über 50 Festivals gezeigt tensiv mit der Thematik und warne vor dem ‚Terror wurde. Ralph Etter erhielt u.a. den Hauptpreis des Eu- der Unbelehrbarkeit’ der Rechten, deren Expo- ropäischen Filmfestivals in Reus (Spanien), den Preis nenten zum Teil in Schlips und Kragen aufträten, Cinema e Gioventu in Locarno und weitere Preise in um sich bei jungen Menschen mit negativer Bil- Genf, Luzern, Babelsberg und den Hauptpreis beim dungskarriere einzuschmeicheln. Nicht mit dem Festival in Cergy-Pontoise (Frankreich). Für interessier- erhobenen Zeigefi nger, sondern orientiert an der te Lehrer und Lehrerinnen ist seine Produktion mit Kin- oft tristen Lebenswirklichkeit der jungen Leute dern der Sekundarschule Wolfen Nord „Zuhause“ ein müsse vorgegangen werden, meinte Sauerland. wegweisendes Modell, wie Schüler und Schülerinnen

XII Einleitung

sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen. Etter steht mismus und Recht. Mit den Menschenrechten gegen dem AfL auch in der Zukunft zur Verfügung, um Päda- Rechtsextremismus.“ Am Beispiel des ehemaligen gogen bei ähnlichen Projekten zu beraten. farbigen Fussballnationalspielers Patrick Owomoye- la wird hierbei u.a. die Problematik der Menschen- und Grundrechte thematisiert. Elzbieta Siemon stellt Unterrichtsmaterialien als Ergebnis in Ihrer Zusammenstellung „Symbole des Nationalso- zialismus und des aktuellen Rechtsextremismus“ die Das vorliegende Werk enthält eine inhaltlich sehr fa- Wirkung von rechtsextremen Texten, Bildern und cettenreiche Zusammenstellung von Unterrichtsent- Symbolen auf Menschen vor. Arndt Kleesiek behan- würfen, die nach handlungsorientierten Aspekten delt in seinem Entwurf „Auschwitz als Exkursionsziel gestaltet sind. Bei der Auswahl der Entwürfe wurde für außerschulisches Lernen in der Sek.II“ unter an- zum einen berücksichtigt, dass ein möglichst großes derem Aspekte der Gedenkstättenpädagogik und methodisch-didaktisches Spektrum abgebildet wird, des entdeckendes Lernen: „Der Lern- und Gedenk- zum anderen, dass neben Elementen der kognitiven ort Auschwitz: Kann man Auschwitz verstehen?“ Auseinandersetzung mit der Thematik auch ein gro- ßer Raum für pädagogische Partizipationserfah- Der Nahostkonfl ikt wird bei Benjamin Haas „Chan- rungen bestehen bleibt. cen des politischen Lernens am Beispiel Nationalso- zialismus und Antisemitismus“ und Daniel Wendt Im Folgenden werden die einzelnen Unterrichtsvor- „Der Konfl ikt im Nahen Osten: Über Formen des An- schläge kurz umrissen: tisemitismus bei Jugendlichen und Ausgrenzung durch Ethnozentrismus“ thematisiert. Hierbei wer- Die Thematik „Jugend in der NS-Zeit“ wird in den Un- den ebenfalls Bezüge zur Gedenkstättenpädagogik terrichtsentwürfen von Sascha Ruhweza, „Die Auto- aufgezeigt. bio grafi e Destined to Witness“ von Hans J. Massa- quoi, Anna Ram „Projekt Spurensucher“ und auch in In Marco Starks „Zukunftswerkstatt. Fremdenfeind- Natalie Wölls „Die ideologische Überwältigung der lichkeit und Rechtsextremismus unter Jugendlichen“ Jugend am Beispiel der nationalsozialistischen Hit- setzen sich Schülerinnen und Schüler anhand vielfäl- lerjugend“ aufgegriffen. Dabei eignet sich Sascha tige Methoden aktiv mit den Begriffen Toleranz und Ruhwezas Entwurf für den Englischunterricht. Der Gleichberechtigung auseinander und versetzen sich Beitrag weist darüber hinaus Bezüge zu Ralph Gior- in eine Welt ohne Rechtsextremismus und Fremden- dano auf, mit dem Massaquoi als Jugendlicher wäh- feindlichkeit. rend des Krieges in befreundet war. Ein weiterer Entwurf, der sich primär mit Sprache aus- Ein großer Personenkreis hat unser Vorhaben inhalt- einandersetzt, ist Claudia Fourniers „Rechtsextremes lich und organisatorisch unterstützt. Ganz besonders Denken am Beispiel der Anglizismen“. Andreas Reul bedanken möchten wir uns an dieser Stelle bei den konzentriert sich in „Erinnerungen an das Kriegsende Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Netzwerkes 1945 – Befreiung oder Untergang? Zeitzeugen erin- für Demokratie und Courage in Darmstadt sowie nern sich“ auf die Endphase des Dritten Reichs, die Helmolt Rademacher und Gerlinde Zeidlewitz-Müller von den Beteiligten höchst unterschiedlich wahrge- vom HKM-Projekt „Gewaltprävention und Demokra- nommen wurde. tielernen“. Wir erfuhren sehr wertvolle und kompe- tente Beratung für die Entwicklung unseres Vorha- Lokalgeschichtliche Bezüge werden vor allem in den bens. Entwürfen von Christoph Rohde „Spurensuche – Re- albiographisches Lernen im historisch-politischen Hinweisen möchten wir an dieser Stelle, wo wichtige Unterricht“ und bei Manfred Bauers „Auf Spuren- Orientierungshilfen und fachliche Unterstützung für suche jüdischen Lebens in Frankfurt damals und heu- die Thematik Umgang mit „Rechtsextremismus“ ge- te“ wie auch bei Anna Ram dargestellt. Geert Platner funden werden können: stellt im Rahmen eines Theaterprojektes „White noi- • Beratungsnetzwerk Rechtsextremismus se. Anleitungen für ein Schulprojekt“, aktuelle Bezü- (http://www.beratungsnetzwerk-hessen.de/) ge zum Rechtsextremismus dar. Den Blick in die Ge- • das ganz neue Projekt „Rote Linie“ (Hilfen für genwart richtet auch Christof Schneller „Rechtsextre- Eltern und Bezugspersonen rechtsextrem orien-

XIII Einleitung

tierter Jugendlicher in Hessen) www.rote-linie.net Prof. Dr. Klaus Moegling, Studienseminar GYM Kas- sowie sel, begleitete das Entstehen des Buches auf wissen- • Gewaltprävention und Demokratielernen: schaftlicher Ebene und leistete in der Vorbereitungs- www.gud.bildung.hessen.de und Durchführungsphase einen erheblichen Beitrag für das Projekt. Bei der Konzeption des Gesamtvor- Unser Dank gilt ferner Aaron Löwenbein, durch des- habens spielten seine Beiträge zum Umgang mit sen erfolgreiche Unterstützung wir seit April 2009 an dem Rechtsextremismus von Jugendlichen eine we- dem BLK-Programm „XENOS- Integration und Viel- sentliche Rolle. Beispielsweise entwickelte er für die falt“ des Wetteraukreises partizipieren können. Bis- Gruppe ein passendes Kompetenzmodell, auf das her haben wir durch das Programm zahlreiche Kon- sich die Autorinnen und Autoren in ihren Unterrichts- takte geknüpft und auch weitere Kolleginnen und anregungen beziehen konnten. Mit seinem Basisarti- Kollegen gewonnen, die sich an unserem Arbeitsvor- kel ist es Klaus Moegling gelungen, die Thematik haben engagieren. Veranstaltungen an den XENOS- „Rechtsextremismus“ im Politikunterricht inhaltlich Kooperationsschulen sowie der Ganztagesveranstal- greifbar zu gestalten und unter Bezugnahme auf ak- tung in der Kreisverwaltung der Wetterau in Fried- tuelle politikdidaktische Diskussionen theoretisch zu berg haben in ganz besonderer Weise Rahmenbe- untermauern. Außerdem leitete er in sehr anschau- dingungen geschaffen, so dass sich das Projekt er- licher und motivierender Art und Weise einen ganz- folgreich entwickeln konnte. tägigen Workshop mit der Großgruppe.

Besonders hervorheben möchten wir auch den sehr Der allergrößte Dank bei diesem Projekt gilt sämt- arbeitsintensiven Einsatz von Manfred Ritter, Studi- lichen Autorinnen und Autoren, die über einen lan- enseminar GHRF Eschwege und Peter Schneider, gen Zeitraum zahlreiche, in der Unterrichtspraxis er- Studienseminar GYM Offenbach. Beide haben au- probte Ideen eingebracht haben. Unbedingt erwäh- ßerhalb ihrer Dienstzeit in erheblichem Umfang die nen möchten wir, dass alle Autorinnen und Autoren Entwürfe Korrektur gelesen und Verbesserungsvor- unentgeltlich gearbeitet haben. Sie haben einen er- schläge unterbreitet. Unser Dank gilt auch Claudia heblichen Teil ihrer Freizeit dafür geopfert. Mehrere Fournier und Constanze Feistauer, Max-Weber-Schu- Projekttreffen wurden auf das Wochenende verlegt, le in Gießen, die durch ihre wertvollen Rückmel- da sich innerhalb der Woche keine Termine fi nden dungen sehr zur Qualität des Gesamtwerkes beige- ließen. Ohne dieses besondere freiwillige Engage- tragen haben. ment wäre das Projekt nicht denkbar gewesen.

Geert Platner Frank Ernemann GHRF-Seminar Kassel Assistent der Amtsleitung

XIV Basisartikel: ZumZum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

Klaus Moegling

1 Rastanlage Teufelstal/ Thüringen oder vier von ihnen schlagen und treten auf den im Februar 2009: Mann ein.“ Neonazis schlagen nordhessische Gewerkschafter zusammen Fast gleichzeitig geht in diesen Tagen durch die Pres- se, dass die Zahl der rechtsextremen Straftaten nach „Bei einem Überfall rechter Schläger auf Busse des Angaben des Bundesinnenministeriums im Jahr Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Nordhessen 2008 auf 14.000 Straftaten stark gestiegen ist. Hier- sind am Samstag mindestens fünf Menschen schwer bei gab es 773 verletzte Personen. Das Innenministe- verletzt worden. Nach Polizeiangaben erlitt ein 43-jäh- rium erwähnt in diesem Zusammenhang 1089 riger aus Schwalmstadt einen Schädelbruch.“ (Hes- antisemitische Delikte 1908 Straftaten mit fremden- sisch-Niedersächsische Allgemeine, 16.2.2009, 1) feindlichem Hintergrund für das Jahr 2008. Opferbe- ratungsstellen sprechen seit 1990 von 130 Toten auf- grund rechtsextremer Straftaten.1 Was war geschehen? Diese Ereignisse und Angaben machen deutlich: An einem Wochenende im Februar 2009 hatten ca. Das Thema ‚Rechtsextremismus’ hat seine Aktualität 6000 Neonazis in Dresden über eine Großde- nicht verloren. Es bleibt leider auf der Tagesordnung monstration versucht, die Bombardierung Dres- der politischen Agenda. Der Rechtsextremismus dens im 2. Weltkrieg für ihre Zwecke zu funktionali- scheint immer gewalttätiger und auch organisierter sieren. 10.000 Gegendemonstranten aus Dresden zu werden. Die demokratische Zivilgesellschaft – und und dem gesamten Bundesgebiet demonstrierten auch die Schulen – müssen präventiv, aber auch kon- gegen den Aufmarsch der Rechtsextremisten. Auf sequent sanktionierend das Konzept der wehrhaften dem Rückweg wurden die nordhessischen Gewerk- Demokratie gestalten und durchsetzen. schafter von Neonazis auf dem Parkplatz der Rast- anlage Teufelstal bei Jena angegriffen. Die Neona- zis kamen aus einem Bus, der von der NPD ange- 2 Zur Defi nition: Rechtsextremismus, mietet worden war. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus

Die HNA (16.2.09) beschreibt den Vorfall wie folgt: „Die Situation hat sich geändert, sie sind schlauer ge- „Eine Meute Rechtsradikaler in dunkler Kleidung for- worden. Ich merke das an den Bedrohungen. ... Der miert sich. Jemand ruft ‚Antifa – Attack’. Dann rennt Tenor in den Drohbriefen hat sich geändert. Das sind der Mob auf den Bus und die davor stehenden Men- auch Akademiker, das sind Intellektuelle mit Grips. schen zu. Die etwa 20 Neonazis werfen Flaschen, Das Schlimmste ist, dass so Leute öffentlich auftreten schleudern einen mehreren Kilo schweren Eisblock können, wie sie es tun. Das eigentliche Übel ist die gegen den Bus. Die Gruppe vor dem Bus versucht, gesellschaftliche Atmosphäre, die den Tätern den in das Innere zu fl üchten. Die Tür schließt sich. Zu Spielraum gibt, so aufzutreten, wie sie es tun … Ich früh für einen der Flüchtenden, einen 43-jährigen hätte nach dem zweiten Weltkrieg nie geglaubt, dass aus Schwalmstadt. Er schafft es nicht mehr in den ich es im Jahre 2009 noch mit Nazis zu tun haben wer- Bus. Die Neonazis werfen den Mann zu Boden, drei de.“ (Ralph Giordano am 7.9.2009 in Friedberg)

1 Vgl. www.tagesschau.de/inland/rechtsextremestraftaten100.html, 17.2.09

1 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

Die Auffassung, dass es einen Kern der Normalität – der gesellschaftlichen Mitte entspringenden Mo- den gesellschaftlichen Mainstream – gibt, an dessen tiven und politischen Einstellungen besaß und dass Rändern sich der Extremismus befi ndet, ist vor allem dies analog für die populistischen Bewegungen in aus der Sicht derjenigen gedacht, die sich als „poli- den 50-er Jahren (Poujadismus, Peronismus, McCar- tisch normal“ empfi nden. Möglicherweise simplifi - thyismus) ebenfalls gelten würde. Hierbei seien ins- ziert das Modell des Extremismus die gesellschafts- besondere der Zerfall und die Proletarisierungsfurcht politische Wirklichkeit aber zu stark. Weder dürften der alten Mittelklasse und des Kleinbürgertums als die meisten Extremisten in ihrem Denken ausschließ- Ursachen zu nennen. lich extremistisch sein, noch sind die Menschen, die sich in der Mitte der Gesellschaft wähnen, möglicher- Der Rechtspopulismus bediene sich rechtslastiger weise völlig frei von Vorurteilen, autoritärem Geba- Vorurteile, die in Teilen der gesellschaftlichen Mitte ren und Inklusionsdenken. Daher sollen im Rahmen vorhanden seien. Steffens sieht im historischen des vorliegenden Beitrags auch verschiedene Diffe- Rechtspopulismus, bei dem politische Bewegungen renzierungen rechtslastigen Denkens und Verhaltens rechtslastige Vorurteile instrumentalisierten, Paral- in die Überlegungen einbezogen sowie auch die lelen zu heutigen Formen des Populismus: Berlusco- Ausprägung rechtspopulistischen Denkens im ge- ni, Haider, Le Pen, Schill. Hierbei charakterisiert er sellschaftlichen Mainstream untersucht werden.2 den Rechtspopulismus mit Hilfe folgender Kriterien (Steffens 2003, 92): Es gibt verschiedene Ansätze, den Rechtsextremis- • Personenkult und Führerpersönlichkeiten; mus begriffl ich zu fassen. Auch herrscht oftmals eine • Konstruktion eines Gegensatzes zwischen dem begriffl iche Unklarheit in der Unterscheidung der einfachen Menschen und dem herrschenden poli- Begriffe ‚Rechtspopulismus’, ‚Rechtsradikalismus’ tischen Establishment; und ‚Rechtsextremismus’. Daher gilt es zunächst, die • Simplifi zierung gesellschaftlicher Konfl ikte und hier zu verwendenden Begriffl ichkeiten vor dem Hin- das Versprechen monokausaler, leicht verständ- tergrund eines gesellschaftswissenschaftlichen Zu- licher Lösungen; gangs zum gemeinten gesellschaftspolitischen Phä- • Emotionalisierendes Aufgreifen diffuser Existenz- nomen zu klären. ängste in der Bevölkerung; • Instrumentalisierung dieser Ängste für den Auf- Unter Populismus ist der Versuch z.B. von Politikern bau von Feind-Freund-Schemata und Hetze ge- zu verstehen, politische Einstellungen, die in dieser gen Minderheiten; Ausprägung nicht unbedingt die eigenen Ansichten • Glaube an eine autoritäre Ordnungsmacht. repräsentieren müssen, die sie aber in größeren Tei- len der Bevölkerung vermuten, aufzugreifen, um die Steffens übernimmt hiermit die Populismus-Defi niti- eigenen Wahlchancen zu erhöhen und ihre poli- on von Raschke & Tils (2002) und bezeichnet diese tische Macht auszuweiten. Diese Begriffsbestim- politische Strategie als rechtspopulistisch, bei der mung gilt sowohl für den Rechtspopulismus als auch opportunistisch auf Verschiebungen der politischen für den Linkspopulismus. Normalitätsgrenzen reagiert und gleichzeitig zur Ver- stärkung rechtslastiger Vorurteile in der Mitte der Steffens (2003) geht in seiner Defi nition und histo- Gesellschaft beigetragen werde. rischen Analyse des Rechtspopulismus von Untersu- chungen des amerikanischen Soziologen Seymour Mit dem Blick auf die aktuelle Situation der Globali- Martin Lipset (1984) aus, der 1959 die These infrage sierung ist, diese Überlegung aufgreifend, zu fragen, stellte, ob die gesellschaftliche Mitte demokratisch wie sich die politischen Einstellungen in der Mitte sei und nur die Extremisten an beiden Rändern des der Gesellschaft und rechtspopulistische Strategien politischen Spektrums nicht-demokratische bzw. dik- verändern, wenn der soziale Druck in einer Gesell- tatorische Gesellschaftsformen anstreben würden. schaft zunimmt. Diese Frage ist also auf Globa- Lipset versucht hierbei historisch nachzuweisen, dass lisierungsprozesse zu beziehen, die derzeit zu Mi- der Nationalsozialismus eine Verbindung zu den aus grationsgesellschaften und heterogenen kulturellen

2 Vgl. zur Diskussion und Bewertung des Extremismus-Konzeptes Decker & Brähler (2006, 11ff. u. 157ff.), Butterwegge (2002, 19 f.) sowie Lang (1999)

2 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

Hintergründen bei gleichzeitig steigender gesell- lage mit dem Blick auf die historischen Erfahrungen schaftlicher Desintegration und wirtschaftlichen Un- der nationalsozialistischen Machtergreifung entwi- sicherheiten führen. ckelt wurde.

Der heutige Rechtsextremismus ist im Zusammen- Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus werden hang mit rechtspopulistischen Strategien zu betrach- oft begriffl ich gleichgesetzt. Hier würde also eine de- ten, denn er nutzt rechtspopulistische Argumentati- fi nitorische Differenzierung entfallen. Butterwegge onen, geht allerdings über die Anbiederung an in (2002, 18f.) geht sogar noch weiter und plädiert da- der Mitte der Gesellschaft erkannte, aus seiner Sicht für, auf den Begriff des Rechtsradikalismus zu ver- an das rechtsextreme Denken anschlussfähige Mo- zichten, da die Bezeichnung ‚radikal‘ in der aufkläre- tive hinaus. Für den heutigen Rechtsextremismus risch-demokratischen Tradition zu begreifen sei. Ein sind vor allem folgende Elemente charakteristisch3, radikales politisches Engagement bedeute dem ent- die sich über die Ideologie der Ungleichheit und der sprechend, gesellschaftliche Missstände von der Akzeptanz von Gewalt zusammenfassend charakte- Wurzel her zu beseitigen. Dies sei aber beim Rechts- risieren lassen: radikalismus nicht gegeben. • Dogmatismus, d.h. der Glaube an ein ideologi- sches Alleinvertretungsrecht, das intolerant durch- Andererseits gibt es wiederum die begriffl iche Diffe- gesetzt wird; renzierung, die den Rechtsextremismus vom Rechts- • das Vorhandensein deutlich antidemokratischer radikalismus durch die intensivere Ausprägung Einstellungen, u.a. die Bejahung des Führerprin- rechtslastiger Sichtweisen und Verhaltensweisen un- zips und autoritärer Unterwürfi gkeit, die Ableh- terscheidet, die für den Rechtsextremismus ange- nung der Menschenrechte und der Gewalten- nommen wird. Der Rechtsradikalismus besitzt hier- teilung, die Ablehnung parlamentarisch-pluralis- nach z.T. ähnliche Werte wie der Rechtsextremismus, tischer Systeme und Institutionen. allerdings sind diese hier moderater ausgeprägt, ins- • die Verherrlichung der nationalsozialistischen Ge- besondere wird auf die Gewaltausübung verzichtet. schichte und entsprechender nationalsozialis- Neugebauer (2000, 16) versucht dem entsprechend tischer Persönlichkeiten; den Unterschied zwischen Extremismus und Radika- • Rassismus/Antisemitismus/fremdenfeindliche lismus zu fassen: „In der amtlichen Terminologie fi n- Ausgrenzungsideologie; Abwertung und Exklusi- det ‚Radikalismus’ gelegentlich für Bestrebungen on von Minderheiten, wie z.B. Behinderte, Auslän- Verwendung, die zwar noch im Rahmen des verfas- der, jüdische Bürger, Hartz IV-Empfänger, Mit- sungskonformen Spektrums angesiedelt (also nicht glieder von Antifa-Gruppen; extremistisch) sind, aber Ziele verfolgen, die ‚außer- • ein aggressiver Nationalismus mit eindeutig völ- halb des Mehrheitskonsens’ liegen.“ Daher mache es kischer Konnotation verbunden mit der Ideologie also einen großen Unterschied, ob eine Partei als ex- der ; tremistisch oder radikal eingestuft werde. Stöss cha- • die Bereitschaft, die eigenen Überzeugungen mit rakterisiert den Rechtsradikalismus ebenfalls zwi- Hilfe der Überschreitung der rechtsstaatlichen schen für eine Demokratie noch akzeptablen und Grenzen, d.h. mit Hilfe von Gewalt, durchzusetzen. rechtsextremen Einstellungen befi ndlich – so Stöss (2005, 18): „Der Radikalismus markiert die Grenzzo- Wenn eine Partei extremistische4 Positionen in der Art nen zwischen den Extremismen und dem demokra- vertritt, dass sie eine verfassungsfeindliche Grund- tischen, durch die freiheitlich-demokratische Grund- position mit aktiv kämpferischen Mitteln und planvoll ordnung geschützten Bereich, wobei der Rechts- vertritt, um die freiheitlich demokratische Grundord- bzw. der Linksradikalismus noch dem verfassungs- nung zu beseitigen, kann sie durch das Bundesver- konformen Spektrum zuzurechnen ist.“ fassungsgericht verboten werden (Stöss 2005, 16). Dies gilt sowohl für links- als auch rechtsextremi- Man könnte vor dem Hintergrund dieser Begriffsbe- stische Parteien und entspricht dem Konzept der stimmungen also folgern: Die Ausprägung rechter ‚Wehrhaften Demokratie’, deren Verfassungsgrund- Vorurteile in Form von ‚Stammtischparolen‘ ist ein

3 Vgl. zur Defi nition des Rechtsextremismus u.a. Heitmeyer (1987), Pfahl-Traughber (2000), Massing (2001), Jaschke (2003), Jung (2003 a), Neugebauer (2001), Winkler (2001), Stöss (2005), Wochenschau-Verlag (2008, 178f.) 4 „Rechtsextremistisch“ und ‚rechtsextrem’ sollen hier begriffl ich gleichgesetzt werden.

3 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

Fall für die Sozialwissenschaften und die Pädagogik. Gelenkfunktion innerhalb der rechtsextremen Bewe- Rechtsradikale Einstellungen, wenn man diese Be- gung als parlamentarischer Arm, Kaderschmiede griffl ichkeit überhaupt verwenden will, sind nicht und rechtsextremen ‚Think-tank’ ein. Der NPD-Vorsit- nur ein Fall für die Sozialwissenschaften sondern zende Udo Voigt hat die dreifache Strategie der NPD auch für den Verfassungsschutz. Rechtsextremis- skizziert: Der Kampf um die Parlamente, der Kampf tische Einstellungen und Verhaltensweisen sind um die Straße und der Kampf um die Köpfe.8 dementsprechend Angelegenheit des Verfassungs- schutzes und der Strafbehörden. Der Aufmarsch 2009 in Dresden zeigte, dass nicht nur deutsche Neonazis hieran teilnahmen, sondern Wenn im weiteren Verlauf von rechtslastigem5 Den- sich die rechtsextreme Szene zunehmend internatio- ken in seinen unterschiedlichen Differenzierungen nal und Europa weit vernetzt. So nahmen daran auch gesprochen wird, sollen hiermit sowohl rechte Vorur- Neonazis aus Tschechien, der Schweiz, der Slowakei, teile (‚Stammtischparolen‘) als auch rechtsradikales Österreich, Schweden, Spanien, Dänemark und Fran- und rechtsextremes Denken gemeint sein – ein Ge- kreich teil.9 Der Rechtsextremismus bleibt auch unter dankengut in unterschiedlicher Intensität, aus dem den Bedingungen der Globalisierung und Inter- sich wiederum die rechtspopulistische Agitation be- nationalisierung der Lebensverhältnisse bzw. auch dient.6 gerade vor dem Hintergrund dieser Verhältnisse ein gravierendes gesellschaftliches Problem in der Es lässt sich zusammenfassend feststellen: Der Schritt Mehrzahl der EU-Länder. Auch wenn es Regionen von rechten Vorurteilen zum Rechtsradikalismus ist spezifi sche Besonderheiten der Ausprägung des fl ießend; der Unterschied zwischen Rechtsradikalis- Rechtsextremismus gibt, lassen sich einige über- mus und Rechtsextremismus liegt vor allem im Aus- greifende Kennzeichen des Rechtsextremismus in prägungsgrad und im Ausmaß einer Geschlossen- verschiedenen Ländern der EU analytisch feststel- heit des Weltbildes und insbesondere in der Akzep- len. Hierbei lässt sich eine deutliche Paradoxie in tanz der Gewaltausübung. Der organisierte Rechts- der Entwicklung dieses Phänomens wahrnehmen: extremismus und der Rechtsradikalismus greifen in Einerseits neigen die gesellschaftlichen Verhältnisse der Regel zu rechtspopulistischen Strategien und in den einzelnen EU-Ländern durch den Einbezug in versuchen hierüber anschlussfähig an erweiterte die EU und weitergehende Globalisierungsten- Kreise in der Bevölkerung zu werden. Wenn Politiker denzen zu ihrer Internationalisierung, andererseits wiederum sich rechtspopulistischer Mittel bedienen, führt gerade die Internationalisierung der Lebens- arbeiten sie dem organisierten Rechtsextremismus verhältnisse zu sozialpsychologischen Tendenzen, zu, der hierüber eine Aufwertung seiner ideolo- die national-chauvinistische Strömungen mit rechts- gischen Grundlagen erfährt. extremistischer Einfärbung stärken. Anstatt der An- erkennung fremdkultureller Lebensstile und Welt- anschauungen (Honneth 1992) und einer hiermit 3 Der organisierte Rechtsextremismus verbundenen Solidarität mit Fremden (Brunkhorst als europäisches, als deutsches und als 2002) löst die Globalisierung – zumindest bei einem hessisches Phänomen Teil der Bevölkerung hochindustrialisierter west- licher Staaten – tiefsitzende Ängste und damit ver- Es wird derzeit von einer Bewegung von 30.000 or- bunden den Wunsch nach nationaler Überschaubar- ganisierten Rechtsextremen in Deutschland ausge- keit, ‚gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit’ gangen, von denen 10.000 nicht nur Gewalt akzep- (Heitmeyer u.a. 2002) und nach Abgrenzung vom tieren, sondern als tatsächlich gewalttätig einzu- Fremden aus. Anstatt zu einer Dezentrierung der schätzen sind.7 Hierbei nimmt die NPD die zentrale politischen Perspektive unter den Bedingungen

5 Im Unterschied zu dem hier nicht gemeinten politisch-konservativen bzw. strukturkonservativen Denken, das nicht als rechtes Denken charakterisiert werden soll. 6 Jesse (2007, 8ff.) unterscheidet nicht zwischen Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus, sondern sieht vier unterschiedliche Stufungen des Rechtsextremismus vor – von Rechtsextremismus, der Gewalt anwendet, bis zu Rechtsextremisten, die auf Gewalt- anwendung verzichten und vor allem den Verfassungsstaat mit intellektuellen Mitteln delegitimieren. 7 Sylvia Griffi n: Rechte Demonstration der Stärke. In: HNA, 17.2.09, 2 8 Vgl. hierzu www.tagesschau.de/inland/neonaziaufmärsche1000.html, 17.2.09 9 Sylvia Griffi n: Rechte Demonstration der Stärke. In: HNA, 17.2.09, 2

4 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

postnationaler Konstellation (Habermas 1998) rische Studien feststellen11, welche die sich in gesell- kommt es zu einer Stärkung nationalstaatlicher Ego- schaftlicher Bedrängnis wähnende soziale Mitte ismen. Hinzu kommen sozioökonomische Verwer- empfänglich für Gedanken kultureller und rassischer fungen in größerem Maßstab (z.B. ‚Finanzkrise’) Überlegenheit, für autoritäre Omnipotenzphanta- und soziale Marginalisierungen sowie die hiermit sien und die Suche nach der starken rettenden Füh- verbundene Angst vor sozialer Exklusion, die zu ein- rungskraft bei gleichzeitig einfachen und mühelos fachen, populistischen Lösungen drängen. durchschaubaren politischen Lösungen macht.12 Versuche, die NS-Geschichte zu verdrängen, sich Das Auslassen emanzipatorischer Perspektiven und historisch zu entschulden, undifferenzierte und pau- die gegenwärtige Dominanz einer sich neoliberal schalisierende Vorwürfe gegen den israelischen ausprägenden Globalisierung, obwohl paradoxer- Staat bei gleichzeitig wachsender Fremdenfeindlich- weise alle notwendigen Informationen und das ge- keit, Islamophobie, Autoritätshörigkeit und dem genläufi ge Aufklärungswissen global mediatisiert emotionalen Ablehnen kritischer Systemalternativen vorhanden sind, begünstigen eine barbarisierte und bis hin zur Stigmatisierung der konzeptionellen Ver- destruktive gesellschaftliche Attitüde, die sich auch treter dieser Alternativen werden als Zeichen eines zunehmend als Jugendsubkultur mit Rechtsrock, Anwachsens rechtslastiger Vorurteile in der Mitte der Rechtslyrik, rechtsextremer Symbolik und rechtem Gesellschaft mit verdeckt rechtsradikalen bzw. -ex- Klamottenkult ausdrückt. tremistischen Konnotationen interpretiert (vgl. z.B. Heitmeyer u.a. 2002 u. 2003 b und 2008 u. 2009, Ahl- Globalisierungskritische Einstellungen in weiten heim/ Heger 2000, Reinhardt/ Tillmann 2003). Kreisen der Bevölkerung werden vom internationa- len Rechtsextremismus – verbunden mit völkischen Insbesondere die von der Forschergruppe um den Motiven – als ideologische Hintergrundfolie für Aus- Bielefelder Konfl iktforscher Wilhelm Heitmeyer vor- länderfeindlichkeit und rassistische Motive populi- genommenen Untersuchungen zur ‚Gruppenbezo- stisch genutzt – so Jürgen Gansel, NPD-Abgeordne- genen Menschenfeindlichkeit (GMF)’ machen deut- ter im sächsischen Landtag und einer der ideo- lich, dass rechte Einstellungen nicht nur einem ge- logischen Wortführer der extremen Rechten: „Die sellschaftlichen Randbereich zuzuordnen sind, son- Globalisten wollen den identitätskastrierten, wurzel- dern zunehmend einer Tendenz zur Normalisierung losen und gemeinschaftsunfähigen Konsumbürger, unterliegen. Das ‚Syndrom Gruppenbezogener Men- wie er gerade in multi-ethnischen Großstädten ge- schenfeindlichkeit’ (GMF) sei nicht nur ein Merkmal deiht. Dörfer und Kleinstädte könnten zum Kristallisa- rechtsextremer Gruppierungen, sondern enthalte tionspunkt eines fast erd- und bluthaften Widerstands Einstellungen, die aus der gesellschaftlichen Mitte werden.“10 entspringen und Ausdruck einer verschobenen Nor- malität sind. Die normative Grenzverschiebung und Durchaus in einem Zusammenhang mit der Wahr- die Umdefi nition des Normalen geschehe, wenn drei nehmung von Globalisierungsprozessen ist ein ge- Bedingungen zusammenwirken würden (Heitmeyer sellschaftliches Phänomen in den modernen Demo- 2003 a, 19) – wenn kratien analysierbar, das auf die schleichende Ero- dierung des zivilgesellschaftlichen Wertepotenzials 1. eine Herabsenkung der Hemmschwelle der Eliten in der Mitte der Gesellschaften hinweist (Ahlheim eintrete, Stimmungen gegen Schwächere oppor- 2005, 382ff). War zunächst der Begriff des ‚rechten tunistisch zu verwenden; Denkens aus der Mitte’ eher eine provozierende und 2. eine populistisch aktivierbare Zustimmungsmen- profi laktische These vereinzelter Sozialwissenschaft- talität in der Bevölkerung ausgeprägt sei; ler, so mehren sich inzwischen auch die empirisch 3. die Existenz eines deutlich konturierbaren Aggres- feststellbaren Anzeichen hierfür: Es lässt sich zuneh- sionsobjekts in Form sozialer Minderheiten vor- mend eine Ideologie der Ungleichheit über empi- handen sei.

10 Zitiert nach Patrick Gensing: Die Angst der NPD vor dem „Volkstod“, www.tagesschau.de/inland/meldung22508.html, 17.2.09 11 Vgl. zur empirischen Fundierung dieser Einschätzung z.B. Pfahl-Traugber (1999), Friedrich-Ebert-Stiftung (2000), Heitmeyer (2003 oder 2008) 12 Zur theoretischen Fundierung dieser Analysen vgl. Steffens (2003)

5 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

Alle drei Bedingungen seien derzeit in der BRD er- rung gezeigt werden kann (Heitmeyer 2003 d, 299 füllt. u. 301). Hierbei ist Normalität an Kontinuität und einer Abwehr von Veränderungen gebunden: „Nach GMF bezieht sich nicht auf einzelne Individuen, son- unseren Untersuchungen verstärken die ordnungstra- dern auf Gruppen, denen ein bestimmtes Merkmal genden Werte wie Tradition und Konformität die zugeordnet wird, das Anlass zu ihrer Stigmatisierung Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ....“ (Heit- und deren Einordnung als ungleichwertig ist. Das meyer 2003 d, 308) Syndrom basiert in allen miteinander verknüpften Facetten auf einem gemeinsamen Kern, der Abwer- Die Ursachen dieser normativen Grenzverschie- tung anderer, und kann, wenn es an einer Gruppie- bungen hin zur GMF sieht Heitmeyer in den gesell- rung ansetzt, auf die nächste überspringen: „Die schaftlichen Umwälzungsprozessen, die zu einer sich Feindseligkeit bleibt, was wechselt sind die Zielgrup- verschärfenden sozialen Desintegration und der da- pe: Juden, Homosexuelle, Muslime, Obdachlose – mit verbundenen Angst vor Anerkennungsverlusten Frauen.“ (Heitmeyer 2003 a, 19) und sozialem Abstieg führen: „Abwertung, Aus- grenzung und diskriminierendes Verhalten dienen GMF dringt zunehmend in die Normalitätsstandards dann dazu, die eigene – scheinbare – Überlegenheit der Deutschen ein, wobei dieses Problem – nach und Macht zu bewahren. Die eigene Integrations- und Heitmeyer (2003 c, 13) – alle europäischen Gesell- Anerkennungsbilanz wird so scheinbar verbessert.“ schaften beträfe. Normalitätsstandards erzeugen ei- (Heit meyer 2003 a, 19) nen Erwartungsdruck, das gesellschaftliche Verhal- ten hieran auszurichten. Normalitätsstandards haben Neben der bei 38 % der Befragten deutlich empfun- somit gesellschaftliche Konsequenzen. Um Normali- denen Verschlechterung der fi nanziellen Situation im tät zu empfi nden, ist die Defi nition des Devianten Zeitraum eines Jahres (hier: von 2002 bis 2003) sei notwendig, auf das mit dem Finger der Stigmatisie- u.a. das Gefühl sich verstärkender politischer Ein-

Facette Defi nition Werte (N = 3000) Rassismus abstammungsattributive Abwertung und 18 % Einstufung der eigenen rassisch-nationalen Herkunft als höherwertig Fremdenfeindlich- Konkurrenz und als Bedrohung wahrgenommene 59 % keit kulturelle Differenz

Antisemitismus feindselige Mentalität in Bezug auf Juden und 23 % deren Kultur

Heterophobie auf Angst beruhende Abwertung und Abwehr von in Bezug auf: ‚abweichenden’ Gruppierungen Obdachlose 37 % und Homosexuelle 36 %

Islamophobie Gefühl der Bedrohung durch und Ablehnung bis zu 65% - je nach Aspekt gegenüber Muslimen

Etabliertenvorrechte Vorrangrechte für die Alteingesessenen, bereits in 35 – 58% je nach Aspekt nationalen Grenzen Beheimateten

Sexismus Betonung der Unterschiede der Geschlechter bei 31 % gleichzeitiger Demonstration der männlichen Überlegenheit Tab. 1: Die Facetten der ‚Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit’ (GMF), Schema zusammengestellt nach Heitmeyer (2003 a, 19) u. Heitmeyer (2003 c, 15)

6 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

fl usslosigkeit für die Normverschiebung verantwort- extremistische Tendenzen – allerdings begrenzt auf lich. Politik werde als wirkungslos hinsichtlich der ei- Hessen. Hafeneger weist für zahlreiche hessische genen wirtschaftlichen Probleme erlebt. Gleichzeitig Kommunen die Existenz einer rechten Jugendsub- werde beobachtet, wie sich die soziale Spaltung der kultur nach und macht hiermit deutlich, dass eine Gesellschaft vergrößere: Reiche würden aus der derartige Subkultur sich nicht nur auf ostdeutsche Sicht der Befragten immer reicher und die Armen im- Bundesländer eingrenzen lässt.15 mer ärmer (90 %). Daher würden Ausländer zuneh- mend als nicht verkraftbare Belastung mit einem er- Nimmt man nun die Gesamtheit der europäischen heblichen gegen sie gerichteten Aggressionspoten- Wiederbelebung, des nationalem Erstarken und der zial erlebt. regionalen Verankerung einer rechten Bewegung in den Blick, dann ist – neben den Nationalstaaten und Die neueren für Deutschland repräsentativen, über regionalen Administrationen auch die EU aufgefor- einen Zeitraum von 10 Jahren als Längsschnittstudie dert, sich verstärkt mit diesen die Demokratie gefähr- konzipierten Erhebungen (n = 3000) der Gruppe um denden Tendenzen und Gruppierungen zu befassen. Heitmeyer (z.B. Heitmeyer 2008 u. 2009) machen Wenn die EU nicht nur ein formaler und ökono- deutlich, dass sich diese Tendenzen keineswegs ent- mischer Staatenzusammenhang sein will, muss sie schärft haben.13 Die derzeit aktuellste Studie der For- sich vermehrt um die kulturelle Integration, um den schungsgruppe um Heitmeyer macht für 2008 insbe- Umgang mit Migration und kultureller Verschieden- sondere ein differenziertes Bild in Bezug auf die Aus- heit kümmern und muss sich intensiver mit den prägung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit diesen Zielsetzungen entgegenstehenden, diese zwischen Ost- und Westdeutschland deutlich. Wäh- Ziele bekämpfenden Rechtstendenzen in Europa be- rend die Werte für GMF im wirtschaftlich überwie- fassen. gend stabilen Jahr 2008 in Westdeutschland in ver- schiedenen Facetten etwas zurückgingen, blieben Internationale Erfolge des organisierten Rechtsradi- sie in vier Teilbereichen (Rassismus, Islamophobie, kalismus und Rechtsextremismus mit rechtspopuli- Etabliertenvorrechte, Abwertung von Obdachlosen) stischen Strategien in verschiedenen europäischen in den neuen Bundesländern bei einer stabilen Stei- Ländern, wie z.B. – neben Deutschland – Holland, gerungstendenz. Heitmeyer (2009, 38) fasst zusam- Frankreich, Österreich, England, Polen und Italien, men: „Ein paralleler (also ‚vereinter’) Rückgang in der die an den soeben skizzierten Phänomenen ausge- Abwertung und Diskriminierung schwacher Gruppen richtet sind und hierin wurzeln, machen die Notwen- fi ndet also auch im zwanzigsten Jahr der Vereinigung digkeit – trotz der sicherlich vorhandenen regionalen nicht statt.“ Unterschiede im Auftreten des Rechtsextremismus – deutlich, verstärkt ebenfalls international auch über Die Ursachen der normativen Grenzverschiebungen den Beitrag der schulischen Bildung in Bezug auf die hin zum GMF sieht Heitmeyer in der sich verschär- Aufklärung gegenüber rechtsextremistischen Ten- fenden sozialen Desintegration, deren Ursachen wie- denzen konzeptionell zu refl ektieren. Da der organi- derum in der Massenarbeitslosigkeit, in politischer sierte Rechtsextremismus nicht nur in Deutschland Einfl usslosigkeit und in der Instabilität sozialer Bin- Wahlerfolge und Erfolge bei Massenmobilisierungen dungen zu suchen seien. Hierbei führe vor allem die aufweist und entsprechende Bildungsbemühungen Angst vor Anerkennungsverlusten und sozialem Ab- als Antwort hierauf auch im internationalen Kontext stieg aufgrund drohender Arbeitslosigkeit zu medial versucht werden müssten, gilt es, in anderen europä- inszeniert rechtspopulistisch aufgeladenem Denken ischen Ländern entwickelte Konzeptionen analytisch mit den entsprechenden Exklusionsversuchen ge- zur Kenntnis zu nehmen und diese auf ihre Transfer- genüber den gesellschaftlichen Minderheiten, über möglichkeiten für Bildungsprozesse in Deutschland deren Stigmatisierung noch die eigene Aufwertung hin zu überprüfen bzw. eigene pädagogische Kon- gelingen kann. zepte international zu kommunizieren.

Auch Hafeneger14 untersucht bereits seit einer Reihe Chancen für eine Umkehrung bzw. Begrenzung der von Jahren auf einer empirischen Grundlage rechts- gesellschaftlich zunehmenden Tendenz zu GMF las-

13 Vgl. hierzu auch Hufer (2008) und Widmaier (2008) 14 Vgl. z.B. Hafeneger (1997), Hafeneger/Jansen (2001) und Hafeneger (2003, 2007) 15 Weitere Ergebnisse der Forschungsgruppe um B. Hafeneger im Kap. 4 des Basisartikels

7 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

sen sich nach Heitmeyer in einer intensivierten bzw. den. Diese Befürchtung, keinen Arbeitsplatz mehr zu revitalisierten Demokratie erkennen: fi nden, keinen gesicherten Platz in einer zukünftigen Gesellschaft zu haben, ist in der Rekonstruktion der „Die Entwicklung und Ausweitung feindseliger Men- psychosozialen Situation von Jugendlichen nicht zu talitäten auf dem Hintergrund sozialer Desintegrati- vernachlässigen. Auch wird eine postnationale Kon- onsbefürchtungen oder -erfahrungen scheinen sich stellation, die durch eine wachsende Anforderung an nur dann begrenzen zu lassen, wenn auch die Demo- Jugendliche gekennzeichnet ist, globale Vernet- kratieentleerung, an der mehrere Akteursgruppen be- zungen und Aktivitäten auf ihre Funktion für lebens- teiligt sind, in einen Demokratiezuwachs verkehrt weltliche Prozesse zu durchschauen, die psycho– wird, um positive Effekte zur Entwicklung der Integra- soziale Situation insbesondere von Jugendlichen tionsqualität dieser Gesellschaft zu erreichen.“ (Heit- verschärfen, die keinen Zugang zu angemessenen meyer/ Mansel 2003, 57) Bildungsprozessen für die kognitive und emotionale Bearbeitung und Verkraftung dieser Situation haben Hieran anknüpfend ist m.E. die Notwendigkeit und und diese anfällig für simplifi zierende Formen Relevanz einer erheblichen Ausweitung und qualita- po litischen Denkens werden lassen. Insbesondere tiven Niveausteigerung schulischer und außerschu- die im europäischen Kontext im Rahmen des Civic- lischer politischer Bildung sowie die Intensivierung Education-Projekts erhobenen Untersuchungser- eines demokratischen Schullebens zu begründen, gebnisse von Oesterreich (2002) belegen diesen ohne zu meinen, dass hierüber bereits andere Varia- fatalen Zusammenhang zwischen fehlender Bildung blen, wie z.B. die soziale Desintegration und die Exis- und einer Ausprägung von Elementen rechtsextre- tenzangst in Bezug auf eintretende oder drohende men Denkens. Vernichtung von Arbeitsplätzen oder die zuneh- mende Reichtumsschere, nivelliert sein würden – Während Heitmeyer u.a. die Hauptursache rechtslas– Variablen, die in den sozioökonomischen Strukturen tigen Denkens in der sozioökonomischen Entwick- und Dynamiken einer bislang noch unzureichend lung sehen, weist Oevermann (1998, 86) auf soziali- regulierten globalisierten Gesellschaftsentwicklung sationsbedingte Faktoren hin: angelegt sind. Dennoch kann trotz dieser Probleme „Fragt man nach den einfachsten sozialen Merkma- nicht auf eine Forcierung von Bildungsprozessen len, die den gegenwärtigen Rechtsextremismus, vor verzichtet werden, die eine mündige Reaktion auf allem aber auch die kriminellen Täter kennzeichnen, rechtslastiges Gedankengut, von rechten Stamm- dann sind die Merkmale ‚adoleszent’ und männlich, tischparolen bis hin zu rechtsextremem Äußerungen, also ein enger Altersbereich von männlichen Jugend- in einem präventiven Sinne vorbereiten helfen. lichen, die bei weitem aussagekräftigsten und pro- gnostisch die zentralen Variablen. Allein das verweist schon darauf, dass es sich hier um ein mit der Adoles- 4 Zur politischen Identifi kationssituation zenzkrise verbundenes Problem handeln muss.“ von Jugendlichen im Rahmen globalisierter Verhältnisse Mit Bezug auf die Wahlerfolge rechtspopulistisch agierender Parteien in Deutschland, Österreich und Auf diese empirisch gestützte Analyse gesellschafts- Italien und Ergebnisse der Shell-Studie nimmt Stef- politischer Einstellungen und Entwicklungstenden- fens (2003) Bezug auf die in weiten Kreisen der Be- zen trifft nun die Frage nach der Einschätzung und völkerung (und insbesondere auch in der Jugend) Bewertung rechtslastiger Identifi kationsangebote für vertretene Ausländerfeindlichkeit. So würden – laut Jugendliche. Hierbei muss zusätzlich die psychosozi- der Shell-Studie 2000 – 27 % der repräsentativ be- ale Situation von Jugendlichen unter globalisierten fragten Jugendlichen einen hohen Wert für Auslän- Verhältnissen betrachtet werden. Diese Situation derfeindlichkeit und 45,9 % der Jugendlichen einen kann nur kurz skizziert werden. als ambivalent zu kennzeichnenden Wert für Auslän- derfeindlichkeit zugeordnet bekommen. Hierin sieht Zum einen muss sicherlich die auch in den verschie- Steffens (2003, 93) „eine beträchtliche Ressource denen Shell-Studien immer wieder nachgewiesene eines rechtspopulistisch aufzuladenden ‚Extremismus Zukunftsangst der Jugendlichen thematisiert wer- der Mitte’“.

8 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

Insbesondere bedenklich scheinen Steffens die in (n = 29, 14-13 J., 24 m./ 5 w.) und kam zusammenfas- der Shell-Studie ermittelten hohen Zustimmungs- send zu folgendem Ergebnis: „Die Jugendlichen ha- werte für die These, dass der Ausländeranteil in ben z.Z. der Interviews eine längere gemeinsame Cli- Deutschland zu hoch sei, gerade bei denjenigen Ju- quenbiografi e ‚hinter sich’ und sind in die Clique und gendlichen, die zwar zu strukturkonservativem Den- deren Lebensweise eingebunden. Sie erfahren hier ken neigen, aber in der Beschleunigung des Globali- auf dem Weg durch ihre Jugendphase und in ihren sierungsprozesses für sich in gewisser Weise eine Prozessen der Identitätsbildung mit den zugehörigen ‚beutegermanische Aufstiegschance‘ sehen (Steffens Verunsicherungen und Entwicklungsherausforde- 2003, 94). rungen – vorübergehende oder langfristige – adoles- zente Prägungen und einen Vergesellschaftungsmo- Hafeneger (2003) untersucht speziell die jugendli- dus ‚nach rechts’. Während die ‚weiche’ Clique eher che Identitätslage im Zusammenhang mit rechtsla- von einem ‚Ethnozentrismus der Gefühle’ geprägt ist, stigem, rechtsradikalem und rechtsextremem Den- die ‚mittlere Clique’ ideologisch (fremdenfeindlich) ar- ken. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer gumentiert, sich bekennt und Vorurteile verfestigt rechtskulturellen Szene und defi niert dies wie folgt: sind, haben wir es bei der ‚harten’ Clique mit einem - „erstens der jugendkulturelle Habitus mit seiner Überzeugungsrassismus zu tun; sie ist auch organisa- Ästhetik (Sprache, Musik, Outfi t, Kleidung, Frisur, torisch in das ‚braune Netz’ eingebunden.“ (Hafen- Tätowierungen, Accessoires, Konzertbesuche, Tref- eger 2003, 42) fen u.a.), - zweitens die ideologischen Facetten (insbesondere Auch eine dritte Studie von Hafeneger im Jahr 2001, Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit, Ethnozentris- die mit Hilfe der Befragung von Jugendpfl egern in mus und auch Rassismus, Ethnisierung von sozialen drei hessischen Landkreisen durchgeführt wurde, Problemen/ Fragen), konnte in diesen Landkreisen die Existenz einer rech- - drittens mehr diffuse oder mehr ideologisch kontu- ten Jugendszene nachweisen, deren Spannweite rierte Protestelemente (es ist ‚in’ rechts und gegen von Hören rechter Musik, über ein Repertoire an die etablierte Politik, demokratischen Parteien und rechten Sprüchen, über hasserfüllte Fremdenfeind- ‚die’ Erwachsenengesellschaft zu sein), lichkeit bis hin zu hoher Gewaltbereitschaft und ge- - viertens die Bedeutung und das Ausmaß von walttätigen Auseinandersetzungen, u.a. im alkoholi- rechtsextrem, fremdenfeindlich und antisemitisch sierten Zustand, reicht. (Hafeneger 2003, 42) motivierter Gewalt, die vor allem von männlichen jugendlichen und jungen Männern ausgeht.“ Ebenfalls dürfte die Rechtsextremismus-Studie der (Hafeneger 2003, 39f.) Friedrich-Ebert-Stiftung (2000) deutlich gemacht ha- ben, dass zumindest rechtslastiges Denken nicht nur In seiner ersten 1999 veröffentlichten Studie hat in verschwindend kleinen Minderheiten verbreitet Hafenegers Befragung professioneller Jugendpfl e- ist, sondern seine Bezüge auch in der gesellschaft- ger in Hessen ergeben, dass es in 38 Gemeinden lichen Mitte der Bundesrepublik Deutschland hat. ‚rechte Cliquen’ gab, die sich z.T. privat, z.T. in öffent- Mit Hilfe 3007 persönlich-mündlicher Interviews wur- lich zugängigen Jugendräumen trafen. Sie „agieren de im Rahmen dieser Studie die bundesdeutsche verdeckt oder offen, bekennen und verhalten sich Bevölkerung (ab einem Alter von 14 Jahren) reprä- (Sprüche, Witze, Lieder, Parolen, Schmierereien) und sentativ befragt. Am Beispiel der Haltung zu Auslän- sind ideologisch und kulturell (mit Musik, Outfi t, Klei- dern soll verdeutlicht werden, wie dies mit dem Grad dung, Konzerte besuchen) unterschiedlich verfestigt; der Zufriedenheit mit dem politischen System der z.T. agieren sie auch gewaltförmig (gegen auslän- Bundesrepublik Deutschland einhergeht (s. Tab. 2). dische Jugendliche, ihre politischen und jugendkultu- rellen ‚Feinde’) und sind organisatorisch eingebunden Die Ursachen dieser Entwicklung lassen sich aus der (Skinhead-Kultur, NPD/JN).“ (Hafeneger 2003, 40). Sicht der Studie wie folgt zusammenfassen: „Auf der Suche nach Einfl üssen auf rechtsextreme Ein- In einer zweiten Studie 2001 abgeschlossenen Stu- stellung betrachten die Autoren der Studie auch sozi- die untersuchte Hafeneger mit Hilfe qualitativer In- ale und psychische Faktoren. So ergab die Studie un- terviews exemplarisch drei ‚rechte Jugendcliquen’ ter anderem, dass nicht nur so augenfällige Umstände

9 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

Statement Bin mit dem politischen System......

... voll und ganz/ ... teilweise/ gar nicht teilweise einverstanden einverstanden

Ausländische Männer machen deutsche Frauen und 37% 42% Mädchen an, und zwar mehr als deutsche Männer.

Ausländer sind krimineller als Deutsche. 29% 36%

Die Ausländer nehmen uns die Arbeit und 28% 34% Wohnungen weg.

Ich habe Verständnis für Leute, die Gewalt gegen 7% 12% Ausländer anwenden.

Aktionen gegen Ausländer fi nde ich in Ordnung, 10% 15% denn irgendwer muss doch was tun.

Ich kann verstehen, dass die Jugendlichen immer 18% 27% gewalttätiger werden – sie müssen sich wehren.

Ausländer provozieren durch ihr Verhalten selbst 48% 54% die Ausländerfeindlichkeit.

Deutsche Frauen sollten keine Ausländer heiraten. 32% 41%

Mich stören die vielen Ausländer. 33% 45%

Tab. 2: Einstellungen zu Ausländern und Zufriedenheit mit dem politischen System in der BRD, vgl. Friedrich- Ebert-Stiftung (2000, 16) (N = 3007) wie Arbeitslosigkeit eine Rolle spielen können, son- analysierbar ist, dann kämen hier – neben der Be– dern auch die Sicht des Menschen auf sich selbst. Ein seitigung der sozioökonomischen Ursachen rechts- kalter Umgang in der Familie, insbesondere Ableh- lastigem Denkens – einerseits der familiären Soziali- nung oder Überforderung durch den Vater, eine ins- sation und in Vernetzung hiermit der schulischen gesamt depressive Grundstimmung und Ängstlich- Bildung und insbesondere den politischen Sozialisa- keit, das Gefühl der Überforderung oder der Anspan- tions- und Bildungsprozessen im schulischen Milieu nung bereiten nicht selten den Boden für rechtsex- eine besondere präventive Verantwortung zu. treme Einstellungen.“16 Diese pädagogische Verantwortung müsste auch In diesem Zusammenhang soll nun eine die Arbeit in ausgeweitet werden auf die zum großen Teil von der Schule betreffende These formuliert werden: Marginalisierung betroffenen Kinder und Jugend- Wenn eine zunehmende Tendenz einer größeren lichen mit Migrationshintergrund insbesondere in Anzahl von Jugendlichen in Richtung auf eine mit sozialen Brennpunkten, die sich untereinander eben- rechten Vorurteilen belastete bis rechtsextrem aus- falls z.T. mit erheblichen Vorurteilen und rassistischen geprägte Subkultur bzw. in Richtung auf eine Aus- Ressentiments begegnen, denen im Rahmen einer prägung rechtsextrem gefärbter politischer Hal- interkulturellen Pädagogik präventiv entgegen gear- tungen als „Ausdruck moralisch und ethisch defi zi- beitet werden muss.17 tärer Adoleszenzkrisen-Bewältigung“ (Oevermann 1998, 125) und als „Resultat gescheiterter Bildungs- Das Kriminologische Institut Niedersachsen befragte und Vergesellschaftungsprozesse“ (König 1998, 213) nun im Auftrag des Bundesinnenministeriums 2007/

16 http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/artikel.php?id=39&kat=39&artikelid=2678, 12.9.09 17 Vgl. die Beiträge von Haas und Wendt im vorliegenden Buch

10 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

08 ca. 45.000 Schüler und Schülerinnen der neunten stellbaren Hintergrund verlagert sich der Schwer- Klassen in 61 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten punkt politischer und auch allgemein schulischer Landkreisen im Rahmen einer repräsentativen Studie Bildung erheblich, so die zweite, die Bildungsarbeit zum Thema „Jugend und Gewalt“ u.a. auch zu rechts- in der Schule betreffende These: Wurde bisher das extremen Bezügen. Hierbei sagten 2,7 % der Be- Thema ‚rechtslastiges Denken, Rechtsradikalismus fragten, sie hätten „jemanden stark geschlagen, weil bzw. Rechtsextremismus unter Jugendlichen’ als ein er Ausländer war“. 2,8 % der Jugendlichen richteten Randgruppenphänomen aus einer eher distanzierten aus dem gleichen Grund Sachschäden an. Nach die- Sichtweise in der Politikdidaktik und im Politikunter- ser vom Innenminister Schäuble vorgestellten Studie richt behandelt, so ergibt sich – insbesondere über sind 40,4 % der Jugendlichen als ausländerfeindlich die empirischen Studien der Forschungsgruppen einzustufen und 14,4 % als „sehr ausländerfeindlich“. um Heitmeyer, aber auch um Hafeneger, sowie die Männliche Jugendliche sind im Durchschnitt auslän- aktuellen Daten des Kriminologischen Forschungs- derfeindlicher als weibliche Jugendliche (vgl. Tab. 3). instituts Niedersachsen – eine andere Zielrichtung Während bei Haupt- und Förderschülern jeder 10. und methodische Vorgehensweise in der Schule und angab, Mitglied einer rechtsextremen Gruppe zu insbesondere auch im Geschichts- und im Politikun- sein, war dies nur bei jedem 50. Gymnasialschüler terricht. Wenn man davon ausgehen muss, dass es der Fall. Schichtzugehörigkeit und Bildungsniveau sich hierbei nicht um eine weit entfernte Minderheit, scheinen offensichtlich einen Bezug zur Ausprägung sondern eher um einen für rechtslastige Ansichten rechtsextremer Einstellungen zu haben. Jugendliche anfälligen Versuch eines sich im Jugendalter befi nd- sind insgesamt gesehen wesentlich häufi ger in einer lichen Durchschnittsschülers geht, der unter den rechtsextremen Gruppe organisiert als in den demo- psychosozialen Belastungen der Adoleszenzphase kratischen Parteien oder den Gewerkschaften. Das um eine Orientierung und eine Zukunftsperspektive Kriminologische Forschungsinstitut (2009) resümiert: in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden „Bei einer multivariaten Analyse zu den Faktoren, die Welt ringt, dann betrifft dies grundsätzliche Erwä- Rechtsextremismus begünstigen, haben sich eine gungen zu einer Didaktik politischer Bildung. Es geht niedrige Fähigkeit zur Selbstkontrolle, innerfamiliäre dann in der politischen Bildung nicht um einen als Gewalt, die intensive Nutzung medialer Gewalt sowie randständig erklärten, weit entfernten Personenkreis häufi ger Alkoholkonsum als Belastungsfaktoren er- bzw. um einzelne politisch verirrte Jugendliche aus wiesen.“18 extremistischen Milieus, sondern um eine größere Anzahl von Schülern, die dem Lehrer täglich gegen- Diese erschreckenden Zahlen machen noch einmal übersitzen. Es muss daher nicht nur über rechtsex- deutlich, dass rechtslastige Tendenzen nicht ein Pro- treme Jugendliche gearbeitet sondern vor allem mit blem einiger weniger marginalisierter und randstän- Jugendlichen ge arbeitet werden, die selbst zu einem diger Jugendlicher sind. Vor diesem empirisch fest- größeren Anteil rechtslastige Einstellungen und Ver- haltensweisen auf weisen.

Merkmal weiblich männlich insgesamt Mitglied in einer rechtsextremen Gruppierung oder 2,6% 4,9% 3,8% Kameradschaft

Als rechtsextrem eingestuft 2,3% 8,1% 5,2% Als sehr ausländerfeindlich einzustufen 9,6% 19,0% 14,4% Als ausländerfeindlich eingestuft 34,5% 46,4% 40,6% (sehr + eher ausländerfeindlich)

Tab. 3: Rechtsextreme Einstellungen und Mitgliedschaften bei Jugendlichen (n = 44.600, ca. 15-jährige Jugendliche (Jgst. 9), Befragungszeitraum 2007/08)19

18 Vgl. Goddar & Schmidt ( 2009, 1), http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb107.pdf, 19.3.09 oder in der Zu-sammenfassung http:// www.dw-world.de/dw/article/0,,4105755,00.html, 17.3.09 19 ebd.

11 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

Steffens (2003, 96) konstituiert in diesem Zusammen- kratischen Verhaltensweisen im Unterricht und in au- hang als ein wichtiges Ziel politischer Bildung eine ßerunterrichtlichen Situationen und Strukturen ver- Art „normalisierungsresistente Zivilcourage“, die den bindet, dann wird dies nicht ohne Einfl uss auch auf Mut vor den an rechtslastiger Normalisierung inte- psychosoziale Lernprozesse sein. Dementsprechend ressierten Gruppen und vor dem hieran interessier- ist gesellschaftlich und auch kultusministeriell darauf ten gesellschaftlichen Kontext enthält, sich gegen zu achten, dass die politische Bildung in den Schulen einen Normalisierungsdruck zu stemmen, der auf Ex- entsprechend mit Ressourcen ausgestattet ist, damit klusion und Abwertung bzw. Inklusion und Aufwer- durch die Stärkung staatsbürgerlichen Denkens und tung ausgerichtet ist. der bewussten Demokratieerziehung auch eine Wehrhaftigkeit gegen rechtslastige Einstellungen auch auf der Persönlichkeitsebene gefördert wird. 5 Konsequenzen für die pädagogische Dies stellt den Anteil des Konzepts der ‚Wehrhaften Arbeit in der Schule: Demokratie’ auf der schulischen Ebene dar. Schüler- Welche präventiven und reaktiven innen und Schüler verbringen ebenso wie ihre Möglichkeiten haben Schulen in der Lehrkräfte einen großen Teil ihrer Lebenszeit in der Schule, so dass hier durchaus Möglichkeiten einer Auseinandersetzung mit rechtsex- „Erziehung zur Mündigkeit“ und eines ernstzuneh- tremem Denken und Verhalten? menden Beitrags dazu vorhanden ist, dass sich eine barbarisierte Grundhaltung und dass „sich Auschwitz 5.1 Die Rolle der politischen Bildung nicht wiederhole“ (Adorno 1970, 109) – auch nicht in und die Verantwortung der anderen einer modernisierten Variante. Fächer Schule ist allerdings kein alleiniges Allheilmittel ge- Sozialwissenschaftlich orientierte politische Bildung gen gesellschaftlich produzierte Krisen und Defi zite. in der Schule muss gegenwärtige gesellschaftliche Dies würde den Bildungsauftrag und die institutio- Krisenerscheinungen des politischen Systems kon- nellen Möglichkeiten der Schulen überfordern. So struktiv bearbeitend aufgreifen und hiermit den ihr können beispielsweise unter dem Einfl uss sozialer möglichen Beitrag zur Lösung dieser Krisen beitra- Abstufungsängste sich verfestigende rechtsextreme gen, ohne allerdings gegen das Kontroversitäts- und Einstellungen und Weltbilder nur noch bedingt Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsens‘ durch schulische Situationen und Ereignisse beein- zu verstoßen. Jung (2001, 18) hat den politikdidak- fl usst werden. Die Schule ist nur ein einziger Einfl uss- tischen Rahmen für eine derartige gesellschafts- faktor von vielen Einfl üssen, die zur Bildung poli- kundliche Interventionstätigkeit markiert, indem er tischer Einstellungen und Handlungsweisen führen. formuliert: „Sozialverträglichkeit, Ökologieverträg- lichkeit und Demokratieverträglichkeit werden so zu Der präventive pädagogische Umgang und das Rea- inhaltlichen Zielsetzungen und Normen des Handelns. gieren auf rechtspopulistische Tendenzen ist aller- Sie kennzeichnen einerseits einen Minimalkonsens, dings nicht nur eine Angelegenheit der gesell- auf dessen Grundlage sich die Ich-Bildung und Selbst- schafts-wissenschaftlich orientierten Fächer. Auch in fi ndung unter Individualisierungs- und Pluralisierungs- zahlreichen anderen Fächern, wie z.B. Deutsch, Eng- bedingungen entwickeln kann, und andererseits ei- lisch, Ethik, Philosophie, Musik, Kunst oder Religion, nen Minimalanspruch, hinter den sozialwissenschaft- gibt es geeignete Anknüpfungsmöglichkeiten für lich orientierte Politische Bildung nicht zurück fallen die Bearbeitung dieser Thematik. Auch kann der pä- darf.“ dagogische Zugang fächerübergreifend oder in projektförmiger Arbeit eröffnet werden, im Rahmen Ein auf die Mündigkeit der Schüler abzielender Poli- dessen mehrere Lehrkräfte beispielsweise zusam- tikunterricht, der gekonnt die wissensbezogene menarbeiten. Sachkompetenz, die politische Analysefähigkeit, die politische Urteilsfähigkeit sowie die methodischen Über diese eher unterrichtlichen Aktivitäten hinaus Kompetenzen der Schüler und Schülerinnen fördert, aber gilt es genauso, das Konzept einer demokra- stellt sicherlich ein wichtiges Präventionsmittel ge- tischen Schule zu verwirklichen, im Rahmen derer gen das Entstehen und die Verstärkung rechtslas- Kinder und Jugendliche lernen, wie gegenseitige tiger Einstellungen dar. Wenn sich eine derartige Achtung, Anerkennung, Toleranz und Partizipation politische Bildung mit wertschätzenden und demo- sich im alltäglichen Schulleben auswirken.

12 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

5.2 Wer ist im Rahmen pädagogischer Die Möglichkeiten der Schule und der Jugendarbeit Arbeit erreichbar? müssten vor allem bei den Gruppen 3 und 4 einset- zen, die zwar schwierig zugängig sind, aber bei de- Wahrscheinlich kann der Unterricht, aber auch das nen eine gewisse Offenheit und politische Indiffe- Schulleben, nicht mehr jede/-n Schüler/-in im ausrei- renz, überlagert von Problemen des Elternhauses chenden Maße erreichen – auch wenn kein Jugendli- und der Pubertät, vorhanden sind. In diesen Fällen ist cher aufgegeben werden darf, sich für jeden Ler- – neben persönlichen Gesprächen mit den Jugend- nenden eingesetzt werden muss. Manchmal muss lichen – insbesondere eine intensive Zusammenar- die Schule aber auch die Mitschüler vor einzelnen beit mit den Eltern des betroffenen Jugendlichen Jugendlichen oder Jugendcliquen schützen. Hierbei notwendig. Besorgten Eltern ist auch die Organisati- muss die rechtslastige Szene an einer Schule genau on in gesprächsorientierten Selbsthilfegruppen zu- beobachtet werden. Die nachfolgende Übersicht sammen mit ähnlich betroffenen Eltern anzuraten, im nach Massing (2001) (Abb. 1) zeigt, dass die Grup- Rahmen derer sie sich über rechtliche Informationen pen 1 und 2 rechtsextremer Jugendlicher wahr- austauschen, über Wege gegenseitig informieren, scheinlich für pädagogische Arbeit als weitgehend mit der schwierigen Situation umgehen lernen kön- verloren angesehen werden müssen. Hier dürften nen sowie eine Kontaktaufnahme mit den Jugend- am Ende der Interventionen letztendlich strafrecht- ämtern beraten werden kann. In Hessen kann hier liche Verfolgung und Sanktionierung zum Zuge kom- bei problematischen Situationen auch das „bera- men müssen, wenn keine Verhaltensänderung auf- tungsNetzwerk Hessen“ von Lehrern und Eltern kon- grund pädagogischer Maßnahmen erfolgt. Auch taktiert werden.20 Falls in einer Schule Jugendliche sind propagandistische Aktivitäten auf dem Schul- aus den Gruppen 1 und 2 aufgrund eines Zusam- hofgelände oder in unmittelbarer Nähe der Schulen menwirkens pädagogischer Arbeit in der Schule, von genau wahrzunehmen und entweder mit ordnungs- Gesprächen mit den Eltern und eigener Einsicht die rechtlichen oder polizeilichen Mittel zu begegnen. Bereitschaft signalisieren, aus der rechtsextremen Der „Kampf um die Schulhöfe“ der NPD sowie das Szene aussteigen zu wollen, sollten die Betreuungs- Verteilen brauner Schulhof-CD’s muss auf eine ent- lehrer/-innen sich an bundes- und landesweit aktive schiedene Gegenwehr bei den hierfür Verantwort- Projekte wie XENOS, IKARus oder EXIT wenden, um lichen stoßen. Auch das Präsentieren rechtsextremer hier Hilfe zu erhalten.21 Musik im Rahmen von Schulkonzerten und bei in der Schule veranstalteten Festen sowie das an einer Insbesondere ist aber zu fordern, dass auch die au- Schule verbreitete Verwenden rechtsextremer Insig- ßerschulische Jugendarbeit – gerade in sozialen nien muss selbstverständlich Konsequenzen haben Brennpunkten und belasteten Regionen – wieder und kann Ausdruck eines sich bereits verfestigenden stärker gefördert wird. Symbolische Sonderpro- Kerns rechtsextremer Jugendcliquen an der Schule gramme sind vielleicht vereinzelt hilfreich, aber rei- sein. Lehrer und Lehrerinnen dürfen hier nicht weg- chen nicht aus. Es geht um die Aufwertung und Fi- sehen, sondern müssen intervenieren. nanzierung einer Jugendarbeit, die sich rechtsextre- mistischen Tendenzen unter Jugendlichen und vor allem den rechtsextremen Rekrutierungsversuchen offensiv stellt.

20 Vgl. Elterninformation: Mein Kind – (k)ein Nazi?!, Broschüre, www.beratungsnetzwerk-hessen.de 21 Vgl. zu XENOS: http://www.esf.de/portal/generator/6592/xenos.html, 27.8.09 und zu EXIT: www.exit-deutschland.de, 12.9.09, E-Mail IKARus: [email protected]

13 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

Rechtsextrem organisierte Jugendliche

Gruppe1 Rechtsextremismus in allen drei Dimensionen, hohe Intensität und starke Verfestigung, Gewaltakzeptanz bis Gewaltanwendung.

Rechtsextreme, in Cliquen eingebundene Jugendliche Gruppe 2 Mehrere rechtsextreme Elemente auf zwei oder drei Dimensionen, mittlere bis starke Intensität und Verfestigung, zum Teil Gewaltakzeptanz in Form von rechtsextremem Provokationsverhalten.

Rechtsorientierte Jugendliche Rechtsextreme Versatzstücke auf der Ebene der Inhalte, der Werte und der Persönlichkeitsmerkmale, Inhalte: Demokratieunzufriedenheit; kein bis geringes Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen und Akteure; kein Glaube an die Gruppe 3 Responsibilität von Politik; gelegentliche Zustimmung zu nicht-demokratischen politischen Systemen und Regierungsformen, Ausländerfeindlichkeit. Werte: negative Grundeinsteilung gegen Minder- heiten Persönlichkeitsmerkmale: geringe Ambiguitätstole- ranz; mittlere bis geringe Intensität und Verfestigung.

Normaljugendliche mit rechtsextremem Gefährdungspotenzial Inhalte: diffuse negative Einstellung gegen die Funkti- onsfähigkeit der Demokratie; geringes Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen und Gruppe 4 Akteure: geringer Glaube an die „externe politische Effektivität“ d.h. an die Responsibilität von Politik, ausländerfeindliche Vorbehalte. Werte: Orientierungslosigkeit, Sinndefi zite Persönlichkeitsmerkmale: diffuse Unzufriedenheit, Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Eindeutigkeit.

Abb. 1: Pädagogische Einwirkungsmöglichkeiten (modifi ziert nach Massing (2001), Länge des Pfeils = Größe der Einwirkungsmöglichkeit)

14 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

5.3 Welche Kompetenzen gilt es zu fördern? Ein Kompetenz- modell politischer Bildung gegen den Rechtsextremismus

Ziele für den Umgang mit rechtem Denken sollten samen Wissensbeständen, kompetenzorientiert vor- angesichts des erziehungswissenschaftlich fun- genommen werden 22. Hierbei lassen sich für zentra- dierten Wissens, dass Lernen mehr ist als die Anhäu- le Kompetenzen folgende Anforderungen entwi- fung und Abspeicherung von schulisch bedeut- ckeln:

Psychosoziale Kompetenzen: Wissenskompetenzen: Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen zu versetzen Kenntnis des NS-Systems als historische Aus prägung des (Empathie), gesellschaftliche Minderheiten zu achten organisierten Rechtsextremismus, Verständnis und und anzuerkennen (Toleranz), Bereitschaft zu demokratischer Zusammenhangswissen in Bezug auf die Ursachen des Konsensfi ndung und Bejahung der Grundrechte Rechtsextremismus, Kennen von stichhaltigen Argumenten (demokratische Grundhaltung), Zivilcourage im zur Entkräftung rechtslastiger Aussagen Eintreten für demokratische Werte

Medien- und Handlungs fähigkeit: Welche Kompetenzen Methodenkompetenz: Einen eigenen begründeten brauchen Schüler, um Fähigkeit, die Rechtsextremismus- Standpunkt gegenüber dem u.a. gegen rechtsex- problematik in den Medien zu Rechtsextremismus in der Öffentlichkeit treme Meinungen verfolgen und die Berichterstattung vertreten können, verantwortungsvoll kritisch zu analysieren und zu auf rechtsextremistische argumentieren zu beurteilen, Fähigkeit, Medien für Gefährdungen reagieren können können? die Aufklärung gegenüber dem Rechtsextremismus einzusetzen.

Urteilsfähigkeit: Analysefähigkeit: Beurteilen können, welches die gesellschaftspolitischen und Komplexes Verständnis von Ursachen psychosozialen Hintergründe für die Entstehung des des Rechtsextremismus im regionalen, nationalen und Rechtsextremismus sind; Fähigkeit, u.a. den Zusammenhang internationalen Kontext, Fähigkeit, Aussagen als zwischen sozioökonomischen Entwicklungen und der rechtsextremistisch einstufen zu können, die Rolle des Ausprägung rechtsextremistischen Denkens zu beurteilen; Rechtspopulismus analysieren können, Unterschiede Fähigkeit, den Einfl uss von Erziehung und Bildung auf zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus rechtslastiges Denken zu beurteilen benennen können

Abb. 2: Kompetenzmodell im Umgang mit rechtslastigem Gedankengut am Beispiel des rechtsextremen Denkens.

22 Vgl. z.B. Lersch 2006, Moegling 2008 a

15 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

Die in der Abb. 2 enthaltenen Standards, die als Ni- • Internet-Recherchen und Analysen in Bezug auf veauanforderungen den überfachlichen und fach- rechtsextremistische Orientierungen, z.B. NPD- lichen Kompetenzen zugeordnet sind, könnten auf Homepage; der Zielebene die Grundlagen der schulischen Aus- • Interviews mit Zeitzeugen aus der Zeit des deut- einandersetzung mit rechtsextremistischem Denken schen Faschismus;26 darstellen. Unterrichtsreihen und schulische Pro- • Refl ektierte und in den Unterricht einbezogene jekte, die sich auf die Auseinandersetzung mit dem Besuche von KZ-Gedenkstätten;27 Rechtsextremismus konzentrieren, könnten sich an • Mehrsprachige und interkulturelle Erziehung im diesen Kompetenzen und Standards orientieren und Rahmen bilingualer Angebote; Lehrende könnten Indikatoren entwickeln, die zei- • Besuche von Seminaren und Tagungen im Rah- gen, inwieweit ein entsprechender Lernerfolg einge- men der politischen Jugendbildung; treten ist. • Durchführung eigener Forschungsprojekte im Rahmen des Projektunterrichts, z.B. Spurensuche jüdischer Mitbürger aus den dreißiger und vierzi- 5.4 Welche didaktisch-methodischen ger Jahren aus der eigenen Region; Ansatzpunkte gibt es? • Fragebogenuntersuchung und computergestützte Auswertung sowie qualitative Untersuchungs- Damit das Thema „Rechtsextremismus“ nicht metho- methoden zum Thema „Demokratieakzeptanz“ disch einseitig und ausschließlich lehrerorientiert (Moegling 2003 a und 2008 b); verläuft, sondern nachhaltig im Sinne des interak- • Teilnahme und Mitwirkung an öffentlichen Diskus- tiven Ernstfalles (Moegling/Peter 2001) wirkt und so- sionsveranstaltungen zum Rechtsextremismus; mit im Einklang mit dem Anspruch ist, Kompetenzen • Plakat-Wettbewerb zum Thema „Demokratie und zu fördern, sollen u.a. folgende handlungsorientierte Rechtsextremismus“; Aktionsformen und Unterrichtsmethoden vorge- • Konzipierung und Produktion von Hörspielen und schlagen werden, um sich mit der Thematik des Filmen zum Thema „Anfänge des Rechtsextremis- Rechtsextremismus, aber auch seiner vorbereiten- mus im Alltag“; den Zugangsweisen im politischen Denken und Han- • Analyse und Diskussion sogenannter ‚Stammtisch- deln kompetenzorientiert auseinander zu setzen:23 parolen’ (Hufer 2000); • Diskussion rechtsextremistischer Aktivitäten und • Projekt ‚Stolpersteine’ zu Erinnerung an die von rechtspopulistischer Strategien bei aktuellen An- dem NS-System ermordeten und vertriebenen lässen z.B. im Politik-, Ethik-, Religions- und Ge- Personen;28 schichtsunterricht; • Analyse und Beurteilung rechtsextremer Musik;29 • Durchführung von Aktionstagen zum Thema • Analyse und Beurteilung rechtsextremer Kunst „Rechtsextremismus“ (Dangel 1999); (historisch und aktuell); • Teilnahme am bundesweiten Projekt „Schule ohne • Internetbasiertes Planspiel zum Rechtsextremis- Rassismus – Schule mit Courage“;24 mus in einer Kleinstadt (Hermes 2003); • Quellenarbeit und öffentliche Ausstellungen und • Theaterprojekte zum Thema ‚Fremdenfeindlich- Dokumentationen zum Rechtsextremismus; keit’; • Kooperation mit dem historisch ansetzenden Pro- • Spurensuche: Rechte Symbole im Straßen- und jekt ‚Konfrontationen’ vom Fritz-Bauer-Institut;25 Stadtbild;30

23 Weitere interessante Hintergrundinformationen zum rechtsextremistischen Hintergrund und Anregungen für die Schule bieten u.a. die beiden von Manfred Büttner (1999) herausgegebenen Bände „Braune Saat in jungen Köpfen“ sowie z.B. das GEW-Themen- heft zum Thema Rechtsextremismus (GEW 2000), der von Eberhardt Jung herausgegebene Band zum „Rechtsextremismus als gesellschaftliches Problem“ (2003) und das Polis-Themenheft 1/ 2007 zum Thema ‚Rechtsextremismus bei Jugendlichen’. 24 Vgl. www.schule-ohne-rassismus.org/ und www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/projekte/schueler-machen-mut/schule-ohne-ras- sismus/, 12.9.09 25 Vgl. www.fritz-bauer-institut.de/projekte/konfrontationen-projekt.htm 25 Vgl. u.a. den Beitrag von Ram im vorliegenden Band 27 Vgl. z.B. Kenkmann, A./ M. Koester/ M. Zülsdorf (2001), vgl. auch u.a. Kleesiek im vorliegenden Band 28 Vgl. http://www.stolpersteine.com/12.9.09 29 Vgl. z.B. Steinbach (2003) und Berkessel (2008) 30 Vgl. hierzu Jentsch (2007)

16 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

• Intensive Beschäftigung mit einer für das Thema Sympathie erfahren und nicht primär in Bezug auf ei- ‚Rechtsextremismus’ bedeutsamen Lektüre, wie nen – zudem noch kognitiv verengten – Leistungsbe- z.B. „Mein verwundetes Herz“ oder „Das Tagebuch griff betrachtet werden – so Edelstein & Fauser (2001, der Anne Frank“; 15) in der Begründung ihres Programms „Demokra- • Gründung von Politikwerkstätten als schülerorien- tie lernen und leben“: „Als sinnlos und demütigend tierte Forschungszentren an den einzelnen Schu- erlebte Lernprozesse tragen zur Schulverdrossenheit len und regionale Vernetzung der Politikwerkstatt- bei, nähren eine Kultur der Rebellion gegen die Nor- arbeit, z.B. im Bereich der Thematik „Demokratie men des Erwachsenen, die zugleich als Normen der und Rechtsextremismus“.31 Humanität einer prosozialen Lebensführung und als Normen der Demokratie identifi ziert werden. Gerade die antisoziale Rebellion bietet den unter Anerken- nungsmangel leidenden Jugendlichen Erfahrungen 5.5 Wie sollte die Schulkultur präventiv eigener Wirksamkeit, welche die Schule ihnen ver- gestaltet werden? sagt.“ Demokratische Schulkultur in einer demokratischen Gesellschaft Die Frage der fehlenden Anerkennung und der per- manenten schulischen Misserfolgserlebnisse ist hier- Besonders wichtig ist im vorliegenden thematischen bei bei Kindern und Jugendlichen, wenn deren le- Zusammenhang, so eine weitere These, dass die bensweltliche Situation sowohl durch Bildungsferne Schule selbst ein demokratisches Schulleben entfal- als auch durch ein migrantisches Milieu gekenn- ten muss, bei dem Lehrer, Eltern und Schüler zusam- zeichnet ist, gesondert zu stellen.34 menwirken. Hierzu gehört neben den SV- und Eltern- vertreter-Aktivitäten auch ein demokratischer Unter- Aber gerade die positive Erfahrung von Selbstwirk- richt, der Schülern Mitentscheidungsmöglichkeiten samkeit für alle Lernenden, unabhängig von ihrem in Bezug auf Unterrichtsinhalte und -methoden ein- kulturellen und sozialen Hintergrund, könnte durch räumt und die erheblichen Spielräume nutzt, die die ein demokratisch organisiertes Schulleben ermög- jeweiligen Schulgesetze der Bundesländer und die licht werden, das zum Demokratie-Lernen in einem Lehrpläne bzw. Standards hierfür vorsehen. Das u.a. stärker handlungsorientierten und auf Förderung von Edelstein & Fauser (2001) ins Leben gerufene ausgerichteten Unterricht und in einem wesentlich Projekt ‚Demokratie lernen und leben’ ist ein gutes selbstbestimmteren Miteinander im außerunterricht- Beispiel für den pädagogischen Ansatz und die lichen Kontext der Schule anregen würde. schulische Umsetzungen von zahlreichen vorwie- gend außerunterrichtlichen Projekten zur Gestaltung Edelstein/ Fauser (2001, 18) fassen ihren demokra- einer demokratischen Schulkultur.32 Auch das bun- tiepädagogischen Ansatz wie folgt zusammen: „Die desweite Projekt „Schule gegen Rassismus – Schule Zunahme von Gewalt und Rassismus, die Politikver- mit Courage“, an dem zurzeit (Stand: August 2009) drossenheit, die Skepsis gegen grundlegende Gleich- 600 Schulen mit 400.000 Schülern teilnehmen, ist ein heitsnormen und universalistische Grundsätze der An- gutes Beispiel für die Aktivierung und Partizipation erkennung und Menschenrechte, die Abwertung des im Rahmen einer sich gegen Rechtsextremismus en- Fremden, die mit dieser Transformation einhergehen, gagierenden Schulkultur.33 fordern sehr grundlegende demokratiepädagogische Anstrengungen und rufen zu einer sorgfältigen Prü- Auch muss in diesem Zusammenhang diskutiert wer- fung der demokratiepolitischen Aufgaben und Mög- den, wie dominant der Stellenwert der leistungsbe- lichkeiten der Schule auf.“ zogenen Selektionsfunktion der Schule weiterhin sein müsse. Es ist kritisch nachzufragen, inwieweit In diesem Sinne könnten auch institutionalisierte Schule für Kinder und Jugendliche tatsächlich ein Unterrichtseinheiten, Aktionstage und Projekte hel- Ort ist, an dem sie Anerkennung, Wertschätzung und fen, Vorurteile und Probleme im Zusammenleben

31 Vgl. zum Verständnis und zu den Projekten der Politikwerkstatt Moegling (2003 b) und www.politikwerkstatt.de, 12.9.09 32 Vgl. auch Fauser (2003 und 2007) 33 Vgl. http://www.schule-ohne-rassismus.org/faq.html, 12.9.09 34 Vgl. die Beiträge von Haas und Wendt im vorliegenden Buch.

17 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

mit ausländischen Mitbürgern, Behinderten und po- lern aus ihrer Situation helfen? Einerseits muss eine litisch Andersdenkenden zu beseitigen, hier aufklä- Schule natürlich in noch nicht polizeirelevanten rend zu wirken – vor allem wenn diese Themen Fällen auch alle Möglichkeiten des Gesprächs (in handlungs- und schülerorientiert bearbeitet wer- Kontakt mit Jugendsozialarbeitern) und auch der den. Dem entsprechend formuliert Schubarth (2000, Vermittlung zu Ausstiegsprojekten36 ausschöpfen. 44f.) mit Bezug auf die Forschungsgruppe Schule- Doch wenn dies nicht erfolgreich verläuft bzw. die valuation (1998) und auf Tillmann u.a. (1999): „In rechtsextreme Gewaltakzeptanz zur Bedrohung diesem Zusammenhang sind auch aktuelle Befunde wird, ist die Grenze einer ‚akzeptierenden pädago- der Gewaltforschung von Bedeutung, die nachdrück- gischen Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen‘ lich belegen, wie eng der Zusammenhang zwischen erschöpft und muss auch die Schule hart reagieren dem Schulklima und der schulischen Gewaltanwen- und für derartige Jugendliche sowohl das schu- dung ist ... Auch für den Rechtsextremismus kann lische Ordnungsrecht gestuft bis hin zum Schulver- deshalb angenommen werden, dass eine ‚gute Schu- weis ausschöpfen, als auch hier mit der Polizei zu- le’ weniger Probleme mit Rechtsextremismus auf- sammenarbeiten. Möglicherweise müssen ange- weist. In diesem Sinne ist eine erfolgreiche Schulent- sichts der bundesweiten Zunahme der extremis- wicklung zugleich auch wirksame Rechtsextremis- tischen Gewalttaten die Grenzen akzeptierender musprävention.“ pädagogischer Arbeit mit rechtsextremen Jugend- lichen wesentlich enger defi niert werden, als dies gegenwärtig noch der Fall ist. 6 Fazit Rechte Jugendgewalt und Rassismus ist kein ‚Kava- Neben einer mit Ressourcen ausgestatteten vorbeu- liersdelikt’, keine vorübergehende jugendkulturelle genden Bildungsarbeit an den Schulen muss das Mode, keine rechtsextreme Erlebniswelt. Dies müs- Schulklima und die Szene an der eigenen Schule sen alle Beteiligten erkennen. Hier ist eine funda- sehr aufmerksam verfolgt werden, um auch in Be- mentale Gefährdung unserer Sicherheit und der De- zug auf die notwendige Reaktionsfähigkeit der mokratie angelegt. Der Schule – und hier insbeson- Schule rechtzeitig und schützend agieren zu kön- dere den Lehrkräften – kommt dabei eine bedeu- nen. Gibt es Schüler mit rechtsextremistischen Sym- tende Verantwortung zu. Aber nicht nur die Lehrer, bolen und Verhaltensweisen, die andere Schüler auch die Schüler sind aufgerufen, gegen rechtsextre- unter Druck setzen oder sogar gewalttätig werden? mistische Einstellungen zu argumentieren, wo sie Gibt es sogenannte Opfergruppen an der Schule, auch auftreten. Wenn rechtsorientierte Jugendliche und wie kann man diesen Schülerinnen und Schü- merken, dass die Schüler solche Einstellungen nicht

Wer sich zu den Zielen einer ‚Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage’ bekennt, unterschreibt fol- gende Selbstverpfl ichtung:35 1. Ich werde mich dafür einsetzen, dass es zu einer zentralen Aufgabe einer Schule wird, nachhaltige und langfristige Projekte, Aktivitäten und Initiativen zu entwickeln, um Diskriminierungen, insbesondere Rassismus, zu überwinden. 2. Wenn an meiner Schule Gewalt, diskriminierende Äußerungen oder Handlungen ausgeübt werden, wende ich mich dagegen und setze mich dafür ein, dass wir in einer offenen Auseinandersetzung mit diesem Problem gemeinsam Wege fi nden, uns zukünftig einander zu achten. 3. Ich setze mich dafür ein, dass an meiner Schule ein Mal pro Jahr ein Projekt zum Thema Diskriminie- rungen durchgeführt wird, um langfristig gegen jegliche Form von Diskriminierung, insbesondere Rassismus, vorzugehen. aus: http://www.schule-ohne-rassismus.org/faq.html, 12.9.09

35 70% der Schülerschaft einer Schule müssen diese Selbstverpfl ichtung unterschreiben, damit ihre Schule in das Projekt ‚Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage’ aufgenommen werden kann. 36 Vgl. z.B. das „Stern“-Projekt „EXIT“: www.exit-deutschland.de, 12.9.09 und XENOS: Vgl. http://www.schule-ohne-rassismus.org/ und http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/projekte/schueler-machen-mut/schule-ohne-rassismus/, 12.9.09

18 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

akzeptieren, neonazistische Verhaltensweisen ent- Literaturhinweise schieden ablehnen, dann fehlt z.B. rechtsextrem ar- gumentierenden Jugendlichen der Sympathisanten- Adorno, Theodor W. (1970): Erziehung nach Auschwitz. In: Ador- kreis, den sie zur Pfl ege ihres oftmals schwach ausge- no, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Ge- spräche mit Helmut Becker. Frankfurt 1970, 92-109. prägten Selbstwertgefühls brauchen. Ahlheim, Klaus (Hrsg.) (2003): Intervenieren, nicht resignieren. Wenn die Pädagogik rechtslastigen und hier insbe- Rechtsextremismus als Herausforderung für Bildung und Erzie- sondere rassistischen Einstellungen entgegenarbei- hung. Schwalbach / Ts. ten möchte – sowohl bei „deutschen“ Schülern als Ahlheim, Klaus / Heger, Bardo (2000): Der unbequeme Fremde. auch bei Schülern mit Migrationshintergrund – muss Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Empirische Befunde. sie u.a. auch eine interkulturelle Pädagogik sein, d.h. Schwal bach / Ts. nicht nur Vorurteilen entgegenwirken, sondern durch Anerkennung der Heterogenität ihres Klientels und Backhaus, Kerstin / Moegling, Klaus / Rosenkranz, Susanne: Kom- petenzorientierung in der politischen Bildung. Kompetenzen, der daraus erwachsenden Herausforderungen ein Standards und Indikatoren. Baltmannsweiler 2008. gesellschaftliches Klima der Inklusion begünstigen.47 Brunkhorst, Hauke (2002): Solidarität. Von der Bürgerfreund- Im Fokus einer derartigen interkulturellen Erzie- schaft zur globalen Rechtsgenossenschaft. Frankfurt am Main. hung steht dann nicht die Betonung nationaler bzw. Büttner, Manfred (1999) (Hrsg.): Braune Saat in jungen Köpfen. 2 nationalstaatlicher Einstellungen, sondern die Per- Bde. Hohengehren. spektive des Weltbürgerlichen in einer postnatio- nalen Konstellation (Habermas 1998) sowie der Ver- Butterwegge, Christoph (2002): Rechtsextremismus. Freiburg. such, eine hierfür notwendige interkulturelle Tole- Dangel, Walter (1999): Durchführung eines Aktionstages zum ranz und Empathie zu fördern – so schwierig dies Thema: Gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. In: auch sein mag. Büttner, Manfred (1999) (Hrsg.): Braune Saat in jungen Köpfen. 2 Bde. Hohengehren, 316-339. Die schulische Bearbeitung des Rechtsextremismus- Decker, Oliver / Brähler, Elmar (2006): Vom Rand zur Mitte. Problems ist auf Kontinuität und Nachhaltigkeit ange- Rechtsextreme Einstellung und ihre Einfl ussfaktoren in Deutsch- wiesen. Die demokratische Unterrichtskultur, ein de- land. Bonn. mokratisch organisiertes Schulleben, eine sorgfältige historisch-politische Bildung im gesellschaftswissen- Edelstein, Wolfgang / Fauser, Peter (2001): „Demokratie lernen und leben“. Gutachten für ein Modellversuchsprogramm der BLK. schaftlichen Unterricht und erfi ndungsreiche Rechts- Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung, extremismus-Projekte in der Verbindung mit einer Bd. 96. Jena. achtsamen Beobachtung der politischen Szene an ei- ner Schule stellen einen pädagogischen Verhaltens- Falter, Jürgen W. (1991): Hitlers Wähler. München. komplex dar, von dem am ehesten eine effektive Vor- Fauser, Peter (2003): Demokratie lernen und Schulentwicklung. beugung und Reaktion auf rechtsextremistische Ten- In: Polis, H. 4, 3-5. denzen in der Jugendkultur zu erwarten ist. Dies geht aber nicht über den jahrelang betriebenen Abbau Fauser, Peter (2007): Demokratiepädagogik. In: Lange, Dirk der politischen Bildung in Schulen, Bildungsstätten (Hrsg.) (2007): Konzeptionen politischer Bildung. Handbuch für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Band 1. Baltmannsweiler, und in der Lehreraus- und -fortbildung in vielen Bun- 83-92. desländern und auch nicht zum Nulltarif. Es ist daher auch dringend Schubarth (2000, 48) zuzustimmen: Forschungsgruppe Schulevaluation: Gewalt als soziales Problem „Die Ernsthaftigkeit der gegenwärtigen Debatte um an Schulen. Opladen 1998. die Bekämpfung des Rechtsextremismus wird sich da- Friedrich-Ebert-Stiftung / Abteilung gesellschaftspolitische Infor- ran zeigen, ob, neben repressiven Maßnahmen, mehr mation (Hrsg.) (2000): Die gesellschaftliche Akzeptanz von in den präventiven Bereich, insbesondere in die päda- Rechtsextremismus und Gewalt. Ergebnisse einer Repräsentativ- gogische Jugendarbeit und politische Bildung inves- befragung. Bonn. tiert wird. Würde diese Chance erneut vertan, ließe GEW (Hrsg.) (2000): Wenn Rechts schon Alltag ist... Mittel und die nächste große Rechtsextremismus-Debatte wohl Wege zur Gegenwehr. Themenheft der Zeitschrift „Erziehung und nicht lange auf sich warten.“ Wissenschaft“, 2000, H.11.

19 Zum Umgang mit dem Thema „Rechtsextremismus“ in der Schule

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21 Spurensuche Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

Christoph Rohde

Aus allgemeinpädagogischer, politik- und geschichts- on mit der Historie notwendig – und schafft zugleich didaktischer Sicht gewinnen realbiografi sche Unter- eine wichtige Voraussetzung für eine aktive und er- richtsmaterialien in der Auseinandersetzung mit dem folgreich praktizierte Übernahme der Bürgerrolle in Holocaust zunehmend an Bedeutung, wenn es darum der Gesellschaft. Die Auseinandersetzung mit den geht, mit Heranwachsenden eine thematische Annä- negativen Auswirkungen der NS-Diktatur, in der herung vorzunehmen – besonders angesichts des mit- grundlegende Rechte abgeschafft und Macht über unter unverblümt artikulierten Unverständnisses über Volk und Staat willkürlich und uneingeschränkt aus- die „Daueraktualität“ der 12 Jahre NS-Herrschaft in geübt wurden, stellt deshalb einen entscheidenden unserer Gegenwart. (vgl. Hoffmann 2005, 93 f.) Teil politisch-pädagogischer Bildungsarbeit dar.

Insbesondere die Möglichkeiten, innerhalb der ex- Mit dem generationsbedingten Abstand von den Er- emplarischen Beschäftigung mit den Materialien eignissen verändert sich jedoch deren Präsenz. So- eine allmähliche, aus der Authentizität der Doku- wohl für Lernende wie auch für Lehrende ist der zeit- mente sich einstellende Empathie bzw. Betroffenheit liche Abstand zur Epoche des Nationalsozialismus zu evozieren, erscheint gegenüber der Wirksamkeit mittlerweile so groß, dass die Ereignisse im wahrsten bloßer Fakten der Strukturgeschichte weithin viel Sinne des Wortes „Geschichte“ geworden sind. Da- versprechender. Insofern bedingt das in Lernsituati- rum ist es erforderlich und gleichsam Aufgabe der onen vielfach offenbarte Überdrussgefühl ein Über- Lehrperson, den Schülerinnen und Schülern einen denken des pädagogischen Zugriffs auf die Thema- veränderten Zugang zu diesem Zeitabschnitt zu er- tik der Massenverbrechen des Nationalsozialismus möglichen. zugunsten einer nachhaltigen historisch-politischen Bildung. „Aber die Erziehungsabsicht lässt sich nur unter Mitwirkung der Adressaten verwirklichen, die das Ver- Speziell durch die Kombination von schulischem (Ro- hältnis, das sie zu dem Lerngegenstand eingehen manlektüre) und außerschulischem Lernen (Erkun- wollen, selbst bestimmen.“ (Meseth / Proske / Radtke dung bzw. Gedenkstättenbesuch) sowie die Ver- 2004b, 18) knüpfung von bekannten Aspekten zur NS-Geschich- te einerseits (Makroebene) und den exemplarischen Zeugnissen andererseits (Mikroebene) wird vorlie- Realbiografi sches Unterrichtsmaterial und gend eine Variante der unterrichtlichen Beschäfti- authentische Quellendokumente gung aufgezeigt. Eingebunden in eine entsprechende Unterrichtskon- zeption eignen sich realbiografi sche Dokumente Schaffung einer schüleraktiven Lernkultur tendenziell für ein erfolgreiches Initiieren von Lern- prozessen. Diese müssen nicht immer zu einem Ab- Schülerinnen und Schüler auf gesellschaftliche schluss im Rahmen des Unterrichts kommen, viel- Grund- und Zeitfragen aufmerksam zu machen und mehr kann auch eine Verunsicherung über die eige- ihr Interesse daran zu wecken, ist eines der Haupt- ne Sicht auf Konfl ikte der Vergangenheit (oder der ziele politischer Bildung. Politisch-gesellschaftliche Gegenwart) ein wichtiges Ergebnis der Arbeit mit Sachverhalte auch als zeitgeschichtliche Phänomene (reproduzierten) Quellen bzw. mit authentischen Be- verstehen zu können, macht indes eine Konfrontati- richten und Dokumenten sein.

22 Einen Einstieg in die Geschichte zu erreichen, ver- menschliche Zusammenleben vernünftigerweise durch bunden mit einer intensiveren Beschäftigung, ist auf die Prinzipien der Anerkennung von Anderem und der dem Wege biografi scher Ansätze weitaus realis- Gleichheit von Verschiedenem organisiert sein sollte.“ tischer, da einer Ablehnung der Lernenden bzw. de- (Lange 2006b, 14) ren stummer Ignoranz begegnet und entgegenge- wirkt werden kann. Gerade das Wecken von Interes- Um zu ermöglichen, dass der betreffende historische se und Neugierde, ansetzend an realen Zeugnissen, Ort (hier konkret: die Gedenkstätte Breitenau) für bleibt über den Moment hinaus lernförderlich: „Ten- Lernprozesse optimal genutzt werden kann, ergibt denzen, sich trotz oberfl ächlicher Kenntnisse einer es sich, dass in dieser Unterrichtsreihe nicht die glo- gründlichen Behandlung des Themas zu entziehen balen historischen Ereignisse und Bedingungen des […] sind nur durch Motivation zu überwinden.“ (We- Nationalsozialismus als solches im Mittelpunkt des del / Wolf 2005, 153) Interesses stehen. Vielmehr bildet eine lokalge- schichtliche Rekonstruktion von individuellen Un- Die Aufklärung über die Massenverbrechen der rechts- und Widerstandserfahrungen den eigent- Deutschen an den Juden zur Zeit des Dritten Reiches lichen Kern der Beschäftigung. Nationalsozialismus und die notwendige Abstraktion der Schülerinnen und Holocaust werden repräsentiert, indem individu- und Schüler hinsichtlich der verbrecherischen und elle biografi sche Berichte vergegenwärtigt und Sinn zerstörerischen Wesensart der NS-Ideologie gewinnt und Bedeutung grundsätzlicher Werte abgeleitet für Jugendliche an Bedeutung, wenn die Opfer ein werden. Eingebunden in eine aktive Spurensuche Gesicht erhalten. Dann, wenn aus ihnen „reale“ Per- vor Ort kann das Aufsuchen und Erforschen vorhan- sonen werden, kann eine konstruktive Mitarbeit in dener Zeugnisse einen persönlichen Bezug des Ler- der Lerngruppe forciert werden. Mehr noch: Über ners herstellen. das individuelle Gerechtigkeitsempfi nden der Ler- nenden stellt sich in aller Regel eine Neugierde ein, Im Sinne eines mehrdimensionalen Lernens erfahren lebensgeschichtliche Entwicklungen in der Beschäf- die Jugendlichen die Vielschichtigkeit der Wirklich- tigung mit historischen Quellen gezielt zu untersu- keit näher, einschließlich ihrer Widersprüche. Han- chen, hierbei verschiedene Sichtweisen auszuma- delnde und Betroffene werden den Lernenden nicht chen (Akteure, Opfer,…) und sich in einer Rekon- einseitig kognitiv – wie sonst in der Schule weithin struktion des Geschehenen zu üben. üblich – nahe gebracht, sondern sie sind in den ori- ginalen Zeugnissen den Jugendlichen „direkt“ zu- Die Beschäftigung mit konkreten Einzelschicksalen gänglich. Durch die direkte Konfrontation mit Ort, unter Einbeziehung von Familiengeschichten – also Personenschicksalen und Geschehnissen in der Ge- der biografi sche Ansatz – fördert Fremd- und Selbst- denkstätte ergeben sich Lernprozesse über die Aus- verstehen der Lernenden. wirkungen politischer Entwicklungen während der NS-Diktatur. Darüber hinaus: „Indem der ‚Ort’ die Konkretisierung abstrakter Begriffe (z.B. Terror, Verfol- Außerschulisches Lernen gung, Ausgrenzung) ermöglicht, im weiteren Ver- ständnis erlebnisbezogen wirkt, kann er Ansatzpunkte Bestandteil dieser Unterrichtseinheit soll im zweiten für den Aufbau auch einer politischen Handlungsbe- Teil eine Exkursion zu einer Gedenkstätte1 sein. Als reitschaft bieten.“ (Elsas/Naundorf/Richter 1994, 5) Orte außerschulischen Lernens nehmen die KZ-Ge- denkstätten in der Pädagogik einmal mehr eine Be- sonderheit ein: „Lernen soll also an Orten initiiert Intention und Kompetenzen sowie metho- werden, die historisch schwer belastet und gegenwär- disch-didaktische Gestaltungsprinzipien tig mit einer besonders hohen Verhaltenserwartung belegt sind.“ (Imhof 2005, 103) Im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als Lernfeld politischer Bildung er- „Damit steht das Politische Lernen an historischen Or- weist es sich angesichts der thematischen Komplexi- ten des Nationalsozialismus im Kontext einer histo- tät als Bereicherung, Lernprozesse – ausgehend von risch-moralischen Menschenrechtsdidaktik, die am hi- einer im Zentrum stehenden Person (hier: Opfer- storischen Beispiel deutlich machen will, dass das schicksal) – zu initiieren und über die in der Wechsel-

1 vgl. Basisartikel Moegling (2010)

23 Spurensuche – Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

beziehung mit der Historie bedingte Dramaturgie Realisierung Kontexte und Perspektiven herauszuarbeiten und zu thematisieren. „Der Fall wird – als exemplarischer – Der biografi sche Ansatz konkretisiert sich auf einer auch als das Besondere gesehen, das Allgemeines ersten Ebene durch das bewusste Nachempfi nden enthält bzw. sichtbar machen kann.“ (Reinhardt 2007, von Leid. Diesbezüglich geht es zunächst darum, 123) eine Sensibilität für individuelles Schicksal zu erzeu- gen (Opferperspektive) und eine intrinsische Motiva- Angeleitet durch die in der Auseinandersetzung sich tion an der Erarbeitung von Informationsquellen zur einstellende Betroffenheit seitens der Lernenden in genaueren Beurteilung des historischen Kontexts zu Form eines Mit- bzw. Nacherlebens fremder Schick- wecken. Eine zweite Ebene stellen die Quellendoku- sale erfolgt der Schritt hin zur politischen Urteilsbil- mente selbst dar. Die Lernenden stützen sich auf ori- dung, verbunden mit der Frage nach Repräsentanz ginale Zeugnisse, recherchieren auf dieser Grundla- bzw. Generalisierung des Phänomens und der Ein- ge und gelangen so in modifi zierter Weise zu einer bettung in einen historischen Kontext. Aufarbeitung der Thematik.

Die Fokussierung auf exemplarische Fälle verlangt In einem ersten Schritt geht es darum, mit Hilfe der somit Identifi kationsfähigkeit. Aufgrund ihrer inne- Romanlektüre „Lauf, Junge, lauf“ von Uri Orlev3 ei- wohnenden Authentizität – und vorliegend vor allem nen Einstieg in die Beschäftigung mit konkreten Le- des Potenzials an Emotionalität – ergibt es sich, dass bensgeschichten von Menschen jüdischen Glaubens Schülerinnen und Schüler bei einer intensiven the- zu ermöglichen und hierüber bereits den Prozess ak- matischen Auseinandersetzung teilnahmsvoll rea- tiver Auseinandersetzung mit Ideologie und Konse- gieren und einen Perspektivenwechsel vornehmen quenzen der NS-Politik als Unterrichtsgegenstand können. Historische Bezüge gerade handlungsorien- anzustoßen. In dieser Weise vollzieht sich zunächst tiert zu entfalten, ist für gegenwärtige und zukünftige die Begründung eines literarisch vermittelten histo- politische Fragestellungen um so mehr Maßgabe, als rischen Bewusstseins mit der Analyse der Bucherzäh- in der schülerzentrierten Aktivität – hier im Umgang lung. Speziell die Besprechung ausgewählter Text- mit Fallbeispielen – eine Multiperspektivität eingeübt passagen etabliert dabei eine Form der Betroffen- wird, die ihrerseits immer wieder Diskussionsanlässe heit, die es unmöglich macht, eine distanzierte Hal- herausfordert und zum Nachdenken anregt. „Beson- tung gegenüber der beschriebenen Dimension von ders geeignet ist dafür die Regional- und Lokalge- Gewalt und Leid zu behalten. So sind die Schüle- schichte, an der Schüler – im Archiv – erforschen kön- rinnen und Schüler gefordert, durch das Mitempfi n- nen, welche Spuren die ‚große Geschichte’ in ihrer den realer Schicksale Geschichte greifbar nachzu- unmittelbaren Nähe hinterlassen oder auch nicht hin- vollziehen. terlassen hat, wie sich also Mikro- und Makrogeschich- te miteinander verschränken“. (Lange / Lux 2004, In einem nächsten Schritt geht es schwerpunktmäßig 147) um die Beschäftigung mit Einzelschicksalen im Ein- zugsgebiet der Schule. Angelegt als Spurensuche Die pädagogische Reichweite dieses Ansatzes zeigt vor Ort können so die Schülerinnen und Schüler eine sich speziell darin, dass bei den Lernenden ein Kom- regionale Bezugnahme in der thematischen Ausei- petenzzuwachs in den Bereichen nandersetzung erfahren. • Entwickeln einer historischen Fragekompetenz und Schließlich ist durch den Besuch eines außerschu- • Kompetenz der Re- und Dekonstruktion lischen Lernortes (hier: die Gedenkstätte Breitenau), stattfi nden kann. In der Annäherung an die Verfol- der als historischer Ort eine geschichtliche Realitäts- gungs- und Vernichtungsgeschichte der jüdischen begegnung in der Alltagswelt der Lernenden er- Bevölkerung ergeben sich somit Lernchancen, die – möglicht und darüber hinaus selbst Erkundungsge- analog den Vorüberlegungen dieser Unterrichtsrei- genstand ist, ein weiterer vertiefender Lernprozess he – in Verbindung mit staatsbürgerlichen Kompe- vorgesehen. Wesentliches Element dieses for- tenzen eines aufgeklärten, mündigen Subjektes ste- schend-entdeckenden Ansatzes ist es, wie und mit hen.2 welcher Bedeutung die Lernenden der Dokumen-

2 vgl. Basisartikel Moegling (2010). 3 Für die unterrichtliche Lektüre des Romans steht ein hilfreicher Lehrerband zur Verfügung; vgl. Helfert (2006)

24 Spurensuche – Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

tation authentischer Materialien begegnen. Maß- Indem sie selbst handelnd tätig werden und eige- gabe ist schließlich, dass die Lerngruppe, an- ne (Re-)Konstruktionsmöglichkeiten schaffen, wer- geleitet durch interaktive Diskussionsanlässe, zu den Unterrichtsinhalte gefestigt und können sich einer allmählichen Generalisierung der betrachte- mit größerer Wahrscheinlichkeit als dauerhafte ten Fallbeispiele im historischen Kontext kommen Schülerkog nition abbilden. (Brüning / Saum 2008, kann. In immer wiederkehrenden Zugängen erfah- 14) Es folgt eine tabellarische Übersicht der Unter- ren die Schülerinnen und Schüler durch ein inten- richtseinheit und eine Erläuterung einzelner bzw. in- sives Anwenden von unterschiedlichen individuell- haltlich zusammen hängender Stunden. kooperativen Lern- und Arbeitstechniken nachhal- tiges Orientierungswissen anhand persönlicher Schicksale.

Thema Inhalt / Zielsetzung / Kompetenzorientierung

1. Vorstellung des Unterrichtsvorhabens

2. Roman von Uri Orlev: Schülerinnen und Schüler können Assoziationen zum Umschlagfoto des „Lauf, Junge, lauf“4 Buches mündlich formulieren (Brainstorming).

3. Romanlektüre Schülerinnen und Schüler erfassen den Inhalt der biografi schen Erzählung und refl ektieren ihre Eindrücke unterstützt durch die Bearbeitung ausge- wählter Textpassagen in individuell-kooperativen Arbeitsformen.

4. Lernspirale Schülerinnen und Schüler können den historisch-politischen Hintergrund der Romanlektüre deuten und die kausalen Zusammenhänge (Antisemitis- mus, NS-Ideologie) herstellen.

5. Präsentationen/ Schülerinnen und Schüler präsentieren ihre angefertigten Collagen „Jurek Romanlektüre und Marischa“, danach leisten sie eine Anknüpfung an das Kapitel „Ab- schied vom Vater“ in Form einer Traumbeschreibung.

6. Zwischenbilanz Schülerinnen und Schüler refl ektieren und evaluieren die Buchlektüre (Feedback).

7. Vertiefung Schülerinnen und Schüler analysieren die lokale Bevölkerungsstatistik (Stadtchronik) - fokussiert auf jüdische NS-Opfer.

8. Stolpersteine vor Ort Schülerinnen und Schüler nehmen aktiv an einem Stadtrundgang teil (Standort der Schule) und suchen dabei Stolpersteine zur Erinnerung an ehemalige jüdische Mitbürger auf.

9. Exkursion zur Ge- Schülerinnen und Schüler recherchieren exemplarische Archivalien/ denkstätte Dokumente am authentischen Ort (forschend-entdeckendes Lernen).

10. Nachbereitung/ Schülerinnen und Schüler dokumentieren/ präsentieren wichtige Abschluss Ergebnisse und evaluieren nun die gesamte Unterrichtseinheit (Abschluss- diskussion).

Tab. 1: Tabellarische Übersicht der Unterrichtseinheit

4 Die Lektüre erzählt den Zeitraum zwischen Jureks erstem Fluchtversuch aus dem Warschauer Ghetto 1942, in dessen Folge er seine Eltern und Geschwister verliert, und seiner Rückkehr nach Warschau ins jüdische Waisenhaus im Spätherbst 1946. Während dieser Zeit erlebt er Unglaubliches, trifft Menschen, die ihm helfen, und solche, die ihn verraten.

25 Spurensuche – Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

1. Einstieg ausgehändigt, ebenso erhalten sie ein Informati- In der ersten Stunde geht es zunächst darum, die onsblatt (Helfert 2006) mit Angaben zum Autor Uri Lerngruppe über das geplante Unterrichtsvorhaben Orlev. zu informieren und dabei die Erwartungshaltung der Schülerinnen und Schüler mit einzubeziehen. 3. Lektürephase Im Zusammenhang mit einer wechselweise individu- Ausgehend von einer kurzen fi ktiven Szene5 in Form ellen bzw. gemeinschaftlichen Buchlektüre beschäf- einer familiären Konfl iktsituation, verbunden mit tigen sich die Schülerinnen und Schüler mit ausge- dem Arbeitsauftrag, diese kurz individuell zu inter- wählten Textpassagen und entsprechenden Aufga- pretieren, wird die Lerngruppe angeleitet, eine ak- benstellungen.7 tive Auseinandersetzung zur Notwendigkeit der Erin- nerung an die Opfer des Holocaust vorzunehmen 4. Lernspirale und dabei eine historisch-politische Relevanz zu er- Zu Beginn der Stunde erhalten die Lernenden eine kennen. sogenannte Placemat. Diese nutzen sie in Kleingrup- pen zu je vier Personen zur Unterstützung einer stum- Anschließend werden der Lerngruppe die inhalt- men Brainstorming-Phase. Im ersten Schritt sind da- lichen und methodischen Besonderheiten der Unter- bei die Schülerinnen und Schüler individuell gefor- richtsreihe transparent gemacht. Dabei wird insbe- dert, Assoziationen zum Thema Antisemitismus wäh- sondere Wert auf Schülerinteressen gelegt, um rend der NS-Zeit spontan anzustellen und mit Hilfe sicherzustellen, dass insgesamt eine adressaten- der ausgegebenen Placemat8 zu notieren. Sodann gerechte Auseinandersetzung mit dem Thema erfol- werden die Gruppenmitglieder aufgefordert, sich gen kann. mit den gedanklichen Verknüpfungen ihrer Mitschü- lerinnen und Mitschüler auseinander zu setzen. Zur 2. Hinführung zur Romanlektüre Betrachtung der angrenzenden Notizen erfolgt eine Als Einstieg in die Arbeit mit der Romanlektüre wird dreimalige Rotation der Placemat mit der Zielset- zu Beginn dieser Unterrichtsstunde zunächst das zung, selbst einen erweiterten Zugang zur Thematik Umschlagfoto des Buches projiziert. In seiner Funkti- zu fi nden. on als stummer Impuls dient es dazu, in einem Mo- ment der Stille ein Nachdenken über die mögliche Anschließend folgt eine Vertiefung zum Leidensweg Bildaussage anzuregen. Im Hinblick auf den Titel der der jüdischen Bevölkerung in der Zeit des National- Lektüre „Lauf, Junge, lauf“ sind die Schülerinnen und sozialismus. Die Lernenden erhalten hierzu ein Infor- Schüler sodann aufgefordert, eine Verbindung zur mationsblatt9 mit dem Arbeitsauftrag, eine eigene visuellen Botschaft herzustellen und in einem zwang- Mind-Map über den Inhalt zu erstellen. Der Anferti- losen Brainstorming ihre Assoziationen zu äußern. gung der Mind-Maps vorangestellt ist ein kurzer Aus- tausch der Lernenden mit ihren Sitznachbarn zur Klä- Ein sich entwickelndes Unterrichtsgespräch zu ein- rung von eventuellen Verständnisproblemen und of- zelnen Schülerbeiträgen vertieft in einem weiterfüh- fenen Fragen. renden Schritt die erste Begegnung mit dem Buch. In Form von Vorab-Präsentationen in Schülertandems Eine Gegenüberstellung mit einem weiteren Foto ist die nachfolgende Vertiefung der Thematik ge- (Motiv: Niederschlagung des Aufstandes im War- plant: Jeweils zwei Lernende bilden ein Paar und tau- schauer Ghetto)6 fokussiert speziell die zeitgeschicht- schen ihre erworbenen Kenntnisse wechselseitig liche Repräsentanz und gestattet durch den Ver- aus, indem sie sich die Ergebnisse ihrer Visualisie- gleich der Aufnahmen miteinander eine Verortung rung vorstellen und erläutern. Mit diesem Zwischen- im Warschau der 1940er Jahre. schritt ist beabsichtigt, die Schülerinnen und Schüler auf die mögliche Vorstellung ihrer Mind-Maps im Abschließend wird den Schülerinnen und Schülern Plenum zu trainieren. Nach dem Zufallsprinzip stellen das Buch „Lauf, Junge, lauf“ als Arbeitsgrundlage sodann zwei Lernende ihr Ergebnis exemplarisch

5 vgl. Material 1 Dialog 6 vgl. Material 2 Visueller Impuls 7 vgl. hierzu den Fundus an Aufgabenstellungen nach Helfert (2006) 8 Placemat meint ein vorgestaltetes Arbeitsblatt zur zeitgleichen Niederschrift von Gedanken und Assoziationen. 9 vgl. Material 3 Antisemitismus in Deutschland

26 Spurensuche – Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

der Klasse vor und schaffen somit die Grundlage für an alle ehemaligen jüdischen Einwohner, die wäh- eine gemeinsame Aussprache. rend des Dritten Reiches vertrieben, deportiert bzw. ermordet wurden. Die abschließende Unterrichtsphase greift durch eine Methodenvariante das Stundenthema in der 9. Exkursion zur Gedenkstätte Weise auf, dass der Klasse Puzzleteile10 ausgehän- Der Gedenkstättenbesuch der Unterrichtsreihe, für digt werden mit dem Auftrag, diese in eine chronolo- den ein ganzer Schultag zur Verfügung steht, basiert gische Struktur zu bringen und als Tafelbild zu visua- in der Regel auf Vorgesprächen mit den zuständigen lisieren. An dieser Stelle kann angeleitet eine Bezug- pädagogischen Mitarbeitern am außerschulischen nahme auf das Schicksal der Hauptfi gur aus der Lek- Lernort (hier: Guxhagen-Breitenau) und sollte das türe vorgenommen werden. Aufspüren von Anhaltspunkten über den Verbleib der ehemaligen jüdischen Mitbürger (konkreter Be- 5. Präsentationen zug: „Stolpersteine“) integrieren. Nach Absprache Die Schülerinnen und Schüler präsentieren in diesen erhalten die Schülerinnen und Schüler zunächst ei- Unterrichtsstunden ihre (als Hausaufgabe) angefer- nen Überblick über die Geschichte der Gedenkstätte 11 tigten Collagen „Jurek und Marischa“. Es folgt die mit dem Schwerpunkt NS-Zeit sowie eine Führung Fortsetzung der Buchlektüre und eine Besprechung durch das ehemalige Lagergelände. Nach einer des Kapitels „Abschied vom Vater“ (Traumbeschrei- kurzen Aussprache hat die Lerngruppe die Gelegen- bung). heit, in den Schulungsräumen die verschiedenen Ar- beitsmaterialien mit den authentischen Dokumenten 6. Zwischenbilanz zum Quellenstudium zu nutzen, entsprechend des Diese Doppelstunde stellt eine Zäsur in der Unter- Lernschwerpunktes für eine regionale Spurensuche richtsreihe dar und dient vorwiegend der Evaluation zu jüdischen Einzelschicksalen im Einzugsgebiet der der zurückliegenden Stunden, speziell der Roman- Schule. Eine Hilfe zur Dokumentation von Erkenntnis- lektüre. Die Schülerinnen und Schüler bekommen sen erhalten die Lernenden mit dem Arbeitsblatt hierzu Metaplan-Karten, die dazu dienen, die erste Leitfragen.13 Unterrichtsphase insgesamt zu refl ektieren.

10. Abschluss-Stunde 7. Vertiefung Im Zentrum dieses Tages steht die Nachbereitung Im Anschluss an das Feedback wird übergeleitet auf den möglichen zweiten Teil der Unterrichtsreihe. der Exkursion mit den Erfahrungsberichten über den Dazu wird die Lerngruppe mit einer projizierten Sta- Besuch der Gedenkstätte. Die Kleingruppen berich- tistik12 konfrontiert, die über jüdische Mitbürger ten von ihren Eindrücken und stellen ihre Recherche- 1933-1945 im Einzugsgebiet der Schule Auskunft ergebnisse über ehemalige jüdische Mitbürger in gibt, verbunden mit der Aufgabenstellung, die Signi- Form eines Stationenlernens dar. Dazu gestalten sie fi kanz der Einwohnerzahlen samt der Veränderungen im ersten Teil des Vormittages zunächst die visuelle zu erläutern. Aufbereitung der einzelnen Stationen, bevor im zweiten Teil die Ergebnisse betrachtet werden. Mit 8. Stolpersteine vor Ort der Besprechung der Fallbeispiele im Plenum und An diesem Schultag erfolgt eine geplante Stadtfüh- dem Herleiten von Analogien zum Schicksal der rung am Ort der Schule mit dem Fokus „Spurensuche Hauptfi gur in der Romanerzählung „Lauf, Junge, jüdischen Lebens“. Markante Orte (möglicherweise lauf“ wird ferner eine inhaltliche Integration der Un- ehem. Synagoge, jüdischer Friedhof, Judengasse) terrichtssequenzen vollzogen. werden dabei aufgesucht und der notwendige loka- le Bezug zur NS-Geschichte hergestellt. Das Lernar- Eine gemeinsame Aussprache über die behandelten rangement an diesem Tag wird ergänzt durch einen Themen schließt sich an. Damit dient die Abschluss- Vortrag eines Stadthistorikers zum Projekt „Stolper- phase dieses Tages auch der Refl exion der Unter- steine“, einer künstlerischen Initiative zur Erinnerung richtsreihe sowie der Methoden.

10 vgl. Material 4 Puzzle 11 vgl. Material 5 Collage 12 Hier eignen sich als Quelle lokale Geschichtsbücher und Chroniken. 13 vgl. Material 6 Leitfragen

27 Spurensuche – Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

Hoffmann, Andrea (2005): Junge Menschen begegnen Vergan- Fazit genheit – Geschichtsvermittlung zwischen Opposition, Langewei- le und Beteiligung. In: Schlag, Thomas / Scherrmann, Michael Biografi sches Unterrichtsmaterial, insbesondere sol- (Hrsg.) (2005): Bevor Vergangenheit vergeht. Für einen zeitge- mäßen Politik- und Geschichtsunterricht über Nationalsozialismus ches mit Regionalbezug, erweist sich in vielen Lern- und Rechtsextremismus. Schwalbach/Ts., 92-99. gruppen als lernförderlich, da über Beispiele von Einzelschicksalen eine Aktivierung von vorhandenem Imhof, Werner (2005): Zeitzeugenbegegnungen mit ehemaligen Zwangsarbeitern als handlungsorientierter Zugang zum Thema Wissen, eigenen Interessen und von persönlicher Nationalsozialismus. In: Schlag, Thomas / Scherrmann, Michael Empathie besser gelingt. Insbesondere die in den (Hrsg.) (2005): Bevor Vergangenheit vergeht. Für einen zeitge- originalen Zeugnissen vermittelte Anschaulichkeit mäßen Politik- und Geschichtsunterricht über Nationalsozialismus und Rechtsextremismus. Schwalbach/Ts., 100-112. von Lebens- und Alltagsgeschichte führt zu unter- schiedlichen Lernanlässen und bewirkt, dass sich Körber, Andreas / Baeck, Oliver (Hrsg.) (2006): Der Umgang mit Schülerinnen und Schüler eine durchgängig enga- Geschichte an Gedenkstätten. Anregungen zur De-Konstruktion. Neuried. gierte Arbeitshaltung in der thematischen Auseinan- dersetzung zu Eigen machen. Lange, Dirk (Hrsg.) (2006a): Politische Bildung an historischen Or- ten. Materialien zur Didaktik des Erinnerns. Baltmannsweiler. Speziell im Zusammenhang mit einer Exkursion in Lange, Dirk (2006b): Politische Bildung an historischen Orten. eine Gedenkstätte können so Lernchancen ermögli- Vorüberlegungen für eine Didaktik des Erinnerns. In: Ders. (Hrsg.) cht werden, die für den historisch-politischen Unter- (2006a): Politische Bildung an historischen Orten. Materialien zur richt mehr als fruchtbar sind. Nicht nur, dass grundle- Didaktik des Erinnerns. Baltmannsweiler, 9-19. gende Einsichten am historischen Ort repräsentiert Lange, Thomas / Lux, Thomas (2004): Historisches Lernen im Ar- werden; gerade der Gesichtspunkt des forschend- chiv. Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts. entdeckenden Lernens, der in der Bewertung der Meseth, Wolfgang / Proske, Matthias / Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.) Lernenden durchweg positiv ausfällt, macht den hi- (2004a): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen storischen Ort unter den beschriebenen Rahmenbe- des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/Main. dingungen zu einem zentralen Anknüpfungspunkt, Meseth, Wolfgang / Proske, Matthias / Radtke, Frank-Olaf (2004b): Geschichte zu refl ektieren. Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Ge- schichtsunterrichts. In: Dies. (Hrsg.) (2004a): Schule und National- Ausgehend vom Exemplarischen und einer erkenn- sozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/Main, 9-30. baren Verfl echtung von Mikro- und Makrogeschichte vollzieht sich so eine die Unterrichtsziele unterstüt- Orlev, Uri (2006): Lauf, Junge, lauf. Weinheim und Basel. zende Dekontextualisierung mit einem Kommunika- Reinhardt, Sibylle (2007): Politikdidaktik. Praxishandbuch für die tionsraum für notwendige Fragestellungen zu Totali- Sekundarstufe I und II. Berlin. tarismus und Menschenverachtung im Allgemeinen. Richter, Gunnar (Hrsg.) (1993): Breitenau. Zur Geschichte eines nationalsozialistischen Konzentrations- und Arbeitserziehungsla- gers. Kassel. Literaturhinweise Schlag, Thomas / Scherrmann, Michael (Hrsg.) (2005): Bevor Ver- Brüning, Ludger / Saum, Tobias (2008): Kooperatives Lernen. Me- gangenheit vergeht. Für einen zeitgemäßen Politik- und Ge- thoden für den Unterricht. Seelze. schichtsunterricht über Nationalsozialismus und Rechtsextremis- mus. Schwalbach/Ts. Elsas, Barbara / Naundorf, Arnd / Richter, Gunnar (1994): Überle- gungen zur pädagogischen Konzeption für die Arbeit mit Jugend- Wedel, Martin / Wolf, Roland (2005): Philosophie der Bildungs- lichen in der Gedenkstätte Breitenau – unter besonderer Berück- planreform in Baden-Württemberg und das Thema „Nationalsozi- sichtigung des Besuchs von Schülern und Schülerinnen. Gedenk- alismus“ in den Bildungsstandards. In: Schlag, Thomas / Scherr- mann, Michael (Hrsg.) (2005): Bevor Vergangenheit vergeht. Für stätte Breitenau, Broschüre der Gedenkstätte Breitenau, Guxha- einen zeitgemäßen Politik- und Geschichtsunterricht über Natio- gen. nalsozialismus und Rechtsextremismus. Schwalbach/Ts., 151-156. Helfert, Mona (2006): ‚Lauf, Junge, lauf‘ im Unterricht. Weinheim und Basel.

28 Spurensuche – Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

M1 Dialog zwischen Großvater und Enkel

Großvater: „Sag mal, Tobias, weißt du denn, was heute für ein Tag ist?“

Tobias: „Der 9. November ist heute. Wieso, hab‘ ich was Wichtiges vergessen?“

Großvater: „An die ‚Reichskristallnacht ̦ sollten wir uns heute erinnern.“

Tobias: „Was‘n das? ‚Reichskristallnacht ?“̦

Großvater: „Ja, lernt ihr denn in der Schule gar nichts mehr von der Geschichte eures Landes? Heute vor fast 70 Jah- ren musste ich mit ansehen, wie das Geschäft vom Vater meines damals besten Freundes Maximilian Katz zerstört und geplündert wurde. Kurz danach verschwanden er und seine Familie für immer.“

Tobias: „Ach, nicht schon wieder, Opa. Hör doch auf mit den alten Geschichten. Das ist doch nun so lange her. Man muss das doch nicht immer wieder aufwärmen! Irgendwann ist auch mal Schluss!“ Text: Christoph Rohde

M2 Visueller Impuls

29 Spurensuche – Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

M3 Lernspirale – Infoblatt

Antisemitismus in Deutschland selbst ins Warschauer Ghetto gebracht. In den schlimm- sten Zeiten lebten dort ca. ½ Million Menschen. Die Leidensweg der jüdischen Bevölkerung in der Zeit des mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln und Medi- Nationalsozialismus kamenten war besonders schlimm. Die tägliche Lebens- mittelration betrug etwa 184 Kalorien pro Person (das Die Geschichte des jüdischen Volkes ist in weiten Teilen entspricht etwa ½ Reisbeutel oder 250g Kartoffeln). geprägt von unsagbarem Leid. Tote und ausgehungerte Menschen, bettelnde und Ein Blick zurück: Im Deutschen Reich lebten die Juden stehlende Kinder prägten den Alltag in den meisten ihre Religion über Generationen hinweg aus und trugen Ghettos. Welch unvorstellbares Grauen hier herrschte, als Bürger des Landes enorm zur kulturellen und wirt- lässt sich heute kaum erahnen. schaftlichen Entwicklung bei. Und dennoch betrachtete man sie mit Argwohn, weil ihre Glaubensgemeinschaft Endlösung eine Minderheit gegenüber der christlichen Mehrheit Auf der Wannsee-Konferenz in Berlin im Januar 1942 darstellte und sie für sämtliche Probleme in Deutsch- beschlossen die Nationalsozialisten die sog. Endlösung land verantwortlich gemacht wurden. der Judenfrage. Das bedeutete: Man einigte sich auf die systematische und organisierte Ermordung aller Juden Machtergreifung im Herrschaftsbereich der Deutschen. Kurze Zeit später Als die Nationalsozialisten mit ihrer Ideologie 1933 an wurden deshalb die großen Vernichtungs- und Konzen- die Macht kamen, erreichte der Antisemitismus ein trationslager eingerichtet. Jüdische Menschen – Män- neues Ausmaß. Die deutschen Juden wurden nicht ner, Frauen, Kinder und alte Leute – wurden erneut zu- mehr nur als religiöse Minderheit betrachtet, sondern sammengetrieben und in Güterwagen abtransportiert. als minderwertige Rasse und als Todfeind des deut- Viele starben bereits während der unmenschlichen schen Volkes beschimpft. Viele Menschen glaubten die- Fahrt dorthin. ser hasserfüllten , nur wenige stellten sich Auch das Warschauer Ghetto wurde nach der End- auf die Seite ihrer jüdischen Mitbürger. lösung der Judenfrage ab Mitte 1942 schrittweise auf- Sofort nach der Regierungsübernahme Adolf Hitlers gelöst; die Opfer wurden in die neuen Vernichtungs- entwickelte sich die offene Bosheit an den jüdischen lager geschickt, die meisten von ihnen ins KZ Treblinka. Bürgern. Im Norden des Warschauer Ghettos lag der sog. „Um- Der nationalsozialistische Deutsche Staat organisierte in schlagplatz“, ein kleiner Güterbahnhof, der dem Ab- einem bis dahin ungeahnten Maße die Diskriminie- transport in die Vernichtungslager diente. rung, die Verfolgung und schließlich die millionenfache Nach der Ankunft wurde von NS-Ärzten entschieden, grausame Ermordung von jüdischen Menschen. Opfer wer sofort ermordet werden sollte oder wer noch eine wurden dabei nicht nur deutsche Juden, sondern auch bestimmte Zeit im Lager Sklavenarbeit leisten musste. In die Juden in den von Deutschland eroberten Gebieten eigens eingerichteten Gaskammern wurden die Men- Europas. schen zuletzt ermordet. Um möglichst wenige Spuren In den ersten Jahren nach der Machtergreifung erfolgte zu hinterlassen, ließ man ihre Leichen später im Krema- zunächst die Entrechtung der Juden. Seit einem Ge- torium verbrennen. setzeserlass aus dem Jahr 1935 zählten Juden rechtlich nicht mehr als Bürger. Kriegsende In den folgenden Jahren verschärfte sich die Arisie- Unerschütterlich hielten die Nationalsozialisten an ihrer rungspolitik der Nazis. Sie erreichte 1938 einen wei- Vernichtungspolitik bis Kriegsende fest. Der Völker- teren Höhepunkt in den offenen Pogromen gegen jü- mord an den Juden in der Zeit des Dritten Reichs wird dische Familien und ihre berufl iche Tätigkeit. heute auf etwa 6,3 Millionen Opfer geschätzt. Kriegsbeginn Spätestens mit Kriegsbeginn steigerte sich der Holo- caust ins Unermessliche: Knapp vier Wochen nach dem Einmarsch deutscher Sol- daten in Polen besetzten die Nationalsozialisten Ende September 1939 die polnische Hauptstadt Warschau. Schritt für Schritt begann die Ghettoisierung der pol- nischen Bevölkerung. Die Nationalsozialisten zwangen die Juden aus den polnischen Städten in abgegrenzte, von einer Mauer umgebene Ghettos hinein. Das größte dieser Ghettos war das im Zentrum der Stadt Warschau. Schließlich wurden jüdische Gruppen auch aus anderen besetzten Ländern Europas sowie aus Deutschland

In Anlehnung an Bundeszentrale für politische Bildung 2003 bzw. 2004

30 Spurensuche – Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

M4 Puzzle

November- ab Machtantritt

der Pogrome 1942 National- sozialisten September

1939 Ende der ab Aufl ösung

des NS-Diktatur 1933 Warschauer Ghettos

November

Nürnberger 1938 September

Gesetze 1935

Beginn Mai Wannsee-Kon- ferenz Januar des in 2. Weltkriegs 1945 Berlin 1942

Quelle: Christoph Rohde

31 Spurensuche – Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

M5 Collage

32 Spurensuche – Realbiografi sches Lernen im historisch-politischen Unterricht

M6 Leitfragen Fragen zu den Häftlingsakten in der Gedenkstäte Breitenau

1. Was ist über die Person zu erfahren ?

2. Welche Haftgründe werden angegeben ?

3. Haftdauer ?

4. Daten zur Deportation

5. Welche Behörden oder Institutionen sind am Vorgang beteiligt ?

6. Besondere Vermerke

Quelle: Formular, Gedenkstätte Breitenau (Gunnar Richter)

33 Die Autobiografi e „Destined to Witness“ von Hans J. Massaquoi* (1999)

Sascha Ruhweza

Ein Unterrichtsprojekt zur Förderung interkultureller Kompetenzen im Englischunterricht in der Jahr- gangsstufe 10 (R).

Literarische Texte tragen durch ihre individuelle Per- spektive zu einer Distanzierung von der Sichtweise bei, dass die Kategorien race, class and gender einen Menschen in stereotypisch geprägter Weise bestim- men (vgl. Bredella 2004: 158). Durch die Textrezepti- on und -interpretation werden die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzt, die Welt aus den Augen eines Anderen zu sehen, was die Basis für die Entwick- lung von Empathiefähigkeit und Toleranz darstellt.

Most offensive to me were two words that I have ne- ver heard before and that I soon discovered were used by people for the sole purpose of describing the Abb. 1: Hans-Jürgen Massaquoi mit Klassenkame- way I looked. One word was […] The other raden in Hamburg 1933 (Massaquoi 1999) word was Neger […] (Massaquoi 1999: 17f.).

Welch zentrale Rolle die Sprache, genauer gesagt Autobiograf und Zeitzeuge zugleich: die Verwendung einzelner Begriffe, im Bereich der Hans J. Massaquoi erlebten Diskriminierung eines Menschen spielen kann, ist für die Lernenden nachvollziehbar, wenn sie Hans-Jürgen Massaquoi wurde 1926 in Hamburg als den Text aus der Sicht des autobiografi schen Zeit- Sohn der deutschen Krankenschwester Bertha Baetz zeugen rezipieren und sich dadurch in seine emotio- und Al-Haj Massaquoi, dem Sohn des liberianischen nale Lage hinein versetzen können. Ein rein auf Fak- Generalkonsuls in der Hansestadt, geboren. Als sein tenwissen basierender Fachunterricht kann diese Vater nach Liberia zurückkehrt und die Nationalsozi- psychosozialen Kompetenzen mangels emotionaler alisten an die Macht gelangen, wendet sich die Situ- Einbindung nicht gleichermaßen ansprechen. Die ation des jungen Hans J. Massaquois grundlegend. Erzählperspektive des männlichen Protagonisten Von einem Leben, das bis dahin vom Reichtum eines Hans J. Massaquoi, der größtenteils seine Jugend- liberianischen Generalkonsulats geprägt war, gerät zeit in Deutschland beschreibt, spricht besonders er in die präkäre Lage, welche durch die Angst und gut die Gruppe der adoleszenten, männlichen Gefahr bestimmt wird, dem Terror der Nazis als Schüler an, die laut statistischen Erhebungen am „Nicht-Arier“, für den die Nürnberger Rassegesetze ehesten anfällig für die Entwicklung fremdenfeind- gelten, in seiner Heimatstadt Hamburg zum Opfer zu licher Denk strukturen sind.

* Hans J. Massaquoi, Neger, Neger, Schornsteinfeger! Rechte bei Hans J. Massaquoi (1999). Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Scherz Verlag, Bern für den Fretz & Wasmuth Verlag (1999). Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.

34 fallen. Doch gemeinsam mit seiner Mutter und sei- und die fanatisierte Bevölkerung unberechenbar nem Freund Ralph Giordano überlebt er die Schre- wird. Bei Besuchen im Kellerversteck der Giordanos cken dieser Zeit. Nach dem Krieg emigriert er 1950 freundet sich Hans-Jürgen mit der jüdischen Familie in die USA, wo er Publizistik und Kommunikations- an, zu der auch ein etwa gleichaltriger Leidensge- wissenschaften studiert (University of Illinois). Hans J. nosse, der bekannte Bestsellerautor und Fernseh- Massaquoi fi ndet Anstellung bei Johnson Publishing Dokumentarist Ralph Giordano, gehört. und wird später Chefredakteur von Ebony, der größ- ten und etabliertesten afroamerikanischen Zeit- Die Nachkriegsbekanntschaften mit den Amerika- schrift. Im Rahmen dieser Tätigkeit lernt er u. a. den nern ‚Smitty’ und ‚Yankee-Werner’ lassen den großen bekannten Bürgerrechtler Dr. Martin Luther King Jr., Traum von einem Leben in der neuen Welt beginnen, die Boxlegende Muhammad Ali und außer Jimmy auch weil er, teils mit deren Hilfe, teils autodidaktisch, Carter noch drei weitere amerikanische Präsidenten seine Englischkenntnisse aufbaut. Die Lebensphase persönlich kennen. Er befi ndet sich mittlerweile im als erfolgreicher Journalist in den USA wird in Grund- Ruhestand und lebt mit seiner Frau in Ponte Vedra zügen skizziert und ist in detaillierterer Form Gegen- Beach, Florida. stand des zweiten Teils seiner Autobiografi e „Häns- chen klein, ging allein… Mein Weg in die Neue Welt“ (2004). Kurze Inhaltsangabe zu Destined to Witness (1999) Didaktische Überlegungen: Warum eignet Die ersten Jahre seines Lebens verbringt Hans J. sich dieser Text für die Lehr-/Lernsituation Massaquoi inmitten der Prosperität des liberia- im Englischunterricht der Sekundarstufe I? nischen Generalkonsulats in Hamburg. Als Kind empfi ndet Hans-Jürgen dunkle Hautfarbe als Zei- Die im Folgenden dargestellte Unterrichtsreihe soll chen für Reichtum und Wohlstand, da alle Hausdie- insbesondere diejenigen Kompetenzen der Schüle- ner und Dienstboten der Familie seines liberia- rinnen und Schüler erweitern, welche die Entstehung nischen Großvaters Deutsche, d. h. Weiße sind. Kurz von rechtsextremen und rassistischen Haltungen ver- vor Hitlers Machtergreifung kehren Vater und Groß- hindern können. Dabei wird sich zeigen, dass der Fo- vater in ihre Heimat Liberia zurück und lassen den kus auf psychosozialen Kompetenzen liegt, aber jungen Hans-Jürgen mit seiner Mutter Bertha in auch die Wissenskompetenz, die Analysefähigkeit Deutschland zurück, da die Eltern befürchten, der und die Urteilsfähigkeit werden in Bezug auf das Klimawechsel würde den ohnehin schon instabilen Thema sowie unter Berücksichtigung der Einteilung Gesundheitszustand des Kindes noch weiter ver- von Kompetenzen gefördert. schlechtern. Es folgen Jahre voller Angst und Terror für Mutter und Sohn, wobei er als ‚Nichtarier’ prinzi- Die außergewöhnliche Autobiografi e Massaquois piell andauernder Gefahr ausgesetzt ist, aber von hat sowohl den Antisemitismus als auch den Rassis- der Tatsache profi tiert, dass Personen mit seinem mus in der NS-Zeit zum Thema, wobei die Freund- Status in den rassebiologischen Regelungen der Na- schaft des Protagonisten mit Ralph Giordano auch zis in Hamburg aufgrund ihrer Seltenheit keine Be- komparative Analysen ermöglicht. achtung geschenkt wird. Bei allem was in dieser Zeit geschieht, steht Mutter Bertha ihrem Sohn immer Die Kapitel weisen bei bestehender Sukzessivität der tapfer und heldenhaft zur Seite. Ereignisse eine jeweils innere Geschlossenheit auf, sodass durchaus auch die Kapitel einzeln gelesen Der heranwachsende Hans-Jürgen lernt die Deut- werden können. Diese haben dann den Umfang ei- schen im Nationalsozialismus von sehr unterschied- ner Kurzgeschichte und sind bezüglich syntaktischer lichen Seiten kennen. Es sind sowohl rassistische Per- Struktur und Vokabular in der Jahrgangsstufe 10 (R) sonen wie u.a. sein Lehrer Wriede vertreten als auch zu bewältigen. solche, die durch eine Distanzierung von den Vor- stellungen des diskriminierenden Nazi-Regimes auf- Außerdem verwendet Massaquoi zahlreiche deut- fallen wie z.B. der Tanzlehrer, der Boxtrainer, ein Park- sche Wörter im Text des englischen Originals, meist wächter und ein Polizist. In den letzten Monaten des gefolgt von der englischen Übersetzung in Klam- Krieges wird es für den Teenager immer gefährlicher, mern, sodass das Buch gerade zu einen bilingualen da die potenzielle Aggression durch die Charakter aufweist:

35 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

• Blut und Ehre (blood and honor) (Massaquoi 1999: ness ist und wie viele Teilaspekte des interkulturellen 101) Fremdsprachenunterrichts angesprochen werden. • Elternabend (parents’ night) (ebd.: 69) Dennoch muss eine didaktische Reduktion im Sinne • Kraft durch Freude (Strength Through Joy) pro- einer Begrenzung des Textkorpus stattfi nden, da die grams of the Deutsche Arbeitsfront (ebd.: 105) ganzheitliche Behandlung eines originalen, fremd- • the […] Winterhilfswerk (winter aid project), whose sprachigen Textes von rund 400 Seiten den durch den motto was Keiner soll hungern, keiner soll frieren Lehrplan festgesetzten Rahmen sprengen und die (Noone shall starve, noone shall freeze) (ebd.: 106) Schüler der Sekundarstufe I auch hinsichtlich ihrer Re- • „ Stop that negerhafte Grinsen“ (negrifi ed grinning) zeptionsgewohnheiten in der Fremdsprache überfor- (ebd. 108) dern würde (vgl. Brunner 2005: 23). Aus diesem Grun- • before I could say Danke schön (ebd.: 187) de wird eine Zusammenstellung ausgewählter Kapitel • “ We don’t have room for Ausländer (foreigners) in vorgenommen, anhand derer fremdsprachlich- here” (ebd.: 246) kommunikative und interkulturellen Lernziele realisiert • Makaronifresser (macaroni eaters) (ebd.: 244) werden können. Die Beschränkung auf einzelne, • My mother was right, gelernt is gelernt (learned is besonders interessante und spannende Kapitel ist aus learned) (ebd.: 417) didaktischer Sicht kein Nachteil, da die Schüler auf diese Weise zum freiwilligen Lesen des Gesamttextes So ist auf fast jeder Seite von Destined to Witness animiert werden können. mindestens ein deutsches Wort vorhanden, und Massaquoi beendet seine Autobiografi e im eng- lischen Original, die eigene Mutter zitierend, sogar Kapitelauswahl, Unterrichtsvorschläge mit den Worten, „Ende gut, alles gut“. und Lernziele Auch die Kindheitsjahre des Autors bieten jede Men- Es werden nun die ausgewählten Kapitel vorgestellt, ge Diskussionsstoff für einen interkulturellen Fremd- anhand derer die aufgeführten fremdsprachlich- sprachenunterricht, da er selbst – paradoxerweise – kommunikativen, interkulturellen und sozio-affek- vom nationalsozialistischen Rassismus indoktriniert tiven Lernziele am besten realisiert werden können. war und daher beispielsweise eine Abneigung ge- Die Unterrichtseinheit beginnt mit Kapitel 21, um das gen Sinti und Roma hatte: „I, too, became a staunch Interesse der Schüler mit einem fesselnden Einstieg believer of the popular German myth that Gypsies zu wecken. Ab der folgenden Unterrichtsstunde wird steal children […]. I always made sure to keep as much distance between them and me as possible“ (Massa- die Chronologie des Originaltextes übernommen. quoi 1999: 21f.). Ebenso war Massaquois kindliche Meinung zu Hitler genauso von Glorifi zierung ge- Die im Folgenden aufgeführten Stundenentwürfe prägt wie bei vielen anderen Deutschen: „I could ac- sind lediglich als Vorschläge zu betrachten. Je nach cept […] that there might be a few bad people in the Schwerpunktsetzung und Leistungsstand der Lern- government, but to believe that Hitler, the man whom gruppe gäbe es auch alternative Möglichkeiten der I had been told to worship as Germanys savior, should Kapitelauswahl, der methodisch-didaktischen Aus- be capable of even the slightest mean act was beyond gestaltung sowie des einzuplanenden Stundenvolu- my comprehension” (ebd.: 58). mens der Unterrichtseinheit. Mit Ausnahme von Stunde 1 (Texteinstieg) ist jeweils ein Kapitel als Hausaufgabe zu lesen, um die Rezeption des unbe- Die Unterrichtseinheit kannten, fremdsprachigen Textes und den ange- strebten Perspektivenwechsel durch lautes Vorlesen Es ist bereits deutlich geworden, wie groß das fremd- in der Klasse nicht zu erschweren1 (vgl. Burwitz-Mel- sprachendidaktische Potenzial von Destined to Wit- zer 2003: 426).

1 Diese Vorgehensweise empfi ehlt auch Lothar Bredella (2002, 33) für den unterrichtlichen Einsatz anderer Autobiografi en im Fremdsprachenunterricht.

36 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

Stunde 1: Wriede arrives Pre-reading activity/Unterrichtseinstieg: • Nonverbaler Impuls (silent impulse) mit Bild 1 (sie- Inhalt: Herr Wriede, NSDAP-Mitglied und treuer An- he M1) hänger Hitlers, wird Rektor der Grundschule, die Hans-Jürgen Massaquoi im zweiten Schuljahr be- While-reading activities: sucht. Als Sportlehrer des jungen Hans-Jürgen mani- • Find all the German words in the text and underline puliert er eine eigens konzipierte Mutprobe so, dass them. Hans-Jürgen sie unmöglich bewältigen kann und de- • Hypothesen aufstellen: Why do you think is the nunziert ihn daraufhin vor seinen Klassenkameraden text written in English? als Feigling. In einer anderen Situation entzieht er Hans-Jürgen die ihm von seiner Deutschlehrerin zu- Post-reading activities: geteilte Hauptrolle für eine Theateraufführung. Mut- • Imagine you were Hans-Jürgen. Write a diary entry. ter Bertha schreitet energisch und erfolgreich ein, als • In-class discussion: How did you feel while writing Wriede dem Jungen verbieten möchte, sein khaki- the entry? farbenes Lieblingshemd zu tragen. Angeblich habe es eine Ähnlichkeit mit der HJ-Uniform, wodurch Didaktischer Kommentar: Wriede die HJ verunglimpft sieht. Der silent impulse mit dem Coverfoto eignet sich gut, um auf Stimmung und Thema des Textes vorzuberei- Erreichbare Kompetenzzuwächse: ten. Der dunkelhäutige Hans-Jürgen mit einem Ha- Die Schüler werden darin kompetenter, … kenkreuzaufnäher auf seiner Weste lädt unausweich- lich zu Fragen und Stellungnahmen ein. Die Unter- • den durch den Nationalsozialismus bedingten streichung deutscher Wörter macht auf das code Kon fl ikt im zielsprachigen Text zu analysieren und switching aufmerksam, sodass an Bekanntes im zu beurteilen, fremdsprachigen Text angeknüpft werden kann. Au- • den (äußerlich) von der Norm abweichenden Pro- ßerdem betont es den multikulturellen Charakter tagonisten zu analysieren, des Textes und fordert zur Hypothesenbildung auf. • einen originalen englischsprachigen Text mit bilin- Mit der kreativen post-reading activity (Übertragung gualen (deutschen) Elementen zu lesen, in eine andere Textsorte) wird der Selbstausdruck in • Empathie zu empfi nden, indem sie als Leser die der Zielsprache gefördert und zum Perspektiven- Diskriminierung spüren, wechsel angeregt. • den sozio-historischen Sachverhalt zu beurteilen, indem sie eigene Gefühle gegenüber der Hauptfi - gur in der Zielsprache ausdrücken (creative wri- ting),

37 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

M1 Lesson 1: Herr Wriede arrives

Pre-reading activity: Write down your thoughts when you see this picture.

Massaquoi 1999

While-reading activities: Find all the German words in this chapter and underline them.

NOW YOU: Why do you think Massaquoi wrote his book in English?

Post-reading activity: Imagine you were Hans-Jürgen. Write a diary entry about his day at school.

(Use overleaf)

38 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

Stunde 2: • Brainstroming zur Phrase „Neger, Neger, Schorn- The New Kid on the Block steinfeger“ • Im Anschluss: Why do you think is this only the Ger- Inhalt: Nach der Abreise des Vaters und des Groß- man title? Why is “Negro, Negro, chimney sweep” vaters muss sich Mutter Bertha eine neue Stelle als not the English book title, too? Krankenschwester und eine neue Wohnung für sich und Hans-Jürgen suchen. Beides fi ndet sie in Barm- (Post-) Reading activity: bek, einem Hamburger Arbeiterviertel. Auch für den • Partnerarbeit: Hans-Jürgen is afraid of Romanies at kleinen Hans-Jürgen ist das luxuriöse Leben nun vor- that time. Can we blame him for this? Gather argu- bei – auf der Straße wird er oft mit „Neger, Neger, ments for and against and present them in class. Schornsteinfeger!“ und ähnlichen Zurufen gehänselt, fi ndet aber trotzdem schnell neue Freunde. Bei einer Didaktischer Kommentar: Begegnungssituation mit Sinti und Roma während Durch die kooperative Lehr- und Lernform des Ku- eines Ausfl ugs in die Innenstadt mit seiner fürsorg- gellagers werden wesentliche Punkte der letzten lichen Babysitterin Tante Möller, beginnt letztere Stunde rekapituliert und die fremdsprachige Kom- damit, dem Jungen Angst vor dieser Minderheit zu munikation wird in sanktionsfreier Lernatmosphäre machen. gefördert. Im Brainstorming und durch das anschlie- ßende Unterrichtsgespräch werden die Schüler für Erreichbare Kompetenzzuwächse: Die Schüler wer- den darin kompetenter… die emotionale Wirkung verbaler Diskriminierung • zu verstehen, dass jeder Einzelne, unabhängig sensibilisiert und erfahren Wortwahl und Ausdrucks- vom eigenen Status, rassistisch denken/werden weise als wichtige Aspekte interkultureller Begeg- kann; nungssituationen. Die Variabilität in der Semantik • den zentralen interkulturellen Konfl ikt zu beurtei- gleicher Bezeichnungen in unterschiedlichen Spra- len, indem sie eine Stellungnahme in der Zielspra- chen wird ebenfalls nachvollziehbar. Letztlich sollen che formulieren. die Schüler die Denkweise des Protagonisten genau refl ektieren und in der Zielsprache diskutieren, um Pre-reading activities/Unterrichtseinstieg: so zu der Einsicht zu gelangen, dass Rassismus und • Build a „Kugellager“ and repeat the main aspects Ethnozentrismus tatsächlich jedem anerzogen wer- about autobiographic texts. den können.

M2 Lesson 2: The New Kid on the Block

Pre-reading activity: a. Brainstorming: „Neger, Neger, Schornsteinfeger“ What do you think about this title? Gather your fi ndings on the board. b. Question: Why do you think this is only the German title? Why is „Negro, Negro, chimney sweep” not the English book title, too?

(Post-) Reading activity: Pair work: Hans-Jürgen is afraid of Sinti and Romanies at that time. Can we blame him for this? Gather arguments for and against and present them in class.

Yes, we can blame him No, we can’t

39 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

Stunde 3: Post-reading activity: • At that time many Jews left Germany and fl ed to Inhalt: Die öffentliche Denunzierung und Diskrimi- the . Imagine you were one of those. nierung von Juden wird stärker. Ein jüdischer Ar- Write an article for an American newspaper in which beitskollege im Krankenhaus der Mutter wird entlas- you describe the situation in Germany. sen und auch in anderen öffentlichen Einrichtungen beginnt die ideologische Gleichschaltung. In Hans- Didaktischer Kommentar: Jürgens Grundschule gehören nationalsozialistische Der Unterrichtseinstieg knüpft an die vergangene Propagandatexte und -fi lme zu den alltäglichen Un- Stunde an, erweitert und sichert den intrakulturellen terrichtsgegenständen, sodass sich bei ihm selbst Wissenstand. Die Konzentration auf die verwendeten auch antisemitische Denkstrukturen verfestigen. Eigenschaftswörter (Unterstreichung) deckt das ste- reotype Fremdbild auf und erweitert darüber hinaus Erreichbare Kompetenzzuwächse: Die Schüler wer- den Wortschatz in der Zielsprache. Es wird offen- den darin kompetenter… sichtlich, dass negative Heterostereotypen durch • diskriminierende Vorurteile und Stereotypen im Medien und Institutionen geschaffen werden kön- Text zu erkennen und einordnen zu können; nen. Durch die erfolgreiche Indoktrinierung von • die erkannten Stereotypen mittels Formulierung Hans-Jürgen und seinen Klassenkameraden erfah- einer eigenen Meinung zu beurteilen und diese ren die Schüler erneut die Funktionsweise von Stere- Beurteilungen mit anderen Schülern im fremd- otypen und sehen einmal mehr, dass eine stereoty- sprachigen Diskurs zu vergleichen. pisch geprägte, ethnozentrische Sicht auf andere je- dem Menschen anerzogen werden kann. Dadurch (Pre-) Reading activity/Unterrichtseinstieg: soll eine kritische Selbstsicht und Eigenrefl exion der • Look for all aspects of anti-Semitic discrimination Schüler angeregt werden. Die post-reading activity and add them to last lesson’s list about Germany’s lädt zu einem erneuten Perspektivenwechsel ein und history. fördert die selbstständige Ausdrucksfähigkeit in der • Underline all the adjectives and other words which Zielsprache auf kreative Weise. describe Jews. • Try to describe the stereotype which is being created.

M3 Lesson 3: Jews

(Pre-) Reading activity: Look for all the adjectives and other words that describe Jews.

Try to describe the stereotype that these words create.

Post-reading activity: At that time many Jews left Germany and fl ed to the United States. Imagine you were one them. You have left Germany and you have arrived in America. Write an article for an American newspaper in which you describe the situation in .

40 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

Stunde 4: Mirror, Mirror on the Wall (Post-) Reading activity: • Today, many people straighten or dye their hair. Inhalt: Als Grundschüler beginnt Hans-Jürgen sein Others have perms or tan their skin. Have you ever „nicht-deutsches“ Aussehen selbst zu hassen. Er sieht done something like this? Why? Interview your nicht die Nazis, sondern seine Hautfarbe und sein neighbour… Kraushaar als Grund für seine Probleme. Vergeblich • Unterrichtsgespräch: What did your interview part- versucht er sich mit einer Zuckerlösung heimlich die ner say? Compare your answers with Hans-Jürgen’s Haare zu glätten. Mutter Bertha tut ihr Bestes, um situation in National Socialist Germany. dem Jungen die Unnötigkeit seiner Komplexe zu er- klären. In der Öffentlichkeit trägt er aber trotzdem Didaktischer Kommentar: immer öfter eine Mütze, um seine Haare vor fremden Die Zeitungsartikel aus der letzten Stunde werden zu Blicken zu verstecken. Zwecken der (fremdsprachigen) Präsentation und zur Ergebnissicherung durch eine gemeinsame Wand- Erreichbare Kompetenzzuwächse: Die Schüler wer- zeitung fi xiert. Das Klassenfoto von Hans-Jürgen den darin kompetenter… Massaquoi, auf dem er als einziger Schüler der Klas- • Lösungsmöglichkeiten für das Problem des Prota- se eine Kopfbedeckung trägt, dient als visueller Im- gonisten in der Zielsprache zu diskutieren und puls, mit dessen Hilfe die Schüler eine inhaltliche die se vergleichend zu beurteilen; Verbindung zu dem zu Hause gelesenen Kapitel her- • ihre eigenkulturell geprägte Einstellung zu dem stellen und zudem die Möglichkeit erlangen, den Problem zu analysieren. Konfl ikt des äußerlich von der Norm abweichenden Jungen schildern und bewerten zu können. Das Part- Pre-reading activity/Unterichtseinstieg: nerinterview zeigt deutlich die Notwendigkeit eines • Vorstellung der fertigen newspaper reports (aus Perspektivenwechsels auf, da ähnliche, eventuell von Vorstunde) den Schülern selbst vollzogene Änderungen des • Silent impulse mit Bild 2 (siehe M4) => Diskussion Aussehens sich nicht auf vergleichbar rassistische über Mütze Vorstellungen von Ästhetik und Schönheit beziehen, derer man sich nicht entledigen kann.

41 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

M4 Lesson 4: Mirror, Mirror on the Wall Massaquoi 1999

Pre-reading activity: Why do you think Hans-Jürgen is the only pupil who is wearing a cap?

Today, many people straighten or dye their hair. Others have perms or tan their skin. Have you ever done something like this? Why? Interview your neighbour…

Gather your fi ndings: What did your interview partner say? Compare your answers with Hans-Jürgen’s situation in Nazi Germany.

Today, people straighten or dye their hair Hans-Jürgen tried to straighten his hair because… because…

42 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

Stunde 5: Gretchen Reading activity: • Divide the chapter in different sections and fi nd a Inhalt: Hans-Jürgen lernt in der Schule, dass es heading for each. ‚Nichtariern’ wegen potenzieller „Rassenschande“ verboten ist, mit deutschen Frauen in Kontakt zu tre- Post-reading activity: ten. Nichtsdestotrotz interessiert sich die gleich- • Write a letter Gretchen could have sent to Hans- altrige Gretchen Jahn für Hans-Jürgen und auch de- Jürgen in order to comment on his decision to in- ren Mutter fi ndet den jungen Mann sehr sympathisch. terrupt their relationship or write a letter Hans-Jür- Die Beziehung der Teenager wird vor der Öffentlich- gen could have sent to Gretchen in order to explain keit und dem Vater Gretchens, einem parteitreuen his decision. Nazi, geheim gehalten. Auf Hans-Jürgens Initiative • Send your letter to one Hans-Jürgen/Gretchen in wird die Beziehung zum beiderseitigen Schutz been- the class and say if you are satisfi ed with the expla- det mit der Option, sie nach dem erwarteten Ende nation you are given. der Nazi-Herrschaft wieder aufzunehmen. • Hausaufgabe: Can Teenagers in Germany and America have similar problems today? Prepare a Erreichbare Kompetenzzuwächse: Die Schüler wer- mind map. den darin kompetenter… • die psychosoziale Teenagerthematik der „ersten Didaktischer Kommentar: Liebe“ aus einer interkulturellen Konfl iktsituation Das Assoziogramm schafft eine Gesprächsgrundla- heraus zu analysieren und im fremdsprachigen ge für die Teenagerthematik der ersten Liebe. Durch Diskurs zu bewerten; die reading activity wird der Inhalt des gelesenen Ka- • aktuelle Bezüge zu inter- bzw. bikulturellen Bezie- pitels für den folgenden zielsprachigen Diskurs reak- hungen und Freundschaften herzustellen, indem tiviert. Am Ende der Stunde sollen alternative Lö- sie diese vor dem Hintergrund des Textes be- sungsmöglichkeiten für den Konfl ikt auf der Basis schreiben und vergleichend beurteilen. der verfassten Briefe diskutiert und bewertet wer- den. Bei der Herstellung des aktuellen Bezugs kön- Pre-Reading activity/Unterrichtseinstieg: nen besonders die Schüler mit Migrationshinter- • Assoziogramm zum Wort love oder fi rst love an grund (auf freiwilliger Basis) eigene Erfahrungen der Tafel oder Beobachtungen von Konfl iktsituationen im Be- reich bikultureller Beziehungen einbringen, bevor diese mit den Aussagen der US-Partnerklasse ver- glichen werden.

43 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

M5 Lesson 5: Gretchen

Pre-reading activity: What do you associate with the word(s) (fi rst) love? Draw a mind map.

(First) Love

Reading activity: Divide the chapter into different sections and fi nd a heading for each of them.

heading Line X – Line Y

Post-reading activity: Write a letter Gretchen could have sent to Hans-Jürgen in order to comment on his decision to end their relationship or write a letter Hans-Jürgen could have sent to Gretchen in order to explain his decision.

Send your letter to someone in the class who wrote to the opposite person (Hans-Jürgen to your Gretchen or Gretchen to your Hans-Jürgen.) Read each other‘s letters and explain whether you are satisfi ed with the explanation you are given.

44 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

Stunde 6: The Giordanos Post-reading activity: • Vorbereitung/Ideen sammeln für einen gemein- Auf dem Nachhauseweg von einem Kinobesuch be- samen Leserbrief an Hans J. Massaquoi, nachdem gegnen sich Hans-Jürgen Massaquoi und Egon Gior- im Deutschunterricht im Rahmen der fächerüber- dano, die sich noch aus früheren Zeiten kennen. greifenden Kooperation bereits ein Brief an Ralph Hans-Jürgen nimmt Egons Einladung in das Versteck Giordano verfasst wurde. der jüdischen Familie Giordano an und lernt auf die- sem Wege Egons Bruder Ralph und die ganze Fami- Didaktischer Kommentar: lie kennen. Gemeinsam hören die Freunde verbote- Die Mindmap soll die Komplexität und die Intensität nerweise den alliierten Rundfunk über den Kriegs- der Freundschaft der beiden Autoren (und Hauptfi - verlauf und tauschen Erfahrungen aus. Hans-Jürgen guren) einer fremdsprachigen Diskussion zugänglich befolgt aber nicht den Rat der Giordanos, sich eben- machen. Deren besondere Freundschaft regt zu falls bis zum erwarteten Kriegsende zu verstecken. einem Vergleich der teils unterschiedlichen, teils ähnlichen Schicksale an, die den beiden im National- Erreichbare Kompetenzzuwächse: Die Schüler wer- sozialismus widerfahren sind. Besonders motivie- den darin kompetenter… rend und faszinierend für die Schüler ist die Tatsache, • auf Juden bezogene Propaganda, Stereotypen dass es sich hierbei um zeitgenössische Autoren, d.h. und Diskriminierung zu erkennen; reale Personen handelt, die, wie die post-reading • die außergewöhnliche Freundschaft von Hans- activity zeigt, direkt in den interkulturellen Lernpro- Jürgen Massaquoi und Ralph Giordano zu analy- zess miteinbezogen werden können und dies nach sieren; eigenen Angaben auch gern tun. • die unterschiedlichen Überlebensstrategien der beiden Freunde im zielsprachigen Gespräch zu vergleichen.

(Pre-) Reading activity: • Gemeinsame Erstellung einer Mindmap: What do you know about the Giordanos and their friendship to Hans J. Massaquoi? Think of your German les- sons2…

2 An dieser Stelle ist im Rahmen fächerübergreifender Kooperation die Behandlung von Textpassagen aus ausgewählten Kapiteln (Erste Begegnung mit Mickey; „…nie Nazi gewesen!“; Das Gebüsch) von Ralph Giordanos „Die Bertinis“ im Deutschunterricht vor- gesehen, um die gegenseitigen Bezüge in den autobiografi schen Werken der befreundeten Autoren zu betonen und verglei- chend gegenüberzustellen (siehe Anhang).

45 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

M6 Lesson 6: The Giordanos

Pre-reading activity: Making a mind map: What do you know about the Giordanos and their friendship with Hans J. Massaquoi? Think of your German lessons …

Hans-Jürgen Massaquoi The Giordanos (Mickey)

Ralph Giordano

Post-reading activity: Gather ideas for a letter to Hans J. Massaquoi.3 What do you want to ask the author?

My questions:

3 Im Deutschunterricht kann im Rahmen der fächerübergreifenden Kooperation ein Brief an Ralph Giordano verfasst werden. Die Adressen beider Autoren sind öffentlich zugänglich.

46 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

Stunde 7: The Razor’s Edge (Post-) Reading activity: • Write a diary entry Ralph Giordano could have writ- Inhalt: In der unmittelbaren Nachkriegszeit hat Mas- ten about Hans-Jürgen’s personal change after the saquoi aufgrund seines Aussehens einen besseren war. Do also use the information from your last Ger- Draht zu britischen und amerikanischen Soldaten als man lesson4 about “Die Bertinis”. seine deutschen Landsleute. Um dies für sich, seine Mutter und die Giordanos nutzen zu können, muss er Didaktischer Kommentar: aber Englisch lernen. Mit Hilfe von Maugham’s Ro- Das Bild von 1946, auf dem Massaquoi gut gekleidet man The Razor’s Edge, den er von einem befreunde- und in entspannter Atmosphäre mit einem Freund in ten britischen Soldaten geschenkt bekam, und eines einem britischen Soldatenclub zu sehen ist, symboli- Wörterbuchs bringt er sich die Grundzüge der eng- siert die neue Lebensphase des Autors in der Nach- lischen Sprache auf autodidaktische Weise bei. kriegszeit, die wieder einmal wesentlich durch seine Hautfarbe bestimmt ist, aber diesmal in positiver Hin- Erreichbare Kompetenzzuwächse: Die Schüler wer- sicht. Die Zusammenhänge von Sprache, Aussehen den darin kompetenter… und Identität werden direkt thematisiert. Dies kann • die englische Sprache als Weltsprache zu sehen von den Schülern durch das Wählen einer alterna- und die Nützlichkeit von Literatur für den Sprach- tiven Kapitelüberschrift auch selbst zum Ausdruck lernprozess zu erkennen. gebracht werden. Mit dem Tagebucheintrag und dem wiederholten fächerübergreifenden Bezug zu Pre-reading activity: Ralph Giordano kann sogar ein teilweise außertextu- • Silent impulse mit Bild 5 eller Perspektivenwechsel vollzogen werden – eine Möglichkeit, die in dieser Form bei kaum einem an- Reading activity: deren Unterrichtsgegenstand existiert, was die • Find another headline for the chapter. Justify your Freundschaft der beiden zu einem einzigartigen Bei- choice. spiel für den Fremdsprachenunterricht macht.

4 Hier ist eine parallele Behandlung des Kapitels „Wie Ludwig Bertini aus Belsen zurückkehrte“ aus Giordanos „Die Bertinis“ im Deutschunterricht vorgesehen: „…aber die Bertinis hungerten nicht – weil Mickey immer noch […] Lebensmittel herantranspor- tierte, das dunkle Gesicht unter dem krausen Haar dann barsch verschlossen, um jede Dankesbezeugung im Keime zu ersticken.“ (Giordano 1982: 698).

47 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

M7 Lesson 7: The Razors‘s Edge

Pre-reading activity: Silent impulse (picture) Massaquoi 1999

Reading activity: Find another heading for the chapter. Justify your choice. My heading:

I have chosen this heading because

Post-reading activity: Write a diary entry that Ralph Giordano could have written about Hans-Jürgen’s personal change after the war. Also use the information from your last German lesson about “Die Bertinis”.

48 Die Autobiografi e „Destined to Witness“

Refl exion der Unterrichtseinheit geninitiativ nachzugehen. Dadurch haben die Schü- ler also selbst letztendlich dem Rassismus, d. h. der Die Unterrichtseinheit in ihrer Wirkung auf die Schü- abstammungsattributiven Abwertung anderer Men- ler umfassend darzustellen ist im Rahmen dieses Bei- schengruppen seine genealogische5 Grundlage ent- trags nicht möglich, es kann aber Folgendes als all- zogen. gemeines Fazit festgehalten werden: Die Unter- richtseinheit sorgte für eine große persönliche Iden- tifi kation der Schüler in der Auseinandersetzung mit Literaturhinweise dem Thema. Die Tatsache, es mit einem Zeitzeugen zu tun zu haben, interessierte und faszinierte die Bredella, Lothar / Burwitz-Melzer, Eva (2004): Rezeptionsästhe- Schüler besonders. Die Thematisierung von Stereo- tische Literaturdidaktik: mit Beispielen aus dem Fremdsprachen- unterricht Englisch. Tübingen: Narr. typen, Rassismus, Rechtsextremismus, Nationalsozia- lismus, Vorurteilen und der Vergangenheit Deutsch- Bredella, Lothar (2002): „Die Autobiografi e ‚Warriors Don’t Cry’.“ lands erfolgte sehr vielfältig im Rahmen der Lern- Der fremdsprachliche Unterricht / Englisch, Jg. 39, Bd. 59, 32-36. ziele. Auffallend war, dass die Schüler auch über den Brunner, Maria E. (2005): Interkulturell, international, intermedial: Englischunterricht hinausgehend weiteren Diskussi- Kinder und Jugendliche im Spiegel der Literatur. Frankfurt am onsbedarf hatten. Main: Lang.

Burwitz-Melzer, Eva (2003): Allmähliche Annäherungen: Fiktio- Dieser ging soweit, dass man sich, vom Beispiel der nale Texte im interkulturellen Fremdsprachenunterricht der Se- Person Hans J. Massaquoi ausgehend, mit dem Kon- kundarstufe I. Tübingen: Narr. strukt „Menschenrassen“ beschäftigte, um letztend- Cavalli-Sforza, Francesco / Cavalli-Sforza, Luca (1996): Verschie- lich zu dem Schluss zu kommen, dass diese nicht exi- den und doch gleich: Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die stieren: Der homo sapiens ist die letzte noch leben- Grundlage. München: Knaur. de Art der Gattung Mensch. Diese wird nicht weiter Giordano, Ralph (1982): Die Bertinis. Frankfurt am Main: Fischer. in Unterarten oder Rassen unterteilt, weil die immen- se Vielfalt der Völker klare Trennungen unmöglich Jandt, Fred E. (2004): An Introduction to Intercultural Communi- macht. Daher betrachten Humangenetiker weltweit cation. Thousand Oaks, CA: Sage Publications (4. Aufl . 2004). das Konzept der biologischen Rasse, bezogen auf Massaquoi, Hans-Jürgen (1999): Destined to Witness – Growing den Menschen, als wissenschaftlich unhaltbar (vgl. up Black in Nazi Germany. New York: HarperCollins Publishers. Cavalli-Sforza / Cavalli-Sforza 1996; Jandt 2004). [deutsche Ausgabe: ders.: (1999). Neger, Neger, Schornstein- feger – Meine Kindheit in Deutschland. München: Knaur.].

Doch erst das Beispiel Hans J. Massaquoi weckte bei Massaquoi, Hans-Jürgen (2004): Hänschen klein, ging allein… den Schülern das Interesse, diesem Sachverhalt ei- Mein Weg in die Neue Welt. Frankfurt am Main: Scherz.

5 die biologische oder ethnische Abstammung betreffend

49 „Projekt Spurensucher“ Zeitzeugeninterviews und Reportageprojekt zur Jugend im Nationalsozialismus

Anna Maria Ram

Medienorientierte Projektarbeit als handlungs- und gegenüber jüdischen Jugendlichen. Diese eigenen produktionsorientierter Zugang zu historisch-poli- Vorurteile zu benennen fällt den Jugendlichen tischem Wissen in Lerngruppen mit hohem Migrati- schwer, wenn sie sich in einem Umfeld bewegen, das onsanteil ihnen ebenfalls Intoleranz entgegen bringt und ihre Vorurteile sich im vermeintlich sicheren Rahmen ihrer Bezugsgruppe (Familie, Freunde, etc.) nur ver- Projektbescheibung

Das „Projekt Spurensucher“ ist ein Reportageprojekt, das sich insbesondere auf den lokalhistorischen Zu- sammenhang der jeweiligen Stadt oder Umgebung stützt, um einen stärkeren Bezug zum direkten Le- bensumfeld der Jugendlichen herstellen zu können (Dittmer/ Siegfried 2005).

Besonders im Umgang mit rechtsextremer Ideologie ist eine praktisch-präventive und praxisorientierte Arbeit mit Quellen wichtig, um sprachlich und inhalt- lich verständliche Aufklärung über Folgen und Wir- kung rechtsextremer Tendenzen zu vermitteln. Die Integration von Zeitzeugengesprächen in den Unter- richt als „persönliche“ Begegnung mit Geschichte vermittelt der Lerngruppe neben einer Abwechslung zum lehrerzentrierten Unterrichtsansatz vor allem die Möglichkeit und das Bewusstsein darüber, selbst an Geschichte, vor allem der gegenwärtigen, mitge- stalten und dafür Verantwortung tragen zu können. Oral History setzt vor allem in Lerngruppen mit ho- hem Migrationsanteil auf die Förderung des interkul- turellen Verständnisses.

Das Thema „Vorurteile“ spielt in der Alltagswelt aus- ländischer Jugendlicher eine bedeutsame Rolle, auch innerhalb der eigenen sozialen Bezugsgruppe. Dabei beschränkt sich die Voreingenommenheit nicht nur auf ethnische Herkunft, sondern auch auf religiöse. So spalten sich im schulischen Umfeld bei- spielsweise die türkischen und kurdischen Gruppen von den aramäischen und jesidischen ab. Der in den Medien präsente Nahost-Konfl ikt verstärkt zudem teilweise antisemitische Haltungen der muslimischen

50 stärken. Die Begegnung mit Opfern nationalsozialis- nalsozialismus und seine Folgen für den Alltag an re- tischer Verfolgung kann ihnen die Möglichkeit bie- gionalen oder lokalen Beispielen und anhand von ten, in einen empathischen Dialog zu treten (Abram Zeitzeugengesprächen kritisch zu betrachten, Quel- 1998). Sie beschäftigen sich dabei auf einer prak- len und Deutungen zu unterscheiden, sowie ihre Er- tischen, handelnden Basis mit der Aufklärung über kenntnisse in einer Fernsehreportage zu präsentie- nationalsozialistische Denkweisen, die Grundlage ren und zu refl ektieren. rechtsextremer Agitation ist, und können einen Transfer in ihr gegenwärtiges Lebensumfeld leisten. Schritt 1: Planung und Organisation Neben diesen psychosozialen Kompetenzen, Empa- thie und Toleranz, werden im Rahmen eines solchen Voraussetzung für eine erfolgreiche Projektarbeit ist Projektes vor allem Wissens-, Medien- und Metho- die thematische, inhaltliche Hinführung zu den denkompetenzen angesprochen und erworben, in- Grundlagen des Projektgegenstands. Das „Projekt dem die Schülerinnen und Schüler drei Stufen durch- Spurensucher“ setzt historisch zur Zeit der Novem- laufen: berpogrome 1938 in Deutschland an. 1. Kritische Aneignung von Fachwissen 2. Selbstständige Recherche in der Region und an- In der Vorarbeit zum Projekt lernen die Schülerinnen geleitete Durchführung der Praxis und Schüler vor allem mit historischen Quellen aus 3. Auswertung des Projektes und Präsentation der NS-Zeit umzugehen und sie kritisch zu refl ektie- ren sowie sich in selbstorganisierten Lernmethoden Das „Projekt Spurensucher“ beinhaltet außerdem drei zu üben (Bönsch 2002). Dies ist eine wesentliche Vo- Grundkomponenten, mit denen die vorausgehende raussetzung für die durch hohen Eigenanteil der Ju- fachdidaktische Auseinandersetzung hilfreich ist: gendlichen geprägte Projektarbeit. Die daran an- 1. Zeitzeugengespräche (vgl. Oral History) schließende Organisierung des Projektes gliederte 2. Medienprojektarbeit und Arbeit mit externen In- sich in Phasen (siehe Tab. 1 und Tab. 2). stitutionen 3. Auseinandersetzung mit lokalhistorischen Quel- Elementarer Bestandteil der Projektarbeit war die len im Geschichtsunterricht vorausgegangene Fortbildung und Zusammenarbeit mit einem der medienpädagogischen Zentren, dem Der Einsatz neuer Medien, hier der Filmkamera, ist in MOK Offenbach, dem Fritz- Bauer-Institut der Univer- seiner didaktischen Wirkung noch nicht ausreichend sität Frankfurt und dem Jüdischen Museum Frank- empirisch erforscht, könnte jedoch ein wichtiges me- furt. Durch diese Einbindung von fachwissenschaft- thodisches Bindeglied zwischen Wissensvermittlung lichen und fachdidaktischen Kompetenzen ist es und Schülerumwelt und ein grundlegender Baustein möglich, das Projekt als Betreuer einfacher zu gestal- in der Schulung des kritischen Umgangs mit Medien ten. Die jeweiligen Kontakte dazu können über die sein. Zudem nutzen Medien Zeitzeugeninterviews Stadtverwaltung, die Museumsverwaltung oder aktuell zur Darstellung bestimmter Sachverhalte und durch die Zeitzeugenbörse im Internet (www.zeitzeu- sind für Jugendliche im Medienzeitalter ein nicht un- genboerse.de) und sowohl durch die Schülerinnen gewohntes Element der Meinungsdarstellung. In ih- und Schüler als auch durch die Projektbetreuer selbst rer Auseinandersetzung mit aktuellen politischen hergestellt werden. Beim Fritz-Bauer-Institut (www. und gesellschaftlichen Tendenzen ist es wichtig, den fritz-bauer-institut.de) und dem medienpädago- Jugendlichen die Gründe dafür und ihre historische gischen Zentrum Offenbach (www.lpr-hessen.de) er- Entwicklung zu vermitteln. Durch die Bezugnahme hält man kostenfreie, kompetente Beratung und Be- auf ein lokalhistorisches Umfeld wird den Jugend- gleitung speziell im Umgang mit Medienprojekten lichen diese unmittelbare Wechselwirkung bewusst zu (In-)Toleranz und Nationalsozialismus. Besonders gemacht. ausgebildete Medienpädagogen unterstützen mit ihren Erfahrungen und dem technischen Equipment Die Schülerinnen und Schüler sollen so in die Lage das Projekt und ergänzen die bei der Lehrkraft lie- versetzt werden, Ursachen und Wirkungen des Natio- gende koordinatorischen Arbeiten.

51 Projekt Spurensucher – Zeitzeugeninterviews und Reportageprojekt

PHASE 1 Aktion Lerngruppe Aktion Lehrerin

Planung und Organisation • Brainstorming zur Themenfi n- • Unterstützung und Moderation (ca. 2 Schulstunden) dung der Themenfi ndung durch • Festlegung eines „roten Fadens“ Bereitstellen von materiellen und • Erstellen eines Plakates zum zeitlichen Ressourcen Thema (Was wir schon wissen • Dokumentation der Themen- – was wir noch fragen möchten) fi ndung auf einem Plakat • Mitteilung an die Eltern zur Information über das Projekt

Planung und Organisation • Festlegung des Themas • Anleitung zur Projektarbeit: Was (ca. 3 Schulstunden) • Entschluss zur Arbeitsweise ist wie mit welchem Aufwand in (Gruppen- und Aufgabeneintei- und außerhalb der Schule lung) möglich? Rücksprache mit der • Vorläufi ger Zeitplan auf einem Schul- und Klassenleitung Plakat erstellt • Unterstützung bei der Verteilung • Entschluss zur Umsetzung des der Aufgaben und der Gruppen- Projektes als Fernsehreportage einteilung • Projekt-Check-Up-Liste erstellen • Hilfe beim Erstellen des Zeitplan- und ggf. abhaken Plakats • Einführung einer Projekt-Check- Up-Liste

Planung und Organisation • Internet- und Bibliotheksrecher- • Hinweis auf den „roten Faden“ (ca. 4 Schulstunden) che zum thematischen Inhalt und den Zeitfahrplan (Zeit- und • Suche nach Kontaktpersonen Themenwächterin) (Zeitzeugen) und Kontaktauf- • Herstellung der Kontakte zum nahme durch E-Mail Fritz-Bauer-Institut und Organi- • Suche nach baulichen Über- sierung der Zusammenarbeit mit resten in Frankfurt am Main, um dem MOK Offenbach einen historischen Stadtrund- • Einführung der Interviewtechnik gang zu organisieren unter besonderer Berücksichti- gung des Aspektes Zeitzeugen- befragung

Tab. 1: Erste Phase der Organisation.

52 Projekt Spurensucher – Zeitzeugeninterviews und Reportageprojekt

Schritt 2: Der historische Stadtrundgang Des Weiteren ist der Zugang zum Stadtarchiv zu or- ganisieren. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten An die vorausgegangene, organisatorische Phase sich mit selbst mitgebrachten Stadtplänen durch die schließt sich die inhaltliche Auseinandersetzung mit historische Topographie und stoßen auf interessante dem Projektthema „Jugend im Nationalsozialismus“ Entdeckungen, die ihnen erste Lernerfolge und eine an. Zu diesem Zweck muss den Schülerinnen und anhaltende Motivation für die weitere Arbeit ermög- Schülern Zugang zu entsprechenden Materialien er- lichen (Beispiele siehe M2 bis M4). möglicht werden. Dies kann in einer angeleiteten Re- cherche in Internet, Archiven und Bibliotheken ge- währleistet werden, wozu Aufgabenstellungen auf M1 Aufgabenstellung der Grundlage von Internetquellen vorbereitet wer- Auf den folgenden Websites fi ndest du Informationen zur den können (siehe M1). Jugend im Nationalsozialismus: 1. http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/alltagsleben/ jugend/index.html Parallel dazu ist ein historischer Stadtrundgang unter 2. http://www.bpb.de/publikationen/4ZHGBL,0,0,Jugend_ Einbezug topographischer Karten möglich. Hierbei im_Nationalsozialismus.html lernen die Schülerinnen und Schüler zunächst im Un- 3. http://www.doew.at/frames.php?/service/ausstel- terricht über eine Website (http://www.frankfurt1933- lung/1938/8/8.html 1945.de/) oder anderes Material die „Stadt unter der Sammele Informationen, die erklären: Stadt“ kennen und entwickeln Sensibilität und Neu- a) Wie wurde die Jugend in der NS-Zeit in den Schulen gier für die Projektarbeit. unterrichtet? b) Welche Unterschiede zu heute kannst du heraus fi nden?

M2 Arbeiten mit einem historischen Stadtplan

NSDAP-Ortsgruppe Dornbusch (Bertramstraße)

Auf diesem Plan von 1943 (Quelle: www.frankfurt1933-1945.de) erkennst du den Dornbusch.

1. Finde mit Hilfe der Website www.frankfurt1933-1945.de heraus, welche NS-Institutionen dort waren. 2. Welche Gebäude, Firmen oder Einrichtungen gibt es heute am Dornbusch?

53 Projekt Spurensucher – Zeitzeugeninterviews und Reportageprojekt

M3 Spur 1: Der Ostbunker (Friedberger Anlage)

Bitte beantworte folgende Fragen mit Hilfe der Infotexte, die du vor Ort fi ndest (Infotafeln im Bunker):

1. Wo steht der „Ostbunker“ in Frankfurt am Main?

2. Wann wurde der Bunker errichtet und warum ausgerechnet an diesem Standort?

3. Warum gehört der „Ostbunker“ zu den „Spuren des Nationalsozialismus“?

M4 Aufgabenstellung, die für besondere Informationen während des Rundgangs sensibilisieren soll

Auf diesem Foto siehst du das Jüdische Museum Frankfurt.

1. Finde durch einen Besuch und mit Hilfe der Website www.juedischesmuseum.de heraus, warum gerade der Rothschild-Palais Sitz des Museums ist. 2. Was geschah im Nationalsozialismus mit diesem Gebäude? Wurde es im Krieg zerstört?

Auf diese „theoretische“ Spurensuche folgt schließ- die Stadt überhaupt so eingeteilt ist, wie sie ist, wel- lich die Einteilung in Gruppen, die sich je nach che Bedeutung die Straßennamen haben und vieles Gruppenstärke ein Gebäude oder Denkmal aussu- mehr. Die entdeckten „Spuren“ bilden nun die inhalt- chen und dazu eine Kurzpräsentation vor Ort vorbe- liche und methodische Brücke zu den Zeitzeugenin- reiten. Sie sollte nach vorgegebener Zeit gestaltet terviews, indem sie Anknüpfungspunkte zum Inter- werden, und es sollte darauf geachtet werden, dass viewleitfaden der Lerngruppe sind. Die Ergebnisse die Orte nicht zu weit von einander entfernt gele- können ebenso wie die Antworten zur weiteren Re- gen sind. cherche in einem eigenen Projektordner festgehal- ten werden. Die Jugendlichen stellen dadurch eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Ziel des historischen Stadtrundganges ist eine so- zukünftige Entwicklungen her und entwickeln Ver- wohl kognitive wie emotionale Perspektivenüber- ständnis für den Zusammenhang in der Zukunft. Es nahme bei der Wahrnehmung der eigenen Umge- ergeben sich beispielsweise Nachfragen, warum in bung, für deren Mitgestaltung die Jugendlichen Ver- einem Stadtteil fast keine Altbauten stehen, warum antwortung übernehmen.

54 Projekt Spurensucher – Zeitzeugeninterviews und Reportageprojekt

Schritt 3: Das Drehbuch und das Interview

Nach erfolgreicher Planung und Organisierung steht die konkrete Arbeit für ein Projekt im Vordergrund. Ziel ist es, Zeitzeugen zu fi nden, die ihre Jugend im nationalsozialistischen Frankfurt erlebt haben, die aber nicht unbedingt einen jüdischen Hintergrund haben müssen, sich jedoch aufgrund ihres biogra- fi schen Bezuges zu Frankfurt für eine Reportage über dortige Spuren des Nationalsozialismus eignen. Da- mit stehen das Konzept und die zweite Phase (siehe Tab. 2) für das Projekt fest.

In den Gruppen, die sich im Rahmen des historischen Stadtrundgangs gebildet haben, nehmen die Schü- lerinnen und Schüler zu externen Institutionen Kon- takt auf. Dazu zählt das Fritz-Bauer-Institut, welches Bild 5: Frankfurter Hochbunker, ehemals größte zwei entsprechende Zeitzeugen vermittelt, die einen Synagoge Frankfurts (Szene aus dem Projektfi lm). engen Bezug zu Frankfurt am Main haben. Außer- dem müssen die Verwaltungen der Bauwerke kon- taktiert werden, um eine Begehung für den Außen- dreh zu ermöglichen. Um keine rechtlichen Grund- lagen zu verletzen und die Kosten für ein solches Projekt gering zu halten, empfi ehlt sich spätestens an dieser Stelle, eines der drei medienpädagogisches Zentren Hessens (Kassel, Offenbach, Hanau) zur Be- ratung hinzuzuziehen.

Auch wenn diese Voraussetzungen nicht vorhanden sein sollten, lässt sich dieses Projekt an anderen Standorten unter unterschiedlichen Themenschwer- punkten (z.B. Kriegsende, Deportation, etc.) mit Hilfe der Landesbildstellen und der örtlichen Museen dennoch gut umsetzen. Basierend auf dem ange- legten Projektordner der Schüler, in dem sie ihre Er- Bild 6: Schüler der Drehgruppe im Hochbunker, kenntnisse und Ergebnisse festhalten, gestalten sie Friedberger Anlage, Frankfurt am Main.

Phase 2 Aktion Lerngruppe Aktion Lehrerin

Drehbuch und Interview • Vorbereitung eines historischen • Kontaktaufnahme zur Begehung (1 Schulvormittag) Stadtrundgangs-Kurzreferate an der einzelnen Stätten ausgewählten Orten (Ostbunker, • Organisation des Stadtrund- I.G.-Farbenhaus, Jüdischer gangs (Elternbriefe, etc.) Friedhof und Großmarkthalle) • Bereitstellung von Vordrucken mithilfe des topographischen zum Drehbuch Stadtplans • Organisation der Projektwoche in (www.frankfurt1933-1945.de) Rücksprache mit Schulleitung, • Begehung der Stätten Kollegium und Eltern • Erstellen eines Interviewleit- fadens und eines Außenort- Drehbuches

Tab. 2: Zweite Phase der Organisation.

55 Projekt Spurensucher – Zeitzeugeninterviews und Reportageprojekt

nun unter Anleitung der Lehrkraft ein Drehbuch und M5 Interviewleitfaden einen Interviewleitfaden. Einstiegsphase (Leitfrageninterview): Es handelt sich dabei um ein Leitfrageninterview 1. Begrüßung, Vorstellung des Gastes, Fragen nach Geburts- ort und Kindheit (Henke-Bockschatz 2000), das den einander noch 2. Konfrontation mit Antisemitismus in Frankfurt am Main fremden Gesprächspartnern einen Zugang zu einem heute und damals emotionalisierenden Thema vereinfachen soll. Je Überleitung (Leitfrageninterview-Tendenz zum erzählgenerie- nach psychosozialem Kompetenzniveau der Jugend- renden Interview): lichen ist auch ein erzählgenerierender Ansatz denk- 3. Erlebnisse während des Krieges in Frankfurt am Main bar. Im Idealfall ergibt sich im Verlauf des Gesprächs 4. Persönlicher Bezug zur damaligen Zeit (Botschaft) von alleine eine Mischform (siehe M5). 5. Vergleich der heutigen Jugend mit der damaligen Zeit Schlussphase (erzählgenerierend): Parallel dazu entwerfen die Schülerinnen und Schü- 6. offene Fragerunde zur heutigen Einstellung ler, aufbauend auf den Ergebnissen des historischen 7. Überlieferungsabsicht der eigenen Geschichte Stadtrundgangs und der Zeitzeugenbiografi en, ein allgemeines Drehbuch (siehe M6).

Alle Schülerinnen und Schüler bearbeiten das Dreh- Bereits in ihrer Auseinandersetzung mit historischen buch und den Interviewleitfaden. Dabei muss die Quellen in der Recherche-Phase haben sich die Lehrperson besonders darauf achten, das Lernziel Schülerinnen und Schüler Grundlagen der kritischen nicht aus den Augen zu verlieren, was mit Hilfe des Auseinandersetzung im Sinne der Medien- und Wis- Verweises auf den Projektfahrplan und die Anleitung senskompetenz angeeignet (Moegling 2009). Da- offener Phasen ermöglicht werden kann. Dennoch rauf bauen bei der Durchführung der Zeitzeugenge- sollte die Lehrkraft versuchen, wenig sanktionierend spräche und der Außenreportage vor allem psycho- und eher beratend anzuleiten, um für die abschlie- soziale Kompetenzen und Handlungskompetenzen ßenden Refl exionsphase nichts vorweg zu nehmen. auf. Die Jugendlichen stehen eigenständig, jedoch nicht alleine, in der Verantwortung, historische Quel-

M6 Drehbuch

Seite: ___ Szenenbild zeichen

Titel der Szene:

Kameraeinstellung:

Lichteinstellung:

Möglicher Text dazu:

Szenenbild zeichen

Notizen:

56 Projekt Spurensucher – Zeitzeugeninterviews und Reportageprojekt

len in Bezug zur Gegenwart zu setzen und mit einer Botschaft zu präsentieren. Dabei werden zusätzlich soziale Kompetenzen sowie insbesondere ihre ei- genständige Urteilskompetenz gefördert.

Schritt 4: Projektwoche

Interviews und Drehtermine müssen zeitlich auf ei- nander abgestimmt werden. Die Gruppe kann sich (wegen der erforderlichen Effi zienz und der zeit- lichen Begrenztheit einer Projektwoche) in zwei Gruppen einteilen, die Außendreh und den Dreh der Zeitzeugeninterviews durchführen. Alternativ ist der Dreh bei großen zeitlichen Ressourcen auch in der ganzen Lerngruppe denkbar.

Der Gruppenbildungsprozess sollte möglichst inte- Durchführung und Ergebnisse ressenorientiert ermöglicht werden, um Motivations- tiefs vorzubeugen. Das medienpädagogische Zen- Das „Projekt Spurensucher“ hat nicht nur ein Ziel ver- trum bietet die Möglichkeit, Drehgenehmigungen folgt. Neben dem Aneignen historisch-politischen vor Ort und Sendegenehmigungen bei den Erzie- Bewusstseins förderte die gemeinsame, produktive hungsberechtigten einzuholen. Die externen Institu- Auseinandersetzung der Lerngruppe mit oben er- tionen klären auch über Rahmenbedingungen und wähnten Methoden und Inhalten eine Stärkung des mögliche Wirkungskreise eines derartigen Projektes Sozialgefüges. In der realen Lerngruppe spielte vor auf. allem die Verbalisierung von Stereotypen zu Religion

Tag 1: Tag 2: Tag 3: Tag 4: Tag 5: Generalprobe und Technikeinführung Dreh- und Schnitt und Schnitt 2 und letzte Änderungen und Abgleich Interviewtag Nachvertonung Refl ektion Interview und Drehbuch

Treffen um: Treffen um: Treffen um: Treffen um: Treffen um: 8:30 Uhr im 8:30 Uhr im 8:30 Uhr im 08:30 Uhr im 08:30 Uhr im Klassenraum Klassenraum Klassenraum Klassenraum Klassenraum • Besprechung • Einführung • Gruppe 1 • Fahrt zum MOK • Fahrt zum MOK des Drehbuchs Filmanalyse und (Außendreh): Offenbach Offenbach • Kontaktauf- Kameraführung Fahrt zum • Schnittein füh- • Schnitt- nahmen in Ostbunker (und rung in je vier einführung in je - Pause - den Gruppen anderen Orten) Gruppen vier Gruppen • Umgang mit mit Herrn E. und - Pause - - Pause - - Pause - Kamera, Ton, Herrn K. • Aktueller Stand Licht und Schnitt • Gruppe 2 • Schnitt • Schnitt auf dem in Bezug auf (Interviews): • Nachvertonung • Nachvertonung Zeitfahrplan unser Projekt Vorbereitung • Refl exion • Refl exion • Absprachen für Ende ca. 14:00 Uhr Interviews Ende ca. 14:00 Uhr Ende ca. 14:00 Uhr den Drehtag Ende ca. 15:00 Uhr Ende ca. 14:00 Uhr

Tab. 3: Beispiel einer Projektwochenplanung

57 Projekt Spurensucher – Zeitzeugeninterviews und Reportageprojekt

und Ethnizität eine wichtige Rolle. Die vorwiegend muslimischen Jugendlichen zeigten sich tief betrof- fen von dem Schicksal der jüdischen Zeitzeugen, und aus dem Interview entwickelte sich ein unge- planter Dialog zwischen Lerngruppe und Zeitzeugen zum Nahostkonfl ikt und den kulturellen Unterschie- den zwischen den Religionsgruppen.

So brachen die Zeitzeugen schließlich mit der Lern- gruppe das traditionelle Mazzebrot und ein als kon- servativ-muslimisch geltender Schüler bemerkte: „Das ist gar nicht so schlimm hier mit einer Jüdin zu sitzen und zu reden!“ Seine Mitschülerinnen schlos- sen sich dieser Erkenntnis an. So bemerkte eine kur- dische Schülerin: „Diese Menschen wurden gewalt- sam verfolgt. Das kenne ich auch aus meiner Hei- mat!“ Andere wiederum zogen das Fazit: „Wir kön- nen ja nichts mehr daran ändern, was passiert ist. Diese Kombination regt kritisches Denken nachhal- Aber wir können Verantwortung für die Zukunft über- tiger an als lehrerzentrierter Unterricht. Wenn Schü- nehmen!“ lerinnen und Schüler eigenständig an der Projekt- arbeit beteiligt sind, sie ihre Meinungen und Vor- Aus diesem zusätzlichen Effekt des Projekts wird schläge nachhaltig einbringen dürfen, können sich deutlich, dass mit Projekten zu Toleranz, Empathie ihnen – natürlich unter entsprechender Anleitung – und Autonomie mehr als nur schulische Lerneffekte auch politisch anspruchsvolle Themen eröffnen. erzeugt werden und die individuelle Meinungs- bildung nachhaltig geprägt werden kann. Dem- Selbstverständlich treten während einer Projektar- zufolge eignen sich besonders Projekte wie das beit auch Schwierigkeiten auf. Zeit und Organisation „Spurensucher“-Projekt zur präventiven Auseinan- können bei ungenügender Vorbereitung oder zu of- dersetzung mit Rechtsextremismus oder dessen fenem Ansatz sowie mangelnden Raumkapazitäten Grundlagen. oder fehlendem Zuspruch aus dem Kollegium pro- blematische Auswirkungen auf das Ergebnis haben. Es empfi ehlt sich daher immer eine gründliche Vo- Fazit rausplanung. Außerdem können bei einem inhaltlich anspruchsvolleren Thema auch Motivationstiefs in Forschendes Lernen im Rahmen historischer Projekt- der Lerngruppe auftreten. Da das Projekt jedoch auf arbeit kann eine nachhaltige Methode im gesell- eine hohe Eigenaktivität angelegt ist, tritt dieser Fall schaftswissenschaftlichen Unterricht sein. Die hier fast idealtypischen Voraussetzungen zur Durchfüh- rung dieses Projektes bei Planung, Organisation, zeitlichen Ressourcen und dem Vorhandensein einer interessierten Lerngruppe sind gerade im Haupt- und Realschulbereich eher selten gegeben. Den- noch können ähnliche Projekte – vielleicht auch in „abgespeckter Form“ – vor allem im Rahmen von AG oder WPU-Kursen versucht werden.

Ein medienpädagogisches Projekt dieser Art erzielt eine besondere Wirkung auf das schulische und au- ßerschulische Umfeld. Es verstärkt die Bereitschaft der Jugendlichen, sich über den unterrichtlichen Rahmen hinaus mit einem Thema zu beschäftigen, und ermöglicht ihnen einen Blick hinter die Kulissen der Medienwelt.

58 Projekt Spurensucher – Zeitzeugeninterviews und Reportageprojekt

eher selten auf. Durch die praktische Auseinander- von rechtsextremem Gedankengut zu distanzieren. setzung mit dem Thema, wie z.B. durch den histo- Dann verfügen Schülerinnen und Schüler eher über rischen Stadtrundgang, ließ sich eine relativ durch- eine Grundmotivation, sich einerseits kritisch mit der gehende, motivierte Arbeitshaltung bei den Jugend- Thematik auseinanderzusetzen und andererseits die lichen erzielen. Die Chancen einer derartigen Projek- entsprechenden Kompetenzen zu entwickeln, die tarbeit liegen in der Betonung der gemeinschaft- sie rechtsextreme Inhalte erkennen und analysieren lichen und selbsttätigen Bearbeitung eines Themas, lässt, um schließlich selbstrefl ektierend damit umzu- was im Regelunterricht nur schwer möglich erscheint. gehen.

Bei „Spurensuche“ konnten Schülerinnen und Schü- ler nicht nur auf kognitativer Ebene, z.B. bei der Aus- Literaturhinweise einandersetzung mit lokalhistorischen Quellen, son- Abram, Ido (2001): Das ABC des interkulturellen Lernens. Amster- dern auch auf emphatischer Ebene, die z.B. bei den dam. Geprächen mit Zeitzeugen, individuelle Erfahrungen sammeln. Der pädagogische Erfolg derartiger Pro- Bönsch, Manfred (2002): Selbstgesteuertes Lernen in der Schule. Praxisbeispiele aus unterschiedlichen Schulformen. Westermann. jekte hängt in hohem Maße von der für Schülerinnen und Schüler ausgewogenen Dosierung der jeweili- Dittmer, Lothar/ Siegfried, Detlef (2005): Spurensucher. Ein Praxis- gen Maßnahmen ab. Denn nur dann kann sich eine buch für historische Projektarbeit., Hamburg. entsprechende Haltung bei den Lernerinnen und Henke-Bockschatz, Gerhard (2002): Oral History im Geschichtsun- Lernern ausprägen, die sie in die Lage versetzt, sich terricht. Seelze.

59 „Mit dem Rücken zur Wand“ Ein historischer Jugendroman von Klaus Kordon (Berlin 1932/33)

Matthias Engelhardt

Wie kann man Schülern den Aufstieg des Nationalso- sich mit den Fakten und geschichtlichen Ereignissen zialismus begreifl ich machen? Unter welchen Umstän- beschäftigen. Im Folgenden stelle ich eine Unter- den kam Hitler an die Macht? Wie erlebten die Men- richtseinheit zu dieser Lektüre und dem Thema „Auf- schen diese Zeit? Diese und ähnliche Fragen beschäf- stieg des Nationalsozialismus“ vor. tigten mich, als ich einen Wahlpfl ichtkurs zum Thema „Aufstieg des Nationalsozialismus“ plante. Worum geht es in der Lektüre?

Einführung Der Roman „Mit dem Rücken zur Wand“ von Klaus Kordon ist der zweite Band aus der „Trilogie der Wen- Die Lerngruppe bestand aus Schülerinnen und Schü- depunkte“. Der Roman spielt in den Jahren 1932/ lern der 8. Klasse einer integrierten Gesamtschule. 1933. Im Mittelpunkt steht der 15- jährige Hans Geb- Zu Beginn des Schuljahres hatten die Schüler die hardt, der mit seiner Familie im Berliner Bezirk Wed- Möglichkeit, ein bestimmtes Thema im Rahmen des ding lebt. Dieser traditionelle Arbeiterbezirk ist eine Wahlpfl ichtunterrichts zu wählen. Einige Schüle- Hochburg der Anhänger der Kommunistischen Partei rinnen und Schüler äußerten den Wunsch, etwas Deutschlands (KPD) und wird zum Kampfplatz der SA, über den Nationalsozialismus erfahren zu wollen. die auch hier ihre Macht durchsetzen möchte.

Da das Thema „Nationalsozialismus“ zu umfangreich Der Leser erhält Einblick in den Alltag der Familie ist, entschied ich mich für das Teilgebiet „Der Auf- Gebhardt. Sohn Hans tritt seine erste Arbeitsstelle stieg des Nationalsozialismus“, um den Schülerinnen bei AEG an, gerät in Auseinandersetzungen mit SA- und Schülern eine Vorstellung davon zu geben, wie Mitgliedern, lernt ein jüdisches Mädchen kennen es die Nationalsozialisten geschafft haben, in und freundet sich mit ihr an. Deutschland an die Macht zu kommen. Nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Entwicklungen des Rechts- Nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler und dem radikalismus in Deutschland wird der Bezug zu die- Reichstagsbrand im Februar 1933 wird das Leben für ser Unterrichtsreihe evident. Auch heute noch versu- Hans und seine Familie immer unerträglicher. Hans chen Neonazis Einfl uss auf die Bevölkerung zu neh- wird von zwei Arbeitskollegen, die bei der SA sind, men und insbesondere Schülerinnen und Schüler für bei lebendigem Leib in eine Kiste gesteckt. Die bei- ihre Sache zu gewinnen. den SA-Männer nageln die Kiste zu und lassen Hans allein. Einem älteren Kollegen, dem alten Emmes, Als Einstieg für dieses Thema wählte ich den Roman verdankt Hans seine Befreiung. Im weiteren Verlauf „Mit dem Rücken zur Wand“ von Klaus Kordon. Die des Romans wird der Vater von Hans und sein Bruder Schulausgabe dieses Romans umfasst 125 Seiten Helle, ein KPD-Aktivist, von der SA verhaftet. und ist sehr verständlich geschrieben. Die Schüler können sich aufgrund dieses Romans gut in die Zeit In dieser verzweifelten und gefährlichen Lage be- der Krise der Weimarer Republik und des aufstre- schließen Hans und seine jüdische Freundin, Wider- benden Nationalsozialismus hineinversetzen. stand zu leisten und ein individuelles Zeichen gegen die scheinbar schon allmächtigen Nationalsozia- Es erschien mir wichtig, dass sich die Schüler diesem listen zu setzen: Sie hissen eine KPD-Flagge über Thema zunächst einmal emotional nähern, bevor sie den Köpfen der SA-Schergen in ihrem Viertel.

60 Das Führen eines Lesetagebuches Zunächst einmal werden Unklarheiten, Fragen und unbekannte Begriffe besprochen. Es werden Mei- Die Lektürearbeit verfolgt gleichzeitig mehrere Ziele: nungen ausgetauscht und die Ereignisse und Per- Zunächst soll die Lektüre intensiv gelesen werden. sonen aus der Lektüre werden diskutiert. Hier einige Die Schüler sollen sich mit ihr auseinandersetzen Themen, die während der Unterrichtseinheit zur und ihre Gedanken dazu festhalten. Dies geschieht Sprache kamen: in Form von Tagebucheinträgen. • körperliche Gewalt von SA-Männern gegen die Hauptperson Hans Gebhardt Das Lesetagebuch beinhaltet keine Sammlung von • Situation der Juden in der Zeit 1932/33, am Bei- Inhaltsangaben der einzelnen Kapitel, sondern lässt spiel der jüdischen Freundin von Hans den Schülern viel Freiraum, ihre Gedanken zum Buch • Arbeitslosigkeit und die Arbeits- und Lebensbe- aufzuschreiben. So können zum Beispiel markante dingungen in der damaligen Zeit und für den Fortgang der Handlung wichtige Zitate • Unterschiede von KPD und SPD herausgeschrieben werden. • Hitlers Wahl zum Reichskanzler • Der Reichstagsbrand Auf der anderen Seite haben die Schüler die Mög- • NSDAP-Mitgliedschaft der Schwester von Hans / lichkeit, Textstellen herauszuschreiben, die für sie un- Bruch in der Familie verständlich sind oder ihnen widersprüchlich er- • Verhaftung des Vaters nach dem Reichstagsbrand scheinen. Unbekannte Wörter, Fachbegriffe oder • Widerstandsaktionen Abkürzungen können herausgeschrieben werden, damit man sie später im Unterricht besprechen und In den Unterrichtsgesprächen stellte sich heraus, erklären kann. Geschichtliche Ereignisse, die den dass die Schüler ein relativ großes Vorwissen über Schülern bekannt vorkommen, können aufgeschrie- einzelne Aspekte des Nationalsozialismus hatten. ben werden ebenso wie historische Personen, von Dieses Vorwissen wurde aufgrund der Arbeit mit der denen sie schon einmal gehört haben. Lektüre erweitert, geordnet und in einen Zusammen- hang gebracht. Noch wichtiger sind jedoch die eigenen Gedanken und Assoziationen zur Lektüre. Die Schüler können hier Wertungen und Meinungen abgeben. Sie kön- Gegenüberstellung von Fiktion und nen Gedankengänge der handelnden Personen fort- Realität anhand einer Zeitleiste führen oder sich mit Hilfe einer Skizze ein Bild von den Vorgängen im Buch machen. Im Anschluss oder parallel zur Arbeit mit der Lektüre wird eine Zeitleiste erstellt. Die Zeitleiste dient einer- Die Arbeitsaufträge auf dem angehängten Arbeits- seits als Wiederholung des Gelesenen, bei der die blatt (siehe M1) sind relativ frei formuliert. Je nach Schüler die Ereignisse um die Familie Gebhardt noch Schülergruppe können bestimmte Arbeitsaufträge einmal Revue passieren lassen. Andererseits ist die aber auch verpfl ichtend gestellt werden, z.B. „Schrei- Zeitleiste eine Form der Ergebnissicherung und fasst be zu jedem Kapitel eine Textstelle heraus, die dir in Stichpunkten die wichtigsten geschichtlichen Er- wichtig erscheint und die im Unterricht besprochen eignisse zusammen. werden sollte.“ Die Zeitleiste sollte zwei Ebenen berücksichtigen: Die Lektüre soll Stück für Stück gelesen und bespro- 1. die fi ktionale Ebene mit den Geschehnissen um chen werden. Dadurch bleibt die Spannung erhalten die Familie Gebhardt und die einzelnen Abschnitte der Lektüre werden 2. die reale Ebene mit geschichtlichen Ereignissen genauer bearbeitet. und Prozessen

In den Unterrichtsstunden sollte ein Großteil der Zeit Diese Trennung der beiden Ebenen ist ein wichtiger dazu verwendet werden, die Einträge in den Leseta- Bestandteil des Lernprozesses der Schülerinnen und gebüchern zu besprechen. Ziel ist es, die Ereignisse Schüler. Dadurch lernen sie zwischen dem zu unter- aus der Lektüre richtig einzuordnen und geschicht- scheiden, was an der Geschichte fi ktiv ist und was liches Wissen über die Zeit 1932/33 zu erlangen. wirklich in den Jahren 1932/33 passierte.

61 „Mit dem Rücken zur Wand“ – Unterrichtsbeispiel

M1 Lesetagebuch „ Mit dem Rücken zur Wand“

1. Als „Lesetagebuch“ bezeichnet man einen Ordner, den du anlegst und in dem du dich eigenständig mit bestimmten Aufgabenstellungen zu dem Buch beschäftigst.

2. Für jeden Abschnitt der Lektüre, den du gelesen hast, legst du dir eine neue Seite im Lesetagebuch an. Schreibe als Überschrift immer: „Lesetagebucheintrag zu den Seiten ... bis ...“

3. Was soll in das Lesetagebuch hineingeschrieben werden? • grundsätzlich alles, was dir im Zusammenhang mit der Lektüre wichtig erscheint • unbekannte Wörter oder Abkürzungen, die wir gemeinsam im Unterricht klären • Textstellen, von denen du glaubst, dass sie für die Geschichte wichtig sind • geschichtliche Ereignisse oder Personen, die dir bekannt vorkommen • Fragen zum Text, zur Hauptperson, zur Handlung, zum Autor ... • eigene Gedanken zum Text

4. Du solltest immer eine Überschrift über deine Einträge schreiben, z.B. wichtige Textstelle „… …“ Frage zum Reichstagsbrand „… …“

5. Im Unterricht besprechen wir eure Lesetagebücher. Wir klären die unbekannten Begriffe und Fragen, sprechen über die Handlung und diskutieren über die geschichtlichen Hintergründe der Lektüre.

Zum methodischen Vorgehen schlage ich vor, die Besprechungen im Unterricht. Zur Vertiefung des Zeitleiste als Tapetenstreifen in der Klasse aufzuhän- Gelernten bietet es sich an, einzelne Themen aus der gen und in zwei Ebenen zu unterteilen (fi ktionale und Lektüre herauszugreifen und in Kleingruppen bear- reale Ebene). Je nach Schülergruppe kann die Eintra- beiten zu lassen. gung relativ selbstständig erfolgen. Aus Zeitgründen kann der Lehrer natürlich auch einzelne Ereignisse/ Ein Vorteil der Gruppenarbeit ist folgender: „Eine Prozesse aus der Lektüre vorgeben und die Schüler Gruppe kann schwierige Aufgaben besser meistern, haben die Aufgabe, diese Ereignisse/Prozesse auf als dies mehrere nebeneinanderher arbeitende Ein- realer bzw. fi ktiver Ebene richtig einzuordnen. Dabei zelne könnten, weil die Mitglieder der Gruppe sich sollten die Schüler ihre Auswahl und Anordnung gegenseitig ergänzen.“ (Mayer, 1987, 239) Neben stets begründen. Auf dem Arbeitsblatt (siehe M2) anderen Vorteilen ermutigt der Gruppenunterricht sind die wichtigsten Ereignisse/Prozesse aufge- die Schüler zum selbstständigen Denken und Han- schrieben und können vergrößert und kopiert im Un- deln. terricht verwendet werden. Die Themenfi ndung kann zum Beispiel mit Hilfe ei- Nach Fertigstellung der Zeitleiste sollte die Ge- ner Kartenabfrage geschehen. Dabei schreibt jeder schichte von Hans Gebhardt (fi ktionale Ebene) noch Schüler auf zwei DIN-A5 Kärtchen jeweils einen Be- einmal mündlich wiederholt werden. Dabei sollten griff oder ein Thema, das ihn/sie im Zusammenhang auch die realen Ereignisse/Prozesse aus der dama- mit der Lektüre besonders interessiert. ligen Zeit einbezogen werden. Diese Verknüpfung bewirkt eine Vertiefung des geschichtlichen Wissens Danach sammelt der Moderator/Lehrer die Kärtchen der Schülerinnen und Schüler. ein, mischt sie und liest sie einzeln vor. Die ersten Kärtchen werden an der Pinnwand angebracht, bei den folgenden entscheiden die Schüler über deren Erkenntnisse aus der Lektüre vertiefen Platzierung. So entstehen an der Pinnwand verschie- dene Cluster, zu denen jeweils ein Thema für die Die Erkenntnisse der Schüler gründen zunächst auf Gruppenarbeit formuliert wird. Die Themenfi ndung den Handlungssträngen der Lektüre und auf den wird dadurch zum Großteil von den Schülern be-

62 „Mit dem Rücken zur Wand“ – Unterrichtsbeispiel

M2 Fiktionale und reale Ereignisse/Prozesse der Lektüre „Mit dem Rücken zur Wand“

Hans verliebt sich in Hans‘ erster Arbeitstag bei AEG das jüdische Mädchen Mieze

SA-Trupp lauert Hans abends vor Reichstagswahl im November 1932: seiner Haustür auf 12 Millionen Bürger wählen die NSDAP

Massenarbeitslosigkeit und politische Antisemitische Hetze gegen Ausschreitungen zwischen Miezes Onkel NSDAP- und KPD-Anhängern

SA-Männer lauern Hans auf dem Hitler wird am 30. Januar 1933 Nachhauseweg auf und verprügeln ihn Reichskanzler

Fackelzug der Nationalsozialisten Hans und Helle schauen sich den Fackelzug durch das Brandenburger Tor an und sind von Hitler nicht beeindruckt

Arbeitskollegen von Hans, die bei der SA sind, Hans Vater (SPD-Mitglied) stecken ihn in eine Kiste und nageln sie zu. kommt nicht nach Hause

Meister Bütow (SPD-Mitglied) Reichstagsbrand am wird verhaftet 27. Februar 1933

Verhaftungen von SPD- und KPD-Mitgliedern Hans und Mieze hissen die KPD-Fahne nach Reichstagsbrand als Zeichen des Widerstandes

Hans‘ Bruder Helle (KPD-Aktivist) Hans wird vor der Haustür von und seine Frau tauchen unter SA-Schlägern schwer misshandelt

Hans plant zusammen mit Mieze Nur vereinzelte Widerstandsaktionen gegen weitere Widerstandsaktionen die Nationalsozialisten nach Hitlers Amtsantritt gegen die Nationalsozialisten als Reichskanzler

63 „Mit dem Rücken zur Wand“ – Unterrichtsbeispiel

M3 Gruppenarbeit zum Thema „Reichstagsbrand“

Die Gruppe besteht aus: 1.

2.

3.

4.

Arbeitsauftrag: 1. Sammelt Material zu eurem Thema und bringt es mit in die Schule: - Ihr könnt z.B. im Internet nach Informationen zu eurem Thema suchen und euch die wichtigsten Punkte ausdrucken. - Ihr könnt auch in die Bibliothek gehen und nach Büchern zu eurem Thema fragen. Die Bibliotheka- rin hilft euch bestimmt weiter. - Überlegt, ob irgendwo ein Fachmann ist, der euch mehr zum Thema sagen kann.

2. Besprecht in eurer Gruppe, was ihr gefunden habt.

3. Geht die folgenden Aufgabestellungen gemeinsam durch und überlegt, ob ihr schon Antworten oder Informationen zu einigen Aufgaben habt.

4. Aufgabestellungen zum Thema „Reichstagsbrand“: a) Erkläre, was im Reichstag gemacht wurde, wozu er da war und wer im Reichstag saß. b) Suche eine Karte und zeichne den Reichstag ein. c) Zeige auf Bildern, wie der Reichstag vor dem Brand und wie er nach dem Brand aussah. d) Stelle fest, welche Zerstörungen der Brand bewirkte. e) Zeige, wie der Reichstagsbrand in den Medien dargestellt wurde. f) Suche Informationen, wer den Brand legte und warum er ihn legte. g) Gibt es Bilder über die Gerichtsverhandlung gegen den angeblichen Brandstifter? h) Erkläre, wem der Reichstagsbrand sehr gelegen kam? Wer hatte einen Nutzen davon? i) Beschreibe, was auf den Reichstagsbrand folgte? Welche Auswirkungen hatte er? j) Findet heraus, wie die Bürger den Reichstagsbrand erlebten und welche Meinungen sie dazu hatten.

5. Haltet eure Ergebnisse schriftlich fest und lest sie euch gegenseitig vor. Überlegt euch, wie ihr eure Ergebnisse der Klasse präsentiert (Wandzeitung, Folienpräsentation usw.). Dabei sollen alle Grup- penmitglieder beteiligt sein.

6. Überlegt euch Quizfragen, die ihr nach eurer Vorstellung den anderen Schülern stellen wollt. Schreibt die Quizfragen auf Din-A 5 Zettel und teilt sie auf in leichte, mittelschwere und schwere Fragen.

64 „Mit dem Rücken zur Wand“ – Unterrichtsbeispiel

stimmt. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sich litischen und gesellschaftlichen Verhältnisse dieser die Schülerinnen und Schüler bei der Themenfi n- Zeit erfahren und geschichtliche Ereignisse, wie zum dung an der Arbeit mit der Zeitleiste orientieren, so Beispiel die Wahl Hitlers zum Reichskanzler, den dass das Themenspektrum nicht zu stark erweitert Reichstagsbrand und die anschließende Verhaf- wird. tungswelle kennen gelernt. Durch die Arbeit in Grup- pen haben die Schüler ihre Erkenntnisse vertieft und Nachdem die Themen für die Gruppenarbeit festge- ihr Wissen in der Auswertungsphase der ganzen legt wurden, ordnen sich die Schüler jeweils einem Klasse zugänglich gemacht. Thema zu und bilden somit eine themenorientierte Gruppe. Die Gruppen sollten aus jeweils 3-5 Schü- Nun stellt sich folgende Frage: Welchen Bezug hat lern bestehen. Es ist durchaus sinnvoll, bestehende dieses neu erworbene Wissen zur Gegenwart der Freundschaftsgruppen (informelle Gruppen) bei der Schüler? Ein Thema, das heute leider wieder eine Gruppenbildung zu beachten. Andererseits ist es große Bedeutung erlangt hat, ist die politisch moti- wichtig, auch schwierige Schüler oder Außenseiter vierte Gewalt. zu integrieren. Auch in der Lektüre „Mit dem Rücken zur Wand” geht Der Lehrer formuliert zu jedem Thema einen Arbeits- es um Gewaltausbrüche von politischen Gruppen. Es auftrag. Im Anhang 3 (siehe M3) wird dies exempla- wird gezeigt, wie brutal und menschenverachtend risch für das Thema „Reichstagsbrand“ aufgezeigt. die SA mit ihren Gegnern umgegangen sind. Wichtig Ich habe die Erfahrung gemacht, dass zu frei formu- ist hierbei, dass die Schülerinnen und Schüler erken- lierte Arbeitsaufträge oft unzureichend erfüllt wer- nen, welche Motive und welche Ideologie hinter den den. Daher muss die Aufgabenstellung konkret for- Gewaltausbrüchen der SA standen. muliert werden. Um die gestellten Aufgaben lösen zu können, müssen sich die Schülerinnen und Schü- Auch heute ist Gewalt ein zentrales Element rechts- ler Informationen aus Büchern, dem Internet oder extremistischer Gesinnung. Es bietet sich an, einen von einem Experten besorgen. Vergleich zwischen den gewaltsamen Auseinander- setzungen von damals und heute anzustellen und zu In der Auswertungsphase tragen die Gruppen ihre fragen: Was wollten die Beteiligten erreichen, wel- Ergebnisse, zum Beispiel durch eine Power-Point- che Ziele hatten sie, wie reagiert der Staat auf die Ge- Präsentation, vor. walttaten und welche Rolle spielt die Polizei? Wenn es gelingt, die Schülerinnen und Schüler durch Fach- Zum Abschluss fi ndet noch ein Quiz statt, in dem die wissen über die Hintergründe und Auswirkungen Erkenntnisse aus den Gruppenarbeiten noch einmal des Nationalsozialismus aufzuklären, ist der erste wiederholt werden sollen. Die Quizfragen und Ant- Schritt gegen die platten Parolen der heutigen Neo- wortmöglichkeiten denken sich die Schüler selbst nazis getan. aus und schreiben sie auf die Vorder- und Rückseite von Karteikärtchen. Das Quiz ist somit eine spiele- rische Art der Ergebnissicherung. Literaturhinweise

Ausblick für die Weiterarbeit Kordon, Klaus (1990): Mit dem Rücken zur Wand.

Nach den bisherigen Unterrichtsschritten haben die Meyer, Hilbert (1987): Unterrichtsmethoden – 2. Praxisband. Schüler aufgrund der Lektüre einen Einblick in die Stober, Matthias (Hrsg.) (2008): Power Pack Computer – Medien- Zeit 1932/33 erhalten. Sie haben etwas über die po- gestütztes Präsentieren ab der Sekundarstufe I

65 Die ideologische Bemächtigung der Jugend Am Beispiel der nationalsozialistischen Hitlerjugend

Natalie Wöll

Im Rahmen des vorliegenden Beitrages wird eine Un- nach Hause, Jungs!“ Die Jungen reagieren ungehal- terrichtsstunde beschrieben, die zum Thema Hitlerju- ten: „Sie woll’n uns wohl zur Fahnenfl ucht überre- gend in der Jahrgangsstufe 10, Realschule durchge- den?“ (…) „Schwache Nerven, was?“ (…) „Es ist Krieg, führt wurde. versteh’n Sie! Und wir müssen hier die Brücke hal- ten!“ (Bernhard Wicki Gedächtnis Fonds e. V. 2005, Eine Filmsequenz des Filmes ‚Die Brücke’ trägt zur 24). Auf die Entgegnung des Mannes, ob sie denn Problematisierung und Findung der Themenstellung noch die Helden spielen wollen, zieht ein junger Sol- bei, die auf der Basis von Bild- und Textquellen multi- dat die Pistole und richtet sie auf ihn. Der Bedrohte perspektivisch erarbeitet wird. Die plakative Ergebnis- läuft weg, er wird von den Jugendlichen ausgelacht sicherung mit der Herauslösung einzelner Personen und verhöhnt.1 aus der fotografi schen Vorlage ermöglicht Schülerin- nen und Schülern eine Perspektivenübernahme. Es handelt sich hier um eine Sequenz aus dem Film „Die Brücke“2 von Bernhard Wicki, die Fragen auf- wirft: Wie kommt es, dass die Jungen mit dieser Ve- Der Film hemenz ihre vermeintliche Dienstpfl icht in den letz- ten Kriegstagen verteidigen? Womit ist der Fanatis- Es ist dunkel, Nebel liegt über dem Fluss. Eine Grup- mus zu erklären? pe junger Soldaten, sehr junger Soldaten, bewacht in den letzten Kriegstagen eine Brücke, die keine Die beschriebene Szene steht stellvertretend für den strategisch wichtige Bedeutung aufweist. Aus dem „ideologischen Missbrauch“ (Bernhard Wicki Ge- Nebel heraus nähert sich ein älterer Mann der Grup- dächtnis Fonds e.V. 2005, 40), der im Dritten Reich an pe und spricht die Jungen an: „Wollt ihr etwa hier der Jugend betrieben worden ist. Für einen totali- noch ’ne Schießerei anfangen? (...) Geht doch lieber tären Staat ist es kennzeichnend, alle öffentlichen und privaten Bereiche kontrollieren zu wollen. Ne- ben der nationalsozialistischen Propaganda und der Einschränkung bürgerlicher Rechte konnte dies durch die kontinuierliche Einbindung der Individuen in staatliche Organisationen wie das Deutsche Jung- volk, Hitlerjugend, Reichsarbeitsdienst, SS oder NSKK3 umgesetzt werden. Mit dem Wissen, dass für eine Festigung und Fortdauer der NS-Diktatur die Jugend gewonnen werden musste, griff das natio- nalsozialistische Regime über schulische Bildung und außerschulische Jugendarbeit auf die Erziehung der Jugend mit dem Anspruch zu, den Einfl uss des Abb. 1: Bildausschnitt aus dem Film: Die Brücke Elternhauses einzudämmen.

1 Wicki 2005, 24 2 Uraufführung im Oktober 1959 1 Uraufführung im Oktober 1959 3 Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps

66 War anfangs die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend – marschiert, geschossen und vor allem mit Sport den deren Anfänge bis in das Jahr 1922 zurückreichen, jugendlichen Körper „gestählt“. Aufmärsche bei Par- die Gründung zur nationalsozialistischen Jugendbe- teitagen und anderen nationalsozialistischen Festivi- wegung jedoch 1926 auf dem zweiten Reichspartei- täten, soziale Aufgaben wie das Sammeln für das Win- tag der NSDAP erfolgte – noch freiwillig, wurde sie terhilfswerk vermittelten das Gefühl, für etwas verant- durch die Gesetzgebung in den Jahren 1936 und wortlich, ein Teil des Ganzen und unabhängig vor 19394 zur Pfl icht. Bereits kurz nach der Ernennung allem auch vom Elternhaus zu sein.8 Mit 18 Jahren ab- Hitlers zum Reichskanzler am 30.1.1933 fanden die solvierten die Jugendlichen ein halbes Jahr im Reichs- Aufl ösung und Übernahme der Jugendverbände arbeitsdienst, anschließend traten die Männer in den der Weimarer Republik statt und schon im gleichen Wehrdienst ein. Jahr wies die Hitlerjugend 3,5 Millionen, 1939 dann 8 Millionen Mitglieder auf. Ihre Organisation erfolgte Analog dazu wurden die Mädchen mit 10 Jahren Teil nach dem Prinzip: „Jugend führt die Jugend.“ Auf des Jungmädelbundes, mit 14 Jahren des Bundes der Basis eines streng hierarchischen Systems stand Deutscher Mädel und mit 17 Jahren Freiwillige des jeder Einheit eine Führungsperson vor, über der sich BDM-Werkes „Glaube und Schönheit“ zur Vorberei- wiederum eine weitere Führungsperson befand. So tung auf ihre zukünftige Rolle als Frau und Mutter. bestand auf jeder Ebene die Chance, selbst Führung zu übernehmen und ein wichtiger, wenn auch kon- Trotz aller Bemühungen des Regimes waren nicht trollierter Teil des Ganzen zu sein.5 alle Kinder und Jugendliche von der staatlich verord- neten, rechtsgerichteten Jugendbewegung be- Die Hitlerjugend ist konzeptionell keine Neuerfi n- geistert. Zum jugendlichen Widerstand gehörten die dung des Nationalsozialismus. Von der Jugendbe- Swingjugend, die Edelweißpiraten und die Weiße wegung und der bündischen Jugend übernahm sie Rose. Die Mehrheit der Unentschlossenen und Un- Gestaltungselemente wie die Abende am Lagerfeu- willigen zog es jedoch aus Angst vor staatlichen Re- er, Wanderungen und das Zelten in der Natur.6 pressalien vor, mitzumachen und nicht aufzufallen. Letztendlich wurde die Hitlerjugend durch ihre Struk- Mit zehn Jahren erfolgte der Eintritt in das Deutsche tur von Befehl und Gehorsam, durch ihre Leibeser- Jungvolk. Bei der Pimpfenprobe, eine Bewährungs- tüchtigung und militärischen Drill bereits umfassend probe mit Herausforderungscharakter, mussten die für den Krieg vorbereitet. So wurden noch gegen Jungen ihre sportlichen Fähigkeiten und ihre ideolo- Ende des Krieges die Jahrgänge 1928 und 1929 ein- gische Gesinnung darstellen. Besiegelt wurde die gezogen, die als Flakhelfer, bei Bergungs- und Aufnahme alljährlich am Vorabend von Hitlers Ge- Schanzarbeiten sowie im Volkssturm dienten.9 burtstag mit dem Eid des Jungvolkes: „Jungvolkjun- gen sind hart, schweigsam und treu. Jungvolkjungen sind Kameraden. Der Jungvolkjungen höchstes ist die Intentionen Ehre“ (www.br-online.de 2010).7 Das im März 2009 erfolgte Verbot der rechtsgerich- Der Eintritt in die Hitlerjugend fand mit 14 Jahren statt. teten Jugendorganisation ‚Heimattreue Deutsche Auch hier waren ideologische Schulung und sport- Jugend’ durch das Bundesinnenministerium zeigt, liche Aktivitäten, die mehr und mehr einen militä- dass die Behandlung des Unterrichtsgegenstandes rischen Charakter annahmen, wichtig. Im Rahmen des Hitlerjugend ein hochaktuelles Thema darstellt. Lagerlebens herrschte militärische Disziplin, es wurde

4 Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. 12. 1936 (Reichsgesetzblatt 1936 I, S.993) und Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler-Jugend (Jugenddienstpfl icht) vom 25.3.1939 (Reichsgesetzblatt, 1939/Nr. 66, Berlin, vom 6.4.1939 aus dem Bundesarchiv Koblenz R 36/2012; jeweils wiedergegeben unter www.dhm.de/lemo/html/dokumente/hjgesetz/index.html und www.dhm.de/ lemo/html/dokumente/hjdienst/index.html vom 6.02.2010). 5 Vgl. Körner (2000, 83 f.); vgl. Zolling (2005, 171); vgl. www.dhm.de.Vgl. www.br-online.de. 6 Vgl. Knopp (2000, 40 ff.) 7 www.br-online.de/bildung/databrd/natio2.htm/fakten2.htm, 6.02.2010. 8 Vgl. Knopp (2000, 26 ff.) 9 Vgl. Knopp (2000, 7f.); vgl. www.br-online,de; vgl. Körner (2000, 85 ff); vgl. www.dhm.de.

67 Die ideologische Bemächtigung der Jugend

Differenziert weist Moegling im Rahmen des Basisar- Realisierung tikels auf die unterschiedlichen Motivationslagen Ju- gendlicher hin, rechtsextreme Denk- und Handlungs- Schritt 1: Impuls weisen zu übernehmen. Wenngleich nicht nur junge Menschen aus sogenannten Randbereichen der Ge- Die eingangs beschriebene Filmsequenz, die eine sellschaft betroffen sind, wird jedoch verdeutlicht, Schlüsselszene für die Folgen der Formung durch dass fehlende Sachkenntnis häufi g eine gewichtige die Hitlerjugend darstellt, führt problemorientiert in Rolle, rechtsgefärbten Parolen zu folgen, spielt. Auch den Unterrichtsgegenstand ein. Sie transportiert der im weiteren Sinne unrefl ektierte Sprachgebrauch über ihre Protagonisten verschiedene Emotionen, von alten NS-Parolen, Witzen über Juden, Homosexu- die den Fragehorizont der Stunde aufwerfen, und ellen, Sinti und Roma, Linke u. a. sowie jegliche Form vermag weitaus mehr auszusagen als eine Text- oder rechtsextremistischer Agitation verdeutlichen den Bildquelle. Zudem kommt sie dem Aneignungsfor- Handlungsbedarf für die schulische und außerschu- mat der Jugendlichen entgegen. lische Bildung. Vor dem Hintergrund des Gesehenen werden Fra- So gehört es für das hessische Kultusministerium zur gen und erste Hypothesen formuliert: Warum wird Zielsetzung des Geschichtsunterrichts, durch den die Brücke trotz aussichtsloser Situation von den Unterricht ein historisches Bewusstsein zu schaffen, jungen Soldaten verteidigt? Womit ist ihr Verhalten das von der Vergangenheit auch auf die Handlungs- gegenüber dem Zivilisten zu erklären? ebenen der Gegenwart und Zukunft verweist, denn eine „demokratische Gesellschaft braucht mündige, Im Idealfall sollte die Lerngruppe über Vorwissen informierte und politisch handlungsfähige Bürger. zu den Themenbereichen Ideologie und Programm Wie Menschen Gegenwart und Zukunft gestalten, ist der Nationalsozialisten, Machtübernahme, Führer- auch davon abhängig, wie sie Vergangenheit beur- prinzip, Gleichschaltung, Propaganda und Inszenie- teilen“ (Hessisches Kultusministerium 2002, 3). rung verfügen.

Neben der Vermittlung der notwendigen Wissens- Schritt 2: Erarbeitung I kompetenz für das Erfassen historischer Zusammen- hänge möchte die vorliegende Unterrichtsstunde In der Erarbeitungsphase ermöglichen Bild- und besonders zur Ausbildung der Urteilsfähigkeit beitra- Text quellen unter unterschiedlichen Perspektiven gen. Zu beurteilen sind nach Moegling10 die psycho- eine Annäherung an die Themenstellung. Es handelt sozialen Hintergründe, die zur Entstehung des Natio- sich um insgesamt drei unterschiedliche Arbeitsblät- nalsozialismus und dessen Festigung im Rahmen von ter, die aus dem jeweiligen Blickwinkel (z. B. durch Bildung und Erziehung führten. Diese Rekonstruktion Zeitzeugenaussagen) das Hineinversetzen in die kann besonders eindringlich und anschaulich durch Lage der damals Betroffenen ermöglicht. Hierbei Perspektivenübernahme und emotionale Betroffen- geht es um einen differenzierten Blick, nicht um das heit gelingen.11 Die Schülerinnen und Schüler sollen Aburteilen vergangener Handlungsweisen.12 Durch lernen, das Handeln und Denken von Menschen in die lebensweltliche Nähe – Jugendliche befassen der Vergangenheit aus der Zeit heraus kritisch zu be- sich mit dem Thema ‚Jugend’ – sollte eine Perspekti- urteilen und erkennen, dass es im Hinblick auf die venübernahme gelingen und den Schülerinnen und Wertmaßstäbe damals wie heute Unterschiede gibt. Schülern Anlass geben, Einsichten für ihre eigene Zudem sollen sie befähigt werden, vergleichbare Realität in der Auseinandersetzung mit der histo- Denkstrukturen auch heute zu identifi zieren. rischen Fragestellung zu erhalten und diese kritisch zu refl ektieren. Sie sollen be fähigt werden, insbeson- Auf dieser Grundlage werden sie für den aktuellen dere Angebote, die an ihre Altersgruppe von rech- Diskurs und im Hinblick auf ihre ganz persönliche ten Gruppierungen, Sekten etc. herangetragen wer- Entscheidungsfähigkeit gestärkt. den, kritisch zu be urteilen.

10 Vgl. Basisartikel Moegling (2010) 11 Vgl. Uffelmann (1999, 177) 12 Vgl. Bergmann (2000, 33)

68 Die ideologische Bemächtigung der Jugend

Inhaltlich wird ein Bogen von der Begeisterung Ju- Auf der Grundlage des vorher Erarbeiteten werden gendlicher für die Hitlerjugend durch das Angebot Sprech- und Gedankenblasen zu einer für ihr Thema von Aktivitäten, die der Abenteuerlust und dem Be- aussagekräftigen Abbildung14 mit Gedanken oder dürfnis nach Gemeinschaft dieser Altersgruppe ent- Aussagen der potenziellen Protagonisten gefüllt. sprachen, über kritische Stimmen, welche die Inten- Der Arbeitsauftrag lautet: Was könnten die abgebil- tionen des NS-Staates sowie den Zwangscharakter deten Personen gesagt oder gedacht haben? der Hitlerjugend erkannten, zum nationalsozialis- tischen Jugendbild gespannt, das, durch die Aus- Durch das Herauslösen einzelner Personen aus der wahl der Quellen verdeutlicht, den umfassenden Er- fotografi schen Vorlage soll eine Perspektivenüber- ziehungsanspruch des Regimes verdeutlicht. nahme aus der Sicht von damals erleichtert werden. Diese plakative und comicartige Form der Ergebnis- Die exemplarischen Quellen werden in arbeitstei- sicherung kommt jugendlichen Ausdrucksformen liger Gruppenarbeit erarbeitet, sodass sich die Ler- nahe und veranlasst die Gruppenteilnehmerinnen nenden jeweils intensiver mit einem Aspekt ausein- und -teilnehmer, knapp und prägnant die wichtigsten andersetzen. Die unterschiedlichen Gruppenthemen Aussagen zu ihrem Thema zu formulieren. können je nach Klassenstärke doppelt besetzt wer- den. Schritt 4: Zusammenführung und Aussprache

Schritt 3: Erarbeitung II Im Anschluss an die Erarbeitungsphase wird den Ler- nenden Gelegenheit gegeben, sich einen Überblick Nachdem sich die Lerngruppen mit den verschie- über die verschiedenen Arbeitsergebnisse zu ver- denen Quellen der Themenschwerpunkte auseinan- schaffen. Es empfi ehlt sich, um eine barrierenfreie dergesetzt haben, sollen sie eine weitere großforma- Kommunikation im Rahmen der Präsentation der Ar- tige Arbeitsvorlage13 (s. Abbildung 2) bearbeiten. beitsergebnisse zu ermöglichen, die bisherige Sitz-

Abb. 2: Arbeitsvorlage15

13 Diese mit einer vergrößerten und für den Erarbeitungsprozess verfremdeten Bildquelle ausgestattete Arbeitsvorlage wird in die schon bestehenden Arbeitsgruppen gegeben. 14 Es werden verschiedene Fotomaterialien verwendet, die das jeweilige Thema der Gruppenarbeit widerspiegeln (z. B. Jugend am Lagerfeuer, marschierende Hitlerjungen). 15 Fotografi e N. Wöll, 2007. Die Bildvorlage stammt aus dem Bundesarchiv, Nr. 183/C 4239, wiedergegeben bei Knopp (2000, 165).

69 Die ideologische Bemächtigung der Jugend

ordnung zu einem Sitzkreis umzustellen. Die Plakate vielen Jugendlichen noch das Bedürfnis an einem (großformatigen Arbeitsvorlagen) werden für alle organisierten Gruppenstärkegefühl. sichtbar in die Mitte des Kreises gelegt. Bevor die je- weiligen Arbeitsgruppen ihre Ergebnisse präsentie- Im Ausklang der Unterrichtsstunde kann die Lern- ren, entwickeln sie Untertitel zu ihren Plakaten, die gruppe mit der provokativen Aussage konfrontiert auf Kärtchen geschrieben und unter das Plakat ge- werden, dass in unserer modernen Gesellschaft Ju- legt werden. So entstehen Schwerpunkte, die für die gendbewegungen wie die Hitlerjugend undenkbar Klärung der Ausgangsfragestellung herangezogen sind. werden können.

Als Einstieg in die Aussprache bietet es sich an, er- Literaturhinweise / Quellennachweis neut auf die anfangs gezeigte Filmsequenz des Stun- deneinstieges zu verweisen. Dies kann mit einer Berger-v.d.Heide, Thomas u. a. (Hrsg.): Entdecken und Verstehen, Overheadfolie geschehen, die eine Szene der Se- Band 4. Von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart.1. Aufl age. Berlin: Cornelsen, 2007. quenz zeigt. Die eingangs formulierten Fragestel- lungen werden wiederholt und leiten in die Präsenta- Bergmann, Klaus: Multiperspektivität. Geschichte selber denken. tion der Gruppenergebnisse ein. Die nun folgende Schwalbach/ Ts.: Wochenschau, 2000. Moderation des Unterrichtsgespräches erschließt Bernhard Wicki Gedächtnis Fonds e. V. (Hrsg.): Die Brücke. Film- sich aus den Beiträgen der Lerngruppe und orien- begleitheft von Michael Schaudig unter Mitarbeit von Elisabeth tiert sich an folgenden Impulsen, sofern diese nicht Wicki-Endriss. 1. Aufl age. München 2005. bereits im Rahmen der Präsentation durch die Schü- Brokemper, Peter u. a. (Hrsg.): Schauplatz Geschichte, Arbeits- lerinnen und Schüler ausgeführt worden sind: buch für Hessen 2. 1. Aufl age. Berlin: Cornelsen, 2005. • Beschreibt, was die Hitlerjugend für die jungen Menschen damals bedeutete. Hessisches Kultusministerium: Lehrplan für den Bildungsgang Re- alschule. 1. Aufl age. Wiesbaden, 2002. • Vergleicht die Wünsche der Jugendlichen mit dem Jugendbild des NS-Staates. Welche länger- Hey u. a.: Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Demokra- fristige Zielsetzung ist erkennbar? tie und Diktatur in Deutschland 1918-1945. Leipzig 1997.

• Überlegt, ob den Jugendlichen die Ziele ihrer Er- Knopp, Guido: Hitlers Kinder. 1. Aufl age. München: Bertelsmann, ziehung bewusst waren. 2000.

Der vorliegende Entwurf wurde an der Alexander- Körner, Torsten: Die Geschichte des Dritten Reiches. Frankfurt/ New York: Campus, 2000. von-Humboldt-Schule in Gießen durchgeführt. Auf der Basis des Filmausschnittes und des multiper- Lendzian, Hans-Jürgen u. a. (Hrsg.): Geschichte und Gegenwart, spektivischen Quellenmaterials gelang es der Lern- Band 3. Paderborn: Schöningh, 2001. gruppe, die Strategien des NS-Regimes in Bezug auf Pandel, Hans-Jürgen (Hrsg.): Geschichte konkret. Ein Lern- und die Jugend zu entlarven. Obgleich es in den vorlie- Arbeitsbuch, Band 4. Braunschweig: Schroedel, 2007. genden Quellen nicht eindeutig verdeutlicht wird, Sauer, Michael: „Historisches Denken“ fördern. In: Friedrich Jah- thematisierte sie den Druck und Zwang für jeden Ein- resheft 2007, Guter Unterricht. Maßstäbe & Merkmale, Wege & zelnen, sich an der Hitlerjugend zu beteiligen. Auch Werkzeuge. Velber: Friedrich, 2006, 42-46. erkannte sie die für Jugendliche motivierenden As- pekte der Hitlerjugend. Sehr empathisch erörterten Uffelmann, Uwe: Emotionen und historisches Lernen. In: Uffel- mann, Uwe (Hrsg.): Neue Beiträge zum Problemorientierten Ge- die Schülerinnen und Schüler, wie sie selbst damals schichtsunterricht. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag, 1999, 167-182. möglicherweise gehandelt hätten. Jedoch erkannten sie auch, dass ihre Überlegungen von ihrer eigenen Zolling, Peter: Deutsche Geschichte von 1871 bis zur Gegenwart. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2005. Sozialisation geprägt sind. www.br-online.de/bildung/databrd/natio2.html/fakten2.htm vom In einer sich der Unterrichtsreihe anschließenden 6.02.2010. Einheit zum Thema Rechtsradikalismus und –extre- www.dhm.de/lemo/html/nazi/organisationen/jugend/index.html mismus wird der Themenbereich „Jugendorganisati- vom 6.02.2010 on“ im Hinblick auf die verbotene Wiking-Jugend (WJ) und die Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) www.lsg.musin.de/geschichte/ vom 9.02.2007 sowie den noch nicht untersagten „Sturmvogel“ www.planet-wissen.de/politik_geschichte/drittes_reich/kindheit_ nochmals aufgegriffen, denn auch heute besteht bei unter_hitler/index.jsp vom 6.2.2010

70 Die ideologische Bemächtigung der Jugend

M1 Adolf Hitler: „Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln. Sie kommt vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort … noch nicht ganz Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alle mit einem Symbol, dem deutschen Spaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewusstsein oder Standesdünkel … noch vorhanden sein sollte, das übernimmt die Wehrmacht. Dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in SA, SS und so weiter. Und sie werden nicht mehr frei, ihr ganzes Leben, und sie sind glücklich dabei“ (Rede in Reichenberg am 2.12.1938. In: Völkischer Beobachter v. 4.12.1938).

Aus der Zweiten Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Hitler-Jugend vom 25.März 1939: §1 Dauer der Dienstpfl icht (1) Der Dienst in der Hitler-Jugend ist Ehrendienst am Deutschen Volke. (2) Alle Jugendlichem vom 10. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr sind verpfl ichtet, in der Hitler-Jugend Dienst zu tun, und zwar: 1. die Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren im „Deutschen Jungvolk“ (DJ), 2. die Jungen im Alter von 14 bis 18 Jahren in der Hitler- Jugend (HJ), 3. die Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren im „Jungmä- delbund“ (JM), 4. die Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren im „Bund Deutscher Mädel“ (BDM). picture-alliance / akg-images picture-alliance

Adolf Hitler: „In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. …. Stark und schön will ich meine Jugend. Ich werde sie in allen Leibesübungen ausbilden lassen. …. Ich will keine intel- lektuelle Erziehung. Mit Wissen verder- be ich mir die Jugend.“ H. Rausching, Gespräche mit Hitler, Zü- rich/New York 1940, 237 f.

Erklärung: Die nationalsozialistischen Ordensburgen waren Ausbildungsstät- ten für zukünftiges Führungspersonal der NSDAP. National Archives National

1. Schaut euch die Abbildungen genau an und lest die Quellentexte durch. 2. Was dachte Adolf Hitler über die Jugend? Besprecht eure Eindrücke in der Gruppe. 3. Was könnten die abgebildeten Personen auf dem zweiten Arbeitsblatt gesagt oder gedacht haben? Schreibt bitte in die Sprech- oder Gedankenblasen.

71 Die ideologische Bemächtigung der Jugend

M2 „Als ich mit zehn Jahren in die Reihen des Jungvolks eintrat, war ich begeistert. Denn welcher Junge ist nicht entfl ammt von … hohen Idealen wie Kameradschaft, Treue und Ehre […]. Ich weiß noch, wie tief ergriffen ich dasaß, als wir die Schwertworte des Pimpfen lernten: „Jungvolkjungen sind hart, schweigsam und treu; Jungvolkjungen sind Kameraden; des Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre!“ Sie schienen mir etwas Heiliges zu sein. – und dann die Fahrten! … abends in der freien Natur im Kreise um ein kleines Feuer zu sitzen und Lieder zu singen oder Erlebnisse zu erzählen! Diese Stunden waren wohl die schönsten, die uns die Hitlerjugend geboten hat. Hier saßen dann Lehrlinge und Schüler, Arbeitersöhne und Beamtensöhne zusammen und lernten sich gegenseitig verstehen und schätzen …“. In: Haß, K. (Hrsg.): Jugend unterm Schicksal, Hamburg 1950, 61 f. Scherl / SZ Photo

Hans Müller, Jahrgang 1923: Es hieß: Ihr seid …. Jugend ist … Und die Alten haben ja sowieso keine Ahnung. Die wissen gar nicht, was los ist – die sind verkalkt. Und das kommt natürlich bei jungen Menschen an. Besonders wenn man bedenkt, dass die Erzie- hung nicht so leger war wie heute, sondern mehr auf Gehorsam abgestimmt war. Aus: Knopp (2000, 66).

1. Schaut euch die Abbildungen genau an und lest die Quellentexte durch. 2. Findet heraus, warum die Jungen von der Hitlerjugend begeistert waren und besprecht eure Eindrücke in der Gruppe. 3. Was könnten die abgebildeten Personen auf dem zweiten Arbeitsblatt gesagt oder gedacht haben? Schreibt bitte in die Sprech- oder Gedankenblasen.

72 Die ideologische Bemächtigung der Jugend

M3 Ein ehemaliger Hitlerjunge erinnert sich 1975: Wir waren Hitler-Jungen, Kindersoldaten längst ehe wir mit zehn Jahren für wert befunden wurden, das Braunhemd zu tragen. Schon vorher waren wir dauernd „im Einsatz“. Wir sammelten Altpapier und Altme- talle, suchten Heilkräuter, schwangen fürs Winterhilfswerk die Sammelbüchse, …. waren aufs „Dienen“ vorbereitet, ehe wir als Pimpfe zwei- oder dreimal die Woche und oft auch noch am Sonntag zum „Dienst“ befohlen wurden: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ Wenn andere von der Pimpfenzeit schwärmen (als sei das Ganze nur ein Pfadfi nderklub mit anderem Vorzeichen gewesen), so kann ich diese Begeisterung nicht teilen. Ich habe beklemmende Erinnerungen. In unserem Fähnlein bestanden die Jungvolk- Stunden fast nur aus „Ordnungsdienst“, das heißt aus sturem militärischem Drill. Auch wenn Sport oder Schießen oder Singen auf dem Plan stand, gab es erst immer „Ordnungsdienst“: endloses Exerzieren mit „Stillgestanden“, „Rührt euch“, „Links um“, „Rechts um“, „Ganze Abteilung – kehrt“ – Kommandos, die ich noch heute im Schlaf beherrsche. Zwölfjährige Hordenführer brüllten zehn- jährige Pimpfe zusammen und jagten sie kreuz und quer über die Schulhöfe, Wiesen und Sturzäcker. Die kleinsten Aufsässig- keiten, die harmlosesten Mängel an der Uniform, die geringste Verspätung wurden sogleich mit Strafexerzieren geahndet – ohn- mächtige Unterführer ließen ihre Wut an uns aus. Aber die Schikane hatte Methode, uns wurde von Kindesbeinen an Härte und blinder Gehorsam eingedrillt …“ Karl Heinz Janssen: Eine Welt brach zusammen, in: Hermann Glaser/ A. Silenius (Hrsg.): Jugend im Dritten Reich. Frankfurt: Fischer, 1975, 89 ff. Pimpfe = Mitglieder des Jungvolkes mit 10 bis 14 Jahren. Bundesarchiv

„Dein Verhalten hat gezeigt, dass dein Benehmen nicht das eines Hitler-Jungen ist. Dein Scharführer hat dich aufgefor- dert, deine Uniform anzuziehen und im Dienst zu erscheinen. Dieser Aufforde- rung bist du nicht nachgekommen. Dies ist eine Disziplinlosigkeit erster Ord- nung. Außerdem stellt dies einen gro- ben Verstoß gegen das Führerprinzip dar.“ Scharführer der Gefolgschaft 23/124, 14. Dez. 1935, Stadtarchiv Ravensburg X 473/RV. i. R., 207. picture-alliance / akg-images picture-alliance

Wehrsportübung der Hitlerjugend. Foto um 1943.

1. Schaut euch die Abbildungen genau an und lest die Quellentexte durch. 2. Welchen Eindruck machte die Hitlerjugend auf die Jugendlichen? Besprecht eure Erkenntnisse in der Gruppe. 3. Was könnten die abgebildeten Personen auf dem zweiten Arbeitsblatt gesagt oder gedacht haben? Schreibt bitte in die Sprech- oder Gedankenblasen.

73 Auf Spurensuche jüdischen Lebens in Frankfurt – damals und heute Ein Interview mit der jüdischen Schriftstellerin Stefanie Zweig

Manfred Bauer

Als Exkurs zum hessischen Lehrplan des Geschichts- Schülerinnen und Schüler berührte. Die fi ktionale unterrichts an Gymnasien (G9) und Realschulen bietet Handlung ließ die Lernenden auf einer Art Zeitreise in es sich im Rahmen des Themengebietes „Nationalso- die Vergangenheit schreiten, konstruierte damit hi- zialismus und Zweiter Weltkrieg“ an, einen Fokus auf storisches Wissens und ermöglichte einen Vergleich das jüdische Leben zu richten. Neben dem fächer- und Bezug zur Gegenwart. Zudem trug die Erzählwei- übergreifenden Lernen steht insbesondere das hand- se der Autorin dazu bei, dass die Lernenden schritt- lungsorientierte und außerschulische Lernen im Mit- weise für jüdisches Leben sensibilisiert wurden. telpunkt des hier vorgestellten Projekts. Durch eine gezielte regionale Spurensuche rückt Geschichte we- Parallel zur Lektüre-Arbeit im Fach Deutsch erhielten sentlich näher ins Bewusstsein. die Schülerinnen- und Schüler im Religionsunter- richt1 elementares Wissen zum Thema Judentum, während im Fach Geschichte Antisemitismus, Kind- Einleitung heit und Leben in der NS-Zeit und im Zweiten Welt- krieg thematisiert wurden. Frankfurt als Stadt mit einst blühendem jüdischen Le- ben bietet sich geradezu für eine Spurensuche an. Ein weiterer Aspekt bildete das außerschulische Ler- Die Faszination für Geschichte und Glaube wird im nen. So bot sich zur Veranschaulichung des Ge- Dialog mit Menschen, die diese Zeit erlebt bzw. auf- lernten ein Synagogenbesuch in der Westend-Syna- grund von Schilderungen anderer jene Eindrücke goge in Frankfurt an. Des Weiteren wurden einige im niedergeschrieben haben, besonders nachhaltig ge- Roman erwähnten Orte in der Stadt aufgesucht, um fördert. Geschichte noch einmal bewusst nachzugehen. Ebenso wurden Orte besucht, an denen heute jü- disches Leben zu fi nden ist, wie beispielsweise das Kurzbeschreibung einstige und heutige Gymnasium Philanthropin. Im des durchgeführten Projekts Geschichtsunterricht wurden zuvor alte Fotos und Filmdokumente der Stadt Frankfurt vor und nach Die Verzahnung der drei Fächer Geschichte, Religion dem Krieg gezeigt. und Deutsch akzentuierte im Geschichtsunterricht die Beschäftigung mit jüdischem Leben zur Zeit der Höhepunkt des Projekts bildete im Sinne der Hand- NS-Zeit und gegenwärtig am Beispiel Frankfurts. Un- lungsorientierung die Erstellung eines Interviews vor ter dem Aspekt der Leseförderung und Motivation dem Hintergrund der gewonnenen Informationen wurde der thematische Zugang über den Bestseller- und schließlich dessen Umsetzung im Gespräch roman „Die Kinder der Rothschildallee“ der jüdischen mit der Autorin Stefanie Zweig, die altersbedingt Autorin Stefanie Zweig gewählt, zumal dieser mit sei- zwar keine wirkliche Zeitzeugin ist, jedoch durch nem Handlungsort Frankfurt die Lebenswelt der ihre Romane zu den wohl bekanntesten Chronisten

1 Das Thema „Judentum“ wurde im Katholischen und Evangelischen Religionsunterricht sowie in Ethik zeitgleich und themeniden- tisch behandelt, sodass alle Schülerinnen und Schüler das gleiche Vorwissen für die weitere Thematisierung im Geschichtsunter- richt mitbringen konnten.

74 jüdischen Lebens mit Schwerpunkt Frankfurt zählt.2 kann, sollte im Plenum nach möglichen Interview- Damit wurde der in der Geschichtsdidaktik formu- partnern sondiert werden. lierten Problemlage Rechnung getragen, dass „re- ale“ Zeugen der Jahre 1933 bis 1945 mittlerweile fast Sowohl Zeitzeugen als auch Chronisten erzählen nicht mehr für Interviews gewonnen werden können. „Geschichte von unten“ (Sauer3 2004, 196) und er- möglichen damit alltags- und mentalitätsgeschicht- Ziel des Projektes war es, über die Themen Lektürear- liche Einblicke. Optimal wäre es zudem, neben dem beit (Deutsch), Judentum (Religion) sowie Antisemitis- historischen Aspekt auch einen Gegenwarts- bzw.Zu- mus (Geschichte) ein Interview zu erarbeiten und kunftsbezug herauszuarbeiten. Im Hinblick auf durchzuführen, das ohne entsprechendes Hinter- einen handlungs- und projektorientierten Unterricht grundwissen nicht denkbar und nachvollziehbar wäre. bedarf es einer guten Vor- und Nachbereitung, die Das außerschulische Lernen, also Geschichte vor Ort inhaltliche und methodische Kenntnisse voraussetzt. aufzuspüren, bot eine weitere ergänzende Herange- hensweise an die Thematik. Dabei sollten folgende Punkte abgedeckt sein (vgl. Henke-Bockschatz 2007, 361):

Schwerpunktsetzung • ausreichende Information hinsichtlich geschicht- „Interview“ mit einer Chronistin lichen (u.a. religiöser) Kontext • bestmögliche Information über Gesprächspartner Wer kann Geschichte besser zur Sprache bringen als • Präsenz des Interviewleitfadens (schriftlich und Zeitzeugen und Chronisten? Sofern sie es verstehen, „geistig“) durch ihre eindrucksvollen Schilderungen, erzählte • Bereitlegen der Aufzeichnungsmaterialien (Block, Geschichte ähnlich wie ein Kino im Kopf ablaufen zu Stifte, Fotoapparat, Diktier- oder Aufzeichnungs- lassen. Neben dem historischen Kontext werden De- gerät samt Ersatzmaterialien wie Batterien, Kasset- tails und persönliche Nuancen zu einem nachhaltigen ten, USB-Stick) historischen Erlebnis. Da es immer weniger Zeitzeu- • gesprächschronologische Sortierung benötigter gen gibt, bedarf es der Suche nach anderen geeig- Quellen wie Fotos und Textauszüge neten Wegen, um die Vergangenheit in das heutige • Führen eines Vorgesprächs sowie Setzung eines historische Bewusstsein zu holen. Dies kann, insbe- Zeitlimits sondere bei der Beschäftigung mit jüdischem Leben, • Kenntnis über Lage und benötigte Zeit zur Errei- über die jüdische Gemeinde vor Ort, Schriftsteller, In- chung des Interview-Ortes stitutionen oder Vereine, wie z.B. die Gesellschaft für • ein geeignetes Geschenk für den Interviewpartner christlich-jüdische Zusammenarbeit, geschehen. und eine Geste des Dankes

Ein wesentliches Element der Gesprächsführung ist Didaktisch-methodische Überlegungen das aktive Zuhören, das dadurch geschieht, dass man der Interviewperson zugewandt ist und dies mit Für die Erarbeitung der Interviewfragen und der or- deutlichen Zeichen, wie z.B. einem leichten Nicken, ganisatorischen Planung bietet sich eine Aufteilung signalisiert. Ebenso empfi ehlt es sich punktuell, je- der Klassen in Teilgruppen an, die dementsprechend doch sehr sparsam zu verbalisieren, indem durch ei- gezielte Arbeitsaufträge erhalten. Vor der Durchfüh- genes kurzes Wiederholen des Gesagten eine Spie- rung des Interviews werden alle arbeitsteiligen gelung erzielt wird, die dem Interviewten rückmel- Schritte im Plenum, vergleichbar mit einer Redakti- det, inwieweit die Äußerungen verstanden wurden. onssitzung, besprochen. Da bei einem Interview, in der eine persönliche und diskrete Atmosphäre ge- Dringlichst zu vermeiden sind Bagatellisierungen wünscht wird, nicht die ganze Klasse anwesend sein („Das ist nicht so schlimm...“), Diagnosen („Ich denke,

2 Im Alter von acht Jahren emigrierte Stefanie Zweig mit ihrer Familie nach Kenia und kehrte 1947 nach Frankfurt zurück, wo sie mit ihrer Familie das Haus in der Rothschildallee bezog, in dem sie auch heute noch lebt. Mit feinem Gespür für geschichtliche Details zählt sie nunmehr zu den bekanntesten Chronisten jüdischen Lebens mit Schwerpunkt Frankfurt. Von 1963 bis 1988 war sie leiten- de Kulturredakteurin bei der Frankfurter Abendpost Nachtausgabe. 3 Hinsichtlich eines geeigneten Leitfadens zur Zeitzeugenbefragung sei zudem auf den Beitrag von Andras Reul verwiesen, der sich auf Michael Sauers Schema zur groben Orientierung für den Aufbau eines Oral-History-Vorhabens stützt.

75 Auf Spurensuche jüdischen Lebens in Frankfurt – damals und heute

Sie hatten da das Problem ...“) und das Moralisieren allem Neid und Missgunst gegenüber den Juden, mittels positiver und negativer Werturteile. denen es verhältnismäßig gut ging. Der Hass for- mierte sich immer mehr zur systematischen Verfol- gung und Hetze. Das Gespräch mit der Schriftstellerin Stefanie Zweig Was war für Sie der schmerzlichste Einschnitt? Dass unsere Verwandten im Konzentrationslager Das Interview wurde von zwei Schülern einer 10. Gym- ermordet wurden und mein Großvater in Russland nasialklasse geführt. von einem SS-Mann erschossen, öffentlich ermordet wurde. Mit über sieben Millionen verkaufter und in 15 Spra- chen übersetzter Exemplare zählt die Bestsellerau- Wusste die Bevölkerung von der wirklichen Nutzung torin Stefanie Zweig zu den wohl bekanntesten der Konzentrationslager? Chronisten jüdischen Lebens mit Schwerpunkt 1933 war der Begriff noch nicht bekannt. Erst später Frankfurt. Grund genug, um über ihr Leben, Erinne- sickerte durch, dass dort Juden inhaftiert und miss- rungen und Glauben ins Gespräch zu kommen. handelt wurden. Ich bin davon überzeugt, dass der größte Teil der Bevölkerung von den Vergasungen Frage: Synagogen und Kirchen prägten einst das erst mit der Befreiung Deutschlands erfuhr. Stadtbild. Gab es damals [vor der Machtergreifung] eine Art christlich-jüdische Begegnung? Welches grundlegende Versagen ist der Kirche wäh- Stefanie Zweig: Ich würde sagen, dass sich die Religi- rend des Dritten Reiches vorzuwerfen? onsgemeinschaften respektierten, aber weniger im Am besten wird dies im Schauspiel „Der Stellvertre- interreligiösen Dialog standen. Heute ist der christ- ter“ von Rolf Hochhuth erörtert, der sich kritisch mit lich-jüdische Dialog intensiver und fruchtbarer ge- der Haltung von Papst Pius XII. gegenüber dem Ho- worden. locaust auseinandersetzt und in der schweigenden Rolle des Papstes die Hauptschuld sieht. Haben Sie noch eine Erinnerung an die ‚Reichskristall- nacht‘ im November 1938, bei der Sie sechs Jahre alt In Ihrem Roman „Die Kinder der Rothschildallee“ waren? zeichnen Sie das Leben der jüdischen Familie Stern- Ich selbst habe daran keine Erinnerung, da meine Fa- berg zwischen 1926 und 1937 nach. Der Traum von milie nach Kenia emigriert war. Dort bekamen wir gleichberechtigten Bürgern wird zum Albtraum der aber die Entwicklung über das Radio mit. Für meine beispiellosen Verfolgung und Menschenvernichtung. Eltern und Verwandten bestand nunmehr die Ge- Die Romanfi gur der deutschen Köchin Josepha zeugt wissheit, dass sich die Familien wohl nie mehr wie- von einer besonderen Zivilcourage, die Sie exempla- dersehen würden, was eine große Beklemmung aus- risch erklären mögen. löste. Eine Freundin, die dies in Deutschland miter- Dieses Dienstmädchen ist eine Hommage an alle An- lebte, war in Todesangst, als Brandsätze in die Häu- gestellte jüdischer Familien. Ähnlich wie die Köchin ser geschleudert wurden und über dem Kinderbett im Roman, gab es viele Angestellte in jüdischen ihrer kleinen Cousine die Scheiben zerbarsten und Haushalten, die sich als Teil der Familie verstanden. ihr Gesicht mit Splittern bedeckten. Sie versuchten alles, um ihren jüdischen Mit- menschen ein menschenwürdiges Leben aufrechtzu- Welche Reaktionen zeigten die Kirchen? erhalten. Dabei riskierten sie Gesetzesübertritte und Sie zeigten aus Angst überwiegend keinen Protest. begaben sich in Lebensgefahr.

Wie veränderte sich die Bevölkerung in Folge des zu- Ihr Kollege Ralph Giordano spricht vom sogenannten nehmenden Pogroms? „Geburtsfehler der BRD“, bei dem Naziverbrecher Ein schlagartiger Wandel trat bereits 1933 und mas- und vor allem die intellektuellen Schöpfer des Holo- siv 1935 ein, als die sogenannten „Nürnberger Ge- caust rehabilitiert wurden und ungestraft davon ka- setze“ Eheschließungen von Juden und Nichtjuden men. Was wurde Ihrer Meinung in der Aufarbeitung unter Strafe stellten. Hinzu kam ab dem 9. November der NS-Verbrechen und des Holocaust anfangs noch 1938 die zunehmende Gewalt gegen Juden, die in Gravierendes versäumt? den Dörfern noch schlimmer war als in den Groß- Die Schulen hätten nach 1945 die große Chance nut- städten. Es steckte hinter dem Antisemitismus vor zen müssen, um die Thematik aufzubereiten. Statt-

76 Auf Spurensuche jüdischen Lebens in Frankfurt – damals und heute

dessen achteten damals die Lehrer peinlichst genau fachgebundenen Lernen dar. Diesbezüglich dürften darauf, die Worte „Hitler“ und „Drittes Reich“ nicht in das außerschulische Lernen und das Handlungspro- den Mund zu nehmen. Meistens wurde in Geschichte dukt des fächerübergreifend-erarbeiteten Interviews nur bis zur Weimarer Republik gelehrt. Außerdem ausschlaggebend gewesen sein. Die Aufzeichnung war das Wort „Krieg“ wie weggefegt. des Interviews als Tondokument, eine anschließende Diskussionsrunde und Abschlussrefl exion rundeten Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Hakenkreuze das Projekt ab. Die Teilnehmer gaben an, dass sie die und „Juden raus“-Schmierereien die Hauswände Arten der Kompetenzvermittlung für sehr förderlich säumen? hielten. So förderte das historische Arbeiten mittels Ich sehe das etwas nüchterner. Ich gehe davon aus, fächerübergreifender Themen durch die Teamarbeit dass die Verursacher in vielen Fällen über die Hinter- in erster Linie die soziale und methodische Kompe- gründe wenig Bescheid wissen und Trittbrettfahrer tenz der Schülerinnen und Schüler. Neben der Lektü- sind, die glauben, sie müssten einen Trend unterstüt- rearbeit und der Vertiefung historischen und weltre- zen. Obwohl ich so gut wie nie diese Parolen in Frankfurt wahrnehmen konnte, bin ich sicher, dass es ligiösen Fachwissens wurden die Teilnehmer an das andernorts nicht so ist. journalistische Arbeiten herangeführt. Das Projekt und in besonderer Weise das damit verbundene In- Wurden Sie in jüngster Zeit schon einmal Opfer von terview lässt sich in allen Schulformen umsetzen. Da- rechtsextremistischer Gewalt? bei ist eine auf die Schüler abgestimmte didaktisch- Nein. methodische Reduktion von Nöten. Gerade in der Konfrontation mit Rechtsextremismus hat es eine Wie begegnen Sie jungen Leuten, die mit der Schuld- sensibilisierende und präventive Wirkung, dass sich frage von damals nicht konfrontiert werden möchten? Schülerinnen und Schüler eine fundierte Meinung Es sollte auch ihnen ein Anliegen sein, dass dieses aneignen. Kapitel der Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Dabei sollten sie von der Schule und Politik jegliche Alternativ zum durchgeführten Projekt hätte man Möglichkeiten erhalten, um Geschichte aufzuarbei- statt eines Synagogenbesuchs auch einen Besuch im ten und rechtsextremistischer Gewalt vorzubeugen. Jüdischen Museum unternehmen können. Neben der Schriftstellerin Stefanie Zweig böten sich auch In- Bietet Frankfurt wieder Raum und Atmosphäre zur terviews mit der jüdischen Schriftstellerin Ruth Lapi- Entfaltung jüdischen Lebens? de und dem Journalisten und ehemaligen Vorsitzen- Ich fühle mich in der multikulturellen Stadt sehr wohl. den des Zentralrates der Juden, Michel Friedman, Hier ist es gelungen, dass verschiedene Kulturen und an. Ebenso könnte man sich der Lektüre „Das Tage- Religionen nebeneinander leben können. So wie vor buch der Anne Frank“ widmen, gilt dieses doch als der Machtergreifung Hitlers wird das Leben nicht mehr. Aber vielleicht wird die Zeit die Wunden schließen. historisches Dokument aus der Zeit des Holocaust. Gerade Anne Frank, die in Frankfurt (Eschenheimer Was bedeutet es für Sie „jüdisch“ zu sein? Anlage, Marbachweg, Dornbusch) Orte ihrer Kind- Obwohl ich keine strenggläubige Jüdin bin, liebe ich heit hatte, dürfte für die Schülerinnen und Schüler im meinen Glauben. Ich achte und schätze die Feier- Bezug zur Lebenswelt von großem Interesse sein. tage, ebenso besuche ich die Synagoge. Ich fi nde es immer wieder bemerkenswert, dass es im Judentum so gut wie keine Analphabeten gibt, da hier die Lese- Literaturhinweis und Schreiberziehung im Vordergrund steht. In meinem Buch „Der Traum vom Paradies“ versuche Henke-Bockschatz, Gerhard (2007): Zeitzeugenbefragung, in: Mayer, Ulrich / Pandel, Hans-Jürgen / Schneider, Gerhard (Hg.): ich u.a. gezieltes Hintergrundwissen über das Juden- Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach, 354- tum zu vermitteln. 369.

Refl exion des Projekts Lange, Dirk (2000): Methoden der Gesprächsführung, in: Ge- schichte lernen. Oral History, Heft 76, Velber.

Das durchgeführte Projekt war für die Beteiligten Sauer, Michael (2004): Geschichte unterrichten. Eine Einführung motivierend und stellte eine Alternative zum rein in die Didaktik und Methodik, Seelze-Velber.

77 Erinnerungen an das Kriegsende 1945 – Befreiung oder Untergang? Zeitzeugen erinnern sich

Andreas Reul

Wie erinnern sich heute noch Menschen an die letzten • Refl exion des Zeitzeugengesprächs anhand eines Kriegstage? Immer weniger Menschen können aus ei- Beobachtungsbogens gener Erinnerung berichten, wie sie tatsächlich den • Unterschiedliche Perspektiven des Kriegsendes: Untergang des Dritten Reiches erlebt haben. Waren - Militärischer Zusammenbruch sie froh endlich von der nationalsozialistischen Schre- - Unter alliierter Besatzung ckensherrschaft befreit worden zu sein oder bedau- - Überleben in den Trümmern erten sie gar das Scheitern einer „guten Idee“, wie es - Das Verschwinden der Nazis uns heute rechte „Rattenfänger“ glaubhaft versichern - Aus Erinnerung wird Geschichte wollen? Wie politisiert war eigentlich der „normale“ • Analyse ausgewählter Sequenzen des Films „Der Bürger? Untergang“ von Bernd Eichinger.

In der hier beschriebenen Unterrichtseinheit geht es um die Chancen und Gefahren – die Vor- und ggf. Warum sollen sich die Schülerinnen Nachteile von Oral History.1 Erfahren Schülerinnen und Schüler mit dem Kriegsende 1945 und Schüler durch die Befragung von Zeitzeugen auseinander setzen? und deren Schilderung von persönlichen Schick- salen Geschichte „aus erster Hand“ und erkennen 1945 endete mit der nationalsozialistischen Diktatur Jugendliche, welche schrecklichen und vernichten- eines der schrecklichsten Kapitel deutscher Ge- den Folgen der Zweite Weltkrieg für viele Menschen schichte. Aus den Trümmern, die der furchtbarste al- in Europa und der Welt hatte? ler bisherigen Kriege hinterlassen hatte, ging die po- litische und gesellschaftliche Ordnung hervor, in der Eine Zeitzeugenbefragung zu der hier geschilderten auch wir heute in Deutschland und Europa nach Thematik hat im Rahmen eines Projekttages an der Überwindung der Teilung leben. Das Jahr 1945 wird Haupt- und Realschule Nidda stattgefunden. Inhalt- oft als „Stunde null“ (Kriegsende 1945. GeoEpoche lich und organisatorisch musste der Projekttag ent- Nr. 17, 2005) bezeichnet und markiert einen Neube- sprechend vor- und nachbereitet werden, wozu u.a. ginn. die Erarbeitung eines Fragebogens für das Zeitzeu- gengespräch gehörte. „Die Erinnerung an das Kriegsende vor 60 Jahren soll diese Erfahrungen ins Gedächtnis rufen und die Die Gestaltung des Projekttages war in folgende daraus gezogenen Konsequenzen bewusst machen. Themenschwerpunkte gegliedert: Damit dient sie zugleich der Orientierung in der heu- • Zeitzeugenbefragung zum Kriegsende im Früh- tigen und zukünftigen Welt sowie der Vergewisse- jahr 1945 in Nidda und Umgebung. rung der jenseits aller sonstigen Unterschiede ge- • Einladung der Zeitzeugen zum gemeinsamen meinsamen Wertvorstellung.“ (Erlass zur Erinnerung Frühstück mit den Schülerinnen und Schülern an das Kriegsende 1945 vom 17.02.2005. In: Hes-

1 Die Methode der „Oral history“, übersetzt mit „mündlicher Geschichte“, ist ein narratives Verfahren, bei dem Zeitzeugen befragt werden und möglichst wenig vom Fragenden zu beeinfl ussen sind. Ziel ist es, Geschichte aus erster Hand erzählt zu bekommen. Im Mittelpunkt steht der narrative Erzählimpuls mit gelenkten Fragen, in der Regel in Form von W-Fragen. Ein Interviewleitfaden, der oftmals biografi sche Akzente setzt, ist streng genommen keine typisches Oral history-Methode. Dies gilt es in diesem Beitrag zu berücksichtigen.

78 sisches Kultusministerium (Hg.): Amtsblatt des Hes- Welchen Zweck erfüllt eine Zeitzeugenbe- sischen Kultusministeriums, Nr. 3/05. Wiesbaden fragung im historischen Lernen? 2005, S. 175.) Die Zeitzeugenbefragung bietet die Möglichkeit, Geschichte lebendig werden zu lassen. Schülerinnen Warum ein ganzer Projekttag zu diesem und Schüler erfahren unmittelbar gelebte Geschich- Thema? te, quasi Geschichte „aus erster Hand“. Sehr oft be- schränkt sich das historische Lernen auf die „große Es sollten möglichst viele unterschiedliche Perspekti- Geschichte“. Zeitzeugen hingegen erzählen meist ven (Multiperspektivität) unter der Fragestellung eine „Geschichte von unten“ und schildern ihre Er- „Befreiung oder Untergang“ von den Jugendlichen fahrungen, die sie in einer bestimmten Zeit gemacht betrachtet werden. Zunächst bekamen die Schüle- haben. Ich erhoffte mir, dass die Jugendlichen nach rinnen und Schüler einen Eindruck aus der jewei- der Stunde motiviert sind, auch ihre eigenen Ver- ligen Perspektive des Zeitzeugen. Dabei bewegten wandten, Bekannten und Nachbarn als Zeugen der sie sich im „Mikrokosmos“ der Geschichte. Beson- Geschichte zu entdecken und möglicherweise zu ders alltagsgeschichtliche Aspekte wurden in die- befragen. sem Zusammenhang thematisiert, um einen mög- lichst persönlichen und emotionalen Zugang zum Trotz dieser vielen Vorteile dürfen gewisse Gefahren Thema zu schaffen. nicht aus dem Blickfeld gelangen. Die größte Ge- fahr liegt darin, dass die Schülerinnen und Schüler Darüber hinaus sollten die Schülerinnen und Schüler es als objektiv richtig betrachten, was der Zeitzeuge auch den geschichtlichen „Makrokosmos“ kennen berichtet. Es könnte durchaus sein, dass der Zeit- lernen. Dafür erarbeiteten sie sich in Gruppen zeuge als besserer Historiker gesehen wird. Daher unterschiedliche Interpretationen des Kriegsendes ist es wichtig, in einer folgenden Stunde das Zeit- mit den Schwerpunkten militärischer Zusammen- zeugengespräch mit den Lernenden zu refl ektieren. bruch, die alliierte Besatzung, das Überleben in den Sie sollen erkennen, dass es sich um subjektive Trümmern, aus Erinnerung wird Geschichte und das Zeugnisse der Vergangenheit handelt. Die wieder- scheinbare Verschwinden der Nazis. In diesem Zu- gegebene Erinnerung kann durch unterschiedliche sammenhang wurden nun hauptsächlich die poli- Dinge beeinfl usst sein, wie das Verdrängen oder tischen und sozial-ökonomischen Dimensionen des Vergessen respektive das Einfl ießen späterer Erfah- Geschichtsbewusstseins der Schülerinnen und Schü- rungen und Kenntnisse. Daher ist es auch sinnvoll, ler angesprochen. direkt im Anschluss an das Zeitzeugengespräch den Schülerinnen und Schülern Zusatzinformationen Für einen solchen Projekttag ist es grundsätzlich bereitzustellen, damit sie die Eindrücke aus dem wichtig, den Jugendlichen ein möglichst abwechs- Zeitzeugengespräch nutzen können, um ihr Wissen lungsreiches und motivierendes „Programm“ in im- zu erweitern. mer wieder wechselnder Sozialform anzubieten. So bot sich zum Abschluss des Tages die Vorführung Natürlich sind einige Vorarbeiten von der Lehrkraft des Filmes „Der Untergang“ an. Besonders in der zu leisten. Michael Sauer hat ein Schema zur groben Nachbesprechung des Tages wurde auf den Film Orientierung für den Aufbau eines Oral-History- eingegangen, um das Wirklichkeitsbewusstsein der Vorhabens entwickelt, das einen geeigneten und Schülerinnen und Schüler in den Blickpunkt der Be- komprimierten Leitfaden für die Praxis darstellt und trachtung zu rücken. Die Schülerinnen und Schüler als fachdidaktische Grundlage für das Unterrichts- sollten dafür sensibilisiert werden, zwischen „realen“ vorhaben an der Haupt- und Realschule Nidda im und „imaginären“ Ereignissen und Personen in der Rahmen des Projekttages zum Kriegsende 1945 Filmhandlung differenzieren zu können. diente.2

2 Diese Schema ist in der Fachdidaktik akzeptiert und wird in der entsprechenden Literatur zitiert, wie z.B. bei Lange / Lux (2004, 169); es ist diesem Beitrag als Anhang beigefügt (M1).

79 Erinnerungen an das Kriegsende 1945 – Befreiung oder Untergang?

Am Rande soll hier erwähnt werden, dass es sicher- Mögliche Gliederung des weiteren Gesprächs: lich weitere Möglichkeiten der Spurensuche gibt, die auch in dieser Klasse genutzt wurden. Zur weiteren Vor dem z. B.: „Welches Bild wurde von Aufarbeitung der Thematik besuchte die Klasse auch Frühjahr Hitler vermittelt?“ das Staatsarchiv in Darmstadt. Dabei zeigte sich, 1945 Untergliederung/Impulse: dass das Archiv alles andere als „verstaubt“ und • Meinung zur allgemeinen „langweilig“ sein kann, sondern Geschichte lebendig deutschen Politik. und spannend werden lässt.3 Selbstverständlich sind • Fragen nach dem Grund der die Möglichkeiten noch sehr viel breiter gefächert. „Begeisterung“ vieler Deutscher So ist der Besuch von weiteren außerschulischen über Hitler Lernorten, wie z.B. Museen oder Gedenkstätten sehr gut geeignet, um Geschichte authentisch werden zu Im Frühjahr z. B.: „Wie erlebten Sie den Ein- lassen. 1945 marsch amerikanischer Truppen?“ • Erlebten Sie das Kriegsende als Der Kontakt zu den Zeitzeugen wurde über eine Befreiung oder als Niederlage? Kollegin der Haupt- und Realschule Nidda herge- stellt. Bei den Zeitzeugen handelte es sich um Per- Nach 1945 z.B.: „Wie erlebten Sie die Lebens- sonen aus der näheren Umgebung Niddas. Eine bedingungen während der ameri- etwa achtzigjährige Frau und ihr älterer Bruder wa- kanischen Besatzung?“ ren zu Gast, um ihre Kriegserlebnisse u.a. auch ihre „Beschäftigen Sie sich auch heute Fronterlebnisse zu schildern. Sie haben sehr be- noch viel mit dieser Zeit?“ wusst die letzten Kriegsjahre erlebt. Darüber hinaus • Bücher lesen war ein etwa fünfundsechzigjähriger Mann bei dem • Besuch von Gedenkstätten? Zeitzeugengespräch anwesend, der überwiegend die Zeit nach 1945 und dabei schwerpunktmäßig Ereignisse und Erlebnisse der Fünfzigerjahre schil- dern konnte. Die Schülerinnen und Schüler haben sehr motiviert an der Vorbereitung des Zeitzeugengesprächs bzw. Die Schülerinnen und Schüler kannten die Personen des Projekttages gearbeitet. Ihnen wurde deutlich, nicht und bereiteten daher in Kleingruppen das In- dass es sich um eine sehr seltene Möglichkeit han- terview relativ anonymisiert vor. Dass die Zeitzeugen delte, Menschen zu dieser Zeit zu befragen. aus der Umgebung der Jugendlichen stammten, motivierte sie zusätzlich Fragen zu stellen. Sie entwi- Der Stundenverlauf war so geplant, dass die Befra- ckelten folgenden Leitfaden: gung der Zeitzeugen durch die Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt der Stunde stand.

Leitfaden für eine Zeitzeugenbefragung Im Vorfeld der Zeitzeugenbefragung hatte sich die Klasse auf einen Schüler geeinigt, der die Gesprächs- Gesprächseröffnung: leitung übernehmen sollte. Damit verbunden war, a) Offene Eingangsfrage, um mit Zeitzeugen ins Ge- dass er in die eigentliche Befragung überleitete, d.h. spräch zu kommen: „Können Sie bitte Ihren Le- dass er seinerseits die Gäste stellvertretend für die benslauf kurz schildern, so dass wir Sie besser ken- Klasse begrüßte, das Gespräch eröffnete, im Verlauf nen lernen?“ der Befragung das Wort erteilte und auch einige Fra- b) Bildimpuls gen selbst in das Gespräch einbrachte.

3 Vgl. Lange / Lux (2004), Gautschi (2000).

80 Erinnerungen an das Kriegsende 1945 – Befreiung oder Untergang?

Im Hauptteil der Stunde stellten die Schüler ihre vor- Auch die Thematik sollte gut gewählt werden. Gera- bereiteten Fragen an die Zeitzeugen, wobei sie de das Kriegsende eignet sich exemplarisch, um wussten, dass sie sich nicht zu eng an ihrem eigenen auf die Aus- und Nachwirkungen der NS-Diktatur Entwurf anlehnen sollten, sondern direkt auf die Aus- hinzuweisen. Den Schülerinnen und Schüler wird sagen der Zeitzeugen eingehen sollten. Die Fragen deutlich vor Augen geführt – und zwar aus einer insgesamt zielten in sehr unterschiedliche Rich- persönlichen Sichtweise der Zeitzeugen – welche tungen. Schwerpunkte lagen auf dem Jahr 1945 katastrophalen Folgen die nationalsozialistische selbst, aber auch die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, wie sie von rechtsextremen Gruppie- Diktatur sowie auf der Nachkriegszeit bzw. den frü- rungen heute propagiert wird, für Deutschland und hen Jahren der Bundesrepublik wurden thematisiert. die Welt hatte.

Im Verlauf des Gesprächs sollten die Schülerinnen Die Befragung der Zeitzeugen machte deutlich, dass und Schüler auf folgende Aspekte achten und sich es viele Menschen gab, die kein sonderliches Inte- auf einem Beobachtungsbogen Notizen machen: resse an der „großen“ Politik hatten, worauf in der • Welche Aussagen haben bei dir besondere Betrof- Refl exion auch Bezug genommen und ein Vergleich fenheit ausgelöst? zur Gegenwart hergestellt wurde. Auch heute haben • Worüber würdest du gern mehr Informationen er- viele Menschen kein Interesse an Politik und reden halten? einfach anderen Leuten „Stammtischparolen“ nach. • Welche Aussagen kamen dir fragwürdig vor? Wenn Menschen erzählen, wie sie die letzten Tage Diese Fragen waren der Kern einer Refl exion mit der des Krieges, der von den Nationalsozialisten verur- Funktion, alle Lernenden sowohl aktiv als auch pas- sacht wurde, erlebten und von Hunger, Tod, Angst siv in das Gespräch zu verwickeln und Aussagen der und Trauer berichten, so prägt sich das sicherlich Zeitzeugen bereits im Verlauf des Gesprächs kritisch tiefgreifend bei Jugendlichen ein und beeinfl usst zu hinterfragen. sie nachhaltig in ihren Verhaltensmustern und Denkweisen.

Fazit: „Oral History“ als geeignetes Medium im Kampf gegen rechtsextremes Gedankengut? Literaturhinweise Die Befragung der Zeitzeugen hat sich im Verlauf dieses Unterrichtsversuches als geeignetes Medium Erlass zur Erinnerung an das Kriegsende 1945 vom 17.02.2005. im Kampf gegen Rechtsextremismus empfohlen. In: Hessisches Kultusministerium (Hg.): Amtsblatt des Hessischen Kultusministeriums, Nr.3/05. Wiesbaden 2005, 175. Dies ist sicherlich nur der Fall, wenn die Befragung von Zeitzeugen adäquat und gründlich vorbereitet Peter Gautschi, Peter (2000): Geschichte lehren – Lernwege und eingesetzt wird. Ganz entscheidend dabei ist ein aus- Lernsituationen für Jugendliche. Bern. führliches Vorgespräch mit den in Frage kommen- Lange, Thomas / Lux, Thomas (2004): Historisches Lernen im Ar- den Personen. Im Zweifel sollte man eher auf eine chiv. Schwalbach/Ts. Zeitzeugenbefragung verzichten, wenn der Eindruck entsteht, dass sich die betreffende Person als „besse- Sauer, Michael (2001): Geschichte unterrichten – Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. Seelze-Velber. rer Historiker“ versteht, der den Jugendlichen erzäh- len will, wie es „wirklich“ gewesen ist. Kriegsende 1945: GeoEpoche Nr.17, 2005.

81 Erinnerungen an das Kriegsende 1945 – Befreiung oder Untergang?

M1 Zeitzeugen befragen

Themenfi ndung - Thema festlegen - Eigenes Erkenntnisinteresse formulieren - Planung

Inhaltliche Vorbereitung - Sich über das Thema und die Zeit informieren - Interviewleitfaden zusammenstellen - Frageverhalten trainieren

Suche nach geeigneten Zeitzeugen - Im Bekanntenkreis, unter pensionierten Lehrern, im Altersheim etc. erkundigen - Gibt es im Ort ein „Gesprächscafé“? - Anzeige in Lokalzeitungen aufgeben

Organisatorische Vorbereitung - Zum Kennenlernen und „Aufwärmen“ ein Vorgespräch führen - Absprache über die Aufzeichnung des Gesprächs treffen - Termin und Ort vereinbaren - Aufzeichnung vorbereiten: Notizblock, Kassettenrekorder (Ersatzkassetten, Batterien etc.) Videorekorder, Fotoapparat - Ggf. Fotos oder Texte als Gesprächsanstoß mitnehmen - Interviewleitfaden mitnehmen - Atmosphäre schaffen: Blumenstrauß o.a. Geschenk mitnehmen

Interview/Gesprächsführung - Evtl. Rollen in der Gruppe verteilen - Offene Eingangsfrage stellen und den Zeitzeugen ins Erzählen kommen lassen - Interesse und Aufmerksamkeit signalisieren (Blickkontakt, Nicken, verbale Bestätigung, Wiederholen) - Stichworte notieren - Nachfragen und eigene vorbereitete Fragen stellen (nicht ablesen, nicht ausfragen!) - Ausklang, Dank, Verabschiedung

Aufbereitung - Zusammenfassung anhand der Aufzeichnungen - Wortwörtliche Transkription und Analyse besonders wichtiger Passagen - Überprüfung einzelner Aussagen - Eigene Deutung und Wertung (Sauer 2001, 1998)

82 Rechtsextremes Denken am Beispiel der Anglizismen Entgegnung rechtsextremen Denkens anhand eines semantisch fundierten Argumentationsaufbaus

Claudia Fournier

Sprache als Spiegelbild unseres Bewusstseins offen- Die kritische Betrachtung der Verwendung von An- bart unser Denken. Hier soll gezeigt werden, wie Phä- glizismen in der Gegenwartssprache basiert auf un- nomene der Gegenwartssprache für rechtsextreme terschiedlichen Argumentationen. Diese sollen hier Propaganda instrumentalisiert werden können. Der näher untersucht werden. Nachdem die Schüle- eindeutigen rechtsextremen Position wird eine se- rinnen und Schüler eigene kritische Argumente her- mantisch fundierte Argumentation gegen übergestellt, vorgebracht haben, werden sie mit zwei Sachtexten welche durch ein schülerorientiertes Lernarrangement konfrontiert, die unterschiedliche Argumentationen aufgebaut wird. Dabei werden die Kompetenzen der zeigen. Sachtextanalyse miteinbezogen. In dem ersten Text zeigen sich ideologische Grund- muster rechtsextremen Denkens. Das gesellschaft- Allgemeine Zielsetzung liche Reizthema der Anglizismen im deutschen Sprachgebrauch wird ideologisch einseitig betrach- tet, um eigene Positionen hervorzuheben und sie nur Intentionen scheinbar mit Argumenten zu untermauern. In Kon- trast dazu steht ein weiterer Text, der dazu dient, die In der heutigen Gegenwartssprache zeigen sich ins- Argumente differenzierter zu bewerten. besondere solche Sprachwandelphänomene, die aus dem angloamerikanischen Sprachraum stam- In dem zweiten Text wird ein historischer Abriss über men. Diese Anglizismen werden oftmals dem mor- die Bemühungen zum Erhalt der deutschen Sprache phologischen und phonologischen System des aufgezeigt. Die Schülerinnen und Schüler erfassen Deutschen kaum angepasst. Sie betreffen die Be- den Textsinn durch aktives Nachkonstruieren und reiche der Technik oder der Wirtschaft und werden in gelangen dabei zu einem grundlegenden Verständ- die Alltagssprache aufgenommen. (Schurf und Wag- nis der zentralen Aussagen des Textes. Es lassen sich nener 2009, 508) hier Parallelen zu dem ersten Text ziehen, dem ideo- logische Denkmuster zugrunde liegen. Die Schüle- Die Schülerinnen und Schüler refl ektieren über ihren rinnen und Schüler erkennen hier die Wurzeln des eigenen Gebrauch von Anglizismen, der oftmals un- rechtsextremen Denkens im geschichtlichen Zusam- bewusst stattfi ndet. Als Ursache dieses Sprachver- menhang. Sprachgebrauch und Denkmuster sind haltens kann der latent vorhandene Drang zur Ab- hier eng miteinander verbunden. grenzung angenommen werden. Ausgehend von eigenen Erfahrungen werden umfassende Bereiche Bei einer kritischen Betrachtung des vermehrten Ge- der Verwendung und Häufi gkeit erarbeitet brauchs von Anglizismen, dem keine ideologischen (z. B. bestimmte Berufe, Musik, Mode). Hierbei wer- Denkmuster zugrunde liegen, werden sprachwissen- den auch die Ursachen und Gründe für den ver- schaftliche Kriterien herangezogen. Diese betreffen mehrten Gebrauch von Anglizismen von den Schüle- insbesondere den Bereich der Semantik. Die Angli- rinnen und Schülern aufgezeigt.

83 Rechtsextremes Denken am Beispiel der Anglizismen

zismen haben bei genauer Betrachtung nicht die Die Beispiele können sowohl dem aktiven als auch gleiche Bedeutung wie die deutschen Wörter. Hier- dem passiven Wortschatz der Schülerinnen und bei liefern die jeweiligen Konnotationen (Bußmann Schüler entstammen. Insbesondere werden hier 1990, 410) der einzelnen Wörter die entsprechenden Wörter oder Wendungen auftauchen, wie Handy Hinweise. Insofern können Anglizismen unsere Spra- oder chillen. Der sprachwissenschaftliche Fachbe- che bereichern, da sie Bedeutungen transportieren, griff Anglizismen muss an dieser Stelle des Unter- für die unsere Sprache keine Äquivalente zur Verfü- richts noch nicht genannt werden, da er erst an spä- gung stellt. terer Stelle explizit thematisiert wird.

Anschließend tauschen die Schülerinnen und Schü- Realisierung ler ihre Ergebnisse mit ihrem Tischnachbarn aus und stellen hierbei erste Vergleiche an. Nachdem sie sich Aus lerntheoretischer Sicht ist es angebracht, zuerst in einem ersten Schritt den Gebrauch von englischen das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler zu akti- Wörtern explizit bewusst gemacht haben, haben sie vieren. Zunächst ist eine Phase des Denkens, dann jetzt Gelegenheit dazu, die Beweggründe und Ursa- eine des Austauschs und anschließend eine Phase chen zu erkennen. des Vorstellens geplant. Um die Thematik in einem größeren Kreis zu disku- Dieser Dreischritt „Think – Pair – Share“ (Einzel- tieren, werden Gruppen von ca. vier Personen je arbeit – Partnerarbeit – Gruppenarbeit) (Tetling 2007, nach Klassenstärke gebildet. Das Sammeln der 53) wird eingesetzt, um die Thematik in ihrer Kom- Beispiele erfolgt anhand von Karteikarten, wobei kei- plexität schrittweise zu entwickeln. Dabei werden ne Begrenzung der Quantität sinnvoll erscheint, um methodische und soziale Kompetenzen gemeinsam die eigene Refl exion der Schülerinnen und Schüler gefördert. nicht einzuengen. Ein Beispiel sollte jeweils auf eine Karteikarte geschrieben werden. Sofern Beispiele in- Die relevanten analytischen Aspekte werden von nerhalb einer Gruppe mehrfach genannt werden, den Schülerinnen und Schülern vorab induktiv erar- sollte dieses jedoch – aus Gründen der Übersicht- beitet. Insofern wird der Verstehenshorizont partiell lichkeit – nur ein Mal auf eine Karteikarte geschrie- bereits vor der Kenntnis der beiden Sachtexte aufge- ben werden. Die Karteikarten werden auf einem baut. Flipchart innerhalb der Gruppen gesammelt. Als Zeitvorgabe ist je nach Lerngruppe eine Zeitspanne Anschließend werden kooperative Verfahren bei der von 15 bis 20 Minuten vorgesehen. Analyse der beiden sprachtheoretischen Texte ein- gesetzt. Die methodische Kompetenz im Umgang Nachdem die Wörter anhand eines Flipcharts visuali- mit Sachtexten – basierend auf einer angemessenen siert wurden, diskutieren die Schülerinnen und Schü- Lesekompetenz – beinhaltet ein Verständnis der Text- ler, in welchen Kommunikationssituationen diese intention im Zusammenhang mit den Textmerkmalen Wörter verwendet werden. Auch sollen sie darüber und eine angemessene kritische Refl exion. diskutieren, aus welchen Gründen diese Wörter ver- wendet werden. Die aufgeführten Anglizismen wer- den nochmals einer eingehenden Betrachtung un- Phase 1: terzogen und so in einen thematischen Zusammen- Anknüpfen an die Lebenswirklichkeit der hang gebracht. Schülerinnen und Schüler (Material 1) Die Ergebnisse der Diskussion werden an entspre- Zu Beginn der Unterrichtsreihe werden die Schüle- chender Stelle auf dem Flipchart visualisiert. Es kön- rinnen und Schüler aufgefordert, eigene Beispiele nen hier mehrere Aspekte zu einem Wort bzw. einer für englische Wörter im deutschen Sprachgebrauch Wendung festgehalten werden. Für diesen Prozess zu sammeln. Dies geschieht zunächst in Einzelarbeit, kann eine Zeitspanne von 45 Minuten oder auch län- um sich das eigene Sprachverhalten bewusst zu ma- ger vorgesehen werden. Erfahrungsgemäß kommt chen. es während dieser Unterrichtsphase zu intensiven

84 Rechtsextremes Denken am Beispiel der Anglizismen

Diskussionen innerhalb der Gruppen, da oftmals ei- blick auf die nächste Unterrichtsphase hilfreich als gene subjektive Wahrnehmungen ausgetauscht und Voreinstellung, um ein adäquates Textverständnis gegenübergestellt werden. aufzubauen.

Während der gesamten Einstiegsphase erfahren die Nach dem Ende der Diskussionsphase werden die Schülerinnen und Schüler bewusst oder unbewusst Plakate der Klasse vorgestellt und gegebenenfalls eine Distanzierung zu dem – zum Teil auch eigenen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede festgestellt. In – Sprachgebrauch und sind somit in der Lage eine der Regel kommt es zu einer Reihe von Übereinstim- kritisch argumentative Position aufzubauen. Die ei- mungen sowohl in der Feststellung der Anglizismen gene Refl exion über die Beweggründe kann bereits als auch bei der Ursachenzuschreibung seitens der die Aspekte der Überfl üssigkeit oder sogar bereits Schülerinnen und Schüler. der Manipulation hervorbringen. Diese sind im Hin-

M1

Aufgabe 1 Notiere bitte die englischen Wörter, die Du in deinem täglichen Sprachgebrauch verwendest?

Welche weiteren kennst Du (z. B. aus Werbung, Musik usw.)?

Aufgabe 2 Vergleiche deine notierten Wörter mit denen deines Tischnachbarn?

In welchen Situationen verwendet Ihr diese Wörter?

Aufgabe 3 Bildet Kleingruppen von vier Personen und tauscht eure Ergebnisse aus.

Schreibt die Wörter auf Karteikarten (ein Wort pro Karte) und heftet sie auf ein Flipchart. Notiert daneben in Stichworten, in welchen Situationen Ihr diese Wörter verwendet.

Präsentiert eure Ergebnisse der Klasse.

85 Rechtsextremes Denken am Beispiel der Anglizismen

Phase 2: kraft z. B. gefragt werden, was ihnen dabei einfällt, Semantische Analyse der Anglizismen im wenn sie dieses Wort verwenden bzw. was sie mit Vergleich zu dem deutschen Äquivalent diesem Wort verbinden. Es kommt hierbei auf die (Material 2) gedanklichen Assoziationen der Schülerinnen und Schüler an, die je nach Erfahrungshintergrund indivi- Nachdem die Schülerinnen und Schüler den Ge- duell ausfallen können. Eine Einschränkung auf vor- brauch von Anglizismen kritisch refl ektiert haben, gefertigte Bedeutungen erscheint an dieser Stelle stellen sie – in der bereits gebildeten Kleingruppe – nicht sinnvoll, da gerade in der gegenüber stehen- in einem nächsten Schritt den Anglizismen deutsche den Analyse, der Kern der kritisch distanzierten Ar- Wörter gegenüber. Diese stellen sozusagen das gumentation liegt. Äquivalent der Anglizismen in der deutschen Spra- che dar. Falls es kein passendes deutsches Wort gibt, können die Schülerinnen und Schüler versuchen, ei- Beispiel: gene Wörter zu konstruieren. Event: Hierbei können auch mehrere deutsche Wörter den - etwas Besonderes Anglizismen gegenüber gestellt werden, sofern dies - viel Spaß angebracht erscheint. Möglicherweise handelt es - Gleichaltrige anwesend sich hierbei um Wörter, die zuvor von der Sprachge- - … meinschaft verwendet wurden. Ihre Ergebnisse hal- ten die Schülerinnen und Schüler anhand eines T-Charts (Tetling 2007, 53 und 56) auf einem Plakat Veranstaltung: fest. - evtl. förmlicher Ablauf - traditioneller Anlass Anschließend arbeiten die Schülerinnen und Schüler - Jugendliche und Erwachsene anwesend die Konnotationen der englischen und der deut- - … schen Wörter heraus. Dabei können sie von der Lehr-

M2 Aufgabe 1 Findet in Eurer Gruppe passende deutsche Wörter für die verwendeten englischen Wörter. Falls es keine dazu gibt, erfi ndet neue Wörter. Haltet Eure Ergebnisse anhand eines T-Charts auf einem Plakat fest. T

Aufgabe 2 Überlegt nun innerhalb Eurer Gruppe, was Ihr mit den jeweiligen englischen und deutschen Wörtern verbindet. Z. B. Welche Stimmungen bzw. Gefühle verbindet Ihr damit? Welche Adjektive fallen Euch ein? Haltet Eure individuellen Bewertungen neben dem jeweiligen Wort farbig fest. Präsentiert Euer Plakat der Klasse und diskutiert anschließend über Eure Ergebnisse.

86 Rechtsextremes Denken am Beispiel der Anglizismen

Phase 3: Analyse eines Textes mit rechtsex- Ist es die deutsche Sprache, welche eine jahrhun- tremen Hintergrund (Material 3) dertelange Entwicklung hinter sich hat, nicht mehr wert anzuwenden? Ist sie außer Mode Argumentationsansatz und -struktur/ Wortwahl: Der geraten? vorliegende Text enthält das typische Grundmuster Rhetorische Fragen rechtsextremen Denkens. Dies tritt in der ideologisch verfremdeten Behandlung des Reizthemas „Anglizis- - Einbezug des Adressaten men in der deutschen Sprache“ deutlich zum Vor- schein. Doch von Anfang an, fand ich diese neue Mode Die Darstellung des Umgangs mit den Anglizismen in abstoßend! Ich fand es von Anfang an grauen- der Gegenwartssprache erfolgt anhand einer Schwarz- haft, wie meine Klassenkameraden ihre deutschen Weiß-Kontrastierung. Das aufgezeigte Sprachver- Wurzeln – und somit auch die deutsche Sprache halten ist gekennzeichnet durch gut und böse, im – mehr und mehr verstoßen haben aus ihrem Sinne von höher- und minderwertig. (Brumsack 2000, täglichen Sprachgebrauch, und dieser Einstellung 71) bleibe ich selbstverständlich treu! Anapher, Correctio, wiederholende Wortwahl, Um die eigene Position noch zusätzlich zu untermau- Inversion ern, wird eine vermeintliche Expertenmeinung als Zitat herangezogen („Experten vermuten, dass Ju- - Betonung, Eindringlichkeit, Nachdruck gendliche englische Begriffe als modern klingender empfi nden und sich durch ihre Verwendung selbst als modern gegenüber anderen Menschen darstel- […] unüberbietbarer Nationalstolz [..] len wollen“, schreibt z. B. Wikipedia.) Hyperbel

Die Wortwahl des Autors zeigt insgesamt eindeutig - Betonung die Gesinnung eines völkischen Nationalismus. Es lassen sich Parallelen zwischen der „Reinerhaltung des deutschen Erbgutes“ und der Erhaltung einer Nur bei uns scheint dieser Virus immer mehr in vermeintlich „reinen“ deutschen Sprache ziehen neue Generationen einzudringen und sich wie ein („… wie meine Klassenkameraden ihre deutschen Tumor in ihren Gehirnen ausbreitet. Wurzeln – und somit auch die deutsche Sprache – Metaphern (Bedeutungsübertragungen) mehr und mehr verstoßen haben …“). (Brumsack - Vorstellbarkeit 2000, 71)

Es wird eine Aufwertung und Idealisierung des deut- Wirken wir diesem Krebsgeschwür entgegen! schen Volkes als so genannte „reine Rasse“ sugge- Jugend, öffne Deine Augen und wehre Dich! riert („deutschstämmige Jugendgeneration“; „meine Sprecht Deutsch! Muttersprache DEUTSCH“; „Heimat verdrossen“; „unser Volk“; „unüberbietbarer Nationalstolz“; „uns - Metapher, Imperative, Parallelismus dem deutschen Volke“). (Brumsack 2000, 71) - Anschaulichkeit, Nachdruck, Eindringlichkeit, Kommunikation, Aufruf Sprachliche Mittel und deren Wirkungsweise Der metaphorische Sprachgebrauch verweist auf Beispiele: das Bild eines pathologischen Phänomens bzw. ei- ner Krankheit. Anglizismen hier, Anglizismen dort, aber wozu? Die Aufwertung der Wir-Gruppe ist gekennzeichnet Anapher, Parallelismus, rhetorische Frage durch eine emotionale und identifi kationsbildende - Betonung, Eindringlichkeit Sprache (Anaphern, rhetorische Fragen, Metaphern).

87 Rechtsextremes Denken am Beispiel der Anglizismen

Insgesamt betrachtet geht es hier nicht um eine wenden, im Gegensatz zu denjenigen, die sie konse- argumentative Auseinandersetzung mit dem Thema, quent vermeiden. sondern um sprachliche Überredung und Propagan- da. Zum Ausdruck kommen dadurch Ressentiments ge- genüber „ausländischen Einfl üssen“ verbunden mit einer latenten Bedrohungsangst. Insofern werden Intention und Adressatenbezug auf einer allgemeinen Ebene ausländerfeindliche Tendenzen verbreitet und ihnen damit ein ideolo- Der dargestellte Inhalt und die hierbei eingesetzten gisches Gerüst gegeben. Suggeriert wird ein Werte- rhetorischen Mittel transportieren Ziele und Funkti- verlust in der Gesellschaft, dem durch die Verwen- onen rechtsextremer Publizistik. Offenkundig wird dung eines an rassistischen Vorstellungen orien- eine Diffamierung derjenigen, die Anglizismen ver- tierten Sprachgebrauchs entgegengewirkt werden soll. (Brumsack 2000, 72)

M3 Anglizismus – Mode der Jugend

„Endlich Weekend!“, „Das war aber nice!“, „Mann, das ist ja voll sweet!“ Ja, das sind nur einige Ausdrücke, die heutzutage die deutschstämmige Jugendgeneration verwendet. Anglizismen hier, Anglizismen dort, aber wozu? Ist es die deutsche Sprache, welche eine jahrhundertelan- ge Entwicklung hinter sich hat, nicht mehr wert anzuwenden? Ist sie außer Mode geraten? Geht man von der heutigen Jugend aus, dann ist diese Frage mit einem klaren JA zu beantworten! Ich selbst bin erst 16 Jahre jung, dementsprechend bekomme ich die Sprachentwicklung meiner Genera- tion zum Besten mit. Doch von Anfang an, fand ich diese neue Mode abstoßend! Ich fand es von Anfang an grauenhaft, wie meine Klassenkameraden ihre deutschen Wurzeln – und somit auch die deutsche Spra- che – mehr und mehr verstoßen haben aus ihrem täglichen Sprachgebrauch, und dieser Einstellung bleibe ich selbstverständlich treu! Oft werde ich dafür „schief angeschaut“, weil ich einer der Wenigen bin, der nie anstatt Wochenende – weekend benutzt, oder cute anstatt süß usw… „Ich gehe nicht mit der Zeit.“, „Du bist nicht modern.“, sagte man mir dutzende Male, und das nur, weil ich meine Muttersprache, DEUTSCH, spreche. Ja, es ist wahrhaftig zum Weinen, wenn man sich die Zustände unserer jungen Generation ansieht. Heimat verdrossen, amerikanisiert und von Geburt an gelehrt bekommen, alles Deutsche sei schlecht. Aber, dass unser Volk nun seine eigene Sprache leugnet und verwirft, ist wirklich der krönende Abschluss. Aber warum all das? Das frage ich mich jetzt schon lange Zeit, kam aber nie auf eine befriedigende Ant- wort. „Experten vermuten, dass Jugendliche englische Begriffe als modern klingender empfi nden und sich durch ihre Verwendung selbst als modern gegenüber anderen Menschen darstellen wollen“, schreibt z. B. Wikipedia. Werfen wir einen Blick nach Frankreich: Dort herrscht ein unüberbietbarer Nationalstolz, der von (fast) al- len Parteien propagiert wird. Dort würde die Jugend im Traum nicht daran denken, Englisch zu sprechen, geschweige denn eine andere Fremdsprache. Nur bei uns scheint dieser Virus immer mehr in neue Gene- rationen einzudringen und sich wie ein Tumor in ihren Gehirnen ausbreitet. Einen Großteil der Schuld an dieser Misere, tragen selbstverständlich unsere Politiker, denn sie waren es, die uns – dem deutschen Volke – ohne Rücksicht auf spätere Verluste, die englische Sprache im Alltag aufdrängen haben lassen. Man muss sich nur in diversen Geschäften umsehen; fast jedes Produkt hat einen fremdsprachigen Namen, egal ob es aus dem Ausland importiert ist, oder aus heimischen Betrieben kommt. Wirken wir diesem Krebsgeschwür entgegen! Jugend, öffne Deine Augen und wehre Dich! Sprecht Deutsch! www.jn-buvo.de/index.php?option=com_content&task=view&id=333&Itemid=1, 20.08. 2009

88 Rechtsextremes Denken am Beispiel der Anglizismen

Phase 4: Analyse des Textes „Gewiss, nennt er die Umbenennung des Unterhaltungseta- ich bin happy, doch glücklich bin ich nicht“ blissements Piccadilly in „Haus Vaterland“. Ursprüng- (Material 4) lich sei die Empfi ndlichkeit gegenüber fremdsprach- lichen Vokabeln schichtenspezifi sch und nicht natio- Eine kooperative Methode um das Verständnis von nalistisch geprägt. Sachtexten zu erleichtern, stellt das Exzerpieren von Fragen aus dem Text dar. Als Ursache für den vermehrten Gebrauch von An- glizismen führt Dittmar die Rolle Amerikas als Welt- Das Drei-Schritt-Interview (A formuliert ein Ergebnis, macht – und inzwischen auch als Medienmacht – an. B paraphasiert es und C kommentiert diese Interakti- Dies lasse das Englische zur vorherrschenden Spra- on) führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit che werden. Auch der starke Einfl uss der Unterhal- dem Inhalt des Textes. (Tetling 2007, 53 und 59) tungsbranche führe dazu, dass Anglizismen in die Umgangssprache eindringen würden. Es habe auch Anschließend können die Schülerinnen und Schüler deutsche „Exporte“ gegeben, jedoch seien diese je nach Vorkenntnissen – ggfs. als Hausaufgabe – im Vergleich zu den „Importen“ quantitativ uner- eine Sachtextanalyse als klassische Aufsatzform heblich. schreiben. Der Verein zur Wahrung der deutschen Sprache habe sich mit diesem Problem befasst und neulich Argumentationsansatz/ die fünf „ärgerlichsten und überfl üssigsten“ Anglizis- Argumentationsstruktur/ Wortwahl men ausgewählt sowie entsprechende deutsche Sy- nonyme dafür veröffentlicht. In dem vorliegenden Text von Peter Dittmar geht es um die Auseinandersetzung mit Anglizismen im heu- Bei genauer Betrachtung der Problematik könne tigen Sprachgebrauch. Der Verfasser beschäftigt sich man auch einen Bedeutungswandel feststellen, der mit der Frage, wieviel Anglizismen man akzeptieren oftmals mit einer Begriffsverengung verbunden sei. sollte, ohne in den Verdacht eines übertriebenen Na- Als Beispiel führt Dittmar den Vergleich des Wortes tionalbewusstseins zu gelangen. Beruf mit dem englischen Wort job an.

Die Diskussion über den Gebrauch von Fremdwör- Dittmar verwendet oftmals Zitate von bekannten Per- tern werde heute oftmals von der Furcht begleitet, zu sönlichkeiten, wie z. B. „Lernt Deutsch, ihr Jünglinge! Unrecht als übertrieben nationalbewusst verstanden Denn ihr seid Deutsche“ von Herder. Damit leitet er zu werden. zum einen in die Thematik ein und zum anderen zeigt er – auch mit weiteren Zitaten – die Historizität Nach Dittmar sei es deshalb bemerkenswert, dass der Fremdwortdebatte. die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine Kampagne zur Verdeutschung von Fremdwör- Auch werden Metaphern verwendet, um die ab- tern anrege. Dies solle jedoch ihrerseits nicht als strakten Inhalte anschaulicher darzustellen („Schwert Fremdworthetze verstanden werden. im Kampf“, „deutsche Exporte“, „Fremdwortfresser“).

Schaut man in die Vergangenheit, so zeige sich im Der Text richtet sich eher an gebildete Leser, denn er 19. Jahrhundert oftmals eine Verbindung des erwa- verlangt ein geschichtliches Hintergrundwissen, chenden Nationalbewusstseins mit einem neuen welches sowohl politische als auch sprachgeschicht- Sprachbewusstsein. Konkret führt Dittmar hier den liche Zusammenhänge beinhaltet. Auch wird die Sprachnationalismus nach 1870 an, der sich gegen Kenntnis der Fachbegriffe wie „Synonymen“ oder die sogenannte „Verwelschung“ wandte. Als Beispiel „Begriffverengung“ vorausgesetzt.

89 Rechtsextremes Denken am Beispiel der Anglizismen

M4 Aufgabe 1 Lies bitte den folgenden Text langsam durch. Notiere Dir ggfs. unbekannte Begriffe, die Du anschließend in einem Nachschlagewerk nachschaust. Aufgabe 2 Formuliere Fragen, auf die der Text versucht eine Antwort zu geben. Notiere Deine Fragen und die passende Antworten aus dem Text. Aufgabe 3 Bildet bitte Kleingruppen von drei Personen und führt ein Drei-Schritt-Interview durch. Dieses beinhaltet folgende Schritte: A trägt eine Frage mit der passenden Antwort vor, B wiederholt es in eigenen Worten. C beobachtet das Interview zwischen A und B und gibt Feedback. Passten Frage und Antwort zueinander? Wurde der Textinhalt richtig wiedergegeben? Wurde der Inhalt von B richtig paraphrasiert? Wie ist die Kommunikation zwischen A und B zu bewerten? C kann aber auch Verständnisprobleme oder offene Fragen formulieren, die in der Klasse geklärt werden können. Als Nächstes wechseln die Funktionen, sodass jeder jede Funktion mehrmals eingenommen hat.

„Gewiss, ich bin happy, doch glücklich bin ich nicht“ 50 lebt in dem Bemühen fort, das Gälische stärker zu etablieren. Und das spiegelt sich in den Verboten, in den nordafrikanischen Staaten eine Wenn Deutsch so englisch klingt: Wieviel Anglizismen soll man, andere Sprache als das Arabische (vor allem nicht das Französisch der muss man tolerieren?/ von Peter Dittmar früheren Kolonialmacht) zu benutzen. 5 Lernt Deutsch, ihr Jünglinge! Denn ihr seid Deutsche.“ Herders 55 Doch die Sprachsituation hat sich nicht allein durch die Dekolonisati- fl ammenden Appell wird heute, gut 200 Jahre später, kaum je- on geändert. Amerikas Rolle als Weltmacht – und inzwischen auch als mand wiederholen. Und auch Ludwig Börnes Lobgesang wird Medienmacht – ließ das Englische zur vorherrschenden Sprache wer- eher Befremden als Zustimmung auslösen: „Welche Sprache darf den. Die Zeiten, in denen ein Mediziner Deutsch verstehen musste, 10 sich mit der deutschen messen? Welche andere ist so reich und wenn er auf der Höhe des Fachs mitreden wollte, sind längst vorbei. mächtig, so mutig und anmutig, so schön und so mild als unsere?“ 60 Heute fi nden immer häufi ger wissenschaftliche Kongresse in Deutschland statt, bei denen die Kongresssprache Englisch ist. Das Die Furcht, dass deutsches Sprachbewusstsein als übertriebenes und der starke Einfl uss der Unterhaltungsbranche führen dazu, dass Nationalbewusstsein verstanden werde, ist groß. Wahrigs Fremd- Anglizismen in die Umgangssprache eindringen. 15 wörterlexikon betont dementsprechend gleich im ersten Satz, dass es kein „Verdeutschungsbuch“ sei. Deshalb war es bemerkens- 65 Gewiss, es gibt auch deutsche Exporte – von „Kindergarten“ bis wert, dass die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung bei „Blitzkrieg“ -, aber die Zahl der Importe ist weitaus größer. Beson- ihrer Herbsttagung in Darmstadt eine Kampagne zur Verdeut- ders in der Werbung. Das führte nach 1989 dazu, dass westliche Wer- schung von Fremdwörtern anregte. Allerdings wurde gleich mil- bebotschaften in Ostdeutschland nicht ankamen. Denn wenn im deut- 20 dernd hinzugefügt, diese Kampagne solle „nicht so aggressiv sein schen Durchschnitt 45 Prozent der Bevölkerung das Englische spa- wie frühere sprachpfl egerische Vorstöße“. 70 nisch vorkommt, so ist der Anteil im Osten weitaus höher.

Gemeint war damit der Sprachnationalismus nach 1870, der ge- Der Verein zur Wahrung der deutschen Sprache, der sich nicht als ein gen die „Verwelschung“ zu Felde zog. „Dem Deutschen sei seine „Klub von Fremdwortfressern“ versteht, hat neulich die fünf „ärger- 25 Sprache heilig“, hieß ein Büchlein, das sich als Schwert im Kampf lichsten und überfl üssigsten Anglizismen“ ausgewählt: event, kids, für die Sprachreinheit verstand. Deshalb hat man damals in Berlin 75 statement, highlight und service point waren das. Und dazu hat man, das Unterhaltungsetablissement „Picadilly“ am Potsdamer Platz entsprechend der selbstgesetzten Regel, dass es mindestens drei tref- politisch korrekt in „Haus Vaterland“ umbenannt. fendere deutsche Ausdrücke geben sollte, eine Liste von Synonymen veröffentlicht. So könnte statt „statement“ beispielsweise Erklärung, 30 Die amtlichen „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“ von Rede, Stellungnahme, Vortrag, Spruch, Darlegung, Darstellung, Gut- 1901 gingen nicht so weit. Sie stellten nur fest: „Viele Fremdwör- 80 achten, Aussage, Ansicht, Äußerung, Mitteilung stehen. ter können durch völlig gleichwertige gute deutsche Ausdrücke ersetzt werden; entbehrliche Fremdwörter soll man überhaupt ver- Bei der Auseinandersetzung mit den Anglizismen – die nicht nur eine meiden.“ Dagegen ist gewiss nichts zu sagen. deutsche Angelegenheit ist, wie Frankreichs Kampf gegen das 35 „Franglais“ zeigt -, geht es auch um einen Bedeutungswandel und oft Die Empfi ndlichkeit gegenüber fremdsprachlichen Vokabeln ist um eine Begriffsverengung. Ein „Job“ ist eben kein „Beruf“, ein ein altes Erbe, wenngleich ursprünglich nicht nationalistisch, son- 85 „Event“ nur selten ein „Ereignis“. dern schichtenspezifi sch geprägt. Im Mittelalter war Latein die Sprache der Gelehrten und Französisch die Sprache des Adels. Mascha Kaleko, die emigrationserfahrene Lyrikerin, hat das in ihrem 40 Das Deutsche galt demgegenüber als grobianisch. Der Ausdruck, Gedicht vom „Kleinen Unterschied“ erklärt. „mit jemandem deutsch reden“, hat das bewahrt. Deshalb war die Adelung (und Vereinheitlichung) des Deutschen von Luthers Bi- 90 „Gewiss, es bleibt dasselbe, belübersetzung so wichtig. Und deshalb betont der Titel bewusst: sag ich nun land statt Land, „Biblia, das ist: Die gantze heilige Schrifft: Deudsch“. sag ich für Heimat homeland 45 und poem für Gedicht. Im 19. Jahrhundert verband sich das erwachende Nationalbe- Gewiss, ich bin sehr happy: wusstsein häufi g mit einem neuen Sprachbewusstsein. Das ge- 95 Doch glücklich bin ich nicht.“ schah mit dem Tschechischen in Böhmen und Mähren oder mit dem Finnischen, die zu Literatursprachen entwickelt wurden. Das aus: Die Welt, 23.10.1998

90 Rechtsextremes Denken am Beispiel der Anglizismen

Phase 5: Kritische Zusammenführung der Auffassung des Deutschen Sprachvereins deutlich bisherigen Argumentationsstränge werden (siehe event) und damit die Berechtigung dieser Anglizismen aufzeigen. Die Kritik gegen Anglizismen basiert – im Rahmen dieser Unterrichtsreihe – weitestgehend auf zwei Ar- Als weiterführender Blick sei an dieser Stelle auf die gumentationssträngen. Zum einen ist der Verein zur Beobachtung hinzuweisen, dass sich Anglizismen Wahrung der deutschen Sprache gegen den Ge- bei hoher Frequentierung eher der Morphologie brauch der Anglizismen, die überfl üssig seien, da ein und der Phonologie der deutschen Sprache anpas- passendes deutsches Wort dafür existiere. Zum an- sen. So wird im Computerbereich nicht mehr das deren werden nationalistische und damit rechtsex- englische Wort „mouse“ (englische Phonologie), treme Pseudo-Argumente in einem Internet-Aufruf sondern das Wort Maus verwendet (deutsche Pho- formuliert, die Ausgrenzung und ein rechtes Gesin- nologie). Hier ließe sich die bisherige Unterrichts- 1 nungsdenken beinhalten. reihe noch erweitern. Die Schülerinnen und Schüler könnten noch weitere Beispiele dafür fi nden, dass Knüpft man nun an das Ende der Phase 2 an, so wird sich bestimmte Wörter dem deutschen Sprach- eine dritte Betrachtungsweise evident. Es gibt offen- system anpassen. bar Anglizismen, die in ihrer Semantik deutliche Dif- ferenzen zu ähnlichen deutschen Wörtern in diesem Wortfeld aufweisen. Gerade an dem Anglizismus Literaturhinweise event werden aufgrund der damit verbundenen Konnotationen die semantischen Merkmale deutlich. Brumsack, Elfriede (2000): Sprachwandel, Arbeitsblätter Deutsch, Von daher gesehen besitzt dieses Wort durchaus Ernst Klett Verlag, Stuttgart. seine Berechtigung im deutschen Sprachgebrauch, Bußmann, Hadumod (1990): Lexikon der Sprachwissenschaft, denn es gibt dafür kein exaktes Äquivalent (z.B. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart. „Gen dermainstreaming“). Dittmar, Peter (1998): „Gewiss ich bin happy, doch glücklich bin Die methodische Umsetzung der Gegenüberstel- ich nicht“, in: Die Welt, 23.10.1998. lung der Argumentationsstränge kann wiederum in Schurf, Bernd / Wagener, Andrea (2009): Texte, Themen und einer gruppeninternen Diskussion ansetzen. Die Strukturen, Deutschbuch für die Oberstufe, Cornelsen Verlag, Kernaussagen der beiden vorliegenden Texte wer- Berlin. den jeweils auf einem Plakat festgehalten und den Tetling, Klaus (2007): Formt die Grammatik die Gedanken? zuvor erarbeiteten Ergebnissen gegenüber gestellt Mit kooperativen Verfahren das Verständnis anspruchsvoller (Ende Phase 2). Dabei sollte eine Gegenposition zur Sachtexte erleichtern, in: Praxis Deutsch 205 (2007), 50 – 59.

1 Darüber hinaus ist die Funktion von Sprache nicht nur auf die reine Informationsübermittlung zu reduzieren. Auch selbstreferenti- elle Mitteilungsabsichten sind ebenso mit einzubeziehen. Dies wird in diesem Text nicht thematisiert.

91 White Noise – Anleitungen für ein Schulprojekt Verfi lmung auf DVD

Geert Platner

Vorbemerkung den Schülerinnen und Schülern helfen werde, ein Buch über das Projekt herauszubringen, dann folgte Diesem Buch ist eine DVD mit der Verfi lmung eines der ganzseitige Bericht des Journalisten Ralf Pasch: Theaterstücks beigefügt, das nicht in der üblichen Ausnahmesituation spektakulärer Projekte entstan- „Kann man sich in die Köpfe von Rechtsradikalen hi- den ist, sondern auf alle Schulformen übertragbare neinversetzen? 15 Schüler der Gesamtschule Fuldatal „Projekt-Bausteine“ enthält. Es sind keine besonde- (Kreis Kassel) haben die Grenzüberschreitung gewagt. ren Lernvoraussetzungen, arbeitsaufwendige Medi- Um zu verstehen, wie rechtsradikales Gedankengut en oder Materialien erforderlich; das ermöglicht eine entsteht und wie es sich verbreitet, sind einige in die direkte Integration in den Unterrichtsalltag (ohne die Rollen von Neonazis geschlüpft, gründeten die Band sonst übliche Vertröstung auf Projekttage oder -wo- „Bombenhagel“ und schrieben den Song „Macht und chen). Die einzelnen Phasen sind in ihrem Ablauf Ehre“. Der Auftritt der Band ist aber nur eine Szene in durch „immanente“ Evaluation ohne zusätzlichen dem Theaterstück „White Noise“, das die Schüler Aufwand überprüfbar. Das dichte Kommunikations- selbst geschrieben haben. Der Drang nach Authentizi- netz auf mehreren Lernebenen ist durchgehend situ- tät war nicht Selbstzweck, er zielte auf einen Lernef- ationsbezogen und damit im Sinne der aktuellen fekt: „Rechtsradikale sind keine Exoten, sie kommen pädagogischen Entwicklung standard- und kompe- aus der Mitte der Gesellschaft“, so Christian, der in tenzorientiert. Die einzelnen Bausteine können im dem Stück einen Vater spielt, der seine Familie tyran- Bezug auf unterschiedliche Lernbedingungen diffe- nisiert. renziert eingesetzt werden. Die gesamte Unterrichts- einheit ist fach- und schulformübergreifend ange- Der Impuls für das Projekt kam aus dem Ethikkurs, legt; der Kontakt zu anderen Lerngruppen innerhalb doch für die Schüler war die Pfl icht schnell zur Kür ge- und außerhalb der Schule trägt zur Öffnung des Un- worden: Sie stellten das Stück selbst auf die Beine. terrichts und zur Schulentwicklung bei. Dieser Tage haben sie den Journalisten und Schrift- steller Ralph Giordano besucht. Der Autor will ihnen Projektbeschreibung bei einem Buch helfen. Darin sollen neben ihrem The- aterstück weitere Projekte gegen Rechtsradikalismus „In die Haut von Rechtsradikalen geschlüpft“ - unter dokumentiert werden. diesem Titel brachte die „Frankfurter Rundschau“ am 21. März 2003 eine Sonderseite mit der Beschrei- In Köln besuchten die Schüler auch den „Step-Team- bung eines Projekts der Gesamtschule Fuldatal, leiter“ Peter Nilius; „Step“ ist ein Projekt der Kölner durchgeführt von einer leistungsheterogenen Grup- Polizei. Die Abkürzung steht für Staatsschutz gegen pe mit etwa gleich hohem Anteil an „Gymnasiasten“, Extremismus durch Prävention. Ein eigenständiges Haupt- und Realschülern. Hier war ein Modell der Team aus fünf Beamten besucht Jugendliche, bei de- Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus nen die Gefahr droht, dass sie in den Dunstkreis entstanden, das weder an Aktualität noch an direkter rechtsextremer Rattenfänger geraten. Nilius lobt das Übertragbarkeit verloren hat. Theaterstück, das aus seiner Sicht „sehr realistisch rü- berkommt“: „Viele der darin enthaltenen Aussagen Bereits auf der Titelseite der FR stand neben dem bekommen wir häufi ger zu hören.“ Lob auch von der Bild von Ralph Giordano die Ankündigung, dass er Jugendkoordinatorin der Kasseler Polizei, Gabriele

92 Schliffer: Sie kennt keine andere nordhessische Schu- formen der südamerikanischen Theaterpädagogik le, die sich so intensiv mit diesem Thema auseinan- gut auf alle Schulformen zu übertragen sind. Keiner dergesetzt hat. unserer Akteure hatte spezielle Theatererfahrung, diese wird in einem ganz besonderen Dialog mit Eine Idee aus Brasilien hatte ursprünglich den Anstoß dem Publikum erst erarbeitet. für das Theaterstück gegeben: Beim „Zeitungs-Thea- ter“ werden Anregungen in aktuellen Nachrichten ge- Der brasilianische Regisseur und Theaterautor Augu- sucht. Die Fuldataler Jugendlichen hatten in der Zei- sto Boal entwickelte in den 50er und 60er Jahren un- tung über den Prozess gegen Neonazis gelesen, die ter dem Sammelbegriff „Theater der Unterdrückten“ im brandenburgischen Guben einen Afrikaner verfolgt neben dem „unsichtbaren Theater“ auch das „Zei- und in den Tod getrieben hatten. Entsetzt über das tungs- und Forumtheater“. Diese Theaterformen ha- milde Urteil – das Gericht sprach Jugendstrafen aus, ben das Ziel, die klassischen Theaterrituale mit agie- die teilweise zur Bewährung ausgesetzt wurden – renden Schauspielern und inaktiven Zuschauern auf- wollten die Schüler herausfi nden, welche gesellschaft- zulösen. Boal, 1931 in Rio de Janeiro geboren, stu- lichen Mechanismen im Umgang mit Rechtsradikalis- dierte an der Columbia University of New York Che- mus wirken, wie ein Jugendlicher zum Neonazi wird mie und Theaterwissenschaften. Nach der Promotion oder „wie Ämter oder die Eltern mit drinhängen“, so kehrte er nach Brasilien zurück und übernahm von Vicky Henschel, die eine Rolle in dem Stück übernom- 1956 bis 1971 die künstlerische Leitung des „Theatro men hat. Darin geht es um einen Gerichtsprozess. Auf de Arena“ in Sao Paulo. In dieser Zeit begann er mit der Anklagebank sitzt ein Jugendlicher, Mitglied der Experimenten neuer Theaterformen, die sich in be- Band „Bombenhagel“, der einen Ausländer ersto- sonderer Weise von den traditionellen Praktiken un- chen hat. Ein unmotivierter Richter verurteilt den Tä- terschieden. Eine ganz besondere Chance für die ter am Ende zu 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit Übertragbarkeit in den schulischen Bereich ist durch (wie im Fall Guben auch tatsächlich geschehen). Die den Entwicklungsprozess gegeben, der in leistungs- eigentliche Hauptfi gur des Stückes aber ist ein un- heterogenen Gruppen und ohne den sonst üblichen scheinbarer Jugendlicher, der seine Band verlässt, Aufwand für Bühnenbild und Technik begonnen weil er sich in der rechtsradikalen Musikszene mehr werden kann: die ersten Szenen und Rollenerpro- Publikum erhofft. Er landet bei „Bombenhagel“ und bungen werden direkt in Unterrichtsvorhaben der grölt dort Songzeilen wie „Wir verehren Adolf Hitler Fächer Deutsch, Gesellschaftslehre, Ethik, Religion, und Rudolf Heß.“ Musik u.a. integriert. Es ist keine Konkurrenz zu den herkömmlichen Theater-AGs, deren Arbeit auf einer Für Vicky steht fest: „Man kann Referate im Unterricht ganz anderen Ebene erfolgt (mit großem Zeitbud- halten, zuhören, mitschreiben, aber dann ist es weg – get, besonders begabten Schülern, regieerfahrenen mit unserem Stück sind wir mittendrin, und es hat Lehrern etc.) - eine vergleichende Wertung ist nicht mehr Leute erreicht.“ möglich und wäre auch nicht legitim.

Und Kristof, der den verurteilten Gewalttäter spielt, Die „Aufführungen“ fi nden erst einmal mitten im Un- bekam dieser Tage zu spüren, dass er während der terricht, im Klassenzimmer, statt; „Bühne“ heißt hier Arbeit am Theaterstück fürs Leben gelernt hat. Er be- Forum des Lernens und der Erprobung. Die „Schau- gegnete Rechtsradikalen in der Disco, deren Sprüche spieler“ präsentieren noch kein endgültiges Rollen- und Parolen ihm sehr bekannt vorkamen: „Es war ge- bild, sondern Vorschläge, Konturen, Ideen: „Alle sol- nauso, wie wir es an uns selbst ausprobiert haben.“ len gemeinsam lernen, Zuschauer und Schauspieler, (Bericht Ralf Pasch, FR v. 21.3.2003, 29) keiner ist mehr als der andere, keiner weiß es besser als der andere – gemeinsam lernen, entdecken, erfi n- Der Kasseler Regisseur Arne Siebling (s. dazu Hin- den, entscheiden.“ (Boal, 8) weis im Vorwort dieses Buches) hatte das komplette Theaterstück verfi lmt (s. DVD im Anhang) und ge- Die Schüler entwerfen erste, noch unfertige Texte, meinsam mit einer Arbeitsgruppe des Studiensemi- die ihre Rolle aber schon erkennen lassen. Aus die- nars Kassel (GHRF) als CD-Rom publiziert, so dass sen „Rollen-Skizzen“ entsteht das Bild einer Konfl ikt- sich interessierte Schulen einen direkten Einblick Situation, die bei zunehmender Akzentuierung der verschaffen konnten (nach dem FR-Artikel gab es Rolle auch immer deutlicher wird. Nach jeder Probe zahlreiche Anfragen). Die Rückmeldungen bestä- – und später nach jeder Aufführung – werden die Lö- tigten uns, dass die von uns erprobten Aktions- sungsversuche, das Verhalten und Vorgehen der

93 White Noise – Anleitungen für ein Schulprojekt

Schauspieler im „Forum“, d.h. mit dem Publikum dis- „Die Familie des Toten ist entsetzt“ (HNA v. kutiert: „Forumtheater ist eine kreative Spielform, die 14.11.2000, 3). Nach der tödlichen Hetzjagd auf ei- Schauspieler und Zuschauer gleichermaßen einbe- nen Algerier im Februar 1999 standen die 11 Ange- zieht“ (Boal, 83). Jede neue Probe und jede neue klagten vor dem Cottbuser Landgericht. Trotz „fahr- Aufführung ist vom Publikum mitgestaltet und wird lässiger Tötung in Tateinheit mit gefährlicher Körper- weiter verändert. Die Vorschläge des Publikums sind verletzung und Nötigung“ wurden bei fünf Tätern die keine persönliche Kritik an den Schauspielern und Strafe zur Bewährung ausgesetzt; drei wurden zu ge- ihren sprachlichen und mimischen Leistungen, son- ringen Gefängnisstrafen verurteilt, da eine Bewäh- dern gemeinsame Arbeit am „Drehbuch“. Auch kon- rung durch eine ganze Serie vorausgegangener krete Alternativen zum Stimmeinsatz oder Bewe- Delikte nicht möglich war. Die anderen an der Hetz- gungsablauf sind streng an der Rollengestaltung jagd beteiligten Angeklagten kamen mit Verwar- orientiert, die ja alle Beteiligten als Prozess und nicht nungen und „gemeinnütziger Sozialarbeit“ davon als fertiges Produkt verstehen. Deshalb können die (100 bzw. 200 Stunden). Die Familie des Toten muss- jugendlichen Darsteller selbstbewusst und ohne te „fast vier Stunden“ mit anhören, wie der Richter Kränkungen mit ihrem Publikum diskutieren. „immer wieder Gründe anführte, um den Angeklag- ten noch eine Chance zur Bewährung zu geben“ Das Forum ersetzt den Regisseur im üblichen Sinne: (HNA, ebd.).: „Aufgrund der sozialen Umstände sei Text und Inszenierung bleiben originäre, partizipa- strafmildernd zu berücksichtigen, dass nach der tive Schülerleistungen. Begleitende Lehrer/innen Wende-Euphorie sehr schnell Ernüchterung in den moderieren das Forum, können im Einzelfall behut- neuen Bundesländern eingetreten sei. Durch ge- sam korrigieren „und achten auf die logische Ent- zielte Gruppenbildung werde einem Entwicklungs- wicklung der Szene und darauf, dass es nicht zum dilemma entgegengewirkt, wobei sich die jungen Leerlauf oder Stillstand kommt. Sie haben nicht die Männer an Werten des Nationalsozialismus orien- Wahrheit für sich gepachtet, sondern ermutigen die tierten. Glatzen, Bomberjacken und Springerstiefel, Beteiligten, ihren Standpunkt zu vertreten und durch- erklärte der Richter, stärken zusätzlich das schwache zusetzen“ (Boal, 85). Ich.“ (HNA, ebd.) Folgerichtig „wollten selbst zur Ur- teilsverkündung einige der Angeklagten nicht auf Das Forumtheater als integrativer Bestandteil des diese Kennzeichen der rechten Szene verzichten … Unterrichts wird sich einem professionellen Niveau Der FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle kriti- nicht so weit annähern können wie viele Schulthea- sierte das Urteil heftig“ (HNA, ebd.). ter; manches wird nur skizziert und konturiert, es will und soll die Kreativität fordern und fördern. Dabei ist Aus diesem Zeitungsartikel – und dann weit über ihn jeder Schüler und Lehrer zugleich: „Gemeinsam ler- hinausgehend - entwickelten die Schüler und Schü- nen – das ist immer beides: wir lehren und lernen zu- lerinnen ihre ersten Rollenvorschläge, die diskutiert, gleich“ (Boal, 173). „angespielt“ und im „Forum“ mehrfach verändert wurden: „Ein Text enthüllt seine wahre Bedeutung, wenn er im Stil eines anderen Genres reproduziert Möglicher Verlauf eines Boal-Projektes oder kommentiert wird. … Um die Bedeutung (der Sachverhalte) ermessen zu können, muss man sie in Am Beispiel unseres Projektverlaufs sind die über- den sozialen Kontext stellen, in dem das Verbrechen tragbaren Elemente gut nachzuvollziehen, die im geschah. In kurzen szenischen Darstellungen werden Sinne eines Bauplans je nach speziellen Lernbedin- (diese) Informationen nachgeliefert.“ (Boal, 34; Herv. gungen kombiniert, verändert oder erweitert wer- v. Verf.). den können: Genau nach dieser Methode des „Zeitungstheaters“ Ein sinnvoller Einstieg ist das Zeitungstheater; bei hatten unsere Akteure vor der ersten öffentlichen uns war es ein Artikel in der örtlichen Presse, der die Aufführung folgende Rollen-Skizzen herausgearbei- Aufmerksamkeit meines Ethik-Kurses erregte: tet, die zum Gerüst der Handlung wurden:

94 White Noise – Anleitungen für ein Schulprojekt

Frank Katharina Leicht genervter Richter, er fi ndet, dass die Mutter von Kay, hat sich an die Rolle der rechte Gewalt viel zu sehr dramatisiert wird. „Haus sklavin“ gewöhnt; kein Kommentar zu den Die Verhandlung dauert ihm viel zu lange; das endlosen und lautstarken Tiraden ihres Mannes; Desinteresse ist ihm deutlich anzumerken. unterwürfi ge Haltung.

Ulrike Christian Ehrgeizige junge Staatsanwältin; ihr erster (Praktikant): Gastrolle als ein Vater, der großer Prozess. Daher ist sie von dieser Aufgabe „Volkes Stimme“ spricht und damit an vielen etwas überfordert; nervös in Gestik und Mimik. Stammtischen Beifall fände; er verachtet Kay als „Schwächling“; bösartig und lautstark.

Christina Stefan Rechtsanwältin „aus gutem Hause“, hat Leader und „Chefi deologe“ der Band „Bomben- Verständnis für eine Jugend, die sich mal hagel“, fanatisch und unbelehrbar, auch in „austoben muss“; keiner dürfe diesen jungen seiner Körpersprache; er zieht die Fäden, ohne Leuten „die Zukunft verbauen“. sich selbst die Hände schmutzig zu machen.

Janus Maximilian Erfolgloser Anwalt, nimmt jeden Auftrag an; Ständige latente Gewaltbereitschaft, die durch in der rechten Szene kein Unbekannter. sein Umfeld noch gefördert wird, er kann auch bieder auftreten; keinerlei Unrechtsbewusstsein, nur billige Ausreden. Julia Sozialarbeiterin, die bereits vereinnahmt wurde, ohne es zu merken. Kristof Mitläufer mit Alkoholproblemen, haltlos, die Band ist Familienersatz. Kay Der klassische Typ des Mitläufers, sein allmähliches Abgleiten in die rechte Szene ist der rote Faden des Theaterstücks; sehr schwache Persönlichkeit, die wenigstens in der Mirko Gruppe Erfolg haben will. Die rechte Musik – Will eigentlich nur Musik machen, weiß gar nicht „White Noise“ - ist für ihn die „Einstiegsdroge“. genau, wieso er bei „Bombenhagel“ gelandet ist; nicht sehr intelligent, orientiert sich nur an der Gruppe. Vicky Seine Freundin, kann ihn nicht aufhalten; ihre Musik aus den 6oer Jahren ist eher „uncool“; Mary-Jane Kay ist auch nicht reif für eine Beziehung, die Hilfl ose, gutgläubige Mutter von Maximilian; mehr fordert als das Saufen und Grölen mit den freut sich, dass der Junge so nette Freunde hat, „Kameraden“; merkt nicht, was für einen die auch gerne Musik machen; unglaublich naiv Menschen er mit Vicky verliert. in ihrer ganzen Art.

Laura Mario Beste Freundin und Vertraute von Vicky, singt in Zeigt als Zeuge der Anklage das Problem der gleichen Band und steht ihr mit Rat und Tat verdeckter Ermittlungen, die bei großem zur Seite; sieht in Beziehungen zu „schwachen Aufwand wenig bewirken und oft sogar Männern“ keine Perspektive. konsequente Maßnahmen behindern.

95 White Noise – Anleitungen für ein Schulprojekt

Forumtheater ben. Er will aber nicht vorsätzlich auf den in der Mon- golei geborenen Deutschen eingestochen haben, Mit diesen ständig veränderten und erweiterten Rol- sagte gestern die Sprecherin der Staatsanwaltschaft“ len-Skizzen geschah der Übergang vom Zeitungs- (HNA, ebd.). zum Forumtheater: „Die Ideen werden nicht sugge- riert. Die Mitwirkenden erhalten vielmehr Gelegen- Der Kölner Staatsschutz war ja verblüfft über die Rea- heit, eigene Ideen kritisch zu überprüfen und sie litätsnähe der von den Schülern entworfenen Dialo- versuchsweise in die Praxis – die Theaterpraxis – um- ge (s.o. Zitat aus der „Frankfurter Rundschau“), und zusetzen.“ (Boal, 58). diese realistische Antizipation – vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen und Ansichten – bekräftigt noch Wenn die Schüler beim Interview mit der „Frankfurter einmal das Diktum Augusto Boals, dass der Lehrer Rundschau“ die Lebensnähe ihrer Theatererfah- hier auch Lernender sein muss, weil die Schüler sich rungen beschreiben (s.o.), entspricht das genau dem kompetent als Informanten und Impulsgeber ein- Leitsatz Augusto Boals: „Gehandelt wird in der Fikti- bringen können. on, aber die Erfahrung ist konkret.“ (Boal, 58); das eröffnet auch weiterführende Zugänge bei einem so Ein Jahr später erschien dann das Buch „Nur ein schwierigen und komplexen Thema wie Rechtsextre- Toter mehr…“ über die Hetzjagd von Guben, heraus- mismus. gegeben von der „Prozessbeobachtungsgruppe Guben“ (Münster 2001). Die Hintergrundberichte Die Arbeit an den Dialogen, die komplett von den und -informationen vom tatsächlichen Ablauf des Schülern selbst entworfen und vom „Forum“ ständig Prozesses zeigten eine frappierende Übereinstim- verändert wurden, orientierte sich an einer Gerichts- mung mit den Szenen und Dialogen unserer „Forum- verhandlung als Ausgangssituation, deren Ablauf Gruppe“ (bis dahin hatten über 200 Jugendliche als allen durch die Medien vertraut ist. Im Verlauf der Zuschauer ihre Änderungsvorschläge oder ihre Zu- Proben entwickelten sich noch andere Nebenhand- stimmung eingebracht). Der Bericht über den Tag lungen - vor allem, um den „Weg nach rechts“ eines der Urteilsverkündung („Nur ein Toter mehr …“, 63ff.), Jugendlichen zu verfolgen. Einige Mitglieder des den die Schüler – lange vor seinem Erscheinen – ja Ethik-Kurses zogen es auch vor, bei den musika- noch nicht kennen konnten, lässt die Gerichtsver- lischen „Einlagen“ mitzuarbeiten – zum Teil sogar handlung unseres Theaterstücks in ihrer satirischen ohne spezielle Vorkenntnisse. Zuspitzung keinesfalls übertrieben erscheinen:

Die Tendenz der Schüler, die gesamte Gerichtsver- „Als mit der Beweisaufnahme begonnen wurde, wa- handlung als bittere Realsatire darzustellen, wurde ren die Angeklagten schon nicht mehr wirklich be- genau sechs Wochen nach der Urteilsverkündung eindruckt. Sie und ihre Verteidiger dominierten das von Cottbus verstärkt – ganz im Sinne des „Zeitungs- Geschehen. Es herrschte eine allgemein gelöste Theaters“ bestätigte ein zweiter Artikel die Umset- Stimmung…man ließ sich von der Mami das Hemd in zung des ersten: David B., einer der 11 Täter der die Hose stecken, bedauern und zur Entschädigung Hetzjagd von Guben, war mit 200 Stunden „gemein- eine Cola spendieren…eine Mutter erzählt, ihr Sohn nütziger Arbeit“ und einer Verwarnung davonge- würde auch mit ausländischen Kindern spielen… Die kommen (s.o.), was schon vor Gericht zur Erheiterung Tatsache, dass die Musik der Gruppe „Landser“ zur seiner Kumpanen beitrug. Wenig später, am Aufl adung der Stimmung beitrug, wird vom Gericht 26.12.2000, griff er gemeinsam mit drei weiteren nicht gewürdigt (die unablässig Bier trinkenden Neonazis eine Gruppe von Jugendlichen an; ein Op- Neonazis hatten im Auto „Landser“ gehört).“ (Nur ein fer wurde durch Schläge ins Gesicht schwer verletzt, Toter mehr …, 88). einem anderen, „asiatisch“ aussehenden, jungen Mann ein Messer in den Rücken gestochen. „Die bekannteste Neonazigruppe, aus der auch die Verantwortlichen für den Tod des Algeriers stammen, Das Urteil vom 13.November „hatte offenbar keine ist personell eng mit der NPD verfl ochten. Auf das abschreckende Wirkung, stellte der Cottbusser Poli- Konto dieser Gruppe gingen 2001 achtzig zum Teil zeisprecher fest“ (HNA v. 27.12.2000, 2). Die Ausre- schwerste Straftaten, fünf der Schuldigen an der den des Täters waren von den Schülern fast wörtlich Hetzjagd wurden wegen weiterer Delikte (u.a. folter- (!) antizipiert worden (vgl. DVD im Anhang): „Er hat ähnliche Misshandlungen, erpresserischer Men- eingeräumt, mit dem Messer herumgefuchtelt zu ha- schenraub und Diebstahl) verurteilt. Die Hetzjagd

96 White Noise – Anleitungen für ein Schulprojekt

hat der rechten Szene zusätzlichen Aufschwung ge- ne wird jedoch dort aufgeführt, wo sie auch stattfi n- geben, verstärkte Präsenz in der Altstadt, Angriffe den könnte … sie fi ndet vor Zuschauern statt, die und Bedrohungen.“ (Nur ein Toter mehr …, 126). nicht wissen, dass sie Zuschauer sind … Der Zuschau- er agiert gleichberechtigt neben den Schauspielern. Besonderes Einfühlungsvermögen in diese Atmo- Ob er die Szene zur Kenntnis nimmt, ob er weiter- sphäre der Bedrohung zeigte die Schülerin Vicky, die geht – stets ist er Herr seiner Entschlüsse, ist er Sub- im Verlauf der Forumsarbeit immer bessere Textvor- jekt … Die Szene soll theatralisch im besten Sinne schläge lieferte. Unter dem Eindruck der Theaterpro- sein, d.h. sie soll auch ohne Mitwirkung der Zuschau- ben schrieb sie ein Gedicht, das sie auf der Bühne er sich entwickeln können – gleichzeitig (müssen) am Ende des Stückes vortrug: „National befreite Zo- mögliche oder voraussehbare Reaktionen der Zu- nen“. In der Stadtverordnetenversammlung vom schauer“ einbezogen werden. (Alle Zitate. Boal, 99). 17.3.1999 sagte ein Stadtverordneter zum Tode des Algeriers: „Was hatte der des Nachts auf der Straße Bei Boal besteht eine „einfache Variante“ des Un- zu suchen?“ (Nur ein Toter mehr …, 132). Vicky erfuhr sichtbaren Theaters darin, in öffentlichen Räumen von diesem Ausspruch erst durch das Buch – lange (oder auch Verkehrsmitteln) heikle Themen ins Ge- nach dem Verfassen ihres Gedichts. spräch zu bringen oder Situationen zu entwickeln, die Diskussionen oder direkte Reaktionen der Zu- schauer auslösen, die damit ihre Zuschauer-Rolle National befreite Zonen verlassen und Denkanstöße erhalten (Boal, 39).

Als die türkischen Kinder verbrannten, Die Schüler/innen unseres Ethik-Kurses entwarfen sah ich im Fernsehen: eine Szene, die mit den Mitteln des Unsichtbaren die weinende Mutter Theaters das Theater selbst noch einmal transfor- allein auf der Straße stehen. mierte:

Als sie den Vietnamesen erstachen, Für die Theaterpausen wurden bei allen Auffüh- sagte mein Nachbar: rungen - ganz konventionell - kleine Speisen und Ge- tut mir ja leid, tränke vorbereitet. Dazu lagen auf den Tischen aktu- was musste er nachts auf die Straße gehen? elle Zeitungsberichte zum Thema des Stückes. Saßen dann alle an ihren Tischen – ins Gespräch oder die Als sie den Obdachlosen erschlugen, Zeitung vertieft – erschienen die Darsteller der Neo- dachte ich noch: nazis plötzlich in der Cafeteria, drängelten sich grö- Was geht mich das an? lend durch die eng gestellten Tische und ergriffen Bei uns muss keiner auf der Straße leben! einen ausländischen Jugendlichen, der ganz unauf- fällig in einer Ecke seinen Imbiss genießen wollte. Obwohl er um Hilfe rief, schleppten ihn (die von der Als Antonio unter ihren Stiefeln starb, Bühne bekannten) „Gewalttäter“ über den Flur, um las ich in der Zeitung: ihn dort zu misshandeln. Die Reaktion der Zuschauer Nicht weit entfernt davon ist auf der DVD im Anhang dieses Buches zu sehen – sei auch die Polizei auf der Straße gewesen. allerdings gab es auch eine „Aufführung“, bei der das Publikum eingriff und die „Nazis“ die Flucht er- Als ich endlich nach draußen ging, greifen mussten. war es zu spät: Beim ersten Schlag wusste ich wem nun die Straße gehört. Bühnenbild und Requisiten

Wer die fi lmische Umsetzung des Theaterstücks „White Noise“ (vgl. DVD) aufmerksam verfolgt, be- Unsichtbares Theater merkt das geradezu spartanische Bühnenbild. Das war die bewusste Entscheidung der Schülergruppe, „Das Unsichtbare Theater wird wie eine normale The- die sich ganz auf die Forumsarbeit konzentrieren ateraufführung vorbereitet und einstudiert. Die Sze- wollte. Bei der Umsetzung und Übertragung auf an-

97 White Noise – Anleitungen für ein Schulprojekt

dere Lerngruppen gibt es auch hier gute Differen- Der Ablauf unseres Projektes entspricht geradezu zierungsmöglichkeiten; werden z.B. die Fächer idealtypisch diesen Ausführungen: Kunst oder Arbeitslehre einbezogen, sind die Ge- staltung eines Bühnenbildes oder der Einsatz be- „Die Fähigkeiten und Fertigkeiten (der Schüler/ stimmter Requisiten weitere Projekt-Bausteine, die innen) sind so lange hypothetische Konstruktionen, im Bezug zu den konkreten Lernbedingungen ein- wie sie nicht in Könnensleistungen zur Anwendung gesetzt werden können. Im Kompetenz-Rahmen gebracht werden. Erst (dann) lässt sich vom Erwerb eines Boal-Projektes kann aber an dieser Stelle auch einer Kompetenz sprechen, (die) im Handeln zum ein zusätzlicher organisatorischer Aufwand vermie- Ausdruck kommt. Das entscheidende Merkmal einer den werden, ohne die Zielsetzung zu beeinträchti- Kompetenz ist das selbstständige Bewältigen an- gen. dersartiger oder komplexer Anforderungssitua- tionen. … Eine Wissensbasis wird aktiv genutzt und Eine andere Differenzierungsmöglichkeit ist das in Handlungssituationen zur Anwendung gebracht.“ „Stationen-Theater“: Bei der Aufführung von „White (Lehren und Lernen, 11). Noise“ wird das Publikum „mitgenommen“, da die Musik-Szenen, die „Wohnzimmer-Idylle“ mit Kays Va- Die Umsetzung der Informationen in Handlung (Zei- ter, die Gerichtsverhandlung und das „Unsichtbare tungstheater) und die Anforderungssituationen bei der Theater“ in verschiedenen Räumen stattfi nden. Gestaltung und Umwandlung der Rollen und Spielsze- Durch diesen Ortswechsel hat das karge Bühnenbild nen (Forumtheater) entsprechen exakt der Defi nition wiederum eine ganz andere Wirkung. von Kompetenzen und ihrer konkreten Umsetzung.

Eine dritte Variante ist der Einsatz von fi lmischen Se- Gerade bei der Bewältigung eines so schwierigen quenzen; bei „White Noise“ in der „Wohnzimmer- (und auch emotionalen) Themas wie Rechtsextremis- Idylle“ laufen aktuelle Fernseh-Nachrichten, die in mus ist der Handlungsbezug eine oft entscheidende die Handlung einbezogen werden. Eine sehr interes- Komponente für den Lernerfolg. sante Variante, auf die uns der Regisseur und Film- produzent Ralph Etter (s. Vorwort dieses Buches), Auch wenn Aufklärung und Information in diesem aufmerksam machte, ist der Einsatz von Video-Se- Bereich einen hohen Stellenwert haben, „befähigt quenzen, die die Schüler/innen selbst produziert ha- das Erlernen eines rein deklarativen Faktenwissens in ben, z.B. Szenen aus dem Handlungsablauf des der Regel noch nicht dazu, mit dem wissen auch et- Stückes (u.a. auch als Alternative zum Raumwechsel was anzufangen … Eine solide Basis „intelligenten“ des Stationen-Theaters). Wissens ist im Hinblick auf den Kompetenzerwerb eine notwendige, aber keine hinreichende Voraus- Einzelne oder mehrere Szenen können auch von den setzung. Es bedarf im Unterricht der Schaffung zu- Schülern gefi lmt werden und dann in der „Forums- sätzlicher Lerngelegenheiten, in denen die Anwen- Diskussion“ noch genauer analysiert und refl ektiert dung und Verwendung des Wissens erlernt und ge- werden. Das ist eine gute Möglichkeit, Rollenverän- übt werden kann.“ (Lehren und Lernen, 11). derungen auch mit den Schülern, die noch Hem- mungen haben, kritisch zu diskutieren und ihre per- „Soll das gelernte Wissen nicht träges Wissen blei- sönliche Darstellung unmittelbar im Diskurs des ben, sondern verfügbar und anwendbar vor allem Forums zu erörtern. Durch die „Verfremdung“ im Vi- auch in außerschulischen Situationen, darf der Lern- deo ist größere Distanz möglich. prozess nicht mit dem Sichern und Festigen des Ge- lernten enden, sondern (es) muss in neue Kontexte übertragen und in andersgearteten Anforderungssi- Kompetenzen tuationen bei der Lösung von Problemen zur Anwen- dung gebracht werden. Dabei geht es darum, im Un- Das Institut für Qualitätsentwicklung (IQ) hat in dem terricht Situationen zur Verfügung zu stellen, die weit gesteckten Referenzrahmen Schulqualität auch möglichst lebensnah (Hervorhebungen vom Verf.) spezielle Ausführungen zur Begriffl ichkeit und Reali- sind und den fl exiblen Umgang mit dem Gelernten sierung von Kompetenzen veröffentlicht (HKM, Leh- ermöglichen.“ (Lehren und Lernen, 12). Für diese Si- ren und Lernen – Erläuterungen und Praxisbeispiele, tuationen beschreibt Ingo Scheller folgende „Erkun- Wiesbaden 2009). dungs-Kompetenzen“:

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Wir erkunden: Qualitätsentwicklung (IQ) sehen im herausfor- dernden Unterricht „größere Lernfortschritte“ und Musik ein höheres Lernniveau (ebd., 24). Die Lehrenden die für Jugendliche wichtig ist müssen „authentische Probleme erkennen“, für den Unterricht aufbereiten und „immer wieder Anwen- Körperhaltungen dungssituationen für das erworbene Wissen“ fi nden Wie wirken sie auf Täter, Opfer, Zuschauer? (ebd., 24). Es geht darum, eine Lernhaltung zu erzeu- gen, die Gestik und Mimik • zu aktiver Lösungssuche, Ausprägung bei unterschiedlichen Gefühlslagen und • zu selbstständigem Denken und Situationen • zum selbst organisierten Lernen führt.

Sprechhaltungen Statt Lösungswege nur aufgezeigt zu bekommen, er- je nach Zielperson, innerhalb und außerhalb der halten die Schüler den Anstoß, sie selbst zu entwi- Gruppe, zu bestimmten Anlässen, mit unterschied- ckeln. Durch eine „adäquate Problemkonfrontation“ lichen Intentionen (anmachen, bedrohen, provozie- werden die Schüler „aktiv in die thematische Ausei- ren, Angst einfl ößen usw.) nandersetzung einbezogen“(ebd. 23). Diese Lernar- rangements fördern nicht nur die Teamarbeit, son- Handlungen und Handlungsweisen dern ermöglichen auch Differenzierung und Indivi- öffentliche und private Selbstinszenierungen dualisierung – diese gelingen „umso besser je mehr die Sache, die es zu bearbeiten gilt“, von den Ler- Einstellungen, zu den Themen nenden als wichtig und erfahrungsnah wahrgenom- „Gewalt, Ausländer, Arbeitslosigkeit, Alkohol, Nazis“; men wird, zu bestimmten Personen: die „Kumpels“, der „Anfüh- • je intensiver sie in Planung und Durchführung ein- rer“, Frauen, Eltern, „Fremden“ bezogen werden, • je „deutlicher sie sich dabei selbst erfahren und je Gefühle wichtiger sie genommen werden, „Wie drücken gewaltbereite Jugendliche Gefühle • je mehr sie sich in den gemeinsamen Ergebnissen körperlich und sprachlich aus?“ (Scheller, 182) erkennen können und • je stärker sie in die Beurteilung der gemeinsamen Nach der praktischen Umsetzung in Rollenbilder und Ergebnisse einbezogen werden.“ (ebd., 46). ihrer Gestaltung folgt bei Scheller – ganz im Sinne des „Forums“ - die Refl exion durch Spieler und Diese Formulierungen des Instituts für Qualitätsent- Beobachter; „Erfahrungen in der Rolle des Täters, wicklung sind kongruent mit der Intention der Thea- Opfers, Zuschauers“; Beschreibung und Deutung terpädagogik des Augusto Boal, deshalb versteht der Rollendarstellung, Aufzeigen von Alternativen, sich unsere Projektbeschreibung auch als eindring- die auch szenisch refl ektiert werden können. Zu die- liches Plädoyer für die Erprobung und Auswertung sen „Refl exionskompetenzen“ gehört auch die Ent- dieser Aktionsformen im Unterricht aller Schul- wicklung von Veränderungsperspektiven, die „ent- formen. Das wäre auch eine wertvolle Evaluation worfen, durchgespielt und erprobt“ werden können und Rückmeldung aus der Praxis. (Scheller, 183).

In der Broschüre „Lehren und Lernen“ wird die Kate- Aufgabenbeschreibung gorie des „herausfordernden Unterrichts“ entwickelt mit „Aufgabenstellungen“, die „auch kognitive Dis- Der Übergang vom „trägen Wissen“ zu den Anforde- sonanzen“ erzeugen. Die Lehrerinnen und Lehrer rungssituationen führt zu einem Wechsel von der In- agieren moderierend, indem sie z.B. auf Unter- formationsbeschaffung zu ihrer Anwendung im schiede und Gemeinsamkeiten in der Argumentati- Handlungsbezug. Die „aktive Nutzung der Wissens- on hinweisen, Impulse geben und zur Metarefl exion basis“ (s.o.) als ständige Perspektive des Lernens anregen“ (Lehren und Lernen, 24). Wo könnte es eine sorgt für klare Auswahlkriterien bei der Sichtung und bessere Anregung zur „Metarefl exion“ geben als im Umsetzung des Informationsmaterials – ein wichtiger Forum? Die Autoren und Autorinnen des Instituts für Baustein zur Schulung der Lesekompetenz.

99 White Noise – Anleitungen für ein Schulprojekt

Beim Projekt „White Noise“ brauchten die Schüle- kann; es ist sogar nützlich, wenn möglichst viele sich rinnen und Schüler zur sinnvollen Rollen- und Hand- an der Bearbeitung der Szene auch spielend beteili- lungsgestaltung Informationen über: gen, bis sie hinreichend richtig konzipiert erscheint.“ • den Ablauf einer Gerichtsverhandlung, die Strate- Mit dieser kongenialen Beschreibung traf Hermann gien der Rechtsextremisten beim Versuch die Ju- Giesecke den Kern der „Forum-Pädagogik“ (aller- gendkultur zu instrumentalisieren, dings ohne direkten Bezug auf Augusto Boal; vgl. • Angebot der Zugehörigkeit und Kameradschaft, Giesecke, 77). „Der Sinn des Spiels wird jedoch ver- • „Einstiegsdroge“ Musik, fehlt, wenn man nur eine Lösung gelten lässt: Die ge- • gemeinsamer Alkoholkonsum (auch in exzessiver sellschaftlichen Zwänge, die sich in den Rollen aus- Form), drücken, determinieren niemals eindeutig die Hand- • „Lifestyle“ und Symbolik (Identifi kation und Abgren- lungsmöglichkeiten in einer bestimmten Situation.“ zung, (Giesecke, 77) • den Umgang der Justiz mit rechter Gewalt (Medi- enberichte). Unverzichtbarer Bestandteil des Projekts ist daher das Forum; das „Unsichtbare Theater“ kann je nach Die Informationsbeschaffung erfolgt in Kleingrup- Lerngruppe und erwartetem Publikum in die Pla- pen, das entsprechende Material ist gut zugänglich nung einbezogen, ganz gestrichen oder in einem (Internet-Recherche, aktuelle Ratgeber und Handbü- gesonderten Projekt-Baustein später durchgeführt cher, Presseartikel etc.). werden (Boal hat dazu etliche Vorschläge gemacht; vgl. ebd., 74ff.). Eine sehr gute Wissensbasis vermitteln die beiden Handbücher von Holger Kulick „Das Buch gegen Na- Differenzierungsmöglichkeiten für schwächere Lern- zis“, Köln 2009, und „Mut-ABC für Zivilcourage“, Ber- gruppen werden bei Boal mit den Möglichkeiten des lin 2008. In diesen Publikationen gibt es zahlreiche „Statuen-Theaters“ angedeutet; im schulischen All- weiterführende Hinweise (Internet und Print-Medi- tag besser umsetzbar sind die „situationsbezogenen en). Mit diesen Materialien kann differenziert in Klein- Standbilder“ die Ingo Scheller im Rahmen der Leh- gruppen unterschiedlicher Lernvoraussetzungen ge- rerausbildung an der Universität Oldenburg entwi- arbeitet werden. ckelt hat: Eine für den Ablauf der Handlung wichtige Situation wird „eingefroren“; mit Hilfe eines Modera- Bei den Diskussionen im Forum über Rollengestal- tors versuchen die Akteure, mit Mimik, Gestik und tung und Handlungsablauf kommen Informationen Körperhaltung die Deutung oder Interpretation des und Ratschläge des Publikums dazu, die ebenfalls si- Geschehens darzustellen. Das kann von anderen Mit- tuationsbezogen diskutiert und umgesetzt werden. spielern oder Zuschauern nachgeahmt und in eine „Stimmenskulptur“ übertragen werden, bei der „Ge- Die Erarbeitung der Rollen und der Dialoge erfolgt fühle, Gedanken oder Phantasien“ in dieser Situation in vier Stufen: geäußert werden – das können auch Gedanken sein, 1. Proben einzelner Szenen und kleinerer Textse- „die von der Deutung der Hauptspielerin abwei- quenzen ohne Publikum, chen“ (Scheller, 63). Ganz im Sinne des Forums ist es 2. Probe des gesamten Stückes ohne Publikum, auch möglich, dass die Beobachter „Gegen- bzw. 3. Zwei „Generalproben“ mit ausgewähltem Publikum, Kontraststandbilder“ mit „abweichenden Interpreta- 4. Aufführungen innerhalb und außerhalb der Schule. tionsmöglichkeiten“ bauen und mögliche Verände- rungen diskutieren (ebd., 63). „Das Spiel wird nicht sofort ‚richtig‘ sein, weil die Spieler nicht von Anfang an über Einsicht in die ob- Für das „Zeitungs-Theater“ gibt es auch die interes- jektiven Determinanten verfügen und weil sie mehr sante Alternative, Szenen aus bekannten Schullektü- oder weniger die Szene mit subjektiven Deutungen ren als Ausgangssituation zu benutzen und alternativ und Interpretationen darstellen werden. Deshalb ist zum „literarischen“ Verlauf weiterzuentwickeln. Aber es wichtig, die einzelnen Darstellungen immer wie- auch das Thema „Justiz und Rechtsextremismus“ bie- der mit dem Publikum zu diskutieren. Im Grunde ent- tet nach wie vor Ausgangssituationen für kritische fällt hier die Teilung zwischen Darstellern und Publi- Theaterforen mit der Entwicklung einer Rahmen- kum, weil jeder aufgrund der Diskussion mitwirken handlung im Umfeld der Gerichtsverhandlung.

100 White Noise – Anleitungen für ein Schulprojekt

– Mit zehnjähriger Verspätung wurden die Hauptan- (Weitere Informationen unter www.opfer-rechter-ge- geklagten im Lichtenhagen-Prozess wegen Mord- walt.de; der Verein „Opferperspektive bietet unter versuch in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung zu gleicher Adresse auch eine Wanderausstellung an.) Bewährungsstrafen (ohne Aufl agen) verurteilt. In Rostock-Lichtenhagen waren über 100 Vietname- Am 21.5.2009 ging die dpa-Nachricht durch die sen, ihre Betreuer und ein ZDF-Team „stundenlang Presse, dass die Zahl rechtsextremistischer Straftaten schutzlos dem Wüten eines rechtsradikalen Mobs 2008 „drastisch zugenommen“ hat (u.a. Frankfurter ausgesetzt“ (HNA v. 18.6.02, 3). Nur durch eine Rundschau, v. 21.5.2009, 1); nur sechs Tage später Flucht über das Dach konnten sie ihr Leben retten, kam die Meldung, dass der Europarat auf eine schär- die „Bilder des brennenden Plattenbaus gingen da- fere Verfolgung rassistischer Verbrechen in Deutsch- mals um die Welt“ (HNA) – der spätere Prozess fand land drängt (u.a. HNA v. 26.5.2009, 1). Der Umgang wesentlich weniger Beachtung, obwohl er näher an der Justiz mit dem Rechtsextremismus ist ein äußerst den Kern des Problems führt als die schnell verges- wichtiger Aspekt bei der Auseinandersetzung mit sene Sensations-Berichterstattung. diesem Thema. In der Rechtsprechung ist hier eine – Ein 44jähriger Mann kritisierte Jugendliche we- bedenkliche Tendenz zu erkennen, die besonders im gen „ihrer fremdenfeindlichen Äußerungen“; die Blick auf das Verhängnis der Weimarer Republik be- Skinheads „traten ihn derart zusammen, dass das achtet und diskutiert werden muss. Bei politischen Blut nach Polizeiangaben ‚bis zu 1,80 Meter hoch Morden und Tötungsdelikten gab es zwischen 1919 spritzte‘“. Dieser Tote erschien – wie über 60 ande- und 1922 folgende Bilanz: re in den letzten Jahren – nicht in der Statistik rechtsextremer Morde: „Die Täter seien“, so der Gesamtzahl: 376; 354 von „Rechtsstehenden“ be- Polizeisprecher von Celle, „einfältige Jungs, die gangen – davon 24 mit einer durchschnittlichen Stra- nicht wissen, was sie tun.“ (Zitate nach: Spiegel fe von 4 Monaten „gesühnt“; die anderen Täter ka- 32/2000, 25.) men straffrei davon. Bei den 22 entsprechenden De- – Bei einem Vortrag über die rechtsextreme Szene in likten „Linksstehender“ gab es 10 Hinrichtungen und Dessau beschrieb der Referent auch die Rolle eines 12 Zuchthausstrafen von durchschnittlich 15 Jahren. NPD-Bundestagskandidaten. Es gab ein Straf- (vgl. Gumbel, 46). Wenig verwunderlich, dass die Ju- verfahren wegen übler Nachrede; alle glaubten, stiz dann zu einer der tragenden Säulen des NS-Re- „die Anzeige stamme von Rechtsextremen, die sich gimes wurde – ebenfalls ohne strafrechtliche Konse- in die Veranstaltung geschlichen hatten“, doch sie quenzen: „Keine NS-Spezies hat vom großen Frieden stammte „von einem hochrangigen Beamten der mit den Tätern so gründlich profi tiert wie die Richter Dessauer Polizei.“ (TAZ v. 26.6.2007, 7). unter dem Hakenkreuz…Von den wenigen, die ange- – Am 28.April 2008 wird im Erfurter Landgericht klagt worden sind, wurden alle, ausnahmslos, freige- nach 5 Jahren über eine Gewalttat befunden, die sprochen!“ (Ralph Giordano, 148). einen Toten und einen Schwerverletzten zur Folge hatte. Der Täter war – wie inzwischen fast üblich – Das ist eine schwere Hypothek für unseren Rechts- gerade „auf Bewährung“ (Hitlergruß in Tateinheit staat, deren Folgewirkungen Jörg Friedrich anläss- mit Körperverletzung). Bevor der Richter die Zeu- lich des neonazistischen Bombenanschlags auf gen vernimmt, „verliest er ihre vollständigen dem Münchner Oktoberfest beschreibt: “Welches Adressen. Während sie aussagen, starrt der Ange- Land aber sollen diese zwölf Toten erschüttern? klagte ihnen ins Gesicht. Sie sagen eigentlich nur: Dasjenige, in dem der Zyklon-B-König freigespro- ‚Ich weiß nichts. Ich habe nichts gesehen.‘“ (Die chen herumläuft? Das gespickt ist mit unbehelligten Zeit, v. 8.5.2008, 16). oder wegen guter Führung nach zwei Jahren entlas- senen Völkermördern? Der Nerv ist schon lange Soweit eine Auswahl von Fällen, die unter verschie- taub, auf dem Naziverbrechen wehtun. Rechtsseitig denen Aspekten aufgegriffen werden können (inte- gelähmt, verspürt die Bundesrepublik Deutschland ressant wäre auch ein Vergleich zu anderen Urteilen, die nazistische Berührung nicht, selbst wenn das z.B. wurde im Oktober 2009 die Zerstörung eines Blut schon fl ießt.“ (Friedrich, zit. n. Giordano, 166). Versuchsfelds für „Gen-Gerste“ mit sechs Monaten Wie unsere obigen Beispiele zeigen, hat diese ein- ohne Bewährung bestraft). dringliche Warnung in den 25 Jahren seit ihrer Ver-

101 White Noise – Anleitungen für ein Schulprojekt

Giordano, Ralph: Die Zweite Schuld, Hamburg 1987. öffentlichung nicht an Aktualität verloren; deshalb orientieren sich unsere Projektvorschläge ganz ent- Glaser, Stefan/Pfeiffer, Thomas: Erlebniswelt Rechtsextremismus, schieden und eindringlich an der Sensibilisierung Bad Schwalbach 2007: Analyse von Musik und Websites der Szene, der Schülerinnen und Schüler für die Bewahrung 15 Projektskizzen, mit CD-Rom. und Verteidigung unseres freiheitlichen Rechts- Gumbel, E.J.: Vom Fememord zur Reichskanzlei, Heidelberg 1962. staates und der freiheitlichen Grundordnung. „Die zweite deutsche Demokratie und ihre Freiheiten Kempchen, Doris: Wirklichkeiten erkennen, enttarnen, verändern. Dialog und Identitätsfi ndung im Theater der Unterdrückten, Stutt- sind keine Selbstverständlichkeiten von 1949 an gart 2001. bis in alle Ewigkeit, sondern eine fortwährend be- drohte Kostbarkeit.“ (Giordano, 26). Pfeiffer, Thomas: Für Volk und Vaterland. Das Mediennetz der Rechten – Presse, Musik, Internet; Berlin 2002.

Platner, G./Giordano, R.: Schule im 3.Reich – Erziehung zum Tod, Literatur 4. Aufl age mit ausführlichen Projektbeschreibungen, Pahl-Rugen- stein, Köln 2006. Baacke, Dieter/Farin, Klaus/Lauffer, Jürgen: Rock von rechts, Mili- eus, Hintergründe und Materialien, Berlin 1999. Scheller, Ingo: Szenisches Spiel, Berlin 1999, Literaturliste mit Un- terrichtsvorschlägen. Bertini-Preis: www.bertini-preis.de; Informationen über zahlreiche Projekte und Aktionen; von Ralph Giordano initiierter Wettbewerb Searchlight u.a. (Hg.): White Noise, Einblicke in die internationale in Hamburg. Neonazi-Musik-Szene, Hamburg 2001.

Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, Frankfurt 1989. Versteckspiel, Lifestyle, Symbole und Codes von neonazistischen Gruppen, Hamburg 2003. Dornbusch, Christian/Raabe, Jan: Rechtsrock, Bestandsaufnahme und Gegenstrategien, Hamburg 2002. Wiegand, Helmut (Hg.): Theater im Dialog. Deutsche und europä- ische Anwendungen des Theaters der Unterdrückten, Stuttgart Friedrich, Jörg: Die kalte Amnestie, Frankfurt 1984. 2004.

Giesecke, Hermann: Methoden des politischen Unterrichts, Mün- Wiegand, Helmut: Die Entwicklung des Theaters der Unterdrück- chen 1978. ten, Stuttgart 1999.

102 Rechtsextremismus und Recht Mit den Menschenrechten gegen Rechtsextremismus

Christof Schneller

Die hier vorgestellte Unterrichtsreihe besteht aus zwei Klaus Beier und NPD-Vize Frank Christian Schwerdt, in voneinander unabhängig einsetzbaren Bausteinen, erster Instanz der gemeinschaftlichen Beleidigung in 1. Fußball und Rassismus (ca. zwei Unterrichtsstun- Tateinheit mit Volksverhetzung für schuldig befunden den, Material 1 bis 4) und 2. NPD und Grundrechte wurden. Voigt und Beier wurden im April 2009 zu sie- (ca. drei bis vier Unterrichtsstunden, Material 5 bis benmonatigen Bewährungsstrafen verurteilt, gegen 8). Sollen beide Bausteine genutzt werden, so wird Schwerdt verhängte das Gericht eine zehnmonatige empfohlen, die vorgegebene Reihenfolge beizube- Bewährungsstrafe. Alle drei Angeklagten müssen zu- halten. dem je 2000 Euro an UNICEF Berlin zahlen. Die Be- währungszeit beträgt drei Jahre. Die Angeklagten Der Ausgangspunkt: Der Bundesligaspieler Patrick kündigten allerdings an, in Revision vor das Landge- Owomoyela hat einen Strafprozess gegen die NPD- richt gehen zu wollen. „Das Urteil ist absurd und eine Spitze wegen Volksverhetzung geführt und gewon- Farce. Wir wurden für etwas verurteilt, was wir nicht nen. getan haben, da Herr Owomoyela auf dem Flyer nicht abgebildet wurde“, sagte der NPD-Vorsitzende Udo Voigt. Beyer hatte bereits vorher erklärt: „Wenn es sein Baustein 1: Fußball und Rassismus muss, ziehen wir bis nach Karlsruhe.“1

Die Diskriminierung des farbigen Bundesligafußball- Als Einstieg sollen sich die Schülerinnen und Schüler spielers Patrick Owomoyela in einem Terminplaner mit dem Rassismus-Prozess (Material 1) auseinander- der NPD zur WM 2006 schlug medial einige Wellen. setzen. Dies kann zum einen in traditioneller Form Aufgrund der Popularität des Fußballsports bietet es geschehen, indem sie den Text lesen und in Grup- sich an, dieses Geschehen als Einstieg in die Thema- penarbeit die Fragen beantworten, um schließlich tik zum rechtlichen Umgang mit Rechtsextremismus eine Diskussion im Plenum zu führen, die in eine mo- zu nutzen. Dabei sollen die Schülerinnen und Schü- ralische Bewertung des Geschehens mündet. ler nicht nur die juristischen Konsequenzen von rechtsextremen Handlungen kennenlernen, die die In einem weiteren Schritt werden mit den Materi- ablehnende Haltung der Gesellschaft ausdrücken, alien 2 bis 4 die notwendigen juristischen Fachbe- sondern auch empathisch die Opferperspektive ein- griffe geklärt, die den Schülerinnen und Schülern nehmen, um neben dem „Kopf“ auch den „Bauch“ in eine eigenständige rechtliche Bewertung ermögli- Einklang mit den gesellschaftlichen Wertvorstel- chen. Dabei sollte insbesondere auf Artikel 5 Absatz lungen zu bringen. Im Rahmen des im Basisartikel 2 des Grundgesetzes eingegangen werden, der der beschriebenen Kompetenzmodells sollen demnach Meinungsfreiheit dort Grenzen setzt, wo die Ehre an- mit diesem Baustein insbesondere die psychosozi- derer verletzt wird. In dem Zusammenhang kann alen Kompetenzen und die Handlungsfähigkeit der auch der Ehrbegriff in anderen Kulturräumen thema- Schülerinnen und Schüler gefördert werden. tisiert werden.

Ergebnis des Rassismus-Prozesses war, dass die drei Eine zeitintensivere, aber auch aktivierendere Vari- Angeklagten, NPD-Chef Udo Voigt, Pressesprecher ante bietet die Ergänzung zu Material 1. Bei dieser

1 Vgl. http://www.kicker.de/news/fussball/bundesliga/startseite/artikel/507786/ 24.04.09

103 Rechtsextremismus und Recht

Methode kopiert die Lehrkraft Material 1 auf DIN A3- entweder durch den Schutz der Menschenwürde (Ar- Format und hängt etwa acht bis zehn Kopien in der tikel 1 GG), das Recht auf Entfaltung der Persönlich- Klasse auf. Darüber hinaus werden die Ergänzungs- keit (Artikel 2 GG) oder internationale Verträge auch karten zu Material 1 so häufi g kopiert, dass jede auf Ausländer anwendbar (mit Ausnahme des Wahl- Schülerin bzw. jeder Schüler eine Karte erhält. Der rechts). Bürgerrechte erkennt man in der Regel durch Schüler bzw. die Schülerin liest den DIN A3-Text da- die Formulierung „Alle Deutschen...“, „Jeder Deut- hingehend, dass der auf der Karte stehende Begriff sche...“. erklärt werden kann. Die Lernenden werden somit jeweils zu „Experten“ für das jeweilige Thema. Wich- Als Ergänzung zu Material 5 bietet sich der 17-minü- tig ist, dass keine Notizen von dem Text gemacht tige Film „Menschenrechte – Die Grundpfeiler der werden dürfen. Die Schülerinnen und Schüler sollen Demokratie“ an, der die historische Genese und ak- sich die entsprechenden Inhalte behalten und erst tuelle Bedeutung der Grundrechte thematisiert. Der auf ihrem Platz zu Papier bringen. So wird ihre Merk- Film steht über die hessischen Medienzentren so- fähigkeit und die Konzentration auf das Wesentliche wohl als DVD (46 02349) als auch als VHS-Kassette geschult. (42 02781) sowie als didaktisches Online-Medium zum Abruf per Internet (55 00343) zur Verfügung. In einem weiteren Schritt kommen die Schülerinnen Das Arbeitsblatt zum Film ist so konzipiert, dass der und Schüler zu sechst mit jeweils unterschiedlichen Film nach der Bearbeitung von Material 5 gezeigt Erschließungsthemen zusammen und erstellen eine werden kann. Übersicht/ ein Plakat zu dem Fall. Die Plakate werden anschließend im Plenum ausgewertet. Als nächster Schritt kann mit Kenntnis der Menschen- rechte das NPD-Parteiprogramm (Material 6 und 7) Ergänzend können die Materialien 2 bis 4 eingesetzt hinsichtlich seiner Konformität mit dem Grundgesetz werden. Es liegen ebenfalls vier Karten bereit. Diese geprüft werden. Hier dürfte häufi g ein Verstoß ge- können entweder für Vierergruppen genutzt werden gen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes (Arti- oder gemeinsam mit den Karten für Material 2; dann kel 3 GG) zu konstatieren sein. sollte allerdings jede Schülerin bzw. jeder Schüler zwei Karten erhalten, damit die Gruppen nicht zu Beim letzten Schritt kann die Lehrkraft spielerisch groß werden und trotzdem in jeder Gruppe jedes Er- überprüfen, ob die Schülerinnen und Schüler die Be- schließungsthema repräsentiert ist. deutung der Menschenrechte im Grundgesetz ver- stehen, indem sie auf verschiedene Aussagen aus rechtsextremistischen Kreisen angewandt werden. Baustein 2: NPD und Grundrechte Die Karten von Material 8a werden einfach kopiert Der zweite Baustein soll sich anders als der erste und an zehn Schülerinnen bzw. Schüler ausgeteilt. nicht mit einem einzelnen Geschehen beschäftigen, Alle anderen erhalten Kopien von Karten aus Materi- sondern zentrale rechtsextremistische Grundaussa- al 8b. Nun sollen die Schülerinnen und Schüler in ei- gen, vor allem repräsentiert durch Zitate aus dem nen Dialog treten, so dass die Aussagen von Material Parteiprogramm der NPD, auf ihre Vereinbarkeit mit 8b jeweils zu dem Artikel des Grundgesetzes treten, dem Grundgesetz untersuchen. Er dient primär zur mit dem sie am stärksten kollidieren. Am Schluss Akzentuierung der Wissenskompetenz und der Ana- stellt jede entstehende Kleingruppe ihre Konstellati- lysefähigkeit der Schülerinnen und Schüler. Auf eine on vor und begründet den möglichen Menschen- Bewertung der Verfassungsmäßigkeit der NPD als rechtsverstoß. Ganzes wird angesichts der juristischen Komplexität des Themas verzichtet. Lösungen zu Baustein 2: Material 5 Der erste Schritt soll eine Auseinandersetzung mit Aufgabe 1: Menschenrechte: Art. 1 bis 6, 14, 16a den im Grundgesetz verbürgten Grundrechten sein GG (Material 5). Die meisten (wichtigsten) Grundrechte Bürgerrechte: Art. 8, 9 GG; Art. 38 (Wahl- sind Menschenrechte, gelten also für alle. Die Bür- recht nur für Deutsche, da das deutsche gerrechte gelten in ihrer umfassenden Form nur für Volk gemeint ist) deutsche Staatsbürger; allerdings ist ihr Kernbereich Aufgabe 2: Vermutlich Art. 2 (2) GG: Recht auf Le- ben und körperliche Unversehrtheit

104 Rechtsextremismus und Recht

Aufgabe 3 Grundrecht auf freie Meinungsäuße- und Staat“ leitete die nationalsozialis- rung (Artikel 5, GG, 1) Dieses Recht neh- tische Willkürherrschaft ein. Die Entwür- men sowohl die NPD als auch P. Owo- digung des Menschen begann. Daher moyela in Anspruch. Er kann sich auf sind die Grundrechte die Antwort auf Artikel 1 und 5 berufen. Ergänzend dazu den Nationalsozialismus, der durch staat- ist Art. 2 I GG „Allgemeines Persönlich- liche Gewalt nach innen und außen ge- keitsrecht“ zu sehen. kennzeichnet war. Die Unantastbarkeit Einschränkung der Meinungsfreiheit der Menschenwürde und die weiteren durch StGB §130 und §185 StGB Grundrechte wurden folglich ganz an Beachte: Grundrechte gelten zwischen den Anfang des Grundgesetzes gestellt. Staat und Bürger. Grundsätzlich nicht Art. 79 Abs. 3 GG besagt unter ande- unmittelbar zwischen Bürger und Bür- rem, dass eine Änderung dieses Grund- ger! gesetzes, durch welche die in den Arti- Die NPD kann sich daher in einem staat- keln 1 und 20 niedergelegten Grundsät- lichen Verfahren (strafrechtliche Verfol- ze berührt werden, unzulässig ist. gung z.B. wegen Beleidigung) auf Art. 5 Mit dieser Ewigkeitsklausel / Ewigkeits- GG berufen, allerdings wohl erfolglos. garantie sollte den Erfahrungen aus der §185 StGB ist eine Ausgestaltung von NS-Zeit begegnet werden und die Men- Art. 1 GG und Art 5 GG. schenwürde sowie die Strukturprin- zipien in Art. 20 (Demokratie, Rechts- Aufgabe 4: Die NPD übt ihr Recht auf freie Mei- staat, Sozialstaat...) zusätzliche Siche- nungsäußerung aus, indem sie sich dis- rung erhalten. kriminierend über Patrick Owomoyela äußert und z. B. gegen Art. 1 verstößt. Material 6 und 7 Daher ist Patrick Owomoyelas Grund- Aufgabe 1: Im Einzelnen die betroffenen Artikel: recht über dem der NPD auf Meinungs- 1. Art. 2 (1) freiheit einzustufen. 2. Art. 3 (1+3), Art. 6 (1+4) Durch die Voranstellung genießt Art. 1 3. Art. 1, Art. 2 (1), Art. 3 (1+3) eine besondere Bedeutung. 4. Ausländer: Art. 3 (1+3); Art. 1 verkörpert „den obersten Wert im Asylbewerber: Art. 1, Art. 2 (1), ggf. Art. grundgesetzlichen Wertesystem“ bzw. 16a den „obersten Zweck allen Rechts“. Der 5. Art. 1, Art. 3 Staat ist gehalten, diese Würde zu ach- 6. Art. 1, Art. 2 (2) ten und zu schützen. Es besteht ein be- Aufgabe 3: Aggressive Worte könnten eher justizia- sonderer Schutzanspruch gegen den bel sein als aggressive Bilder. Letztere Staat. sind „interpretierbar“. Es werden die Grundrechte gegenüber Aufgabe 4: Wegfall von Arbeitskräften v.a. in Dienst- dem Staat hervorgehoben. Die Men- leistung und Industrie; Folge: geringere schenwürde und das Persönlichkeits- Sozialbeitragseinnahmen, geringeres recht werden durch das StGB geschützt, Steueraufkommen. z. B. §185. Weitere Infos zu Art. 1 GG: In die Weimarer Verfassung von 1919 Fazit war bereits ein Grundrechtskatalog auf- genommen. Die Grundrechte standen Die Schülerinnen meiner Lerngruppe gewannen im jedoch nicht - wie im Grundgesetz – am Zuge der Unterrichtseinheit eine größere Sicherheit Anfang der Verfassung, sondern weiter im Umgang mit dem Grundgesetz. Außerdem konn- hinten. Auch waren die Grundrechte ten sie ihre rhetorischen Fähigkeiten verbessern. Ihre nicht einklagbar und konnten durch Auseinandersetzung mit rechtsextremistischem Ge- Notverordnungen außer Kraft gesetzt dankengut gewann an inhaltlicher Tiefe. Besonders werden. Eine Notverordnung des die aktivierenden Elemente der Unterrichtsreihe fan- Reichspräsidenten „zum Schutz von Volk den sie sehr motivierend.

105 Rechtsextremismus und Recht

Arbeitsplätze sowie Sozialleistungen sollen zuerst den deut- Medien schen Volksangehörigen zuteil werden (NPD-Schulungsmaterial http://www.redok.de/content/ Neben dem oben angeführten Film „Die Grundpfei- view/687/78/ 20.09.2009) ler der Demokratie“ (DVD 46 02349, VHS 42 02781, Kein deutsches Paar soll von seinem Kinderwunsch Abstand Online-Medium 55 00343) möchte ich noch fol- nehmen müssen, weil die Finanz- und Wohnraumsituation dies gende Filme empfehlen: nicht zulassen 46 41144 Nebenan der braune Sumpf (http://www.npd-bayern.de/index.php/menue/56/thema/248/ Mehr_Kindergartenplaetze_und_soziale_Absicherung_deut- 42 54640 Rechtsextremismus scher_Familien.html 20.09.2010) 46 54678 Wölfe im Schafspelz 46 57749 Wölfe im Schafspelz – Die besten Spots ge- Ausländische Arbeitsplatzkonkurrenten und Sozialschnorrer sollen durch eine Politik der „Ausländerrückführung“ außer gen Rechts! Landes geschafft werden (http://www.tolerantes.brandenburg.de/media_fast/3663/ Quellenangaben zu den Karteikarten mmz-argumente2008.pdf 20.10.2009)

(Material 8) Ausländer dürfen kein Eigentum an Grund und Boden in Deutschland erwerben – Grund und Boden sind Eigentum des Deutschland den Deutschen – Ausländer raus deutschen Volkes. Ausländer haben aus diesem Grund nicht die (http://www.welt.de/politik/article1552338/Bewaehrungsstrafe_ Möglichkeit, Eigentümer von Grundstücken zu werden. Miet- fuer_Auslaender_raus_Rufe.html 20.10.2009) und Pachtverhältnisse sind davon ausgenommen. Eventuell bestehende Besitzverhältnisse sind aufzulösen oder rückzuüber- An der Finanzkrise sind die Juden schuld tragen. (http://www.hagalil.com/01/de/Antisemitismus.php?itemid=3020 (http://www.npd-sachsen-anhalt.de/landesverband/1398.html 20.10.2009) 20.10.2009) (http://www.israel-network.de/node/701 20.10.2009) Die meisten Asylbewerber sind Wirtschaftsfl üchtlinge Die weiße Rasse ist den anderen Rassen überlegen (http://www.deutscher-nationalismus.de/asylanten.htm (http://de.wikipedia.org/wiki/White_Aryan_Resistance 20.10.2009) 20.10.2009) (www.unrast-verlag.de/unrast,3,0,261.html 09.10.2009) Juden ... Euch hat man vergessen zu vergasen (http://www.tatort-stadion.de/ausstellung/antisemitismus.htm Garantie eines Kindergartenplatzes für jedes deutsche Kind 21.10.2009) (NPD-Parteiprogramm, http://www.npd-hannover.de/index.php/ (http://www.kanak-attak.de/ka/archiv/vb01/kick.htm 21.10.2009) menue/56/thema/248/Mehr_Kindergartenplaetze_und_soziale_ (http://www.fen-net.de/was-lefft/wl167/adel.html 21.10.2009) Absicherung_deutscher_Familien.html 20.10.2009) (http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/auf-dem-seziertisch-das- „Minarette gehören im christlichen Deutschland verboten“ npd-grundsatzprogramm 20.10.2009) Zur Diskussion um das „Minarettverbot“ in der Schweiz der Link eines Artikels der Neuen Zürcher Zeitung: http://www.nzz.ch/ nachrichten/schweiz/gegen_die_islamisierung_1.3893721.html

106 Rechtsextremismus und Recht

M1 Aufgaben

1. Erläutere, was Patrick Owomoyela aufgrund der NPD Abbildung empfi nden wird? Versetze dich in die Situation von Patrick Owomoyela und beschreibe seine Gefühle beim Anblick der NPD- Abbildung! 2. Durch welche Maßnahmen könnte die Haltung von Christian Scherz (s. Zeile. 61ff.) untermauert werden?

immer zum Training gefahren. Der Profi fußballer spielte da- mals für Werder Bremen und war deutscher Nationalspieler. Journalisten haben ihm dann eine Abbildung gezeigt, die ei- 20 nen Fußballer im Nationaltrikot mit einer etwas verfremdeten Nummer 25 darstellte. Es war das Cover des „WM-Planers“ der NPD.

Neben dem Foto des als farbig zu interpretierenden Kickers 25 stand der Schriftzug: „Weiß - Nicht nur eine Trikot-Farbe - Für eine echte Nationalmannschaft. „Das bin ich, es geht um mich“, das schilderte der heute 29 -Jährige und mittlerweile bei Borussia Dortmund unter Vertrag stehende Kicker vor dem Amtsgericht Tiergarten in Berlin. „Ich fühlte mich belei- 30 digt, beschämt und persönlich verletzt wie angegriffen“, sagt Patrick Owomoyela im Sicherheitssaal B 129 des Kriminalge- richts Moabit.

Owomoyela ist Sohn einer deutschen Mutter und eines nige- 35 rianischen Vaters und trug damals die an ihn fest vergebene Nummer 25 des Nationaldress. Drei Jahre nach der Fußball- Weltmeisterschaft in Deutschland hat die ausländerfeind- liche Parole auf dem WM-Planer der rechtsextremen NPD ein juristisches Nachspiel. Angeklagt wegen Volksverhet- 40 zung in zwei Fällen, in einem tateinheitlich begangen mit ro Sportphoto ro Beleidigung, sind seit Dienstag vor dem Amtsgericht Tier- garten der NPD-Parteichef Udo Vogt sowie zwei weitere Spitzenfunktionäre der Partei, nämlich Klaus Beier sowie Frank Schwerdt. 45 Die drei Angeklagten sollen für die Herstellung des NPD- WM-Planers verantwortlich gewesen sein. Mit dem Schrift-

picture-alliance / augenklick/fi picture-alliance zug sei nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft zum Aus- druck gebracht worden [...], dass, „Spieler nicht weißer Haut- 50 farbe nicht das Recht hätten, Deutschland als Nationalspieler zu repräsentieren“, wie der Oberstaatsanwalt Jörg Raupach in Rassismus-Prozess um Owomoyela seiner Anklageschrift begründete. Von drei Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug reicht bei dem nachgewiesenen Die NPD-Führungsriege muss sich seit Dienstag wegen Tatbestand der Volksverhetzung das mögliche Strafmaß. Volksverhetzung vor Gericht verantworten. Während der 55 WM 2006 soll sie den schwarzen Nationalspieler Owomo- Owomoyela hatte schon vor der WM 2006 in Deutschland ge- yela verunglimpft haben. Die Angeklagten verweigerten meinsam mit dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) eine einst- 5 am ersten Verhandlungstag die Aussage. weilige Verfügung gegen den WM-Planer vor dem Landge- richt Brandenburg erwirkt. Eine Strafanzeige wegen „Volks- Fast drei Jahre nach der Fußball-WM in Deutschland wur- 60 verhetzung und Beleidigung“ erstattete er ebenfalls. Diese ist de über die ausländerfeindliche Propaganda der NPD auf nun durch die Staatsanwaltschaft aufgegriffen worden und einem WM-Planer gegen den farbigen Nationalspieler wird in Berlin verhandelt. „Wir wollen damit zeigen, dass 10 Owomoyela verhandelt. Wegen Volksverhetzung und Be- Rassismus im deutschen Sport keinen Platz hat“, erklärte der leidigung müssen sich der NPD-Chef Udo Vogt und zwei DFB-Medienanwalt und Vertreter des Nebenklägers, Chri- andere Spitzenfunktionäre der Partei derzeit in Berlin ver- stian Scherz in Berlin. [...] antworten. Ein Urteil ist noch nicht ergangen.

15 Im Frühjahr 2006, so erinnert sich Patrick Owomoyela und Quelle: ZDF (Autor: Torsten Haselbauer) 24.03.2009 (http:// erzählt es ganz ruhig der Richterin Monik Pelcz, sei er wie www.heute.de/ZDFheute/inhalt/14/0,3672,7540078,00.html)

107 Rechtsextremismus und Recht

M2 Volksverhetzung als Straftat Ergänzung zu M 1 Aufgabe Beurteile mit Hilfe von M2 und 3, wie der Rassismus- Prozess deiner Meinung nach zu entscheiden wäre. Die Angeklagten § 130 StGB Volksverhetzung Absatz 1: Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffent- lichen Frieden zu stören, 1. zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder 5 zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert Die Tat oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei 10 Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. [...] Die Konsequenz M3 Beleidigung als Straftat Aufgabe Beurteile mit Hilfe von M2 und 3, wie der Rassismus- Prozess deiner Meinung nach zu entscheiden wäre. Das Opfer § 185 StGB Beleidigung Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Beleidigung mit- tels einer Tätlichkeit begangen wird, mit Freiheitsstrafe 5 bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Eine Beleidigung ist die vorsätzliche Kränkung der Ehre Der DFB einer anderen Person. Die Ehre ist die durch Worte und Handlungen bekundete Achtung gegenüber einer Person, ihr Angesehensein. Da- 10 rüber hinaus ist sie eine auf der Selbstachtung beruhende Haltung. Mögliches Tatmotiv Rechtlich gesehen ist die Ehre das Maß an Achtung, das jedem unbescholtenen Menschen zusteht. Sie ist ein Aus- fl uss der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 15 GG). Ergänzung zu M 2, M 3 und M4 Vgl. Brockhaus in fünf Bänden (1994)

M4 Meinungsfreiheit in Deutschland Volksverhetzung Aufgabe Erörtere mit Hilfe von Material 4, ob sich die NPD- Vertreter auf die grundgesetzlich garantierte Mei- nungs- und Pressefreiheit berufen können. Nach dem Grundgesetz hat jeder das Recht auf Meinungs- Meinungsfreiheit freiheit: Artikel 5 GG 5 (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unter- Beleidigung richten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichter- stattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. 10 Eine Zensur fi ndet nicht statt. (2) Diese Rechte fi nden ihre Schranken in den Vor- schriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Be- stimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht Ehre der persönlichen Ehre.

108 Rechtsextremismus und Recht

M5 Schutz der Grundrechte

Aufgabe 1. Grundrechte werden in Menschenrechte und Bürgerrechte unterteilt. Bürgerrechte gelten nur für deutsche Staatsangehörige. Ordne die Grundrechte in Material 5 den Menschenrechten und den Bürgerrechten zu. 2. Überlege, von welchen Grundrechten du besonders profi tierst. Beurteile, welche Grundrechte dir in einem ande- ren Land am wichtigsten wären. 3. Betrachte die Positionen von Patrick Owomoyela (Material 1) und der NPD. Welche Grundrechte kollidieren mit- einander? 4. Welches Grundrecht ist deiner Meinung nach als höherwertig einzustufen?

Im Grundgesetz sind in den Artikeln 1 bis 19 die so ge- 50 Artikel 6 nannten Grundrechte aufgeführt, daneben existieren noch (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der grundrechtsgleiche Rechte (z. B. Art. 38). Einige Grund- staatlichen Ordnung. [...] rechte / grundrechtsgleiche Rechte sind hier auszugsweise (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge 5 dargestellt: der Gemeinschaft. [...] 55 Artikel 1 Artikel 8 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten (1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung und zu schützen ist Verpfl ichtung aller staatlichen Gewalt. oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. 10 [...] (2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den 60 Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfas- Artikel 2 sungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völker- (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Per- verständigung richten, sind verboten. [...] sönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und 15 nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sit- Artikel 9 tengesetz verstößt. 65 (1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesell- (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver- schaften zu bilden. [...] sehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen Artikel 14 20 werden. (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. In- 70 halt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. Artikel 3 (2) Eigentum verpfl ichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Wohle der Allgemeinheit dienen. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. [...] (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zu- 25 (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Ab- lässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Ge- stammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat 75 setzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung re- und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder poli- gelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der tischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt wer- Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestim- den. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteili- men. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle 30 gt werden. der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen. 80 Artikel 4 Artikel 16a (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Frei- (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. [...] heit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses 35 sind unverletzlich. Artikel 38 (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. 85 (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in [...] allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Auf- Artikel 5 träge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen 40 (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und unterworfen. Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allge- 90 (2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollen- mein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. det hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung Volljährigkeit eintritt. [...] durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine 45 Zensur fi ndet nicht statt. (2) Diese Rechte fi nden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persön- lichen Ehre. [...]

109 Rechtsextremismus und Recht

Ergänzung zu M 5 3. Erläutere mit Hilfe des Films, warum die Versamm- lungsfreiheit, obwohl sie ein Bürgerrecht ist, trotz- (Film VHS 42 02781, DVD 46 02349, Didaktisches dem Ausländern zusteht. Online-Medium 55 00343) 4. Benenne die Institution, an die sich jeder wenden kann, der in seinen Grundrechten verletzt wurde. Aufgaben In dem Film „Menschenrechte – Die Grundpfeiler der Demokratie“ werden die Grundrechte in Freiheits- rechte und Gleichheitsrechte unterteilt. 1. Ordne die in der unten stehenden Tabelle aufge- Alle Menschen sind frei führten Grundrechte den entsprechenden Kate- gorien zu und erläutere sie stichpunktartig. und gleich an Würde 2. Ergänze weitere im Film genannte Freiheits- und und Rechten geboren Gleichheitsrechte. Ziehe hierbei gegebenenfalls das Grundgesetz (Artikel 1-19) hinzu.

Grundrecht Erläuterung Freiheitsrecht Gleichheitsrecht

Artikel 2 (1) GG 

Artikel 2 (2) GG 

Artikel 3 (1) GG 

Artikel 3 (2) GG 

Artikel 3 (3) GG 

Artikel 4 GG 

Artikel 5 GG 

Artikel 6 GG 

Artikel 8 GG 

Artikel 9 GG 

Artikel 16 GG 

110 Rechtsextremismus und Recht

M6 NPD-Parteiprogramm im Visier M7 Freiwillige Rückkehr? Folgende Zitate sind dem NPD-Parteiprogramm (Stand 24.03.2009) entnommen:

1. Die kleinste Gemeinschaft innerhalb unseres Volkes ist die Familie. Ihr gehört daher die besondere Zuwendung und Pfl ege des Staates. Die Familie ist vor allen anderen Lebensgemeinschaften zu fördern. Nationaldemokraten 5 lehnen die jede Gemeinschaft gefährdende „Selbstver- wirklichung“ und den mit ihr einhergehenden schranken- losen Egoismus ab.

2. Kindergeld als volkspolitische Maßnahme des Staates 10 darf nur an deutsche Familien ausgezahlt werden.

3. Jeder Deutsche hat das Recht auf Arbeit. Arbeitsplätze sind zuerst an Deutsche zu vergeben.

15 4. Nationaldemokratische Sozialpolitik fühlt sich auch den sozial Schwachen unseres Volkes verpfl ichtet. Aus- länder sind aus dem deutschen Sozialversicherungswesen auszugliedern. Asylanten dürfen keinen einklagbaren An- spruch auf deutsche Sozialleistungen besitzen. 20 5. Auf der Grundlage des Dogmas der angeblichen „Gleichheit aller Menschen“ wurde durch unsinnige Re- formen unser Schul- und Hochschulwesen in den heu- tigen desolaten Zustand versetzt. Hinter diesen Gesell-

25 schaft verändernden Reformen steht die überholte Vor- 08.09.2009 Autor, Bundestagswahlkampf 2009 Foto: stellung, man könne durch gesellschaftspolitisch ausge- klügelte Reformprogramme eine neue Gesellschaft mit „Ein grundlegender politischer Wandel muss die men- Menschen gleicher Fähigkeiten und gleicher Leistungen schenfeindliche Integrationspolitik beenden sowie die schaffen. deutsche Volkssubstanz erhalten. [...] Den Angehörigen 30 anderer Völker, die hier einen Arbeitsplatz auf Zeit inne- 6. Die NPD setzt sich [...] für eine Reform des deutschen 5 haben, muss die Möglichkeit gegeben werden, ihre kultu- Rechtssystems nach streng rechtsstaatlichen Grundsätzen relle und nationale Identität zu wahren. Dadurch ist ihnen ein. Dazu gehören: [...] Wiedereinführung der Todesstrafe auch die Rückkehr in ihre Heimatländer zu erleichtern.“ [...] bei schwersten Fällen des Drogenhandels. (Parteiprogramm der NPD, Stand 24.03.2009)

Aufgaben muß eine konsequente Rückführung der hier le- 1. Analysiere, ob die Forderungen der NPD (Material benden Ausländer in ihre Heimat betrieben wer- 6) mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Stelle je- den.“ Diskutiere, welche Auswirkungen die konse- weils dar, welche Grundgesetzartikel betroffen quente Durchsetzung dieser Forderung für die sein könnten. deutsche Gesellschaft hätte. 2. Überlege, welche Intention die NPD mit dem Pla- 5. Von vielen Seiten wird das NPD-Verbot gefordert. kat (Material 7) verfolgt. Arbeite die in der Presse vertretenen Positionen 3. Vergleiche das Plakat mit dem Text von Material 7. heraus und stelle die entsprechenden Argumente Zeige das unterschiedliche Maß an Aggressivität zusammen. auf, das in Wort und Bild vermittelt wird. 6. Welche Gründe sprechen, bezogen auf das Grund- 4. Die NPD Frankfurt schreibt in ihrem Flugblatt „Hei- gesetz, für bzw. gegen das NPD-Verbot? (z.B. matrecht“: „Statt unsinniger Integrationspolitik Frankfurter Rundschau, FAZ……)

111 Rechtsextremismus und Recht

M8a

Artikel 2 (1) GG Artikel 1 GG Freie Entfaltung Menschenwürde der Persönlichkeit

Artikel 2 (2) GG Recht auf Leben Artikel 3 (1) GG und körperliche Gleichheitsgrundsatz Unversehrtheit

Artikel 3 (3) GG Artikel 4 GG Diskriminierungsverbot Glaubensfreiheit

Artikel 5 GG Artikel 6 GG Meinungsfreiheit Schutz von Ehe und Pressefreiheit Familie

Artikel 14 GG Artikel 16 GG Eigentumsgarantie Asylrecht Erbrecht

112 Rechtsextremismus und Recht

M8b

Deutschland den Minarette gehören im Deutschen – christlichen Deutschland Ausländer raus verboten

Die weiße Rasse ist Garantie eines den anderen Rassen Kindergartenplatzes für überlegen jedes deutsche Kind

Arbeitsplätze sowie Sozial- Kein deutsches Paar soll von leistungen sollen zuerst seinem Kinderwunsch Abstand nehmen müssen, weil die den deutschen Volksange- Finanz- und Wohnraumsituation hörigen zuteil werden dies nicht zulassen

Ausländer dürfen kein Eigentum an Grund Ausländische und Boden in Deutschland erwerben – Grund und Boden sind Eigentum des Arbeitsplatz konkurrenten und deutschen Volkes. Ausländer haben aus Sozialschnorrer sollen durch diesem Grund nicht die Möglichkeit, Eigen- eine Politik der tümer von Grundstücken zu werden. Miet- und Pachtverhältnisse sind davon ausge- „Ausländerrückführung“ außer nommen. Eventuell bestehende Besitzver- Landes geschafft werden hältnisse sind aufzulösen oder rückzuüber- tragen

Die meisten Juden in Deutschland – Asylbewerber sind Euch hat man vergessen Wirtschaftsfl üchtlinge zu vergasen

113 Symbole des Nationalsozialismus und des aktuellen RechtsextremismusRechtsextremismus

Elzbieta Siemon

Eine Unterrichtsreihe zum Thema „Nationalsozialis- zu verachten, ohne dass man etwas über ihn weiß, mus“ soll und muss mehr erreichen, als nur die kor- und dass die Sammlung von Vorurteilen, gepaart rekte Vermittlung von geschichtlichen Ereignissen mit der Macht, das Leben eines Menschen negativ und deren zeitliche Abfolge. Das Vermitteln von sozi- zu beeinfl ussen, direkt zum Rassismus führt. alen Kompetenzen, die die Lerngruppe in ihrem au- • Die Schüler und Schülerinnen sollen weiterhin be- ßerschulischen Verhalten beeinfl ussen und verändern, greifen, dass sich im Nationalsozialismus Men- ist im Hinblick auf die damalige Demagogie und Ver- schen aufgrund der Demagogie der nationalsozi- führung der Massen unerlässlich. Daher hat diese Un- alistischen Weltanschauung nur schwer entziehen terrichtsreihe unter anderem zum Ziel, durch ein konnten – und die Demagogie des Rechtsextre- „Schockerlebnis“ und den damit verbundenen Bezug mismus der Gegenwart ebenfalls gefährlich ist. auf rechtsradikale Symbole der Gegenwart, den Lern- gruppenmitgliedern ein Gespür für das politische Tak- tieren von damaligen und heutigen Interessensgrup- Methodische Umsetzung pen zu vermitteln.

Das „freundliche“ Gesicht des Einbettung der Unterrichtsreihe in die Nationalsozialismus Thematik Zum Einstieg in die Unterrichtsreihe wurde der Lern- Wird in einer Unterrichtsreihe den Aspekten von gruppe ein Propagandabild (siehe Abb. 1) präsen- Vorurteilen und Rassismus im Nationalsozialismus tiert, auf dem Hitler zu sehen ist, der sich freundlich nachgegangen, dann darf sie sich nicht als bloße lächelnd zu einem adrett gekleideten Mädchen hi- Summe dessen darstellen, was geschehen ist und nabbeugt, welches ihm ein Geschenk überreicht. was wir über die Vergangenheit wissen. Sie wird erst Selbstverständlich kann als Einstieg in den Unterricht durch den Bogenschlag in die Gegenwart und durch auch ein anderes Bild, eine Filmsequenz oder gar ein die Konfrontation mit den heutigen Rassismus kom- Quellentext ausgewählt werden. Wichtig für den Ein- plettiert. Durch das Besprechen und Analysieren stieg in die Unterrichtsreihe ist, dass die Quelle Adolf von rechtsradikalen Symbolen der Gegenwart sol- Hitler positiv darstellt, da davon ausgegangen wer- len die Lerngruppe nicht nur emotional angespro- den kann, dass die Lerngruppe bereits im schu- chen und motiviert werden, sondern sie sollen auch lischen und außerschulischen Bereich mit der Person über diese Symbole die Möglichkeit erhalten, sich Adolf Hitler konfrontiert worden ist und nahezu alle aktiv in die Zeit des Nationalsozialismus hineinzu- der Lerngruppe bekannten Darstellungen einen ne- denken und zu verstehen, wie es zur Diskriminierung gativen Charakter besitzen. und Ausgrenzung von ganzen Bevölkerungsgrup- pen kam: Durch den Einsatz eines positiv besetzten Propa- • Die Lerngruppe soll auf die Demagogie und Ver- gandabildes kann eine Brücke zu inhaltlich konträren führung von Jugendlichen über „Nationalsozialis- Quellentexten in der darauf folgenden Partnerar- tische Symboliken in der Gegenwart“ aufmerksam beitsphase geschlagen werden. Nur durch eine posi- gemacht werden. tive Darstellung von Hitler können später den Schü- • Die Lerngruppe soll letztendlich begreifen, dass lern und Schülerinnen die „zwei Gesichter des Natio- Vorurteile dazu führen können, einen Menschen nalsozialismus“ verdeutlicht werden.

114 Die Lernenden erhielten konkret den Auftrag, eine Diskriminierung von Roma und Schwarzen Überschrift zu diesem Bild zu formulieren. im Nationalsozialismus

Da davon ausgegangen werden kann, dass die Schü- ler und Schülerinnen einer Lerngruppe des Jahr- gangs 10 bereits wissen, dass im Nationalsozialismus Juden verfolgt wurden, sollte die Lerngruppe Texte bearbeiten, die sich bewusst mit anderen verfolgten und diskriminierten Volksgruppen im Nationalsozia- lismus auseinandersetzen.1

Die für diese Phase ausgewählten Quellentexte ge- ben ein gutes Beispiel für die Komplexität des Rassis- mus im Dritten Reich. Dieser erfuhr über die Integra- tion jahrhundertealter Vorurteile seine spezifi sche Ausprägung. Daher erscheint der bisher im Unter- richt stiefmütterlich behandelte Aspekt der Verfol- gung von schwarzen Deutschen im Nationalsozialis- mus sehr wichtig. Dazu wurde ein Auszug aus dem Buch „Neger, Neger, Schornsteinfeger. Eine Kindheit in Deutschland“2 herangezogen, da er das Schicksal und die Situation von schwarzen Deutschen im Dritten Reich, hier das Schicksal eines schwarzen Schülers, thematisiert. Im Quellentext (siehe M1) wird von Hans-Jürgen Massaquoi problematisiert, dass nicht alle Deutschen „Arier“ seien und be- stimmte Gruppen nicht zur deutschen Volksgemein- schaft gehören.

Außer diesem Quellentext wurden Texte ausgewählt, welche die Diskriminierung und Verfolgung der Roma behandeln. Es handelt sich hierbei zum einen um einen Runderlass des Reichsministers für Wissen- schaft, Erziehung und Volksbildung von 1939, in dem formuliert wird, wie mit Roma-Kindern in der Schule umzugehen ist (siehe M 2), und zum anderen um die Erinnerung des Sinto Herbert (Ricky) Adler, der 1940 von der Kriminalpolizei aus seiner Klasse abgeholt Abb. 1: Ein beliebtes Propagandamotiv: Hitler als und in ein Zwangslager deportiert wurde (siehe M 3). „Freund der Kinder“. Quelle: picture-alliance / IMA- Damit stehen Erlass und Schicksal des Sinto-Jungen GNO/Austrian Archives in einem Kausalzusammenhang.

1 Das wichtige Thema des Antisemitismus wird aber im weiteren Verlauf der Unterrichtsreihe durchaus behandelt. 2 S. auch den Beitrag von S. Ruhweza, Die Autobiografi e „Destined to Witnes“ im vorliegenden Buch (S. 34 bis 49)

115 Symbole des Nationalsozialismus und des aktuellen Rechtsextremismus

M1 Vom „Jungvolk“ ausgeschlossen M2 Runderlaß des Reichsministers für Hans Jürgen Massaquoi erinnerte sich 1999 an die Anwer- Wissenschaft, Erziehung und Volks- bung für die Hitlerjugend in seiner Hamburger Schule: bildung v. 15.6.1939 – E II e 624/39 Unsere neuer Klassenlehrer, Herr Schürmann, […] versuchte ununterbrochen, uns zum Beitritt ins Jungvolk zu bewegen. […] Bei Zigeunerkindern, die die deutsche Staatsangehörigkeit be- Kernstück seiner Rekrutierungsbemühungen war eine große sitzen und daher schulpfl ichtig sind, wird eine grundsätzliche Ab- Grafi k, die er mit weißer Kreide auf die Tafel gemalt hatte: ein lehnung der Aufnahme nicht angängig sein. Da die Zahl der Zigeu- Rechteck, das in ebenso viele Quadrate unterteilt war, wie es nerkinder in der Regel hierfür nicht ausreicht, wird es auch nicht Jungen in unserer Klasse gab. Jeden Morgen erkundigte möglich sein, für sie besondere Schulen einzurichten. Soweit sol- sich Herr Schürmann als Erstes, wer der HJ beigetreten war, che Kinder in sittlicher und sonstiger Beziehung für ihre deutsch- und trug dann die entsprechenden Namen in der Grafi k ein. blütigen Mitschüler eine Gefahr bilden, können sie jedoch von der […] Allmählich gab einer nach dem anderen Schürmanns un- Schule verwiesen werden. In solchen Fällen wird es sich empfehlen, erbittlichem Drängen nach und trat in die Hitlerjugend ein. die Polizeibehörde entsprechend zu benachrichtigen. Eines Morgens nahm Herr Schürmann sich die letzten Zö- Bei der Behandlung von Negermischlingen ist nach den gleichen gerer zur Brust und wollte wissen, warum sie „nicht genug Grundsätzen zu verfahren. Liebe für Führer und Vaterland“ empfanden. […] Als ich an Dieser Erlaß ist nicht weiter zu veröffentlichen. die Reihe kam, öffnete ich den Mund, um etwas zu sagen, doch Herr Schürmann schnitt mir das Wort ab: „Schon gut, du bist sowieso vom Jungvolk ausgeschlossen.“ Ich war wie vom Donner gerührt. […] Herr Schürmann bemerkte meine Verwirrung und sagte mir, ich solle in der Pause zu ihm kom- men. […] „Ich dachte, du wüsstest, dass du nicht ins Jungvolk darfst, weil du Nichtarier bist“, fi ng er an. „Du weisst doch, M3 Der Sinto Herbert (Ricky) Adler wurde 1928 in Dortmund gebo- dass dein Vater Afrikaner ist und dass Afrikaner und andere ren. Nach dem Umzug der Familie besuchte er drei Jahre eine nichteuropäische Menschen als Nichtarier gelten. Nichtarier Frankfurter Schule, bis er 1940 von der Polizei aus der Klasse ist es untersagt, der Hitlerjugend beizutreten.“ – „Aber ich bin geholt wird. doch Deutscher“, schluchzte ich unter Tränen. „Meine Mutter Eines schönen Tages klopft es an der Tür des Klassenzimmers, und sagt, dass ich Deutscher bin, so wie alle anderen.“ wir als Lausbuben meinten, wir hätten etwas angestellt […]. Der H. J. Massaquoi, „Neger, Neger, Schornsteinfeger!“ Meine Rektor kam und sagte zu mir: „Komm mal raus!“ Der Lehrer fragte: Kindheit in Deutschland, München (Scherz) 1999, 129 f. „Was ist denn los?“ Der Rektor entgegnete: „Ich muss mit dem Ricky mal sprechen.“ Der Lehrer fragte: „Was wollen Sie von ihm?“ Sie gingen beide heraus, sprachen miteinander und nach zehn Minu- ten kamen sie wieder herein. Der Lehrer sagte zu mir: „Ricky, paß auf, da sind zwei Kriminalbeamte, die wollen dich mitnehmen. Du hast was angestellt.“ […] Der Einsatz und die Auswahl dieser Quellen erschie- Wie ich raus kam, stand bereits mein Bruder Heinz, der eine Klasse nen auch im Hinblick auf die Lerngruppe als beson- höher war, unten auch mit Kriminalbeamten. Die schnappten uns, ders sinnvoll, da sich die Schüler und Schülerinnen steckten uns in ein Polizeiauto. […] Nun waren wir in unserer Woh- nung in der Lehrgasse. Dort sagten sie uns: „Das und dies können aufgrund ihres Alters besonders gut in die Situation Sie mitnehmen. Alles andere wird Ihnen morgen gebracht.“ Mein dieser Opfergruppen hineinversetzen, einfühlen und Vater fragte: „ Was ist den los – weshalb?“ – „Ich kann Ihnen nichts zu einer eigenen Bewertung kommen konnten. anderes sagen, nehmen Sie diese Sachen mit, alles andere kommt später.“ Wir wurden dann auf ein Lastauto geschmissen und in die Diesel- In dieser Erarbeitungsphase bearbeiteten die Ler- straße gebracht. Es war ein Zwangslager […] . nenden die ihnen dargereichten Quellentexte in Partnerarbeit. Damit wurde in dieser Phase der Un- terrichtsreihe bewusst die Lernmethode gewechselt. Über die Partnerarbeit wurde das selbstständige Er- arbeiten von Quellentexten geübt. Im Gegensatz zur Nach einer kurzen inhaltlichen Wiedergabe der ge- Einstiegsquelle sind die Quellentexte negativ be- lesenen Texte durch die Lernenden wurde die Ein- setzt. Sie waren daher nicht nur aufgrund ihrer „Le- gangsquelle, das Propagandabild, der Lerngruppe bendigkeit“ und sprachlichen „Einfachheit“ zur Ana- erneut präsentiert. Das Unterrichtsgespräch fand im lyse geeignet, sondern die Schüler und Schülerinnen Sitzkreis statt und orientierte sich an den folgenden wurden auch emotional sehr stark von den Textinhal- Leitfragen: ten angesprochen und arbeiteten daher den Gegen- satz zu den positiven Aussagen des Propaganda- • Wo sind Gemeinsamkeiten zwischen Texten und bildes heraus. Dies war die Voraussetzung dafür, Bild zu fi nden? dass im anschließenden Unterrichtsgespräch konträr • Warum machte Hitler einen Unterschied? über den Rassismus im Dritten Reich gesprochen • Versetzt euch in die Lager der beiden Jungen. Wie werden konnte. würdet Ihr euch fühlen?

116 Symbole des Nationalsozialismus und des aktuellen Rechtsextremismus

Als direkte Überleitung in die nächste Phase der Un- werden durch Fachliteratur zu diesem Thema keine terrichtsreihe wurden die Schüler und Schülerinnen Gefühle und Stimmungen transportiert, in die sich mit der Behauptung konfrontiert, dass Vorurteile und die Lerngruppe hineinversetzen kann; die Schüler Rassismus in unserer modernen Gesellschaft nicht und Schülerinnen müssen „verführt“, „berührt“ und mehr manifestiert seien. anschließend „schockiert“ werden – nur so ist die Wirkung von Propaganda greifbar und begreifbar. Diese Aussage löste an dieser Stelle heftigen Wider- stand innerhalb der Lerngruppe aus und die Schüler Ein sehr wichtiger Auswahlpunkt für dieses Lied war, und Schülerinnen benannten die verschiedenen For- dass der Text mehr als eindeutig ist und keinen Spiel- men von Vorurteilen und Rassismus in der heutigen raum zur Verharmlosung zulässt. Für den weiteren Gesellschaft. Verlauf der Unterrichtsreihe wäre es mehr als kata- strophal, wenn sich die Lernenden mit Rhytmus, Text oder gar der Band identifi zieren würden. In Deutsch- NS-Symbole der Gegenwart land existieren zurzeit mehr als 150 rechte Bands, deren musikalisches Spektrum über „Liedermacher“, Als Einstieg in diese Phase des Unterrichts wurde der „Rechtsrock“ bis hin zum „Punk“ und „Black Metal“ Lerngruppe das Lied „Afrika für Affen, Europa für reicht. Die Mehrzahl der rechten Bands ist nicht ver- Weiße“ der verbotenen rechtsradikalen Musikgrup- boten und behandelt in ihren Texten neben rechtsra- pe „Landser“ vorgespielt. dikalen Elementen auch Themen wie Liebe und Freundschaft. Gerade diese Bands sind im poli- Ist es verantwortungslos, einer Lerngruppe der Jahr- tischen wie unpolitischen Umfeld populär. gangsstufe 10 ein Lied einer verbotenen rechtsradi- kalen Gruppe zu präsentieren? Auf die Musik reagierte die Lerngruppe sehr emotio- nal: Eingangs haben die Schüler und Schülerinnen Bei der Planung der Unterrichtseinheit sollte intensiv zum Rhythmus der Musik den Kopf geneigt und ge- überlegt werden, ob es pädagogisch und didaktisch lacht. Doch als die Schüler und Schülerinnen Text sinnvoll ist, der Lerngruppe ein Lied einer verbote- und Inhalt verstanden haben, war die Lerngruppe nen rechtsradikalen Band zu präsentieren. In die schockiert und stellte die rhythmischen Bewegungen Überlegungen sollten jedoch folgende Fakten unbe- ein. Das folgende Unterrichtsgespräch fand im Sitz- dingt mit einbezogen werden: kreis statt und orientierte sich an den Leitfragen: • Jugendliche begegnen im Alltag rechten und ra- • Wann wurde das Lied geschrieben / komponiert / dikalen Inhalten in Form von Texten, Symbolen aufgenommen? und Musik in unterschiedlichsten Situationen (zum • Werden Kinder und Jugendliche von Musik beein- Beispiel: Jugendzentrum, Freundeskreis, Internet). fl usst? • Rechte Gruppen und Gruppierungen sehen Musik • Kennst du aktuelle Musik, die die Beeinfl ussung als ein wichtiges Medium und Werbemittel zur eines Menschen zum Ziel hat? Verbreitung ihrer menschenverachtenden Ideolo- gie an. Die Lerngruppe war darüber überrascht, dass das • Rechte Gruppen und Gruppierungen verbreiten Lied erst gegen Ende der 90er Jahre entstanden ist. ihre Musik im sogenannten „Projekt Schulhof-CD“ Alle Schüler und Schülerinnen hatten gemutmaßt, vor Schulen und Jugendzentren. dass das Lied während des Krieges bzw. kurz danach • Jugendliche müssen auf diese Inhalte vorbereitet aufgenommen wurde. Auch äußerten sich die Lern- sein, um angemessen und mündig auf sie reagie- gruppe über ihre Emotionen und ihr Verhalten beim ren zu können. Hören. Sie sagten, dass der Rhythmus gut sei und • Das Gehörte wird direkt nach dem Vorspielen im zum Tanzen auffordern würde. Der Text sei einfach Unterricht analysiert und refl ektiert. Dabei ist auch und einprägsam sowie zum Nachsingen geeignet. eine schriftgebundene Textarbeit notwendig, da- mit sich die Jugendlichen nicht unrefl ektiert die Die Lerngruppe hatte nun einen Eindruck davon, „schöne“ Melodie einprägen. wie Menschen durch die Propaganda der National- • Fachliteratur kann „nur“ Fakten vermitteln. Jedoch sozialisten angesprochen und manipuliert wurden.

117 Symbole des Nationalsozialismus und des aktuellen Rechtsextremismus

Daher wurden der Lerngruppe weitere Bilder und Kleidung angeschnitten und erörtert. Die Lernenden Symboliken aus der Gegenwart präsentiert. Dazu ge- tauschten offen ihre Gefühle und Gedanken aus. hörten unter anderen die folgenden Abkürzungen, welche auf T-Shirts, Kappen und Jacken zu fi nden sind: Fazit • 18 (1. und 8. Buchstabe des Alphabets. Wird als Synonym für die Initialen Adolf Hitlers verwendet) Die vorgestellte Unterrichtsreihe in drei Schritten, • 88 (8. und 8. Buchstabe des Alphabets: Wird als bestehend aus einer positiven (Propaganda-)Darstel- Synonym für die „Heil Hitler“ verwendet). lung Adolf Hitlers, das Bearbeiten von negativ besetzten Texten und der „Bogenschlag“ zur Gegen- Auch wurde auf bekannte Modelabels eingegangen: wart wurde mit zwei Lerngruppen der Jahrgangsstu- • Alpha Industries: Obwohl die fe 10 des Bildungsgangs Realschule an der Clemens- Firma sich vom Rechtsradika- Brentano-Europaschule durchgeführt. Beide Lern- lismus distanziert und das gruppen haben sehr engagiert und motiviert gear- amerikanische Militär ausstat- beitet und die Reaktionen auf die Symbole der Ge- tet, ist sie in rechten Kreisen genwart waren fast identisch. Zur großen sehr beliebt, da das Logo der Firma dem verbote- Überraschung haben die Schüler und Schülerinnen nen Zivilabzeichen der SA ähnelt. beider Lerngruppen ohne gestellten Arbeitsauftrag • Consdaple: Eine von Rechtsra- – aus Eigeninitiative – sich im Internet über weitere dikalen entworfene Modemar- Symbole informiert und mit ihren Eltern und Ge- ke. Besonderes Merkmal hier: schwistern über das Gelernte diskutiert. Daher muss- Wird ein Shirt mit diesem te das Thema ungeplant in der auf die Unterrichtsrei- Schriftzug unter der offenen he nachfolgenden Stunde weiter diskutiert werden. „Bomberjacke“ getragen, so erscheinen die Buch- Von den Lernenden wurden in der Diskussion teil- staben „NSDAP“. weise unbekannte Themen angeschnitten, wie zum • H8wear (Hatewear): H8waer Beispiel „rechtsradikale ausländische Organisati- ist eine Kleidungsmarke, die onen, die in Deutschland aktiv sind“. Auch gab es aus dem Umfeld organisierter heftige Reaktionen bei der Benennung weiterer Mo- Neonazis kommt. Das Einbin- delabels, da diese teilweise in den eigenen Kleider- den der 8 ist ein Spiel mit der oben erwähnten Ab- schränken vorhanden waren. kürzung „88“. • Masterrace Europe: Herren- Sehr gespalten waren die Gruppen bei der Benen- rasse Europa. (Hier gibt es nung und Diskussion über weitere populäre rechte nichts mehr hinzuzufügen. Der Bands, da deren Musik teilweise als „nicht rechtsradi- Name spricht für sich.) kal“ deklariert wurde und den Geschmack vieler Ju- gendliche trifft. Hier stimmen die im Internet recher- Zentrale Fragen bei der Präsenta- chierten Angaben zur Einstufung als rechte Band tion der Symbole im Unterrichts- nicht mit den Meinungen der Schüler und Schüle- gespräch waren: rinnen überein. Laut den Lernenden ginge es bei • Habt ihr das Symbol schon einmal gesehen? diesen Gruppen nicht um den Text, sondern um „die • Habt ihr davon gehört / darüber gelesen? Musik an sich.“ • Ist es verboten, dieses Symbol zu tragen? • Kennt ihr weitere Symbole? Von allen Schülern und Schülerinnen wurde jedoch erkannt, dass rechtsradikales Gedankengut in un- serer Gesellschaft immer noch verankert ist und Die Lerngruppe diskutierte über die Symbole sehr en- dass eine moderne Verführung von Jugendlichen gagiert und konnte weitere Symbole benennen. An existiert. Dies ist die Voraussetzung, dass in den an- dieser Stelle der Unterrichtsreihe konnte ein hoher schließenden Unterrichtsreihen konträr über den Diskussionsbedarf festgestellt werden, der viel weiter Rassismus im Dritten Reich gesprochen werden ging, als ursprünglich geplant. Von den Schülern und kann, dass Täter und Opfer aus unterschiedlichen Schülerinnen wurden im Verlauf der Diskussion selbst- Perspektiven erörtert und beleuchtet werden kön- ständig Themen wie Krieg, Religion, „Ausländer“ und nen; dass die Zeit des Nationalsozialismus besser

118 Symbole des Nationalsozialismus und des aktuellen Rechtsextremismus

für sie verstehbar und zugänglich ist, indem sie sich Literaturhinweise / in die Gedanken und Gefühlswelt von Tätern und Bild- und Quellenverzeichnis Opfern besser hineinversetzen können. Deckert-Peaceman, Heike / Kößler, Gottfried (2003): Konfrontati- Viel wichtiger ist, dass neben den geschichtlichen In- onen. Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocausts, In: Heft 3 „Ausschluss“, Frankfurt am halten auch soziale Kompetenzen vermittelt wurden, Main. die im Alltag einsetzbar sind. Die Lernenden können jetzt nicht nur besser auf die Verführung durch Massaquoi, Hans J. (1999): Neger, Neger, Schornsteinfeger! aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Scherz rechtsradikale Gruppen und Gruppierungen reagie- Verlag Bern für Fretz und Wasmuth Verlag 1999. Alle Rechte vor- ren, sondern sie sind politisch mündiger und haben behalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. erkannt, dass in der heutigen Zeit - von deutschen und ausländischen Gruppen zugleich - rechte Ideen Alpha Industries: http://www.kwick.de/bierbaron90 propagiert werden. Durch das bewusstere Kaufen und Tragen von Kleidung, sowie durch den be- Consdaple: wussteren Umgang mit Texten und Musik vermeiden http://www.consdaple.de/shop/catalog/images/consdaple.gif die Lernenden unbewusst einer Interessensgruppe H8wear: zugeordnet zu werden. Damit werden nicht nur un- http://picture.yatego.com/images/44bf43818d71a8.0/h8schri.jpg gewollte gewalttätige Auseinandersetzungen ver- Masterrace: mieden, die auf einer angenommenen Gruppenzu- http://www.dasversteckspiel.de/dresscodes3.html gehörigkeit basieren, sondern sie selbst gehen kri- tischer mit der Ein- und Zuordnung von anderen Ju- gendlichen in Interessensgruppen um. Durch die Diskussion mit ihren Eltern, Geschwistern und Freun- den werden diese genauso sensibilisiert, wie sie selbst.

119 Der Lernort Auschwitz als Exkursionsziel für außerschulisches LernenLernen

Arndt Kleesiek

Schlaglichter richt an außerschulischen Lernorten „gut gemeint“ das Gegenteil von „gut“ . Eine mehrtägige Exkursion mit Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe nach Buchen- Zum ersten Mal selbst mit Ausbildern und LiV des wald. Während einer der geführten Begehungen des Studienseminars für Gymnasien in Kassel in Ausch- Geländes fallen uns aus dem Augenwinkel, während witz. Bekannt Geglaubtes, zu Ikonen der Erinne- wir an den Resten der Bahnrampe stehen, immer rungs- und Gedenkkultur Geronnenes: Das Tor, Die wieder Polizeiautos auf, die langsam vorüberfahren. Rampe, Die Koffer, Die Schuhe, Die Haare, immer Die Mitarbeiterin der Gedenkstätte klärt auf: „Rech- wieder Stacheldraht (mittlerweile x-mal erneuert, te“ hätten gestern in der Stadt Ärger gemacht und nicht mehr „authentisch“). Und dann zieht es dir den wollten dies nun auch in Buchenwald tun. Nichts Un- Boden unter den Füßen weg, wenn du während ei- gewöhnliches, sondern Gedenkstättenalltag sei das. ner Führung merkst, die kleinen weißen Dinger im halbgefrorenen Wasser und im Morast um die Asche- Fachdidaktische Forschungsbefunde: Offenbar ge- teiche von Birkenau sind menschliche Knochensplit- lingt es dem schulischen Geschichtsunterricht trotz ter, manchmal auch ein Zahn. Sechzig Jahre danach. aller Optimierungsbemühungen der vergangenen Dies sind einige subjektive Beobachtungen, Frag- Jahrzehnte in alarmierender Weise nicht, bei seinen mente, die geeignet sind, das didaktische Potenzial, Adressaten ein refl ektiertes historisches Bewusstsein aber auch Fallstricke der Gedenkstättenpädagogik oder wenigstens halbwegs stimmige Geschichtsvor- herauszuarbeiten. stellungen (v.a. auch vom Themenkreis „Nationalso- zialismus“) anzulegen, jedenfalls bestätigen dies mehr oder weniger unisono die einschlägigen empi- Gedenkstättenpädagogik: rischen Studien. Als Reaktion wird unter anderem Ansprüche und Ansätze eine „stärkere Berücksichtigung der außerschuli- schen Geschichtskultur“ empfohlen.1 Soll man für eine „Erziehung nach Auschwitz“ mit Lerngruppen nach Auschwitz fahren? 2 Man soll. Ein Wieder Buchenwald. Der den Tagesausfl ug seiner „enormes Lernpotenzial für das Thema [i.e. NS-Ver- Schülerinnen und Schüler begleitende Lehrer verab- folgungs- und Vernichtungspolitik] und die Zielset- reicht „authentisches“ Gebrüll - so wie es die Wach- zungen des Faches“ (Mounajed 2007, 188) wird KZ- mannschaften bei jeder Gelegenheit taten. Einmal, Gedenkstättenbesuchen bescheinigt. „Anschaulich- so wiederum eine Mitarbeiterin, habe auch eine Leh- keit“, „Authentizität“, „Realismus“, „hautnahes Erle- rerin ihre Schüler, „um es nachzuempfi nden“, für eine ben“ jenseits der engen Begrenzungen der Klassen- Viertelstunde im T-Shirt im Oktoberfrost auf dem Ap- räume (Hey 1978, 69f) und des offenbar chronisch pellplatz stehen lassen. Vermutlich ist auch im Unter- defi zitären Geschichtsunterrichts sind einige Schlag-

1 Henke-Bockschatz (2004, 298ff); ähnlich: Meseth/ Proske/ Radtke (2004, 9ff und 95ff); Zülsdorf-Kersting (2007, 472f.) 2 „Mit Adorno wird das ‚Nie wieder!’ zur zentralen Aufgabe von Erziehung. Er benennt damit eine grundlegende Zielperspektive auch für die Erinnerungskultur nach Auschwitz. Damit bleibt aber offen, über welche Wege dieses Ziel erreicht werden kann.“ (Steinebach 2007, 104)

120 M1 Bilder aus, Bilder von Auschwitz

Während der Projekttage Ende Januar besuchte eine Gruppe aus Schülerinnen und Schülern der JGS die polnische Stadt Oswiecim und die Orte der ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau, Orte, mit denen wir uns drei Tage lang intensiv auseinandersetzten. Dort entstand eine Vielzahl von Bildern, fotografi erten Bildern und Bildern im Kopf. Eine sehr persönliche Auswahl dieser Bilder präsentieren wir in den folgenden Wochen an verschiedenen Stellen in der JGS.

Manon Bode, Lea Brandau, Carolin Braun, Charlotte Chin, Mareike Kippenberger, Arndt Kleesiek, Katharina Kreuzer, Johannes Meder, Annika Mörbel, Jonas Pfeiffer, Geraldine Plettenberg, Pina Reinhard, Christine Schein, Jacqueline Schmidt, Theresa Seidl, Lara Warlich, Annabelle Weyer

worte, aufgeladen mit didaktischem Optimismus Gedenkstättenbesuche und –projekte betrieben und Idealismus.3 „Trauerarbeit“ gehört ebenfalls in und empfohlen. Auch hier: hohe Ansprüche - der diese Kategorie. Pragmatischer klingt das an Ge- Besuch der KZ-Gedenkstätte gewissermaßen als denkstätten zu betreibende „Entdeckende Lernen“, antifaschistisches Erweckungs- und Bekehrungser- professionell angeleitet, versehen mit Zeitressour- lebnis.4 cen, Mehrdimensionalität, Multiperspektivität und Einsicht in den Konstruktcharakter historischer Er- Wer jedoch in der gedanklichen Annäherung oder kenntnis vermittelnd. (Kuhls 1996. 46) Auch als Orte auch der konkreten Vorbereitung auf ein eigenes Ge- gelebter und gestalteter Erinnerungskultur fokus- denkstättenprojekt Orientierung und Anleitung sucht, sieren sich in KZ-Gedenkstätten gesellschaftliche verliert angesichts der Fülle der Vorschläge und Mo- und damit politische Diskurse mit entsprechenden delle, der Komplexität der Ansprüche, des Grades der Anknüpfungspunkten für den Geschichtsunterricht. Ausdifferenzierung gedenkstättendidaktischer Litera- (Conrad 2009, 2ff, bes. 8f) Zudem werden als Kor- tur möglicherweise nicht nur die Orientierung, son- rektiv rechtsradikaler Haltungen bei Jugendlichen dern auch den Mut. Das pädagogisch-didaktische

3 Begriffl iche Klärung und differenzierte Darstellung von Arbeitsformen an KZ-Gedenkstätten und ihren Zielen bei Barlog-Scholz (1994), s. Kapitel 2, S. 75ff und grundlegend Mayer/ Pandel/ Schneider (2007). 4 Wasser in diesen Wein gießt Brumlik (2002, 106): „Es ist nicht einzusehen, warum Lernprozesse in Gedenkstätten, die schon bei sehr viel weniger belasteten, bildungswilligeren Jugendlichen nur unter unwahrscheinlich guten Vorbereitungen mäßigen Erfolg zeigen, ausgerechnet bei jungen Männern, die – schuldhaft oder nicht – nur eine eingeschränkte Empathiefähigkeit und ein einge- schränktes historisches Verständnis aufbringen, auch nur dazu führen sollten, mehr als eine schwache konventionelle Moral auszu- bilden.“

121 Lernort Auschwitz als Exkursionsziel für außerschulisches Lernen

Scheitern am sperrigen Gegenstand, der erziehe- ist keine Banalität. Eine Exkursion, deren Teilneh- rische Fehltritt auf dem rutschigen Boden eines Ortes merinnen und Teilnehmer nicht freiwillig an eine KZ- wie Auschwitz wäre wohl für jeden verantwortungs- Gedenkstätte fahren, wird entweder im Ritual erstar- vollen Didaktiker und Unterrichtspraktiker schmerz- ren oder zu Frustrationen führen, die vermeidbar lich, und doch steht es drohend im Raume. gewesen wären.

Einen erfreulich pragmatischen Ansatz auf der Basis Es gibt nicht die Methodik des Gedenkstättenbe- einer pointierten Synthese des aktuellen Diskussions- suches. Mehr noch als im konventionellen schu- standes zum Thema, den man auch als Ermutigung lischen Geschichtsunterricht gilt es, das Lernarrange- lesen kann, liefert Mounajed (2007, 190): „KZ-Ge- ment möglichst offen zu gestalten, die Methode und denkstättenbesuche mit Schulklassen haben in der das Vorgehen vor Ort durch die Schülerinnen und Planung und Durchführung die Spezifi ka dieses be- Schüler möglichst autonom wählen und gestalten zu sonderen Lernortes zu berücksichtigen. Hierzu gibt es lassen. Weniger ist hier mehr, und alle Gedenkstät- einerseits viele wertvolle Hinweise in der gedenkstät- ten machen vielfältige Methoden- und Materialange- tenpädagogischen Literatur; andererseits gelten na- bote, die in einem geeigneten Rahmen forschend- türlich für KZ-Gedenkstättenbesuche Empfehlungen, entdeckendes Lernen anregen können. die sich generell auf das außerschulische Lernen be- ziehen.“ Der Umstand, dass die Ressource Zeit zu beachten ist und im Zweifelsfall wohl nie in ausreichendem Konkret mündet dies in folgende fünf Essentials, de- Maße zur Verfügung steht, ist für jeden Unterrichts- ren Beachtung mindestens eine tragfähige Grundla- praktiker und besonders jeden Geschichtslehrer nun ge eines eigenen Gedenkstättenprojektes abgeben tatsächlich eine Trivialität. Damit ist aber auch ein kann.5 weiterer Einwand gegen Kurzzeitbesuche im Rah- men von Tagesfahrten formuliert, denn - das ist vor- Eine Integration in den Fachunterricht ist empfeh- hersehbar – bei derartigen Veranstaltungen reicht lenswert, für Wandertage und Klassenfahrten gibt es die Zeit nie. geeignetere und weniger verfängliche Ziele. Die Zwänge des institutionellen Rahmens Schule wirken Zeit und Raum müssen nicht zuletzt auch für eine an diesem Punkt oft genug besonders hemmend, Auseinandersetzung mit Emotionen für alle Beteilig- auch das im Folgenden skizzierte jahrgangsüber- ten zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang greifende Projekt konnte naturgemäß nicht bei einer gilt es sensibel auf Schülerverhalten, auch vermeint- spezifi schen Lerngruppe in einer Unterrichtseinheit lich deviantes, zu reagieren. Niemand wird zum Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht der Betroffenheit erzwingen wollen, Phasen des gemein- Jahrgangsstufe 12 ansetzen. Die Exkursion war nicht samen Gedenkens und der enthierarchisierten Teil einer Unterrichtseinheit, sondern eines Projektes Kommunikation darüber als „emotionales Ventil“ im Rahmen einer schulischen Projektwoche. Als sol- (Mounajed 2007, 191) er höhen gleichwohl die ches wurde sie bereits in den davor liegenden Mona- Chance, die Folgen emotionaler Überforderung zu ten im Rahmen von Vortreffen außerhalb des Regel- verhindern. unterrichts gezielt inhaltlich und bezüglich der Teil- nehmererwartungen sowie dessen, was Auschwitz Offenbar neigen Lehrende gerade in Bezug auf die emotional bedeuten kann, vorbereitet. Emotionalität der KZ-Gedenkstätten zu kontrapro- duktivem Verhalten, auch zu Unterschätzung ihrer Unvorbereitet, unvermittelt sollte niemand mit einer Schülerinnen und Schüler: „Aus der Angst heraus, Schülergruppe eine KZ-Gedenkstätte besuchen. Im die Schüler könnten sie blamieren oder eventuell Gedenkstättenalltag und der Handhabung von Ex- nicht verstehen, worum es bei dem Gedenkstättenbe- kursionen an Schulen zeigt sich jedoch oft genug ein such geht, ermahnen sie nämlich oftmals zu korrektem gegenteiliges Bild.6 „Nur wenn die Schüler in der Verhalten und formulieren moralische Ansprüche. [...] Mehrzahl an der bevorstehenden Exkursion interes- Sie sehen in der Gedenkstätte oftmals nur den Lern- siert sind, ist ein Erfolg der Unternehmung wahr- ort, aber nicht den Ort der Trauer und des Geden- scheinlich.“ (Mounajed 2007, 191) Diese Feststellung kens.“ (Kuhls 1996, 45)

5 Ähnliche Anregungen auch bei Barlog-Scholz (1994, 173ff.) 6 Zum Gedenkstättenalltag und seinen Herausforderungen aufschlussreich und journalistisch anregend Finger (2008)

122 Lernort Auschwitz als Exkursionsziel für außerschulisches Lernen

Es sind damit in aller Komprimierung zentrale Gelin- Auschwitz große Bedeutung zu. Fast alles ist erhal- gensbedingungen für einen lohnenden und sinn- ten, wenn nicht musealisiert. Auschwitz als Gedenk- vollen Umgang mit KZ-Gedenkstätten und in Umris- ort fokussiert wie kein anderer Ort die Genese, die sen die diesen außerschulischen Lernorten zuge- Praxis und die Folgen nationalsozialistischer Ver- sprochenen Potenziale formuliert. Sie geben im Fol- nichtungspolitik, aber auch die Schwierigkeiten des genden eine Folie ab für die Skizze eines im Januar Umgangs mit dieser Geschichte. Wohl kein zweiter 2009 mit Schülerinnen und Schülern der Jacob- Gedenkort ist bezüglich seiner räumlichen Ausdeh- Grimm-Schule in Kassel durchgeführten Exkursions- nung (hierbei ist nicht nur an die Lagerkomplexe, projektes nach Oświęcim/Auschwitz. sondern auch an das sog. „SS-Interessengebiet Auschwitz“ zu denken), der Menge, der Authentizi- tät und des Erhaltungszustandes der gezeigten Ex- Der Lern- und Gedenkort Auschwitz: Kann ponate, des Symbolgehaltes mit Auschwitz ver- man Auschwitz verstehen? gleichbar. Nicht zuletzt steht mit der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim ein Haus zur „Auschwitz bildete den Brennpunkt der beiden ideo- Verfügung, dessen Funktion mit „Unterbringung logischen Leitgedanken des nationalsozialistischen und Verpfl egung“ nur unzureichend beschrieben Regimes: Es war der größte Schauplatz des Massen- ist. Es handelt sich vielmehr um einen Ort, der an mordes an den europäischen Juden und ein Kristalli- der Schnittstelle von Lagerkomplexen und moder- sationspunkt der Siedlungs- und ‚Germanisierungs- ner Stadt liegt. Die Begegnungsstätte bietet ein Re- politik’. Vernichtung und ‚Lebensraumpolitik’ ver- fugium mit Studien- und Entspannungsmöglich- schmolzen hier konzeptionell, zeitlich und räumlich.“ keiten, aber auch einen Platz, an dem man inmitten (Steinbacher 2004, 8) der Schrecknisse der Gedenkstätte für eine Zeit „wohnen“ kann, an dem man auch, wie es Schü- Was Auschwitz also ist, wofür es historisch steht, lerinnen und Schüler beschreiben, „normal“ sein scheint mithin unzweifelhaft zu sein.7 Auch der erin- kann.8 nerungskulturelle Stellenwert der Chiffre „Auschwitz“ ist Allgemeingut; daran ändert auch nichts, dass die Kann man Auschwitz verstehen? Beantwortet sich die einschlägigen Schlagworte von Adorno, Celan etc. Frage nach dem „Warum“ am Ort der Verbrechen? meist infl ationär und entsprechend inhaltlich abge- Wer sich mit Schülerinnen und Schülern auf den Weg schliffen durch die Diskurse getrieben werden. Wo- nach Auschwitz macht, sollte nicht nur eine Studien- rin liegen aber neben den fachlichen Gehalten die fahrt planen, sondern bedenken, dass das Verlassen didaktischen Potentiale? Und ist Auschwitz über- der Schule und ihrer institutionellen und syste- haupt „didaktisierbar“? mischen Beengungen über die erschütternde Be- gegnung mit dem historischen Ort zwangsläufi g Angesichts der Umstände, dass die historisch-poli- auch eine Begegnung mit sich selbst und dem eige- tische Erziehung sich mehr als sechzig Jahre nach nen Standpunkt in der Geschichte mit sich bringt.9 dem Ende des Zweiten Weltkriegs veränderten Ge- gebenheiten zur stellen hat, weil unmittelbare per- Auschwitz ist letztlich nicht zu begreifen. Es sperrt sönliche und generationale Bezüge wegbrechen, sich gegen pädagogisch-didaktische Strategien und die Stimmen der Zeitzeugen verstummen und das Planungen, gegen Lernzieltaxonomien, Operationa- Thema NS-Vernichtungspolitik wohl nicht mehr au- lisierung und unterkühlt-analytisches „Verstehen- tomatisch auf Interesse und Empathie stößt, kom- Wollen“ oder Kompetenzorientierung.10 Das bedeu- men der Authentizität und Zugänglichkeit des Ortes tet nicht, dass ein kognitiver Erkenntnisgewinn durch

7 Eine umfassende historische Monographie fehlt gleichwohl. Aus der kaum überschaubaren Literatur zur Geschichte der Lager und des Ortes Auschwitz sei neben der Überblicksdarstellung Steinbacher (2004) v.a. Van Pelt/ Dwork (1998) erwähnt, darin eine ge- naue Schilderung der Entwicklung der Lager und der Abläufe ihres Betriebes sowie eine historische Verortung von Oświęcim/ Auschwitz, welche die Kontinuitäten der Ostexpansion und „Germanisierung“ offenlegt. Eine äußerst prägnante und dabei aspekt- reiche Darstellung ist Reichel (2002). Nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Arbeit mit Schülergruppen vor Ort von großem Wert ist Czech (1989). Das Werk mit seiner immensen Forschungsleistung bietet ergiebige Ansätze für forschendes Ler- nen, da es präzise Antworten auf Fragen gibt, wie etwa „Was geschah heute vor ... Jahren an den Orten, die wir gesehen haben?“ 8 Zur Geschichte der Jugendbegegnungsstätte und ihrem pädagogischen Programm Szuster (2007), Wittmeier (1997) sowie Krebs (1993). Kontakt: http://www.mdsm.pl 9 Zu diesem Aspekt hilfreich bei der Planung von Exkursionen ist Kößler (1996). 10 Sehr dezidiert dazu Wittmeier (1997, 131ff.)

123 Lernort Auschwitz als Exkursionsziel für außerschulisches Lernen

eine Exkursion nach Auschwitz nicht möglich ist, ver- Schülern heraus, eine für die Exkursion ideale Grö- mutlich stellt er sich sogar zwangsläufi g auf dem ße.16 Den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern Wege der Nachbereitung ein, er sollte jedoch nicht aus allen drei Jahrgangstufen war klar, „worauf sie zum wichtigsten Gradmesser für den Erfolg eines Ex- sich einlassen würden“: Befragt nach Motivationen kursionsprojektes erhoben werden. Die große di- für die Teilnahme an dem Projekt wurden v.a. die in- daktische Chance liegt m.E. in der individuellen, dividuelle Annäherung, das „Sehen mit eigenen Au- auch durch die Gruppe getragenen „fragenden An- gen“, aber auch der Versuch „verstehen zu wollen“ näherung an die menschliche Katastrophe, die Au- benannt, Ängste vor emotionaler Überforderung schwitz symbolisiert.“11 und den Anstrengungen einer solchen Reise im Win- ter angeführt. Gerade die Reisezeit Ende Januar bie- tet jedoch neben schulorganisatorischen Aspekten „Ich wollte Auschwitz einfach mit (Halbjahresende) mehrere große Vorteile: Erstens eigenen Augen sehen“:12 besteht die Möglichkeit, die Gedenkfeierlichkeiten Skizze eines Exkursionsprojektes um den „Befreiungstag“ mitzuerleben und über die- se zu refl ektieren. Zweitens sind die touristischen Ak- Der Plan, mit einer Schülergruppe der Jacob-Grimm- tivitäten in den Gedenkstätten auf ein Minimum re- Schule Kassel13 an die Orte des ehemaligen Konzen- duziert, es herrscht kein Massenaufl auf. Drittens ver- trations- und Vernichtungslagerkomplexes Ausch- leiht die Winterkälte dem Ort eine eigene bedrü- witz zu fahren, entstand gedanklich im Januar 2007, ckende Atmosphäre, die auch nur die Ahnung von als ich selbst erstmals mit Kolleginnen und Kollegen Idylle (die Gegend um Birkenau ist landschaftlich sowie Lehrerinnen und Lehrern im Vorbereitungs- durchaus reizvoll) überdeckt. Auch die mehr als dienst des Studienseminars für Gymnasien in Kassel zehnstündige Bahnfahrt ist aus meiner Sicht einem Auschwitz besuchte. Durchgeführt wurde die eigene „Billigfl ug“ vorzuziehen. Die Annäherung an Ausch- Exkursion mit Schülerinnen und Schülern Ende Janu- witz ist eine andere, allmählichere, passendere. ar 2009 während unterrichtsfreier Projekttage, die Vorbereitungen mit der Schülergruppe begannen Der erste Tag in Oświęcim/Auschwitz ist der 27. Ja- bereits im Herbst des Vorjahres.14 Im Verlaufe mehre- nuar, der Tag an dem die Rote Armee 1945 die La- rer Treffen wurden Erwartungen abgeglichen, Grund- gerkomplexe von Auschwitz befreite und heute in- informationen vermittelt und reisepraktische As- ternationaler Gedenktag. Er beginnt zunächst mit pekte besprochen. Entscheidend für das Gelingen einer Erkundung der modernen Stadt Oświęcim. dieser Vorbereitungen ist eine Balance zwischen Versöhnlich, dass mittlerweile wieder jüdisches Le- größtmöglicher Schüler-Orientierung und der Set- ben im Jewish Centre stattfi nden kann, die alte Sy- zung obligatorischer Inhalte durch den Lehrer.15 Dies nagoge wieder als solche, aber auch als Museum bringt zu einem gewissen Teil auch eine Verände- und Erinnerungsstätte an eine jahrhundertealte rung der Lehrerrolle mit sich. Auch ich habe mich wechselvolle christlich-jüdische, deutsch-polnische während der gesamten Exkursion als jemand ge- Symbiose genutzt werden kann. Verstörend, dass es fühlt, der sich – zusammen mit seinen Schülerinnen in Oświęcim heute noch eine „Chemikersiedlung“ und Schülern – fragend dem Ort Auschwitz annähert. gibt, die auf das vom IG-Farben-Konzern betrie- bene Lager Auschwitz III Monowitz zurückgeht, dass Die Resonanz auf das Projekt in der Schülerschaft ein riesiger, nicht sprengbarer deutscher Betonbun- war von Beginn an groß, letztlich kristallisierte sich ker den historischen Marktplatz verschandelt, dass eine Teilnehmergruppe von 15 Schülerinnen und eine im Sommer beliebte Badestelle am Fluss Sola

11 Lüderwaldt (2003, 252). Der Beitrag bietet zudem eine hervorragende Orientierung und Hilfe bei der Planung eigener Projekte und deren didaktischer Legitimation. Ähnlich und ebenfalls sehr hilfreich ist August (1996) 12 Die Zitate in den Überschriften sind anonymisierten Evaluationsbögen entnommen, die zu Beginn und nach Abschluss des Pro- jektes von den beteiligten Schülerinnen und Schülern bearbeitet wurden. 13 Die Jacob-Grimm-Schule Kassel ist ein Oberstufengymnasium mit ca. 600 Schülerinnen und Schülern. Kontakt und Informationen unter http://www.jgs-kassel.de/ 14 Mein Dank gilt meiner Kollegin Annabelle Weyer, die das Projekt engagiert begleitete. 15 Das letztlich verwirklichte Exkursionsprogramm ist beigefügt. Dieses ist selbstverständlich optimierbar, aber auch organisato- rischen Aspekten und der Verfügbarkeit logistischer Ressourcen vor Ort geschuldet. Ein klares Manko ist, dass für einen Besuch von Krakau, der einen bewussten Gegenpol zu Auschwitz/Oświęcim bietet, keine Zeit war. 16 Es entstanden Kosten in Höhe von ca. 250,-€ pro Person, die zum Teil über einen Zuschuss der Hessischen Landezentrale für poli- tische Bildung abgefedert werden konnten.

124 Lernort Auschwitz als Exkursionsziel für außerschulisches Lernen

unter den Einheimischen wegen ihrer Nähe zum Die verbleibenden Tage sind dicht gefüllt mit Füh- ehemaligen Wohnhaus des Lagerkommandanten rungen im sogenannten „Stammlager“ und in Birke- als „Villa Höß“ bekannt ist. Ein Spaziergang durch nau, in der Kunstausstellung (auch die gibt es in Au- das wenig bekannte und beachtete heutige schwitz) mit ergreifenden Werken von Häftlingen. Ei- Oświęcim ist eine Spurensuche, „wer sich darauf gene Begehungen auf dem Gelände der Lager, einlässt, kann die Geschichte von Auschwitz ansatz- Möglichkeiten der Vertiefung der notwendigerweise weise im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. [...] zunächst fl üchtigen Eindrücke aus den Führungen Wer sich diese Mühe macht, wird schlicht mehr über durch Frau Ewa Pasterak aus Oświęcim. Diese Füh- Auschwitz wissen.“ (Dethlefsen 1997, 125 und 128; rungen beschrieben die Schülerinnen und Schüler Frysztacki 1997) später übereinstimmend als sehr beeindruckend. Im Sinne einer zeitgemäßen Museumsdidaktik steht die Nachmittags der Fußweg nach Birkenau. In unmittel- „Frontalführung“ in der Kritik. In den Gedenkstätten barer Nähe einer Einfamilienhaussiedlung die soge- in Auschwitz ist sie unverzichtbar. Sie legt die Grund- nannte, heute kaum bekannte „Alte Judenrampe“: lage für die so wichtigen eigenen Erkundungen auf Hier endeten die Züge mit den weitaus meisten dem Gelände und in den Länderaustellungen. Transporten aus ganz Europa, bevor erst im Sommer 1944 die bekannte „Rampe“ in Birkenau in Betrieb In Birkenau lesen wir an den Fundamentresten der genommen wurde, um die Logistik der Vernichtung Baracke 24, vermutlich dem letzten „Wohnort“ der zu optimieren. Diese Rampe und das Torgebäude Lilli Jahn aus Immenhausen bei Kassel, deren letzten von Birkenau kennt jeder, die „Alte Judenrampe“ erhaltenen Brief. Es führt ein direkter Weg aus Kassel kaum jemand. Bilder überlagern die Orte. - wie wohl aus jeder deutschen Stadt - nach Ausch- witz.17 Abends Refl exions- und Auswertungsge- In der Todeszone von Birkenau, bei den Ruinen der spräche in der Gruppe. Die Teilnehmerinnen und Gaskammern und Krematorien das deplaziert wir- Teilnehmer formulieren ihre Fragen und manchmal kende monumentale Mahnmal und die Rituale des Antworten, teilen ihre Beobachtungen mit. Das Gedenkens. Von Kameras umlagerte trauernde braucht Zeit. Vielleicht sind dies die wichtigsten ehemalige Häftlinge, erkennbar an Teilen ihrer „nachhaltigsten“ Momente des Projektes. Lagerkleidung und somit begehrte Fotomotive, schlangestehende und frierende internationale Di- „Bilder im Kopf“ heißt ein von einer Mitarbeiterin der plomaten mit Blumengebinden, Handys und Kerzen Jugendbegegnungsstätte moderiertes Refl exions- in den Händen, am Abend zwanzig Sekunden Be- konzept. Auch hier unterschiedliche Sichtweisen von richterstattung in der deutschen Tagesschau. Und Schülerinnen und Schülern andererseits und den be- wir verstehen, was das böse Wort vom „Kranzab- gleitenden Lehrern. „Warum eine Auseinanderset- werfen“ meint. Später in der Jugendbegegnungs- zung mit Fotos, die nicht die eigenen sind?“ „Warum stätte die grauenhaften Bilder des Filmes von der eigentlich nicht?“ Die Diskussion ist produktiv und Befreiung 1945, die zu kontroverser Diskussion füh- legt ein Fundament für die Nachbereitung des Pro- ren. „Ich fi nde den Film nicht gut gemacht!“ Geht es jektes mit einer eigenen Fotoausstellung. darum? Subjektive Befi ndlichkeit der emotional herausgeforderten Jugendlichen im Widerstreit mit Am letzten Abend schauen wir gemeinsam den Film der Sperrigkeit des zeitgeschichtlichen Dokuments. „Am Ende kommen Touristen“ (2007) über diesen Das sind sie, die erwähnten „veränderten Gegeben- Ort Auschwitz/Oświęcim, gedreht an den Orten der heiten“ zeitgenössischer Gedenkstättenpädagogik, vergangenen Tage, auch in der Jugendbegegnungs- die es gilt auszuhalten und auszuagieren. Ich würde stätte.18 Wiedererkennen. Vieles haben wir genau so den Film wieder zeigen, nicht um Betroffenheit zu empfunden. An diesem Ort, an dem wohl nichts völ- erregen, sondern als Impuls, als Chance zum lig normal ist. Diskurs.

17 Um den regionalen Bezug herzustellen, hatten die Schülerinnen und Schüler Doerry (2002) vorbereitend gelesen. Regionale Be- züge zu nahezu allen deutschen Städten und Regionen sind leicht über das mittlerweile online für Recherchezwecke zur Verfügung stehende, vom Bundesarchiv herausgegebene „Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933-1945“ herzustellen. http://www.bundesarchiv.de/bestaende_fi ndmittel/gedenkbuch/index.html 18 Hilfreich dazu: Bundeszentrale für Politische Bildung (2007)

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Stimmen aus den nach Abschluss der Fahrt bearbeiteten Evaluationsbögen: „Man sollte sich vorher bewusst machen, was an diesem Ort geschehen ist. Es ist eine enorme Belastung dies alles zu sehen. Aber egal wie schrecklich es ist, man sollte es sehen, es erleben – um zu gedenken und vor allem um zu verstehen.“ „Ich bin nicht sicher, ob Auschwitz rechtsextreme Menschen wieder zur Vernunft bringen kann, aber Menschen in unserem Alter und von einigermaßenem Verstand werden sicherlich nicht zu Rechtsextremen, wenn sie Auschwitz gesehen haben.“ „Auschwitz war für mich eine enorme psychische Belastung, obwohl mir sehr bewusst war, was mich erwartet.“ „Der Besuch in Auschwitz macht trockene Fakten anschaulich. Man wird das Gesehene nie wieder vergessen.“ „Die vielen Touristen und der Alltag dort waren irgendwie erschreckend.“ „Es kommt zu Begegnungen mit anderen Besuchern und das eigene Gefühl an solch einem Ort lässt sich nur dort erleben.“ „Diese Fahrt stellt einen kleinen Schritt zu einem Ziel dar, welches nur annähernd erreicht werden kann. Aber die Teilnehmer solcher Fahrten tun dies in der Regel freiwillig und so können die ‚Andersdenkenden’ schlecht erreicht werden. Der weitere Austausch in der eigenen Schule, aber auch darüber, hinaus wären Schritte in Richtung Toleranz.“

Fazit: „Es ist eben doch etwas anderes, so haben, das verstetigt werden und das Angebot der einen Ort des Schreckens ‚live’ zu erleben“. Jacob-Grimm-Schule auch in Zukunft bereichern soll.

Was bleibt? Zunächst, als Ergebnis („Produkt“) des Was wurde bewirkt? Kann Auschwitz gewissermaßen Projektes der Versuch, mit der Photoausstellung „Bil- gegen Rechts immunisieren? Wer nichts „darüber“ der aus Auschwitz, Bilder von Auschwitz“ etwas von lernen will, der wird es auch im Angesicht von Ausch- unseren Eindrücken und Sichtweisen in die Schulöf- witz nicht tun. Dies sehen die Teilnehmerinnen und fentlichkeit zu tragen. Alle Teilnehmer stellten „ihr“ Teilnehmer mit bemerkenswertem Realismus eben- Bild von Auschwitz zusammen mit einem Gedanken, so. Sie formulieren aber auch, die Fahrt nach Ausch- einem Schlagwort, einem Quellenzitat vor. Siebzehn witz „habe sie weitergebracht“ und „noch sehr lange sehr persönliche, überraschende, manchmal auch beschäftigt“. Hier deutet sich die Ausbildung einer provokante Blicke auf Auschwitz, öffentlich gemacht doppelten historisch-politischen Handlungskompe- als „visuelle Stolpersteine“ im Schulgebäude, Text- tenz an: Einerseits erschließen sich Schülerinnen und splitter geschrieben in den ausgeleierten Typen einer Schüler an Gedenkstätten handelnd zahlreiche As- mechanischen Schreibmaschine, die an die in Ausch- pekte aller drei fachspezifi schen Kompetenzen im witz ausgestellten Dokumente der Täter erinnert. Es Umgang mit Geschichte,19 andererseits wird die Un- war nicht einfach, sich auf einen Titel und eine Form zu terstützungsfunktion der Gedenkstättenbesuche für einigen; das Ergebnis stellt uns am Ende zufrieden. die Ausbildung eines angestrebten gesellschaft- Die bei dem Besuch aufgeworfenen Fragen und In- lichen Handelns im Sinne des Erlernens und Lebens halte wurden weitergedacht, aufbereitet und das klei- von Liberalität, Demokratie und daran geknüpfter ne Ausstellungsprojekt ermöglichte der Schulöffent- Wertsysteme erkennbar. lichkeit schließlich Einblicke in die intensive individu- elle Auseinandersetzung der Teilnehmerinnen und Die tendenzielle Offenheit der Aussagen zur Wir- Teilnehmer mit dem Ort Auschwitz. kung gedenkstättenpädagogischer Exkursionen gilt es zu akzeptieren, selbst wenn man es als Lehrer viel- Darüber hinaus, bestätigt durch vielfältigen Zuspruch leicht gerne genauer hätte.20 Genauer hinschauen und die Rückmeldungen der Teilnehmergruppe, muss man bei einzelnen Diskussionsthemen aus den habe ich das Gefühl, mit dieser Exkursion etwas Sinn- Refl exionsrunden. Da sind die offenbar unvermeid- volles, pädagogisch Befriedigendes angestoßen zu lichen, um den Komplex der deutschen Schuld und

19 Zugrunde gelegt wird das pragmatische Kompetenzmodell für das Fach Geschichte bei Conrad (2007, 6f.), welches den gelun- genen Versuch einer handhabbaren Synthese der z.Zt. diskutierten Kompetenzmodelle für das Fach Geschichte darstellt. 20 Es stellt sich die Frage, ob der Besuch der Gedenkstätte Auschwitz in dieser Form übertragbar auf andere Gedenkstätten ist. Auch stellt sich natürlich die Frage nach der Eignung anderer Gedenkstätten für den erkundenden Besuch mit Schülern und Schüle- rinnen.

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Verantwortlichkeit kreisenden Topoi von den Erfah- verhindert werde. Dies sind Fragen und Denkfi - rungen im Ausland: In England (Frankreich, den Nie- guren, die zur Auseinandersetzung, ggf. zum Wider- derlanden etc.) als Deutscher mit dem Hitlergruß spruch reizen. Offenbar sind sie im Kontext von künf- bedacht. Hat das wirklich fast jeder schon einmal er- tigen Gedenkstättenexkursionen nach Auschwitz zu lebt? Und warum ist es den Teilnehmerinnen und bedenken. Sie verdeutlichen einmal mehr, dass ein Teilnehmern so wichtig, darüber zu reden, dass es in derartiges Projekt nicht statisch ist, sondern jeweils Auschwitz keine deutsche Länderaustellung gibt? von Neuem fordernd. Und spannend. Der Aus- Wäre eine solche überhaupt wünschenswert? Geht spruch „Nächstes Jahr in Auschwitz“ (geprägt von es um die Fragen nach dem Sinn und der geeig- einem langjährigen Begleiter ähnlicher Projekte) neten Form eines solchen deutschen Beitrags? Oder (Lehmann 2007) klingt so für mich nicht zynisch, son- darum, dass „man als Deutscher“ eben keine Aus- dern er drückt Vorfreude auf das nächste Projekt stellung haben dürfe, weil es nicht gewünscht sei, ja aus.

Das Programm Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag 26.01.2009 27.01.2009 28.01.2009 29.01.2009 30.01.2009

- Ganztätig Anfahrt, Frühstück Frühstück Frühstück Frühstück - Ankunft in - Einführung in das - Kunstausstellung, - Ausführliche - Ganztägig Bahn- Oświęcim ca. 19h, Angebot der IJBS Länderaus- Führung in Birkenau fahrt nach Kassel - Organisatorisches o.ä. stellungen in - Zeit für Fotos Auschwitz I Abendessen Vormittags: - Shuttlebus zum (= „Stammlager“) - Oświęcim kennen Stammlager dort lernen – Stadtfüh- Mittagessen Mittagessen rung, ggf. Selbster- - Ausführliche - Fotos, eigene kundung und Führung durch Erkundungen im -führung Auschwitz I Stammlager Mittagessen Abendessen - Am späteren - Gang nach Birke- - Tagessauswertung Nachmittag nau, in dessen - Überlegungen zur Refl exion nach dem Verlauf Besuch/ Ausstellung in der Konzept „Bilder im Erkundung der sog. Schule, Vorberei- Kopf“ „Alten Judenram- tung derselben etc. pe“ Abendessen - Danach Abend zur - Besuch der zentra- - Abschluss/Auswer- freien Verfügung len Veranstaltung tung/Refl exion des zum Befreiungstag Aufenthaltes mit dem Film “Am Ende Abendessen kommen Touristen“ - Tagesauswertung - Danach Abend zur - Ggf. Film von der freien Verfügung Befreiung - Abend zur freien Verfügung

26 Lehmann (2007)

127 Lernort Auschwitz als Exkursionsziel für außerschulisches Lernen

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Krebs, Jan (1993): Auschwitz: Ort des Gedenken, Ort der Begeg- Wittmeier, Manfred (1997): Internationale Jugendbegegnungs- nung. Die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim stätte Auschwitz. Zur Pädagogik der Erinnerung in der politischen (Auschwitz). In: Praxis Geschichte 3/1993, 59ff. Bildung, Frankfurt/M.

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128 Chancen des politischen Lernens am Beispiel Nationalsozialismus und Antisemitismus Geschichtskonstruktionen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund

Benjamin Haas

Motivation und Intention Diesem Beitrag wird daher zunächst eine Analyse der allgemeingesellschaftlichen Situation vorange- Ein präventiver Auftrag der politischen Bildung zum stellt, bevor im Einzelnen nach historischen Identi- Thema Rechtsextremismus beinhaltet nicht zuletzt die täts- und Geschichtskonstruktionen sowie antisemi- Frage, wie Lernwiderstände von gesellschaftlich mar- tischen und antizionistischen2 Haltungen im migran- ginalisierten Gruppen - hier von Jugendlichen mit Mi- tischen Milieu gefragt wird. In einem zweiten Teil grationshintergrund1 - zur besonderen Chance von werden diese Erkenntnisse mit der Lerngruppe ab- politischem Lernen werden. Dieser Frage wird im Fol- geglichen und davon ausgehend das hier vorzustel- genden anhand des Themas „Nationalsozialismus lende Unterrichtskonzept begründet. Da die didak- und Antisemitismus“ nachgegangen. tische Analyse Kern dieser Ausführungen ist, wird sie in der dargestellten Ausführlichkeit erläutert. Dies Soziale Realitäten multikultureller Gesellschaften beinhaltet zusätzlich die Aufforderung, das Unter- bedingen „ein Überdenken des pädagogischen Zu- richtskonzept mit seinen angefügten Materialien gangs zur Geschichte der Massenverbrechen des nicht unrefl ektiert in die Praxis zu übernehmen, son- Nationalsozialismus“ (Gierre/ Kößler 2000, 5). Wie ist dern den Kern der didaktischen Überlegungen auf in diesem Kontext die Bemerkung eines Jugend- die eigene Lerngruppe anzuwenden und davon aus- lichen mit Migrationshintergrund, „Adolf Hitler ist gehend das eigene Vorgehen subjektorientiert zu […] nicht unser Problem“ (von Borries 2000, 130), zu gestalten. deuten? Woraus lässt sich eine Legitimation dafür herleiten, dass sich Schülerinnen und Schüler nicht- deutscher Herkunft mit dem „negativen Erbe“ (Ame- Vorbemerkungen zur Einheit ry zit. nach Brumlik 2004, 144) der Aufnahmegesell- schaft auseinandersetzen sollen. (Georgi 2000) Es Basis der Auseinandersetzung um ein interkulturelles stellt sich die Frage, wie Geschichtskonstruktionen Lernen am Beispiel des Nationalsozialismus muss Jugendlicher mit Migrationshintergrund zum Anlass sein, dass die dem Migrationskontext entsprin- für historisch-politisches Lernen zu nehmen sind, genden Geschichtsbilder grundsätzlich in die deut- wie ein Lebensweltbezug bei offensichtlichen Lern- sche Mehrheitsgesellschaft integrierbar sind und Na- widerständen (antizionistischen und ansatzweise an- tionalgeschichte nicht zum Instrument gesellschaft- tisemitischen Haltungen) zu erreichen ist bzw. wie licher Exklusion wird. So ist bezüglich der Geschichts- Herausforderungen einer multikulturellen Gesell- bilder von Jugendlichen mit Migrationshintergrund schaft in Potenziale derselben umgewandelt werden festzustellen, dass das Thema Nationalsozialismus können. Oder kurz: wie alle Jugendlichen an der diese zutiefst bewegt, wobei sich der direkte Bezug Diskussion um die deutsche Vergangenheit partizi- zur Thematik von den Erfahrungen im Herkunftsland pieren können? bzw. der Herkunftskultur in Deutschland ableitet. Pro-

1 Personen mit Migrationshintergurnd meint alle zugewanderten, eingebürgerten Personen und Kinder von in Deutschland leben- den Migrantinnen und Migranten. 2 Zur aktuellen Problematik des Nahost-Konfl iktes siehe den Beitrag von Wendt in dieser Veröffentlichung.

129 Chancen des politischen Lernens

blematisch scheint jedoch, dass das Maß an Desinte- gruppe bei 70% und war bei 45% durch familiäre gration in der Aufnahmegesellschaft die ethnisch- Hintergründe in der Türkei, in Marokko und Pakistan kulturelle Identifi kation und die Akzeptanz islamisch- kulturell muslimisch geprägt. Aufgrund des andau- fundamentalistischer Orientierungen erhöhen und ernden Nahost-Konfl ikts war im sozialen Umfeld der anfällig für neue Formen des Antisemitismus3 ma- Gruppe von einer erhöhten Sensibilität gegenüber chen kann. dem Staat Israel und Menschen jüdischer Religion auszugehen. Gleichzeitig gab es in der Klasse jedoch Äußerungen von Schülerinnen und Schülern, in wel- kaum Vorurteile gegenüber Juden, allerdings Anzei- chen „Jude“ als Schimpfwort oder scheinbar plausi- chen eines antisemitisch geprägten Antizionismus. ble Erklärungsmuster wie „die Juden sind schuld an Die Formulierung „Du Jude“ war als Schimpfwort ge- …“ verwendet werden, stellen dabei jedoch noch läufi g.4 keine per defi nitionem antisemitische Haltung dar, sondern resultieren aus einer „Konkurrenz der Op- fer“, bei welcher Antisemitismus situativ, als dyna- Didaktische Konkretisierung misches, interpersonales Phänomen und Konglome- rat fl üchtiger Verdächtigungen auftritt und eine pro- Für die Betrachtung der Epoche des Nationalsozia- blematische Vermischung nachvollziehbarer Aner- lismus stellt sich die Frage, wie in so kurzer Zeit das kennungsforderungen mit antisemitisch struktu- politische System zusammenbrechen und durch die rierten Begründungen darstellt (Fechler 2006). Diese Diktatur des Nationalsozialismus ersetzt werden sind erst dann als antisemitische Haltungen zu wer- konnte. Dabei gilt es, die Verkettung von innen- und ten, wenn sie aus einer islamisch-fundamentalistisch außenpolitischen Umständen mit individuellem Han- konnotierten Variante von Israelkritik und Antikapita- deln von Personen in unterschiedlichen gesellschaft- lismus erwachsen. lichen Positionen und Kontexten zu untersuchen. Denn die damals wirksamen ideologischen Kon- Es ist daher hervorzuheben, dass Jugendliche mit zepte mit ihren antisemitischen Parolen und Einstel- Migrationshintergrund aufgrund sozialisationsbe- lungen mündeten schließlich in den millionenfachen dingter Einfl üsse mitunter zu antizionistischen und Völkermord, der durch eine Reduzierung auf Ursa- antisemitischen Stereotypen neigen, die eine Feind- chen wie die nationalsozialistische Ideologie, die seligkeit gegenüber Juden aufgrund unterschied- Person Hitler oder die sozioökonomische Lage nicht lichster nationaler Identifi kationen bedingen können analysiert werden kann (Hilberg 1999). Vielmehr voll- (Schäuble / Scherr 2006). Potenziert wird dies durch zog sich das Verbrechen durch eine Verschränkung eine erhöhte Akzeptanz von antisemitischen Positi- unterschiedlichster Ursachen, wobei die Ideologie onen unter muslimischen Erwachsenen, einem wach- des Antisemitismus zentral stand. senden Einfl uss islamistischer und antisemitischer Ideologien sowie dem Anpassungsdruck und der so- Um die Prozesshaftigkeit der politischen Entwick- zialen Desintegration in der Mehrheitsgesellschaft. lungen nachzuzeichnen, ist die Epoche des National- sozialismus vor allem von ihrer gesellschaftlichen Struktur auf das Phänomen des Antisemitismus hin Lerngruppenanalyse zu analysieren. Dabei gilt es jene individuellen Hand- lungsmuster zu thematisieren, die gesellschaftliche Die Anne-Frank-Schule in Raunheim weist bezüglich Vorgänge, von antisemitischen Diskriminierungen der Zusammensetzung ihrer Schülerinnen und Schü- bis hin zur systematischen Ausrottung, begünstigten, ler für den Großraum Frankfurt typische Merkmale um zu zeigen, dass der „Weg zur Diktatur des Natio- auf. So lag der Anteil an Schülerinnen und Schülern nalsozialismus [...] kein automatischer, unbeeinfl uss- mit Migrationshintergrund in der betreffenden Lern- barer Vorgang“ (Giere / Kößler 2001, 34) war.

3 Nach Benz ist Antisemitismus „der Prototyp des sozialen und politischen Ressentiments“ (Benz 2004, 25) und „agiert das Vorurteil gegen die Minderheit auf der ganzen Skala aus: von der diffamierenden Unterstellung der Beleidigung des einzelnen Individuums über Diskriminierung zur Gewalt gegen die Gesamtheit der Juden.“ (ebd., 234/235) Im antizionistisch begründeten Antisemitis- mus fi ndet sich eine vermeintlich islamisch-arabische Variante, die sich allerdings in ihrer Logik nicht grundsätzlich vom europä- ischen Antisemitismus unterscheidet. (vgl. Taguieff, in Holz 2005, 57) 4 vgl. Anhang: Fragebogen (17.4.08 )

130 Chancen des politischen Lernens

Dies beinhaltet folgende spezifi schen didaktischen vische Zugänge gefördert wurden. Dementspre- Forderungen: Zuerst ist von einem weiten Politikver- chend wurde sich um Adressatenorientierung und ständnis auszugehen, welches konzeptuelles Deu- ein hermeneutisches Verständnis der Äußerungen tungswissen favorisiert, um individuelle Aushand- der Schülerinnen und Schüler bemüht. So wurden zu lungsprozesse zu Grundfragen des menschlichen Beginn durch die Erstellung einer Mindmap und die Zusammenlebens darzustellen. Im Sinne einer Adres- Durchführung eines Fragebogens sowohl Vorwissen satenorientierung ist die Lebenssituation der Schüle- als auch spezifi sche Interessen der Klasse evaluiert. rinnen und Schüler als Ansatzpunkt für die Auseinan- Im weiteren Verlauf der Einheit wurde auf eine Schü- dersetzung zu nehmen, denn es geht darum, dass sie lerbemerkung6 eingegangen und die Gründung des selbst lernen müssen, ein refl exives Verhältnis zum Staates Israel thematisiert. Verstehen von Selbst und Welt zu entwickeln. Didak- tisches Handeln setzt so vor allem auf Deutungs-, Re- Der Aufbau der politischen Urteilsbildung verlief fl exions- und Kommunikationskompetenz, sowie Kri- nach dem Muster einer Lernspirale, welche prozess- tik- und Urteilsfähigkeit (GPJE 2004) und muss sich haft angelegt war und den Schülerinnen und Schü- gezielt mit den Lernvoraussetzungen auseinander- lern durch die eingehende Beschäftigung mit dem setzen, um für Schülerinnen und Schüler subjektiv Thema eine Revision und Erweiterung ihrer anfangs bedeutsam zu werden. getroffenen Urteile ermöglichte.

Auf diese Weise wird eine vor allem in heterogenen Vor dem Hintergrund dargestellter didaktischer Gruppen notwendige Subjektorientierung möglich. Prinzipien wurde sich am Konzept „Konfrontationen“ Historisch-politische Bildung sollte dabei problem- des Fritz-Bauer-Instituts orientiert. Dieses möchte auf und handlungsorientierte sowie exemplarische An- den generationellen Abstand und die veränderte sätze der interkulturellen Geschichtserziehung (von Präsenz historischer Erfahrungen aufgrund neuer Borries 2000) verwenden und die Kompetenz des Herkunftskonstellationen reagieren, indem die Diffe- selbstbestimmt-kritischen Urteilens verbessern (Eh- renz historischer Erzählungen als Chance für eine mann 2000). Ferner ist stets auf Kontroversität und Verständigung über Geschichte genommen wird. Refl exivität statt auf lineare Wissensvermittlung zu Dabei geht es um die Initiierung von Kommuni- setzen, um unter diesen Vorzeichen Orientierung kationsprozessen durch Selbstrefl exion und Aus- durch politisch-moralisches Urteilen zu fördern. Die tausch in der Lerngruppe mit dem Ziel, zwischen der Unterrichtsmethoden müssen daher die subjektive Ebene historischer Fakten und gegenwartsbezo- Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler fokus- gener Hand lungskompetenz zu vermitteln (Giere / sieren und davon ausgehend Handlungssituationen Kößler 2000). ermöglichen, welche der kulturellen Zusammenset- zung der Zielgruppe Rechnung tragen und so die In der Folge wurden besonders solche Methoden Refl exion der eigenen Handlung ermöglichen. verwendet, welche Perspektivenwechsel, Rollen- oder Empathieübernahme beinhalteten. Realisiert wurde dies durch ein Lernspiel, perspektivisches Qualifi zierte Positionsbestimmung Schreiben, eine Fallanalyse anhand fi ktiver Portraits, Rollenspiele und Stimmungsbarometer. Aufgrund vorangegangener didaktischer Überle- gungen wurde der Lernprozess dieser Einheit, über die Bearbeitung historischer Fakten5 hinaus, darauf- Lernprozess hin konzipiert, dass subjektorientiert-multiperspekti- (siehe: tabellarische Übersicht, Tab. 1)

5 Historische Fakten stellten die Grundlage für die darüber hinaus eingesetzten Methoden dar. Sie wurden in der Regel durch Quel- len erarbeitet, werden jedoch hier nicht näher dargestellt, da sie nicht Bestandteil der Problemlösung sind. 6 Schüler: „Aber wie kamen denn eigentlich die ganzen Juden vom Nahen Osten nach Europa?“ (16.5.08)

131 Chancen des politischen Lernens

Phase 1/1: Adressatenorientierung Auswertung durch Mindmap Die Klasse reagierte zuerst sehr verhalten auf die Beschreibung der Methode und Intention Aufforderung zum Brainstorming. Man habe kein In- teresse an einem historischen Thema. Die schließlich Die Schülerinnen und Schüler wurden aufgefordert erstellte Mindmap entkräftete die Tendenz dieser mittels Brainstorming Vorwissen zum Thema zu sam- Äußerungen, da ihr Inhalt auf breites Vorwissen so- meln und auf einer Folie festzuhalten. Die Methode wie thematische Präferenzen verwies. Eine Sensibili- des Brainstormings ermöglichte dabei freie Assozia- tät für Diskriminierungen und Ausgrenzungen zeigte tionen. Die im Unterrichtsgespräch erstellte Mind- sich dabei am Bedürfnis sich mit den „Motiven des map diente dazu Interessen zu sammeln, sich einen Judenhasses“ auseinanderzusetzen. Ein weiterer er- Überblick zu verschaffen und den Inhalt der kom- wünschter Gegenwartsbezug war im Unterthema menden Einheit unter Bezugnahme auf inhaltliche „Anne Frank“ zu erkennen.7 Ferner ist darin, wie un- und methodische Vorlieben der Schülerinnen und ter dem Aspekt „Widerstand“, die Forderung nach Schülern zu planen. Allgemein wurde dadurch ein einem exemplarisch-personenbezogenen Vorgehen adressatenorientiertes Vorgehen bevorzugt und das zu sehen. All dies lässt ein spezifi sches Interesse am Vorwissen aktiviert. Thema Nationalsozialismus erkennen, was sich aus dem Bestreben nach der Teilnahme an öffentlichen Diskursen speist.

Thema Methode Didaktische Begründung

Evaluation Vorwissen: Mindmap Adressatenorientierung; Nationalsozialismus politikdidaktische Diagnostik

Evaluation Vorwissen: Fragebogen Antisemitismus

Die Ideologie des Antisemitismus Lernspiel: „Die Sechs Richtigen“ Politische Urteilsbildung durch Exemplarität und Aprilboykott Fallanalyse; fi ktive Portraits Multiperspektivität Nürnberger Gesetze perspektivisches Schreiben

Nürnberger Gesetze Rollenspiel

Geschichte Israels und Lernspirale; Stimmungsbarometer Urteilsbildung Antisemitismus

Tab. 1: Tabellarische Übersicht der verschiedenen Phasen des Lernprozesses.

7 Dies ergibt sich aus dem Namen der Schule.

132 Chancen des politischen Lernens

Phase 1/2: Adressatenorientierung Auswertung durch Fragebogen Die Erhebung zeigte geringes Wissen über die jü- Beschreibung der Methode und Intention dische Kultur. Der Verweis auf den Nationalsozialis- mus war mit 12% gering. 50% der Klasse gaben an Mit Hilfe eines Fragebogens8 wurden Voreinstel- „Jude“ als Schimpfwort zu verwenden. Anzeichen an- lungen der Lerngruppe evaluiert. Durch die Erhe- tisemitischer Stereotype lagen darin, dass 37% der bung wurde eine fundierte politische Diagnose zum Schülerinnen und Schülern Juden die Attribute Thema Antisemitismus erstellt und gleichsam der „reich“, „geizig“ und „mächtig“ zuordneten. Hinsicht- Grundstein für eine im Verlauf der Einheit stattfi n- lich antisemitischer Voreinstellungen konnte jedoch dende Urteilsbildung gelegt. Um unterschiedliche nicht die für antisemitische Denkmuster klassische Geschichtskonstruktionen im multikulturellen Kon- Schuldumkehr festgestellt werden. Signifi kant höher text als Chance für politisches Lernen zu sehen, wur- war jedoch der israelbezogene Antisemitismus. 62% den diese Aussagen im Sinne subjektiver Wirklich- der Klasse waren „die Juden“ aufgrund der israe- keitskonstruktionen aufgenommen und im Verlauf lischen Politik unsympathisch und gar 86% würden der Einheit zu einem refl ektierten Werturteil erwei- das Vorgehen Israels mit dem der Nationalsozialisten tert. Dies ermöglichte einen lernstandsorientierten vergleichen. Dies verweist zum einen auf Unwissen und motivierenden Einstieg. als auch den vermuteten Einfl uss von muslimisch ori- entierten Peers, welcher eine verstärkte Orientierung an antizionistischen Positionen begünstigt, die je- doch noch nicht als antisemitische Haltungen zu be- werten sind.

M1 Antisemitismus-Fragebogen9

Was weißt du über Juden?

(Mögliche Antwortkategorien: Antisemitische Stereotype, Bezug auf den Nationalsozialismus, indifferent)

Ist Jude ein Schimpfwort für Dich?  Ja  Nein

Stimme ich Stimme ich Stimme ich Stimme ich gar nicht zu eher nicht zu eher zu voll zu Schuldumkehr Homosexuelle, Obdachlose und Juden sind selbst schuld, dass  man etwas gegen sie hat. klassisch Juden haben in Deutschland zuviel Einfl uss.  Juden sind durch ihr Verhalten an ihren Problemen selbst schuld.  israelbezogen Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer  unsympathischer. NS-vergleichend Was Israel heute mit den Palästinensern macht, ist nichts anderes  als das, was die Nazis mit den Juden gemacht haben.

8 vgl. Antisemitismus-Fragebogen (17.4.) 9 s. Heitmeyer 2004. Der mögliche Einwand gegen die von Heitmeyer übernommenen Items, sie würden Meinungen vorweg neh- men, ist einerseits durch den Verweis auf Lerngruppenanalyse und sachanalytische Überlegungen zu entkräften. Zum anderen dient das hierdurch provozierte Vorausurteil als wichtiger Startpunkt für die angestrebte Urteilsbildung.

133 Chancen des politischen Lernens

Phase 2/1: Urteilsbildung durch Lernspiel M2 Die sechs „Richtigen“ (Giere 2001, 5 ff.) „Die 6 Richtigen“ (Giere / Kößler 2001) Beliebige Einteilung der Klasse in 2 Gruppen Beschreibung der Methode und Intention (z.B. nach den Farben ihrer Hosen). Die Grup- pen positionieren sich auf verschiedenen Die Klasse wurde nach beliebigen Kennzeichen wie Seiten des Raumes. Gruppe 1 sucht nach Farbe der Hose, Lieblingsmarke oder Musikge- Kennzeichen, die es zulassen, die andere schmack in zwei Gruppen eingeteilt. Im nächsten Gruppe zu diskriminieren bzw. auszuschließen. Schritt wurde Gruppe 1 aufgefordert, Gruppe 2 zu Die beliebigen Gruppeneinteilungen werden betrachten und nach Kennzeichen zu suchen, auf- im Unterrichtsgespräch miteinander verglichen. grund derer diese diskriminiert und ausgeschlossen Dabei gilt es die Frage nach verschiedenen werden könnte. Es wurden drei Durchgänge des Gruppenzugehörigkeiten zu refl ektieren. Spiels durchgeführt, bevor es im Unterrichtsge- spräch gemeinsam refl ektiert wurde. Das Spiel „Die 6 Richtigen“ thematisiert auf handlungsorientiert-ex- emplarische Art Fragen von Gruppenzugehörigkeit und Gruppenbildung durch Ein- bzw. Ausschluss. Phase 2/2: Urteilsbildung durch Fallanalyse Der Verweis auf die Beliebigkeit dieser Mechanis- men verdeutlicht die Entstehungsweise von Vorurtei- Beschreibung der Methode und Intention len und liefert so Bezüge zum Thema Antisemitismus und multikultureller Lebenswirklichkeiten. In dieser Stunde wurden anhand verschiedener Fall- beispiele mögliche Reaktionen der Deutschen auf den Aufruf der Nationalsozialisten zum Aprilboykott Auswertung erörtert. Die Klasse wurde durch die Bearbeitung von fi ktiven Portraits aufgefordert, die Perspektive Das Spiel wurde von der Klasse sehr gut angenom- anderer Personen zu übernehmen und der Frage men. Schon nach der ersten Runde forderten die nachzugehen, wie sich die Person in der spezifi schen „Ausgeschlossenen“ auch ein Vorurteil für die ande- Situation verhalten haben könnte. Bei der Fallanalyse re Gruppe fi nden zu dürfen. In der gemeinsamen Re- gilt es, das eigene Urteil schrittweise durch die Über- fl exion erkannten die Schülerinnen und Schüler die nahme einer fremden Perspektive zu erweitern und Beliebigkeit von Gruppenbildungen und Ausgren- schließlich zu einem generalisierbaren politischen zung und zogen im Unterrichtsgespräch Parallelen Urteil zu gelangen. zu der Funktionsweise von Vorurteilen und Ideolo- gien. Dabei gaben sie teilweise eigene Erfahrungen So wurde durch Exemplarität die historische Situati- preis, problematisierten das Zusammenleben in he- on veranschaulicht und deutlich gemacht, dass poli- terogenen Gruppen und die in der Pubertät stattfi n- tische Urteile nicht zuletzt von individuellen Erfah- dende Entwicklung von Gruppenidentitäten. Hilf- rungen abhängig sind. Dies gleicht einer Erweite- reich bezüglich des Migrationskontextes war, die rung der Urteilsfähigkeit durch Analyse und Integra- daraus resultierenden Erfahrungen in dem ge- tion von persönlichen und sozialen Beweggründen, schützten Rahmen der Klassengemeinschaft zu the- welche den Schülerinnen und Schülern durch eine matisieren und keinen direkten Vergleich zwischen bewusste Gestaltung der Portraits in Bezug auf le- der heutigen Situation von Minderheiten und der da- bensweltnahe Motive wie Freundschaft, Partner- maligen der Juden zu ziehen. Dadurch wurde ihr ei- schaft und familiären Hintergrund erleichtert wurde. gener Minderheitenstatus implizit thematisiert und Damit dies die Kompetenz des selbstbestimmten Ur- ein emotionaler und exemplarischer Zugang zum teilens unterstützen konnte, wurde die Erarbeitungs- Thema Antisemitismus eröffnet. phase bewusst im Sinne einer Lernspirale struktu-

134 Chancen des politischen Lernens

riert. So kam es durch den Wechsel der Sozialformen subjektorientierten Zugang zur Thematik, welcher von Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit zu einer Er- gleichzeitig gegenwartsbezogene Handlungskom- weiterung der individuellen Perspektive, wodurch petenzen in Form einer Analyse der gesellschaft- die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ausgebaut lichen Voraussetzungen stärkte. Sie erkannten, wie und der Komplexitätsgrad des eigenen politischen individuelle Erfahrungen politische Urteile bedingen Handelns erweitert wurde. und welche politischen Verstrickungen aus persön- lichen Hintergründen erwachsen können. Da die ver- wendeten Motive der Erfahrungswelt der Schüle- Auswertung rinnen und Schüler entlehnt waren, ermöglichten sie unterschiedliche Zugänge und kontroverse Deu- Die Schülerinnen und Schüler bearbeiteten verschie- tungen bezüglich des Widerspruchs zwischen öko- dene Motive, diskutierten den Einfl uss von Familie nomischen Eigeninteressen und der Bedeutung von und Freunden, wogen Sympathien und eigene Unsi- Freundschaften. In der Phase der Ergebnissicherung cherheiten ab und simulierten schließlich eine poli- gaben die Schülerinnen und Schüler im Unterrichts- tische Handlung ausgehend von gesellschaftlichen gespräch fundierte und gut begründete Einschät- Umständen. Durch den Bezug zwischen Biographie zungen über das Verhalten entsprechender Per- und politischer Entscheidung erhielten sie einen sonen zum Boykott ab.

M3 Fallanalyse zum Aprilboykott

Einstiegsfolie Quelle: Deutsches historisches Museum Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!

135 Chancen des politischen Lernens

M3.1 Arbeitsblatt 1 (Anna): Der Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933

Im April 1933 wurden alle Deutschen von der nationalsozia- listischen Regierung dazu aufgefordert, keine jüdischen Ge- schäfte, Ärzte oder Rechtsanwälte mehr zu besuchen.

Anna Hecht ist Verkäuferin in einem Kaufhaus in einer deut- schen Kleinstadt. Ihr Chef stammt aus einer jüdischen Fami- lie, die schon seit langer Zeit in der Stadt wohnt. Vor kurzem wurde der alte kleine Laden durch ein neues großes Kauf- haus ersetzt. Das Geschäft ist wegen seines guten und güns- tigen Angebots in der ganzen Umgebung bekannt. Annas Chef ist ein sympathischer Mann, der vor allem für seine gute Bezahlung bekannt ist. Anna ist „nebenbei“ noch Haus- frau und Mutter von fünf Kindern. Sie selbst ist in keiner po- litischen Partei, aber ihr Mann geht manchmal zu Demons- trationen.

Seit dem es neue wirtschaftliche Probleme gibt, hat sie Quelle: Deutsches historisches Museum Angst um ihre Arbeit. Denn wenn das Kaufhaus nicht genug Kunden hat, muss der Chef die Angestellten entlassen. Gleichzeitig werden überall die Lebensmittel teurer. Sie wäre froh, wenn sie rasch aus der unsicheren politischen und wirtschaftlichen Lage herauskä- me. Eine Lösung kann sie sich nur mit einer ganz neuen politischen Führung vorstellen.

Arbeitsaufträge:

Einzelarbeit: Lese das Portrait. Unterstreiche und notiere wichtige Aussagen über die Person. (z.B. Name, Beruf, politische Einstellung)

Einzelarbeit: Überlege Dir, ob sich die Person dem Boykott angeschlossen hat oder nicht. Notiere es und begründe kurz Deine Meinung.

Gruppenarbeit: Stellt euch gegenseitig eure Überlegungen vor und einigt euch, ob sich die Person dem Boykott angeschlossen hat. Haltet euer Ergebnis auf der Folie fest und präsentiert dies der Klasse.

136 Chancen des politischen Lernens

M3.2 Arbeitsblatt 1 (Hermann): Der Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933

Im April 1933 wurden alle Deutschen von der nationalsozia- listischen Regierung dazu aufgefordert, keine jüdischen Ge- schäfte, Ärzte oder Rechtsanwälte mehr zu besuchen.

Hermann Stutzer kommt aus einer Familie, in der viele als Soldaten für Deutschland gekämpft haben. Auf diese Tradi- tion ist man in der Familie sehr stolz. Deshalb wurde er von seinem Vater schon früh auf eine Soldatenschule geschickt. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wird er Berufssoldat und hofft auf eine Karriere im Militär. Von 1914 bis 1918 kämpft er an der Westfront gegen Frankreich und erhält verschie- dene militärische Abzeichen für besondere Verdienste. Die Gemeinschaft von Männern an der Front gefällt ihm sehr, und die Kameradschaft unter den Soldaten bedeutet ihm sehr viel.

Hermann ist stolz auf die Leistungen des deutschen Militärs Quelle: Deutsches historisches Museum und ist verärgert über den Friedensvertrag von Versailles. Seiner Meinung nach kann dieser keine Grundlage für den Frieden sein, da er Deutschland aufgezwun- gen wurde. Außerdem wurde die deutsche Armee durch diesen Vertrag radikal verkleinert, weswegen er seit über 15 Jahren nicht mehr befördert wurde. Hermann ist der Auffassung, dass die politische Lage seiner persönlichen Soldatenehre, aber vor allem der Ehre des deutschen Volkes einen zu großen Scha- den zugefügt hat. Schuld daran sind nach ihm vor allem die Sozialdemokraten, weil sie den Vertrag zu schnell unterzeichnet hatten und versuchten, die Demokratie einzuführen.

Arbeitsaufträge:

Einzelarbeit: Lese das Portrait. Unterstreiche und notiere wichtige Aussagen über die Person. (z.B. Name, Beruf, politische Einstellung)

Einzelarbeit: Überlege Dir, ob sich die Person dem Boykott angeschlossen hat oder nicht. Notiere es und begründe kurz Deine Meinung.

Gruppenarbeit: Stellt euch gegenseitig eure Überlegungen vor und einigt euch, ob sich die Person dem Boykott angeschlossen hat. Haltet euer Ergebnis auf der Folie fest und präsentiert dies der Klasse.

137 Chancen des politischen Lernens

M3.3 Arbeitsblatt 1 (Margarete): Der Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933

Im April 1933 wurden alle Deutschen von der nationalsozia- listischen Regierung dazu aufgefordert, keine jüdischen Ge- schäfte, Ärzte oder Rechtsanwälte mehr zu besuchen.

Margarete Hausner ist die Tochter eines strengen Volks- schullehrers, der mit einer schweren Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte. Daher wird in der Fami- lie oft über den Krieg gesprochen. Die eigentlich Schuldi- gen für die schlechte Situation Deutschlands sind aus seiner Sicht die Juden. Sie sind sowohl schuld an der Wirtschafts- krise als auch dem Vertrag von Versailles.

Margarete selbst arbeitet in einem Büro der Stadtverwal- tung. Wegen der politischen und wirtschaftlichen Probleme hat sie große Angst vor der Zukunft. Sie befürchtet ihre Ar- beit zu verlieren. Auch mit ihrem Freund hat sie einige Pro- Quelle: Deutsches historisches Museum bleme, weil es ihr Sorgen bereitet, dass er sich so sehr für die Nazis einsetzt. Sie orientiert sich vor allem an der katholischen Kirche und politische Richtungen sind ihr egal.

Arbeitsaufträge:

Einzelarbeit: Lese das Portrait. Unterstreiche und notiere wichtige Aussagen über die Person. (z.B. Name, Beruf, politische Einstellung)

Einzelarbeit: Überlege Dir, ob sich die Person dem Boykott angeschlossen hat oder nicht. Notiere es und begründe kurz Deine Meinung.

Gruppenarbeit: Stellt euch gegenseitig eure Überlegungen vor und einigt euch, ob sich die Person dem Boykott angeschlossen hat. Haltet euer Ergebnis auf der Folie fest und präsentiert dies der Klasse.

138 Chancen des politischen Lernens

M3.4 Arbeitsblatt 1 (Otto): Der Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933

Im April 1933 wurden alle Deutschen von der nationalsozia- listischen Regierung dazu aufgefordert, keine jüdischen Ge- schäfte, Ärzte oder Rechtsanwälte mehr zu besuchen.

Otto Hauptmann arbeitet in Berlin in einer Elektromotoren- fabrik. Seit seiner Lehrzeit vor dem Ersten Weltkrieg ist er Mitglied in der Gewerkschaft. Er hat seit langem für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne gekämpft. Wegen der Wirtschaftskrise hat sich alles jedoch nur verschlechtert. Trotzdem denkt Otto, dass die Sozialdemokraten und die Arbeiterbewegung die Situation verbessern werden, sobald sich die wirtschaftliche Lage wieder verbessert. Von seinem Chef, dem Besitzer der Fabrik, wird gesagt, dass er ein Jude sei. Dieser hatte zu Beginn der wirtschaftlichen Probleme zuerst nur die älteren Arbeiter entlassen.

In Diskussionen mit seinen Kollegen wird Otto immer häu- Quelle: Deutsches historisches Museum fi ger mit sehr radikalen Ansichten konfrontiert. Viele glau- ben, die Fabrikbesitzer müssten enteignet werden und die Arbeiter sollten die Fabriken übernehmen. Otto denkt aber eher, dass man Fachkenntnis braucht, um Fabriken oder den Staat zu lenken.

Arbeitsaufträge:

Einzelarbeit: Lese das Portrait. Unterstreiche und notiere wichtige Aussagen über die Person. (z.B. Name, Beruf, politische Einstellung)

Einzelarbeit: Überlege Dir, ob sich die Person dem Boykott angeschlossen hat oder nicht. Notiere es und begründe kurz Deine Meinung.

Gruppenarbeit: Stellt euch gegenseitig eure Überlegungen vor und einigt euch, ob sich die Person dem Boykott angeschlossen hat. Haltet euer Ergebnis auf der Folie fest und präsentiert dies der Klasse.

139 Chancen des politischen Lernens

Phase 2/3: Urteilsbildung durch Phase 2/4: Urteilsbildung durch perspektivisches Schreiben Rollenspiel

Beschreibung der Methode und Intention Beschreibung der Methode und Intention

Die Schülerinnen und Schüler setzten sich mittels Je zwei Schülerinnen und Schüler wurden aufgefor- eines fi ktiven Tagebucheintrages zu den „Nürnber- dert, ein Ehepaar beim Abendessen zu spielen, ger Gesetzen“ mit deren Auswirkungen auf den jü- welches über die antijüdische Politik diskutiert. Ausge- dischen Alltag auseinander. Der Eintrag wurde nach hend von der Debatte um das Thema „Freundschaft“ Vorgabe des perspektivischen Schreibens angefer- wurden subjektorientiert-multiperspektivische Zugän- tigt. Diese Lernmethode der Gestaltpädagogik ge eröffnet. Diskussionen in der Familie und im Freun- strebt die Einübung von Empathie an und dient als deskreis um Themen wie Selbstbestimmung, Ablö- Vorstufe zu Rollenspielen. Die phantasierte Ausfor- sung, Freundschaften, eine in Ansätzen stattfi ndende mulierung der Perspektive historischer Personen Lagerbildung in „Deutsche“ und „Nicht-Deutsche“ lässt die historische Situation realer werden, ver- oder auch der Minderheitenstatus von Teilen der Klas- stärkt das evozierte Einfühlungsvermögen und die se konnten so integriert werden (Giere / Kößler 2000). Komplexität des eigenen Urteils. Historische Fakten Die Methode des Rollenspiels dient der Verarbeitung werden aufgegriffen und durch alternative Hand- von Erlebtem und der Aneignung von Welt durch die lungsmöglichkeiten ergänzt. Vorwissen wird akti- Übernahme einer fremden Perspektive. Die Darstel- viert und historisches Lernen erhält eine subjektive lung stereotyper Handlungsweisen stärkt Problemlö- Komponente. Eine Erweiterung der biografi schen sekompetenzen und zeigt Handlungsalternativen. Erfahrungen liegt in der Übernahme einer fremden Gleichzeitig erfolgt im Rollenspiel eine Vermischung Perspektive (Giere / Kößler 2000). von Realität und Fiktion sowie von Rollenhandeln und eigener Weltsicht der Schülerinnen und Schüler. Das eigene Vorausurteil wurde durch den spielerischen Auswertung Umgang mit stereotypen Verhaltensweisen10 in Rich- tung eines Werturteils erweitert, indem es galt, Lö- Der angestrebte Lebensweltbezug zeigte sich bei sungsmöglichkeiten für die dargestellte Konfl iktsitua- den fi ktiven Tagebucheinträgen darin, wie die Fra- tion zu fi nden. Ziel der Stunde war es, einen Komplexi- ge nach dem persönlichen Umgang mit gesell- tätszuwachs der politischen Urteilsbildung zu errei- schaftlichem Ausschluss verhandelt wurde. So chen, was durch eine Übernahme konträrer Perspekti- konnte der politische Ordnungsrahmen mittels ver- ven auf die Situation geschah. schiedener Fragen mit individuellen Konsequenzen verbunden und die Situation aus unterschiedlichen Auswertung Perspektiven mit dazugehörigen Auswirkungen be- trachtet werden. Im anschließenden Unterrichtsge- Die Komplexität politischen Urteilens der Schüle- spräch wurden Entwicklungen antisemitischer Maß- rinnen und Schüler erhöhte sich dadurch, dass sie nahmen refl ektiert, Auswirkungen gesellschaftlicher von der exemplarischen Situation strukturelle Merk- Isolation wie Hoffnungslosigkeit und Zukunftsangst male ableiteten. Sie stellten die Auswirkungen der dargestellt und gleichzeitig potenzielle Lösungs- Diktatur auf den gesellschaftlichen Alltag dar, zeigten wege wie Emigration erwogen. All dies eröffnete den Anpassungsdruck, der auf der deutschen Bevöl- die Möglichkeit, Vergleiche zu ziehen und Situati- kerung lastete, erwogen Lösungswege, mit der Dik- onen hinsichtlich der Auswirkungen auf individuelle tatur umzugehen, und gingen auf die fortschreiten- Lebenswirklichkeiten zu bewerten. Durch die Über- de Polarisierung zugunsten der Nationalsozialisten nahme der Perspektive von jüdischen Personen auf ein. Sie stellten anhand der Frage „Freund oder dieses Ereignis, übten sich die Schülerinnen und Jude?“ die Struktur von Diskriminierungen dar und Schüler in der politischen Urteilsfähigkeit, indem sie beschäftigten sich mit dem Prozess der sozialen Ex- die historische Situation mit ihrem eigenen Erfah- klusion. Es wurde diskutiert, wie Diskriminierungen rungshorizont verknüpften. entstehen, und sich kontrovers mit den Themen Ge- rechtigkeit und Egoismus auseinandergesetzt.

10 „emotionale Hausfrau“ und „profi torientierter Geschäftsmann“

140 Chancen des politischen Lernens

M4 Perspektivisches Schreiben/Rollenspiel (Auswirkungen der Nürnberger Gesetze)

Die Nürnberger Gesetze von 193511

Während des Parteitages der Nationalsozialisten in Nürnberg im Jahre 1935 wurden die so genanten „Nürnberger Rasse- gesetze“ beschlossen. Hier ein kurzer Auszug aus den Gesetzen:

… § 1 Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. … § 2 Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten. § 3 Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen.…

Die Juden durften keine Kinos und keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. In ihr Ausweis wurde ein „J“ für Jude gestempelt und sie mussten ab 1941 einen gelben Stern tragen.

Auftrag 1: Perspektivisches Schreiben Verfasst einen Tagebucheintrag aus der Sicht einer Jüdin / eines Juden; vergleicht dabei den Boykott jüdischer Geschäfte von 1933 mit den „Nürnberger Gesetzen“ und bewertet die Entwicklung.

Den vorläufi gen Höhepunkt erreichte die Verfolgung der Juden am 9. November 1938, als in der Reichspogromnacht mehrere tausend jüdische Geschäfte zerstört und Wohnungen verwüstet wurden.

Auftrag 2: Rollenspiel Versetzt euch in die Rolle eines „arischen“ Ehepaares nach den Pogromen. Spielt ein Aufeinandertreffen beim Abendessen. Max: Ladenbesitzer, der endlich seine Konkurrenz los ist. Lisa: hat eine jüdische Freundin, von der sie immer frisches Gemüse bekommt.

Ergebnisse der Klasse 9.4 (Tagebucheintrag):

„Liebes Tagebuch, die Nürnberger Rassegesetze rauben uns fast unsere letzte Freiheit. Wir dürfen keine Kon- zerte und Theater mehr besuchen und ich darf nicht mehr zur Schule gehen. Ich fi nde es so Scheiße, dass der Hitler uns so quält. Das Leben ist so ungerecht. Ich habe keine Hoffnung mehr, dass sich was ändert.“

„Die Zukunft für uns Juden sieht ganz schlecht aus. Sie beginnen mit heftigen Gesetzen. Die Deutschen wollen uns überall ausschließen. Wir dürfen keine Deutschen heiraten. Wir dürfen nicht mal mehr raus. Nur noch mit Judenstern. Sie sind immer gegen uns. Die Gesetze werden immer heftiger. Ich glaube, ich werde mit den restlichen Juden, die noch nicht gestorben sind, auswandern. Wir kommen mit den Nazis nicht klar. Wir kom- men gegen sie nicht an. Wenn wir was gegen sie sagen, töten sie uns. Ich will einfach nur auswandern.“

„1933 gab es den Aufruf zum Judenboykott. Es war echt verwirrend, dass wir Juden ihr Unglück sein sollten. Sie wollten nicht mehr, dass die Leute bei uns einkauften. 1938 wurde es schlimmer mit den Gesetzen. Wir dürfen jetzt keine deutschen Männer mehr heiraten. Es wird immer schwerer hier zu leben.“

„Heute wurden die Nürnberger Gesetze beschlossen. Auf meinem Pass wurde ein „J“ für Jude gestempelt und ich darf nur noch mit einem Stern auf die Strasse, damit jeder weiß, dass ich eine Jüdin bin. Mein Kind wurde aus der Schule ausgeschlossen. Ich fühle mich verfolgt, als wäre ich in einem fremden Land. Nur weil ich eine Jüdin bin, werde ich wie Dreck behandelt. Warum soll ich auswandern, wenn es meine Heimat ist.“

11 vgl. Beddies 2000: Menschen Zeiten Räume 3, 252/253

141 Chancen des politischen Lernens

Ergebnisse der Klasse 9.4 (Rollenspiel):

Gruppe 1: Max: „Jetzt, wo die Juden weg sind, geht es endlich wieder aufwärts mit unserem Geschäft.“ Lisa: „Na, toll. Aber wo soll ich jetzt Gemüse herbekommen. Von meiner jüdischen Freundin Sarah bestimmt nicht mehr. Die muss sich jetzt verstecken.“ Max: „Willst du damit sagen, dass du mit jüdischem Gemüse kochst?“ Lisa: „Klar! Schon immer. Und du sagtest doch immer, dass es dir so gut schmeckt.“ Max: „So ein Quatsch. Ich hab noch nie gesagt, dass mir jüdisches Gemüse schmeckt. Schmeiß das Zeug weg, ich will es nicht mehr sehen.“ Lisa: „Ja, aber wenn du nicht weißt, von wem es ist, dann isst du es ja doch.“

Gruppe 2: Max: „Endlich muss dieser Scheiß-Jude sein Geschäft dicht machen. Die Ausschreitungen haben doch auch ihre guten Seiten.“ Lisa: „Aber was soll das ganze? Die Juden sind doch genauso Deutsche wie wir auch. Und außerdem sind viele von denen total nett. So wie meine Freundin. Sie ist zwar Jüdin, aber total hilfsbereit. Und sie gibt uns immer was vom Gemüse aus ihrem Garten ab.“ Max: „Auch wenn die nett sind und das Gemüse schmeckt. Ich glaube, es ist besser, wenn wir unser Gemüse jetzt nur noch bei richtigen Deutschen kaufen, und du den Kontakt zu deiner Freundin abbrichst.“

Gruppe 3: Max: „Ab heute hab ich keine Konkurrenz mehr. Die Läden der ganzen Juden wurden zerstört.“ Lisa: „Du weißt, dass ich unser Gemüse von meiner jüdischen Freundin bekomme. Ich weiß nicht, ob das so weitergeht.“ Max: „Brech lieber den Kontakt zu ihr ab, sonst könnten wir noch Schwierigkeiten bekommen.“ Lisa: „Das geht nicht! Sie könnte noch umgebracht werden. Sie riskiert alles, um uns das Gemüse zu bringen.“ Max: „Ist mir egal. Ich werde durch die Verfolgung der Juden immer reicher.“ Lisa: „Es geht aber doch nicht nur um Geld!“

Phase 2/5: Urteilsbildung durch Im Sinne der Adressatenorientierung wurde das The- Lernspirale ma um die Gründung des Staates Israel ergänzt. Dies stellte eine Reaktion auf die Frage eines Schülers12 Beschreibung der Methode und Intention dar und bot der Klasse die Möglichkeit, ihr durch den Fragebogen übermitteltes Vorausurteil mit Hilfe von Entsprechend den Anforderungen der politischen Hintergrundinformationen zu erweitern. Dies wurde Urteilsbildung - von Situationsanalyse über Möglich- durch ein abschließendes Stimmungsbarometer an- keitserörterung zur Urteilsbildung (GPJE 2004) - wur- gestrebt. Das Stimmungsbarometer wirkte dabei de die Einheit als Lernspirale aufgebaut, was eine handlungsaktivierend und machte Befi ndlichkeiten Erweiterung und Generalisierung vorhandener Ein- der Gruppe sicht- und kommunizierbar. Es diente stellungen ermöglichte. Damit es zu einem generali- darüber hinaus der Auswertung und Refl exion des sierbaren Urteil kommen konnte, musste der Klasse Lernprozesses. Die Schülerinnen und Schüler wur- zum Ende der Einheit die Möglichkeit eingeräumt den zum Ende der Einheit erneut mit einer Frage13 werden, anfangs getroffene Einschätzungen zu er- konfrontiert, welche sie schon zu Beginn der Einheit weitern oder zu revidieren. mittels Fragebogen beantwortet hatten.

12 Schüler: „Aber wie kamen denn eigentlich die ganzen Juden vom Nahen Osten nach Europa?“ (16.5.08) 13 „Ist das, was Israel mit den Palästinensern macht, das gleiche wie das, was die Nazis mit den Juden gemacht haben?“

142 Chancen des politischen Lernens

Auswertung zialismus nicht mit der aktuellen Situation im Nahen Osten zu vergleichen sei. Ruft man sich die am An- Im Sinne des gesetzten Lernziels wurde nun der Ver- fang der Einheit getroffenen Aussagen zu dieser Fra- gleich des Vorgehens der Nationalsozialisten und ge ins Gedächtnis (beinahe 90%ige Zustimmung), des Staates Israel von der gesamten Klasse zurück- hat sich eine wesentliche Erweiterung des Urteils zu gewiesen und einheitlich damit begründet, dass die dieser Frage vollzogen. systematische Ausrottung der Juden im Nationalso-

M5 Geschichte des Staates Israel14

Im religiösen und historischen Bewusstsein der Juden war Israel immer das „Heilige Land“ geblieben, das mit der Bibel und der Geschichte des jüdischen Volkes verbunden ist. Palästina war im 19. Jahrhundert nur dünn besiedelt und wirtschaftlich schlecht entwickelt. Mit dem begin- nenden wirtschaftlichen Aufschwung wanderten dann viele weitere Menschen, Juden wie Araber, in Palä- stina ein. Die erste Masseneinwanderung von Juden erfolgt um 1882. Diese Einwanderer waren in erster Linie Ju- den, die vor politischer und religiöser Unterdrückung aus ihren Herkunftsländern gefl ohen waren. Zwischen 1904 und 1914 erfolgt die zweite Masseneinwanderung. Die Juden litten in einigen Ländern Europas bereits vor dem Ersten Weltkrieg stark unter Diskriminierungen. Einige hielten die Region für si- cherer als Europa. Bereits im Jahre 1909 wird Tel Aviv gegründet, die erste moderne jüdische Stadt. Zwischen 1924 und 1932 folgt die vierte Immigrationswelle und von 1933 bis 1939 die fünfte, wodurch die jüdische Bevölkerung in Palästina stark wächst. Am 29. November 1947 stimmt die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit Zweidrittelmehrheit für den Teilungsplan, der Westpalästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat teilen soll. Mit dem Ziel, tatsächlich einen unabhängigen jüdischen Staat zu gründen und den Überlebenden des Holocaust eine Heimat zu schaffen, akzeptiert die jüdische Bevölkerung den Plan. Die Araber lehnen den Plan dagegen ab, da sie die jüdische Präsenz in der Region als Provokation empfi nden.

Arbeitsaufträge: 1. Lest den Text und sammelt Gründe, warum Juden nach Palästina gegangen sind. 2. Sammelt in eurer Tischgruppe Argumente für und gegen die Gründung des Staates Israel. 3. Überlegt euch, was an der Aussage: „Was Israel mit den Palästinensern macht, ist das gleiche, was die Nazis mit den Juden gemacht haben,“ problematisch ist.

M6 Stimmungsbarometer15 Frage: „Ist das was Israel mit den Palästinensern macht, das gleiche, was die Nazis mit den Juden gemacht haben?“

Stimme ich Stimme ich Stimme ich Stimme ich Antworten der Klasse gar nicht zu eher nicht zu eher zu voll zu

Zum Beginn der Unterrichtsreihe 1216 5

Zum Beginn der Unterrichtsreihe 24 - - -

14 Zur aktuellen Problematik des Nahost-Konfl iktes siehe Beitrag von Wendt in dieser Veröffentlichung. 15 vgl.: 18.4.: Antisemitismus-Fragebogen

143 Chancen des politischen Lernens

Brumlik, Micha (2004): Aus Katastrophen lernen? Grundlagen Fazit zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher Absicht, Philo, Berlin/Wien. Will die politische Bildung rassistischen, rechtsextre- Ehmann, Annegret (2000): Auseinandersetzung mit Nationalsozi- men oder allgemein antiemanzipatorischen Ten- alismus und Holocaust in der historisch-politischen Bildung. In: denzen präventiv entgegentreten, muss sie vor allem Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Liebertz-Groß, Till (Hg.): „Erzie- zeitgemäß sein, die Heterogenität ihrer Zielgruppen hung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft. Päda- gogische und soziologische Annäherungen (2000), Juventa, erkennen und darauf fl exibel reagieren. Lernwider- Weinheim/München, 175-192. stände sind zu entschlüsseln und in motivierende Herausforderungen zu übersetzen. Dabei gilt es zu Fechler, Bernd (2006): Antisemitismus im globalisierten Klassen- zimmer. Identitätspolitik, Opferkonkurrenzen und das Dilemma beachten, dass die Aneignung der kollektiven Erin- pädagogischer Intervention. In: Fritz Bauer Institut/Jugendbegeg- nerung nur dann inklusive gesellschaftliche Ten- nungsstätte Anne Frank (Hg.): Neue Judenfeindschaft? Perspekti- denzen begünstigen kann, wenn sie nicht moralisie- ven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Anti- semitismus (2006), Campus, Frankfurt/New York, 187-209. rend verordnet wird. Vielmehr ist zu erkennen, dass die multiperspektivische Bezugnahme auf die deut- Giere, Jacqueline / Kößler, Gottfried (2000): Konfrontationen, sche Geschichte ein besonderes Potenzial des poli- Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust, Heft 1: Identitäten, Frankfurt a. M. tischen Lernens in einer multikulturellen Gesellschaft bietet, wenn sie die heterogenen Ausgangsbedin- Giere, Jacqueline / Kößler, Gottfried (2001): Konfrontationen, gungen erkennt und in den Lernprozess integriert. Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust, Heft 2: Gruppe, Frankfurt a. M. Die Forderung, aller „politische Unterricht [solle] zen- triert sein darin, dass sich Auschwitz nicht wieder- Georgi, Viola (2000): Wem gehört die deutsche Geschichte? Bi- hole“ (Adorno 1970, 109) erhält dadurch besondere kulturelle Jugendliche und die Geschichte des Nationalsozialis- mus. In: Fechler (u.a.), a.a.O., 141-162. Relevanz und die sich verändernde Erinnerungskul- tur ist von fachdidaktischer Seite zu begleiten und zu GPJE (2004): Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht gestalten, damit auch in Zukunft ein Lernen aus der in der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf, Wochenschau- Verlag, Schwalbach/Ts.. Vergangenheit möglich bleibt. Dass dies nicht durch vorgefertigte Unterrichtsmodule geschehen kann, Heitmeyer, Wilhelm (2004): Deutsche Zustände, Folge 3, Suhr- sollten diese Ausführungen verdeutlicht haben. kamp, Frankfurt. Hilberg, Raul (1999): Die Vernichtung der europäischen Juden. Band 1, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt, 9. Aufl . Literaturhinweise Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des Antisemitismus. Islami- stische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburger Edition, Hamburg. Adorno, Theodor W. (1970): Erziehung nach Auschwitz, In: Ador- no, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit (1970), Suhrkamp, Schäuble, Barbara / Scherr, Albert (2006): „Ich habe nichts gegen Frankfurt, 92-109. Juden, aber ...“ Widersprüchliche und fragmentarische Formen von Antisemitismus in heterogenen Jugendszenen. In: Fritz Bauer Beddies, Heiner (2000): Menschen-Zeiten-Räume. Arbeitsbuch Institut (Hg.) a.a.O., 51-79. für Gesellschaftslehre 3, Cornelsen, Berlin. von Borries, Bodo (2000): Interkulturelle Dimensionen des Ge- Benz, Wolfgang (2004): Was ist Antisemitismus, Beck, München. schichtsbewusstseins. In: Fechler (u.a.), a.a.O., 119-140.

144 Der Konfl ikt im Nahen Osten: Im Prisma von Antisemitismus und Ethnozentrismus

Daniel Wendt

Interkulturelle Pädagogik – Empathie und Perspektiv- ethnozentrische Sichtweisen selbstrefl exiv hinterfra- wechsel in multiethnischen Klassen als Schlüsselkom- gen zu lassen. Die Schülerinnen und Schüler stellen petenzen gegen Fundamentalismus und Rechtsextre- festgefügte Vorurteile und Stereotype über den je- mismus weils „Anderen“ in Frage und durchbrechen eine se- lektive Wahrnehmung. Um diesen Prozess in Gang zu bringen, geht es gerade im ersten Block dieser Didaktische Zielsetzungen Unterrichtsreihe nicht nur darum, die religiösen und historischen Wurzeln des Konfl iktes von den Ler- Der Politikunterricht an der Fachoberschule stellt das nenden entdecken zu lassen, sondern darüberhi- Leitbild des „interventionsfähigen“ Staatsbürgers in naus sowohl das Trennende, aber in aller erster Linie den Mittelpunkt. Hierzu ist interkulturelle Bildung Vo- das Gemeinsame und Verbindende der drei großen raussetzung, d.h. dass die Schülerinnen und Schüler monotheistischen Weltreligionen, den Lernenden neben einem demokratischen und solidarischen Be- bewusst werden zu lassen. wusstsein und den daraus abgeleiteten Fähigkeiten auch über einen geeigneten Fundus an Sozial- und Eine speziell deutsche Mitverantwortung für den Kulturkompetenz verfügen. So schreibt Georg Au- Staat Israel, aber auch für die gesamte Region von ernheimer (1998, 18): „Interkulturelle Bildung ist da- den Lernenden erkennen zu lassen, ist die Absicht mit zu einer Dimension von Allgemeinbildung, von der Konzeption des zweiten Themenblocks. Hier politischer Bildung, aber auch von berufl icher Bil- sollte gerade keine bedingungslos pro-israelische dung geworden.“ Besonders die Sozial- und Kultur- Haltung erzeugt werden. Vielmehr sollten die Me- kompetenz sollen daher in der zugrunde liegenden chanismen von Ausgrenzung, Xenophobie, Funda- Unterrichtsreihe einen zentralen Stellenwert einneh- mentalismus, ethnischem Rassismus und schließlich men und akzentuiert werden. Das eigentliche Fach- der Entmenschlichung des Fremden verstanden und wissen bleibt hierfür wichtige Voraussetzung, ist aber auf den heutigen Konfl ikt im Nahen Osten, respekti- innerhalb dieser Unterrichtsreihe eher der Schlüssel ve auf die eventuell eigenen ethnisch-religiösen zum Verstehen interkultureller Konfl ikte und deren Überzeugungen, übertragen werden. In Anlehnung möglicher Überwindung. Das hier zu vermittelnde an Adornos Forderung an eine „Erziehung nach Au- Fachwissen beinhaltet die historisch-religiösen Wur- schwitz“ stellt Sander (1999, 396) in diesem Zusam- zeln des Konfl iktes im Nahen Osten (Themenblock menhang fest, dass interkulturelles Lernen in 1), die spezielle Mitverantwortung Deutschlands für Deutschland immer eine Verbindung zu dem eige- diese Weltregion (Themenblock 2) und die Entwick- nen Erbe der Mehrheitsgesellschaft, in Form von lung im Nahen Osten von 1946 bis 2007 (Themen- struktureller Dominanz, latentem Nationalsozialis- block 3). mus und Rassismus haben müsse.

In diesem Zusammenhang besteht die Absicht, inter- Die Wahrnehmung der Eskalations- und Gewaltspi- kulturelle Konfl ikte exemplarisch darzustellen und rale im Allgemeinen und die ethnisch-religiösen Ag-

145 Der Konfl ikt im Nahen Osten

gressionen, Kriege, Terroranschläge und Gegen- beiten. Das Konzept der Handlungsorientierung auf- schläge beider Parteien (welche aus ihrer Perspekti- nehmend sollten die Lernenden durch zahlreiche ve jeweils glauben, im Recht zu sein) im Speziellen Gruppenarbeiten in verschiedenen Konstellationen sowie die Darstellung der bisherigen Friedensbemü- nicht nur für einen Großteil des Lernprozesses selbst hungen und deren Scheitern stellen den dritten Verantwortung übernehmen, sondern auch in eth- Block dieser Unterrichtsreihe dar. Hier war es die Ab- nisch-religiös gemischten Gruppen kommunizieren, sicht, dass die Lernenden beginnen zu hinterfragen, kooperieren und präsentieren. inwieweit absolute Positionen und fundamentalis- tische Überzeugungen, sowie zementierte Negativ- bilder des Fremden und dem daraus resultierenden Realisierung des Schulhalbjahres Misstrauen, Interdependenzen sind, welche nicht nur in diesen ethnisch-religiösen Konfl ikt hineinspielen. Lehr-/Lernbedingungen Den abschließenden Höhepunkt dieses dritten The- menblocks und der gesamten Unterrichtsreihe sollte Dass insbesondere eine Unterrichtsreihe mit derar- dann die Befragung des deutschen Botschafters in tiger politischer Brisanz eine genaue Untersuchung Israel an der Max-Weber-Schule darstellen. Intention der Lehr-/Lernbedingungen erfordert, ist eine päda- war es hier, die Lernenden Perspektivwechsel und gogische Selbstverständlichkeit. Im Rahmen der Un- Perspektivkoordination durch den Botschafter real terrichtsreihe ist es aber nicht nur interessant, Rück- erleben zu lassen, aber auch im Rahmen eines ge- kopplungsprozesse der Lerngruppe untereinander meinsam zu erstellenden Fragepools dieses selbst festzustellen, sondern auch einen möglichen Ver- einzuüben. gleich von Einstellung und Verhalten der Lernenden vor und nach der Durchführung der Unterrichtsreihe Betrachtet werden soll im Rahmen des vorliegenden zu beobachten und diese letztlich im Rahmen einer Projektberichts, was Schule – bzw. konkret der Politik- Evaluation deskriptiv festzuhalten. Insbesondere die unterricht in der Fachoberschule – leisten kann, um kulturellen und religiösen Voraussetzungen der Ler- den Lernenden mit Migrationshintergrund gerecht nenden müssen hier folglich beachtet werden. zu werden. Hierbei geht es weniger um eine gezielte individuelle Förderung oder eine positive Diskrimi- In der Klasse gibt es einen erheblichen Anteil von nierung durch einen „Ausländerbonus“, als vielmehr Schülerinnen und Schülern mit Migrationshinter- um den Aspekt, ein angemessenes Klassenklima zu grund. Zwölf Lernende sind evangelischer oder ka- fördern und darüber hinaus das gegenseitige Ver- tholischer Konfession, einer gehört der syrisch-or- ständnis von unterschiedlichen (Grund-)Haltungen thodoxen Glaubensrichtung an und sechs Lernende und Einstellungen in multiethnischen Klassen durch gehören dem Islam an. Darüber hinaus haben zwei die Thematisierung entsprechender Konfl ikte zu we- Lernende christlicher Herkunft amerikanische Väter. cken. Dies führte punktuell zu erkennbaren Spannungen innerhalb der Klasse bzw. zu Fraktionsbildungen eth- Im Spiegel des Konfl iktes im Nahen Osten und seiner nisch-religiösen Ursprungs. ethnisch-religiösen Wurzeln und Ursachen sollen die Lernenden verstehen, dass Voraussetzung für eine Methodisch-didaktische Überlegungen Lösung, zumindest für die friedliche Austragung von bezüglich der Unterrichtsreihe interkulturellen Konfl ikten, die Überwindung der ei- genen, ethnozentrischen und somit selektiven Wahr- Um die o. a. Ziele und Kompetenzen zu erreichen, nehmung sowohl auf der Makroebene der internati- schien es mir wichtig, den Konfl ikt im Nahen Osten onalen Politik, als auch im Mikrokosmos des eigenen nicht vordergründig, sondern in seinen verschie- Klassenraums ist. Dies gilt dann im Übrigen nicht nur denen Dimensionen und auch in seiner Entwicklungs- für die deutschen, sondern ebenso für die „auslän- geschichte zu behandeln. Deshalb bereitete ich die dischen“ Jugendlichen. Unterrichtsreihe in drei erkennbare Themenblöcke di- daktisch auf, welche sowohl die aktuelle Situation, Darüber hinaus war es ein zentrales Ziel, den Schüle- aber auch die historischen und ethnisch-religiösen Fa- rinnen und Schülern einen Zuwachs an sozialer Kom- cetten des Konfl iktes abbilden sollten. Um besser ein- petenz zu ermöglichen, indem sie einen Großteil der schätzen zu können, an welchem Punkt hinsichtlich Lerninhalte selbstständig und selbstgesteuert erar- der Vorkenntnisse und des Fachwissens ich die Ler-

146 Der Konfl ikt im Nahen Osten

nenden sowohl individuell als auch im Klassenver- des Nahen Ostens, des dortigen Konfl iktes, Israels band „abholen“ konnte, begann ich die beiden ersten und des Judentums?“ Die Antworten der Lernenden Unterrichtssequenzen jeweils mit einem „Brainstor- wurden danach in einer Mindmap an der Tafel visua- ming“, welches dann in eine gemeinsame „Mindmap“ lisiert, in verschiedene Gedankenstränge strukturiert an der Tafel transformiert wurde. und untereinander in Beziehung gesetzt. Hierin spie- gelte sich ein rudimentäres Wissen bzgl. Israel und Ich reglementierte bei der Gruppenbildung bzw. bei der jüdischen Religion wider. Weiterhin wurde der der Einwahl in die Unterthemen immer nur die gleich Wissensstand bzgl. des Konfl iktes vom kurz zurück- starke Anzahl an Gruppenmitgliedern, ließ die Ler- liegenden Libanonkrieg sichtbar dominiert. Auffällig nenden aber ansonsten diesen Prozess frei und war hier, dass die Rolle der USA insbesondere von selbst organisieren. In diesem Zusammenhang den Lernenden islamisch-arabischer Herkunft kri- machte ich während der verschiedenen Gruppenar- tisch thematisiert wurde. In der Klasse wurde der beitsphasen auch lediglich ein „Angebot“ in Form amerikanische Präsident für sein Engagement im Na- eines Materialpools, ließ den Lernenden aber die hen Osten und bzgl. der Kriegsführung im Irak von Option offen, auch andere Quellen wie die Schulbü- zwei Schülern islamischer Religionszugehörigkeit cherei oder das Internet zu nutzen. stark kritisiert. Auch wurden bereits erste Dissense zwischen diesen beiden Schülern und anderen Mit- Keiner der Schülerinnen und Schüler hatte bislang schülern einer eher pro-westlichen Orientierung eine Expertenbefragung oder ein Interview durchge- sichtbar. Diese wurden von mir, auch in ihrer Eigen- führt. Die von mir organisierte Expertenbefragung dynamik, bewusst toleriert, solange sie keine persön- stellte somit für die Lernenden eine besondere He- lichen Züge annahmen. Ich stellte aber bereits in die- rausforderung dar. Diese Tatsache konnte aber hin- sem frühen Stadium die Regeln einer künftigen Dis- sichtlich der Motivation der Lernenden, gerade unter kussionskultur auf, welche lautete: Der andere kann dem Aspekt der Ergebnissicherung, genutzt werden. gerne (auch scharf) argumentativ kritisiert werden. Da die Lernenden wussten, dass sie dem Herrn Bot- Dies allerdings nur bzgl. seiner Haltung und Äuße- schafter zu Beginn der Veranstaltung eine kurze Prä- rungen, nicht jedoch hinsichtlich seiner Person oder sentation ihrer Arbeitsergebnisse in Form von Wand- religiösen Überzeugung. Hier schien es mir als Lehr- plakaten und Powerpoint-Präsentationen geben kraft wichtig zu sein, ein frühes Zeichen für zukünftige sollten, bestand für sie ein zusätzlicher Anreiz, diese Diskussionen zu setzen, ohne den Lernenden den sowohl inhaltlich als auch in der Gestaltung hoch- Eindruck zu vermitteln, diese vermeiden oder unter- wertig anzufertigen. So machte ich bestimmte Teams binden zu wollen. Auffällig war auch, dass im jeweils für die Präsentation einen Themenblocks ver- Rahmen dieses Brainstormings latent antisemitische antwortlich, bildete und gestaltete aber mit allen Ler- Ressentiments geäußert wurden („Juden sind reich“ / nenden einen gemeinsamen Fragepool und einen „Juden haben Jesus umgebracht“), ohne dass diese Fahrplan für dessen Umsetzung. Um den Lernenden (wie von mir durch Nachfragen festzustellen war) ei- immer wieder die Möglichkeit der Refl exion und nen ideologisch verfestigten Hintergrund aufwiesen. Rückmeldung bzgl. der Inhalte aber auch der Atmo- In der darauf folgenden Unterrichtssequenz wurden sphäre in der Klasse zu geben, führte ich eine Evalu- von mir vier Unterthemen zur Auswahl gestellt. Hier ation mittels eines Feedbackbogens nach dem Film erfolgte die Zusammensetzung der Arbeitsgruppen „Die Wannseekonferenz“, nach der Expertenbefra- bewusst nach Sympathie, um den anfänglichen Lern- gung und am Ende der Unterrichtsreihe durch. prozess durch ein angenehmes Arbeitsklima zu un- terstützen bzw. interkulturelles Lernen nicht zu ge- fährden. Die Unterrichtspraxis in den einzelnen Themenblöcken Die abschließende gemeinsame Ergebnissicherung erfolgte im Dialog mit der gesamten Klasse (Beispiel: Themenblock 1: siehe Materialteil). Hierbei fasste ich die wichtigsten Religiöse Wurzeln und Frühgeschichte Israels Begriffe und Ereignisse noch einmal auf einem Wandplakat zusammen und ergänzte die vorherge- Die allgemeine Hinführung zu der gesamten Unter- henden Ausführungen speziell im Hinblick auf die richtsreihe verlief in Form eines Brainstormings unter Gemeinsamkeiten und die gemeinsame Entste- der Leitfrage: „Was wisst ihr überhaupt schon bzgl. hungs- und Entwicklungslinie der drei monotheis-

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tischen Weltreligionen. Sowohl Jerusalem als „Kri- den gegenüberliegenden Computerraum für Inter- stallisationsort“ sowie die Diaspora als Ausgangs- netrecherchen zu nutzen. punkt der weiteren Entwicklung wurden hierbei be- sonders aufgezeigt. Die anschließenden Arbeitsprozesse innerhalb der Arbeitsgruppen verliefen erkennbar mühsam. Für Themenblock 2: viele Lernende war es sehr schwierig mit dem kom- Judenverfolgung und Holocaust im 3. Reich plexen Thema umzugehen bzw. den Arbeitsauftrag umzusetzen. In diesem Zusammenhang war es inte- Die ersten Reaktionen der Lernenden zu Beginn ressant zu beobachten, wie innerhalb der Arbeits- dieses Themenblocks waren zum Teil ablehnend gruppen im Laufe der benötigten zwei Doppelstun- („haben wir alles schon gemacht“), teilweise abwar- den eine Art Trotzreaktion entstand. Die Einstellung tend-passiv. Sehr schnell stellte sich allerdings durch änderte sich von anfänglicher Resignation (“das eine Mindmap heraus, dass oftmals nur fragmenta- schaffen wir nie“) hin zu einer Haltung des ambitio- rische Kenntnisse und schlagwortartiges Wissen bei nierten „Gefordertseins“. Als Lehrer unterstütze ich den meisten Schülerinnen und Schülern vorhanden diesen Prozess nur, indem ich den Schülerinnen und waren. So entwickelte sich ein relativ zäher Prozess Schülern immer wieder Mut und Selbstvertrauen zu- eines Schüler-Lehrer-Dialogs, um die gemeinsamen sprach. Lediglich bei wirklichem Stillstand des Ar- Grundlagen für das Verständnis der historischen Ab- beitsprozesses griff ich ein, um Impulse, Informati- läufe zu legen. Neben Äußerungen wie „weil die onen oder Recherchetipps zu geben. Die daraus Deutschen keine Arbeit hatten“ oder „Hitler hat ‚Mein resultierenden Präsentationen waren gekennzeich- Kampf‘“ geschrieben, dominierte bei den Lernenden net durch die sehr ambitionierten Arbeitsaufträge. eine große Konfusion, teilweise Ahnungslosigkeit Allen Gruppen gelang es zwar, die Kernaussagen oder naives Halbwissen insbesondere bezüglich der und Geschehnisse (in Form der Orientierungs- Person Hitlers („hatte doch auch jüdische Vorfahren“, punkte) herauszuarbeiten, aber keine Arbeitsgruppe „war ein Maler“, etc.) So entschloss ich mich, mit Hilfe konnte diese miteinander zu einer stimmigen und von zwei Schülern ein Tafelbild in Form eines Zeit- konsistenten Präsentation verbinden. Dies geschah strahls zu entwickeln. Hierbei beschrieben wir ge- daher in der jeweils anschließenden Nachbespre- meinsam wichtige Fakten und Ereignisse und ihre chung im Klassenverbund durch die Moderation möglichen Auswirkungen auf die Machtergreifung meinerseits. Hitlers (z. B. Versailler Vertrag oder „Demokratie ohne Demokraten“, etc). Dieser Prozess dauerte eine ge- Des Weiteren wollte ich, um den Lernenden auch ei- samte Doppelstunde. Ich bat die Lernenden, den nen emotionalen Zugang zu diesem Thema zu berei- Zeitstrahl abzuschreiben und zu Hause ggf. aufkom- ten, einen Film aus der damaligen Innenperspektive mende Fragen diesbezüglich zu notieren. Diese Fra- der Nazidiktatur zeigen. Hierbei fi el meine Wahl auf gen (z.B. „wieso hat man Hitler bzw. die NSDAP nicht den mehrfach ausgezeichneten Film „Die Wannsee- einfach verboten?“) wurden dann zu Beginn der fol- konferenz.“ Dabei war es meine Intention, nicht die genden Unterrichtseinheit gemeinsam erörtert. Im sonst häufi g verwendeten Dokumentarfi lme mit Anschluss daran stellte ich der Klasse die vorberei- schockierenden Bildern aus den Konzentrations- teten Arbeitsaufträge vor. Diese hatte ich, zusammen lagern zu nutzen, sondern die Schülerinnen und mit den mittlerweile für notwendig erachteten Orien- Schüler – im Sinne von Hannah Ahrendt – mit der tierungspunkten, auf einem Flip-Chart niederge- „Banalität des Bösen“ zu konfrontieren und emotio- schrieben. Jetzt gab ich den Lernenden die Möglich- nal zu erreichen. Eine Selbstrefl exion mittels vorbe- keit, mittels Einwahl in eine Arbeitsgruppe ihr Thema reiteter Refl exionsbögen sollte hier außerdem den selbst zu bestimmen. Lediglich die Restriktion einer Lernenden die Möglichkeit geben, individuell und annähernd gleichen Anzahl von Lernenden pro Ar- anschließend in der Gruppe diesen Film zu verarbei- beitsgruppe machte ich weiterhin zur Aufl age. Der ten und zu refl ektieren. Einwahlprozess erfolgte relativ zügig, und der bereit- gestellte Materialpool, welcher optional genutzt wer- Schon während der Rezeption des Films konnte ich den konnte, wurde von allen vier Arbeitsgruppen in beobachten, dass dieser die Lernenden berührte – Anspruch genommen. Ferner bot ich der Klasse an, es herrschte Stille, und Staunen war in den Ge-

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sichtern abzulesen. Am Ende dieser Doppelstunde Weltreligion zu erkennen, könnte noch besser er- verteilte ich den Refl exionsbogen mit der Bitte, die- reicht werden. sen noch am selben Tag auszufüllen, damit der Ein- druck des Films nicht zu sehr verblasste. In der da- Themenblock 3: rauf folgenden Stunde besprachen und refl ektierten Die Entstehung und Entwicklung des Konfl iktes im wir den Film auf Basis dieser Bögen. Es bestätigte Nahen Osten (1946-2007) sich mein Eindruck, dass die Schülerinnen und Schü- ler bewegt waren. Äußerungen wie „dann haben die Bei der Planung dieses letzten Teils der Unterrichts- auch noch Witze über die Juden gemacht“, „die reihe stand die abschließende Expertenbefragung hielten sich für die Herren der Welt“ oder „die waren des Deutschen Botschafters in Israel am 18. Januar krank“ zeugten hiervon. 2008 im Mittelpunkt. So sollten in dieser Unterrichts- sequenz die fachlichen Grundlagen für eine fun- Diese tiefe emotionale Betroffenheit aufnehmend dierte Befragung gelegt werden. Meine Überle- erfolgten im weiteren Verlauf der Unterrichtsreihe, gungen gingen dahin, im ersten Schritt die fach- wenngleich nicht direkt im Anschluss, zwei weitere lichen Inhalte durch die Lernenden selbst erarbeiten Lernangebote, welche diesen affektiven Zugang der zu lassen und diese noch entsprechend nachzube- Schülerinnen und Schüler verstärkten und gleichzei- reiten. Ferner sollte jeweils ein Team die Arbeitser- tig das kognitiv erworbene Wissen des ersten und gebnisse eines Themenblocks in Form von Wandpla- zweiten Themenblocks aufnahmen und in „Bewusst- katen und Powerpoint-Präsentationen dem Herrn sein“ transformierten. So wurden zum einen eine or- Botschafter in kurzer Form vorstellen. Auch sollte ein ganisierte Synagogenführung in der wieder errich- gemeinsamer Fragenpool von den Lernenden ge- teten Gießener Synagoge durchgeführt und zum meinsam entworfen werden, welcher jedem Ler- anderen im Rahmen einer (an der Max-Weber-Schu- nenden die Möglichkeit geben sollte, sich an der Be- le institutionalisierten) Studienfahrt nach Weimar die fragung zu beteiligen. Lediglich eine zeitliche Struk- KZ-Gedenkstätte Buchenwald besucht. Beide Veran- turierung dieses Fragenpools sollte durch mich erfol- staltungen hinterließen bei fast allen Lernenden ei- gen, um die Fragen in eine thematisch-zeitliche Rei- nen tiefen Eindruck und schufen m. E. eine Art Teil- henfolge zu bringen und der Expertenbefragung immunisierung gegen antisemitische Parolen und einen sinnvollen Ablauf zu geben. Auch würde die Vorurteile. Außerdem ließen sie die Lernenden auch Verantwortung und Zuordnung der jeweiligen Teams die historische Kontinuität und den Zusammenhang für die Präsentation der Arbeitsergebnisse des jewei- des Holocausts mit der Gründung und Entwicklung ligen Themenblocks durch mich erfolgen. Damit des Staates Israel erkennen und bildeten somit ei- wollte ich sicherstellen, dass die entsprechend „be- nen Übergang zum nächsten und letzten Themen- sten“ Ergebnisse auch gezeigt und schwächere Re- block dieser Unterrichtsreihe. sultate nicht öffentlichkeitswirksam werden (Anwe- senheit der lokalen Presse).2 Eine Nachbereitung Es würden sich hier auch Kooperationen mit dem Re- und schriftliche Refl exion sollte die Expertenbefra- ligionslehrer anbieten. So bekommen die Lernenden gung in der unmittelbar folgenden Unterrichtsein- im Religionsunterricht die Aufgabe, in ihren Heimat- heit dann für die Lernenden vertiefend abschließen. orten (mittels Stadt- und Ortsarchiven) das Schicksal der vertriebenen und deportierten Juden zu recher- Mit der Bekanntgabe meiner Intentionen hinsichtlich chieren und ihre Ergebnisse zu präsentieren.1 Des der besagten Expertenbefragung stellte ich der Weiteren ist angedacht, für die Aktion „Stolpersteine“ Lerngruppe diesen letzten Unterrichtsblock vor. ein Mitwirken seitens der Max-Weber-Schule zu er- Nachdem sowohl die Gestaltung als auch die Vorge- reichen, bei denen Klassen als Paten für die Gedenk- hensweise für die Expertenbefragung bei den Ler- messingsteine für die aus Gießen vertriebenen Ju- nenden auf ungeteilten Zuspruch stieß, stellte ich die den fungieren könnten. Durch diese genannten Ler- vier Unterthemen, welche in Arbeitsgruppen arbeits- nelemente und Lerninhalte würde die anonyme Zahl teilig behandelt werden sollten, vor und erläuterte von sechs Millionen ermordeten Juden für die Ler- diese. Danach erfolgte eine Einwahl in die Arbeits- nenden ein Gesicht bekommen und das Lernziel, gruppe in einem von der Klasse selbst zu organisie- eine spezielle deutsche Mitverantwortung für diese renden Prozess. In diesem Zusammenhang erinnerte

1 siehe dazu auch den Beitrag von Christoph Rohde im vorliegendem Band: „Realbiografi sch lernen“ 2 Diese wurden klassenintern bereits vorher „in den Blöcken“ präsentiert.

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ich nochmals daran, dass bezüglich der Präsentati- Hand zu haben. Somit kann ich resümieren, dass ich onen in diesem Themenblock eine Bewertung der den Verlauf dieses Themenblocks so weiter beibe- Ergebnisse erfolgen würde. Außerdem war es mir in halten und lediglich um einige Lernangebote emoti- diesem Zusammenhang wichtig, dass eine Arbeits- onaler Natur ergänzen würde. Resultierend aus den gruppe auch ein Porträt eines (zukünftigen) Staates (angesprochenen) Veränderungen und der so ge- Palästina anfertigte, um insgesamt eine Ausgewo- wonnenen Lernzeit der beiden vorhergehenden genheit des weiteren Unterrichtsverlaufs zu beför- Themenblöcke würde ich z.B. Filmmaterial, welches dern. Des Weiteren stellte ich erneut einen Material- anlässlich des 60. Jubiläums Israels erhältlich ist und pool und den angrenzenden Computerarbeitsraum die persönlichen Schicksale von israelischen und pa- zwecks eines Zugangs zum Internet sowie die Schul- lästinensischen Familien behandelt, den Lernenden bücherei zur weiteren Recherche zur Verfügung. zeigen und gemeinsam refl ektieren.

Im Anschluss an die aus den Arbeitsgruppen resul- tierenden Präsentationen und ihren Bewertungen erfolgte die Erstellung eines gemeinsamen Fragen- Fazit pools für die Expertenbefragung des Deutschen Bot- schafters. Im Vorfeld einigte ich mich mit der Klasse Evaluation durch die Lernenden darauf, diesen in drei Teile zu strukturieren und diese Teile in chronologischer Reihenfolge für alle zusam- Um eine möglichst objektive Evaluation der Unter- menzufassen. Bei der Erstellung des vereinheitlich- richtsreihe durchführen zu können, wurde an deren ten Fragenpools achtete ich im Folgenden insbeson- Ende ein Evaluationsbogen mit neun Fragen (siehe dere darauf, den von vielen Lernenden genannten Anlage) an die Lernenden verteilt. Hierbei wies ich Aspekten besonderes Gewicht zu verleihen und ähn- darauf hin, dass diese Auswertung freiwillig und ano- liche Interessen und Fragethemen unter gemein- nym erfolgt. Lediglich die jeweilige Religionszuge- same Begriffe und Fragestellungen zu subsumieren. hörigkeit sollte von den Schülerinnen und Schülern in der Kopfzeile vermerkt werden, damit möglicher- Nach der Begrüßung durch den Schulleiter und weise auftretende Korrelationen diesbezüglich fest- durch mich stellten die Lernenden dem Botschafter stellbar sind. zunächst teamweise ihre Arbeitsergebnisse vor. Je- weils ein Themenblock wurde von einem Team mit- Im Anschluss erfolgt die Auswertung der Unterrichts- tels Wandplakaten oder Powerpoint-Präsentation reihe zunächst in quantitativer und dann in qualita- dargestellt. Hier erwies sich die Aula als ein geeig- tiver Dimension, da so ein stimmiges Gesamtbild neter Lernort, der sowohl das Lernklima förderte als entstehen kann, welches Rückschlüsse zulässt. auch die notwendigen räumlichen Bedingungen si- cherstellte. Im Anschluss daran erfolgte in der zwei- Quantitative Analyse: Da die Grundgesamtheit der ten Stunde die eigentliche Expertenbefragung mit auszuwertenden Evaluationsbögen zu gering ist und Hilfe des Fragenpools. Mit Interesse und Neugierde wissenschaftlichen Anforderungen daher nicht ge- verfolgten dabei die Schülerinnen und Schüler das nügt, stellt die folgende Auswertung eine Simplifi zie- Geschehen. Hierbei waren Lernintensität und Lern- rung dar, welche Grundtendenzen und Meinungs- bereitschaft erkennbar hoch, was sich u. a. auch darin ströme offen legen soll. In diesem Sinne erfolgt die zeigte, dass die Lernenden zum Teil vom Fragenpool Auswertung in zwei Rubriken, unter denen mehrere abwichen und weitere Nachfragen stellten, zudem Fragen subsumiert und extrahiert wurden: auch noch die anschließende Pause ausnahmslos 1.) Hat die Unterrichtsreihe das Verständnis und/ von allen Lernenden für weitere Fragen genutzt wur- oder das Interesse des Lernenden für diese The- de. matik gefördert (Fragen 1-3 und 7)? 2.) Erfolgte eine Veränderung hinsichtlich der Hal- Anhand eines vorbereiteten Refl exionsbogens er- tung oder Position zum Konfl ikt im Nahen Osten folgte in der darauf folgenden Doppelstunde eine und den ethnisch-religiös motivierten Parteien Nachbereitung der Expertenbefragung sowohl auf (Fragen 4-6)? inhaltlicher als auch auf didaktisch-methodischer Ebene. Es erwies sich in der Nachbetrachtung für die Hierbei wurde nochmals differenziert, ob es zu einer Lernenden als sehr hilfreich, einen Fragenpool zur allgemeinen, aber nicht spezifi zierbaren Verände- rung kam („verstehe jetzt alle Parteien besser“ als ty-

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pische Antwort), oder ob es eine Veränderung im Refl exion Sinne einer Distanzierung gab. Dies umfasst die Ver- änderung einer antisemitischen, anti-israelischen Die hier dargestellte Unterrichtsreihe hatte zwei Ziel- Haltung oder, vice versa, die Revision einer antiisla- dimensionen: mischen, anti-arabisch-palästinensischen Attitüde. Es 1.) Die Lernenden ihre eigene, ethnozentrische Sicht- wurde versucht, dabei die schriftlichen Aussagen nur weise zumindest hinterfragen zu lassen, in eindeutigen Fällen den beiden letztgenannten 2.) Im günstigsten Fall bei dem einzelnen Lernenden Ausprägungen zuzuordnen. einen Perspektivwechsel ggf. sogar eine Per- 1.) Hat die Unterrichtsreihe das Verständnis und/ spektivübernahme anzuregen. oder das Interesse des Lernenden für dieses The- ma gefördert? Hier ließen sich die Aussagen von In der Klasse ist die Erreichung des ersten Ziels bei insgesamt 15 Lernenden als ein Votum mit „ja“ etwa der Hälfte der Lernenden gelungen. Allerdings interpretieren. Von diesen 15 Lernenden waren konnten nur wenige Lernende, darauf aufbauend, neun Christen und vier Muslime. Lediglich ein(e) genug Empathie erlangen (oder aufbringen), um Lernende(r) äußerte sich nicht in diesem Sinne. auch einen Perspektivwechsel durchzuführen. Dies 2.) Erfolgte eine Veränderung der eigenen Haltung/ hat. m. E. folgende Gründe und Ursachen: Die ge- Einstellung generell (Überwindung der eigenen, samte Unterrichtsreihe ist eher auf einer kognitiv-ra- ethnozentrischen Sichtweise)? Dies signalisierten tionalen Ebene anzusiedeln. Um Empathie als Vo- insgesamt 13 Lernende, drei Lernende negierten raussetzung für einen Perspektivwechsel zu erzeu- dies hingegen. Von den 13 Lernenden, bei de- gen, bedarf es aber zusätzlich verstärkender emotio- nen man auf eine Veränderung der eigenen (eth- nal-affektiver Komponenten (vgl. Emme 1996, 49 ff.). nozentrischen) Position schließen kann, gehören So ist die politische „Großwetterlage“, die historische acht dem Christentum, drei dem Islam an. Be- Entwicklung des Konfl iktes und die Kenntnisse trachtet man diesen Aspekt genauer und diffe- der religiösen Ursachen zwar eine unabdingbare Vo- renziert nach Religionszugehörigkeit, so ergeben raussetzung in Form einer intellektuellen Durchdrin- sich folgende Ergebnisse: Von den acht christ- gung des Themas, aber eben nur eine didaktische lichen Schülerinnen und Schülern bekundeten Herangehensweise. Diese Herangehensweise müs- vier eine Verschiebung ihrer Einstellung hin zu ste ergänzt werden um die Darstellung der persön- einer eher neutralen (ehemals eher pro-israe- lichen Schicksale Betroffener, um (weitere) Synago- lischen oder ehemals gar keiner Position) und gen- oder Moscheebesuche, um menschliche Be- vier sogar zu einer (punktuell) pro-palästinen- gegnungen und um alltägliche Aspekte. Dass die sischen Einstellung („brauchen eigenen Staat“, Schülerinnen und Schüler auf emotional-affektive etc). Bei den drei islamischen Lernenden erfolgte Lernangebote stark reagieren, zeigte zum Beispiel bei Zweien eine Verschiebung hin zu einem Ver- die Rezeption des Films „Die Wannseekonferenz“, ständnis der westlich/israelischen Rolle und ein welcher sich sehr stark in dem Gedächtnis und dem Lernender bekundete offen, seine bislang antise- Bewusstsein der Lernenden festsetzte, oder der Be- mitische Haltung revidiert zu haben. such der KZ-Gedenkstätte in Buchenwald. Ebenso stellen die Fragen bzgl. des Alltagslebens in Israel Qualitative Analyse: Aufschlussreicher als das zu- bei der Befragung des Deutschen Botschafters einen grunde liegende Datenmaterial sind insbesondere starken Indikator hierfür dar. Dennoch scheint es ge- Originaläußerungen von Schülerinnen und Schülern lungen, einen Großteil der Lernenden zumindest für bezüglich der Fragestellung im Hinblick auf die Ziel- das Thema zu interessieren und bei einer Mehrzahl, setzung der Unterrichtsreihe. die eigene Haltung und Position hinterfragen zu las- sen. Besonders interessant ist hierbei für mich, dass dies gerade bei den islamischen Schülerinnen und Schülern, welche durch Tradition und Erziehung hier stärker geprägt sind, gelungen zu sein scheint. Auch

151 Der Konfl ikt im Nahen Osten

wurden Kontroversen zwar inhaltlich scharf, aber nie- Feedback der Lernenden und ein generell spürbarer mals persönlich (bzw. ethnisch-religiös) verletzend Rückgang antisemitischer Ressentiments sind hier geführt. als sehr erfreulich zu bewerten. So ist das beobacht- bare Verhalten der Lernenden bzgl. einer ethnisch- Hinsichtlich der Motivation und des Engagements religiös ausgerichteten Trennlinie zunehmend ent- der Lernenden kann ich konstatieren, dass eine an- spannter und offener geworden. Hier gab es einen fängliche Reserviertheit zunehmendem Interesse Entwicklungsprozess, insbesondere bei den Schü- und Einsatz gewichen ist. Dies fand seinen positiven lern islamischer Religionszugehörigkeit, welche von Kulminationspunkt in der Vorbereitung des Fragen- anfänglich aggressiv-emotionalen Verbalisierungen pools für die Expertenbefragung und dem Engage- hin zu einem eher rational, analytischem Umgang mit ment für die dort stattgefundenen Präsentationen. dem Konfl iktthema reicht – dies allein wäre m. E. Ebenfalls wurde Motivation durch eine Lernkontrolle schon Grund genug, diese Unterrichtsreihe weiter- der Präsentationen im ersten und dritten Teil der Un- zuführen. Geleit und Orientierung für diese oder terrichtsreihe induziert, ohne dass die Schülerinnen ähnliche Unterrichtsreihen im zukünftigen Politikun- und Schüler (gemäß eigenen Aussagen) dies als terricht an (Fach-)Oberschulen könnten dabei die Gängelung empfunden hätten. In diesem Kontext ist folgenden Sätze geben: die Sozialform der Gruppenarbeit einerseits als posi- tiv und zielführend zu bewerten, da die Lernenden „Allmählich wurde mir offenbar, dass die Linie, die die gemachten Lernangebote annahmen und sich Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht weitestgehend selbstgesteuert die Lerninhalte auch zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien ver- erschlossen. Andererseits würde ich hier zukünftig läuft, sondern quer durch jedes Menschenherz.“ (A. noch andere Lernarrangements, wie Erkundungen Solschenizyn) oder Fish-Bowl-Diskussionen, anbieten, um sich dem Thema emotional intensiver zu nähern. „Ich begreife nicht, ich ertrage nicht, dass man einen Menschen nicht nach dem beurteilt, was er ist, son- Abschließend kann resümiert werden, dass es durch dern nach der Gruppe, der er zufällig angehört.“ (Pri- diese Unterrichtsreihe gelang, dem Großteil der Ler- mo Levi, zitiert nach Kühnhardt, Ludger 1987, 229 ff.) nenden ihre eigene ethnozentrische Einstellung be- wusst werden zu lassen. Allerdings war darauf auf- bauend nur eine Minderheit der Schülerinnen und Literaturhinweise Schüler zu einem Perspektivwechsel in der Lage. Ge- messen an den Intentionen, interkulturelle Konfl ikte Auernheimer, Georg (1998): Interkulturelles Lernen, Bundeszen- trale für politische Bildung (Hrsg.) Interkulturelles Lernen. Bonn, in multiethnischen Klassen nicht zu tabuisieren, son- 18-26. dern gerade als eine Voraussetzung interkultureller Pädagogik zu begreifen und Vorurteile und Stereo- Emme, Martina (1996): Der Versuch den Feind zu verstehen, IKO- type von den Lernenden selbst hinterfragen zu las- Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt am Main, 2. Aufl age. sen, konnte diese Unterrichtsreihe dazu einen Bei- trag leisten. Dies ist wichtig, um Fundamentalismen Kühnhardt, Ludger (1987): Die Universalität der Menschenrechte, vorzubeugen und einem vermeintlichen „Kampf der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 256, Bonn. Kulturen“ – zumindest im Klassenzimmer – wirkungs- Sander, Wolfgang (1999): Handbuch politische Bildung, Wochen- voll zu begegnen. Gerade das darauf abzielende schau Verlag, Schwalbach/Ts., 2. Aufl age.

152 Der Konfl ikt im Nahen Osten

M1 Klasse: Unterrichtsreihe: Israel - Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Die Frühgeschichte des Nahen Ostens

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe das Thema: „Die Frühgeschichte des Nahen Ostens“.

3.) Erstellen Sie eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse in Form eines Marktplatzes. Nutzen Sie hierfür die bereitgestellten Materialien oder recherchieren Sie gerne auch eigenständig. Filtern Sie aus diesen Materialen die wichtigen Informationen und bereiten Sie sich darauf vor, als Experte diese Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern darzustellen.

4.) Erstellen Sie ein kurzes Handout zu Ihrem Thema.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

M2 Klasse: Unterrichtsreihe: Israel - Konfl ikt im Nahen Osten Die religiöse Fach: Politik Stunde: Entwicklungslinie: Judentum, Christentum, Islam

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe das Thema: „Die religiöse Entwicklungslinie: Judentum, Christentum, Islam“.

3.) Erstellen Sie eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse in Form eines Marktplatzes. Nutzen Sie hierfür die bereitgestellten Materialien oder recherchieren Sie gerne auch eigenständig. Filtern Sie aus diesen Materialen die wichtigen Informationen und bereiten Sie sich darauf vor, als Experte diese Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern darzustellen.

4.) Erstellen Sie ein kurzes Handout zu Ihrem Thema.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

153 Der Konfl ikt im Nahen Osten

M3 Klasse: Unterrichtsreihe: Israel - Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Die religiösen Wurzeln Israels: Das Judentum

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe das Thema: „Die religiöse Wurzeln Israels: Das Judentum.“

3.) Erstellen Sie eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse in Form eines Marktplatzes. Nutzen Sie hierfür die bereitgestellten Materialien oder recherchieren Sie gerne auch eigenständig. Filtern Sie aus diesen Materialen die wichtigen Informationen und bereiten Sie sich darauf vor, als Experte diese Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern darzustellen.

4.) Erstellen Sie ein kurzes Handout zu Ihrem Thema.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

M4 Klasse: Unterrichtsreihe: Judentum, Israel, Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Wie sah die Ideologie der Nazis aus?

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe das Thema: „Wie sah die Ideologie der Nazis aus?“

3.) Erstellen Sie zur Vorbereitung auf die Filme „Die Wannseekonferenz“ und „Hitlerjunge Salomon“ eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse. Nutzen Sie hierfür bereitgestellte Materialien oder recherchieren Sie gerne auch eigenständig. Filtern Sie aus diesen Materialen die wichtigen Informationen (Sie können, müssen aber nicht alle(s) verwenden.) Orientieren Sie sich dabei an folgenden Aspekten: „Rassenlehre“, „Lebensraum im Osten“, „Antisemitismus“, „Führerprinzip“, „Totalitätsanspruch“.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

154 Der Konfl ikt im Nahen Osten

M5 Klasse: Unterrichtsreihe: Judentum, Israel, Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Wie errichteten die Nazis eine totale Diktatur?

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe die Frage: „Wie errichteten die Nazis eine totale Dikta- tur?“

3.) Erstellen Sie zur Vorbereitung auf die Filme „Die Wannseekonferenz“ und „Hitlerjunge Salo- mon“ eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse. Nutzen Sie hierfür bereitgestellte Materialien oder recherchieren Sie gerne auch eigenständig. Filtern Sie aus den Materialen die wichtigen Informationen. (Sie können, müssen aber nicht alle(s) verwenden.) Orientieren Sie sich dabei an folgenden Aspekten: „Ermächtigungsgesetz“, „Straßenterror“, „Gleichschaltung“, „Propaganda“, „Parteiorganisation“, „Konzentrationslager“.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

M6 Klasse: Unterrichtsreihe: Judentum, Israel, Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Wie erging es den Juden in der Nazisdiktatur?

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe die Frage: „Wie erging es den Juden in der Nazidiktatur?“

3.) Erstellen Sie zur Vorbereitung auf die Filme „Die Wannseekonferenz“ und „Hitlerjunge Salo- mon“ eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse. Nutzen Sie hierfür bereitgestellte Materialien. Filtern Sie aus den Materialen die wichtigen Informationen. (Sie können, müssen aber nicht alle(s) verwenden.) Orientieren Sie sich dabei an folgenden Aspekten: „Judenboykott“, „Nürnberger Gesetze“, „Novemberpogrom“ („Reichskristallnacht)“, „Wannseekonferenz“, „Endlösung“.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

155 Der Konfl ikt im Nahen Osten

M7 Klasse: Unterrichtsreihe: Judentum, Israel, Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Wie ging die Weimarer Republik zugrunde?

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe die Frage: „Wie ging die Weimarer Republik zugrun- de?“

3.) Erstellen Sie zur Vorbereitung auf die Filme „Die Wannseekonferenz“ und „Hitlerjunge Salo- mon“ eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse. Nutzen Sie hierfür bereitgestellte Materialien. Filtern Sie aus den Materialen die wichtigen Informationen. (Sie können, müssen aber nicht alle(s) verwenden.) Orientieren Sie sich dabei an folgenden Aspekten: „Infl ation“, „Weltwirtschaftskrise“, „Arbeits- losigkeit“, „Versailler Vertrag“, „radikale Parteien“, „Machtergreifung Hitlers“.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

M8 Klasse: Unterrichtsreihe: Judentum, Israel, Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Die Gründung Israels

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe das Thema: „Die Entwicklung des Konfl iktes im Nahen Osten von 1978-2008“

3.) Erstellen Sie eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse. Nutzen Sie hierfür bereitgestellte Materialien oder recherchieren Sie gerne auch eigenständig. Filtern Sie aus diesen Materialen die wichtigen Informationen. (Sie können, müssen aber nicht alle(s) verwenden.)

4.) Erstellen Sie ein kurzes Handout zu Ihrem Thema.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

156 Der Konfl ikt im Nahen Osten

M9 Klasse: Unterrichtsreihe: Judentum, Israel, Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Der Staat Israel

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe die Frage: „Der Staat Israel – Entstehung und heutiger Zustand - Porträt eines Landes“.

3.) Erstellen Sie eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse. Nutzen Sie hierfür bereitgestellte Materialien oder recherchieren Sie gerne auch eigenständig. Filtern Sie aus den Materialen die wichtigen Informationen. (Sie können, müssen aber nicht alle(s) verwenden.)

4.) Erstellen Sie ein kurzes Handout zu Ihrem Thema.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

M10

Klasse: Unterrichtsreihe: Judentum, Israel, Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Geschichte des Konfl ikts

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe die Frage: „Die Geschichte des Konfl iktes im Nahen Osten von 1947-1977.“

3.) Erstellen Sie eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse. Nutzen Sie hierfür bereitgestellte Materialien. Filtern Sie aus den Materialen die wichtigen Informationen. (Sie können, müssen aber nicht alle(s) verwenden.)

4.) Erstellen Sie ein kurzes Handout zu Ihrem Thema.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

157 Der Konfl ikt im Nahen Osten

M11

Klasse: Unterrichtsreihe: Judentum, Israel, Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Palästina – ein Staat, den es noch nicht gibt

Datum: Name:

Arbeitsaufträge 1.) Bestimmen Sie in ihrer Gruppe eine(n) Zeitwächter(in) und eine(n) Moderator(in).

2.) Bearbeiten Sie in Ihrer Arbeitsgruppe die Frage: „Palästina – ein Staat, den es noch nicht gibt – Position der Palästinenser.“

3.) Erstellen Sie eine Präsentation Ihrer Arbeitsergebnisse. Nutzen Sie hierfür bereitgestellte Materialien. Filtern Sie aus den Materialen die wichtigen Informationen. (Sie können, müssen aber nicht alle(s) verwenden.)

4.) Erstellen Sie ein kurzes Handout zu Ihrem Thema.

Zeit: insgesamt 180 Minuten = 2 Doppelstunden

M12 Protokoll des Films: „Die Wannseekonferenz“

Beantworten Sie bitte folgende Fragen, während Sie den Film sehen: 1.) Wie wurde über die Juden gesprochen?

2.) Wie wurde über deren Vernichtung gesprochen?

3.) Wie war die Atmosphäre während der Wannseekonferenz?

4.) Welches Menschenbild hatten die Anwesenden?

5.) Wie schätzen Sie die Konferenzteilnehmer ein?

158 Der Konfl ikt im Nahen Osten

M13 Fragenpool (bitte laut und deutlich sprechen)

Eröffnungsfragen (in den ersten 5 bis 10 Minuten): • Wie dürfen wir Sie ansprechen? • Wie wurden Sie bzw. wie wird man Botschafter? • Wie sieht Ihr Tag aus, was sind Ihre Aufgaben als Botschafter? • Wie sehen Sie Ihre persönliche Gefährdung und die der Botschaft in Israel? • Welchen Bezug haben Sie zu Gießen? • Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie das erste Mal (als Deutscher Botschafter) in Israel waren? • Welche berufl ichen Chancen gibt es für Fachoberschüler im Auswärtigen Amt/Dienst?

Bitte protokollieren Sie ab hier: Informations- und Sondierungsfragen (5/10 bis 35 Minuten): • Welchen Anteil an der israelischen Bevölkerung haben Juden, Muslime und Christen? • Wie wird man als Deutscher in Israel behandelt? • Der Konfl ikt zwischen Israel und den (muslimischen) Nachbarstaaten war doch absehbar. Warum hat man Israel 1948 Palästina als Land zugewiesen? • Warum eskalierte der Konfl ikt in der Folgezeit und dauert bis heute an? • Wie ist das Verhältnis von Deutschland zu Israel und zu den Palästinensern? • Warum beschützen die USA Israel? • Beschreiben Sie die Situation der israelischen und der palästinensischen Bevölkerung? • Warum gibt es keinen eigenständigen palästinensischen Staat? • Welches Ausmaß hatte der letzte Krieg im Libanon? • Wem gehört Jerusalem? Kann es geteilt werden? • Was kann die Deutsche Botschaft bzw. was können die Europäer zum Frieden beitragen? • Haben die palästinensischen Flüchtlinge ein Recht auf Rückkehr?

Einschätzungs- und Bewertungsfragen (35 bis 45/60 Minuten): • Wie beurteilen Sie die Chance auf einen dauerhaften Frieden? Wann kommt der Frieden? • Wie beurteilen Sie die Chance auf einen eigenen palästinensischen Staat? • Für wie groß halten Sie die Gefahr eines Angriffs des Iran auf Israel, eventuell auch mit Atomwaffen? • Wie sehen Sie das Engagement von George Bush? • Welche Lösung des Konfl iktes sehen Sie? • Für wen würden Sie Partei ergreifen? • Wie sehen die israelischen Bürger den derzeitigen Friedensprozess?

159 Der Konfl ikt im Nahen Osten

M14

Klasse: Unterrichtsreihe: Israel – Konfl ikt im Nahen Osten

Expertenbefragung des Fach: Politik Stunde: Deutschen Botschafters in Israel

Datum: Name:

Protokoll (notieren Sie bitte stichwortartig)

Frage 1:

Antwort 1:

Frage 2:

Antwort 2:

Frage 3:

Antwort 3:

Für mich war besonders wichtig:

Das habe ich so noch nicht gewusst:

160 Der Konfl ikt im Nahen Osten

M15

Klasse: Unterrichtsreihe: Israel – Konfl ikt im Nahen Osten

Fach: Politik Stunde: Refl exion

Datum: Religionszugehörigkeit:

Bitte beantworten Sie folgende Fragen ehrlich und anonym. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Es geht um eine Gesamtbewertung unserer Unterrichtsreihe „Israel - Konfl ikt im Nahen Osten“. 1.) Hat Ihnen die gesamte Unterrichtsreihe insgesamt gefallen?

2.) Was hat Ihnen die gesamte Unterrichtsreihe „gebracht“? Was wussten Sie vorher so noch nicht? Was konnten Sie „mitnehmen“?

3.) Haben Sie Verbesserungsvorschläge? Wenn ja, beschreiben Sie diese bitte.

4.) Hat sich Ihre persönliche Einstellung zu den verschiedenen, auch anderen Religionen geändert?

5.) Wie hat sich Ihre Einstellung bzgl. der Konfl iktparteien im Nahen Osten geändert?

6.) Beschreiben Sie Ihre Einstellung und Ihr Bewusstsein zum Konfl ikt im Nahen Osten insgesamt?

7.) Haben Ihnen die einzelnen Themenblöcke gefallen? Begründen Sie bitte Ihre Auffassung. („Frühgeschichte und religiöse Wurzeln Israels“ / „Judenverfolgung und Holocaust im National- sozialismus“ / „Gründung Israels und Entstehung bzw. Entwicklung des Konfl iktes im Nahen Osten“)

8.) Wie empfanden Sie die Arbeitsweise bzw. die thematische Erarbeitung der Unterrichtsreihe?

9.) Wie empfanden Sie die Lehrkraft während der Unterrichtsreihe?

161 Das XENOS-Programm – IntegrationIntegration und Vielfalt

Aaron und Dan Löwenbein

Das Bundesprogramm „XENOS - Integration und berufl iche Perspektive sicherzustellen. In den ange- Vielfalt“ verfolgt das Ziel, Demokratiebewusstsein botenen Workshops sind die Jugendlichen so einge- und Toleranz zu stärken und Fremdenfeindlichkeit und bunden, dass sie sich konstruktiv mit einbringen kön- Rassismus abzubauen. Dabei geht es vor allem um nen und dabei Produkte schaffen, die ihr Selbstwert- präventive Maßnahmen gegen Ausgrenzung und Dis- gefühl stabilisieren. Sie lernen Verantwortung für ihr kriminierung speziell auf dem Arbeitsmarkt und in der Handeln zu übernehmen und erfahren eine hohe Gesellschaft. Wertschätzung für ihr Tun. Das Wir-Gefühl wird ge- stärkt und die Wahrnehmungen werden geschärft. Ziel ist es, arbeitsmarktbezogene Aktivitäten mit Maß- Die dargebotenen alternativen Methoden helfen, nahmen für Toleranz, Demokratie und Vielfalt zu ver- partnerschaftlich und wertschätzend miteinander binden. Gefördert werden Aktivitäten gegen Frem- umzugehen. Das entwickelte Selbstbewusstsein, das denfeindlichkeit, Antisemitismus und Diskriminierung nach allen einschlägigen Untersuchungen den in die in arbeitsmarktlichen Handlungsfeldern wie Betrieb, rechte Szene abgedrifteten Jugendlichen fehlt, wird Verwaltung, Ausbildung, Schule und Qualifi zierung in ihnen durch diese didaktisch-methodische Arbeit in Deutschland und in einem europäischen Kontext. Für der Schule zurückgegeben bzw. stabilisiert. Eine neu die lokalen und regionalen Problemlagen sollen pra- zu defi nierende Lehreraus- und -fortbildung ist dabei xisbezogene Lösungsansätze unter Anwendung er- unerlässlich. probter und bewährter Konzepte und Methoden ent- wickelt und gute Projektansätze implementiert wer- Antragsteller der XENOS-Maßnahme ist der Wet- den. teraukreis mit Unterstützung der NachSchule Wet- terau e.V. und der WAUS gGmbH. Letztere ist für Ak- Vor allem die Institution Schule ist neben dem Eltern- tivitäten im Bereich Qualifi zierung und Beschäfti- haus die Institution der Erziehung von Kindern und gung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen Jugendlichen. Dort sollten sie demokratische Werte nach ihrer Schulpfl icht verantwortlich. Der nachfol- erfahren, die sie auf ein selbstbestimmtes Leben vor- gende Beitrag tangiert den schulischen Bereich und bereiten. Es muss sichergestellt sein, dass die Arbeit wird von der NachSchule Wetterau e.V. betreut. der Schüler wertgeschätzt wird und die Schule dazu beiträgt, ihr Selbstwertgefühl zu steigern. Eine starke Im Bereich Übergang Schule – Beruf geht es darum, Schülerpersönlichkeit ist die beste Prävention gegen schulmüde Jugendliche zu orientieren, zu qualifi zie- rechtsextremes Gedankengut. Viel stärker als bisher ren und dabei die Schwellenängste abzubauen. Im sollte der Übergang in den Beruf inhaltlich und me- Bereich der berufl ichen Vorbereitung soll die Abbre- thodisch-didaktisch organisiert werden und dies in cherquote in den ersten Lernmonaten reduziert wer- enger Abstimmung mit Betrieben, den Arbeitgebern den. Weiter wird ein Netzwerk zwischen den allge- und Beschäftigten. meinbildenden und den berufl ichen Schulen auf- und ausgebaut. In der XENOS-Maßnahme erhalten schulmüde Ju- gendliche besondere Unterstützung. Der Übergang Zur Zielerreichung bieten sowohl die NachSchule als in den Beruf wird ab der 7. Klasse durch Aktivitäten in auch die WAUS Qualifi kations- und Informationsver- Berufsschule und Betrieb unterstützt, um ihnen eine anstaltungen an und führen sie durch. Darüber hi-

162 naus erfolgt eine offensive, zielgruppenspezifi sche • Durch die im Rahmen der Foto-AGs stattfi ndenden Öffentlichkeitsarbeit. Im Falle der NachSchule geht es Aktivitäten werden spezifi sche Lebensformen von darum, der genannten Jugendlichen-Gruppe beim Personen mit Migrationshintergrund fotografi sch Übergang von der Schule in den Beruf zu helfen, um festgehalten und in einer Wanderausstellung un- der drohenden Jugendarbeitslosigkeit entgegenzu- ter dem Motto „Auch wir sind Deutschland“ zur wirken. Die Angebote umfassen demnach leistungs- Diskussion gestellt. steigernde, berufsorientierende Elemente ebenso wie sehr konkrete Hilfen bei der Lehrstellensuche un- Zur Zielerreichung sollen die folgend benannten Ak- ter Einbindung des Elternhauses, aber auch und vor tivitäten beitragen: allem der Einbeziehung von Innungen und Kammern. • „Inthronisierung“ von Aktivitäten/Projekten, die Fremdenfeindlichkeit und Gewalt im Bereich des In Kooperation mit der „Lagergemeinschaft Ausch- Übergangs von Schule – Beruf/Berufsvorbereitung witz e.V“, dem DGB, den Kammern, der Schulaufsicht entgegenwirken, und den Partnerschulen fi nden – u.a. auf den The- • stärkere Einbindung des familiären Umfelds, durch menfeldern der politischen Bildung - folgende Akti- die die Prozesse des Übergangs Schule - Beruf auf onen statt: der einen Seite und die Stabilisierung der jungen • Fahrten nach Auschwitz, Menschen auf der anderen Seite befördert wer- • Einladungen und Gespräche mit Zeitzeugen, so den, beispielsweise am 9. November, • deutliche Verringerung der Jugendarbeitslosig- • Durchführung von Veranstaltungen u. a. mit jü- keit und der Anzahl der Ausbildungsabbreche- dischen Gemeinden in der Wetterau, rinnen und –abbrecher, • Etablierung von Wanderausstellungen und Orga- • die Schaffung eines höheren Informationsgrades nisation von Ausstellungsterminen zu den The- über den Arbeitsalltag und die dort verlangten menstellungen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Kompetenzprofi le, Migration, • Unterstützung bei Eigeninitiativen im Bereich • regelmäßige Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu Übergang Schule – Beruf, den genannten Themen, • Mobilisierung der strategischen Partner, sich mit • aktive aktuell-politische Aktionen gegen in der Re- der Zielgruppe unmittelbar im Spannungsfeld gion etablierte rechtsradikale Gruppen, Übergang Schule – Beruf durch eigene Aktivitäten • Erarbeiten von Lehr- und Arbeitsmaterialien für auseinanderzusetzen und sie dadurch zu unter- Schülerinnen und Schüler bzw. Auszubildende stützen. und Vollzeitschüler inkl. Studenten der Techniker- schule für zu den Themen Demokratie, Toleranz Es werden Jugendliche mit Migrationshintergrund und Vielfalt in der Gesellschaft, und deren familiäres Umfeld in besonderer Weise in • Gesprächskreise mit Vertretern von Migrationsver- das benannte Geschehen eingebunden. Sie helfen, einen, Strategien mit zu entwickeln, wie Fremdheit besser • Gesprächskreise für Eltern und Schüler/innen mit verstanden werden kann und dies unter Wahrung Migrationshintergrund, der jeweiligen kulturellen Identität. • mit Unterstützung des Fachdienstes für Migration werden für Auszubildende, deren Lehre gefährdet Die Qualifi zierung in den Schulen umfasst den Ar- ist, Unterstützerstrukturen im Rahmen der Maß- beitsmarktbereich, aber geht unmittelbar auf die nahme aufgebaut, um Einzelfallbetreuung zu er- Themenstellung der Integration von Migrantinnen bringen. und Migranten, auf die betrieblichen Gegeben- • In besonderer Weise werden Firmen, deren Besit- heiten, auf die Förderung der Zivilcourage beim zer einen Migrationshintergrund haben, über die Kampf gegen den Rechtsradikalismus ein. Dies gilt in XENOS-Maßnahme informiert und für die Pro- besonderer Weise für die Aktivitäten im Bereich blemstellungen sensibilisiert. Es wird versucht, die Übergang Schule – Beruf, denn der Diskriminierung positiven Erfahrungen dieser Unternehmer den kann am besten entgegengearbeitet werden durch Jugendlichen näherzubringen. Jugendlichen mit die Sicherstellung der Beschäftigung, und für Ju- Migrationshintergrund kann dies helfen, sich be- gendliche heißt dies der Erwerb einer Lehrstelle und rufl ich besser zu orientieren. Verhinderung des Abbruchs der Ausbildung.

163 Das Xenos-Programm – Integration und Vielfalt

Warum handlungsorientierte Projekte bei XENOS?

Wenn Schule andere Jugendliche haben möchte, dann muss sich Schule auch verändern!

Jugendliche brechen aus ihren gewohnten Denk- schemen nicht schon dann aus, wenn sie die geis- tigen Fähigkeiten dazu besitzen, sondern nur, wenn sie den Willen und das nötige Selbstvertrauen hierzu haben. Umso wichtiger wird es sein, dass sie Selbst- vertrauen und ein Selbstwertgefühl gewinnen. Eine Reihe von Grundfähigkeiten wie z. B. die Fähigkeit zur „refl ektierten Toleranz“ (Klafki), „die Verbesse- rung von Mitbestimmungsfähigkeiten“ sind hierzu Voraussetzung. Abb. 1: Es entsteht ein Gruppenbild, fotografi ert von einem Schüler. Eine Erziehung, die bewusste Bürger zum Ziel hat, Fotos zu diesem Beitrag: Aaron und Dan Löwenbein muss so gestaltet werden, dass in ihrem theore- tischen Überbau die gesellschaftsrelevante – pro- duktive – fremdbestimmte, aber unentfremdete Ar- Gegenüberstellung von Ich und der Welt auf. Foto- beit steht. Der emanzipatorische Charakter der Ar- grafi e wird verstanden als schrille Manifestation des beit muss erkennbar sein. Eine solchermaßen defi - Individualisten ,Ich‘,“ so beschrieben von Susan nierte Arbeit schafft Verantwortungsbewusstsein, Sonntag (dies., Über Fotografi e, Fischer-Verlag, Selbstbewusstsein, bewusstes Sein und Fühlen, 2008, S. 115). Auch im Projekt XENOS versteht sich schafft mithin Bewusstsein. (Vgl. Arbeiten und Ler- die Fotografi e als ein Mittel, mit dessen Hilfe man ei- nen, Heft 33, 1984, Seite 2, Aaron Löwenbein.) nen Platz in der Welt fi ndet. „Nicht minder ist jede Fotografi e nur ein Fragment, dessen moralisches Zu den konkreten Projekten: und emotionales Gewicht von der Umgebung ab- hängig ist, in das sie gestellt ist.“ (Ebenda, S. 104) Da- her passt dieser Ansatz sehr gut in den schulischen/ Vom Bild zum Selbstbild berufsschulischen Raum. Die Fotografi e hilft uns, in- - Eigen- und Fremdwahrnehmung - tensiv sehen zu lernen. Dies ist eine weitere Ambition der XENOS-Maßnahme, dem mit diesem Ansatz ent- Unter diesem Motto fi nden Workshops statt, um die sprochen werden kann. Wahrnehmung der jungen Erwachsenen zu schärfen. Erkenntnisse im Zusammenhang zwischen der Eigen- Statt ganz einfach die Wirklichkeit wiederzugeben, und Fremdwahrnehmung helfen, die Welt – auch die ist das Foto zum Maßstab der Art und Weise gewor- Arbeitswelt – besser zu verstehen, denn das Arbeiten den, in dem uns die Dinge erscheinen, und hat damit fi ndet in aller Regel mit anderen Personen statt, die dem Begriff der Wirklichkeit als solcher – und das sich schnell ein Bild von dem „neuen Mitarbeiter“ heißt zugleich dem Begriff des Realismus – einen machen. Je größer die übereinstimmenden Wahr- neuen Inhalt gegeben. Diesen „Realismus“ heißt es nehmungsanteile zwischen der Eigen- und Fremd- im Projekt zu hinterfragen. Damit entsteht auch eine wahrnehmung sind, umso höher sind die Selbst- Auseinandersetzung der Jugendlichen mit der Wirk- erkennungsanteile, umso besser kann man sich posi- lichkeit. In den Gesprächen während des Fotografi e- tionieren und sein Verhalten darauf abstimmen. rens mit der Lerngruppe und nach dem Shooting sollte der Auseinandersetzung mit der dann neuen Nur selten gibt es in der Schule oder Ausbildung Ein- Wirklichkeit, die sich durch die neuen Erkenntnisse heiten, die sich mit der Wahrnehmung des Men- ergeben, Raum gegeben werden. schen auseinandersetzen. Arbeiten unter Zuhilfenah- me eines Fotostudios sind dabei außerordentlich Sicher geht es darum, in diesem Workshop ein idea- anregend. „Wie es bei modernen Formen der Suche les Bild zu produzieren, das die Person von ihrer nach Selbstausdruck üblich ist, so greift auch die Fo- „bes ten Seite“ zeigt. In der Interaktion wird es darauf tografi e beide überkommenen Formen der radikalen ankommen herauszuarbeiten, welches die „beste

164 Das Xenos-Programm – Integration und Vielfalt

Seite“ denn ist und welchen Postulaten sie denn ge- die Aufforderung, „sich ins rechte Licht zu setzen“, recht wird bzw. werden soll. Wo soll dieses Bild ge- begreifbar. Die technische Umsetzung im Klassen- zeigt werden und in welchem Zusammenhang? Wel- raum bringt es mit sich, den Anwesenden den Um- chen gesellschaftlichen Normen soll es gerecht wer- gang mit den Blitzgeneratoren ebenso näherzubrin- den und was soll damit erreicht werden? Fragen, die gen wie den Umgang mit Fotoapparat, PC und Bea- der Workshop auf der Suche nach der „besten Seite“, mer. Vor allem aber wird bei der Umsetzung schnell dem besten Bild für jeden Einzelnen beantworten deutlich, dass die Beziehung zwischen dem „Model“ sollte. Die Bildbesprechung ermöglicht – ja sie pro- und dem/der fotografi erenden Schülerin oder Schü- voziert verschiedene Interpretationen und unter- ler einen hohen Einfl uss auf den Ausdruck und damit streicht verschiedene Betrachtungsperspektiven, die die Interpretationskraft der Bilder hat. Nicht die Tech- darüber hinaus auch interkulturellen Einfl üssen un- nik dominiert diesen Workshop, sondern die Interak- terliegen. tionen der beiden unmittelbaren Akteure wie auch der Lerngruppe, die die Bilder direkt nach dem Ent- Im Vorgespräch werden die unterschiedlichen Wahr- stehen auf der Beamerleinwand sehen und sich so in nehmungsformen erläutert, im Besonderen die Form den Gesamtprozess einbringen kann. Im besten Fall optischer Wahrnehmung verbunden mit dem Hin- entsteht eine Situation, in der die Fremdverstärkung weis, dass wir nur Refl exionsbilder wahrnehmen und durch die Gruppe in eine Eigenverstärkung von Mo- diese von den jeweiligen Lichtformen/Lichttempera- del und Fotograf/in wechselt. Erfahrungsgemäß hat turen und Lichtintensitäten abhängig sind. So wird sich dieser Zustand nach den ersten zwei bis drei Fotointeraktionen entwickelt.

Die positiven Ergebnisse werden insbesondere dann erreicht, wenn die übliche Konkurrenz in der Schule durch Formen der Kooperation ersetzt wird. Schnell wird deutlich, dass die Gruppe, aber auch der/die Fotograf/in ein hohes Maß an Verantwortung für die entstehende Interaktion übernimmt, denn die Bilder sollen auch von der fotografi erten Person akzeptiert werden, sie sollte sich darin wiederfi nden. (s. auch Lernen & Lehren, Heft 84 2006 – Selbstgesteuertes Lernen und Medien, S. 176 ff, „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte…“.) Jedes Gruppenmitglied fi ndet sich in allen Rollen wieder, sowohl in der der Gruppe als auch als Fotograf oder als „Model“. Dieser Rollen- wechsel macht die Komplexität der jeweiligen Wahr- nehmungsebenen begreifbar.

Sobald die erste Phase der Portraitfotografi e abge- schlossen ist, fi ndet ein Refl exionsgespräch statt, in dem die Befi ndlichkeiten und die Erkenntnisse der Beteiligten eine entscheidende Rolle spielen.

Um die Handlungsorientierung und den Spannungs- bogen im Workshop aufrechtzuerhalten, bearbeiten Kleingruppen innerhalb der ersten Phase, mit einem Fotoapparat und Blitzlicht ausgestattet, in der ge- samten Schule das Thema „Ich und die Schule“ mit-

Abb. 2: Dies ist ein sichtbares Produkt des Work- shops – ein DIN A2-Poster – von den Schülerinnen und Schülern fotografi ert.

165 Das Xenos-Programm – Integration und Vielfalt

Blickwinkel für die eigene Wahrnehmung eröffnet. Die ,Macht’ der Körpersprache wurde mir bewusst…“ … „Die Fotos in der Klasse aufstellen, um zu zeigen, jeder ist wichtig, gehört dazu, ist ein Unikat ,ich bin ich’.“ (s. BerufsschulINSIDER 2/09, Der kalte Sprung ins ICH, S. 10 ff.)

In der Regel erhalten die Beteiligten 14 Tage nach dem Workshop je eine oder zwei DVDs mit allen Bil- dern. Außerdem wird eine Portraitauswahl getroffen und auf ein oder zwei DIN- A2-Poster montiert. Hinzu kommt ein Poster mit den Gruppenbildern. Die Lern- gruppe erhält „ihre gerahmten Poster“ überreicht, anschließend wird über den Workshop noch einmal in der Großgruppe refl ektiert, die erkannten Wahr- nehmungsbereiche und deren Relevanz im gesell- schaftlichen Kontext gesprochen. Die Poster werden sodann im Klassenraum oder Flur ausgestellt, um die „Verortung“ der Schüler/innen in der Schule zu be- fördern. Abb. 3: Schülerinnen der Kurt-Schumacher-Schule in Karben im Workshop. Appell an das Denken der Anders-Denkenden tels frei inszenierter Bilder. Dabei kommt es darauf XENOS-Schule entwickelt Plakate gegen Rechts- an, sich mit der Schule und deren Möglichkeiten und radikalismus und Fremdenfeindlichkeit Grenzen auseinanderzusetzen. Es entstehen oft ge- radezu surrealistische Bilder, die dem Betrachter auch außerhalb des Workshops helfen, Einblicke in „Das XENOS-Projekt unterstützt Initiativen gegen die Blickweisen der Jugendlichen zu bekommen. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt auch an Die dann folgenden Diskussionen auch innerhalb der Schrenzerschule in Butzbach“, so der Schulleiter des Lehrerkollegiums sind durchaus erwünschte Ef- Michael Schröter. Im Rahmen der Geschichtsreisen- fekte der pädagogischen Einheit. AG haben Schülerinnen und Schüler vorhandene Bil- derpostkarten mit Texten so versehen, dass diese ei- In der zweiten Phase des Workshops werden Grup- nen Aufforderungscharakter bekommen. Der Eisbär, penbilder von zwei und mehr Personen erstellt. Es der sein Hinterteil nach oben streckt, den Kopf aber geht darum, sich frei in Szene zu setzen. Hier gibt es auf dem Stein liegen lässt, wurde ergänzt um die keine Vorgaben, und so entstehen u. a. „Spring- Aussage „Zivilcourage sieht anders aus“. „Keine bilder“, Bilder von Freundinnen und Freunden aus Angst vor großen Tieren“ steht auf einer Karte, auf verschiedenen Kameraperspektiven, in denen die In- der eine Dogge auf einen Pinscher herabschaut. dividualität und Emotionalität eine entscheidende Ebenso ist die Karte entstanden, die dann als Plakat Rolle spielen. weiterentwickelt worden ist, auf dem zu lesen steht: „Verändert ihre Denkweise.“ Das Bild mit dem Kahl- Während bzw. nach den Workshops ist oft zu hören: kopf weist auf die rechte Szene hin, und damit eig- „Ich habe festgestellt, dass es nur wenige Personen nete sich dieses Plakat sehr gut dazu, für die gibt, bei denen die Eigen- und Fremdwahrnehmung Demonstration im November 2009 in Friedberg übereinstimmt …“ „Ich habe die Erkenntnis gewon- gegen einen geplanten Aufmarsch der Neonazis nen …, dass der erste Eindruck einer Person nicht verwendet zu werden (siehe Umschlag dieser Pub- immer Auskunft über sein wahres Wesen gibt. Somit likation). Dieses Plakat zeichnet sich durch einen hat es mich sensibilisiert, genauer hinzuschauen.“ … pädagogischen Anspruch aus. Es ist nicht aggressiv “Mir ist aufgefallen, dass unsere Körpersprache wahr- aufgebaut, sondern appelliert an das Denken der hafter ist als die der Worte.“ … „Mir wurden neue Anders-Denkenden.

166 Das Xenos-Programm – Integration und Vielfalt

Die Schülerinnen und Schüler entwickelten aber auch eigene Plakate, auf denen u. a. ein Pärchen zu sehen ist mit dem Hinweis „Liebe – Leben – Toleranz“. Die Schrenzerschüler/innen partizipierten bei die- sem Projekt vor allem durch das pädagogische Ge- schick der Lehrerin Jessica Groß, die sehr viel Wert auf Selbstbestimmung legte und dafür Sorge trug, dass die vorliegenden Produkte professionell gestal- tet wurden. Durch dieses Projekt erhalten die Schü- ler/innen eine hohe Wertschätzung für ihre Arbeit. Der Stolz auf die entstandenen Produkte ist spürbar. Alle diese Plakate und Postkarten sind in einer Aus- stellung zu sehen, wobei auch andere Projektschulen diese Sammlung mit weiteren selbstentwickelten Plakaten ergänzen werden.

Auf der Friedberger Demonstration an einem Sams- tag waren zahlreiche Vertreter/innen der Schullei- tungen der Projektschulen und Lehrkräfte ebenso vertreten wie die Schüler/innen der Schrenzerschule, die verhindern halfen, dass die Neonazis durch Abb. 4: So werden die Mitschüler für die Flyer foto- Friedberg marschieren konnten. Der Verbund von grafi ert Schüler/innen und Pädagogen in einer gemein- samen Demonstration weist den richtigen Weg für das demokratische Wirken auf und unterstreicht die tig sind dann an dem Erstellen des Flyers auch die Partnerschaft zwischen Schülerschaft und Lehrer- Mitschüler/Freunde, Lehrkräfte und das familiäre schaft. Umfeld beteiligt, wobei Anregungen der Arbeits-/ Berufsberater auch ihre Berücksichtigung fi nden. Al- len am Verfahren Beteiligten liegt viel daran, dem Be-werben – einmal anders! betroffenen Jugendlichen in dieser fremdbe- – Ich-Flyer –1 stimmten Situation beizustehen, ihn nicht alleine zu lassen. Die Einbindung des gesamtschulischen und Bei der Suche von Schülerinnen und Schülern nach privaten Umfelds ist bei der Herstellung des Flyers Praktikums- oder Lehrstellen tauchen immer die glei- außerordentlich wichtig, um den Jugendlichen zu chen Probleme auf: Wie kann ich mich im Vorfeld am bestätigen und Mut zu machen, die neuen, unge- besten präsentieren, um zu einem Vorstellungsge- wohnten Herausforderungen anzunehmen. Die Un- spräch eingeladen zu werden? Der Übergang von terstützung bei der Herstellung des Ich-Flyers auch der Schule in den Beruf ist für die Jugendlichen sehr durch das familiäre Umfeld kann zur Stärkung und oft mit großen Ängsten verbunden. Das den Jugend- Festigung des Rückhaltes des Jugendlichen in seiner lichen zur Verfügung gestellte Instrumentarium für Umgebung beitragen und erhöht die Identität der das Bewältigen von Bewerbungen ist wenig effi zient. Familie mit der entstandenen Situation des Bewer- Zu oft wird es notwendig, die Förderung individuell bers. Dies führt zur Bestärkung und des Rückhalts auf jeden Jugendlichen abzustimmen. Selten ar- des Jugendlichen auch und vor allem bei einem ne- beiten dabei Schule, Eltern und Arbeitsverwaltung gativen Bescheid der Firma. zusammen. Da die Flyer bedarfsorientiert in kleiner Stückzahl Im XENOS-Programm wird versucht, diesem Um- hergestellt werden, ist gewährleistet, eine ergän- stand entgegenzuwirken, u. a. mit der Herstellung zende Korrektur schnell durchführen zu können. Für eines individuellen Flyers, in dessen Mittelpunkt die die Flyer sprechen weiterhin die relativ geringen besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Be- Herstellungskosten und der kostengünstige Versand, werbers/der Bewerberin aufgeführt sind. Folgerich- der in einem gewöhnlichen C5-Kuvert mit dem nor-

1 Auszüge des vorliegenden Beitrags sind auch veröffentlicht in Berufsschul-INSIDER der GEW Hessen 1/10, S. 13.

167 Das Xenos-Programm – Integration und Vielfalt

malen Briefporto erfolgen kann. Der angeschrie- benen Firma erspart eine derartige Form von Bewer- bung darüber hinaus, die Bewerbungsunterlagen zurückschicken zu müssen – etwas, das von den Un- ternehmen ungern getan wird und manche Firma davon abhält, offensiv mit freien Stellen für Praktika oder Lehre umzugehen.

Bisher bestanden die Bewerbungsunterlagen in aller Regel aus ca. drei Blättern, meist mit einem weitest- gehend standardisierten Anschreiben, einem Le- benslauf und dem letzten Schul- bzw. Berufsschul- zeugnis. Die Reaktionen auf derartige Bewerbungen fallen meist verhalten aus. Einen etwas anderen Weg geht man in der Wetterau. Dort befördern die Mitar- beiter der NachSchule Wetterau e.V. nachhaltig den Abb. 5: „Besonders interessiert mich alles, was mit Übergang von der Schule in den Beruf, und dies nicht Motoren zu tun hat.“ nur durch Qualifi zierungsangebote an sieben Pro- jektschulen, sondern auch durch das Erstellen der „Ich-Flyer“ – einer Bewerbungsform, die, weil sie den Werbungskategorien in besonderer Weise Rech- nung trägt, auffällt. Dabei werden sie von den Kolle- ginnen und Kollegen der Schulen aktiv unterstützt.

Die Workshop-Teilnehmer/innen lernen, sich darzu- stellen, auch wenn es nicht leicht fällt, und sich davon überzeugen zu lassen, dass es sich lohnt, seine Fä- higkeiten zu erkennen, zu benennen und darzustel- len. Dies kostet Überwindung, macht aber deutlich, dass man für sich Verantwortung übernehmen muss.

Sich darstellen, sich erkennen schafft Erkenntnisse, die helfen, sich nicht so fremd zu sein – eine gute Ba- sis, die bewirkt, die eigenen Handlungen besser zu verstehen. Eventuell notwendige Verhaltensände- rungen sind nur so möglich. Insofern hat der Flyer mehrere Hauptaufgaben: • Er motiviert den Jugendlichen, in einen kommuni- kativen Prozess betreffend die Bewerbung einzu- steigen. • Es werden verschiedene Gruppen und Professi- onen eingebunden. • Es wird sich der Werbetechniken bewusst bedient. Abb. 6: „In der Metallwerkstatt unserer Berufsschule • Es wird die Möglichkeit der Darstellung der extra- lerne ich, was ich sehr gut gebrauchen kann.“ funktionalen Qualifi kationen genutzt. • Es wird der Umgang mit Fotostudio und Grafi k- programmen erlernt. nen ebenfalls noch einmal so viele „Seiten“ im • Es ist eine fl exible und preiswerte Möglichkeit, sich Format 10 x 21 cm entstehen. Auf der Titelseite unter Einbindung zeitgemäßer Medientechniken ist das Portrait des Jugendlichen zu fi nden inkl. sei- zu bewerben. nes Namens. Auf der linken Innenseite befi ndet sich der Lebenslauf inkl. eines Bildes, die mittlere Innen- Der Flyer hat das Format DIN A4 und ist zweimal ge- seite beinhaltet Angaben zu den bereits absolvierten falzt, sodass auf der Außenseite drei „Seiten“ und in- Praktika und deren Tätigkeitsfeldern. Illustriert wird

168 Das Xenos-Programm – Integration und Vielfalt

dieser Bereich mit dem Logo der jeweiligen Firma Beim Beschreiten neuer Wege bleibt es notwendig, bzw. mit Bildern aus dem Praktikum. neue Methoden und auch technische Möglichkeiten einzusetzen, so ebenfalls im beschriebenen Fall. Ge- Die rechte Innenseite zeigt die eingescannten Zeug- legentlich wird mit dem Rahmenlehrplan und seinen nisse, Bescheinigungen der Firmen und die bisher Engen argumentiert. Nachfolgend ein Zitat, das hier erworbenen Zertifi kate z. B. vom Erste-Hilfe-Kurs Mut machen soll: „Der Bildungsplan will nur Weg- oder den Fahrerlaubnisschein für Kleinkrafträder u. weiser, nicht Stoffvorschrift sein. Keinem Lehrer a. m. Die linke Außenseite wie auch die Mittelseite möge es verwehrt sein, das Stoffnetz noch weitma- dokumentieren die Hobbys des/der Schüler/in. Hier schiger zu gestalten; denn es ist der Geist, der sich gibt es viele Bilder mit wenig Text. Die Bilder zeigen den Körper baut. Wo er in freudiger Kraft auf das Aktivitäten mit Fußball, Tischtennis, Inlineskater, rechte Ziel gerichtet ist, da bedarf es im Grunde nur Skier, Angelutensilien oder Bilder bei der Freiwil- großzügiger Leitsätze, die dem Lehrer gestatten, sich ligen Feuerwehr, dem Arbeiter-Samariter-Bund oder in lebensprühender Freiheit als Persönlichkeit voll dem Deutschen Roten Kreuz, dem Tanzclub oder auszuwirken.“ (J. Handke, Die Entwicklung der Arbei- Hinweise zu Aktivitäten in der Aquaristik oder terschule zur Produktionsschule, in: Entschiedene Terraris tik und dergleichen mehr. Schulreform, Heft 8, Ernst Oldenburg-Verlag, 1923, S. 57) Gestaltet werden diese Flyer mittels einfacher Ge- staltungsprogramm, so beispielsweise PhotoImpact, das für wenig Geld erworben werden kann. Viele Das „Kreuz“ mit dem Kreuz … Programme sind jedoch auch als Freeware aus dem Den richtigen Dreh fi nden … Internet zu laden. Die meisten Schüler/innen be- schäftigen sich gerne mit diesen Programmen, zumal Das Symbol des Kreuzes ist vielschichtig und vielsa- sie mannigfaltig, so auch zur Bildbearbeitung, ge- gend. Aktuell geht es wieder einmal darum, ob im nutzt werden können. Gleichzeitig können sie derar- Klassenraum ein Kreuz hängen darf oder nicht, wie tige Qualifi kationen (Prospektgestaltung) in den mei- Schülerinnen und Schüler mit einer anderen Glau- sten KMUs gut einbringen. bensrichtung mit diesem Symbol der Christen um- gehen, und wie groß die identitätsstiftende Kraft ist, Der Ausdruck des Flyers erfolgt bunt – falls möglich oder ob es auch Personen ausgrenzt – Themen, die in der Schule oder für wenig Geld in einem Copy- im Rahmen von XENOS bearbeitet werden, auch im shop auf mindesten 150gr/qm-Papier. Das Falzen wahrsten Sinne des Wortes. übernehmen die Jugendlichen selbst.

Viele Hobbybilder sind in den Schulen erstellt wor- den. Die Schülerinnen und Schüler brachten die not- wendigen Utensilien, die mit ihren Hobbys etwas zu tun haben, dafür mit, z. B. Bälle, Inlineskates oder auch Fahrräder oder Mopeds. Das zur Verfügung gestellte Fotostudio erleichtert diese Arbeit; ganz nebenbei erlernten die Jugendlichen, aussagekräfti- ge Szenen zu visualisieren. Auch der Umgang mit Licht und Schatten ist eine Herausforderung, der sich die Jugendlichen gerne stellten und die sie mei- sterten. Viele Bilder sind außerdem von den Jugend- lichen mitgebracht worden. Sie fotografi erten mit einfachen Digitalkameras, die Qualität reicht für den Ich-Flyer durchaus. Da die Mitwirkungsmöglich- keiten der Schülerinnen und Schüler in diesem Projekt groß ist, bleibt es für die Kolleginnen und Kollegen eine kleine Herausforderung, die jewei- ligen Textteile und noch fehlenden Bilder rechtzeitig einzusammeln, damit die Ich-Flyer mit Hilfe des Gra- Abb. 7: Wir arbeiten mit verschiedenen Hölzern an fi kprogramms montiert werden können. unterschiedlichen Holzbearbeitungsmaschinen.

169 Das Xenos-Programm – Integration und Vielfalt

Abb. 8: Produktfotografi e ist Bestandteil des Work- Abb. 9: Durch die Rotation ist gewährleistet, dass die shops beiden Teile sich voneinander lösen lassen.

Das XENOS-Projekt hat ein Logo, in diesem Fall aus Benötigt wird für die Herstellung eine Bohrmaschine Holz. mit einem Ständer, ein 10mm-Bohrer, eine Holzsäge und ein Bandschleifer oder Schmirgelleine für die Wie das Kreuz auseinanderfällt ohne Gewaltanwen- Feinarbeit und Holzleim. dung, bleibt die Frage, denn die XENOS-Maßnahme ist eine Maßnahme gegen Gewalt. Die Lösung ist in Das Logo von XENOS beginnt mit einem roten X – der Gruppe leicht gefunden … durch Rotation, so dem Kreuz. So wird die Verbindung zur Maßnahme werden die vier kleinen Rundhölzer in der Bohrung noch deutlicher. XENOS bedeutet im Griechischen: nach außen bewegt, die die beiden Schenkel des „der Fremde, der Freund“, somit bleibt die gemein- Kreuzes festhalten. same Lösung und Herstellung mit Fremden und Freunden das Motto dieses Projekts – ein Kreuz, mit Das Kreuz ist außerdem relativ schnell hergestellt. dem sich jeder identifi zieren und umgehen kann. Ein Schenkel besteht aus drei Vierkanthölzern, der lange Teil hat 120 mm, die beiden kurzen Teile haben je 52 mm. Die zwei kurzen Hölzer sind auf der Stirn- Messer – Werkzeug oder Waffe? seite mittig mit einer 10mm-Bohrung versehen. Das Prozessorientierter Workshop längere Holzteil ist mittig ebenfalls mit einer 10mm- Bohrung versehen. Alle drei Teile werden mit Holz- Sicherlich wird diese Überschrift bei einigen zu- leim so verbunden, dass in der Mitte ein Spalt übrig nächst Ressentiments hervorrufen, eventuell gar als bleibt (mind. 15 oder besser 16 mm) – exakt so breit, kontraproduktiv in diesem inhaltlichen Gesamtzu- dass der zweite Schenkel dort eingebracht werden sammenhang gewertet werden. In Skandinavien kann. Vor dem Verleimen sollten noch die 8 mm konnten die Autoren mit dem Projekt „Herstellung starken Rundhölzer, die ca. 30 mm lang sind, in die eines Messers“ außerordentlich gute Erfahrungen zuvor angebrachten Bohrungen eingesetzt werden. sammeln, ähnlich denen, die bereits in den dä- Für den zweiten Schenkel ist dieser Arbeitsschritt zu nischen Produktions- und Nachschulen seit 30 Jah- wiederholen. ren erworben wurden.

170 Das Xenos-Programm – Integration und Vielfalt

Gewalt ist in Schule immer ein aktuelles Thema. Da- bei kommt es auf den Umgang und die Art der The- matisierung von Gewalt an. Ein „Kristallisationskeim“ für die Diskussion um Gewalt kann dieses Projekt sein. Ist ein Messer a priori eine Waffe, oder wird sie erst vom Menschen zu einer solchen gemacht? Ist demnach jedes Messer eine Waffe? Ein Pfl asterstein ist keine Waffe, bis er von jemandem geworfen wird.

Bei der Erstellung eines Messers setzen sich die Schülerinnen und Schüler mit dem Werkstück über einen längeren Zeitraum auseinander. Sie erfahren beim Erstellen beispielsweise wie gefährlich das Er- zeugnis ist. Sie werden die Funktionen dabei ken- nenlernen. Dabei werden sie verstehen, welche ge- fährlichen Wirkungen von dem Messer verursacht werden können. Dieser Refl exionsprozess wird die Jugendlichen dabei unterstützen, eine distanzierte Sichtweise zu dem Werkstück aufzubauen.

Unumstritten – der Umgang mit dem Messer setzt eine gewissen Reife und Vorsicht voraus. Dies gilt für die Nahrungszubereitung ebenso wie für den Out- dooreinsatz. Abb. 10: Verschiedene Messer für unterschiedliche Arbeiten Vor Beginn des Workshops sind mit den Beteiligten Gespräche zu führen über den möglichen Einsatz der Messer. Gewollt ist die Diskussion über Gewalt vieles unmittelbarer, auch wenn gerade ein Küchen- und Gewaltlosigkeit, über die Achtung der Persön- messer hergestellt wird. lichkeit Anderer, über Ängste und Aggressivität und wie sie sich in der Gruppe äußern. Handlungsorientierte, schülerzentrierte Projektar- beit, die hauptsächlich mit der Holzbe- und -verar- Die bisherigen Versuche, diese Themen mit Jugend- beitung zu tun hat, sind ebenfalls Schwerpunkte im lichen verbal abzuhandeln, blieben unbefriedigend Projekt. Neben den grundlegenden Bearbeitungs- und wenig nachhaltig, auch wenn sie mit Arbeitsblät- techniken wie Bohren, Sägen, Schleifen, Feilen und tern, Büchern und Tafeleinsatz bearbeitet wurden. vielem mehr werden die sogenannten „weichen Der Workshop hat in unserem Fall die Motivationsla- Qualifi kationen“ erlernt bzw. ausgebaut. Es wird z. B. ge der Jugendlichen völlig verändert, und so wur- in Stationen gelernt, weil die Herstellung eines Mes- den Räume geschaffen, um auch komplexe Befi nd- sergriffs unabhängig von der Ausführung immer ei- lichkeiten „be-greifbar“ zu machen. In einem Werk- nige gleiche Bearbeitungsschritte durchlaufen muss. stattraum kann beides getan werden, zum einen die An diesen Stationen ist es nun die Aufgabe des Schü- Produktion des Messers, zum anderen das Gespräch lers, der schon an der Maschine eigene Erfahrungen mit einzelnen Schülern und/oder der Gruppe nicht gesammelt hat, seinen Mitschüler von diesen Erfah- nur über die Produktionsweise und ggf. Verbesse- rungen partizipieren zu lassen, ihm zu helfen und rung des Herstellungsprozesses, den Austausch von evtl. auf Besonderheiten hinzuweisen. Auf diese Tat- Erfahrungen über diesen Prozess, sondern auch über sache des gegenseitigen Lehrens und Lernens unter den Einsatz des Messers und den davon ausge- den Schülern wird besonderer Wert gelegt. henden Möglichkeiten oder/und Gefahren. Ganz be- sonders wird über die Verantwortung des eigenen Problemlos lassen sich verschiedene Klingenformen Handelns mit den Jugendlichen zu sprechen sein. bestellen. Die Hölzer für den Griff sind ebenfalls zu Mit dem selbstgemachten Messer in der Hand wird erwerben, eine Bohr- und Schleifmaschine erleich-

171 Das Xenos-Programm – Integration und Vielfalt

tern die Arbeit, der Einsatz von Holzklebern ist eben- so wichtig wie der von Zwei-Komponenten-Kleber, und dies insbesondere dann, wenn beispielsweise Horn oder Kunststoffe miteinander oder mit Holz verklebt werden sollen.

Auf der beigefügten Abbildung sind verschiedene Klingenformen zu sehen. Dies wären: • ein Messer zur Bearbeitung von Hölzern und Sei- len oder für das Zerkleinern von Wild, • ein Fischmesser mit einer sehr schmalen und spit- zen Klinge, • ein Küchenmesser, das seit fünf Jahren im Einsatz ist, • ein Outdoormesser mit Holzscheide, • ein Messer mit einer Lederscheide zur Bearbei- tung von Häuten.

Die gezeigten Griffe wurden gefertigt aus Maserbir- ke, Mahagoni oder Teakholz. Dazwischen ist in Teilen Kamelbein, Wasserbüffelhorn, Geweihteile oder Mammutelfenbein eingearbeitet worden.

So werden aus den Messern schnell „Kunstwerke“, Abb. 11: Selbst konstruierte Klingen, die aus einem die von den Jugendlichen wegen ihrer Ästhetik nicht Werkzeugstahl heraus gelasert werden. Anschlie- als Werkzeug genutzt werden. Auch dies ist akzepta- ßend werden sie mit einem Griff aus Holz versehen, bel, denn die begleitenden Gruppengespräche über bevor sie geschliffen und gehärtet werden. das verantwortliche Umgehen mit dem Werkzeug „Messer“ sind auch dann wichtig, wenn sie nie als Werkzeug benutzt werden.

Etwas weiter führt der zweite Ansatz bei einer ande- Die Weiterverarbeitung der Klingen betrifft dann das ren Messerproduktion. In diesem Fall werden die Schleifen und Härten, ebenso das Anlassen und Po- Klingen selbst konstruiert und dann aus einem härt- lieren. In Kooperation mit der Berufsschule oder baren Werkzeugstahl aus einem 2 bis 2,5 mm dicken einem Fachmann, der vom Projekt gestellt wird, sind Flacheisen ausgelasert. Der Griff wird aus einem diese technischen Aufgabenstellungen problemlos Rundhartholz gefertigt. Dieser wird auf dem Band- zu lösen. Allerdings erhöht sich hierbei die Vermitt- schleifer oval geschliffen und der Umfang des Griffs lung von fachlichen Kompetenzen, die nicht nur der der Hand angepasst. In diesem Fall ist die Recher- Berufswahl zugute kommen, sondern vor allen Din- cheaufgabe der Schüler/innen umfangreicher, denn gen auch die Firmen interessieren, die Wert darauf sie müssen herausfi nden, welche Werkstoffe sie be- legen, dass Jugendliche eigenverantwortlich ihre Ar- nötigen und welche Firmen für welchen Preis das beit ganzheitlich planen und durchführen können. Auslasern übernehmen.

172 Zukunftswerkstatt: Fremdenfeindlichkeit und RechtsextremismusRechtsextremismus unter Jugendlichen

Marco Stark

Mit Hilfe der Zukunftswerkstatt sollen die Schülerinnen Didaktisch-methodische Planung und Schüler selbstständig ein demokratisches Werte- verständnis aufbauen und erkennen, dass es universell Im Vorfeld einer kommunikativen Lehr-Lernsituation verbindliche moralische Wertmaßstäbe gibt. müssen - neben der Analyse der Bedingungen - auch Entscheidungen über Didaktik, Inhalt und Methodik des politischen Lehrens getroffen werden (Kaiser / Intentionen Pätzold 1999, 173). Anregungen hierzu liefert der konfl ikt- bzw. problemorientierte didaktische Ansatz Lehrkräfte haben nach Artikel 56 der Verfassung des von Giesecke und die konstruktivistische Didaktik. Landes Hessen die Lernenden zur sittlichen Persön- lichkeit zu bilden und ihre politische Verantwortung zum selbstständigen und verantwortlichen Dienst Didaktische Prinzipien am Volk und der Menschheit vorzubereiten.1 Die Schule sollte darüber hinaus im Politikunterricht auf Die von Giesecke am politischen Handeln orientierte die Kernprobleme unserer Zeit eingehen und die didaktische Konzeption beruht primär auf einer Fra- Lernenden zur Mitgestaltung der Gesellschaft in so- gestellung und nicht auf einer vorgängigen sach- zialer Verantwortung anregen. Hierzu ist es nötig, lichen Systematik (Giesecke 1997, 20 ff.). Zudem lie- dass die Schülerinnen und Schüler ein demokra- fert die Problemorientierung gewichtige lernpsy- tisches Werteverständnis aufbauen. Dem wider- chologische Gründe. So können lebendig empfun- spricht eine menschenverachtende und fremden- dene Probleme – und folglich die Emotionen der feindliche Gesinnung. Bernd Wagner, Leiter des Zen- Schülerinnen und Schüler – der zentrale Ausgangs- trums Demokratische Kultur in Berlin, fordert, dass punkt für erfolgreiche Lernprozesse sein (Sander 121 man im Kampf gegen den Rechtsextremismus die ff.). Dies bestätigt auch die aktuelle Gehirnforschung. Diskussion über Grundwerte fördern muss. Lang- Demnach werden Informationen besser behalten, fristige Bewusstseinsveränderungen stellen sich nur wenn diese in einem Zusammenhang mit persönlich dann ein, wenn Jugendliche Werte und Tugenden empfundenen Emotionen stehen (Hüholdt 1998, anhand konkreter Beispiele diskutieren können 158 f.). (Wagner 2000, VIII). Erfahrungswerte haben gezeigt, dass im Rahmen einer Zukunftswerkstatt ein Diskussi- Wie kommt man nun zu grundlegenden Fragestel- ons- und Denkprozess der Jugendlichen begann. Im lungen, die an alle politischen Handlungen vernünf- Laufe ihres Lebens bauen Jugendliche Feindbilder tigerweise gerichtet werden können? Giesecke for- und ein persönliches Wertesystem auf – beeinfl usst muliert hierzu verschiedene politisch-didaktische durch Medien, Familie, Freunde oder eigene negati- Kategorien, die – „unabhängig von dem jeweils zu ve Erfahrungen. Das Ziel ist es, den Lernenden im untersuchenden Sachverhalt – allgemeine Momente Rahmen dieser Zukunftswerkstatt Alternativen zu ih- des Politischen zum Ausdruck bringen“ (Giesecke ren alten Denkmustern aufzuzeigen. 1997, 23). Die von Gisecke verfassten Kategorien lie-

1 Vgl. Verfassung des Landes Hessen (1946)

173 Zukunftswerkstatt

fern während des Planungsprozesses Orientierungs- Ausgehend von der politischen Problemstellung punkte, sollen aber im Unterricht, quasi „nebenbei“, fi ndet eine intensive und emotionale Auseinander- entstehen und im optimalen Fall von den Lernenden setzung mit der Thematik statt. Hierbei lernen die selbst formuliert werden. Schülerinnen und Schüler, ein Problem strukturiert anzugehen. Diese Methode erfordert von der Lehr- Am Anfang des Lernprozesses steht die von den Ler- kraft auch eine gewisse Risikobereitschaft, denn der nenden selbst aufgeworfene Frage: Warum sind im- Erfolg einer Werkstatt kann nicht im Voraus garan- mer mehr Jugendliche so empfänglich für rechte tiert werden (Mattes 2004, 74). Die Kompetenzen, Gedanken und Gewalt? Diese Problemstellung im- die in der politischen Bildung erworben und ver- pliziert einen Konfl ikt und ist ein Indikator für eine bessert werden können, beziehen sich in erster „Schiefl age“ in unserem politisch-sozialen System Linie auch auf politisches Urteilen und Handeln. (Giesecke 1997, 26 f.). Diese Erkenntnis kann aber Die in dieser Unterrichtsreihe schwerpunktmäßig nicht einfach auf die Lernenden übertragen werden, angestrebten, von Moegling defi nierten Kompeten- sondern muss im Gehirn eines jeden Einzelnen in zen, sind demzufolge die politische Urteils- und der Auseinandersetzung mit dem Problem und der Handlungsfähigkeit (Hierbei kommt es in der Regel Welt „neu“ geschaffen werden (Jank / Meyer 2002, gleichzeitig zu einer Stärkung der Methoden- und 290). Es gibt demzufolge keine andere Sichtweise als Sozialkompetenz) (Sander 67 ff.). Um sich ein bes- diejenige, die im Laufe eines Lebens durch die eige- seres Bild über das Erreichen der im Folgenden ne Umwelt vermittelt wurde (Sander 85). Da der Kon- genannten Kompetenzen zu machen, können im struktivismus das Lernen nicht als eine Folge des Vorfeld Indikatoren festgelegt werden. Diese sind Lehrens beschreibt, sondern die eigenständige Kon- natürlich nicht vollständig, sie sollen lediglich eine struktionsleistung der Lernenden hervorhebt (Jank / Hilfestellung sein. Meyer 2002), plädiert die konstruktivistische Didaktik für Lernformen wie beispielsweise die Zukunftswerk- statt, in denen der Lehrende ein Lernbegleiter ist, Phasen der Zukunftswerkstatt der sich bewusst im Hintergrund hält, Lernangebote schafft und die Lernenden in eine aktive, konstruie- Gesprächsgrundlage für die Einführung kann ein rende Rolle hebt. Inwieweit die Fragestellung mit Hil- Zeitungsartikel oder ein Film mit fremdenfeindlichem fe der Kategorien und der Methode Zukunftswerk- Hintergrund sein. Im Anschluss an ein Lehrer-Schü- statt von den Schülerinnen und Schülern aufgearbei- ler-Gespräch kann die Problemstellung für die erste tet werden kann, soll im Folgenden gezeigt werden. Phase der Zukunftswerkstatt formuliert und der Ab- lauf der gesamten Methode mit der Klasse bespro- chen werden. Thematik, methodische Überlegungen und Kompetenzen Phase 1: Kritik/Beschwerde Thematik dieser Unterrichtsreihe ist die steigende Empfänglichkeit vieler Jugendlicher für rechte Ge- In dieser Phase geht es darum, dem Problem auf danken und rechte Gewalt. Die Lernenden sollen den Grund zu gehen (und zwar möglichst frei von aufbauend auf einer gemeinsam defi nierten Pro- Zwängen). Alle sollen ihre Meinung zum Thema äu- blemstellung erkennen, auf welchen Werten und Tu- ßern (Brainstorming mit Moderationskarten). Die genden eine moderne und demokratische Gesell- Moderationskarten werden an einer Stellwand ge- schaft beruht. Sie sollen erkennen, dass jeder Einzel- sammelt und anschließend von den Lernenden zu ne einen Beitrag für ein friedliches Zusammenleben Themenschwerpunkten sortiert und zu Kategorien leisten kann und muss. Nur wenn die Lehrkraft im zusammengefasst. Beispielhaft kann hier genannt Dia log mit ihren Schülerinnen und Schülern ist und werden: bleibt, kann sie den gewünschten Einfl uss nehmen (Meckel). Themenschwerpunkte: 1. Mangelnde Anerkennung Die Methode der Zukunftswerkstatt – begründet 2. Fehlende Chancengleichheit von Jungk und Müller (1989) – eignet sich im Beson- 3. Betroffenheit deren, die beschriebenen Intentionen zu erreichen. 4. Vorurteile

174 Zukunftswerkstatt

Kategorien: • können sich im Sinne von Perspektivenwechsel in • Konfl ikt (Worin besteht der Kern der Problemstel- die Interessenlage und Denkweise anderer ver- lung?): Mangelnde Anerkennung, fehlende Chan- setzen. cengleichheit und Vorurteile. • Interesse (Inwiefern werden die Lernenden von Indikatoren: dieser Thematik berührt?): Betroffenheit (Es kann Die Schülerinnen und Schüler jeden treffen). • nutzen gezielt das Internet und die bereitgestell- ten Medien, um die Collagen zu erstellen, Kompetenz zur politischen Urteilsfähigkeit und In- • gestalten eine gemeinsame Welt und identifi zie- dikator: ren sich mit ihrer Collage, Die Schülerinnen und Schüler • mit „rechtem“ Gedankengut beteiligen sich an der • können das gesellschaftliche Problem des Rechts- Gestaltung einer Welt ohne Vorurteile. extremismus unter Jugendlichen einschätzen und kritisch beurteilen (Werturteil). Phase 3: Realisierung und Präsentation Indikator: Die Schülerinnen und Schüler In der Realisierungsphase der Zukunftswerkstatt sollen • nennen Gründe für das Ansteigen rechter Gewalt die Lernenden ihre utopische Zukunft analysieren. und fassen diese zu Kategorien zusammen. Hierzu erhalten die Gruppen einen Arbeitsauftrag. In der perfekten Welt der Jugendlichen, ohne die Pro- bleme und Konfl ikte der ersten Phase, werden be- Phase 2: Fantasie/Utopie stimmte Werte und Tugenden vorgelebt - ohne diese wäre das friedliche Zusammenleben unvorstellbar. An- Zu Beginn der zweiten Phase werden Gruppen ge- hand vorgegebener Defi nitionen für die Begriffe bildet. Damit jeder Lernende seine Wünsche und „Wert“ und „Tugend“ und einem Auszug aus dem Emotionen (Kategorie „Interesse“) im Gestaltungs- Grundgesetz sollen die Schülerinnen und Schüler ihre prozess zum Ausdruck bringen kann, werden kleinere Welt auf eben diese Werte und Tugenden analysieren Lerngruppen bevorzugt. Die Schülerinnen und Schü- – sie sollen erkennen, welche Werte und Tugenden für ler sollten dann gemeinsam die Visionen einer uto- das friedliche und harmonische Zusammenleben un- pischen und lebenswerten Zukunft entwickeln. Ein- verzichtbar sind, welche Möglichkeiten jeder Einzelne ziges Kriterium: Die Probleme und Konfl ikte der er- hat, diese Werte und Tugenden im Alltag zu leben, und sten Phase darf es in der neuen Welt nicht geben. welche Voraussetzungen die Gesellschaft schaffen Damit diese Gegenwelt überhaupt erschaffen wer- muss, damit diese bessere Welt möglich wird. Zum den kann, müssen sich die Lernenden im Vorfeld des Schluss der Zukunftswerkstatt werden die (ver- Gestaltungsprozesses mit den Konfl ikten ihrer ge- knüpften) Ergebnisse der zweiten und dritten Phase genwärtigen Welt auseinandersetzen. Da die fach- auf einem Markt der Möglichkeiten präsentiert und er- lichen Fähigkeiten in dieser Zukunftswerkstatt eine läutert. Diese Methode soll einem Prozess „ähnlicher“ untergeordnete Rolle spielen, kann die Lehrkraft die Präsentationen vorbeugen und den Lernenden die Gruppenzusammensetzung dem Zufall überlassen. Möglichkeit geben, zwanglose Gespräche zu führen. Die mediale Form der Präsentation können die ein- zelnen Gruppen frei wählen. Kategorie: Werte und Tugenden (Welche gesellschaftliche Kon- Kompetenzen zur politischen Handlungsfähigkeit zeptionen eines moralischen Lebens liegt vor?) und Indikatoren: Die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen zur politischen Handlungs- und Ur- • beherrschen den Einsatz unterschiedlicher Medi- teilsfähigkeit und Indikatoren: en, um ihre Zukunftsvorstellung visuell zu unter- Die Schülerinnen und Schüler mauern, • können ihre „Vision“ werbewirksam auf den Punkt • setzen ihren Willen durch, aber können im Sinne bringen (Handlung), einer Zielerreichung auch Kompromisse einge- • beherrschen Präsentations- und Visualisierungs- hen, techniken (Handlung),

175 Zukunftswerkstatt

• analysieren komplexe Zusammenhänge (Hand- Indikatoren: lung), Die Schülerinnen und Schüler • erkennen, dass es universell verbindliche mora- • gestalten ihre Welt und verknüpfen sachliche Di- lische Maßstäbe gibt (Werturteil), mensionen mit Kreativität und Fantasie, • kennen die Grundrechte aus dem Grundgesetz • präsentieren ihre Collagen an einem Infostand auf (Sachurteil). dem Markt der Möglichkeiten, • entwickeln aus ihrer Welt auf der Collage Werte und Tugenden, • formulieren Werte und Tugenden und präsentie- ren diese der Klasse, • verweisen an ihrem Infostand auf die Grundrechte.

Exemplarische Unterrichtsreihe

Unterrichts- Phase Inhalt Sozial- und Medien stunde Aktionsform 1. Stunde Vorbereitung Vorstellung der Unterrichtsreihe: Sozialform: - Fragebogen (45 Minuten) Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus unter Plenum - Zeitungsartikel Jugendlichen Aktionsform: - OH-Projektor a) Fragebogen Unterrichts gespräch b) Diskussion über Zeitungsartikel und persönliche Erfahrungen mit rechter Gewalt c) Vorstellung der Methode „Zukunftswerkstatt“ d) Formulierung der gemeinsamen Problemstellung

2 und 3. Stunde Phase 1: Brainstorming zum Thema (Teil 1): Sozialform: - Arbeitsauftrag I (ca. 90 Minuten) Kritik/ Warum sind immer mehr Jugendliche so Plenum - Wandzeitung Beschwerde empfänglich für rechte Gedanken und Gewalt? Aktionsform: - Moderationskarten Unterrichts gespräch Brainstorming (Teil 2): - Wandzeitung Clustern der Moderationskarten und Bildung von - Moderationskarten Themenschwerpunkten und Kategorien

4. und 5. Stunde Phase 2: Erstellen der Collagen: Sozialform: - Kartenspiel (ca. 90 Minuten) Fantasie/ a) Gruppenbildung Gruppenarbeit, - Arbeitsauftrag II Utopie b) Gestaltung der Vision einer utopischen und Plenum - Internet lebenswerten Zukunft unter Berücksichtigung der Aktionsform: - Kataloge Konfl ikte aus Phase 1 Entdecken-lassend, - Zeitschriften Refl exion der Stunde Unterrichts gespräch - Plakate

6. und 7. Stunde Phase 3: Analyse der Vision (aus Phase 2): Sozialform: - Arbeitsauftrag III (ca. 90 Minuten) Realisierung a) Analyse der Vision auf Werte und Tugenden Gruppenarbeit, (mit Defi nition b) In einem weiteren Schritt überlegen die Lernen- Plenum Werte/Tu gen den) den, welche Möglichkeiten jeder Einzelne hat, Aktionsform: - Auszug GG diese Werte und Tugenden im Alltag zu leben. Entdecken-lassend, - Plakate Vorbereiten der Infostände Unterrichts gespräch - Infoblatt (Markt der Möglichkeiten) Refl exion der Stunde

8. und 9. Stunde Phase 3: Markt der Möglichkeiten: Sozialform: - Infostände (ca. 90 Minuten) Präsentation a) Die Arbeitsergebnisse der zweiten und dritten Gruppenarbeit, - Infoblatt (Markt der Phase werden auf einem Markt präsentiert. Einzelarbeit, Plenum Möglichkeiten) b) Refl exion der Infostände (Dokumentationsblatt) Aktionsform: - Stellwände Entdecken-lassend - Dokumentations- (Markt der Möglich- blatt keiten), Erarbeitend, Unterrichtsgespräch

Evaluation Evaluation der Reihe: Sozialform: - Fragebogen Evaluation der Reihe mit Hilfe eines Fragebogens Einzelarbeit, Plenum Aktionsform: Erarbeitend, Unter - richtsgespräch

176 Zukunftswerkstatt

Fazit Literaturhinweise

Durch die Unterrichtseinheit „Zukunftswerkstatt: Giesecke, Hermann (1997): Kleine Didaktik des politischen Unter- richts. Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Taunus. Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus unter Jugendlichen“ kann die Empathiefähigkeit der Schü- Hüholdt, Jürgen (1998): Wunderland des Lernens. Verlag für Di- lerinnen und Schüler nachhaltig geschult werden. daktik, Bochum. Sie setzen sich mit Werten wie Toleranz und Gleich- Jank, Werner/ Meyer, Hilbert (2002): Didaktische Modelle. Cor- berechtigung auseinander und versetzen sich in eine nelsen Verlag Scriptor, Berlin. Welt ohne Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (psy- chosoziale Kompetenz). Jungk, Robert/Müllert, Norbert R. (1989): Zukunftswerkstätten. Mit Phantasie gegen Routine und Resignation, München.

Die Lernenden haben eine Möglichkeit, den Zusam- Kaiser, Franz-Josef/Pätzold, Günter (1999): Wörterbuch Berufs- menhang von Vorurteilen, sprachlichen und kultu- und Wirtschaftspädagogik. Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 173. rellen Barrieren, fehlender Integration, Armut und Mattes, Wolfgang (2004): Methoden für den Unterricht. Schö- Rassismus (Wissenskompetenz) zu erkennen und so ningh, Paderborn. ihr eigenes Verhalten zu refl ektieren und dies ggf. zu überdenken. Auch die Analyse- und Urteilsfähigkeit Meckel, Nina: Guter Unterricht kann schützen: URL: http://www. focus.de/schule/schule/psychologie/ideologien.html der Schülerinnen und Schüler wird verbessert, in- dem sie über strukturelle und soziale Probleme un- Sander, Wolfgang (2001): Politik entdecken - Freiheit leben. Wo- serer Gesellschaft sprechen und so deren Auswir- chenschau Verlag, Schwalbach/Taunus. kungen auf sich beziehen können (Lebensweltbe- Wagner, Bernd (2000): Bewegungsmöglichkeiten mit Rechtsex- zug). Nicht zuletzt ist die Auseinandersetzung mit tremen, in: Das Parlament 39/2000. VIII. dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hier von besonderer Bedeutung. Durch das Einfl ech- ten der Werte und Tugenden kann es angewandt und verinnerlicht werden. Auch wenn durch solch eine Unterrichtseinheit die „rechte Gesinnung“ eines Schülers evtl. nicht nachhaltig geändert werden kann, so wurden doch „rechtslastige Vorurteile“ hin- terfragt. Das Klassenklima kann sich insgesamt ver- bessern.

177 Zukunftswerkstatt

M1 Fragebogen Zukunftswerkstatt – Bedingungsanalyse Klasse: _____

1. Name: ______

2. Geschlecht:  weiblich  männlich

3. Alter (in Jahren): _____

4. Schulabschluss:  Hauptschulabschluss  Qualifi zierender Hauptschulabschluss  Mittlere Reife

 ______

5. Stammst Du aus einer Familie mit Migrationshintergrund?  Nein

 Ja Welche Nationalität? ______

6. Hast Du schon Erfahrungen mit „rechten Jugendlichen“ oder „rechter Gewalt“ gemacht?  Nein

 Ja Welche? ______

______

______

7. Hältst Du es für notwendig, das Thema „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ im Unterricht zu behandeln? Begründe Deine Antwort:  Nein ______

 Ja ______

______

______

8. Eigene Anmerkungen zum Thema „Rechtsextremismus“: ______

______

9. Wie erarbeitest Du „neue Inhalte“ in der Schule am besten?  Lehrervortrag  Unterrichtsgespräch (Lehrer-Schüler-Gespräch)  selbstständige Erarbeitung in Einzelarbeit  selbstständige Erarbeitung in Partnerarbeit  selbstständige Erarbeitung in Gruppenarbeit

Die Beantwortung der Fragen ist freiwillig. Die Auswertung erfolgt selbstverständlich vertraulich! Vielen Dank!

178 Zukunftswerkstatt

M2 Infoblatt für die Lehrkraft (zur Vorbereitung)

Zukunftswerkstatt – Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus unter Jugendlichen

Vorher: 1. Problemfrage der Klasse: ______

2. Zeitrahmen: ______

3. Materialbedarf: ______

Phase 1: Kritik/Beschwerde (Warum soll es nicht so weitergehen wwieie bisher?)

„Dampf Ablassen“: Hier werden Unmut, Kritik und negative Erfahrungenn m/Yantra zum Thema geäußert. Dies sollte möglichst frei von Zwängen sein. Methode/Medien: Brainstorming auf Kärtchen (nach Themen geordnet).).)

Phase 2: Fantasie/Utopie (Was wünschen wir uns?)

Hier ist die Kreativität jedes einzelnen gefragt. Man soll das Utopische denken. Ein Anfangssatz wäre z. B.: „Es wäre schön, wenn …“. ‚Killerphrasen‘ wie „Das ist doch unmöglich!“ sind dabei unbedingt zu vermeiden. Hier darf und soll fantasiert werden. Methode/Medien: In Gruppenarbeit werden jetzt „Visionen“ von einer wünschenswerten Zukunft entwickelt (Bilder, Collagen, Gedichte, etc...)

Phase 3: Strategie/Realisierung

Hier werden die ersten beiden Phasen verknüpft. Es muss abgeschätztt werden, was realisierbar ist. Ihr seid hier die Expertinnen und Expertenn in der Sache. Methode/Medien: Ebenfalls in Gruppenarbeit wird jetzt ein „Aktionsplan“ entworfen. Welche Schritte sind erforderlich, um die gesteckten Ziele zu erreichen? (Bilder, Wandzeitung, Gedichte, Rollenspiele etc...) Text: Mattes, Methoden W.: für den Unterricht, Darmstadt 2004; Bilder: fotolia.com/Paul Hakimata, fotolia.com/remar, fotolia.co

179 Zukunftswerkstatt

M4 Gruppeneinteilung – Zukunftswerkstatt Klasse: ______

Gruppe 1 – Thema Bemerkungen/Medien

Namen:

1. 2.

3. 4.

5. 6.

Gruppe 2 – Thema Bemerkungen/Medien

Namen:

1. 2.

3. 4.

5. 6.

Gruppe 3 – Thema Bemerkungen/Medien

Namen:

1. 2.

3. 4.

5. 6.

Gruppe 4 – Thema Bemerkungen/Medien

Namen:

1. 2.

3. 4.

5. 6.

M3 Arbeitsblatt: Phase 1 – Kritik/Beschwerde

Problemstellung: Warum sind immer mehr Jugendliche so empfänglich für rechte Gedanken und Gewalt?

„Dampf Ablassen“: Hier dürft ihr jetzt Unmut, Kritik und negative Erfahrungen zum Thema äußern – und zwar möglichst frei von Zwängen. Schreibt auf, was euch stört! „Stichwortartig“, auf maximal 2 Moderations kärtchen

(Pro Karte, ein Gedanke). Hakimata fotolia.de/Paul Bilderquelle:

180 Zukunftswerkstatt

M5 Arbeitsblatt: Phase 2 – Fantasie/Utopie „Es wäre schön wenn…“

Warum sind immer mehr Jugendliche so empfänglich für rechte Gedanken und Gewalt?

Entwickelt jetzt eure VISION von einer wünschenswerten und utopischen Zukunft (Bilder, Collagen, Plakate etc.). Berücksichtigt bei der Gestaltung die erarbeiteten Kategorien aus Phase 1:

z.B.: Konfl ikt = Fehlende Anerkennung und fehlende Chancengleichheit fotolia.de/remar Bildquelle: Ideologie = Vorurteile gegenüber Andersdenkenden und Ausländern

M6 Arbeitsblatt: Phase 3 – Realisierung

Werte und Tugenden

In der Vision eurer Welt (Phase 2) werden bestimmte „Werte“ und „Tugenden“ vorgelebt, ohne die so ein wünschenswertes Zusammen- leben unvorstellbar wäre. 1. Analysiert eure „Welt“ auf Werte und Tugenden anhand folgender Defi nitionen (Berücksichtigt dabei die Grundrechte aus dem Grundgesetz): Werte: ... sind ethische Prinzipien, über die in der politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft Übereinstimmung herrscht. Tugenden: ... sind Verhaltensweisen (Normen), die im Umgang mit Anderen nachahmenswert erscheinen und positive Eigenschaften besitzen! 2. Welche Möglichkeiten hat jeder Einzelne, diese Werte und Tugenden im Alltag zu leben? Nennt mindestens drei Beispiele. Bildquelle: Fotolia.de/John Steel Fotolia.de/John Bildquelle: 3. Welche Voraussetzungen muss unsere Gesellschaft schaffen, damit eure bessere Welt möglich wird? Formuliert mindestens zwei solcher Voraussetzungen.

181 Zukunftswerkstatt

M8 Infoblatt Werte & Tugenden: Phase 3 – Realisierungng

Defi nition: Werte und Tugenden

Werte sind ethische Prinzipien, über die in der politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft Übereinstimmung herrscht!

Tugenden sind Verhaltensweisen (Normen), die im Umgang mit anderen nachahmenswert erscheinen

und positive Eigenschaften besitzen (z. B. Pünktlichkeit)! Hakimata fotolia.de/Paul Bilderquelle:

M7 Grundgesetz – Zukunftswerkstatt:

Phase 3 – Realisierung

GRUNDGESETZ I. Die Grundrechte (Auszug aus dem Grundgesetz) für die Bundesrepublik Deutschland Artikel 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpfl ichtung aller staatlichen Gewalt. [...]

Artikel 2 (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Artikel 3 (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschau- ungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Artikel 4 (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. [...]

182 Zukunftswerkstatt

M9 Infoblatt: Phase 3 – Präsentation

Markt der Möglichkeiten

1. Ihr betreut abwechselnd euren Informationsstand, um eure Ergebnisse zu erläutern und Fragen zu beantworten. 2. Die Teilnehmer gehen über den Markt und informieren sich über die Ergebnisse der anderen Gruppen. 3. Beachtet dabei die Fragestellungen auf dem Dokumentationsblatt und macht euch Notizen für die Refl ektion. Bildquelle: 4. Für den „Markt der Möglichkeiten“ stehen euch ca. 25 bis 30 Minuten zur Verfügung. Fotolia.de/John Steel Fotolia.de/John 5. Anschließend fi ndet die Refl ektion im Plenum statt.

M10 Dokumentationsblatt: Phase 3 – Präsentation

Markt der Möglichkeiten

Bevor du mit der Beantwortung der Fragen beginnst, informiere dich zunächst an allen Infoständen über die Ergebnisse der anderen Gruppen!

In welcher Collage wurden die Visionen einer perfekten und lebenswerten Zukunft am „kreativsten“ umgesetzt (außer in eurer eigenen )? Begründe deine Antwort.

Vergleiche deine Collage mit den anderen. Welche Gemeinsamkeiten fi ndest du? Bildquelle: Fotolia.de/John Steel Fotolia.de/John Bildquelle:

Welcher „Wert“ (Tugend) ist für dich persönlich in einer Gesellschaft der Wichtigste?

Begründe deine Antwort stichpunktartig.

Ergänze den folgenden Satz:

Durch die Zukunftswerkstatt habe ich erfahren, dass …

183 Perspektiven des Erinnerns Zur Arbeit mit dem Projekt „Konfrontationen“ in der Lehrerausbildung

Karin Stahl / Gottfried Kößler

Die in diesem Beitrag dokumentierte Kooperation Kompetenzorientierung des Fachmoduls 16b ‚Politik und Wirtschaft’ am Studi- in der 2. Phase der Lehrerbildung enseminar GHRF Frankfurt am Main und des Projekts „Konfrontationen“ des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt Die folgende Darstellung der fachdidaktischen und am Main, stellt die konzeptuellen Grundlagen und die konzeptionellen Grundlagen sowie der praktischen Durchführung eines Modulbausteins in den Mittel- Umsetzung des Modulbausteins erfolgt im Rahmen punkt, der im Rahmen dieses Fachmoduls kontinuier- seminardidaktischer Überlegungen zur zweiten Pha- lich angeboten wird. Inhaltliche Bezugspunkte sind se der Lehrerbildung. Vor diesem Hintergrund möch- dabei die Bausteinhefte 2 (‚Gruppe’) und 4 (‚Ghetto’) ten wir, bevor der Referenzrahmen einer spezifi schen des Projektes „Konfrontationen“: Bausteine für die Kompetenzorientierung in der politischen schu- pädagogische Annäherung an Geschichte und Wir- lischen Bildung vorgestellt wird, kurz auf maßgeb- kung des Holocaust (Giere/Kößler, 2001). liche Leitideen einer refl exiven, kompetenzorien- tierten Lehrerbildung eingehen, die auch für den im Folgenden vorgestellten Modulbaustein grundle- Vorbemerkung gend sind.

Dieser Modulbaustein setzt sich im Rahmen einer Kompetenzorientierte Bildungsprozesse einer refl e- kompetenz- und anwendungsbezogenen historisch- xiven Lehrerbildung, so Klaus Moegling (2008, 168), politischen Lehrerbildung mit didaktisch-metho- sind angewiesen auf eine tragfähige theoretische dischen Lernangeboten zum Thema Nationalsozialis- Fundierung und einsichtige Praxisbezüge. Essentiell mus und Holocaust und seinen Nachwirkungen in ist vor diesem Hintergrund die Verbindung eines der bundesrepublikanischen Gesellschaft auseinan- fachspezifi schen theoriegeleiteten Wissensaufbaus, der und leistet vor diesem Hintergrund einen rele- einer prinzipiengeleiteten didaktischen Modellie- vanten Beitrag zum problem- und adressatenorien- rung und anregenden problemorientierten Anwen- tierten Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus dungssituationen und deren Refl exion. und Antisemitismus in der Schule. Darüber hinaus haben Lernprozesse in der Lehrerbil- Der hier vorgestellte Modulbaustein wurde im Rah- dung immer eine doppelte Vermittlungsabsicht zu men des bewerteten Pfl ichtmoduls ‚Politik und Wirt- berücksichtigen „mit dem Blick auf Bildungspro- schaft’ 16b (Planung, Durchführung und Refl exion zesse im Rahmen der Lehrerbildung (...), welche wie- zur politischen Handlungsfähigkeit) in der 2. Phase derum auf Bildungsprozesse in den Schulen ausge- der hessischen Lehrerausbildung realisiert. Die Aus- richtet sind, die von der gleichen pädagogischen In- einandersetzung mit den modulspezifi schen Inhal- tention getragen werden sollten.“ (Moegling, 2008, ten und Themen erfolgt in fünf jeweils fünfstündigen 168) Voraussetzung für eine adressatenorientierte Seminarsitzungen. Sachlich-inhaltliche Schwer- und kompetenzorientierte Seminarpraxis mit Refe- punkte des Moduls sind im Wesentlichen Planung rendarinnen und Referendaren ist überdies eine und Gestaltung von Projektarbeit in der schulischen durchdachte Balance zwischen Instruktion und Kon- politischen Bildung bzw. projektorientierte Verfah- struktion, zwischen teilnehmer- und anwendungsori- ren sowie die Vorbereitung, Durchführung und entierten Anleitungs- und Informationsphasen und Refl exion von Unterricht an außerschulischen Lern- Phasen des selbsttätigen und selbstgesteuerten orten. Handelns der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst.

184 Klaus Moegling weist darauf hin (Moegling, 2009, deutende Rolle als Referenzrahmen sowohl des fach- 15), dass ein schüler- und problemorientierter päda- bezogenen Kompetenzaufbaus in der Lehrerausbil- gogischer Umgang mit dem Thema Rechtsextremis- dung als auch in der schulischen politischen Bildung. mus im Unterricht dem kompetenzorientierten Para- Aufbauend auf der Kompetenzbeschreibung der digma verpfl ichtet sei und damit nicht primär auf GPJE für die politische Bildung (GPJE, 2004, 13ff.), in den Aufbau deklarativer Wissensbestände ausge- der die Kompetenzbereiche politische Urteils- und richtet sein dürfe, sondern vorrangig die Entwick- Handlungsfähigkeit sowie methodische Kompe- lung und Ausdifferenzierung des konzeptuellen tenzen (Arbeitstechniken, fach- und schülerorien- Deutungswissens der Schülerinnen und Schüler im tierter Umgang mit Medien und Materialien) im Mit- Blick hat. Auf dieser Grundlage sollen nun die für telpunkt stehen, entfaltet Peter Henkenborg (2008, den Modulbaustein maßgeblichen fachbezogenen 213-228) seine Vorstellungen über kategoriale Bil- Kompetenzen vorgestellt werden. dung und kompetenzorientierte politische Bildung (Henkenborg, 2008, 213).2

Kompetenzdimensionen Henkenborg sieht im Rahmen des übergeordneten in der politischen Bildung Leitziels der politischen Bildung ‚Politische Mündig- keit’ die leitende domänenspezifi sche (fachspezi- Als professionelle Kernkompetenz der Lehrkräfte im fi sche) Kompetenz in den Demokratiekompetenzen: Vorbereitungsdienst (LiV) in diesem Fachmodul wird „Demokratiekompetenzen sind die kognitiven, moti- formuliert: Lehrerinnen und Lehrer unterstützen vationalen, volitionalen und sozialen Fertigkeiten und selbstbestimmtes Urteilen und Handeln von Schüle- Fähigkeiten, über welche Lernende verfügen sollen, rinnen und Schülern und vermitteln Werte und Nor- um sich autonom und verantwortungsvoll an der Be- men. Im Weiteren wird der spezifi sche Kompetenzer- wältigung der Probleme und Konfl ikte ihres Zusam- werb der angehenden Lehrerinnen und Lehrer in menlebens durch die demokratische Herstellung und diesem Fachmodul konkretisiert und betont, dass es Durchsetzung von allgemeiner Verbindlichkeit betei- im Besonderen um die Auswahl von geeigneten Un- ligen zu können.“ (Henkenborg, 2008, 214) terrichtsinhalten geht, und dass es auf der Grundla- ge relevanter politikdidaktischer Prinzipien wie Pro- In diesem Sinne umfasst der Begriff der Demokratie- blemorientierung, Kontroversität oder Aktualität um kompetenzen folgende Kernkompetenzen: poli- die Auswahl von Unterrichtsthemen geht, die Urteils- tische Urteilsfähigkeit, Sozialkompetenzen bzw. de- sowie Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und mokratische Bürgertugenden und politische Hand- Schüler anbahnen. Die ausgewählten Lernangebote lungsfähigkeit. sollen fachdidaktisch und schülerorientiert model- liert sein und die Pluralität von Sichtweisen und Ein- Für Henkenborg steht der Erwerb kognitiver Kompe- stellungen abbilden. Das im Basisartikel dieser Publi- tenzen, d.h. die Entwicklung der politischen Urteils- kation formulierte Kompetenzmodell bildet in seinen fähigkeit von Schülerinnen und Schülern, im Mittel- Kompetenzdimensionen eine handlungsleitende punkt eines kompetenzorientierten Politikunterrichts. Basis für das vorgestellte Fachmodul.1 Betrachtet man die Konkretisierung der oben ge- nannten übergreifenden Kompetenzbereiche, wird Neben diesem in der Modulbeschreibung formu- jedoch auch deutlich, dass die genannten Demokra- lierten spezifi schen Kompetenzerwerb spielen aktu- tiekompetenzen mehrperspektivische politisch-hi- elle Kompetenzentwürfe der politischen Bildung, storische Lernmöglichkeiten voraussetzen, die nicht wie sie etwa von der Gesellschaft für politische Ju- allein die Entwicklung bzw. Ausdifferenzierung ko- gend- und Erwachsenenbildung oder kürzlich von gnitiver Konzepte der Schülerinnen und Schüler um- Peter Henkenborg formuliert worden sind, eine be- fassen.

1 Moegling (Moegling, 2009, 15) stellt psychosoziale Kompetenzen, Wissenskompetenzen, Handlungsfähigkeit, Medien- und Me- thodenkompetenz, Urteilsfähigkeit und Analysefähigkeit in den Mittelpunkt seines Kompetenzmodells. Zur näheren Beschreibung dieser Kompetenzanforderungen siehe den Basisartikel in diesem Band. 2 Der Geltungsanspruch des kategorialen Paradigmas ist dabei für den Autor auch im Rahmen eines kompetenzorientierten poli- tischen Fachunterrichts unbestritten: „Der Fachunterricht soll von aktuellen und exemplarischen Alltagserfahrungen, Schlüssel- problemen oder Konfl ikten ausgehen (Fallprinzip) und den Lernenden helfen, diese mit Hilfe von Kategorien und kategorialen Schlüsselfragen zunehmend selbstständig zu analysieren, um zu eigenständigen und begründeten Urteilen und Handlungen zu gelangen.“ (Henkenborg, 2008, 213)

185 Perspektiven des Erinnerns

So umfasst der Kompetenzbereich ‚Politische Urteils- Handlungskompetenz und Wertkompetenz), psycho- fähigkeit’ etwa neben der Rationalitätskompetenz, soziale Kompetenzen wie die Fähigkeit zu Empathie der Fähigkeit, politische Urteile auf der Grundlage und Perspektivenwechsel und Aufbau und Weiterent- guter Gründe zu treffen, auch die Fähigkeit und Be- wicklung methodischer Kenntnisse und Fertigkeiten reitschaft, bei der Urteilsbildung darüber hinaus die stehen im Fokus der didaktisch-methodischen Ange- soziale Perspektive anderer Akteure einnehmen zu bote des Projektes „Konfrontationen“. können (Intersubjektivitätskompetenz) bzw. die Fä- higkeit, „die eigenen Urteile durch die Teilnahme an Das Projekt „Konfrontationen“ stellt am Gegenstand einer Praxis kollektiver Argumentation zu entwickeln des Nationalsozialismus die Bezüge zwischen Gegen- und zu vertreten (Diskurskompetenz).“ (Henkenborg, wart und Vergangenheit ins Zentrum der didaktischen 2008, 215) Überlegungen und der methodischen Lernangebote. Die Konzeptentwicklung ging dabei zunächst von Unter dem Begriff ‚Sozialkompetenzen’ fasst Hen- konkreten Problemstellungen praktischer Unterrichts- kenborg dialogische und gemeinschaftliche Bürger- erfahrungen und der Lehrerfortbildung aus. Projekt- tugenden wie Toleranz, Fairness, Kommunikations- orientierte Unterrichtsformen spielen eine entschei- und Konfl iktfähigkeit sowie Perspektivenübernahme dende Rolle dabei, ob es gelingt, Jugendliche mit und Einfühlungsvermögen zusammen. Politische Themen aus Zeitgeschichte und Politik zu erreichen. Handlungsfähigkeit schließlich artikuliert sich neben Die Alltagstauglichkeit dieser Projektorientierung der politischen Selbst- und Beteiligungskompetenz wird nach Möglichkeit durch eine kleinteilige Anlage in erster Linie in der Fähigkeit, „in Bezug auf Gesell- und Flexibilität der Bausteine unterstützt. schaft, Demokratie und Politik ethische, moralische, ästhetische und zweckrationale Einstellungen, Über- Die Erfahrung der Lernenden in ihren eigenen Le- zeugungen zu entwickeln und zu vertreten (Wert- bensverhältnissen wird nach Möglichkeit durch die kompetenz). (Henkenborg, 2008, 215) Gestaltung des Lernmaterials, vor allem aber des Un- terrichtsprozesses zum Ausgangspunkt des Lernens Für die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus gemacht. Die Beschäftigung mit den historischen ist zu bedenken, dass der Erwerb dieser Kompe- Prozessen konzentriert und kristallisiert sich in kon- tenzen eine Rezeption der aktuellen empirischen kreten Entscheidungssituationen und den unter- Forschung zu „Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer) schiedlichen Perspektiven der Handelnden. Aus- und Rassismus / Antisemitismus (Schäuble und gangspunkt für Lernprozesse sind die Alltagserfah- Scherr) voraussetzt. Diese empirischen sozial- und rungen heutiger Jugendlicher. Auf Seiten der Lehr- erziehungswissenschaftlichen Studien zeigen, dass kräfte setzt dies eine Haltung zu ihrer eigenen Tätig- es im pädagogischen Arbeitsfeld um die Entwick- keit voraus, die sich soweit als möglich am Modell lung von Kompetenzen der Selbstrefl exion und der der themenzentrierten Interaktion orientiert. Die Er- Differenzierung zwischen angestrebten Haltungen kenntnisse sollen sowohl am Material als auch auf und dem Prozess der Vermittlung gehen muss. Es der Grundlage der Interaktionen in der Lerngruppe gibt offensichtlich viel weniger geschlossene rassi- entstehen. stische Weltbilder als Anteile menschenfeindlicher Haltungen in der Kommunikation. Die Lernangebote im Rahmen des Projekts „Konfron- tationen“ erlauben sowohl von der Quellenauswahl als auch vom methodischen Angebot her mehrper- Pädagogische Leitlinien spektivische Zugangsweisen, die die Lerngruppe als des Projekts „Konfrontationen“ soziale Gruppe wahrnehmen. Das Umgehen mit der Heterogenität der Lerngruppen, mit spezifi schen So- Die didaktisch-pädagogische Grundorientierung und zialisationserfahrungen, Geschichts- und Erinne- unterrichtspraktischen Lernangebote des Projektes rungsbildern von Jugendlichen mit unterschied- ‚Konfrontationen. Bausteine für die pädagogische An- lichem Migrationshintergrund oder kulturellen näherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust’ Selbstverortungen steht dabei an prominenter Stelle (Giere/Kößler, 2001) bietet zahlreiche Anschlussmög- im Unterrichtsprozess (Messerschmidt, 2009, 184 ff.). lichkeiten an eine kompetenzorientierte, selbstrefl e- Das gleichzeitige Zulassen von „Diversität“ und „Zu- xive Lehrerbildung der 2. Phase, wie sie einführend gehörigkeit“ beschreibt Astrid Messerschmidt als hier skizziert wurde. Demokratiekompetenzen (poli- Chance der historisch- politischen Bildung. Die Kate- tische Urteilsfähigkeit, Bürgertugenden, politische gorie „Multiperspektivität“ als einer der zentralen

186 Perspektiven des Erinnerns

Leitkategorien historisch-politischer Bildung enthält mit Einverständnis der Jugendlichen vom Lehrer, die gleiche Grundüberlegung, allerdings vom Ge- von der Lehrerin eingesehen. genstand und weniger von den Lernenden her ge- dacht (Bergmann 2000). Aus dieser Sichtweise wird „Konfrontationen“ sucht auf zwei Aspekte praktische deutlich, dass die Anforderungen der Gegenwart an Antworten zu geben, die pädagogische Vermittlung historisches Lernen nicht allein durch die Refl exion von Holocaust und Antisemitismus heute neu be- der Perspektive von Zuwanderern auf eine Neuorien- stimmen: Die Generation der familiengeschichtlich tierung historisch-politischen Lernens verweisen. unmittelbar mit dem Zweiten Weltkrieg verbun- Der Gegenstand des Lernens ist nicht das historische denen Menschen tritt derzeit aus dem Berufsleben Faktum oder die vorliegende Erzählung, die ange- ab, die Schülerinnen und Schüler bringen keinerlei eignet werden müsste. Vielmehr ist es die gemein- direkte famliengeschichtliche Erzählung zu dieser same Arbeit am Verständnis unterschiedlicher Erin- Epoche mehr in den Unterricht mit. Zugleich diffe- nerungen und widersprüchlicher zeitgenössischer renziert sich die Vielfalt der Geschichtsbezüge in der Quellen, die Chancen des politischen Lernens eröff- globalisierten Mediengesellschaft ins Unüberschau- net. bare aus. (Vgl. Gottfried Kößler, 2009, 210-220).

Im Hinblick auf das methodische Lernangebot spie- Es geht in den Unterrichtsstunden, die die Erinne- len neben kognitiven Elementen der historischen rung an und die Auseinandersetzung mit dem Holo- Vermittlung auch Ausdrucksformen der ästhetischen caust zum Gegenstand haben, auch immer zentral Bildung eine bedeutende Rolle. Die Bildungsarbeit um Bildung und ‚Welterschließung’. Die Bildungs- zur NS-Geschichte und zum Holocaust umfasst hier wirksamkeit steht im Mittelpunkt und geht damit auch die mehrperspektivische Annäherung über über die Vermittlung deklarativer Wissensbestände künstlerische Bildzeugnisse, Musik, Zeitzeugeninter- hinaus, zielt auf Selbstrefl exion, Selbstwahrnehmung views, unterschiedliche Textsorten wie Briefe, Tage- und kritische Urteilsbildung. Im historisch-politischen bücher, Berichte oder weitere Formen autobiogra- Lernen heißt ‚Welterschließung’: ernsthafte Ausei- phischer Zeugnisliteratur. Auch die Theaterpädago- nandersetzung mit Quellen, mit Fragen der Erinne- gik spielt in diesem Zusammenhang eine bedeut- rungsarbeit, und das Wissen um die Erfahrung der same Rolle. Formen der Aneignung und Auseinan- Differenz zwischen eigener Gegenwart und fremder dersetzung mit dem historischen Thema basieren Vergangenheit. Dafür muss der Unterricht Raum ge- hier auf Darstellung und Ausdruck, wodurch kogni- ben. tive Verstehensprozesse nicht ausgeblendet, aber unterstützt und erweitert werden sollen. Es geht nicht in erster Linie um die Vermittlung sin- gulärer Fakten, sondern (wie im Fall der Auseinan- An dieser Stelle soll ein weiteres methodisches In- dersetzung mit den konkreten Inhalten der Bausteine- strument im Kontext des „Konfrontationen“-Projektes hefte aus der Konfrontationen-Reihe) um die Vermitt- Erwähnung fi nden, das die Lern- und Unterrichtspro- lung situierter Lerninhalte, die an den Einstellungen, zesse in essentieller Weise begleitet: das Arbeits- Deutungen und Alltagsvorstellungen von Jugend- journal. Die Entwicklung der Fähigkeit zur Empathie lichen über die historische und aktuelle Realität an- setzt ein Bewusstmachen der eigenen Gedanken setzen. Vor diesem Hintergrund kann historisch-poli- und Assoziationen auf der Seite der Lernenden vo- tische Bildung Perspektivenwechsel ermöglichen, raus. Besonders in der Gedenkstättenpädagogik ist Empathiefähigkeit fördern, wenn die Lehrerinnen das Journal ein wichtiges methodisches Werkzeug. und Lehrer neben der Vermittlung historischer Dieses Arbeitsjournal, das die Schülerinnen und Kenntnisse und Zusammenhänge auch Bezüge zur Schüler im Verlaufe des Projektes/der Unterrichtsein- Lebens- und Erfahrungswelt der (heterogenen) Lern- heit führen, bildet eine weitgehende „private“ Mög- gruppe in ihren unterschiedlichen Erinnerungsge- lichkeit der schriftlichen Refl exion, insofern ist es meinschaften herstellen können. dem Tagebuch eng verwandt. Erste Eindrücke nach einem bewegenden Film, persönliche Gedanken beim Besuch einer Gedenkstätte, Beispiele perspek- Arbeitsbeispiele: tivischen Schreibens können hier dokumentiert und Lernschritte im Modulbaustein festgehalten werden. Grundsätzlich als Medium der Unterrichtsarbeit genutzt und somit auf der Grundla- Im Sinne des oben skizzierten Paradigmas der dop- ge klar verbindlicher Aufgaben wird das Journal nur pelten Vermittlungsabsicht in der Lehrerbildung sol-

187 Perspektiven des Erinnerns

len nachfolgend exemplarisch die einzelnen Lern- jeweilige Thema, aus dem politische Bildung entwi- schritte des Modulbausteins zusammenfassend vor- ckelt wird, immer wieder auf diese unterschiedlichen gestellt werden. In den Blick genommen wird dabei Voraussetzungen zurück zu beziehen. (Mecheril die Interdependenz zwischen den Bildungs- und Pro- 2004, Messerschmidt 2006). fessionalisierungsprozessen im Rahmen einer refl e- xiven Lehrerbildung und den Bildungsprozessen der Schülerinnen und Schüler. Schritt 2: Verortung in der politischen Bildung – „Erziehung nach Auschwitz heute“ Schritt 1: Erinnerungsdiskurse in der multikulturellen Gesellschaft Der nationalgeschichtlich orientierte Zugang der deutschen Geschichtsdidaktik, eng verwoben mit Lehrkräfte in Deutschland stehen heute beim Unter- dem Anspruch einer „Erziehung nach Auschwitz“, richt über den Holocaust in einem Spannungsfeld prägt die Angebote zum historisch-politischen Ler- zwischen der öffentlich formulierten Anspruchshal- nen oft bis in die Gegenwart. Das bedeutet, dass die tung und den realen Anforderungen in den pädago- Frage der Zugehörigkeit zur deutschen Mehrheits- gischen Alltagssituationen. Dies wird mit dem Wech- gesellschaft verhandelt wird; im Ergebnis entsteht sel der Generationen, der derzeit in den Schulen bei Jugendlichen die Wahrnehmung, erst eine Iden- stattfi ndet, immer deutlicher. tifi kation mit der deutschen Schuld-Gemeinschaft könne die Anerkennung als Zugehörige bewirken. Angesichts der gesellschaftlichen Konstellation, die Vor diesem Hintergrund zeichnet Viola Georgi in ih- von Migration geprägt ist, differenziert sich dieses rem Buch ‚Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder Bild aus. Die Jugendlichen haben heute sehr unter- junger Migranten in Deutschland‘ in narrativ orien- schiedliche Zugänge zur NS-Geschichte, wobei die tierten Interviews die Geschichtsbezüge von Ju- Schuldthematik eine der Fragestellungen unter vie- gendlichen aus Einwandererfamilien nach. Die Ge- len ist, die sie interessieren könnte. Allein die unter- schichte von Bülent etwa, einem 16jährigen Real- schiedlichen Familiengeschichten machen die Er- schüler, dessen Bemühen um Zugehörigkeit zur wartung einer homogenen Erinnerung an den Zwei- deutschen Mehrheitsgesellschaft ausgerechnet in ten Weltkrieg unrealistisch. In einer Lerngruppe kön- der Gedenkstätte Theresienstadt zu gelingen scheint, nen Nachkommen aller Lager der Kriegsbeteiligten zeigt neben anderen auch diesen Aspekt (Georgi, vertreten sein: „Reichsdeutsche“, „Volksdeutsche“, 2003, 164). Astrid Messerschmidt verweist auf die also Spätaussiedler, rassistisch Verfolgte oder Men- Problematik dieser Konstellation: „Wie aber den Ein- schen aus den von Deutschland besetzten Gebieten gewanderten das Mitgestalten und Mitsprechen im wie dem ehemaligen Jugoslawien, Polen, Griechen- Erinnerungsdiskurs gewährt wird, hängt entschei- land oder Italien – und damit auch alle Varianten der dend davon ab, inwiefern das Gedächtnis des Holo- Handlungsoptionen zwischen Kollaboration und Wi- caust an eine nationale Abstammungsgemeinschaft derstand. „Die deutsche Erinnerungskultur, wie sie gebunden wird und damit exklusiv bleibt, oder ob sich gerade im Bewusstein von Lehrkräften artiku- Zugänge zum kollektiven Gedächtnis jenseits natio- liert, wie sie in Lehrplänen, in Unterrichtskonzepten naler Identität geöffnet werden.“ (Messerschmidt und vor allem in der alltäglichen Praxis des Unterrich- 2006, 10) tens gegenwärtig ist, passt nicht zu den Anforde- rungen einer Schülerschaft, deren familiengeschicht- liche Einbindung und deren soziale Erfahrung mehr Schritt 3: Projekt „Konfrontationen und oder weniger weit von unserer autochthonen Kultur Demokratielernen“ und Geschichte abweichen.“ (Mecheril 2004, 242). Eine Beschreibung der Migrationsgesellschaft, die Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialis- nicht von dem Konzept des „Eigenen“ im Unter- mus und der Shoah wird in Deutschland oft als Mittel schied zum „Fremden“ ausgeht, sondern von der Vo- zu einem weitergehenden moralpädagogischen raussetzung, dass jede/r durch die globalisierte Me- Zweck begriffen, zum Beispiel um Antisemitismus zu dienwelt geprägt und von den in der Umgebung bekämpfen. Sie ist aber vor allem ein Teil der Allge- vorhandenen unterschiedlichen kulturellen Praxen meinbildung – insbesondere in Deutschland, aber beeinfl usst ist, verlangt ein auf diese Konstellation re- natürlich auch überall in Europa. Dabei ist logischer- agierendes pädagogisches Konzept. Dabei ist das weise auch Antisemitismus ein Thema, aber in erster

188 Perspektiven des Erinnerns

Linie der spezifi sche NS-Antisemitismus. Einen päda- Schritt 4: Pädagogische Umsetzung: gogischen Beitrag zur Prävention gegen Antisemitis- „Bausteine für die pädagogische mus kann der Geschichtsunterricht durchaus leisten, Annäherung an Geschichte und Wirkung aber nach neueren Einsichten auf einem anderen des Holocaust“ Feld. Der Versuch, diesen Anspruch in konkrete pädago- Das Thema NS-Rassismus wird im „Konfrontationen“- gische Bausteine umzusetzen, zusammengesetzt aus Konzept von innen her erschlossen. Zunächst wer- Quellen und methodischen Vorschlägen, macht den unterschiedliche Ausformungen des NS-Rassis- „Konfrontationen“ aus. Diese Umsetzung soll an die- mus vorgestellt. Auf diesem Hintergrund entwickelt ser Stelle anhand des Themenheftes 4: Ghetto ver- sich dann in den Klassenzimmern von selbst ein Ge- deutlicht werden. Im Mittelpunkt stehen Dilemmata spräch über aktuelle Formen des Rassismus, ohne als Gegenstand der pädagogischen Bearbeitung. dass diese von der pädagogischen Seite direkt an- Das wesentliche Bildungsziel des Konzeptes ist die gesprochen werden müssen. Der Bezug zur Gegen- Befähigung dazu, Entscheidungen nicht als gegeben wart wird also nicht explizit eingefordert. Stattdessen hinzunehmen, sondern als Entscheidungen zu erken- lehrt die Erfahrung, dass sich die Lerngruppen, aus- nen, die jede/r Einzelne fällt – selbst unter problema- gehend von den Diskussionen über das historische tischen Voraussetzungen. Es geht also um ein Nach- Material, von alleine an das heutige Thema annä- denken über eigene Haltungen und über Entschei- hern, ohne dabei die geschichtlichen Erfahrungen zu dungsprozesse. Allgemein gesagt ist es das Grund- relativieren. Voraussetzung ist eine gezielte Auswahl element jeder politischen Bildung: Das Wahrneh- des Materials und eine Anleitung, es unter dem Ge- men der Gestaltbarkeit von sozialen Beziehungen sichtspunkt der Multiperspektivität zu erschließen. – eben auch in Situationen unter hohem emotio- Dieser Weg ist vermutlich deshalb für alle Beteiligten nalem und sozialem Druck. Es soll zugleich deutlich leichter zu gehen, weil die Distanz zur eigenen Erfah- werden, dass die Orientierung an einem Gruppen- rung gewahrt bleibt. Es ist nicht beabsichtigt, dass zwang etwas ist, das direkte Konsequenzen hat, die die Jugendlichen sagen, »das ist ja heute schon wie- in bestimmten Situationen auch tödlich für andere der so wie damals«. Stattdessen soll das historische sein können. Für eine solche Refl exion können histo- Beispiel dazu dienen, aktuelle Themen leichter kon- rische Themen und Materialien einen Anlass bieten. trovers verhandeln zu können. Wenn also die Erfah- rung eines jüdischen Jugendlichen vorgestellt wird, Bei dem Thema Holocaust ist das allerdings nicht so der 1935 von seinem besten Freund verleugnet wird, einfach, wie es rhetorisch oft dargestellt wird. Zum weil dieser in die Hitlerjugend eingetreten ist, dann Beispiel können die Themen „Ghetto“ oder „Konzen- geht es zunächst um ein Ereignis, das diese Phase trationslager“ nur im Rahmen einer eindeutigen hi- der Veränderung von Denkweise und Weltsicht der storischen Orientierung angemessen vermittelt wer- Mehrheitsdeutschen in der NS-Zeit an einem Bei- den. Die außerordentliche Situation der Menschen im spiel verdeutlicht. Ghetto lässt sich mit heutigen Alltagssituationen nicht vergleichen. Das gilt für alle beteiligten Gruppen im Es liegt aber nahe, von dieser Erzählung ausgehend Ghetto, bei aller Gegensätzlichkeit: Die Wachmann- andere Erfahrungen mit Gruppenzugehörigkeit und schaften waren ebenso in einer unvergleichbaren Si- Ausschluss zu thematisieren. Das soll im Unterricht tuation wie die Judenräte, aber eben eindeutig auf auch geschehen – allerdings nur dann, wenn es sich der Seite des „Bösen“ (vgl. Konfrontationen, Heft 4). aus dem Gruppengespräch entwickelt. Dann wird über die Reichweite der Analogie und über die Un- Zugleich führen diese Themen aber dennoch Er- terschiedlichkeit der Situation im Vergleich zu heu- kenntnischancen von höchster Gegenwartsrelevanz tigen Erfahrungen zu sprechen sein. Eine solche Ver- mit sich. Die durch die historische Information ange- ständigungsdebatte kann aber nicht erzwungen sprochenen ethischen Dilemmata betreffen Grund- oder mechanisch herbeigeführt werden. Lernchan- fragen der Menschlichkeit. Dabei ist die Grundüber- cen sollen eröffnet werden – ob diese genutzt wer- zeugung, dass die Teilnahme an diesen Verbrechen den, hängt nicht nur von unserem Material und den zu verurteilen ist, als übergeordnetes Lernziel ver- methodischen Konzepten ab, sondern auch von der gleichsweise leicht zu vermitteln. Aber gerade in die- jeweiligen Lerngruppe. Auch sollte der Einfl uss der sem Kontext ist es die Aufgabe des Unterrichts, im- Schule als Institution mit den Faktoren Disziplin und mer wieder die zentrale Frage nach der Rolle des Noten nicht unterschätzt werden. Einzelnen in ethisch problematischen Situationen zu

189 Perspektiven des Erinnerns

stellen. Denn es gab ja auch unter den Wachmann- Sammellager, von dem aus es regelmäßige Trans- schaften Menschen, die Juden geholfen haben. Die- porte in die Vernichtungslager gab, zugleich aber se weniger eindeutigen Konstellationen ermöglichen auch der Ort, den die NS-Regierung ausgewählt hat- eine subjektive, auf die Erfahrung von Differenz bau- te, um dem Ausland eine Scheinwelt von jüdischem ende Aneignung von Geschichte – und bei der Be- Leben in eigenen Wohnbezirken vorzuspielen. Die schäftigung mit dem Holocaust unter einer solchen erinnerte Geschichte von Theresienstadt ist durch Fragestellung ist die familiengeschichtliche Selbst- diese Gegensätze zwischen Überleben, Scheinwelt verordnung der Lernenden möglicherweise ein Fak- und Vernichtung geprägt. tor, aber keinesfalls ein Ausschlusskriterium. Der Baustein präsentiert vielfältiges Material und un- Im Folgenden sollen die einzelnen Bausteine bzw. terschiedliche methodische Zugänge. So beziehen die jeweils eigenständigen Lernsequenzen des The- sich einige methodische Gestaltungsvorschläge auf menheftes Nr. 4 ‚Ghetto’ auf der Basis der eben skiz- die von Kindern in Theresienstadt angefertigten Ge- zierten konzeptuellen Überlegungen veranschau- dichte und Zeichnungen. Gerade die literarischen licht werden: und künstlerischen Arbeiten von etwa Gleichaltrigen können eine wichtige emotionale Brücke zwischen den Kindern im Ghetto und heutigen Schülerinnen Baustein 1: „Voraussetzungen und und Schülern darstellen. Zusammenhänge“

Die Ghettos sind eingebunden in den unmittelbar Baustein 4: „Für drei Zeilen im nach 1933 einsetzenden Prozess der Ausgrenzung Geschichtsbuch – der jüdische Aufstand und Entrechtung der jüdischen Minderheit in im Warschauer Ghetto“ Deutschland. Ihre Einrichtung war ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur systematischen Ermordung Der Baustein konzentriert die Unterrichtsarbeit auf der jüdischen Bevölkerung Mittel- und Osteuropas. die Repräsentation von Geschichte, also auf die Fra- Dies soll in dieser Sequenz in der Vermittlung histo- ge, wie das Ereignis (Aufstand im Warschauer Ghetto rischer Kenntnisse deutlich werden. Die metho- 1943) seit 1945 erinnert wird. Fragen der unter- dischen Zugänge und die Auswahl der Quellen füh- schiedlichen Erinnerungsdiskurse stehen dabei im ren zugleich in die Arbeitsform des Perspektivwech- Mittelpunkt. Methodisch werden literarische Quellen sels ein. An dieser Stelle können Zeitzeugeninter- und Schriftzeugnisse (zum Beispiel des Ghettokämp- views ein Medium sein, das Perspektiven deutlich fers Marek Edelmann) sowie ‚materialisierte’ Erinne- macht und die Möglichkeit zu Vergleichen eröffnet. rungen (Denkmäler, Mahnmale etc.) genutzt.

Näher an heutigen Alltagserfahrungen erscheint die Baustein 2: „Vernichtung durch Arbeit – Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Zugehö- das Ghetto Lodz“ rigkeit und Ausschluss, wie sie im Konfrontationen- Bausteinheft 2 zum Thema „Gruppe“ vorgeschlagen In diesem Baustein stehen die Ausweglosigkeit, die wird. Diese auf möglichst nachvollziehbare Situati- alltägliche Verzweifl ung der Ghettobewohner und onen in Peer-Groups bezogenen Refl exionsange- der Zwang zu unerträglichen Entscheidungen über bote bereiten auf die Beschäftigung mit den zuge- Leben und Tod, exemplarisch dargestellt am Ghetto spitzten Dilemmata vor, mit denen Menschen in Lodz, im Vordergrund. In diesem Baustein stehen er- Deutschland in der NS-Zeit konfrontiert waren. Das zählende Texte im Mittelpunkt: Verschiedene Tage- historische Thema ist die Konstruktion von Gemein- buchaufzeichnungen, die Ghettochronik, und der schaft als rassistisches Programm am Beispiel der Roman ‚Jakob, der Lügner’ von Jurek Becker. „NS-Volksgemeinschaft“. Welches Selbstverständnis entwickelten junge Deutsche – sowohl solche, die „mitmachten“, als auch solche, die verfolgt wurden – Baustein 3: „Theresienstadt – in dieser Epoche? Welches Wir-Gefühl entstand da- das Musterghetto“ bei in ständiger Beziehung zu den Angeboten und Verboten des NS-Systems, das ihr Leben als Teil der In diesem Baustein soll die spezifi sche Situation „Volksgemeinschaft“ oder als Ausgegrenzte prägte. dieses Ghettos deutlich werden. Das Ghetto war ein Methodisch geht es auch hier um den Wechsel der

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Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Er- Perspektiven (Intersubjektivitätskompetenz), um die wachsenenbildung (GPJE) (2004): Nationale Bildungsstandards Erschließung von Fremdem und um die Entwicklung für den Fachunterricht in der politischen Bildung an Schulen, der Diskurskompetenz. Ein Ausgangspunkt dabei ist Schwalbach/Ts. - aus unterschiedlichen Perspektiven - die zeitgenös- Giere, Jacqueline/Kößler, Gottfried (2001): Konfrontationen. Bau- sische Rezeption des Films ‚Hitlerjunge Quex’ von steine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wir- 1933, der die Geschichte eines Jungen aus dem Ar- kung des Holocaust. Heft 2: Gruppe, Frankfurt am Main. beitermilieu erzählt, der sich gegen die Kommu- Giere, Jacqueline/Kößler, Gottfried (2002): Konfrontationen. Bau- nisten und für die Hitlerjugend entscheidet. Dane- steine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wir- ben gibt es vielfältige Möglichkeiten zur Arbeit mit kung des Holocaust, Heft 4: Ghetto, Frankfurt am Main. Dokumenten von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, die den Alltag in der NS-Diktatur, Gefühle von Zugehö- Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2003): Deutsche Zustände. Folge 2, Frankfurt am Main. rigkeit, Ausgrenzung, Ausbruch und Protest themati- sieren. Hier bedarf es bei Lehrerinnen und Lehrern Henkenborg, Peter (2008): Kategoriale Bildung und kompetenzo- einer guten Kenntnis der zeitgeschichtlichen For- rientierte politische Bildung, in: Weißeno, Georg (Hrsg.): Politik- schung und Publizistik (Friedländer 1998, 2006; Lon- kompetenz. Was Unterricht zu leisten hat, Bonn, 213-230. gerich 1998, 2006; Wildt 2002, 2008), um den didak- Kößler, Gottfried (2009): Migrationsgesellschaft und Erinnerungs- tischen Horizont der Konzeption einordnen zu kön- pädagogik, in: Georgi, Viola/Ohliger, Rainer (Hrsg.): Crossover nen. Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwan- derergesellschaft, Hamburg, 210-220.

Longerich, Peter (1998): Politik der Vernichtung, München, Zürich. Literaturhinweise Longerich, Peter (2006): „Davon haben wir nichts gewusst“, Mün- chen. Backhaus, Kerstin/Moegling, Klaus/Rosenkranz, Susanne (2008): Kompetenzorientierung im Politikunterricht. Kompetenzen, Stan- Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik, dards, Indikatoren in der politischen Bildung der Schulen, Balt- Weinheim. mannsweiler. Messerschmidt, Astrid (2009): Weltbilder und Selbstbilder. Bil- Bergmann, Klaus (2000): Multiperspektivität, Schwalbach/Ts. dungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Friedländer, Saul (2006): Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2: Zeitgeschichte, Frankfurt am Main. Die Jahre der Vernichtung, München. Scherr, Albert/Schäuble, Barbara (2007): Ich habe nichts gegen Friedländer, Saul (1998): Das Dritte Reich und die Juden, Bd.1: Juden, aber … Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesell- Die Jahre der Verfolgung, München. schaftlicher Bildungsarbeit gegen Antisemitismus, Berlin. Georgi, Viola (2003): Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder Wildt, Michael (2002): Generation des Unbedingten. Das Füh- junger Migranten in Deutschland, Hamburg. rungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg. Georgi, Viola/Ohliger, Rainer (Hrsg.) (2009): Crossover Geschich- te. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungs- Wildt, Michael (2008): Geschichte des Nationalsozialismus, Göt- gesellschaft, Hamburg. tingen.

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Zu den Autorinnen und Autoren

Bauer, Manfred Kößler, Gottfried Haupt- und Realschullehrer an der Mendelssohn- Oberstudienrat mit den Fächern Deutsch, Geschich- Bartholdy-Schule, Kooperative Gesamtschule in te und Politik. Als Leiter des Pädagogischen Zen- Sulzbach am Taunus für die Fächer Geschichte, trums und stellvertretender Direktor des Fritz Bauer Kath. Religion und Mathematik, Fachbereichsleiter Instituts in Frankfurt ist er in der Lehrerbildung, ins- Geschichte und in Projekten des Außerschulischen besondere der historisch-politischen Bildung tätig; Lernens tätig. Arbeitsschwerpunkte sind außerschulische Lernorte zur Geschichte des Holocaust und zur Jüdischen Engelhardt, Matthias Geschichte Lehrer an der Gesamtschule Schlitzerland in Schlitz mit den Fächern Geschichte, Sport und Löwenbein, Aaron Deutsch, Fachbereichsleiter Sport Mechaniker, Maschinenbautechniker, Verfahrens- ingenieur, Schweißfachingenieur, Berufspädago- Ernemann, Frank ge, Ausbilder, zuletzt im AfL tätig, gegenwärtig in Lehrer an der Max-Weber-Schule in Gießen, Kauf- Altersteilzeit männische Berufsschule, Fachoberschule und Fachschule für Betriebswirtschaft, Fächer: Wirtschaft Löwenbein, Dan und Verwaltung, Englisch, z.Zt. abgeordnet an studiert Chemie und Lehramt an der TU Darmstadt das AfL, Frankfurt als Assistent des Amtsleiters und arbeitet seit 1999 in verschiedenen Berufs- bildungsprojekten mit Fournier, Claudia Moegling, Klaus Oberstudienrätin mit den Fächern Deutsch und Prof. Dr., Studiendirektor mit den Fächern Politik Wirtschaft an der Max-Weber-Schule in Gießen, und Wirtschaft (Fachleiter) und Sport, Ausbilder Kaufmännische Berufsschule, Fachoberschule und am Studienseminar für Gymnasien in Kassel; Ar- Fachschule für Betriebswirtschaft, Fachkoordinatorin beitsschwerpunkte sind u.a. Kompetenzorientierte für das Fach Deutsch, einer ihrer Schwerpunke sind Politikdidaktik, fächerübergreifendes Lernen sowie aktuelle Phänomene der Sprachentwicklung Rechtsextremismus und Schule; zahlreiche Veröf- fentlichungen v.a. zu politikdidaktischen Themen Haas, Benjamin Lehrer an der Anne-Frank-Schule Raunheim, Inte- Platner, Geert grierte Gesamtschule des Kreises Groß-Gerau, mit Rektor, Ausbildungsleiter am Studienseminar den Fächern Politik und Wirtschaft, Kunst, Deutsch für GHRF in Kassel in Politik und Wirtschaft und und Mathematik, zu seinen Arbeitsschwerpunkten Deutsch; Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Kompetenz- zählen Fragen der Differenzierung und Inklusion orientierte Politikdidaktik, fächerübergreifendes Lernen, Rechtsextremismus und Schule sowie Öko- Kleesiek, Arndt logische Bildung Studienrat mit den Fächern Geschichte und Englisch an der Jacob-Grimm-Schule, Gymnasiale Ober- Ram, Anna Maria stufenschule in Kassel, Fachkonferenzvorsitzender Referendarin mit den Fächern Deutsch und Geschichte. Er ist außerdem Ausbildungsbeauftrag- Geschichte an der Konrad-Haenisch-Schule in Frank- ter im Fach Geschichte und im allgemeinpädago- furt am Main; Arbeitsschwerpunkt ist der Einsatz gischen Ausbildungsbereich am Studienseminar für neuer Medien im Sprach- und Geschichtsunterricht Gymnasien in Kassel und beschäftigt sich schwer- sowie ein Handlungs- und produktionsorientierter punktmäßig mit Gedenkstättenpädagogik Geschichtsunterricht

193 Zu den Autorinnen und Autoren

Reul, Andreas Stahl, Karin Lehrer an der Haupt- und Realschule Nidda in Rektorin a.A., Ausbilderin am Studienseminar GHRF Nidda mit den Fächern Deutsch und Geschichte, Frankfurt am Main, Fächer: Politik und Wirtschaft, Fachleiter Gesellschaftslehre, und Ausbildungs- Deutsch und Evang. Religion, Fachleiterin für Politik beauftragter am Studienseminar GHRF in Friedberg, und Wirtschaft; Arbeitsschwerpunkte sind Politische Fachleiter Geschichte Bildung, Interkulturelle Bildung und schulische Be- rufsorientierung Rohde, Christoph Studienrat mit den Fächern Politik und Wirtschaft, Stark, Marco Geschichte und Evang. Religion an der Albert- Dipl. Handelslehrer und Dipl. Betriebswirt, Studien- Schweitzer-Schule, Gymnasium in Alsfeld rat an der Georg-Kerschensteiner-Schule, Berufs-, Berufsfachschule und Berufl . Gymnasium des Land- Ruhweza, Sascha kreises Offenbach in Obertshausen, Fachrichtung Lehrer für Englisch und Arbeitslehre an der Fried- Wirtschaft und Fächer Politik und Sport, Mitorganisa- rich-Ebert-Schule (FES), Kooperative Gesamtschule tor eines Eine-Weltladens; Arbeitsschwerpunkt u.a. in Gießen, Leitung des FES-Film- und TV-Teams, Anwendung lernbiologischer Grundlagen Arbeitsschwerpunkte sind der Interkulturelle Fremd- sprachenunterricht in multikulturellen Lerngruppen Wendt, Daniel sowie schüleraktive Video- und TV-Produktionen Dipl. Handelslehrer und Dipl. Kaufmann, zur Förderung der Medienkompetenz und des Studienrat an der Max-Weber-Schule in Gießen, refl exiven Handelns Kaufmännische Berufsschule, Fachoberschule und Fach schule für Betriebswirtschaft mit den Fächern Schneller, Christof Wirtschaft, Politik und Sport Dipl. Biologe, M.A., Lehrer mit den Fächern Bio- logie, Physik (Fachsprecher), Politik und Wirtschaft Wöll, Nathalie und Sport an der Marienschule in Offenbach, Haupt- und Realschullehrerin für Biologie und schulformbezogene Gesamtschule mit gymnasialer Geschichte an der Singbergschule, Kooperative Oberstufe, in der 1. und 3. Phase der Lehrerbildung Gesamtschule mit Förderstufe in Wölfersheim, tätig u.a. tätig in der Ausbildung von Streitschlichtern

Siemon, Elzbieta Lehrerin mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Arbeitslehre an der Clemens-Brentano-Europa- schule, Kooperative Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe in Lollar

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Amt für Lehrerbildung

Erwin-Stein-Haus Stuttgarter Straße 18-24 60329 Frankfurt am Main www.afl .bildung.hessen.de